Festschrift für Johannes Semler zum 70. Geburtstag am 28. April 1993: Unternehmen und Unternehmungsführung im Recht [Reprint 2018 ed.] 9783110877922, 9783110132465


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German Pages 1032 [1036] Year 1993

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Table of contents :
Zum 70. Geburtstag von Johannes Semler
Inhalt
I. Allgemeines
Macht und Gerechtigkeit
Begegnung mit der politischen Vergangenheit im Osten Deutschlands
Über die Kriegsarbeit deutscher emigrierter Juristen in den USA während des zweiten Weltkrieges
Gedanken zur Reform der Hamburgischen Verfassung
II. Gesellschaftsrecht
Soll das Feststellungsrecht des Jahresabschlusses bei der GmbH reduziert werden?
Die sogenannte Einheitsgesellschaft - ein funktionsunfähiges Gebilde?
Die betriebliche Altersversorgung für Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften
Zur Differenzhaftung nach § 9 GmbHG
Die in § 23 AGBG vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht
Die Entscheidungsspielräume der Verwaltung einer Aktiengesellschaft im Verhältnis zu ihren Aktionären
Die gerichtliche Ersatzbestellung im Aufsichtsrat
Verlust des halben Stammkapitals
Haftungsgeneigte Personalentscheidungen des Aufsichtsrates
Die Europäische Aktiengesellschaft und die nationalen Aktiengesetze
Die freie Verfügung über die Einlage
Zur Außenhaftung des GmbH-Geschäftsführers
Anfechtungsbefugnisse von Aufsichtsratsmitgliedern
Gibt es einen Anspruch des Gesellschafter- Geschäftsführers einer GmbH auf Gehaltserhöhung?
Zur Rechtsposition der Mehrstimmrechtsaktionäre
Gesellschaftsvertragliche Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten bei der Veräußerung von GmbH-Geschäftsanteilen
Zur Treupflicht des Kleinaktionärs
III. Recht der verbundenen Unternehmen, Umwandlung und Verschmelzung
Der Abhängigkeitsbericht und seine Prüfung bei einem Vorstandswechsel
Konzerneingangs-Schutz durch Takeover-Recht?
Anzeigepflichten und Publizität bei Beteiligungserwerb
Österreichisches und Europäisches Verschmelzungsrecht
Vorwirkende Abhängigkeit?
Der GmbH-Beherrschungsvertrag: Voraussetzung für den Vorrang von Konzerninteressen?
Der herrschende Kommanditist als unbeschränkt haftendes Unternehmen?
Uneingeschränkter Verlustausgleich - zwingende Folge qualifizierter Konzernherrschaft?
Die Mitteilungspflichten des § 20 AktG und ihr Einfluß auf das Verhalten der Organe des Mitteilungsadressaten
Parallele Aufspaltung von Gesellschaften
Übersehene Risiken bei der Privatisierung und Betriebsveräußerung durch die Treuhandanstalt
Die Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Bestimmung von Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren
Die Zweckmäßigkeit der Verschmelzung als Gegenstand des Verschmelzungsberichts, der Aktionärsentscheidung und der Anfechtungsklage
IV. Unternehmensfuhrung und -organisation
Unfinished Business
Organisationsverfassung und Innovation
Anmerkungen zur Unternehmensführung im globalen Umfeld
Erfahrungen mit Aktiennotierungen an ausländischen Börsen
Erfahrungen mit dem Holding-Prinzip
Führung, Organisation und Steuerung im integrierten Technologiekonzern. Ein Werkstattbericht
Zur Beteiligung familienfremder Manager an Familien-Personengesellschaften
V. Rechnungslegung und Abschlußprüfung
Grundsätze ordnungsmäßiger Rechenschaftslegung
Zur Bestellung und Abberufung des Abschlußprüfers
Der doppelte Wirtschaftsprüfer
Bilanzrechtliche Probleme beim Geschäfts- oder Firmenwert
Gewährleistung der Qualität der Jahresabschlußprüfung durch externe Kontrolle?
VI. Wirtschafts- und Steuerrecht
Bedeutung und Organisation der rechtlichen Betreuung von Konzernen und Unternehmen
Über einige institutionelle Aspekte der Europäischen Währungsunion
Die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit. Versuch einer Standortbestimmung
Anmerkungen zu einer Unternehmenssteuerreform in der Bundesrepublik
Der nichtrechtsfähige wirtschaftliche Verein
Der Sekundär-Insider
Der ertragsteuerliche Export stiller Reserven aus der Bundesrepublik Deutschland in einen anderen EG-Mitgliedstaat
Gemeinsame Betriebsnutzung
Verzeichnis der Veröffentlichungen von Johannes Semler
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Festschrift für Johannes Semler zum 70. Geburtstag am 28. April 1993: Unternehmen und Unternehmungsführung im Recht [Reprint 2018 ed.]
 9783110877922, 9783110132465

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Festschrift für Johannes Semler zum 70. Geburtstag

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Festschrift für JOHANNES SEMLER zum 70. Geburtstag am 28. April 1993 Unternehmen und Unternehmensführung im Recht

herausgegeben von

Marcus Bierich

Peter Hommelhoff

Bruno Kropff

w DE

G

1993

Walter de Gruyter • Berlin • New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Festschrift für Johannes Semler zum 70. Geburtstag am 28. April 1993 : Unternehmen und Unternehmensführung im Recht / hrsg. von Marcus Bierich . . . - Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 ISBN 3-11-013246-X NE: Bierich, Marcus [Hrsg.]; Semler, Johannes: Festschrift; Unternehmen und Unternehmensführung im Recht; Johannes Semler

© Copyright 1993 bei Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, D-1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, D-1000 Berlin 61

Zum 70. Geburtstag von Johannes Semler Lieber Johannes Semler, am 28. April 1993 begehen Sie Ihren 70. Geburtstag. Die Autoren dieser Festschrift wollen Ihnen dazu herzlich Glück und Erfolg wünschen. Es ist ein ungewöhnlicher Kreis, der an dieser Ehrung mitwirkt. Ihm gehören führende Unternehmer an und Politiker, Universitätsprofessoren ebenso wie Anwälte und Richter, auch Unternehmensjuristen, Wirtschaftsprüfer und Ministerialbeamte, Juristen und Nichtjuristen. Ungewöhnlich ist aber auch Ihr Lebenswerk. Die Spannweite ihres Berufslebens kommt in den nüchternen Angaben - Wirtschaftsprüfer, Vorstandsmitglied eines industriellen Großunternehmens, Rechtsanwalt, Unternehmensberater, Professor - nur unzureichend zum Ausdruck. Ungewöhnlich ist schließlich auch Ihre „akademische Laufbahn". Erst - und noch - mit 56 Jahren haben Sie, voll im Berufsleben stehend, einer Anregung Marcus Lutters folgend Ihre an wissenschaftlichem Gehalt wie an praktischer Bedeutung gleich herausragende Dissertation über „Die Uberwachungsaufgabe des Aufsichtsrats" vorgelegt. Dem „Doktor" im Jahre 1980 folgte dann nach wenigen Jahren der Lehrauftrag und 1989 die Berufung zum Honorarprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien. Doch berichten wir chronologisch. Ihren ersten Lebensabschnitt prägte der Krieg. Hamburg, Ihr Geburtsort, war für Sie nicht „das Tor zur Welt". Vielmehr folgte dem Abitur 1941 die Ausbildung zum Gebirgsjäger in Admont. Vielleicht wirkt die Härte dieser Ausbildung bis heute fort. Noch heute lassen Sie weit Jüngere bei Tiefschneeabfahrten in Ihrem geliebten Zermatt hinter sich zurück. Der Rucksack, den Sie beim Trecken in den Alpen und vor wenigen Jahren auch in Nepal schulterten, würde manchen Geübten abschrecken. Nach Fronteinsätzen in Rußland und auf dem Balkan - zuletzt als Oberleutnant d. R. - waren Sie von 1945 bis 1948 in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft. Aber bereits im November 1949 legten Sie die juristische Referendarprüfung beim Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg ab. Gewiß wurden Ihnen drei Semester an einer „Lageruniversität" in der Kriegsgefangenschaft angerechnet. Gleichwohl überholt die Kürze Ihres Studiums die kühnsten Vorschläge der Studienreformer. Darüber kann nicht überrascht sein, wer beobachtet hat, wie schnell und rationell Sie arbeiten. Wie sonst auch hätte die eindrucksvolle Zahl ihrer Vorträge und Aufsätze, hätten Ihre Kommentierungen zum Aktienge-

VI

Zum 70. Geburtstag von Johannes Semler

setz bei voll gefülltem Terminkalender entstehen können. Wer mit Ihnen wandern will, muß früh aufstehen und auf Tempo gefaßt sein. Nach der 1953 überaus erfolgreich bestandenen Assessorprüfung traten Sie als Revisor in die Deutsche Warentreuhand Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ein. Zwei Jahre später waren Sie Wirtschaftsprüfer in dieser Gesellschaft und bereits 1959 nicht nur ihr Vorstandsmitglied, sondern auch einer der maßgebenden Sprecher des Berufsstandes und Mitglied seines Hauptfachausschusses. In doppelter Hinsicht haben diese Jahre Ihre spätere wissenschaftliche Tätigkeit geprägt. Zum einen haben Sie in zahlreichen Aufsätzen die Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers und seine Verantwortung erörtert, aber auch - bis zum heutigen Tage - als Mitglied bzw. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für das wirtschaftliche Prüfungswesen beeinflußt. Zum anderen wurden Sie als für Fragen des Konzernabschlusses sachkundiges Mitglied in die vom Deutschen Juristentag 1957 eingesetzte Studienkommission zur Reform des Konzernrechts berufen. Ihre Mitwirkung in dieser Kommission, deren Bericht Sie als Mitglied des dreiköpfigen Redaktionsausschusses mitgestalteten, ging allerdings weit über den Bereich des Konzernabschlusses hinaus. Sie hatte zur Folge, daß noch heute das materielle Konzernrecht ein weiterer Gegenstand Ihres besonderen wissenschaftlichen Interesses ist. 1963 wurde - Ihrer Neigung und Ihrem Temperament entsprechend aus dem Prüfer der gestaltende Unternehmer. Sie übernahmen zunächst als Generalbevollmächtigter, dann ab 1964 als Vorstandsmitglied das Finanzressort der AEG. Die Jahre in der Leitung dieses großen, auch international tätigen Konzems haben die so seltene Symbiose von wissenschaftlicher Durchdringung und praktischer Erfahrung eingeleitet, die Ihre Arbeiten im Unternehmensrecht auszeichnet. Die Verantwortung des Unternehmers, die Organisation des Unternehmens und seiner Leitung, die Führung und Motivation der Mitarbeiter sind Themen, mit denen Sie sich immer wieder befaßt haben. Im Bericht der 1972 vom Bundesjustizminister eingesetzten Unternehmensrechtskommission haben sich diese Erfahrungen des Kommissionsmitgliedes Semler an vielen Stellen niedergeschlagen. Im Jahre 1972 kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen und den Vorsitzenden von Vorstand und Aufsichtsrat der AEG. Sie sollen damals eine Lagebeurteilung mit den Worten abgeschlossen haben: „Unkontrolliertes Wachstum wird in der Medizin Karzinom genannt und führt meist zum Tod." Wer die spätere Geschichte der AEG verfolgt hat, weiß, wie berechtigt diese Warnung war. Angesichts dieser Spannungen erklärten Sie sich bereit, zum Ende 1973 aus dem Vorstand auszuscheiden. Ein solcher Bruch ist oft das Ende einer aktiven Tätigkeit. Für Sie galt jedoch nicht der Erfahrungssatz „They never come back". Zwar haben

Zum 70. Geburtstag von Johannes Semler

VII

Sie spätere Angebote zu unternehmerischer Tätigkeit nicht aufgegriffen, wenn man von Ihrer Berufung zum Mitglied des Vorstands der Mercedes Holding absieht. Sie entfalteten aber, unterstützt durch das Vertrauen, das man Ihnen in der Wirtschaft trotz oder vielleicht auch gerade wegen Ihres Ausscheidens aus der AEG entgegenbrachte, eine umfangreiche freiberufliche Tätigkeit. Dieses Vertrauen übertrug Ihnen gewichtige Mandate als Anwalt, Berater, Gutachter oder Schiedsrichter. Es berief Sie namentlich in zahlreiche Aufsichtsräte oder Beiräte, in vielen Fällen zu deren Vorsitzenden. Die Liste dieser Mandate reicht von der Daimler-Benz A G bis zum Gesellschafterausschuß manches Mittelständlers. Sie umfaßt Industrie, Handel, Banken und Presse und wäre wohl ohne die vom Aktiengesetz gezogenen Grenzen noch länger. Und sie erklärt sowohl Ihr besonderes Interesse am Recht der Uberwachungsaufgabe des Aufsichtsrats, als auch die Fülle der praktischen Erfahrung, die Ihre Arbeiten zu diesem Thema durchzieht. Auch Ihre Kommentierung des Rechts der Kommanditgesellschaft auf Aktien zeugt deutlich von dem Problembewußtsein, das Sie als Aufsichtsratsmitglied dieser seltenen Rechtsform sowie als Berater bei Umwandlungen in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien gewonnen haben. Nach wie vor bedauern Sie, daß Ihr auf dem 55. Deutschen Juristentag 1984 vorgelegter und später noch mehrfach verteidigter Vorschlag, mittelständischen Unternehmen durch die rechtsähnliche „GmbH auf Aktien" neue Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung zu eröffnen, bisher nicht aufgegriffen worden ist. N u r auf Lust und Neigung kann es beruhen, daß Sie neben all diesen Aufgaben in so hohem Maße die Zeit für wissenschaftliche und fachliche Arbeit gefunden haben. Den Studenten der Wirtschaftsuniversität Wien vermitteln Sie - der Forderung des großen österreichischen Juristen Franz Klein entsprechend - „die praktische Anschauung der Rechts- und Wirtschafts Verhältnisse". In ihren Vorträgen und Aufsätzen beeindruckt Ihr Bemühen um eine strenge systematische und begriffliche Erfassung der Phänomene in Unternehmensführung, Unternehmensaufsicht und Unternehmensorganisation. Ihre Wirkung beruht freilich nicht nur auf dem gesprochenen oder geschriebenen Wort, sondern auch und vor allem auf Ihrer Fähigkeit, Menschen zusammenzuführen - dabei so oft unterstützt durch Ihre verehrte Frau Gisela - und dem Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis Thema und organisatorischen Rahmen zu geben. Auch die Unternehmen der neuen Bundesländer verdanken Ihnen - über Ihren Einsatz als Aufsichtsratsvorsitzender hinaus - wesentliche Hilfen bei der Einführung in die Rechtsgrundlagen freiheitlicher Unternehmenswirtschaft und die Instrumente marktwirtschaftlicher Unternehmensführung. Es mindert nicht Ihr Verdienst, daß Sie dabei auf die Unterstützung durch die Ihnen nahestehenden Unternehmen vertrauen konnten.

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Zum 70. Geburtstag von Johannes Semler

Der „70ste" wird für Sie kein Einschnitt sein. Vielleicht werden Sie sich nach und nach etwas mehr Zeit für Wanderungen in den Bergen um Ihr Haus am Irrsee oder für die Salzburger Festspiele nehmen. Aber Ihr unvermindert waches und engagiertes Interesse am Recht des Unternehmens und seiner Führung läßt uns hoffen, daß Sie auch künftig Ihre Erfahrung und Ihr Wissen in den wissenschaftlichen Dialog einbringen werden. Daß Ihnen dazu Gesundheit und Schaffenskraft noch lange erhalten bleiben, ist der Wunsch der Autoren dieser Festschrift. Marcus Bierich

Peter Hommelhoff

Bruno Kropff

Inhalt

I. Allgemeines Dr. phil., Dr. rer. oec. h. c., Vorsitzender der Geschäftsführung Robert Bosch GmbH, Stuttgart: Macht und Gerechtigkeit

3

Dr. iur. h. c., Ministerialdirektor a. D., Bonn: Begegnung mit der politischen Vergangenheit im Osten Deutschlands Als Vertrauensbevollmächtiger beim Vorstand der Treuhandanstalt 1990-1992

17

C. STIEFEL, Dr. iur., Professor of Law, New York Law School, Attorney and Counsellor at Law, New York, Barrister at Law, London, Licencie en Droit, Paris, Rechtsanwalt, Düsseldorf; FRANK MECKLENBURG, Dr., Archivar, Leo Baeck Institute, New York: Uber die Kriegsarbeit deutscher emigrierter Juristen in den USA während des zweiten Weltkrieges

67

Dr. iur., Minister a. D., Rechtsanwalt, Hamburg: Gedanken zur Reform der Hamburgischen Verfassung

83

M A R C U S BIERICH,

ALBRECHT KRIEGER,

ERNST

JÜRGEN WESTPHAL,

II. Gesellschaftsrecht Dr. iur., Honorarprofessor an der Universität Hamburg, Rechtsanwalt, Düsseldorf: Soll das Feststellungsrecht des Jahresabschlusses bei der GmbH reduziert werden?

CARSTEN PETER CLAUSSEN,

97

Richter am Bundesgerichtshof a. D., Karlsruhe: Die sogenannte Einheitsgesellschaft - ein funktionsunfähiges Gebilde? . . 115

HANS-JOACHIM FLECK,

Dr. iur., Rechtsanwalt, Tutzing: Die betriebliche Altersversorgung für Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften 139

HANS-JOACHIM FONK,

Dr. iur., Rechtsanwalt, Ratingen: Zur Differenzhaftung nach § 9 GmbHG

HERBERT GIENOW,

165

Dr. iur., o. Professorin an der Universität Mannheim: Die in § 23 AGBG vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht 179

BARBARA GRUNEWALD,

X

Inhalt

Dr. iur., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Frankfurt/Main:

WELF MÜLLER,

Die Entscheidungsspielräume der Verwaltung einer Aktiengesellschaft im Verhältnis zu ihren Aktionären 195 Dr. iur., Mitglied des Vorstandes der Axel Springer Verlag A G , Hamburg; B E R N H A R D SERVATIUS, Dr. iur., Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Axel Springer Verlag A G , Hamburg: Die gerichtliche Ersatzbestellung im Aufsichtsrat - Betrachtungen de lege lata und de lege ferenda 217

MANFRED NIEWIARRA,

CHRISTIAN NOWOTNY,

versität Wien:

Dr. iur., a.o. Professor an der Wirtschaftsuni-

Verlust des halben Stammkapitals - Ein „kleiner" Unterschied zwischen deutschem und österreichischem GmbH-Recht 231 MARTIN PELTZER,

Dr. iur., Rechtsanwalt, Notar, Frankfurt/Main:

Haftungsgeneigte Personalentscheidungen des Aufsichtsrates THOMAS RAISER,

Berlin:

261

Dr. iur., o. Professor an der Humboldt-Universität zu

Die Europäische Aktiengesellschaft und die nationalen Aktiengesetze . . . 277 H. R O T H , Dr. iur., o. Professor an der Universität Innsbruck: Die freie Verfügung über die Einlage

GÜNTER

H E I N Z ROWEDDER,

Mannheim:

299

Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der Universität

Zur Außenhaftung des GmbH-Geschäftsführers - „Versuch einer Systematisierung" 311 Dr. iur., o. Professor an der Universität Hamburg: Anfechtungsbefugnisse von Aufsichtsratsmitgliedern

KARSTEN SCHMIDT,

329

UWE H. SCHNEIDER, Dr. iur., o. Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt: Gibt es einen Anspruch des Gesellschafter-Geschäftsführers einer G m b H auf Gehaltserhöhung? 347 Dr. iur., o. Professor an der Universität Bochum: Zur Rechtsposition der Mehrstimmrechtsaktionäre

E B E R H A R D SCHWARK,

367

Dr. iur., Rechtsanwalt und Notar, Frankfurt/ Main; D O L F W E B E R , Rechtsanwalt und Notar, Frankfurt/Main: Gesellschaftsvertragliche Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten bei der Veräußerung von GmbH-Geschäftsanteilen 387

RÜDIGER VOLHARD,

Dr. iur., Honorarprofessor an der Universität Göttingen, Rechtsanwalt, Frankfurt/Main: Zur Treuepflicht des Kleinaktionärs 421

WINFRIED WERNER,

Inhalt

XI

III. Recht der verbundenen Unternehmen, Umwandlung und Verschmelzung Dr., Dr. h. c., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof a. D., Unterwössen: Der Abhängigkeitsbericht und seine Prüfung bei einem Vorstandswechsel P E T E R H O M M E L H O F F , Dr. iur., Richter am O L G a. D., o. Professor an der Universität Heidelberg: Konzerneingangs-Schutz durch Takeover-Recht? - Eine Betrachtung zur europäischen Rechtspolitik W E R N E R J U N G E , Rechtsanwalt, Stellv. Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages i. R., Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für das wirtschaftliche Prüfungswesen, Bonn: Anzeigepflichten und Publizität bei Beteiligungserwerb H A N S - G E O R G K O P P E N S T E I N E R , Dr. iur., L L . M . (Berkeley), o. Professor an der Universität Salzburg: Österreichisches und Europäisches Verschmelzungsrecht G E R D K R I E G E R , Dr. iur., Rechtsanwalt, Düsseldorf: GEORG DÖLLERER,

Vorwirkende Abhängigkeit? Dr. iur., Ministerialdirigent a. D., Honorarprofessor an der Universität Bonn: Der GmbH-Beherrschungsvertrag: Voraussetzung für den Vorrang von Konzerninteressen? G E R H A R D L A U L E , Dr. iur., Honorarprofessor an der Universität Saarbrükken, Rechtsanwalt und Notar, Frankfurt/Main: Der herrschende Kommanditist als unbeschränkt haftendes Unternehmen H A N S - J O A C H I M P R I E S T E R , Dr. iur., Notar, Honorarprofessor an der Universität Hamburg: Uneingeschränkter Verlustausgleich - zwingende Folge qualifizierter Konzernherrschaft? K A R L H E I N Z Q U A C K , Rechtsanwalt und Notar, Berlin: Die Mitteilungspflichten des § 20 AktG und ihr Einfluß auf das Verhalten der Organe des Mitteilungsadressaten W O L F G A N G R O S E N E R , Dr. iur., Rechtsanwalt und Notar, Berlin: Parallele Aufspaltung von Gesellschaften W O L F R A M T I M M , Dr. iur., o. Professor an der Universität Münster: Risiken bei der Privatisierung und Betriebsveräußerung durch die Treuhandanstalt - Zur Tragweite des § 28 a EGAktG K A R L H E I N Z W E I S S , Dr. iur., Rechtsanwalt, München:

441

455

473

485 503

BRUNO KROPFF,

517

541

561

581 593

611

Die Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Bestimmung von Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren 631

XII

Inhalt

Dr. iur., o. Professor an der Universität Tübingen: Die Zweckmäßigkeit der Verschmelzung als Gegenstand des Verschmelzungsberichts, der Aktionärsentscheidung und der Anfechtungsklage . . . 651

H A R M PETER WESTERMANN,

IV. Unternehmensführung und -organisation Dr., Dr. h. c. mult., o. Professor an der Freien Universität Berlin, Direktor des Forschungsschwerpunktes Marktprozeß und Unternehmensentwicklung am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, Berlin: Unfinished Business 673

H O R S T ALBACH,

Dr. rer. pol., o. Professor an der Ruhr-Universität Bochum: Organisationsverfassung und Innovation 689

KLAUS CHMIELEWICZ,

Dr. rer. pol., Mitglied des Aufsichtsrates Deutsche Bank AG, Frankfurt/Main: Anmerkungen zur Unternehmensführung im globalen Umfeld 713

WILFRIED G U T H ,

Dr. rer. pol., Mitglied des Vorstandes der Daimler-Benz AG, Stuttgart: Erfahrungen mit Aktiennotierungen an Auslandsbörsen 721

GERHARD LIENER,

Dr. iur., Stellv. Aufsichtsratsvorsitzender der AGIV Aktiengesellschaft für Industrie und Verkehrswesen, Königstein/Ts.: Erfahrungen mit dem Holding-Prinzip 741

FRANK NIETHAMMER,

Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz A G , Stuttgart: Führung, Organisation und Steuerung im integrierten Technologiekonzern. Ein Werkstattbericht 753

EDZARD REUTER,

Dr. iur., Rechtsanwalt und Notar, Stuttgart: Zur Beteiligung familienfremder Manager an Familien-Personengesellschaften 767

WALTER SIGLE,

V. Rechnungslegung und Abschlußprüfung Dr. iur., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Sprecher des Vorstandes C & L Treuhand-Vereinigung Deutsche Revision AGJ Frankfurt/Main: Grundsätze ordnungsmäßiger Rechenschaftslegung 789

WOLFGANG DIETER BUDDE,

Dr. rer. pol., Dr. rer. pol. h. c., Honorarprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, Vorsitzender des Aufsichtsrates der C & L Treuarbeit Deutsche Revision AG Frankfurt/Main: Zur Bestellung und Abberufung des Abschlußprüfers 819

KARL-HEINZ FORSTER,

XIII

Inhalt

Dr. iur., o. Professor an der Universität Bonn: Der doppelte Wirtschaftsprüfer ADOLF MOXTER, Dr. rer. pol., Dr. h.c., Dr. h. c., o. Professor an der Universität Frankfurt/Main: Bilanzrechtliche Probleme beim Geschäfts- oder Firmenwert RUDOLF J . N I E H U S , Dipl.-Kfm., Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Düsseldorf: Gewährleistung der Qualität der Jahresabschlußprüfung durch externe Kontrolle? M A R C U S LUTTER,

835

853

863

VI. Wirtschafts- und Steuerrecht Dr. iur., Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V., Köln, Rechtsanwalt, Düsseldorf: Bedeutung und Organisation der rechtlichen Betreuung von Konzernen und Unternehmen LEONHARD GLESKE, Dr. Dr. h. c., Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank i. R., Honorarprofessor an der Universität Mannheim: Uber einige institutionelle Aspekte der Europäischen Währungsunion . OTTOARNDT GLOSSNER, Dr. Dr., Rechtsanwalt und Notar, Kronberg/Ts.: Die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit - Versuch einer Standortbestimmung REINHARD GOERDELER, Dr. iur., Dr. h.c., Rechtsanwalt und Wirtschaftsprüfer, Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats der KPMG Deutsche Treuhand-Gesellschaft, Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Frankfurt/Main:

WOLFGANG GÄBELEIN,

Anmerkungen zu einer Unternehmenssteuerreform in der Bundesrepublik DIETER REUTER, Dr. iur., o. Professor an der Universität Kiel: Der nichtrechtsfähige wirtschaftliche Verein ULF R. SIEBEL, Dr. iur., Rechtsanwalt, Frankfurt/Main: Der Sekundär-Insider FRANZ WASSERMEYER, Dr. iur., Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor an der Universität Bonn: Der ertragsteuerliche Export stiller Reserven aus der Bundesrepublik Deutschland in einen anderen EG-Mitgliedstaat WOLFGANG ZÖLLNER, Dr. iur., o. Professor an der Universität Tübingen: Gemeinsame Betriebsnutzung - Kritische Bemerkungen zur Rechtsfigur des gemeinsamen Betriebs

881

895

909

917 931 955

977

995

Bibliographie Verzeichnis der Veröffentlichungen von JOHANNES

SEMLER

1015

I. Allgemeines

Macht und Gerechtigkeit M A R C U S BIERICH

I. Vorbemerkung In allen gesellschaftlichen Veranstaltungen stoßen wir auf das Phänomen der Macht. In einer offenen Gesellschaft wie der unsrigen wird ihre Verteilung und Ausübung immer wieder hinterfragt. Einerseits ist ihre Ausübung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbar; andererseits gibt die Überschreitung der ihr durch die Gerechtigkeit gesetzten Grenzen immer wieder Anlaß zu Kritik und Sorge. Johannes Semler hat uns in vielen Gesprächen zur Unternehmensführung auf diese Problematik hingewiesen. Der folgende Beitrag ist ihm in herzlicher Dankbarkeit und Verbundenheit gewidmet. II. Die Macht im Spannungsfeld von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Die Macht im Spannungsfeld von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft meint Macht über Menschen. Sie ist ein Phänomen, das erst mit dem Menschen als Mitglied der Gesellschaft entsteht. Für den Menschen als Einzelwesen, das er auch ist, spielt Macht im Sinne unseres Themas keine Rolle. Wir unterscheiden zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht. Träger der politischen Macht ist das Volk oder - nach neuerem Sprachgebrauch - die Gesellschaft. Träger der wirtschaftlichen Macht ist dagegen — in unserer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung — weder das Volk, die Gesellschaft, die Belegschaft noch das Management, sondern das Eigentum, und zwar in aller Regel das Privateigentum. Die politische Macht geht vom Volk aus, die wirtschaftliche vom Eigentum. Staat und Wirtschaft sind Schöpfungen des Menschen zur Erfüllung politischer und wirtschaftlicher Zwecke. Sie müssen sich an ihrer Zweckmäßigkeit messen lassen. Staaten, Länder und Gemeinden werden geschaffen, um bestimmte politische Zwecke zu erreichen: Ordnung im Inneren, Schutz nach außen, Erziehung und gesundheitliche Grundversorgung der Bevölkerung u. a. m. Hierbei handelt es sich um Leistungen, die allen Bürgern zustehen und sinnvollerweise nur für alle Bürger gemeinsam bereitgestellt werden können.

4

Marcus Bierich

Entsprechendes gilt für die Wirtschaftsunternehmen der verschiedenen Rechtsformen: Personen- und Kapitalgesellschaften, Genossenschaften und Verbände. Sie dienen bestimmten wirtschaftlichen Zwekken, die sie so zweckmäßig wie möglich erfüllen sollen: die Herstellung und Verteilung von Waren, die Bereitstellung von Dienstleistungen, u. a. m. Staat und Wirtschaft üben in dem Maße Macht aus, in dem sie ihnen von der Gesellschaft oder den Eigentümern verliehen wird. Die Macht des Staates und die Macht der Wirtschaft sind also abgeleitete Macht im Unterschied zur originären Macht der Gesellschaft und des Eigentums. Man kann abgeleitete Macht von originärer Macht terminologisch unterscheiden und nennt sie dann Herrschaft. Die Römer haben in diesem Sinne zwischen „potestas" und „auctoritas" unterschieden. Der Satz Ciceros, „potestas in populo, auctoritas in senatu", macht von dieser Unterscheidung Gebrauch. Im Deutschen wird zwischen den Begriffen „Macht" und „Herrschaft" terminologisch nicht mit der gleichen Strenge unterschieden. Das Wort „Macht" hat eine indogermanische Wurzel. Es bedeutet ursprünglich Kraft im körperlichen Sinne. Macht ist diejenige Kraft, die den Menschen befähigt, sein Leben zu führen, die ihn bewegt und sein Zusammenleben mit anderen Menschen bestimmt. Man kann sie mit der Kraft vergleichen, die einen Motor antreibt, oder mit der, die ein Magnetfeld ordnet. Macht ist an sich wertfrei. C. F. von Weizsäcker definiert sie als Akkumulation von Mitteln für freigehaltene Zwecke. Die Zwecke, für die sie eingesetzt wird, bestimmen ihren Charakter als gut oder böse, schöpferisch oder zerstörerisch. Der Macht liegt ein Trieb zugrunde, der zu den menschlichen Urtrieben gehört, wie Hunger, Durst oder der Geschlechtstrieb. Er unterscheidet sich aber dadurch von diesen, daß er grundsätzlich nicht zu erfüllen oder zu sättigen ist. Er kennt, wenn er nicht gebändigt oder kontrolliert wird, keine Grenzen. Wie das gesunde Wachstum der Zellen bei bestimmten Krankheiten in Wucherung übergeht, so auch die Macht, wenn sie nicht beherrscht wird. Macht bedarf der Beherrschung oder Begrenzung. Eine solche Begrenzung kann von innen, über die Selbstbindung des einzelnen an bestimmte Werte, oder von außen, durch allgemeine Gesetze und Verordnungen oder — ebenfalls von außen — durch Gegenmächte erreicht werden. III. Machtverteilung und Machtausübung in Staat und Wirtschaft 1. Im Staat In der politischen Geschichte geht es von jeher um Machtverteilung und Machtausübung. Die verschiedenen Herrschaftsformen wie Monar-

Macht und Gerechtigkeit

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chie, Aristokratie und Demokratie teilen die Macht des Volkes in unterschiedlicher Weise auf. In der Demokratie verteilt das Volk sie auf drei Stufen. Es wählt die Regierung für eine bestimmte Zeit entweder direkt - wie in einigen Schweizer Kantonen - oder indirekt über ein Parlament. Das Parlament hat die gesetzgeberische Macht oder, wie es in diesem Zusammenhang auch heißt, die gesetzgeberische Gewalt, es ist Legislative. Die Regierung hat die ausübende Gewalt, sie ist Exekutive. Eine dritte Gewalt, die Gerichtsbarkeit oder Judikative, kommt seit Montesquieu hinzu. Sie überwacht die Einhaltung der Gesetze. Wir haben es also im staatlichen Bereich unserer Demokratie mit einem System von drei verschiedenen Kräften oder Gewalten zu tun, die sich die Macht teilen und sie im Gleichgewicht halten. Die durch die Verfassung nicht legitimierte „vierte Gewalt", die Medien, spielt als kritisches Gewissen eine zusätzliche Rolle.

2. In der

Wirtschaft

Für die Wirtschaft gilt grundsätzlich ähnliches. Auch hier besteht ein System verschiedener Kräfte, die auf gegenseitige Kontrolle und Gleichgewicht angelegt sind. N u r liegt hier die ursprüngliche Macht nicht beim Volk oder den Mitarbeitern der Unternehmen, sondern bei deren Eigentümern. Sie üben die Führung ihrer Unternehmen entweder selbst aus, oder sie wählen - direkt oder über einen Aufsichtsrat - eine Geschäftsführung oder einen Vorstand, dem sie bestimmte Führungsrechte übertragen. Die Kontrollrechte behalten sie sich entweder selbst vor oder sie delegieren sie - ganz oder teilweise - an den Aufsichtsrat. Neben den aus dem Eigentum abgeleiteten internen Kontrollen bestehen in der Wirtschaft noch eine Reihe externer Kräfte, die die Macht einer Unternehmensführung begrenzen. Dies sind in erster Linie die staatlichen Organe, die regulierend oder begrenzend auf die Unternehmensführungen einwirken, sei es durch die Setzung genereller Normen und Vorschriften, sei es durch fallweise Eingriffe in den Wirtschaftsprozeß. Zweitens sind es die Wettbewerber, die mit gleichen oder ähnlichen Produkten am Markt tätig sind und Druck auf die Erlöse der Unternehmen ausüben. Man kann sie mit den fremden Staaten im politischen Bereich vergleichen. An dritter Stelle sind es die Organisationen der Arbeitnehmer, die Gewerkschaften, die auf ständige Lohnerhöhungen und Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei gleichzeitiger Verkürzung der Arbeitszeit drängen. Man könnte sie mit der parlamentarischen Opposition vergleichen. Viertens unterliegen die Unternehmen noch der Beurteilung durch die Mitarbeiter selbst, die als Einzelpersonen abkehren, wenn ihnen die Arbeitsbedingungen nicht mehr zusagen.

6

Marcus Bierich

Schließlich haben wir es auch hier mit einer zusätzlichen Kontrolle durch die Medien zu tun, die sich mit den wesentlichen Geschehnissen der Wirtschaft befassen. IV. Kritik an der gegebenen Machtverteilung und -ausübung Trotz dieses auf Ausgleich angelegten Systems von Kräften und Gegenkräften werden die Verteilung der Macht und ihre Ausübung in Staat und Wirtschaft ständig kritisiert. Warum? Was liegt dieser Kritik zugrunde? Welche konkreten Vorwürfe werden gegen die Politiker und Unternehmer, denen durch Wahl, Eigentum oder Vertrag Macht anvertraut ist, erhoben? 1. Kritik an der gegebenen

Machtverteilung

Ich beginne mit den Vorwürfen gegen die Machtverteilung. Hier werden - allgemein gesprochen - diejenigen Entwicklungen kritisiert, die das bestehende Gleichgewicht der Kräfte gefährden oder gefährden können. - Gegenstand der Kritik sind das Ubermächtigwerden einzelner Personen, Parteien oder Gesellschaften im Staat sowie das Übermächtigwerden einzelner Unternehmen oder Unternehmensgruppen in der Wirtschaft. Die schiere Größe eines Unternehmens z. B. kann Ängste erwecken und Kritik hervorrufen. - Das gleiche gilt für die Verbindung wirtschaftlicher und politischer Macht. Hier befürchtet man insbesondere, daß der Staat von wirtschaftlichen Gruppierungen im Inland oder im Ausland abhängig werden könnte. - In neuester Zeit kommt die Sorge hinzu, die nationale Handlungsfreiheit könne durch eine zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft verlorengehen. - Daneben gibt es Vorwürfe, die aus ideologischen Gründen gegen unser Wirtschaftssystem erhoben werden. Hierher gehört vor allem die Kritik am Eigentum als Grundlage wirtschaftlicher Macht. - Eine Verunsicherung der Bürger, die ihre Stellung gegenüber Staat und Wirtschaft zunehmend als ohnmächtig und hilflos empfinden, scheint zu ihrer kritischen Haltung beizutragen. Lassen Sie mich auf diese Vorwürfe der Reihe nach kurz eingehen und mich dabei auf den wirtschaftlichen Bereich beschränken. a) Der erste Kritikpunkt betrifft die der freien Wirtschaft innewohnende Tendenz zur Konzentration, die den Wettbewerb und damit die Machtbalance gefährdet. Diese Gefahr ist tatsächlich vorhanden. Die Väter unserer sozialen Marktwirtschaft haben sie auch gesehen und sind

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ihr mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen entgegengetreten. Durch dieses Gesetz wurde seinerzeit das Bundeskartellamt gegründet, das mit seiner Rechtsprechung Monopolbildungen zu verhindern sucht. Wettbewerb ist, nach Franz Böhm, „das genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte". Wir erleben zur Zeit, wie auf europäischer Ebene entsprechende Regelungen getroffen werden. Dennoch hat die Konzentration in der Wirtschaft, d. h. die Verflechtung der Unternehmen untereinander, in den letzten Jahrzehnten zugenommen. In dieser Hinsicht sind insbesondere die Großunternehmen Vorwürfen ausgesetzt, - weil das Konkursrisiko, das die Macht der Kapitaleigner normalerweise begrenzt, für Großunternehmen anders als bei Klein- und Mittelbetrieben weitgehend entfällt. Damit wird ein wichtiger Gleichheitsgrundsatz verletzt. - Zum anderen, weil private und staatliche Interessen bei industriepolitischen Projekten von Großunternehmen häufig zusammenfallen. - Zum dritten, weil sich Großunternehmen mit der zunehmenden Internationalisierung dem nationalen Ordnungsrahmen entziehen können. In Konkurs geht ein Unternehmen dann, wenn es aus eigener Kraft nicht mehr zahlungsfähig ist und keine Hilfe von außen eintritt. Würde das ein Großunternehmen mit Tausenden von Beschäftigten treffen, so stünden ganze Regionen vor dem Ruin. Deshalb tritt ein solcher Fall faktisch nicht ein. Statt dessen kommen andere Großunternehmen und Großbanken zusammen, um den Gefährdeten zu stützen. Die öffentliche Hand gewährt Bürgschaften oder staatliche Überbrückungshilfen oder Anschubfinanzierungen oder ähnliches. Diese Hilfen gehen letztlich zu Lasten des Steuerzahlers. Das private Konkursrisiko wird durch eine staatliche Beschäftigungsgarantie und die Inkaufnahme weiterer Konzentration sozialisiert. Fälle dieser Art, im In- und Ausland, haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten mehrfach erlebt. b) Damit verbunden ist die Kritik an solchen Aktivitäten, die Staat und Großunternehmen gemeinsam für spezielle industriepolitische Ziele unternehmen. Auch diese Kritik ist teilweise berechtigt. Der Staat als Unternehmen erweckt Mißtrauen. Die Ziele, die solche Aktivitäten im nationalen Interesse in einer zunehmend integrierten Weltwirtschaft rechtfertigen könnten, bedürfen der öffentlichen Diskussion. Dabei ist zu bedenken, daß kleinere und mittlere Unternehmen von solchen Verbindungen meist ausgeschlossen werden. Steuergelder fließen in Projekte, an denen der Mittelstand in aller Regel nicht beteiligt ist und die für mögliche Steuersenkungen, die allen Investoren und allen Forschungsvorhaben zugute kämen, nicht mehr zur Verfügung stehen. Die

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Hoffnung, daß hier vielleicht jeder einmal an die Reihe komme, ist vom System her gesehen - kein Trost. c) Der dritte Vorwurf, daß wir mit zunehmender Internationalisierung dem nationalen Ordnungsrahmen entwachsen, beschreibt unsere wirtschaftspolitische Entwicklung zutreffend. Wir können uns der Internationalisierung als allgemeinem Trend aber nicht entziehen, weil der überproportional steigende Aufwand für neue Produkte der Spitzentechnologie nur auf dem Weltmarkt wieder eingespielt werden kann und auf diesem Weltmarkt ein scharfer Wettbewerb herrscht. Daraus leitet sich alles andere ab, bis hin zum immer intensiveren Standortwettbewerb und dem immer stärkeren Wettbewerbsdruck auf Zulieferer und Mitarbeiter. Solange wir Teil einer offenen Weltwirtschaft sind und bleiben, ist ein Zurückziehen auf heimatliche Nischen nicht möglich. Die meisten, die diese Entwicklung beklagen, würden die realwirtschaftlichen Konsequenzen einer Umkehr, nämlich die Rückkehr zur Autarkie, nicht akzeptieren; jeder weiß, daß es unter Effizienzgesichtspunkten keine Alternative zur weltweiten Integration gibt. Wer sich ihr entzieht, wird bestraft. Die bedrückende wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung ist dafür ein Beispiel. Die Internationalisierung hat zur Folge, daß die nationale Politik gezwungen wird, weltwirtschaftliche Zusammenhänge zu berücksichtigen und sich dem Standortwettbewerb zu stellen. Für die einzelnen Staaten und ihre Bürokratien, aber auch für Gewerkschaften und national ausgerichtete Unternehmen ist das unbequem. Dennoch bleibt die Internationalisierung notwendig. Sie bricht Verkrustungen und Strukturen in den einzelnen Ländern auf und trägt durch grenzüberschreitende Verflechtungen zur friedlichen Kooperation zwischen den Nationen bei. Die Unternehmen leisten insofern Pionierdienste für eine Zusammenarbeit der Nationen. Gleichzeitig setzen sie der Politik neue Aufgaben, nämlich die Schaffung eines zuverlässigen Ordnungsrahmens für die Globalisierung der Wirtschaft. d) Eigentum als Grundlage wirtschaftlicher Macht ist für manche Kritiker unserer Wirtschaftsordnung ein Fremdkörper, der nach ihrer Auffassung nicht in unsere demokratisch verfaßte Gesellschaft paßt. Wir müssen uns deshalb fragen, ob diese Kritik berechtigt ist oder ob nicht die empfohlene Alternative, nämlich die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden sowie an den Produktionsmitteln, ihre Glaubwürdigkeit durch die damit gemachten Erfahrungen inzwischen gänzlich verloren hat. Eigentum ist Verfügungsmacht über Sachen. Wenn diese Sachen mit Arbeitsplätzen verbunden sind, wie dies bei landwirtschaftlichen und industriellen Betrieben der Fall ist, so ist der Eigentümer zugleich

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Arbeitgeber und Vorgesetzter von Arbeitnehmern. Sein Arbeitnehmer ist insofern von ihm abhängig. Aber diese Abhängigkeit besteht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern grundsätzlich. Die EigentümerEigenschaft fügt der Arbeitgeber-Eigenschaft insofern nichts hinzu. Dementsprechend ändert auch der von Marx verlangte Wegfall der Eigentümer-Eigenschaft nichts an diesem Verhältnis. Die Abschaffung des Eigentums an Grund und Boden sowie an den Produktionsmitteln und dessen Übertragung auf den Staat modifiziert nur das Bestellverfahren für die Führung der landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe, indem der Staat anstelle des privaten Eigentümers die Bestellung vornimmt. Die Übertragung des Eigentums an Grund und Boden und an den Produktionsmitteln vom Privatunternehmer auf den Staat ist aber, wie wir gerade wieder erfahren, mit entscheidenden Nachteilen verbunden, nämlich mit der Zentralisierung von Entscheidungen, die aus betriebswirtschaftlich-organisatorischen Gründen besser dezentral gefaßt werden. Eine solche Übertragung führt deshalb zu keiner Besserstellung der Arbeitnehmer, sondern nur zu einer unzweckmäßigen Organisationsform. Sie beseitigt darüber hinaus das Besitzstreben breiter Bevölkerungsschichten und zerstört damit den Motor wirtschaftlichen Handelns. Denn das Streben nach Privateigentum stellt die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen in den Dienst des Gemeinwohls, wenn und soweit die gesellschaftliche Funktion des Eigentums, nämlich ihre Sozialverpflichtung, angemessen - insbesondere durch Gesetz und Rechtsprechung - berücksichtigt wird. Die Marxsche Kritik am Eigentum als Grundlage wirtschaftlicher Macht gehört in den Kontext der politisch-wirtschaftlichen Verhältnisse des vorigen Jahrhunderts. In England, wie in den anderen europäischen Ländern, war das aktive und passive Wahlrecht ursprünglich den Grundeigentümern vorbehalten. Nach der Revolution von 1688 erzwangen die Handwerker und Kaufleute in den Städten die Zulassung anderer Eigentumsformen - an Häusern, Waren und Betrieben - als Grundlage des Wahlrechts. Das wirtschaftliche Eigentum - einschließlich des Eigentums an Produktionsmitteln - wurde damit zur Basis der politischen Freiheit und Unabhängigkeit der Bürger. Frankreich hat diese Reformen 1789 nachvollzogen. Preußen folgte Anfang des 19. Jahrhunderts. Damit entfielen aber in allen drei Ländern viele bis dahin gültige Auflagen und Fürsorgevorschriften zum Schutze der Arbeitnehmer. Diese nachlassende Sozialbindung des Eigentums und die damit verbundenen gravierenden Mißstände in England veranlaßten Marx zu seiner Forderung nach Abschaffung des Privateigentums. Sie ging dahin, die politischen und wirtschaftlichen Belange einheitlich dem Volkswil-

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len, d.h. dem Staat zu unterwerfen, wobei die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gleichgestellt werden sollten. Das bedeutete Einparteienherrschaft und Staatseigentum. Die Umsetzung dieser Forderung in die Wirklichkeit zeigte jedoch, wo sie erfolgte, daß die erhoffte Homogenität der verschiedenen Gruppen und ihre Ausrichtung auf das Gemeinwohl auf diesem Wege nicht zu erreichen war. Die staatliche Verwaltungswirtschaft erwies sich als unfähig, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Die Reformen gingen deshalb bei uns in eine ganz andere Richtung. Schon die Bismarcksche Sozialgesetzgebung zielte darauf ab, die sozial Schwachen gegen allgemeine Lebensrisiken zu schützen. Die 1949 bei uns eingeführte soziale Marktwirtschaft hat dieses Werk fortgesetzt und ihm die Stärkung des Wettbewerbs als weiteres wirtschaftspolitisches Ziel hinzugefügt. Sie hat das eine durch die Fortentwicklung unseres Arbeits- und Sozialrechts sowie die laufende Rechtsprechung der Arbeitsgerichte erreicht, das andere durch das schon erwähnte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und die Entscheidungen des Bundeskartellamts. Die Einführung der Mitbestimmung sowie die steuerliche Begünstigung des Miteigentums der Belegschaftsmitglieder an ihren Unternehmen in Form von Belegschaftsaktien dienen dem gleichen Ziel. Insgesamt wurde damit ein Instrumentarium geschaffen, das es erlaubt, die unvermeidlichen Konflikte zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen soweit wie möglich mit Hilfe der Gesetze und der Rechtsprechung zu lösen.

2. Kritik an der gegebenen

Machtausübung

Ich komme dann zu den Vorwürfen gegen die Machtausübung in Staat und Wirtschaft. Hier geht es zuerst um die Zwecke, für die die staatliche oder wirtschaftliche Macht eingesetzt wird, dann aber auch um die Angemessenheit der Mittel, mit denen diese Zwecke erreicht werden sollen. Ich beginne mit dem staatlichen Bereich. Die staatlichen Einrichtungen wurden geschaffen, um bestimmte Zwecke möglichst effizient zu erreichen. Beispiele solcher Zwecke sind die erwähnte Ordnung im Inneren, der Schutz nach außen, die Erziehung und gesundheitliche Grundversorgung der Bevölkerung u. a. m. Wenn die Behörden diese Zwecke aus den Augen verlieren oder nur ungenügend erreichen oder wenn sie sich von ihrer Basis, die ihnen diese Zwecke vorgegeben hat, entfernen, d. h. von ihrer Verankerung in der Gesellschaft, so setzen sie sich damit berechtigter Kritik aus. Man bezeichnet eine solche Entwicklung als Emanzipation der Macht, d. h. Loslösung von der Basis. Sie wirkt sich in Bürokratisierung und Anonymisierung der staatlichen Verwaltungen aus und führt dazu, daß sich der

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ursprüngliche Volkswille im Verwaltungsapparat nicht mehr durchsetzt. Sie widerspricht damit den Zielen der Demokratie. Die Politiker werden in solchen Fällen zu Funktionären ihrer Parteien. Partikulare Interessen gewinnen gegenüber denen der Allgemeinheit die Oberhand. Das Vertrauen des Bürgers in seine Volksvertreter geht verloren. Die Distanz zwischen Volk und Volksvertretung höhlt die Demokratie aus. Eine solche Entwicklung ist zu kritisieren und zu beklagen. Sie ist aber wohl für heutige Verwaltungen typisch. Die zunehmende Komplexität unserer Lebensumstände wirkt sich auch in der Politik aus. U m mitreden und um mitentscheiden zu können, müssen die Politiker zu Experten werden, sich Fachwissen aneignen, das in einer volksnahen Sprache schwer zu vermitteln ist. Bei aller eigenen Anstrengung werden sie ihr Urteil auf den Rat von Spezialisten stützen müssen. Die Bürokratie steht vor ähnlichen Problemen. Man kritisiert sie, erwartet aber gleichzeitig eine stabile, verläßliche Rechtsanwendung. Anders verhält es sich mit der Effizienz. Hier sind ständige Verbesserungen möglich und notwendig. Wir sollten vor allem der Bürokratisierung der Macht entgegenwirken - durch eine Vereinfachung der Gesetze und Verordnungen - z. B. der Steuergesetze - , die den Bürgern mehr Einsicht und Gestaltungsspielraum gewähren, - oder durch eine stärkere Beteiligung aller Bevölkerungskreise an politischen Entscheidungen mindestens im bürgernahen Bereich im Sinne einer Dezentralisierung der Entscheidungsvorgänge - oder durch weitere Privatisierungen bisher staatlicher Aufgaben im Sinne einer Deregulierung, wie wir sie gerade bei der Post und anderen Staatsbetrieben erleben, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Aber solche Maßnahmen sind umstritten. Das Eigeninteresse der jeweilig Betroffenen sowie die sozialistische Ideologie stehen einer Liberalisierung und Deregulierung entgegen. Ich komme dann zu den Vorwürfen, die gegen die Ausübung der Macht in der Wirtschaft erhoben werden. Sie betreffen auch hier die Zwecke, für die die Wirtschaft ihre Mittel einsetzt, und hier insbesondere die Verträglichkeit dieser Zwecke mit den Interessen der Allgemeinheit. Sie betreffen aber auch die Angemessenheit der Mittel, also ihre Zweckmäßigkeit. Bei der Behandlung der Machtausübung im Staat sind wir der Gefahr begegnet, daß die Interessen einzelner, z . B . der Parteien, nicht mit denen der Allgemeinheit übereinstimmen. Aber in einer funktionierenden Demokratie ist diese Gefahr gering. Wir haben das Thema deshalb

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nicht vertieft, sondern haben uns der in diesem Zusammenhang größeren Gefahr, der mangelnden Effizienz der Machtausübung zugewendet. In der Wirtschaft liegen die Verhältnisse gerade umgekehrt. Die Effizienz des Mitteleinsatzes ist hier in der Regel gegeben. Dagegen ist die Gefahr, daß die einzelwirtschaftlichen Zwecke der Unternehmen mit den gesellschaftlichen Interessen der Allgemeinheit kollidieren, von großer und zunehmender Bedeutung. Dies hängt mit dem Zuwachs an technischer Macht und Machbarkeit zusammen, den wir der naturwissenschaftlichen Forschung verdanken. Dieser Zuwachs der Macht - und damit an Gefahr - dürfte ein wesentlicher Grund für die wachsende Kritik sein, die gegen die Machtausübung der Wirtschaft vorgebracht wird. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläutern. Die Landwirtschaft ist bekanntlich an einer möglichst intensiven Nutzung ihrer Böden interessiert. Zu diesem Zweck setzt sie immer mehr künstlichen Dünger ein. Kunstdünger enthält aber Schadstoffe, die die Gesundheit der Bevölkerung gefährden, wenn sie in das Grund- und Trinkwasser gelangen. In solchen Fällen entsteht ein Konflikt zwischen den Einzelinteressen der Landwirtschaft sowie der chemischen Industrie einerseits und den allgemeinen Interessen der Gesellschaft andererseits. Er wird von den Behörden in der Regel zugunsten der Gesellschaft entschieden, indem die Herstellung und der Vertrieb der fraglichen Düngerarten untersagt wird. In der Öffentlichkeit aber bleibt der Vorwurf gegen die Industrie und ihre Abnehmer bestehen, die Gesundheit der Bevölkerung - aus eigensüchtigen Gründen - gefährdet zu haben. Das zweite Beispiel betrifft die Automobilindustrie. Sie wurde Anfang der achtziger Jahre beschuldigt, Motoren herzustellen, die gesundheitsgefährdende Abgase und Rußpartikel emittieren. Es bestanden jedoch keine gesetzlichen Bestimmungen oder Vorschriften, die Grenzwerte festlegten und den Staat ermächtigten, bei Überschreitung dieser Grenzwerte einzuschreiten. So mußte zuerst der Gesetzgeber tätig werden und geeignete Vorschriften erlassen. Diese Vorschriften wurden dann die Grundlage der heute geltenden Grenzwerte. Aber auch hier blieb der Vorwurf bestehen, die Industrie habe die Gesundheit der Bevölkerung aus eigennützigen Gründen gefährdet, wobei man sich an diesem Beispiel klar machen kann, daß die Gefährdung durch Abgas und Rußpartikel, die natürlich immer schon bestand, erst Anfang der achtziger Jahre ins Bewußtsein der Bevölkerung eindrang. Vorher spielte sie offenbar keine so beunruhigende Rolle. Die Gesundheit der Bevölkerung ist aber nur ein gesellschaftliches Gut unter mehreren. Andere solche Güter sind die Natur oder die Umwelt, aber auch, wie die jüngsten Diskussionen zeigen, der Welt-

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friede und die Zukunft, die letztere als Vorsorge für die nach uns kommenden Generationen verstanden. Der Bevölkerung erscheinen diese Güter gefährdet. Sie fühlt sich zusammen mit diesen Gütern bedroht. Ihre Angst wird durch die Medien verstärkt. Als Verursacher ihrer Angst sieht sie die Technik als Urheber und die Industrie als deren Anwender. Sie wirft insbesondere der Industrie vor, mit ihren Produktionen die Interessen der Gesellschaft zu schädigen, und fordert sie - direkt oder durch das Sprachrohr der Medien - auf, ihre Belange den Prioritäten der Gesellschaft unterzuordnen. Gleichzeitig fordert sie den Staat auf, durch immer neue Gesetze und Vorschriften zum Schutze der gesellschaftlichen Güter den Handlungsspielraum der Industrie einzuengen und deren Macht einzuschränken. Mit diesen Vorwürfen gegen die Machtausübung der Wirtschaft müssen wir uns also auseinandersetzen. Dabei hilft uns der Hinweis, daß die Zukunftsvorsorge in den bisherigen sozialistischen Planwirtschaften, in denen der Staat die Regie führte, noch sehr viel stärker vernachlässigt wurde, wenig. Er ist zwar richtig, trägt aber zur Lösung unseres Problems nichts bei. Was können wir also diesen Vorwürfen entgegenhalten? Der Begründer der modernen Nationalökonomie, Adam Smith, hat gelehrt, daß der höchste betriebswirtschaftliche Nutzen der Unternehmen auch den höchsten volkswirtschaftlichen Nutzen zur Folge habe. Und der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Milton Friedman drückt denselben Gedanken - etwas überspitzt - so aus: „Die einzige soziale Verantwortung des Unternehmers besteht darin, seinen Gewinn zu erhöhen." Aber diese Antworten überzeugen unsere heutigen Kritiker nicht mehr. Sie rechnen uns vor, daß z. B. der Güterverkehr auf der Straße nur einen Bruchteil seiner volkswirtschaftlichen Kosten selbst trägt, während der Rest dem Steuerzahler zur Last fällt. Betriebswirtschaftliche Gewinne können also mit volkswirtschaftlichen Verlusten verbunden sein, von den nicht quantifizierbaren Umweltschäden ganz zu schweigen. Dagegen lohnt es sich, an dieser Stelle zu fragen, welche Auffassung unternehmerischen Handelns die Väter der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, vertraten. Die Antwort ist eindeutig. Nach ihrer Auffassung haben die Unternehmen die primäre Aufgabe, die materielle Versorgung der Menschen - einer Region oder einer Nation - zu gewährleisten und Armut zu überwinden. Die Unternehmen sind Dienstleister der Gesellschaft. Sie erfüllen ihre Aufgabe, wenn sie die vorhandenen Ressourcen effizient nutzen, auf eigene Verantwortung neue Produkte und Produktionsverfahren entwickeln und sich in die internationale Arbeitsteilung einordnen.

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Die Aufgabe des Staates ist es in diesem Zusammenhang, die Konfliktfelder zu begrenzen, indem er den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft klar definiert, also die Grenzen ihres Handelns durch Gesetze und allgemeine Normen bestimmt. Uberall dort, wo der staatliche Ordnungsrahmen den Interessen der Gesellschaft und insbesondere den zukünftigen gesellschaftlichen Erfordernissen nachhinkt, ist die Verantwortung der Unternehmen in besonderem Maße gefordert. Dies gilt zum Beispiel für die Ökologie. Die Wahrnehmung unserer Verantwortung im Umweltbereich wird allerdings dadurch erschwert, daß sich die internationalen Wettbewerber häufig nicht nach unseren Maßstäben richten. V. Macht und Gerechtigkeit Staat und Wirtschaft beruhen auf einem System von Mächten und Gegenmächten, auf das immer neue Kräfte von außen und innen einwirken. Es kommt deshalb darauf an, das Gleichgewicht des Systems zu erhalten oder ständig neu herzustellen. Um das zu erreichen, müssen wir die Macht des einzelnen begrenzen. Eine Möglichkeit dazu besteht nach Kant darin, die Macht „mit der Gerechtigkeit zu verbinden", wobei der Begriff der Gerechtigkeit noch der Definition bedarf. Für unseren Zweck mag es ausreichen, daß er die folgenden vier Elemente, die Bernd Rüthers in seiner „Rechtsordnung und Wertordnung" nennt, enthält: -

Freiheit als Selbstbestimmungsrecht Gleichheit aller in der Menschenwürde und vor dem Gesetz Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit.

Es kommt also darauf an, den Machttrieb des Menschen zu begrenzen, ohne ihn zu ersticken. Denn wir brauchen ihn als Triebfeder. Er ist der Motor, der den Menschen und die Gesellschaft bewegt. In einer jüngeren Allensbach-Umfrage bei deutschen Unternehmen gaben über 80 % der Befragten an, daß es für sie das Wichtigste sei, unabhängig zu sein und etwas gestalten zu können. (Die „Möglichkeit, etwas zu gestalten", ist eine Definition von Macht.) In einer neueren Umfrage bei Studenten in Westeuropa gab ein Drittel der befragten männlichen Studenten an, daß Macht für sie die Triebfeder für ihren künftigen Erfolg sei; bei den Studentinnen lag diese Quote bei 25 % . Nun haben aber die Möglichkeiten globaler Machtausübung in den vergangenen 100 Jahren in atemberaubendem Tempo zugenommen. Die gesetzlichen Bestimmungen haben mit dieser stürmischen Entwicklung nicht Schritt gehalten. Dies um so weniger, als sich die Auswirkungen technischer Neuerungen auf die gesellschaftlichen Güter in der Regel

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nicht voraussehen lassen. O b das Verantwortungsbewußtsein der Menschen und ihre Bereitschaft zur Selbstkontrolle im gleichen Maße gewachsen sind, muß bezweifelt werden. Wir können diese Fähigkeiten nicht messen. Das Urteil über ihre Entwicklung fällt dementsprechend auch unterschiedlich aus, von hoch optimistisch bis tief pessimistisch. Neuerdings hat sich Hans Jonas in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung" gerade mit diesem Aspekt unseres Themas gründlich befaßt. Was können wir nun selber zu einer ausgewogenen Balance der verschiedenen Kräfte - in uns selbst und bei anderen - beitragen? Wir haben die Aufgabe, in unseren Unternehmen Ziele zu setzen und zu verfolgen. Dafür üben wir Macht aus. Bei unseren Entscheidungen stützen wir uns auf unser Gewissen und auf ethisch-moralische Regeln. Wir versuchen die zukünftigen Folgen unserer Handlungen für das Glück oder den Nutzen der davon betroffenen Personen abzuschätzen und uns für diejenige Alternative zu entscheiden, die das größte Glück für die größte Zahl der Beteiligten mit sich bringt. Die klassischen Regeln der Gerechtigkeit und ein geschärftes Verantwortungsbewußtsein können uns helfen, wenn es darum geht, - Interessenkonflikte abzuwägen und einen Konsens oder Kompromiß zu finden; - die Folgen unseres Tuns für die Gesellschaft im ganzen oder Teile von ihr rechtzeitig zu bedenken und kostenaufwendige Korrekturen von vornherein auszuschließen; - gesetzliche Auflagen nicht erst abzuwarten, sondern drohende Fehlentwicklungen von Anfang an zu vermeiden. Mit ihrer Hilfe sollten wir uns um den Ausgleich zwischen den einzelwirtschaftlichen Zielen unserer Unternehmen und den gesellschaftlichen Interessen der Allgemeinheit bemühen.

Begegnung mit der politischen Vergangenheit im Osten Deutschlands Als Vertrauensbevollmächtigter beim Vorstand der Treuhandanstalt 1990-1992

ALBRECHT KRIEGER

Am 28. April 1993 wird Johannes Semler 70 Jahre alt. Ich freue mich sehr und betrachte es als eine hohe Auszeichnung, an der aus diesem Anlaß ihm zu Ehren gewidmeten Festschrift mitwirken zu dürfen. Ich lernte Johannes Semler 1970 kennen und hatte alsbald danach die Gelegenheit, über sieben Jahre hin, von 1972 bis 1979, mit ihm in der Unternehmensrechtskommission beim Bundesministerium der Justiz unter dem Vorsitz des unvergessenen Otto Kunze zusammenzuarbeiten. Es war immer ein Genuß, und die Mitglieder der Kommission werden mir dies bestätigen, in den Verhandlungen der Kommission seine sich stets durch Sachgerechtigkeit, Prägnanz und juristischen Scharfsinn auszeichnenden Beiträge zu erleben. Die Kommission hat zwar ihre Arbeit nicht mit einer neuen Konzeption für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene oder gar gesetzgeberischen Vorschlägen abschließen können - dazu waren die Auffassungsunterschiede und Interessengegensätze unter ihren hochrangigen und selbstbewußten Mitgliedern doch zu groß. Der umfassende Bericht der Kommission vom 18. Dezember 19791 aber ist zu einem „Steinbruch des Gesellschaftsrechts" geworden und hat dies ganz wesentlich auch Johannes Semler zu verdanken. In der Folgezeit bin ich ihm immer wieder und bei den verschiedensten Gelegenheiten begegnet und hatte dann die große Freude, ihn nach meiner Pensionierung zunächst bei dem denkwürdigen, maßgeblich auf seine Initiative zurückgehenden Symposium für 60 Wirtschaftsjuristen aus der damals noch bestehenden D D R im Sommer 1990 im Ausbildungszentrum „Lämmerbuckel" der Daimler-Benz A G auf der Schwäbischen Alb 2

1 Bericht über die Verhandlungen der Unternehmensrechtskommission, herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, Verlag Dr. Otto Schmidt K G , Köln 1980. 2 Lutter/Semler, Rechtsgrundlagen freiheitlicher Unternehmenswirtschaft, Köln 1991.

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und dann schon bald nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Rahmen meiner Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigter beim Vorstand der Treuhandanstalt wieder zu treffen. Auch er hatte sich in die Pflicht nehmen lassen und die verantwortungsvolle und wahrlich nicht leichte, ihn unter den gegebenen Umständen voll herausfordernde Aufgabe des Aufsichtsratsvorsitzenden der Textima A G in Chemnitz übernommen, des größten Textilmaschinenbau-Unternehmens der ehemaligen D D R , das nun von der Treuhandanstalt verwaltet wurde. Wir haben im Rahmen der für uns beide ganz neuen Aufgabe manche fruchtbaren Gespräche geführt. Im Juni 1991 habe ich auf seine Initiative hin im Springer-Hochhaus in Berlin vor den Geschäftsführern sämtlicher Tochterunternehmen der Textima A G nach der Präsidentin der Treuhandanstalt, Frau Birgit Breuel, auch über unsere Aufgabe als Vertrauensbevollmächtigte beim Vorstand der Treuhandanstalt berichten dürfen und war dann wirklich betroffen, im Dezember 1991 von ihm die Mitteilung zu erhalten, daß er konkreten Anlaß hatte, sein herausragendes Amt als Aufsichtsratsvorsitzender der Textima A G kurzfristig niederzulegen. U m so mehr bin ich dankbar, den Dialog mit ihm über die Problematik der politischen Vergangenheit im Osten Deutschlands, die uns damals schon so intensiv beschäftigt hat, nun mit diesem Beitrag zu der ihm zu seinem 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift fortsetzen zu können.

I. Die Einsetzung der Vertrauensbevollmächtigten 1. Am 30. April 1990 bin ich mit der Vollendung meines 65. Lebensjahres aus dem aktiven Dienst des Bundesministeriums der Justiz ausgeschieden, dem ich seit 1953 angehört habe und in dem ich 20 Jahre die Leitung der Abteilung Handels- und Wirtschaftsrecht innehatte. Am 12. Oktober 1990 endete meine Amtszeit als Präsident des Verwaltungsrates der Europäischen Patentorganisation, in dem ich seit der Errichtung dieser Organisation im Jahre 1977 die Bundesrepublik Deutschland vertreten habe und zu deren Präsidenten ich 1987 gewählt worden war. Nur knapp eine Woche später, am 18. Oktober 1990, stellte mir der damalige Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, Dr. Klaus Kinkel, die Frage, ob ich bereit sei, im Zusammenhang mit der gerade zwei Wochen zuvor vollzogenen Wiedervereinigung Deutschlands eine neue Aufgabe in Berlin zu übernehmen: der Bundeskanzler habe in der Kabinettsitzung am Vortage über seine Erfahrungen im Wahlkampf zu den Landtagswahlen in den neuen Bundesländern am 14. Oktober 1990 und insbesondere darüber berichtet, daß er von den Menschen dort immer wieder darauf angesprochen worden sei, warum sich in diesem

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Teil des nun wiedervereinigten Deutschlands noch nicht mehr verändert habe, warum immer noch die Quälgeister von gestern in den leitenden Positionen von heute säßen und weiterhin das Sagen hätten, als ob inzwischen nichts geschehen wäre. Das könne man, so habe der Bundeskanzler erklärt, doch nicht einfach so hinnehmen und auf sich beruhen lassen, da müsse etwas geschehen, und habe deshalb das Bundeskanzleramt und den Bundesminister der Justiz gebeten, umgehend die notwendigen Schritte in die Wege zu leiten. Deshalb komme es jetzt darauf an, einige pensionierte hochrangige Richter und Justizbeamte zu finden, die bereit seien, sich dieser Problematik anzunehmen. Wenn einem zwei Wochen nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 eine solche Frage gestellt wurde, konnte man kaum nein sagen: man fühlte sich wie in eine patriotische Pflicht gerufen. Und natürlich spielte dabei auch eine Rolle, daß ich mir, von Hause aus Berliner, doch während meines ganzen Berufslebens auch nicht im Traum hätte vorstellen oder einfallen lassen können, eines Tages einmal in einem Büro am Alexanderplatz für die Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands tätig zu sein - so sehr ich mir der Verpflichtung der Präambel des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", immer bewußt geblieben bin. Am 25. Oktober fand die erste Vorbesprechung im Bundeskanzleramt statt, an der auch der Präsident der Treuhandanstalt, D r . Detlev Karsten Rohwedder, teilnahm und in der die konkrete Aufgabe definiert wurde: Hinweisen auf die politische Vergangenheit von Personen mit Leitungsfunktionen in den von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen nachzugehen (die Bereiche öffentliche Verwaltung, Bildung und Wissenschaft, Bahn und Post sowie die Treuhandanstalt selbst wurden ausdrücklich ausgenommen). Am 29. Oktober führten mein Kollege Dr. Erich Bülow, ebenfalls ehemaliger Abteilungsleiter aus dem Bundesministerium der Justiz, und ich erste Gespräche mit dem Vorstand der Treuhandanstalt in Berlin, bereits am 5. November konnte Staatssekretär Dr. Kinkel dem Bundeskanzleramt die vorgesehenen insgesamt 17 ehemaligen hochrangigen Richter und Justizbeamten präsentieren, nur 30 Minuten dauerte es, bis sich alle Beteiligten einvernehmlich auf die Verteilung dieser 17 Personen auf Vorstand und die 15 Niederlassungen der Treuhandanstalt (zwei, Dr. Bülow und ich, beim Vorstand mit zusätzlichen Koordinierungsaufgaben und je einer bei jeder Niederlassung) geeinigt hatten, und am 6. November 1990 konnten alle an ihrem jeweiligen Einsatzort mit ihren neuen Aufgaben beginnen: immerhin ein eindrucksvolles Beispiel für entschlossenes Handeln in einer außergewöhnlichen Situation.

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2. Im Bundeskanzleramt hatte man uns zunächst die Bezeichnung „Wirtschaftsombudsmann" zugedacht. Unter Hinweis darauf, daß dies im Osten Deutschlands niemand verstehe und die deutsche Sprache doch eigentlich in der Lage sein müsse, diese neue Aufgabe mit eigenen Mitteln zu umschreiben, habe ich statt dessen vorgeschlagen, uns „Vertrauensbevollmächtigte" zu nennen. Denn unsere Aufgabe bestehe doch darin, in den neuen Ländern Vertrauen zu schaffen als Bevollmächtigte des freiheitlichen Rechtsstaats. Dies wurde allseits sofort akzeptiert und hat sich dann sehr schnell durchgesetzt, auch wenn dieser Begriff im „Duden" natürlich nicht vorkommt. Aber eine solche Aufgabe hatte es ja auch noch nie gegeben. 3. Ein genauer Termin für die endgültige Beendigung der Tätigkeit der Vertrauensbevollmächtigten ließ sich im November 1992, als dieser Bericht abgeschlossen wurde, noch nicht absehen, obwohl die Zahl der uns erreichenden Eingaben im Laufe der ersten Monate des Jahres 1992 bereits deutlich zurückgegangen war. Bei einer gemeinsamen Besprechung aller Vertrauensbevollmächtigten im Bundeskanzleramt am 16. März 1992 in Bonn war vereinbart worden, daß die Vertrauensbevollmächtigten angesichts des starken Rückgangs der Eingaben ihre Tätigkeit im Laufe dieses Jahres beenden könnten, wenn die ihnen zugegangenen Eingaben bis dahin abschließend bearbeitet werden konnten, daß die „Institution Vertrauensbevollmächtigte" als solche aber erhalten bleiben, ihr zentrales Büro in Berlin mit allen Akten, Karteien und sonstigen Unterlagen mit einer Mindestbesetzung zunächst unbefristet fortgeführt werden und es den Vertrauensbevollmächtigten selbst überlassen bleiben sollte, je nach Arbeitsanfall auch weiterhin tätig zu bleiben. Darüber hinaus erklärten sich insbesondere die beiden beim Vorstand der Treuhandanstalt eingesetzten und mit zusätzlichen Koordinierungsaufgaben beauftragten Vertrauensbevollmächtigten bereit, auch künftig zur Verfügung zu stehen, soweit sich dafür ein aktueller und konkreter Bedarf ergeben sollte. Diese ganz flexible und auf die jeweilige aktuelle Situation abgestellte Übergangsund Auslaufregelung wurde der speziellen Aufgabe der Vertrauensbevollmächtigten durchaus gerecht und hat sich in der Folgezeit in jeder Hinsicht bewährt. Vor allem das Bundeskanzleramt und der Vorstand der Treuhandanstalt legten entscheidenden Wert darauf, die Tätigkeit der Vertrauensbevollmächtigten nicht von einem bestimmten Datum an abrupt einzustellen, sondern flexibel und je nach Sachlage erst allmählich auslaufen zu lassen, nachdem man uns noch ganz am Anfang für unsere Aufgabe nur eine Zeit von etwa drei bis sechs Monaten in Aussicht gestellt hatte. Insgesamt sind es also über zwei Jahre geworden.

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II. Status und Zuständigkeit 1. Die Vertrauensbevollmächtigten sind eingesetzt worden als unabhängige Berater beim Vorstand und bei den Leitern der Niederlassungen der Treuhandanstalt. Sie gehörten also der Treuhandanstalt nicht an, waren keinerlei Weisungen unterworfen, hatten aber infolgedessen auch keinerlei Exekutivbefugnisse, konnten also auch keine Zwangsvorführungen, Durchsuchungen oder Beschlagnahmen vornehmen. Sie waren auch keine Hilfsorgane der Staatsanwaltschaft. Sie gingen nicht von Amts wegen vor, sondern reagierten nur auf das, was man ihnen vortrug. Denn ihre Aufgabe bestand ausschließlich darin, Hinweisen auf die politische Vergangenheit von Personen in der Leitung von Treuhandunternehmen und damit verbundenen Vorwürfen, etwa wegen der Aufrechterhaltung alter oder auch der Begründung neuer, d. h. mit westlichen Interessenten eingegangener „Seilschaften", nachzugehen und gegebenenfalls Empfehlungen für personelle Konsequenzen an den Vorstand der Treuhandanstalt oder, wenn es sich um ein von einer Niederlassung der Treuhandanstalt verwaltetes Unternehmen handelte, an den Leiter der Niederlassung zu richten. Die abschließende Entscheidung über solche Empfehlungen oblag ausschließlich dem Vorstand oder dem Leiter der jeweiligen Niederlassung der Treuhandanstalt. 2. Beanstandungen der fachlichen Qualifikation von Führungskräften oder betriebswirtschaftlicher Fehlentscheidungen gehörten nicht zur Zuständigkeit der Vertrauensbevollmächtigten und wurden an den Personalvorstand oder die jeweilige Fachabteilung der Treuhandanstalt weitergeleitet, „Mischtatbestände" jeweils in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Fachbereichen der Treuhandanstalt behandelt. Dies ist im übrigen auch der Grund dafür, daß die Vertrauensbevollmächtigten nicht für Hinweise auf die politische Vergangenheit von Angehörigen der Treuhandanstalt selbst zuständig waren. Eine solche Zuständigkeit ist zwar ernsthaft erwogen, aber ausdrücklich verneint worden, weil dies die notwendige ständige enge Zusammenarbeit mit allen Bereichen der Treuhandanstalt naturgemäß unvertretbar belastet hätte. Diese Problematik macht ein Einzelfall deutlich, der im Zusammenwirken mit Personalvorstand und Fachbreich der Treuhandanstalt eine sofortige Entscheidung erforderte. Es war ganz zu Beginn unserer Tätigkeit im November 1990, als mir an einem regnerischen, naßkalten Freitagmittag mitgeteilt wurde, daß sich vor dem Eingangsbereich der Treuhandanstalt auf dem Alexanderplatz 80 bis 100 Belegschaftsmitglieder eines Teilbetriebes eines großen Kombinates mit Transparenten und Spruchbändern eingefunden hätten und mich zu sprechen wünschten. In der Tat hatten, wie ich mich dann selbst vergewissern konnte, annähernd hundert Menschen den Eingangsbereich besetzt

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und waren trotz entschiedener Aufforderungen des Personals nicht bereit, den Eingang wieder freizugeben, solange sie mich nicht gesprochen hätten. Da ich sie unmöglich alle empfangen konnte, bat ich zunächst die vier Sprecher der Gruppe, darunter den Betriebsratsvorsitzenden, in mein Arbeitszimmer mitzukommen, um zunächst zu erfahren, worum es sich handelte. Es stellte sich heraus, daß der Geschäftsführer dieses Betriebsteils des Kombinats mit Zustimmung von Betriebsrat und Belegschaft diesen Teilbetrieb als G m b H verselbständigen und dann zugunsten eines bereits dringend interessierten belgischen Investors privatisiert sehen wollte, während der durch seine politische Vergangenheit schwer belastete Generaldirektor des noch nicht in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Kombinats allein aus Gründen der Absicherung seiner Machtposition auf der Kombinatszugehörigkeit dieses Betriebes bestand und deshalb den Geschäftsführer des Teilbetriebes kurzerhand gekündigt und mit sofortiger Wirkung beurlaubt und an seiner Stelle zwei ihm nahestehende alte SED-Genossen als neue Geschäftsführer eingesetzt hatte mit dem Ziel, auf diese Weise die Teilprivatisierung zu verhindern. Hier ging es also um einen „Mischtatbestand" politischer und betriebswirtschaftlicher Art, der noch dadurch wesentlich erschwert wurde, daß zugleich auch gegen den zuständigen Branchendirektor der Treuhandanstalt, einen ehemaligen Stellvertretenden Minister der DDR, massive Vorwürfe wegen seiner politischen Vergangenheit erhoben wurden und außerdem behauptet wurde, zwischen ihm und dem Generaldirektor des Kombinats bestehe eine „alte Seilschaft". In dieser Situation konnte ich mangels jeder Möglichkeit einer sofortigen Überprüfung aller Vorwürfe und mangels Zuständigkeit für die betriebswirtschaftliche Frage der Zweckmäßigkeit einer Teilprivatisierung nichts anderes tun, als den vier Sprechern der Belegschaft des Teilbetriebes zu versichern, ich würde versuchen, jedenfalls zunächst einmal alle beabsichtigten Maßnahmen zu stoppen, um den Eintritt vollendeter Tatsachen zu verhindern. Da mich die vier Sprecher nachdrücklich und dringend baten, das doch den demonstrierenden Belegschaftsmitgliedern unten selbst mitzuteilen, habe ich mich schließlich bereit erklärt, vor dem Gebäude der Treuhandanstalt auf dem Alexanderplatz noch dazu im Nieselregen zu den 80 bis 100 Menschen zu sprechen. Es war tief bewegend zu erleben, mit wieviel sichtbarer Dankbarkeit und mit wieviel Vertrauen diese Menschen, zum Teil mit Tränen in den Augen, mir zuhörten, obwohl ich ihnen doch gar keine Sachentscheidung mitteilen, sondern nur einen Zwischenbescheid geben konnte. Hier wurde mir erstmals deutlich, was es für die Menschen bedeutete, auch nur angehört zu werden. Mehr hatten sie zunächst gar nicht gewollt.

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D e r Zufall wollte es, daß in diesem Augenblick der Personalvorstand der Treuhandanstalt, D r . Alexander K o c h , vorbeikam und mich scherzhaft fragte, o b ich inzwischen zum Agitationsredner avanciert sei. Ich bat ihn um ein sofortiges Gespräch mit dem zuständigen Branchendirektor, innerhalb von zwei Stunden waren alle M a ß n a h m e n gestoppt und der abberufene Geschäftsführer wieder eingesetzt, und als ich noch am späten Nachmittag dieses Freitags den Betriebsratsvorsitzenden unterrichten konnte, brach er buchstäblich in T r ä n e n aus: dies sei die glücklichste N a c h r i c h t , die sie seit der W e n d e erhalten hätten. U n d tatsächlich wurden im weiteren Verlauf der Teilbetrieb privatisiert sowie der G e n e raldirektor des K o m b i n a t s und der Branchendirektor der Treuhandanstalt wegen ihrer politischen Vergangenheit von ihren F u n k t i o n e n entbunden. Einer Empfehlung der Vertrauensbevollmächtigten an den V o r stand der Treuhandanstalt bedurfte es nicht mehr. Ich war gleich zu Beginn meiner Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigter um eine Erfahrung reicher, die den gesamten Bereich der uns übertragenen Aufgabe schlaglichtartig verdeutlichte. 3. Beendet wurde die Zuständigkeit der Vertrauensbevollmächtigten jeweils durch die Privatisierung eines von der Treuhandanstalt verwalteten U n t e r n e h m e n s . Lagen aber gegen leitende Personen eines solchen U n t e r n e h m e n s , die v o m E r w e r b e r mit ü b e r n o m m e n worden waren, schwerwiegende V o r w ü r f e wegen ihrer politischen Vergangenheit vor, so haben wir regelmäßig die E r w e r b e r darüber unterrichtet und ihnen anheimgegeben, die erforderlichen personellen K o n s e q u e n z e n nunmehr im R a h m e n ihrer neuen eigenen Zuständigkeit zu ziehen. W i r haben dabei im allgemeinen gute Erfahrungen gemacht, sind zum Teil aber auch auf unbegreifliche Uneinsichtigkeit gestoßen, die sich nur mit U n k e n n t n i s von der Realität in diesem Teil Deutschlands, Naivität, Instinktlosigkeit oder gar Geschäftemacherei erklären ließ. Dies gehörte dann zu den ganz traurigen Erfahrungen aus der Tätigkeit der Vertrauensbevollmächtigten, die gelegentlich Zweifel daran a u f k o m m e n ließen, wie weit in der deutschen Industrie das b l o ß e geschäftliche Interesse überhaupt n o c h durch „nur" moralische oder ethische Erwägungen korrigiert werden kann. Es hat aber eben auch erfreuliche und beruhigende Gegenbeispiele gegeben. 4. G a n z ausnahmsweise bin ich als Vertrauensbevollmächtigter um unserer Glaubwürdigkeit willen auch bewußt außerhalb unserer Zuständigkeit tätig geworden. D a b e i handelte es sich um die für die Menschen im O s t e n Deutschlands unerträglichen Fälle westdeutscher Karrieren schwer belasteter Funktionäre des alten Regimes, deren verheerende W i r k u n g sich etwa an den Beispielen des ehemaligen Staatssekretärs für Kirchenfragen, K u r t Löffler, und des ehemaligen Außenhandelsmini-

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sters, Gerhard Beil, manifestiert haben. Kurt Löffler hatte noch am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der D D R , beim Staatsempfang des Staatsratsvorsitzenden Honecker dem ebenfalls erschienenen Vorsitzenden des Bundes Evangelischer Kirchen in der D D R , dem Thüringischen Landesbischof Werner Leich, und dem Sekretär des Bundes, Martin Ziegler, angesichts der bereits beginnenden Demonstrationen in Leipzig und im Ostteil Berlins wörtlich gedroht: „Glauben Sie ja nicht, daß China soweit entfernt ist, wie es scheint!" und damit ein brutales Massaker nach Art des kaum drei Monate zurückliegenden grausamen Geschehens auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking zumindest nicht mehr ausgeschlossen. Der Magdeburger Altbischof Werner Krusche hat noch am 2. März 1992 öffentlich bekannt, daß er „bis zuletzt Angst vor einer chinesischen Lösung in der D D R " gehabt habe 3 . Und Gerhard Beil hat immerhin zehn Jahre dem Zentralkomitee der S E D angehört und damit alles mitzuverantworten, was in diesen Jahren von der SED-Diktatur an Willkür und Unterdrückung vollzogen wurde. In diesen beiden Fällen, die erschütternde Einblicke in das eröffneten, was bis zum 40. Jahrestag der D D R die Realität in diesem Teil Deutschlands war, und in denen es um so unverständlicher und unerträglicher war, daß solchen Repräsentanten des totalitären Unrechtssystems die Chance neuer einflußreicher Positionen nunmehr in der Marktwirtschaft in einem sehr großen westdeutschen Verband und einem sehr großen westdeutschen Unternehmen geboten wurde, habe ich ganz außerhalb meiner Zuständigkeit immerhin erreichen können, daß die notwendigen Konsequenzen gezogen wurden. Der Präsidentin der Treuhandanstalt war das gar nicht so recht: sie habe zwar Verständnis für mein Engagement, rate jedoch zu Zurückhaltung und Einhaltung meiner Zuständigkeit. Aber wenn ich diesem Rat gefolgt wäre, hätten wir für unsere Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte jede Glaubwürdigkeit verloren. Man fragte sich allerdings auch unwillkürlich, ob sich die westdeutsche Wirtschaft und die westdeutsche Industrie derart instinktlose personelle Fehlentscheidungen wirklich leisten konnten. III. Arbeitsweise 1. Tätig wurden wir nur auf Eingaben oder sonstige Hinweise hin, auch z. B. auf Grund von Presseveröffentlichungen, in keinem Falle aber von

3 FAZ vom 3. März 1992, S. 4. Ebenso berichtet Albert O. Hirschmann, FAZ vom 22. August 1992, Bilder und Zeiten, es habe während der Tage um den 7. Oktober 1989 „bedrohliche Gerüchte - zweifelsohne offiziell angeregt - über eine bevorstehende chinesische Lösung" gegeben. Immerhin bezeichnend ist, daß ausgerechnet Kurt Löffler vor dem Stolpe-Untersuchungsausschuß des Brandenburgischen Landtages ausgesagt hat, es sei das Verdienst Stolpes gewesen, daß bei den Demonstrationen der friedliche Charakter bewahrt wurde und es „in der D D R zu keiner chinesischen Lösung kam" (Berliner Morgenpost vom 8. April 1992, S.6).

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Amts wegen. Dazu waren die 17 Vertrauensbevollmächtigten auch gar nicht in der Lage, und wir haben es gerade im Hinblick auf unsere vorrangige Aufgabe, bei den Menschen im Osten Deutschlands Vertrauen zu schaffen und sie nicht mit einem anonymen „Apparat" zu konfrontieren, trotz mancher dahin zielender Anregungen immer abgelehnt, uns eine eigene Bürokratie aufzubauen. Wir in Berlin hatten zwei Sekretärinnen und drei Mitarbeiter, die Vertrauensbevollmächtigten bei den Niederlassungen je eine Sekretärin und allenfalls einen Mitarbeiter, und mit diesem ganz beschränkten Arbeitsstab waren wir während der gesamten Zeit dieser Tätigkeit voll ausgelastet: allein in Berlin haben wir bis November 1992 weit über 2000, insgesamt weit über 6000 Eingaben erhalten. Bei diesem Arbeitsanfall wäre ein Tätigwerden von Amts wegen darüber hinaus im Rahmen unseres bewußt in Kauf genommenen ganz beschränkten „Verwaltungsapparates" schlechterdings nicht möglich gewesen. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß zwei der 17 Kollegen schon relativ bald ausschieden und es im letzten halben Jahr unserer Tätigkeit nur noch 14 Vertrauensbevollmächtigte waren. 2. Von Anfang an haben wir es uns zur Pflicht gemacht, jede Eingabe sofort mindestens mit einer Eingangsbestätigung zu beantworten. Schon diese eigentlich selbstverständliche Maßnahme hat sich in ganz unerwarteter Weise als vertrauensbildend erwiesen, weil die Menschen es einfach nicht gewohnt waren, von Behörden und Dienststellen, an die sie sich wandten, überhaupt eine Antwort zu erhalten. Die große Mehrzahl aller Einsender wendete die hohen Kosten eingeschriebener Briefe, sogar mit Rückschein, auf, weil sie nach ihren durchgängigen Erfahrungen mit dem alten System nur auf diese Weise nachweisen konnten, überhaupt geschrieben zu haben - ein Mosaiksteinchen der Menschenverachtung, die dieses ganze System so unmenschlich geprägt hat. 3. Uber die Aufteilung der Arbeit unter den Vertrauensbevollmächtigten waren wir uns sehr schnell einig: wir zwei in Berlin waren über unsere allgemeine Koordinierungsfunktion hinaus zuständig für alle sogenannten zentralgeleiteten, d. h. unmittelbar von den Fachabteilungen der Treuhandanstalt in Berlin verwalteten Unternehmen, die sogenannten „Z-Betriebe", zu denen natürlich vornehmlich die ehemaligen Kombinate und die großen Unternehmen gehörten, die Kollegen vor O r t für die sogenannten niederlassungsgeleiteten Unternehmen, die mit Rücksicht auf ihre eher örtlich oder regional beschränkte Bedeutung völlig dezentral von einer der 15 Niederlassungen der Treuhandanstalt verwaltet wurden. Adressat einer formellen Empfehlung der Vertrauensbevollmächtigten war bei den Z-Betrieben jeweils der Vorstand, im übrigen der Leiter der jeweiligen Niederlassung der Treuhandanstalt. Aber auch bei den die Z-Betriebe betreffenden Eingaben wurden die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen jeweils von den Kollegen vor

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Ort getroffen, weil sie über die größere „Nähe" verfügten und wir in Berlin anderenfalls nur noch unterwegs gewesen wären. Das Ergebnis ihrer Feststellungen leiteten sie dann uns mit einer eigenen Empfehlung zu, die für uns in aller Regel die Grundlage unserer Empfehlung an den Vorstand der Treuhandanstalt bildete. Diese „Arbeitsteilung" unter den Vertrauensbevollmächtigten hat sich von Anfang an außerordentlich bewährt. Nur in wenigen Fällen besonderer politischer Brisanz haben wir die notwendigen Feststellungen vor Ort selbst von Berlin aus getroffen, um unsere gerade in solchen Fällen auch politische Verantwortung als Vertrauensbevollmächtigte voll wahrnehmen zu können. 4. Am Anfang unseres Tätigwerdens im einzelnen Fall standen in aller Regel Gespräche mit den Einsendern, um den tatsächlichen Gegenstand und Inhalt der Vorwürfe gegen alte „Leitungskader" in Führungsfunktionen der Treuhandunternehmen so genau und konkret wie möglich zu erfassen. Menschen, die sich - oft unangemeldet - persönlich einfanden, baten wir jeweils um Verständnis dafür, daß wir ohne eine kurze schriftliche Darstellung der Fakten nach bestimmten Kriterien nicht tätig werden konnten, und haben dafür eigentlich immer Einsicht und Verständnis gefunden. Ganz allgemein haben wir in den zahllosen Gesprächen mit den Menschen, die sich schriftlich oder auch mündlich an uns wandten, durchaus Verständnis dafür gefunden, daß gerade wir, die wir diese 40 Jahre deutscher Geschichte auf der Sonnenseite der deutschen Teilung erlebt und erfahren haben, unsere Aufgabe nur mit größter Zurückhaltung, Behutsamkeit und Sensibilität für die Situation der Menschen in diesem Teil Deutschlands wahrnehmen konnten und dabei peinlichst auf die Einhaltung der Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaats bedacht sein mußten. Wir haben immer wieder um Geduld bitten müssen, weil wir damit auch ein Zeichen dafür setzen wollten, daß es jetzt eben nicht mehr darum gehen konnte, politische und parteipolitische Vorgegebenheiten nach den Grundsätzen einer autoritären Ideologie wie in dem vergangenen Unrechtssystem, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen durchzusetzen. In einzelnen Fällen sind wir dabei aber auch auf Unverständnis, Ungeduld, Enttäuschung und Bitterkeit darüber gestoßen, daß wir im Normalfall eben nicht schnell und kurzerhand, vielleicht sogar ungeprüft „zuschlagen" und „reinen Tisch machen" konnten. Dafür mußte man nach allem, was diese Menschen in den 40 Jahren erlebt haben und aushalten mußten, und nach ihren mit der friedlichen Revolution verbundenen Erwartungen und Hoffnungen Verständnis haben, auch wenn es uns machmal schwergefallen ist und uns solche Reaktionen doch sehr betroffen gemacht haben. Aber dies konnte und durfte uns nicht veranlassen, die von Anbeginn an eingeschlagene Linie der Zurückhaltung, Behutsamkeit und Sensibilität zu verlassen, wo nach den

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Grundsätzen des freiheitlichen Rechtsstaats personelle Konsequenzen nicht geboten waren. U m so nachdrücklicher haben wir in den Fällen, in denen die politische Vergangenheit personelle Konsequenzen erforderte, auf der Befolgung dieser Empfehlungen bestanden, soweit uns dies in unserer Funktion als Vertrauensbevollmächtigte möglich war. Bedrückend war jedoch, daß etwa 15 bis 20 % aller Eingaben anonym waren. Dies zeigte in erschreckender Weise, daß sich die Freiheit in diesem Teil Deutschlands immer noch nicht voll Bahn gebrochen hatte. Die Menschen hatten nach wie vor Angst, Angst vor Repressalien, Angst vor allem um den Arbeitsplatz. Diese Angst war immer noch weit verbreitet, sie nahm angesichts der nach wie vor ansteigenden Arbeitslosigkeit eher noch zu und war, wie wir leider immer wieder haben erfahren müssen, in vielen Fällen allzu begründet, weil die Funktionäre des alten Systems in ihren neuen Funktionen jetzt über mehr Macht verfügten als vor der Wende: während es früher Arbeitslose nicht geben durfte, entschieden sie jetzt über Kurzarbeit und Entlassung und damit über die wirtschaftliche Existenz der Menschen. Und man darf dabei nicht vergessen, was die Menschen 40 Jahre lang in ihrem täglichen Umfeld immer wieder erfahren mußten und was die SPD-Abgeordnete Angelika Barbe in der großen Debatte des Deutschen Bundestages am 12. März 1992 über die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur" 4 so treffend gesagt hat: „Totalitäre Systeme leben von der Angst der Menschen und schüren sie deshalb bewußt. Immer wieder wird die Angst der Menschen bewußt benutzt, um sie zu beherrschen. Und immer wieder schweigen Menschen aus dieser Angst." Und dies gehörte 40 Jahre lang zur Realität des Lebens in diesem Teil Deutschlands und war mit dem doch so befreienden Erfolg der friedlichen Revolution keineswegs plötzlich überwunden. In einem konkreten und sehr spektakulären Einzelfall ist mir noch im Januar 1992 vom Vorsitzenden des Konzernbetriebsrats und vom Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat eines großen Unternehmens gesagt worden, Proteste gegen den früheren Generaldirektor des Kombinats und neuen Vorstandsvorsitzenden des inzwischen in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Unternehmens seien nur deshalb unterblieben, weil allein aus Angst um ihren Arbeitsplatz „Tausende die Faust in der Tasche geballt" hätten und es „als befreiende Erleichterung empfinden" würden, wenn endlich personelle Veränderungen an der Spitze des Unternehmens vollzogen würden. Deshalb haben wir uns nach einer ganz kurzen Anfangszeit, in der wir anonyme Eingaben, wie nach unserer früheren beruflichen Praxis üblich, unbearbeitet ließen, von der zwingenden Notwendigkeit überzeugen

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müssen, auch anonyme Eingaben wie alle anderen zu behandeln, und wir haben gute und aufschlußreiche Erfahrungen damit gemacht. Natürlich mußten wir dabei wie überhaupt in unserer Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte höllisch aufpassen, nicht Einfallstor für und O p f e r von Denunziationen zu werden. Aber man bekam in einer solchen Tätigkeit mit Tausenden von menschlichen Kontakten doch sehr schnell ein G e s p ü r und Fingerspitzengefühl dafür, was den Tatsachen entsprach oder bloße Denunziation aus Rache-, N e i d - oder anderen unlauteren Beweggründen war, und so haben wir mit diesem A s p e k t unserer Tätigkeit kaum ernsthafte Probleme gehabt. Bloße Denunziationen sind nur selten v o r g e k o m m e n und haben sich in aller Regel schnell als solche erwiesen.

5 . Z u den obersten Grundsätzen unserer Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte gehörte die strikt vertrauliche Behandlung aller Eingaben gegenüber Dritten. Darauf haben sich alle Einsender uneingeschränkt verlassen können. O h n e diesen G r u n d s a t z strikter Vertraulichkeit hätten wir unsere A u f g a b e schlechterdings nicht erfüllen können. Natürlich konnten wir nicht ausschließen, daß aus bestimmten Vorwürfen Spekulationen, Vermutungen angestellt und Rückschlüsse auf ihre Urheber gezogen wurden, und tatsächlich ist es in einzelnen Fällen auf G r u n d bloßer Rückschlüsse zu Repressalien gekommen, die wir mit allen uns zu G e b o t e stehenden Mitteln rückgängig zu machen oder auszugleichen versucht haben. Eine Verletzung oder auch nur fahrlässig Nichteinhaltung des Grundsatzes strikter Vertraulichkeit ist uns aber während unserer gesamten Zeit als Vertrauensbevollmächtigte nicht bekannt geworden. 6. Selbstverständlich gehörte es ferner zu den obersten Grundsätzen unserer Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte, daß wir den Personen, gegen die sich V o r w ü r f e wegen ihrer politischen Vergangenheit richteten, Gelegenheit gaben, sich dazu zu äußern - immer unter Wahrung strikter Vertraulichkeit der Urheber solcher V o r w ü r f e . D a s „audiatur et altera p a r s " als Grundprinzip des freiheitlichen Rechtsstaats war auch für uns in jedem einzelnen Fall unverzichtbar. D a r a u s haben sich zahllose stundenlange Gespräche ergeben, die oft erschütternde Einblicke in die Realität des Unrechtssystems des alten Regimes eröffneten und diese menschenverachtende Realität vor allem als Alltagsroutine deutlich machten. U n d es ist immerhin erstaunlich, daß es jedenfalls bei uns in Berlin nicht einen einzigen Fall gegeben hat, in dem jemand, den wir nach uns zugegangenen Hinweisen zu einem Gespräch über seine politische Vergangenheit gebeten haben, ein solches Gespräch verweigert hätte, obwohl wir doch über keinerlei Zwangsmittel verfügten. E s ist in solchen Gesprächen v o r g e k o m m e n , daß sich die Gesprächspartner z u m Wahrheitsgehalt der V o r w ü r f e bekannten und zu sofortigen personellen K o n s e q u e n z e n bereit waren. In einem spektakulären Einzelfall bestritt der frühere Stellvertretende Generaldirektor eines K o m b i nats und neue Hauptgeschäftsführer des in eine G m b H umgewandelten

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großen Unternehmens leidenschaftlich, schuldhaft gehandelt, jemanden benachteiligt oder sich sonst in irgendeiner Weise unkorrekt verhalten zu haben, und teilte uns dann wenige Tage später mit, daß er nach nochmaliger reiflicher Überlegung einsehen müsse, daß man es den Menschen in diesem Teil Deutschlands nicht erklären und auch nicht zumuten könne, daß Leute wie er in so herausgehobener früherer Funktion einfach weitermachten, als ob inzwischen nichts geschehen wäre. Er habe deshalb mit gleicher Post den Vorstand der Treuhandanstalt gebeten, ihn von seinen Funktionen als Hauptgeschäftsführer dieses großen Unternehmens zu entbinden. Aber das sind Einzelfälle. In aller Regel stießen wir in diesen Gesprächen auf weitgehende Uneinsichtigkeit, immer wieder auf den Einwand, man habe sich nichts vorzuwerfen und habe niemandem geschadet, und sogar auf die Berufung auf den ehemaligen Außenhandelsminister Gerhard Beil oder den K o K o - C h e f und Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski: solange solche Leute in westdeutschen Unternehmen Karriere machten oder es sich am Tegernsee gut gehen ließen, sähen sie nicht ein, personelle Konsequenzen ziehen zu müssen. In den letzten Monaten unserer Tätigkeit in Berlin habe ich es darüber hinaus dreimal erleben müssen, daß ehemalige „Leitungskader" volkseigener Kombinate, die durch nachgewiesene Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst schwer belastet waren, nahezu auftrumpfend erklärten, solange Manfred Stolpe Ministerpräsident von Brandenburg sei, sähen sie keinerlei Anlaß für personelle Konsequenzen. Durch solche Einlassungen und insbesondere die schon fast stereotype Behauptung, man habe niemandem geschadet, haben wir uns jedoch nie beeindrucken lassen. 7. Eine abschließende Entscheidung konnte immer nur der Vorstand der Treuhandanstalt oder, bei nicht zentralgeleiteten Unternehmen, der Leiter der jeweiligen Niederlassung der Treuhandanstalt treffen auf der Grundlage von Empfehlungen der Vertrauensbevollmächtigten. Da es uns aber allein auf das sachliche Ergebnis unserer Bemühungen ankam, haben wir soweit wie irgend möglich und immer wieder versucht, zu einer Bereinigung im Vorfeld einer formellen Empfehlung an den Vorstand oder den Leiter der Niederlassung der Treuhandanstalt zu kommen. Und dies ist uns in einem erfreulich hohen Maße gelungen. Vor allem durch intensive Gespräche mit den Aufsichtsratsvorsitzenden über Mitglieder des Vorstands oder Geschäftsführer und mit den Vorstandsvorsitzenden oder Geschäftsführern, soweit sie nicht selbst betroffen waren, insbesondere über Direktoren oder Personalchefs, die berüchtigten „Kaderleiter" ihrer Unternehmen, konnte Einvernehmen über die Abberufung solcher Führungskräfte im Rahmen der eigenen Zuständigkeit der verantwortlichen Unternehmensorgane erreicht werden, ohne

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daß es einer formellen Empfehlung an den Vorstand der Treuhandanstalt oder den Leiter einer Niederlassung bedurfte. Die Zahl der auf diese Weise wegen ihrer politischen Vergangenheit aus ihren leitenden Positionen abberufenen ehemaligen Funktionäre volkseigener Kombinate oder Betriebe übertrifft die auf Grund formeller Empfehlungen der Vertrauensbevollmächtigten von ihren Funktionen entbundenen Personen etwa um das Fünffache. IV. Die Ausgangslage 1. Grundlage und tragendes Motiv der friedlichen Revolution im Herbst 1989 in der ehemaligen D D R war die Sehnsucht nach Freiheit, Recht und Gerechtigkeit. Der Berliner Theologe und frühere Vorsitzende der SPD-Fraktion in der ersten und einzigen freigewählten Volkskammer der DDR, Richard Schröder, hat dies mit den Worten von Aristoteles auf den Punkt gebracht: „Wir wollen nicht zulassen, daß ein Mensch herrscht, sondern das Recht." Deshalb war und ist der Aufbau des Rechtsstaats in den neuen Bundesländern die entscheidende Voraussetzung für die innere Wiedervereinigung Deutschlands. 2. Aber die Erwartungen an diese neue Qualität menschlichen Zusammenlebens waren so hoch gespannt, daß der Rechtsstaat sie zumindest in der Anfangsphase nicht oder jedenfalls nicht in für die Menschen greifbarer Weise erfüllen konnte. Er war noch nicht, wie es der sächsische Justizminister Steffen Heitmann so treffend formuliert hat, „die bergende schützende Hütte für die Menschen" 5 geworden. Und so durfte man sich über die bittere Enttäuschung der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley nicht wundern, die unter der aufschreckenden Uberschrift „Der Kälteschock des Rechtsstaats" mit den Worten zitiert wurde: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen" 6 . Dies ist natürlich eine im Kern völlig verfehlte Feststellung, die einfach aus mangelnder Erfahrung verkennt, daß der Rechtsstaat eine in mancher Hinsicht steckengebliebene friedliche Revolution nicht vollenden und insbesondere nicht das bewirken kann, was eine unfriedliche Revolution vielleicht erreicht hätte. Und irdische Gerechtigkeit kann

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Zeitschrift für Gesetzgebung, Sonderheft 2, 40 Jahre SED-Unrecht - eine Herausforderung an den Rechtsstaat. 1991, S. 11 (12). 6 FAZ vom 9. November 1991, Bilder und Zeiten; in diesem Sinne auch in ihrem Diskussionsbeitrag auf dem Ersten Forum des Bundesministers der Justiz „40 Jahre SEDUnrecht" aaO (Fn.5), S.31; ganz ähnlich Jürgen Worbs, FAZ vom 4. Juli 1992, S.28: „Wir hatten gehofft, daß Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit dasselbe sind."

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friedlich eben nur mit den gewiß unvollkommenen Mitteln des Rechtsstaats erreicht werden 7 . Aber eine solche Aussage macht in ihrer erschreckenden Bitterkeit und Enttäuschtheit eben auch deutlich, daß die Menschen sich angesichts der immer offenkundiger werdenden Ungeheuerlichkeiten des endlich überwundenen Unrechtssystems zu fragen begannen, ob nicht statt der friedlichen eine unfriedliche Revolution besser gewesen wäre. Und die in dieser Frage sich manifestierende verbreitete Stimmungslage, die zu einer Gefahr für die innere Stabilität in diesem Teil Deutschlands hätte werden können, weil sie vom Rechtsstaat zu viel erwartete, war zugleich die Ausgangslage für die uns als Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt übertragene Aufgabe. 3. Hinzu kam, daß die Masse des Unrechts des alten Systems unterhalb der Schwelle des strafrechtlich Faßbaren liegt, weil das Strafrecht sich immer auf das individuell Vorwerfbare beschränken muß, während es hier um die Ungeheuerlichkeiten des Unrechtssystems als solchen ging. Schlagworte wie „Rote Bonzen", „alte Seilschaften", „Rote Socken" usw. sind eben politische und keine Rechtsbegriffe, und die Menschen mußten zur Kenntnis nehmen, daß der Rechtsstaat jetzt auch denen zugute kam, die vorher das Recht mit Füßen getreten hatten. Das war für sie bitter und hart, aber alternativlos, und die enttäuschenden und weithin unverstandenen Erfahrungen mit den Unzulänglichkeiten des Versuchs einer strafrechtlichen Aufarbeitung - erinnert sei nur an die so unbefriedigenden und verbreitet ratlos machenden Strafverfahren gegen Harry Tisch, Erich Mielke, die Mauerschützen, Markus Wolf, SchalckGolodkowski usw. - waren nicht dazu angetan, Rechtsstaat und Gerechtigkeit gleichzusetzen, wie die Menschen es mit ihren noch zu hoch gespannten Erwartungen ersehnt und erhofft hatten.

7 So auch der Präsident des Bundesgerichtshof, Professor Dr. Walter Odersky, FAZ vom 1. April 1992, S.5. In diesem Sinne auch Professor Dr. Marcus Lutter, der in seinem Diskussionsbeitrag auf dem Ersten Forum des Bundesministers der Justiz „40 Jahre SED-Unrecht" a a O (Fn. 5), S. 84, wörtlich ausgeführt hat: „Die Erwartungen der Deutschen an das Recht und seine Möglichkeiten zur Lösung der hier erörterten Probleme, also zur Wiederherstellung des Rechts und zur Wiedergutmachung von Unrecht, sind in allen Teilen unseres Vaterlandes hoch, insgesamt zu hoch und nicht voll zu erfüllen. D i e Rolle des Rechts bei der Wiedereingliederung der 40 Jahre lang abgespaltenen Teile Deutschlands ist fraglos zentral; aber nichts wäre gefährlicher, als das Recht in dieser seiner Rolle zu überfordern. Recht ist ein knappes Gut, und auch der Rechtsstaat kann nicht beliebig ausgeweitet werden." Vgl. dazu auch die Ansprache von Bundeskanzler D r . Helmut Kohl vor dem 59. Deutschen Juristentag am 17. September 1992 in Hannover, in der er es als „nicht zulässig" bezeichnet hat, „Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in einen Gegensatz zueinander zu bringen" (Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 99/1992 S. 937).

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4. So darf es nicht wundernehmen, daß sich bei den Menschen in diesem Teil Deutschlands zunehmend Unmut und Bitterkeit ausbreiteten, und ich meine, daß man dafür Verständnis haben muß: wer von uns, die wir aus dem Westen Deutschlands kamen, konnte wirklich nachvollziehen, was für diejenigen galt, die in 40 Jahre dieses menschenverachtenden Unrechtssystems hineingestellt oder hineingeboren waren, denen 40 Jahre Leben in Freiheit und Gerechtigkeit geraubt oder zumindest vorenthalten worden sind? Die in dem Ausgeliefertsein an das Unrechtssystem, so paradox dies klingen mag, auch so etwas wie relative Sicherheit gefunden und ihr Selbstbewußtsein dadurch eingebracht hatten, daß sie sich Freiräume zu schaffen suchten und sich auf diese Weise mit dem Unrechtsstaat eben nicht identifizierten, die bewußt, wie etwa der Stellvertretende Vorsitzende der SPD und ihrer Bundestagsfraktion, Wolfgang Thierse, oder der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Thüringischen Landtag, Gerd Schuchardt, dies von sich gesagt haben, auf eine berufliche Karriere verzichteten und sich damit ihre eigene Identität unter unvorstellbar schwierigen Umständen bewahrten 8 ? Die in der ganz überwiegenden Mehrzahl unter den kaum vorstellbaren damaligen Bedingungen „mit großer Anstrengung ein wirklich anständiges Leben geführt haben" 9 und darauf heute nicht nur mit gutem Gewissen, sondern auch mit Stolz auf die Bewahrung und Bewährung der eigenen Haltung und der eigenen Identität zurückblicken können? Und die jetzt erschreckt, erschüttert und zutiefst betroffen vieles erfahren mußten, was man selbst in diesem Teil Deutschlands nicht gewußt und nicht für möglich gehalten hat und was erst jetzt in seiner ganzen Menschenverachtung zutage trat? Man denke nur an die Ungeheuerlichkeiten des Stasi-Systems, für die das, was man etwa dem heutigen sächsischen Innenminister, Heinz Eggert, mit Psychoterror und Psychopharmaka angetan hat, nur ein grausiges Beispiel ist. Und Wolfgang Thierse hat wohl zu Recht von der „Notgemeinschaft, die die DDR auch war - eine Gemeinschaft ihrer Bürger, wahrhaftig nicht aller, gegen den Staat" gesprochen10. 5. Aus all diesen Gründen sind bei der Aufarbeitung der politischen Vergangenheit in diesem Teil Deutschlands vor allem Geduld, Einfühlungsvermögen und Behutsamkeit notwendig, und dies mußte auch die 8 Gerd Schuchardt spricht davon, „das bewußte Sich-Entziehen sei eine politische Haltung gewesen" (FAZ vom 4. Mai 1992, S. 16). 9 Bundespräsident Richard von Weizsäcker, F A Z vom 4. März 1992, S. 4; Joachim Gauck, F A Z vom 27. Juni 1992, S. 29, spricht von „einem ernsten Willen großer Bevölkerungsgruppen, Anstand zu bewahren, Widerstandsgesinnung und Zivilcourage zu leben." 10 F A Z vom 7. April 1992, S.36. Jürgen Worhs aaO (Fn. 6) stellt allerdings die Frage: „Ist es denn überhaupt möglich, in einer Diktatur zu leben, ohne sich anzupassen? Angepaßt haben wir uns freilich alle, der eine mehr, der andere weniger."

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oberste Maxime für die Tätigkeit der Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt sein. Es galt, nach dem totalen Umbruch der friedlichen Revolution den Menschen zu helfen in einer Situation, die Professor Dr. Klaus Stern auf dem Ersten Forum des Bundesministers der Justiz „40 Jahre SED-Unrecht - eine Herausforderung für den Rechtsstaat" am 9.Juli 1991 in Bonn mit dem Brecht-Zitat gekennzeichnet hat": „Nach den Mühen der Berge kommen die Mühen der Ebenen", und die eine Antwort erforderte auf das Grundprinzip Lenins, das, wie mir scheint, mehr als alles andere und mit kaum zu überbietendem Zynismus die Menschenverachtung seiner Doktrin deutlich macht und auch die Realität des Unrechtssystems der SED über 40 Jahre geprägt hat: „Uns ist alles erlaubt, denn unsere Humanität ist absolut" 12 . Diese Antwort konnte nach 40 Jahren SED-Diktatur, Staatsterror und Kommandowirtschaft nur das tägliche Bemühen um Freiheit, Recht und Gerechtigkeit sein, und auch dies gehörte zu der Ausgangslage, in die die Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt mit ihrer Aufgabe und ihrem Auftrag hineingestellt waren. 6. Ich selbst hatte mir immer eingebildet, einigermaßen informiert zu sein und Bescheid zu wissen über die Situation in der ehemaligen DDR. Ich bin als Berliner aufgewachsen und schon deshalb immer besonders interessiert gewesen an diesem Teil Deutschlands. Wir hatten Freunde und Verwandte dort, die wir auch mehrfach besucht haben, ich selbst habe einen Patensohn in Dresden, der in dieses System hineingeboren worden und nun schon über 30 Jahre alt ist. Aber nach allem, was wir als Vertrauensbevollmächtigte bei der Treuhandanstalt täglich erlebt und erfahren haben, mußte ich bekennen: ich habe keine Ahnung gehabt von dem, was 40 Jahre lang die menschenverachtende Realität in diesem Teil Deutschlands war. V. Allgemeine Grundsätze 1. Oberster Grundsatz und alleiniges Motiv für die Tätigkeit der Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt war es von Anbeginn Zeitschrift für Gesetzgebung aaO (Fn. 5) S. 1. Zitiert von Professor Dr. Hermann Lübbe, Zürich, auf dem Ersten Forum des Bundesministers der Justiz „40 Jahre SED-Unrecht - eine Herausforderung für den Rechtsstaat" am 9. Juli 1991 in Bonn aaO (Fn. 5), ferner vom Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, Dr. Reinhard Göhner, bei den Bitburger Gesprächen 1991 in Berlin, Jahrbuch 1991/2, S. 1 (8), sowie von Bundesministerin Dr. Angela Merkel in der Debatte des Deutschen Bundestages über die Einsetzung einer EnqueteKommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" aaO (Fn. 4), S. 6751 C. Vgl. dazu auch unten Abschnitt VII, Nr. 4. Joachim Gauck, aaO (Fn. 9), spricht von der „Manipulierung von Menschen durch eine Macht, die sich absolut setzte und die sich mit Menschen alles erlaubte". 11

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an, den Menschen im Osten Deutschlands zu helfen, und zwar den Menschen, die nicht verstehen konnten und denen man auch nicht erklären und verständlich machen konnte, daß sich in diesem Teil Deutschlands noch nicht mehr verändert hatte, daß immer noch die alten belasteten Funktionäre, die Quälgeister von gestern, unverändert in leitender Position tätig waren und weiterhin das Sagen hatten, die inzwischen das Drei- und Mehrfache verdienten, über ein westdeutsches Nobelauto als Dienstwagen verfügten und jetzt mehr Macht als vor der Wende hatten, weil sie jetzt über Entlassungen entschieden, während es früher ja Arbeitslose nicht geben durfte, und die diese Macht nun denen gegenüber ausübten, die in diesem System 40 Jahre lang keine Chance gehabt hatten, weil sie sich eben nicht wie die Funktionäre von gestern mit dem Regime und seinem System identifiziert hatten, die die politische Vergangenheit dieser „roten Bonzen" genau kannten und nicht verstehen konnten, daß sie jetzt, wo alles anders geworden sein sollte, immer noch keine Chance hatten und vielleicht arbeitslos auf der Straße standen, während es sich diejenigen, denen sie 40 Jahre lang ausgeliefert waren, wohl sein ließen. Die Menschen hatten in immer wieder beeindruckender Weise durchaus Verständnis dafür, daß die Belegschaften reduziert werden und Entlassungen stattfinden mußten: man wisse ja, daß im Westen einer das leiste, wofür in der DDR drei oder fünf eingesetzt worden seien, daß die Arbeitslosigkeit deshalb im Grunde nicht neu, sondern früher nur verschleiert gewesen sei. Aber sie hatten kein Verständnis dafür, daß diejenigen, die in den 40 Jahren für die sozialistische Kommandowirtschaft verantwortlich waren und die DDR wirtschaftlich in den totalen Bankrott und Ruin geführt haben, immer noch in den leitenden Positionen saßen, immer noch den Ton angaben, als ob inzwischen nichts geschehen wäre. Das war den Menschen in diesem Teil Deutschlands weder zu erklären noch zuzumuten, immer wieder ist uns fassungsloses Unverständnis für diese Situation begegnet, und dies gänzlich unabhängig von konkreten Schuldvorwürfen oder behaupteten Stasi-Aktivitäten. Und deshalb konnte die Aufgabe der Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt nur darin bestehen, diesen Menschen zu helfen, und nur darin ihre einzige Legitimation haben. Denn angesichts dieser Lage staute sich in den neuen Bundesländern nach der mit so hohen Erwartungen begeistert begrüßten Wende ein solches Maß an Unverständnis, Enttäuschung, Bitterkeit, Unmut, Empörung und Wut an, daß dies, wie mir die Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen und des Landes SachsenAnhalt, Professor Dr. Kurt Biedenkopf und Professor Dr. Werner Münch, ganz unabhängig voneinander mit fast den gleichen Worten gesagt haben, zu einer Gefahr für die innere Stabilität in diesem Teil Deutschlands zu werden drohte und deshalb jedenfalls der Versuch einer

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Abhilfe und Gegensteuerung schon politisch geboten war. Und gerade hier hatten auch die Vertrauensbevollmächtigten ihre Aufgabe: den Menschen zu helfen. Deshalb lag den Vertrauensbevollmächtigten nichts ferner, als etwa Hexenjagden zu veranstalten oder „Abschlußlisten" zu führen. Sie hatten keinerlei Ehrgeiz, über ihre Tätigkeit Erfolgbilanzen aufzustellen als pensionierte Richter und Justizbeamte waren sie darauf schon gar nicht angewiesen. Ich habe es deshalb auch stets abgelehnt, die immer wieder naheliegende Frage von Journalisten nach konkreten Zahlen über das Ergebnis unserer Tätigkeit zu beantworten. Dies hätte unserer Aufgabe und unserem Auftrag, den Menschen zu helfen, einen völlig falschen Akzent gegeben. 2. Für uns, die wir aus dem Westen Deutschlands kamen, mußte es entscheidend darauf ankommen, jedenfalls den Versuch zu machen, uns in die Situation der Menschen nach 40 Jahren Parteidiktatur und Kommandowirtschaft hineinzufühlen, die Stimmungslage der Menschen in ihrer konkreten Situation nach diesen 40 Jahren zu begreifen, zuzuhören und auf all diese Weise Vertrauen zu schaffen. In jeder Phase sollte deutlich werden, daß die Vertrauensbevollmächtigten eben nicht Bevollmächtigte einer „Besatzungsmacht" oder von „Kolonisatoren" und nicht als Sieger über Besiegte eingesetzt waren, sondern eben allein die Aufgabe und den Auftrag hatten, den Menschen zu helfen durch das Bemühen um Gerechtigkeit in jedem einzelnen Fall vor dem Hintergrund von 40 Jahren politischer Vergangenheit. VI. Materielle Grundsätze - das eigentliche Problem 1. Alle Vertrauensbevollmächtigten waren sich von Anfang an darüber im klaren, daß die bloße SED-Mitgliedschaft für sich allein kein Kriterium für personelle Konsequenzen sein könne. Wir waren uns darin einig, daß es nicht angehen konnte, 2,3 Millionen Menschen von vornherein auszugrenzen und von der Übernahme oder Weiterführung leitender Funktionen in den Treuhandunternehmen auszuschließen. Wir haben diese Position bereits in der ersten Pressekonferenz Anfang November 1990 bezogen und seitdem konsequent daran festgehalten, obwohl dies zunächst im Osten Deutschlands auf wenig Verständnis stieß und ein durchaus auch negatives Echo auslöste. Wir erhielten erbitterte Briefe und geharnischte Protestschreiben, in denen Menschen ihrem Unverständnis und ihrer Empörung darüber Ausdruck gaben, daß sie in den 40 Jahren unter schwierigsten Umständen und unter Hinnahme konkreter und existentieller Benachteiligungen sich standhaft geweigert oder listenreich vermieden hätten, der alles beherrschenden Staatspartei beizutreten, und nun erleben müßten, daß all dies umsonst gewesen sei oder jedenfalls

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gegenüber all den Genossen, die es sich leicht gemacht hätten, nicht hinreichend gewürdigt werde. Dies hat uns sehr nachdenklich gemacht, wir sind aber trotzdem bei dieser Entscheidung geblieben und nach wie vor davon überzeugt, damit auch richtig gehandelt zu haben, auch wenn es uns immer wieder schwer gefallen ist, auf solche bitteren Protestbriefe angemessen und verständnisvoll zu antworten. 2. Relativ einfach lagen die Fälle, in denen bestimmten Personen in leitenden Positionen von Treuhandunternehmen ein individuell vorwerfbares Verhalten nachgesagt wurde, selbst wenn auch dies in aller Regel unterhalb des strafrechtlich Faßbaren lag. Wir haben erschütternde und tief bedrückende Fälle erfahren, die sofortiges Handeln nicht nur erforderten, sondern auch ermöglichten und von denen hier nur einige wenige als kennzeichnende Beispiele angeführt werden sollen: - Der Betriebsleiter eines Volkseigenen Betriebes (VEB) bezichtigt „freiwillig", wie es in dem vorgedruckten Vernehmungsprotokoll des Volkspolizeikreisamtes (VPKA) festgehalten ist, und ohne Vorladung oder äußeren Zwang Besucher seines Stammtisches in seiner Stammkneipe bei der Volkspolizei staatsfeindlicher Äußerungen mit der Folge, daß einer von ihnen verhaftet13 und bereits wenige Wochen später im Schnellverfahren vom Bezirksgericht „wegen 13

Haftbefehl

Das Kreisgericht Aktenzeichen:

, den

(Bei Eingaben stets anzuführen)

Fernruf

Haftbefehl Der am in geborene, in ist in Untersuchungshaft zu nehmen.

wohnhaft

Er wird beschuldigt, gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht und gegen einen Bürger wegen seiner staatlichen Tätigkeit und Zugehörigkeit zu einer staatlichen Einrichtung gehetzt zu haben. Er hat in den vergangenen Wochen gegenüber im Lokal seines Vaters anwesenden Gästen geäußert, daß es keine 8 Stunden mehr f ü r die Bauern gebe, sondern es werde wieder wie bei den Junkern werden, Ulbricht sei ja der größte Junker. Weiterhin äußerte er, daß Westdeutschland die richtige Staatsgrundlage habe, in der D D R gibt es ja nichts und man dürfte eigentlich nicht zur Wahl gehen. Zu einem Gast äußerte er außerdem: „Wenn du denjenigen ermittelst, der den in Berlin am Kanal erschossen hat und ihn meldest, bekommst du 1 0 0 0 0 , - DM." - Verbrechen nach § 19 Abs. 1 Ziffer 2 StEG Da Verdunklungsgefahr besteht und der Sachverhalt noch weiterer Ermittlungen bedarf, ist Haftgrund gegeben. Gegen diesen Haftbefehl ist binnen einer Woche das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig. Ausgefertigt:

, den Das Kreisgericht Richter

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fortgesetzter schwerer staatsgefährdender Propaganda und Hetze" zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde 14 , die er in der berüchtigten Strafanstalt für politische Gefangene in Bautzen absitzen mußte - und dieser Betriebsleiter seines inzwischen in eine G m b H der Treuhandanstalt umgewandelten Unternehmens amtierte als Geschäftsführer dieser G m b H weiter, als ob nichts geschehen wäre; - der Direktor eines großen Hotels hatte im Herbst 1989 Weisung gegeben, über Angehörige des Hotelpersonals, die sich an den beginnenden Demonstrationen beteiligten, Listen zu führen, und diese dem Staatssicherheitsdienst ausgehändigt - und er war immer noch Direktor dieses großen Hotels; - der Betriebsleiter eines V E B verweigert einem aus dem Betrieb wegen Invalidität bereits ausgeschiedenen ehemaligen Betriebsangehörigen dreimal ohne ersichtlichen Grund die notwendige Unbedenklichkeitsbescheinigung zum Besuch seiner todkranken Mutter in Hannover - und war nun Geschäftsführer seines inzwischen in eine G m b H der Treuhandanstalt umgewandelten Betriebes; 14

Urteil Urteil! I m N a m e n des Volkes

Rechtskraft am

In der Strafsache

Sekretär

gegen den am

in

geborenen

wohnhaft in

z. Zt. in U - H a f t in der U-Haftanstalt wegen - Verbrechens gem. § 19 Abs. I Ziff. 1 und 2, Abs. III S t E G hat der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts in seinen Sitzungen am , an denen teilgenommen haben: Oberrichter als Vorsitzender Verkaufsstellenleiterin Tischler als Schöffen Staatsanwalt als Vertr. d. Bezirksstaatsanwalts Just.-Angest als Protokollführerin, am Der

für Recht erkannt: Angeklagte

wird

wegen

fortgesetzter

schwerer

staatsgefährdender

Propaganda und Hetze (§ 19 Abs. I Ziff. 1 und 2, Abs. III S t E G ) zu 4 - vier - Jahren Zuchthaus verurteilt. Die seit dem erlittene Untersuchungshaft wird ihm auf die erkannte Strafe angerechnet. Er hat auch die durch das Verfahren entstandenen Auslagen zu tragen.

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der Stellvertretende Generaldirektor eines Kombinats führt gegen einen seiner Betriebsleiter ein „Disziplinarverfahren" durch mit der Begründung, er habe ihm nicht gemeldet (nicht etwa, er sei daran beteiligt gewesen), daß sein Sohn wegen versuchter Republikflucht zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden sei, wobei „erschwerend" hinzukomme, daß zwei seiner weiteren Kinder inzwischen Ausreiseanträge gestellt hätten. Der Betriebsleiter wurde zum Pförtner degradiert, eine entwürdigende und tief demütigende Maßnahme, mit der er gegenüber allen Betriebsangehörigen, deren Chef er bis dahin gewesen war, buchstäblich an den Pranger gestellt wurde - der Stellvertretende Generaldirektor aber blieb Vorstandsmitglied des in eine Aktiengesellschaft der Treuhandanstalt umgewandelten Kombinats; dem Betriebsleiter eines großen Hotels wird aus der Belegschaftsversammlung auf den Kopf zugesagt, er habe Weisung gegeben, bei Hotelgästen aus dem „ N S W " , dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, unter den für sie reservierten Tischen zum Frühstück, Mittag- oder Abendessen jeweils Abhörgeräte anzubringen - er war weiter Betriebsleiter in diesem Hotel; ein Kombinatsdirektor hatte noch am 8. November 1989, am Tag vor dem Fall der Berliner Mauer, die Betriebskampfgruppe aufmarschieren lassen und eine flammende Rede des Inhalts gehalten, daß es jetzt „um die Niederschlagung der Konterrevolution und die Bewahrung der sozialistischen Errungenschaften" gehe - er blieb Hauptgeschäftsführer des in eine G m b H der Treuhandanstalt umgewandelten Kombinats; der Stellvertretende Generaldirektor eines großen Staatsunternehmens hat eine Mitarbeiterin in gehobener Position nach einem Gespräch „über den Stand der persönlichen Abgrenzung" mit der in ihrem Zynismus kaum überbietbaren Formel, sie möge ihm in einem demnächst zu führenden „Kadergespräch" „den neuesten Stand mitteilen", vor die unmenschliche Alternative gestellt, entweder ihren Ehemann zum Abbruch seiner „Westkontakte" zu seiner in West-Berlin lebenden Mutter zu veranlassen oder sich von ihm scheiden zu lassen. Es war erschütternd und tief bedrückend, einer solchen völlig in Tränen aufgelösten Frau gegenüber zu sitzen. Die sich weigernde Mitarbeiterin wurde, da es Arbeitslose nicht geben durfte, trotz ihrer gehobenen Position in einer sie tief demütigenden Weise als Verkäuferin in einem Warenhaus eingesetzt - er aber wurde Vorstandsmitglied seines in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Unternehmens; noch nach der Wende kündigt die ehemalige „Kaderleiterin" eines inzwischen in eine G m b H umgewandelten V E B allen Belegschaftsmitgliedern, die nicht Mitglied der S E D waren, besetzt die freiwerdenden Stellen mit arbeitslosen Angehörigen des ehemaligen Mini-

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steriums für Staatssicherheit - und bleibt Personalchefin dieses Unternehmens. Solche Beispiele, in denen sofort gehandelt werden mußte und auf unsere Empfehlung hin auch sofort gehandelt wurde - im erstgenannten Falle innerhalb von zwei Stunden nach Bekanntwerden des Sachverhalts ließen sich nach unseren Erfahrungen als Vertrauensbevollmächtigte beliebig vermehren und bildeten doch nur einen verhältnismäßig kleinen Anteil in der Masse der uns erreichenden Eingaben. Sie machen nur schlaglichtartig deutlich, in welchem Maße dieses System der Unmenschlichkeit durch Indoktrination, Einschüchterung, Willkür, Erpressung, Terror und Menschenverachtung geprägt war. In diesen Fällen lag eindeutig individuell vorwerfbares Verhalten vor, auch wenn sie wohl alle unterhalb der Schwelle des Strafrechts lagen und sich in solchen Fällen auch die Alltagsroutine des Systems offenbarte. Dies war für uns überhaupt das eigentlich Bedrückende und Erschütternde, daß selbst in solchen Fällen ein Unrechtsbewußtsein der Täter kaum vorhanden war und sich darin eben nicht nur Gewissensabstumpfung manifestierte, sondern auch deutlich wurde, daß selbst solche Fälle zur Alltagsroutine gehörten und deshalb wegen ihrer Alltäglichkeit gar kein Unrechtsbewußtsein auslösten. Immerhin bereiteten solche Fälle die geringsten Schwierigkeiten, weil die Vorwürfe ein konkretes Verhalten zum Gegenstand hatten, das auch individuell zurechenbar war, und in diesen Fällen sind auf Grund der Empfehlungen der Vertrauensbevollmächtigten oder schon im Vorfeld einer formellen Empfehlung in aller Regel doch sehr schnell personelle Konsequenzen gezogen worden. 3. Als sehr viel schwieriger dagegen erwiesen sich die viel zahlreicheren Eingaben, in denen Personen in leitenden Funktionen der Treuhandunternehmen nicht ein individuell vorwerfbares Verhalten, sondern allein die Tatsache entgegengehalten wurde, daß sie unter dem alten Regime leitende Funktionen wahrgenommen, sich dabei voll mit dem Regime und seinem Unrechtssystem identifiziert und sich damit disqualifiziert hätten, ihre bisherigen Funktionen weiterhin wahrzunehmen, als ob inzwischen nichts geschehen wäre. Und gerade in diesen Fällen kam es darauf an, für die Menschen in diesem Teil Deutschlands Zeichen zu setzen und damit deutlich zu machen, daß sich eben doch etwas änderte. Was aber konnte der Maßstab hierfür sein? Es konnte ja nicht angehen, in den Tausenden von Treuhandunternehmen gewissermaßen mit der „Rasenmäher"-Methode sämtliche Unternehmensleitungen unterschiedslos abzulösen und mit einem solchen Kahlschlag von heute auf morgen eine völlig neue Situation zu schaffen. Dies hätte vielleicht eine dann wohl kaum mehr friedliche Revolution erreichen können, und in der Tat sind uns immer wieder Menschen begegnet, die sich und andere gefragt haben, warum man nicht im Umbruch der Wende radikal

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diese Konsequenz gezogen habe. Jedenfalls aber wurde immer drängender und immer dringender die Frage gestellt, warum sich nach der Wende nicht mehr verändert habe und die unselige Hinterlassenschaft des alten Regimes dem Aufbruch zu neuen Ufern immer noch im Wege stehe. Aber mit den Mitteln des Rechtsstaats war ein solcher Kahlschlag nicht zu vollziehen, wenn sich der Rechtsstaat nicht selbst aufgeben wollte. Er konnte eben nicht nachvollziehen und vollenden, was die friedliche Revolution nicht erreicht hatte und vielleicht auch gar nicht erreichen wollte. In diesem Dilemma und in dieser Zwangslage ist uns als Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt ein Begriff zum Schlüsselwort geworden, den wir gar nicht selbst erfunden haben, sondern der sich mir aus einem für mich ganz unvergeßlichen, leidenschaftlich geführten Gespräch Mitte der 50er Jahre zwischen meinem damaligen Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, Walter Strauß, der wie niemand sonst mein berufliches Leben geprägt hat, und dem unvergessenen damaligen „Kronjuristen" der SPD, Adolf Arndt, eingeprägt hat und nun plötzlich wieder aktuelle Bedeutung erhielt: der Begriff der „objektiven Kompromittierung", den Adolf Arndt damals mit voller Zustimmung von Walter Strauß in die Diskussion über die NS-Vergangenheit im öffentlichen Dienst eingeführt hat. Und dieser Begriff wurde nun für die Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt zum entscheidenden Kriterium für die Beurteilung der politischen Vergangenheit von Führungskräften in den Treuhandunternehmen in den weit überwiegenden Fällen, in denen ein individuell vorwerfbares Verhalten selbst unterhalb der Schwelle des Strafrechts nicht nachzuweisen war. Für die Handhabung dieses Begriffs der objektiven Kompromittierung mußte es also entscheidend auf die Funktionen ankommen, die Personen in leitenden Positionen der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen im Unrechtssystem des alten Regimes ausgeübt hatten, und für die Beurteilung dieser Funktionen war wiederum ein Begriff kennzeichnend, den das alte Regime selbst geprägt hatte und den wir als Vertrauensbevollmächtigte auch erst haben lernen und in seiner ganzen Bedeutung erfassen müssen: der Begriff der sogenannten „Nomenklaturkader". Nomenklaturkader waren alle Personen in leitenden Funktionen der Kombinate und volkseigenen Betriebe (sicher auch weit darüber hinaus, aber dies ging uns als Vertrauensbevollmächtigte bei der Treuhandanstalt nichts an), die in ihre Funktionen nur mit Zustimmung des Zentralkomitees der SED oder anderer hochrangiger Parteigremien berufen werden konnten. Man muß sich einmal vorstellen und bewußt machen, in welchem Maße damit die Partei unmittelbaren und entscheidenden Einfluß auf die Besetzung aller wesentlichen Positionen in der sozialisti-

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sehen Kommandowirtschaft ausübte 15 . Und dieses System der N o menklaturkader ging erstaunlich weit nach unten: zu den Nomenklaturkadern gehörten nicht nur die Generaldirektoren der Kombinate und die Betriebsleiter der Volkseigenen Betriebe und ihre Stellvertreter, sondern weit darüber hinaus alle „Kaderleiter" (Personalchefs), Produktionsund Forschungsleiter, Kommandeure der Betriebskampfgruppen und ihre sogenannten „Politchefs" und viele andere mehr. Und wer Nomenklaturkader war und also nur mit Zustimmung der maßgeblichen Parteigremien der S E D in seine Funktion berufen werden konnte, der mußte als absolut linientreuer Parteigänger des alten Systems gelten, zumindest als Steigbügelhalter oder Handlanger, bei dem konnte man davon ausgehen, daß er sich voll mit dem Regime, seinem System und seiner Ideologie identifiziert hatte und deshalb für die Fortführung oder Übernahme von Leitungsfunktionen in den von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen jedenfalls grundsätzlich objektiv kompromittiert und damit disqualifiziert war 16 . Als objektiv kompromittiert und damit disqualifiziert mußten für uns aber auch Personen gelten, die vielleicht nicht Nomenklaturkader waren, sich aber auf andere Weise als linientreue Anhänger und Verfechter des totalitären Systems und seiner Ideologie erwiesen hatten. Elemente 15 Gerd Schuchardt (vgl. Fn. 8) hat dies damit umschrieben, daß „der Leiter eines staatlichen Betriebes in der D D R auch ein politischer Leiter gewesen" sei. 16 Oberlandesgerichtspräsident a. D . Rudolf Wassermann hat dies auf dem Forum des Bundesministers der Justiz „40 Jahre S E D - U n r e c h t " a a O (Fn. 5) S. 36 in die Worte gefaßt: „ D a kann es nicht um strafrechtliche Schuld gehen, sondern da muß man aus der Funktion her den Grundsatz ableiten, daß ein Staat, eine neue Ordnung, nur dann Vertrauen verdient, wenn sie nicht mit Menschen identifiziert werden muß, von denen man sagt, es sind beflissene Mitläufer oder Handlanger des alten Systems gewesen." Vgl. dazu auch den Diskussionsbeitrag des Verfassers bei derselben Gelegenheit (aaO, Fn. 5, S. 70) sowie sein Interview in „Unternehmen und Gesellschaft", 5/92, S. 19ff. G a n z in diesem Sinne auch der sächsische Justizminister Steffen Heitmann, der im Zusammenhang mit dem „Fall Stolpe" zum Begriff der objektiven Kompromittierung folgendes ausgeführt hat ( F A Z vom 16. Mai 1992, S. 11): „Immer wieder wird eingewandt, bei der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit müsse konkret geprüft werden, ob der Betreffende jemandem geschadet habe oder nicht. Dazu ist zu sagen: Darauf kommt es nicht an. Der objektive Tatbestand der konspirativen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit hat bisher - jedenfalls in Sachsen - bei allen Prüfungen auf Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zu Konsequenzen ausgereicht. E s geht um eine politische Entscheidung, nicht um eine solche im Strafprozeß oder im Zivilprozeß. E s wird eingewandt, politische Gremien maßten sich an, über Einzelpersonen moralische Urteile zu fällen, ohne daß die Tatsachenlage vollständig erhellt sei. D a z u ist zu sagen: Bei der Beurteilung der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit geht es nicht um die Beurteilung moralischer Schuld. O b ein Mensch bei der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit moralische Schuld auf sich geladen hat, das muß er mit Gott, seinem Gewissen und seinen Mitmenschen ausmachen. Es geht zunächst einzig und allein um das Faktum der Zusammenarbeit, das eine politische Bewertung erfährt." Professor Dr. Richard Schröder, Berlin, hält bei Personen in leitenden Funktionen der Evangelischen Kirche einen Rücktritt für „mehr als empfehlenswert", auch wenn „zwar nicht von einem persönlichen Verschulden die Rede sein muß, wohl aber von einer allzu großen Verwicklung" ( F A Z vom 10. September 1992, S. 7).

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einer objektiven Kompromittierung aus diesen Bereichen waren für uns z.B. der Besuch von Parteischulen oder gar der Parteihochschule „Karl Marx", die ausschließlich der Indoktrinierung in Sachen „M/L" (Marxismus-Leninismus) dienten, die Zugehörigkeit zu Parteigremien der SED, angefangen von der APO (Abteilungsparteiorganisation), BPO (Betriebsparteiorganisation) bis hin zu den Kreis- und Bezirksleitungen und dem Zentralkomitee der SED, die Ausübung von Funktionen wie der eines hauptamtlichen Parteisekretärs, die es in allen größeren Betrieben gab, oder eines BGL-Vorsitzenden (Betriebsgewerkschaftsleitung) usw. Natürlich mußte es auch in all diesen Fällen der objektiven Kompromittierung auf die Umstände des Einzelfalls ankommen, schematische oder gar flächendeckende Abberufungsempfehlungen konnten schon aus rechtsstaatlichen Gründen nicht in Betracht kommen, und es war durchaus möglich, eine zunächst bestehende objektive Kompromittierung zu relativieren und als nicht disqualifizierend zu werten, z.B. in Fällen, in denen sich Betriebsrat und Belegschaft, die ja die politische Vergangenheit der Führungskräfte in ihrem Unternehmen in aller Regel besser als irgend jemand sonst aus eigener Anschauung kannten, für ein Verbleiben der Personen, gegen die sich die Vorwürfe in den uns zugegangenen Eingaben richteten, aussprachen, weil diese sich ihnen gegenüber immer anständig verhalten hätten. Und die Vertrauensbevollmächtigten sind auch in den Fällen der erwiesenen objektiven Kompromittierung immer mit größter Behutsamkeit und Sensibilität vorgegangen, um sich als Bevollmächtigte des freiheitlichen Rechtsstaats um Gerechtigkeit zu bemühen und den besonderen Umständen jedes Einzelfalls gerecht zu werden. Nur auf diese Weise konnten sie ihrer Aufgabe und ihrem Auftrag gemäß den Menschen zu helfen versuchen. Aber wenn solche relativierenden Umstände in Fällen objektiver Kompromittierung nicht vorlagen, dann war es den Menschen in den Betrieben und auf der Straße in ihrer oft verzweifelten und immer emotionaler um sich greifenden Erwartung, daß sich doch endlich etwas ändern müsse, nicht zu erklären und auch nicht zuzumuten, daß immer noch die Funktionäre und linientreuen Parteigänger von gestern in den Führungspositionen von heute saßen und weiterhin das Sagen hatten, daß diese Leute jetzt über Kurzarbeit und Entlassungen zu entscheiden hatten, während sie selbst die Annehmlichkeiten der Marktwirtschaft in Anspruch nahmen und in vielen Fällen noch dazu dafür sorgten, daß alle maßgeblichen Positionen in dem Unternehmen in der Hand alter Genossen blieben, während die anderen auf die Entlassungslisten gesetzt wurden. Der sächsische Innenminister Heinz Eggert hat diese Situation in der Debatte des Deutschen Bundestages über die Einsetzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" am 12. März 1992 mit den geradezu beschwörenden Worten umschrieben 17 : 17

AaO (Fn. 4) S. 6756 B.

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„Es ist kaum noch zu ertragen, wenn die sozialistischen Betriebsleiter von gestern auf einmal die marktwirtschaftlichen Geschäftsführer von heute sind, die den gleichen Personenkreis, den sie früher politisch bedrückten, jetzt wirtschaftlich erpressen und auf die Straße setzen." Hier waren die Vertrauensbevollmächtigten aufgerufen, den Menschen zu helfen, hier haben sie mit den ihnen zu Gebote stehenden Möglichkeiten versucht, darauf hinzuwirken, daß solche Leute einmal ins zweite oder dritte Glied zurücktraten oder einmal etwas ganz anderes machten. Denn es kam uns ja nicht darauf an, diese Leute arbeitslos zu machen oder sonst wirtschaftlich zu schädigen. Auch sie müssen in die neue Ordnung integriert werden und auch sie müssen die Chance erhalten, sich aus gewandelter Überzeugung ehrlich zum freiheitlichen Rechtsstaat und zur sozialen Marktwirtschaft zu bekennen. Aber als die Scharfmacher oder Quälgeister von gestern sind sie in den gleichen Positionen von heute für die Menschen in diesem Teil Deutschlands untragbar. Sie sollten, wie es Friedrich-Karl Fromme als Meinung der Bürgerrechtler von einst berichtet hat 18 , „entgegen ihrem Ehrgeiz eine Runde aussetzen, in einen Wartestand ihres Drangs nach der ersten Reihe zurücktreten". Im übrigen haben wir immer wieder die Erfahrung gemacht, daß der Gesichtspunkt der objektiven Kompromittierung auch für die Betroffenen selbst sehr viel schonender, einleuchtender und eher hinnehmbar war als ein individueller Schuldvorwurf. Denn die Disqualifizierung auf Grund von objektiver Kompromittierung hat uns niemals Anlaß gegeben, persönliche Schuldvorwürfe zu erheben. Wir haben uns auch nie angemaßt, auch nur ein moralisches Urteil zu fällen - wie hätten wir dies tun können, die wir das Glück hatten, diese 40 Jahre in Freiheit und Wohlstand zu leben, und doch nicht einmal wissen und behaupten können, wie wir uns verhalten hätten, wenn wir diese 40 Jahre im anderen Teil Deutschlands hätten erleben müssen. Es ging uns immer nur um den Appell, doch einzusehen, daß es den Menschen nicht zu erklären und auch nicht zuzumuten ist, daß die Funktionäre von gestern auch jetzt noch und weiterhin das Sagen haben, daß unsere Aufgabe und unser Auftrag als Vertrauensbevollmächtigte bei der Treuhandanstalt ausschließlich darin bestand, diesen Menschen zu helfen, und daß endlich einmal denen eine Chance gegeben werden müsse, die 40 Jahre lang nur deshalb keine Chance gehabt hatten, weil sie sich nicht in gleicher Weise objektiv kompromittiert haben. Der Vorsitzende der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur, Pfarrer Rainer Eppelmann, hat in einer Presseerklärung vom 7. Oktober 1992 aus Anlaß des 43. Jahrestages der Gründung der D D R folgendes gesagt:

18 FAZ vom 24. Februar 1992, S. 1; ganz in diesem Sinne auch Bärbel Bohley, FAZ vom 14. März 1992, S. 27, Joachim Gauck aaO (Fn.9).

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„Gebrauchte DDR-Bürger sind wir Ostdeutschen alle, - aber unterschiedlich benutzt oder gar beschmutzt! - Ich möchte zwei Jahre nach der Vereinigung eine erste differenzierende Einteilung für mich vornehmen. 1. Die Hauptschuld tragen die wenigen, die diese Diktatur mit sowjetischer Unterstützung errichteten und betrieben: die Mitglieder des Politbüros, die SED-Spitzenfunktionäre im ZK und seiner Verwaltung, die Mitglieder der Zentralen Kontrollkommission der SED, die SED-Chefs in den Bezirken, die Minister für Staatssicherheit, Inneres, Justiz und Volksbildung. - Sollte oder müßte dieser Personenkreis als „verbrecherisch" bezeichnet werden? 2. Dann folgt schon eine größere Gruppe: Extrem-Privilegierte, die der D D R bewußt den täuschenden Anstrich der Demokratie und Seriosität verschaffen halfen! Ich denke an die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der Blockparteien, der Massenorganisationen, der Verbände, an die Mitglieder des Ministerrates, an die Kombinatsdirektoren, an die Rektoren von Universitäten und Hochschulen, an die Staatsanwälte und Richter. 3. Danach folgen die vielen Uberzeugungs-Quäler und die Doppelzüngigen, die um eigener Vorteile willen mit den Diktatoren gemeinsame Sache gemacht haben: Generäle, Direktoren, Vorsitzende, die ZK-Mitglieder, die leitenden hauptamtlichen Mitarbeiter der S E D und der Blockparteien, Spitzenfunktionäre dieser politischen Parteien auf Republiks- und Bezirksebene, hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, hochdekorierte Künstler und Sportler, Kirchenmänner und -frauen, Rechtsanwälte. - Sollte oder müßte der 2. und /oder 3. Personenkreis - je nach Schuld und Verstrickung - nicht für immer oder zeitweilig davon ausgeschlossen sein, politische, ökonomische, kulturelle und juristische Grundlinien unseres Staates erarbeiten und durchsetzen zu können? 4. In der 4. Gruppe befindet sich die übergroße Mehrheit von uns Ostdeutschen: Sie haben ihren (Schein-)Frieden mit der Diktatur gemacht. Sie waren nicht organisiert, oder nur im F D G B oder einer anderen Massenorganisation, oder Normal-Mitglied in einer der Blockparteien oder der SED. O f t waren sie darum bemüht, zu bewegen, zu helfen, zu verändern. - Am Ende eines solchen Bemühens stand leider oft die Erkenntnis, nur sich selbst verändert - sprich: angepaßt zu haben. Diese vielen Menschen wollten es nur möglichst gut haben, in Ruhe leben und arbeiten, etwas erreichen; ja, möglichst fleißig und ehrlich, möglichst glücklich und zufrieden sein. 5. Diese ganz menschlichen Wünsche und Erwartungen hatten auch die wenigen D D R Bürger der letzten Gruppe. Auch sie standen nicht ständig auf der Straße - wer könnte das schon! ?—Manchmal redeten und handelten sie aber so, daß sie den Ärger und den Zorn der Diktatoren auf sich zogen und für ihr sog. Mißverhalten bestraft wurden.

Viele Menschen aus den Gruppen 4. und 5. sollten die Leiter und Verantwortlichen von Heute und Morgen sein." 4. Natürlich gab es in der Treuhandanstalt gegen das Argument der objektiven Kompromittierung zunächst massive und auch durchaus ernst zu nehmende Einwände, und ich verhehle nicht, daß ich am Beginn unserer Tätigkeit selbst von solchen Einwänden beeindruckt war. Es wurde auf die hohe fachliche Qualifikation vieler alten Führungskräfte verwiesen, man sei auf sie angewiesen und habe keine personelle Alternative. Man könne diese Leute auch nicht sämtlich durch Manager aus dem Westen ersetzen, da man dann Tausende brauche, die man nicht habe, und damit außerdem nur Wasser auf die Mühlen derer leiten würde, die ohnehin behaupteten, man sei die „Besatzungsmacht" und habe nur die Absicht, diesen Teil Deutschlands „zu kolonisieren". Und die Ersetzung der alten Funktionäre

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durch qualifizierte Leute aus dem zweiten oder dritten Glied, die bisher keine C h a n c e gehabt haben, k o m m e schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Leute i m m e r nur gelernt hätten, Befehle auszuführen, sich immer, auch bei eigener besserer Einsicht, gehütet hätten, von diesen Befehlen abzuweichen, weil sie genau wußten, was ihnen dann geschehen würde, und niemals zu eigenverantwortlichem Handeln herangebildet und motiviert worden seien. W e n n , so der Personalvorstand der Treuhandanstalt, D r . Alexander K o c h , der gesamte Vorstand eines großen westdeutschen U n t e r n e h m e n s - was nie geschehen dürfe dasselbe Flugzeug besteige und dieses abstürze, sei sofort die zweite E b e n e des U n t e r n e h m e n s in der Lage, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. D a s liefe dann zwar zunächst vielleicht nicht ganz so gut, habe sich aber nach kürzester Zeit eingespielt. In den ostdeutschen U n t e r n e h m e n aber gebe es eine solche zu eigenverantwortlichem H a n deln ausgebildete und motivierte zweite E b e n e nicht. 5. Diese Argumente, so einleuchtend sie auf den ersten B l i c k auch uns erschienen, haben sich im Laufe unserer Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte bei der Treuhandanstalt sehr schnell und i m m e r m e h r als nicht tragfähig erwiesen. Natürlich k o n n t e es nicht in Betracht k o m m e n , alle alten Funktionäre in den Treuhandunternehmen durch Manager aus dem W e s t e n zu ersetzen. U n d natürlich war es mit einem R i s i k o verbunden, auf Personen aus dem zweiten oder dritten Glied dieser U n t e r n e h m e n zurückzugreifen, die in die Leitungsebene nur deshalb nicht hatten aufsteigen k ö n n e n , weil sie sich nicht in gleicher Weise wie die alten „Leitungskader" mit dem R e g i m e und seinem System sozialistischer K o m m a n d o w i r t s c h a f t identifiziert haben oder schon vom Lebensalter her nicht in gleicher W e i s e belastet sein konnten. Dies war ein R i s i k o , eben weil diese Leute nicht gelernt hatten, eigenverantwortlich zu handeln, und deshalb gehörte M u t dazu, auf sie zurückzugreifen. A b e r dieses R i s i k o konnte immerhin gemindert werden durch F ü h lungnahme mit den inzwischen nach dem Betriebsverfassungsgesetz demokratisch gewählten Betriebsräten, die vielfach in der Lage waren, die personelle Situation in den U n t e r n e h m e n sachkundig zu beurteilen. Dieses R i s i k o war aber vor allem weit geringer als das viel größere R i s i k o , die alten Funktionäre einfach weitermachen zu lassen. D e n n sie waren vielfach nicht auf G r u n d fachlicher Qualifikation, sondern nur auf G r u n d von Parteibeziehungen und Genossenwirtschaft in ihre alten F u n k t i o n e n aufgestiegen, w o b e i das D i p l o m , der D o k t o r - oder sogar der Professoren-Titel der Parteihochschule in „ M / L " häufig eine maßgebliche R o l l e spielte. Bei ihnen war auch die G e f a h r bewußter O b s t r u k t i o n und Gegensteuerung aus mangelnder Loyalität gegenüber der neuen O r d n u n g jedenfalls nicht auszuschließen - und dafür gab es Beispiele. Sie verstanden auch von Marktwirtschaft sicherlich nicht mehr als

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diejenigen, die in diesem System sozialistischer Kommandowirtschaft 40 Jahre lang keine Chance hatten, und hier hat sich mir die kurze Formel des sächsischen Innenministers Heinz Eggert ganz unvergeßlich eingeprägt, auf die er noch als Landrat von Zittau das Problem der politischen Vergangenheit der „Leitungskader" der alten Kommandowirtschaft gebracht hat19: „Die Experten des alten Systems sind Experten für das alte System." Hinzu kommt, und dies habe ich vom Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen, Professor Dr. Kurt Biedenkopf, gelernt, daß es sich bei der politischen Vergangenheit und der objektiven Kompromittierung der alten Funktionäre nicht nur um ein politisches Problem mit Auswirkungen bis hin zur inneren Stabilität in diesem Teil Deutschlands, sondern zugleich um ein eminent betriebswirtschaftliches Problem handelte: denn diese alten „Leitungskader" können die Belegschaften ihres Unternehmens, die ihre politische Vergangenheit ja genau kennen, nicht optimal motivieren und sind selbst ständiger Unsicherheit ausgesetzt und in ihren Entscheidungen nicht frei, weil sie jeden Tag damit rechnen müssen, von ihrer politischen Vergangenheit eingeholt und bis hin zur Erpreßbarkeit mit ihr konfrontiert zu werden. Denn über diese Vergangenheit, das haben wir immer wieder erfahren müssen, wächst kein Gras und wird auch künftig kein Gras wachsen. Und deshalb ist unter der Leitung der alten Führungskräfte auch unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten die Effizienz der Unternehmensführung nicht gewährleistet. 6. Vor allem aber hat es sich für die Menschen in diesem Teil Deutschlands als untragbar erwiesen, die alten „Leitungskader" einfach weitermachen zu lassen, auch wenn ihnen ein individuell vorwerfbares Verhalten nicht nachzuweisen war. Wenn es dazu noch eines Beweises bedurft hätte, dann ließ er sich aus einer Infas-Umfrage vom März 199120 entnehmen, die zu dem erstaunlichen Ergebnis führte, daß

" F A Z vom 3. März 1991, „Die Eingeschlossenen von Zittau", Bilder und Zeiten; derselbe fast gleichlautend in der Debatte des Deutschen Bundestages über die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SEDDiktatur" aaO (Fn. 4) S. 6736 B. Der Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Conrad-Michael Lehment, hat diese Problematik mit den Worten umschrieben (Der Spiegel Nr. 27/1991, S. 13): „Es sind 40 Jahre Planwirtschaft, die diese Leute geprägt haben und von denen sie geprägt worden sind. Und jetzt wollen diese Spitzenkräfte des Sozialismus ihre Betriebe in die freie Marktwirtschaft führen? Das muß scheitern. Man kann Nichtschwimmer doch nicht per Handschlag zum Rettungsschwimmer befördern." 20 Infas-Repräsentativerhebung in den neuen Bundesländern einschließlich Ost-Berlin, Erhebungszeitraum Ende März 1991; vgl. dazu auch die Allensbach-Umfrage vom Februar 1992 über den Verbleib von DDR-Spitzenleuten in alten Positionen, F A Z vom 8. April 1992, S.4.

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8 7 % der 18-24jährigen 82 % der 25-34jährigen 81 % der 35-49jährigen 80 % der 50-64jährigen und immer noch 61 % der über 65jährigen energisch fordern, „alte S E D - B o n z e n " aus wichtigen Positionen in der Wirtschaft zu entfernen. Wann führen Umfrageergebnisse einmal zu so hohen Prozentsätzen! Dies macht wohl mehr als deutlich, daß die Vertrauensbevollmächtigten bei der Treuhandanstalt im Rahmen ihrer Aufgabe und ihres Auftrags, den Menschen in diesem Teil Deutschlands zu helfen, mit dem Gesichtspunkt der Disqualifizierung durch objektive Kompromittierung auf dem richtigen Wege waren. Der Schriftsteller Günter Kunert hat die Problematik der politischen Vergangenheit von leitenden Funktionären des alten Systems in der ostdeutschen Wirtschaft mit folgenden Worten umschrieben 21 : „Wer in der D D R eine Karriere gemacht hat, insbesondere eine Parteikarriere, hatte entweder schon vorher oder doch im Laufe seiner Vita sein Gewissen und seinen Charakter an der Garderobe abgegeben. Der Betrieb erzeugte Befehlsempfänger, denen das Unrechtsbewußtsein entzogen wurde, ohne daß sie es je wieder erlangten, ohne daß sie es je wieder erlangen könnten. Ein gebrochenes Rückgrat wächst nicht wieder zusammen." Dies kommt vielleicht noch zu dem hinzu, was wir als Vertrauensbevollmächtigte beim Vorstand der Treuhandanstalt mit dem Begriff der objektiven Kompromittierung gemeint haben. 7. Es war allerdings nicht ganz einfach, diese Position auch gegenüber dem Vorstand der Treuhandanstalt durchzusetzen. Schon mit dem Präsidenten der Treuhandanstalt D r . Detlev Rohwedder wie auch - nach dem uns alle aus der täglichen Routine wie mit einem Schock herausreißenden hinterhältigen und heimtückischen Attentat auf ihn - mit der neuen Präsidentin Birgit Breuel hat es immer wieder intensive Gespräche über die Frage gegeben, ob der politischen Vergangenheit von Führungskräften in den Treuhandunternehmen das größere Gewicht zugemessen werden müsse und könne als ihrer fachlichen Qualifikation und behaupteten Unentbehrlichkeit. Und tatsächlich handelte es sich hier um einen Interessenkonflikt, der angesichts der kaum abzuschätzenden Verantwortung des Vorstands der Treuhandanstalt und seiner immer wieder den allergrößten Respekt abnötigenden, im wahrsten Sinne des Wortes bewundernswerten Leistung bei der Lösung der Jahrhundertaufgabe der übergangslosen Uberführung einer sozialistischen Kommandowirtschaft in die freiheitliche soziale Marktwirtschaft nicht mit leichter Hand entschieden werden konnte.

21

„Die Welt" vom 28. Februar 1992, S. 17.

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So war es nur zu begrüßen, daß der Präsident des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt, Dr. Jens Odewald, diese Frage am 26. Juli 1991 zum Gegenstand einer Sitzung des Verwaltungsrats machte, in der es in Gegenwart fast aller Ministerpräsidenten der östlichen Bundesländer nach einführenden Referaten der Vertrauensbevollmächtigten beim Vorstand der Treuhandanstalt zu einer langen, die vorgesehene Zeit weit überschreitenden Diskussion kam, deren Ergebnis in einem Schreiben der Präsidentin Birgit Breuel an die Aufsichtsratsvorsitzenden sämtlicher Treuhandunternehmen vom 7. August 1991, um dessen Entwurf sie mich selbst gebeten hatte, mit folgender Schlußfolgerung zum Ausdruck kam: „Wir möchten Sie deshalb bitten und auffordern, die Fragen der politischen Belastung von Führungskräften nochmals mit größter Aufmerksamkeit zu prüfen und im Einzelfall auch vor entscheidenden personellen Konsequenzen nicht zurückzuschrecken. Das Argument der Unentbehrlichkeit darf dabei nicht gelten." N o c h eindrucksvoller verlief eine Gesprächsrunde am 11. September 1991, zu der Frau Präsidentin Birgit Breuel bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens „open end" und zu dem einzigen Zweck eingeladen hatte, die Problematik der politischen Vergangenheit von Führungskräften in den Treuhandunternehmen offen und vorbehaltlos zu diskutieren. In dieser bis in den späten Abend zusammenbleibenden Runde, in der von den Ministerpräsidenten der östlichen Länder, führenden Vertretern der Kirchen, hochrangigen Managern der Wirtschaft bis hin zu Abgeordneten des Deutschen Bundestages und dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Politik, Sachverstand und öffentliche Meinung fast repräsentativ vertreten waren, kam es gleich zu Beginn zu einer mit großer Leidenschaft ausgetragenen Kontroverse zwischen denen, die für einen großen Schlußstrich und die Konzentration auf die vor uns liegenden Aufgaben der Zukunft plädierten, und denen insbesondere aus dem Osten Deutschlands, die dies für unerträglich und für die Menschen in diesem Teil Deutschlands unzumutbar erklärten und damit die Position der Vertrauensbevollmächtigten unterstützten. Und es ist immerhin bemerkenswert, daß es am späten Abend dann doch einen gewissen Konsens insofern gab, als Dr. Klaus von Dohnanyi in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzender der T A K R A F A G , Leipzig, seine ursprüngliche These, daß es für ihn allein auf die Qualifikation eines Menschen ankomme, dahin konkretisierte und differenzierte, daß für ihn der Begriff der Qualifikation unverzichtbar die drei Elemente fachliche Qualifikation, Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit umfasse, und die Diskussionsteilnehmer insbesondere aus dem Osten Deutschlands dies zu akzeptieren bereit waren unter Hinweis darauf, daß in Fällen politischer Belastung aus der Vergangenheit zwar vielleicht fachliche Qualifikation, keinesfalls aber Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit gegeben seien, sofern nicht im Einzelfall besondere Umstände vorlägen.

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Dies alles zeigt, daß sich der Vorstand der Treuhandanstalt der Frage personeller Konsequenzen wegen politischer Vergangenheit immer wieder gestellt, es sich damit nicht leicht gemacht und sich in einem langen Meinungsbildungsprozeß zur Position der Vertrauensbevollmächtigten bekannt hat, daß unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls doch der Gesichtspunkt der objektiven Kompromittierung durch Belastungen in der politischen Vergangenheit personelle Konsequenzen erfordert, auch wenn im einzelnen Fall ein individuell vorwerfbares Verhalten nicht vorliegt und ein persönlicher Schuldvorwurf nicht erhoben werden kann. Auch im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt hat diese Linie Anerkennung und ausdrückliche Zustimmung gefunden. Daß sich die Vertrauensbevollmächtigten mit dieser Position auf Grund der von ihnen mit dieser Problematik gemachten Erfahrungen gegenüber dem Verwaltungsrat und dem Vorstand der Treuhandanstalt durchgesetzt haben, ist vielleicht das wichtigste Ergebnis ihrer gesamten Tätigkeit gewesen. Es fand seinen Niederschlag auch in zahlreichen öffentlichen Erklärungen und Stellungnahmen des Personalvorstands der Treuhandanstalt 22 und übrigens auch darin, daß die Vertrauensbevollmächtigten zunehmend, wenn auch bei einzelnen Niederlassungen und Fachabteilungen der Treuhandanstalt mit einem gewissen, wenn auch vielleicht verständlichen Zögern, in die sogenannten MBO-Verfahren ("Management-buy-out") eingeschaltet wurden, bei denen es um den Verkauf von Treuhandunternehmen an leitende Angestellte dieser Unternehmen ging. Andererseits war aber auch nicht zu verkennen, daß die Tätigkeit der Vertrauensbevollmächtigten in der Treuhandanstalt und den Treuhandunternehmen vielfach auch als lästig und störend empfunden wurde. Es hat in einzelnen Fällen, wenn auch aus vielleicht verständlichen Gründen, gelegentlich auch aus Fürsorgeerwägungen oder wegen vermeintlicher Unentbehrlichkeit des Betroffenen, durchaus auch Hinhaltetaktik und Gegenwind gegeben. Die Vertrauensbevollmächtigten haben sich dadurch aber angesichts ihrer niemals in Frage gestellten Unabhängigkeit nicht beirren lassen. 8. Eine uneingeschränkte Bestätigung unserer Position als Vertrauensbevollmächtigte habe ich in zahlreichen Gesprächen gerade mit Persönlichkeiten aus dem Osten Deutschlands gefunden, die das S E D Unrechtssystem oft buchstäblich am eigenen Leibe erlebt und erfahren haben und die ich als jemand, der dies alles selbst nicht erlebt und erfahren hat, schon im Interesse der Selbstvergewisserung um ein solches Gespräch gebeten habe. Ganz unvergeßlich ist mir das lange Gespräch mit Richard Schröder in seinem Haus in Blankenfelde schon im Januar 1991, um das ich ihn nach

22 So Dr. Alexander Koch, Handelsblatt vom 25. Oktober 1991; Neue Zeit vom 19. August 1991, S. 3; Manager-Magazin Nr. 8/91, S.4 (9); Inno Vatio, Nr. 2/92, S.52.

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der nächtlichen Lektüre seines bewegenden großen Aufsatzes über die Zersetzungsarbeit des Staatssicherheitsdienstes und ihre Vermarktung durch die westlichen Medien 23 gebeten hatte. Das gleiche gilt für die intensiven Gespräche mit dem sächsischen Justizminister Steffen Heitmann während des Ersten Forums des Bundesministers der Justiz „40 Jahre SED-Unrecht - eine Herausforderung für den Rechtsstaat" am 9. Juli 1991 in Bonn24 sowie am 2. Oktober 1992 in Dresden, mit Wolfgang Thierse am 6. November 1991 in Bonn, mit dem sächsischen Innenminister und ehemaligen Pfarrer von Oybin und Landrat von Zittau, Heinz Eggert, am 28. Januar 1992 in Dresden, dessen bedrückendes Schicksal als Opfer des Staatssicherheitsdienstes bis hin zum Versuch der physischen und psychischen Zerstörung durch die planmäßige Vergiftung mit Psychopharmaka die ganze Unmenschlichkeit des Systems geradezu schlaglichtartig verdeutlichte, mit Rainer Eppelmann am 15. Juni 1992 in Bonn, mit dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Pfarrer Joachim Gauck, am 14. Juli 1992 in Berlin, mit Bundesministerin Dr. Angela Merkel am 10. November 1992 in Bonn sowie mit weiteren Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus den ostdeutschen Ländern und Abgeordneten der ostdeutschen Landtage. Sie alle habe ich im immer wieder aktuellen Interesse der eigenen Vergewisserung gefragt, ob wir, die wir aus dem Westen kämen und nun den Versuch machten, uns in die Situation der in 40 Jahren SED-Unrechtssystem um ihr Leben und ihre Chancen betrogenen und in das „unheilvolle Zusammenspiel von Machtbesessenheit und Unterwürfigkeit" 25 verstrickten Menschen hineinzudenken und hineinzufühlen, mit der Handhabung des Begriffs der objektiven Kompromittierung dieser Situation gerecht würden in dem Bemühen, im Rahmen unseres Auftrages als Vertrauensbevollmächtigte den Menschen in diesem Teil Deutschlands zu helfen und damit wenigstens ein Stück weit der Gerechtigkeit den Weg zu bahnen. Und sie alle haben uns in unserer Auffassung bestätigt und bestärkt und uns Mut gemacht, in dieser Weise fortzufahren: wir machten es genau richtig. Wolfgang Thierse war von der These, Führungskräfte in den Treuhandunternehmen seien durch ihre politische Vergangenheit in vielen Fällen objektiv kompromittiert und deshalb für die bruchlose Fortsetzung ihrer alten Funktionen in neuem Gewand in der neuen Freiheit disqualifiziert, so fasziniert, daß er mir spontan erklärte, er werde den Begriff der objektiven Kompromittierung, von dem er vorher noch nie gehört habe, nunmehr öffentlich und offensiv vertreten. Und tatsächlich erschien knapp drei Wochen später sein breite Aufmerksamkeit auslösender Aufsatz über 23 24 25

F A Z vom 2. Januar 1991, S.23. AaO, Fn. 5. So Günter Kuriert, FAZ vom 29. Februar 1992, S.28.

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„Die alten Seilschaften in der neuen Freiheit" 26 , in dem er den Begriff der objektiven Kompromittierung sogar in der Uberschrift verwendete. Eine besonders eindrucksvolle Bestätigung unserer Position bei der Ausführung unserer Aufgabe als Vertrauensbevollmächtigte erfuhr ich schließlich in einer Kabinettsitzung der Landesregierung von SachsenAnhalt in Magdeburg am 26. November 1991, zu der mich der Ministerpräsident des Landes, Professor Dr. Werner Münch, eingeladen hatte, nachdem ich ihn im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt kennengelernt hatte. Es gab dort eine ausführliche Diskussion über alle Aspekte der politischen Vergangenheit leitender Funktionäre des alten Systems, und es bedeutete für uns doch eine große Genugtuung und Ermutigung, daß insbesondere die sechs Minister des Kabinetts aus dem Osten Deutschlands uns in unserer Linie bestärkten und erklärten, daß es für die Menschen in diesem Teil Deutschlands unerträglich sei, mit ansehen zu müssen, daß die Funktionäre von gestern dieselben Positionen von heute einnähmen, die Alten also nach wie vor auch die Neuen seien und in der neuen Freiheit einfach weitermachten, als ob inzwischen nichts geschehen wäre. Es war schon bewegend, vom gesamten Kabinett von SachsenAnhalt das bestätigt zu sehen, was wir als Vertrauensbevollmächtigte mit dem Begriff der objektiven Kompromittierung gemeint haben. VII. Die Stasi-Problematik 1. Natürlich hat auch uns als Vertrauensbevollmächtigte bei der Treuhandanstalt die Stasi-Problematik immer wieder beschäftigt, und wir haben mit der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes eng und konstruktiv zusammengearbeitet. Was dabei an geradezu „metastasenhafter Durchsetzung aller Bereiche in der DDR durch die Staatssicherheit" 27 zutage trat, übertraf immer wieder alles, was wir uns bis dahin hatten vorstellen können. Wir haben lernen müssen, daß es allein 103 000 hauptamtliche Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes gegeben hat, daß man die Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter auf über 300 000 schätzt, daß es neben den IMS (Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit), die in erster Linie konspirative Spitzeldienste zu leisten hatten, und den FIM, die gleich mehrere IMS zu führen hatten und ihrerseits wieder von Führungsoffizieren geführt wurden, die GMS gab, die Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit, deren Aufgabe nicht in erster Linie in konspirativer Bespitzelung, sondern in der politischoperativen Einflußnahme im beruflichen und gesellschaftlichen Bereich mit dem Ziel planmäßiger Zersetzung bestimmter Kreise nach konspirativem Eindringen in solche Gruppierungen bestand, ferner die IMB, die F A Z vom 27. November 1991, S . 2 1 . So der sächsische Innenminister Heinz Eggert Bundestages am 12. März 1992 aaO (Fn.4) S . 6 7 3 4 D. 26

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in der Debatte des Deutschen

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Inoffiziellen Mitarbeiter mit unmittelbarer Feindberührung, d. h. mit Kontakt zu Personen aus dem „ N S W " , zur Bearbeitung von „im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden" Personen, die IME, die Inoffiziellen Mitarbeiter im besonderen Einsatz, die auf „Schlüsselpositionen zur Erarbeitung operativ besonders bedeutsamer Informationen" angesetzt wurden, und schließlich die IMK, die Inoffiziellen Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration, die ein Zimmer, eine Wohnung, eine Deckadresse oder ein Decktelefon zur Verfügung stellten. Bei der Behörde des Bundesbeauftragten lagern Akten über vier Millionen von 16 Millionen Bürgern der ehemaligen D D R und über zwei Millionen Personen aus der alten Bundesrepublik Deutschland mit einem Gesamtumfang von mehr als 200 km - ein unvorstellbares Sicherheitssystem, das schlechthin alle Lebensbereiche erfaßte und zahllose Menschen dem „zerstörerischen Zugriff seiner Zersetzungsmaßnahmen" 28 aussetzte. Was dies im einzelnen bedeutete, mögen der Originaltext einer Erklärung zu Kontakten und Verbindungen zum NSW 2 9 , zweier Verpflichtungserklärungen 30 , eines Verpflichtungsberichts 31 und einer „Vorläufigen Sicherheitskonzeption für das Interhotel.. ." 32 deutlich machen, die wohl für sich sprechen. 28 Erklärung der früheren Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes zu den Stasi-Vorwürfen gegen Ministerpräsident Manfred Stolpe, unterzeichnet von den Bischöfen Albrecht Schönherr, Werner Krusche, Johannes Hempel, Werner Leich und Christoph Demke, FAZ vom 27. April 1992, S. 2. Der sächsische Justizminister Steffen Heitmann spricht in diesem Zusammenhang (aaO, Fn. 16) von dem „zerstörerischen Geflecht von Lüge und Vertrauensbruch, das auf der DDR-Gesellschaft lastete".

"

NSW-Erklärung

Erklärung zu Kontakten und Verbindungen zum NSW einschließlich Berlin-West

Wir erklären hiermit, keine Kontakte und Verbindungen zu Verwandten und Bekannten im NSW einschließlich Berlin-West zu unterhalten. Diese Erklärung erstreckt sich auf alle im Haushalt lebenden Familienangehörigen. Sollten unbeabsichtigt von uns Bürger und Institutionen des NSW Verbindungen oder Kontakte mit uns suchen, werden wir unverzüglich schriftlich den Kaderleiter darüber informieren. (Datum)

(Kollege)

(Ehepartner)

30 Verpflichtungserklärungen a) Quelle: MfS

, den Verpflichtung

Ich,

geb. am

in

wohnhaft in

Straße

bin mir voll bewußt, daß zur Durchkreuzung der imperialistischen Kriegspläne alle Kräfte angespannt werden müssen. Als Mitglied der SED verpflichte ich mich, meine ganze Kraft und alle meine Fähigkeiten in den Dienst der Erhaltung des Friedens, der Sicherung unseres sozialistischen Staates und der Durchsetzung der Politik des Friedens in ganz Deutschland zu stellen. Ich bin bereit die Tätigkeit des MfS in dieser Hinsicht tatkräftig zu unterstützen. Deshalb erkläre ich meine Bereitschaft, meine Anschrift als Deckadresse zur Verfügung zu stellen.

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Die sich daraus ergebenen Aufgaben werde ich äußerst gewissenhaft, diszipliniert und schnell erfüllen. Ich verpflichte mich, mit keiner Person über meine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der D D R , außer mit meinem Vordermann, zu sprechen. Ich werde meinem Vordermann davon Kenntnis geben, wenn Personen an mich herantreten, die versuchen mein Vertrauen zu gewinnen oder wo ich vermute, daß sie für imperialistische Geheimdienste arbeiten. Getragen von der großen Verantwortung und dem mir entgegengebrachten Vertrauen weiß ich, daß eine Verletzung dieser meiner freiwillig eingegangenen Verpflichtung als Verrat und Vertrauensbruch an den Interessen unserer Partei und unseres Staates gewertet wird und entsprechend dem § 353 b und § 353 c des Strafgesetzbuches bestraft werden kann. Der Inhalt dieser §§ wurde mir bekanntgegeben. Ich erhalte den Decknamen „. . ." und werde damit alle Berichte und Quittungen unterschreiben. Ich erhalte die Tel. Nr

App. Nr (Unterschrift)

b)

Verpflichtung

Ich,

den

geb. am . . . . . . wohnhaft in

erkläre mich hiermit auf eigenen Wunsch bereit, die Organe des MfS in ihrer verantwortlichen Tätigkeit zum Schutz der D D R und zur Sicherheit ihrer Bürger allseitig zu unterstützen. Ich werde stets bemüht sein, alle mir gestellten Aufgaben pünktlich und gewissenhaft zu erfüllen. Ich verpflichte mich, über alle Kontaktaufnahmen, welche ich mit Bürgern der D D R , aus WD, WB und dem KA (Erklärung des Verfassers: Westdeutschland, West-Berlin, Kapitalistisches Ausland) durchführe, dem Mitarbeiter des MfS schriftlich mitzuteilen. Desweiteren werde ich über alle operativ interessierten Vorkommnisse (meiner Mitarbeiter, Kontaktaufnahmen zu Bürgern aus WD, WB und KA) sowie operativ wichtige Wahrnehmungen über Gäste Mitteilung machen. Ich bin darüber ausführlich belehrt worden, daß ich über meine Zusammenarbeit mit den Organen des MfS gegenüber jedermann strengstes Stillschweigen zu wahren habe. Das betrifft alle persönlichen Angehörigen sowie Vorgesetzte, Partei- und staatliche Institutionen einschließlich mir bekannter Mitarbeiter des MdL Zur Wahrnehmung meiner persönlichen Sicherheit werde ich alle von mir verfaßten Berichte mit dem Decknamen „ " unterzeichnen. (Unterschrift)

31

Kreisdienststelle

, den Verpflichtungsbericht

zur Werbung des Kandidaten Name, Vorname

geb. am . . . . in . . . . wohnhaft. . . .

1. Wann, wo und unter welchem Vorwand erfolgte die Aussprache mit dem Kandidaten? Die erste Kontaktaufnahme erfolgte im Jahre 1973 anläßlich der Weltfestspiele durch den Gen , der den Kandidaten als GMS warb. Eine Legende der Werbung als GMS war nicht erforderlich. Dem Kandidaten wurde bereits damals erklärt, daß das MfS zur Durchführung seiner verantwortungsvollen Aufgaben seine Unterstützung brauche. 2. Wie verhielt sich der Kandidat im Verlaufe des Gespräches, welche Art der Werbung wurde angewandt, wie reagierte der Kandidat auf den Vorschlag zur engeren Zusammenarbeit":' Der Kandidat wirkte in seiner Haltung und Ausdrucksweise ruhig und sicher. Er war ohne zu zögern bereit, die bisher nur lockere Form der Zusammenarbeit zu verändern und entsprechend seiner Möglichkeiten unser Organ zu unterstützen. Der Kandidat

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3.

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äußerte, daß er eine engere Zusammenarbeit als folgerichtig ansieht und diese bereits erwartet hatte. Wie erfolgt die Verpflichtung? Die Verpflichtung erfolgte schriftlich, wobei der Kandidat nach Kenntnisnahme des Wortlautes der Verpflichtung sich sofort mit dieser voll inhaltlich einverstanden erklärte und keinerlei Fragen dazu stellte. Er fertigte die Verpflichtungserklärung danach handschriftlich an. Wie ist der Kandidat auf die Einhaltung der Schweigeverpflichtung hingewiesen worden? Dem Kandidaten wurde die Notwendigkeit der Schweigepflicht und Geheimhaltung erneut begründet und erläutert. Auch diesbezüglich war der Kandidat von der Notwendigkeit derartiger Maßnahmen überzeugt und verpflichtete sich, diese unbedingt zu wahren. Welcher Deckname wurde vereinbart und wurde er vom Kandidaten selbst gewählt? Als Deckname wurde der vom Kandidaten selbstgewählte Rufname „. . ." vereinbart. Was wurde über die Aufrechterhaltung der Verbindung vereinbart? Um die Verbindung sicher und konspirativ zu gewährleisten, werden ab sofort die Treffs in der neugeworbenen IMK „ . . . . " in . . . . durchgeführt. Telefonisch ist der IM außerdem unter . . . zu erreichen. Dem IM wurde die Rufnummer der KD mitgeteilt. Außerdem wurde für die Verbindung eine Losung erarbeitet. Einschätzung: Der Kandidat verhielt sich bei der Werbung sehr aufgeschlossen. In vielen der aufgeworfenen Fragen sieht er nichts anderes als seine Verpflichtung, als Genosse sowieso entsprechend zu handeln. Anhand der bisher von ihm gegebenen Einschätzungen und Informationen muß festgestellt werden, daß er dabei ehrlich, konkret und aussagekräftig berichtet und seine Worte damit unter Beweis stellte. Zu den bisher stattgefundenen Treffs erschien er stets pünktlich bzw. unterrichtete den Mitarbeiter von notwendigen Treffverschiebungen. Die Zuverlässigkeit des IM ist gegeben. Zum Zeitpunkt der Werbung bestanden beiderseits keine ungeklärten Probleme. 32

Vorläufige Sicherheitskonzeption für das Interhotel „. . . Bezirksverwaltung für , den Staatssicherheit . . . . Bestätigt Abteilung . . . . Leiter der Abteilung Oberst

Termine für Überarbeitung und Konkretisierung In der Suche, Auswahl und Gewinnung geeigneter IM sind die in Schlüsselpositionen tätigen Mitarbeiter des Interhotels „. . . ." aus politisch-operativer Notwendigkeit unbedingt einzubeziehen und in folgende Kategorien wirksam werden zu lassen: 1. Hoteldirektor - IMS vorhanden Diese IM müssen mit folgender globaler Einsatzrichtung wirksam werden: - der Legendierung, Durchsetzung und Verschleierung politisch-operativer Maßnahmen im Interesse des MfS; - der Kontrolle, Überwachung und Bearbeitung des operativ-interessanten Gästekreises; - der Aufrechterhaltung von Kontakten und Verbindungen zu ausgewählten Personen und Persönlichkeiten aus dem Operationsgebiet entsprechend den Bearbeitungsrichtlinien der Abteilungen II, VI und XV; - der Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit zur vorbeugenden Aufklärung und Beseitigung von Mängeln und Mißständen bei gleichzeitiger Einschränkung der Wirksamkeit der Feindtätigkeit; - der Durchsetzung eines hohen Niveaus in der politisch-ideologischen Arbeit im I H , zur Einschränkung der Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion und der Zurückdrängung der rechtswidrigen Antragsstellungen auf Ubersiedlung nach dem NSW; - der Aufrechterhaltung des ständigen Kontaktes zum zuständigen Mitarbeiter des MfS und der Sicherung des allgemeinen Informationsbedarfs des MfS. Auf dieser Grundlage sind bis zum 30.11 die spezifischen und konkreten Einsatzrichtungen durch den Öbjektsachbearbeiter zu erarbeiten.

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Wir haben allerdings auch lernen müssen, daß zu Personen in herausragenden Funktionen vielfach keinerlei Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes vorliegen, weil es in diesen Fällen einer aktenmäßigen Fixierung nicht bedurfte, Art und Umfang ihrer Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst sich vielmehr bereits aus ihrer Aufgabe und Funktion ergab, aus einer negativen Auskunft des Bundesbeauftragten also auch keine positiven Schlüsse gezogen werden konnten. Der Bürgerrechtler Professor Dr. Jens Reich hat geschrieben 33 : „Es waren nicht so sehr die Handlungen der Staatssicherheit wie ihr pures Vorhandensein, das den zivilen Widerstand lähmte und uns ins Schnekkenhaus trieb", daran aber die Frage angefügt: „Waren wir alle durch die Staatssicherheit gelähmt? Oder gab es die schweigende Mehrheit, die ihr Leben lebte, verdrossen zwar über die Einschränkungen und die Fesselung an die Scholle D D R , diesen Zustand aber hinnehmend wie ihre Vorfahren die Leibeigenschaft, die in ihrer kleinen Welt von Familie und Kirchspiel die Nische suchten, die das Leben erträglich machte?" Und Richard Schröder hat in der öffentlichen Diskussion über die angeblich stasigesteuerte Kirche in der D D R sich selbst gefragt, wie er denn heute die DDR-Wirklichkeit beschreiben sollte, und hat auf diese Frage angesichts der „Allgegenwart der Stasi" folgende Antwort jedenfalls für möglich gehalten 34 : „Wir haben auf einer Bühne gelebt und dachten, das sei unsere Wirklichkeit, Partei und Stasi inbegriffen. Jetzt zeigt sich: dahinter war noch eine Bühne, dort agierten die Regisseure unserer Wirklichkeit. Manche auf der Bühne unseres Lebens waren bloß Marionetten, die Stasi zog die Fäden. Manche? Vielleicht waren wir alle Marionetten. Aber nein, ich war doch keine Marionette. Wirklich nicht?" 2. Angesichts der alle Vorstellungen bei weitem übertreffenden Realität dieses Staatssicherheitsdienstes hatten wir schon bald nach Beginn unserer Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte dem Vorstand der Treuhandanstalt empfohlen, von sämtlichen Geschäftsführern, Vorstandsmitgliedern, Aufsichtsratsmitgliedern und Personalleitern aller Treuhandunternehmen unabhängig davon, ob sie aus dem Osten oder Westen Deutschlands kamen, eine Erklärung über eine etwaige Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst zu verlangen 35 . Den Wortlaut dieser

33 34

F A Z vom 11. Juli 1992, Bilder und Zeiten. F A Z vom 5. Mai 1992, S . 3 6 .

3 5 „Hiermit erkläre ich, daß ich weder in meiner gegenwärtigen noch in einer früheren Tätigkeit hauptamtlich oder als inoffizieller Mitarbeiter für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen D D R tätig gewesen bin. Ich bin mir darüber im klaren, daß meine Angaben überprüft werden können und falsche oder unvollständige Angaben personelle Konsequenzen nach sich ziehen werden."

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sogenannten „Stasi-Erklärung" hatten wir mit dem Bundesbeauftragten Gauck persönlich abgestimmt. Natürlich waren wir uns darüber im klaren, daß dabei auch falsche oder unvollständige Erklärungen abgegeben würden. Aber darauf konnte es nicht ankommen, da sich eine sofortige umfassende Überprüfung aller dieser Personen durch die Gauck-Behörde als unmöglich erwies und man außerdem davon ausgehen konnte, daß die Wahrheit früher oder später doch ans Licht kommen würde. Darin hat mich auch Richard Schröder nachdrücklich bestätigt. Entscheidend war allein, das überhaupt Mögliche zu tun, da Stasi-Mitarbeiter jedenfalls in der ersten und zweiten Führungsebene keinesfalls hingenommen werden konnten. Der Vorstand der Treuhandanstalt hat unserer Empfehlung am 8.Januar 1991 nach mehrfacher Beratung entsprochen und sie am 21. Februar 1991 endgültig umgesetzt. Diese sogenannte „Stasi-Erklärung" hat sich in der Folgezeit immer wieder als hilfreich und in einer ganzen Anzahl von Fällen als Grundlage sofortiger personeller Konsequenzen erwiesen, insbesondere in den Fällen, in denen ihre Abgabe verweigert wurde oder in denen sich diese Erklärungen als falsch oder unvollständig herausstellten. Die Wahrheit blieb und bleibt auch hier nicht verborgen. Tief betroffen machte allerdings doch, wie skrupellos in einigen Fällen selbst hochrangige Persönlichkeiten ihre Stasi-Vergangenheit schlichtweg leugneten und erst auf Grund einer Auskunft der Gauck-Behörde überführt werden konnten. In einem Fall stellte sich heraus, daß der Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens entgegen allen vorangegangenen Beteuerungen nicht nur eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, sondern während seiner Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst dort über 200 schriftliche Berichte über die persönliche Einschätzung und persönliche Daten bis hin zu intimen Angaben über Personen seines Umfeldes abgeliefert hatte. In einem anderen Fall hatte der Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, Betriebsratsvorsitzende und Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses einer bedeutenden Aktiengesellschaft, der die „Stasi-Erklärung" vorbehaltlos unterschrieben hatte, einen als Bürgerrechtler bekanntgewordenen Bundestagsabgeordneten dringend gebeten, sechs namentlich genannte Personen in leitenden Funktionen dieses Unternehmens wegen ihrer sie schwer belastenden politischen Vergangenheit überprüfen zu lassen, und es ergab sich, daß fünf von diesen sechs Personen gänzlich unbelastet waren, er selbst aber 14 Jahre lang als „ I M S " mit Deckname und Führungsoffizier eng mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet hatte. Selbst nach Vorlage seiner handschriftlichen Verpflichtungserklärung stritt er weiterhin alles ab, zögerte nicht einmal zu erklären, er könne nun verstehen, in welcher Lage sich Ministerpräsident Stolpe wegen der gegen ihn erhöbe-

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nen Stasi-Vorwürfe befinde, und hat mich nach stundenlangen und immer neuen Erklärungsversuchen und Ausflüchten dann plötzlich doch gebeten, meiner Sekretärin für ihn eine Erklärung über die sofortige Niederlegung aller seiner Ämter, verbunden mit dem Antrag auf Abschluß eines Vertrages zur Aufhebung seines Arbeitsverhältnisses „in gegenseitigem Einverständnis unter Verzicht auf alle gesetzlichen und vertraglichen Kündigungsschutzfristen" zu diktieren, die er dann auch sofort unterschrieb mit der Erklärung, sie dem Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens auszuhändigen. Zwei Tage später wollte er dann seine Unterschrift schon nicht mehr gelten lassen mit der Folge, daß ihm aus wichtigem Grund fristlos gekündigt wurde. In solchen Fällen ist über den Einzelfall hinaus Mißtrauen geschürt und Vertrauen zerstört worden mit der Folge einer schweren Belastung des Prozesses der politischen Erneuerung in diesem Teil Deutschlands. 3. Anfragen an die Gauck-Behörde mit der Bitte um Auskunft über eine etwaige Stasi-Vergangenheit haben wir allerdings grundsätzlich nur dann gerichtet, wenn konkrete Anhaltspunkte hierfür vorlagen und die politische Vergangenheit im übrigen nicht bereits personelle Konsequenzen nahelegte und für eine entsprechende Empfehlung an den Vorstand der Treuhandanstalt ausreichte. Wir wollten damit auch die beschränkten personellen Kapazitäten der Gauck-Behörde schonen und sicherstellen, daß wir in den Fällen, in denen es darauf ankam, auch möglichst umgehend die - positive oder negative - Auskunft erhielten. Grundlage dieser Zusammenarbeit war eine Vereinbarung, die wir gleich zu Beginn unserer Tätigkeit mit dem Bundesbeauftragten (damals noch Sonderbeauftragten) Gauck persönlich verabredet hatten und die sich in der Folgezeit immer hervorragend bewährte. Der spektakulärste Fall ergab sich, als ein durch seine politische Vergangenheit bereits schwer belastetes und dadurch jedenfalls objektiv kompromittiertes Vorstandsmitglied einer großen Aktiengesellschaft auf Grund einer Empfehlung der Vertrauensbevollmächtigten vom Aufsichtsrat des Unternehmens gemäß § 84 Abs. 3 A k t G mit sofortiger Wirkung von seinen Funktionen entbunden wurde und dann die Stirn hatte, beim Landgericht Berlin, Kammer für Handelssachen, auf Wiedereinsetzung als Vorstandsmitglied zu klagen. Seine politische Vergangenheit sei bei seiner Bestätigung als Vorstandsmitglied durch den alten, damals noch allein aus dem Osten Deutschlands besetzten Aufsichtsrat ja bekannt gewesen, so daß ein wichtiger Grund zu seiner sofortigen Abberufung im Sinne des § 8 4 Abs. 3 A k t G nicht vorliege. Hier also versuchte einer, der früher nachweisbar, wenn auch unterhalb der

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Schwelle des Strafrechts, das Recht mit Füßen getreten hatte, sich nunmehr der Vorzüge des Rechtsstaats zu bedienen, und darauf hatte er ja jetzt in der Tat einen Anspruch. D a das Gericht der politischen Vergangenheit dieses Herrn offenbar keine entscheidende Bedeutung beizumessen bereit war und es allein auf die Rechtsfrage des Vorliegens eines wichtigen Grundes abstellen wollte, kam es geradezu prozeßentscheidend darauf an, ob er zusätzlich zu seiner Belastung durch seine allgemeine politische Vergangenheit auch noch mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet und insofern eine falsche „Stasi-Erklärung" abgegeben hatte. Hier war die Frist für die Auskunft der Gauck-Behörde durch den bereits angesetzten Termin zur mündlichen Verhandlung äußerst knapp bemessen, und trotzdem erhielten wir noch am Vorabend des Gerichtstermins die schriftliche Auskunft, daß er auf Grund einer ausführlichen Verpflichtungserklärung Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes (IMS) mit Führungsoffizier und Decknamen gewesen war. In der Gerichtsverhandlung am folgenden Tage wurde er gefragt, ob er mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet habe, und, als er dies kategorisch verneinte, ihm unter Vorlage seiner Verpflichtungserklärung die weitere Frage gestellt, ob es sich dabei um seine Unterschrift handele. Diese Frage konnte er nur noch bejahen, und dies wenigstens blieb nun auch auf das Gericht nicht ohne Eindruck. So können wir den Damen und Herren der Gauck-Behörde, die speziell für uns als Vertrauensbevollmächtigte tätig waren, nur ausdrücklich für die ausgezeichnete Zusammenarbeit danken. Sie haben uns unsere Arbeit entscheidend erleichtert und dabei im einzelnen Fall auch unkonventionelle Anstrengungen nicht gescheut. 4. Mit Unbehagen und Sorge haben wir allerdings zur Kenntnis nehmen müssen, daß sich die öffentliche Diskussion zunehmend auf die Stasi-Problematik konzentrierte, die doch nur die Spitze des Eisbergs des Unrechtssystems als solchen darstellte, und damit auch unsere Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte ganz unangemessen einzugrenzen drohte. Denn angesichts dieser Entwicklung schien das ganze übrige Unrechtssystem der S E D , in dem sich Borniertheit, Indoktrination, Einschüchterung, Willkür, Zersetzung und Unterdrückung flächendekkend breit machten, mit all seinen Facetten weit über die „bloße" StasiVergangenheit hinaus in den Hintergrund zu geraten und allmählich verdrängt zu werden. Nicht oder jedenfalls nicht allein die Machenschaften des Staatssicherheitsdienstes, sondern das System als solches und seine Ausprägungen und Verästelungen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, ein System „zwischen Versuchung und Verlockung auf der einen Seite und Druck und Erpressung auf der

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anderen" 36 , ein „zerstörerisches Geflecht von Lüge und Vertrauensbruch" 3 7 machen das aus, was als politische Vergangenheit auf diesem Teil Deutschlands lastete und auch die Machenschaften des Staatssicherheitsdienstes überhaupt erst ermöglichte. Und es spricht für sich, daß sich der Staatssicherheitsdienst selbst als „Schild und Schwert der Partei" bezeichnete. Die allgegenwärtige Präsenz von Partei und Staat hat überall ihre Spuren hinterlassen und ist in einem Maße so zur Alltagsroutine geworden, daß sie in ihren einzelnen Erscheinungsformen den Menschen oft kaum mehr bewußt wurde. Man muß sich deshalb, auch wenn die öffentliche Diskussion in eine andere Richtung zu geraten droht, darüber klar sein, daß dieses Unrechtssystem eben nicht nur im Einsatz seines Staatssicherheitsdienstes bestand, sondern mit seinen totalitären Willkürund Unterdrückungsmaßnahmen, seinen Schikanen, seinem Terror und allen wie immer gearteten repressiven Wirkungsmechanismen bis hin zu Mauerbau und Schießbefehl das gesamte öffentliche und weithin auch das private Leben in diesem Teil Deutschlands beherrschte und insoweit die Stasi-Aktivitäten nur einen und mit Sicherheit nicht einmal den entscheidenden Aspekt dieses Systems darstellten 38 . Dies sollte auch in der öffentlichen Diskussion nicht in Vergessenheit geraten. Wolf Biermann hat diesen Sachverhalt auf Grund seiner eigenen Erfahrung und nach Einsicht in die über ihn geführten Stasi-Akten in der ihm eigenen Art mit folgenden Worten beschrieben 39 : „Über der Stasi stand immer und unangefochten die Partei. Ich finde, diese Tatsache muß ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden, damit der ganze schöne Streit nicht zur Maulschlacht über ein paar schwache Menschen v e r k o m m t . . . Die Stasi war ein treuer Dienstleistungsbetrieb der Macht. Das Selbstbild der Stasi, die sich als ,Schwert und Schild der Partei' sah, war korrekt. Einzig und allein die Funktionäre der Partei bestimmten, wen das Schwert trifft . . . Nicht die bewaffneten Organe (Armee, Polizei, Geheimpolizei) herrschten, sondern die Partei. Und da die Partei vom Parteiapparat beherrscht wurde und dieser wiederum in hierarchischen Abstufungen vom Politbüro, ergibt sich klar, wer die Macht und damit also auch die Verantwortung für irgendwelche politischen Verbrechen hatte."

Rainer Eppelmann, Der Spiegel, Nr. 10/1992, S.32. Steffen Heitmann, aaO (Fn. 16, 28). 38 So auch der Justizminister des Landes Brandenburg, Dr. Hans Otto Bräutigam, Handelsblatt vom 4. März 1992, S.3; Professor Dr. Jens Reich, FAZ vom 11.Juli 1992, „Waren wir alle gelähmt?", Bilder und Zeiten. Joachim Gauck aaO (Fn. 9) weist zu Recht darauf hin: „Wir waren kein Volk von Spitzeln, und die wohlwollende Entschuldigung ist genauso wenig angebracht wie die diffamierende Verurteilung." 39 Der Spiegel, Nr. 10/1992, S.40 (41, 51). 36

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Rainer Eppelmann hat in der Debatte des Deutschen Bundestages über die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung und Folgen der Geschichte der SED-Diktatur" am 12. März 199240 gesagt: „Wir würden bei dieser Aufarbeitung versagen, wenn wir uns bei der Beschäftigung mit 45 Jahren deutscher Geschichte - schwergewichtig der DDR-Geschichte - nur auf den Bereich der Staatssicherheit beschränken würden. Die Erfahrungen, die wir in und mit 45 Jahren DDR gemacht haben, hat unser ganzes Leben und alle Menschen umfaßt und nicht nur die vielleicht 500 000 offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit und ihre unmittelbaren Opfer." Und Bundesministerin Dr. Angela Merkel hat in derselben Debatte hinzugefügt 41 : „In der gegenwärtigen Diskussion über die Vergangenheit spielt der Staatssicherheitsdienst eine wichtige Rolle. Aber dabei droht mir allzu leicht die Tatsache in den Hintergrund zu rücken, daß der Staatssicherheitsdienst ein Instrument des SED-Staats war. Die SED als Einheitspartei war die alles dominierende und strukturierende Kraft. Vorbild war Lenins Partei ,neuen Typs'. Und jeder, der die Grundlagen der Partei zur Kenntnis nahm, mußte sehen, daß es hier um einen unteilbaren Wahrheits- und Machtanspruch für eine Elite von Genossen ging. Sie dachten und handelten nach dem alten bolschewistischen Grundsatz: Uns ist alles erlaubt, denn unsere Humanität ist absolut. Unter diesem Leitsatz ging die SED daran, die Diktatur des Proletariats in der DDR zu errichten. Klassenkampf war die Parole. Das hieß Abschottung gegen den imperialistischen Klassenfeind'. Das hieß Klassenjustiz in der Rechtsprechung, Parteilichkeit in Wissenschaft und Kunst, Enteignung des Privateigentums, Zensur in Presse und Literatur. Und das hieß Erziehung zur ,allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit' von der Kinderkrippe bis zur Universität." Wir haben immer wieder versucht, bei allen sich bietenden Gelegenheiten und vor allem in den zahlreichen Gesprächen mit Vertretern der Medien, die im allgemeinen objektiv und sachlich über unsere Aufgabe und Tätigkeit berichtet haben42, auf diese Dimension hinzuweisen und A a O (Fn.4) S . 6 7 1 2 A . A a O (Fn.4) S . 6 7 5 1 C . 42 Vgl. nur beispielsweise Welt am Sonntag vom 28. Oktober 1990, Die Welt vom 14.November 1990, S.4, 2 0 . N o v e m b e r 1990 und 1 4 . M ä r z 1991, S. 11, Sächsische Zeitung vom 15. November 1990 und 22. März 1991, Berliner Zeitung vom 19. November 1990, Frankfurter Rundschau vom 19. November 1990, S. 11, Kölner Stadtanzeiger vom 19. November 1990, Stuttgarter Zeitung vom 19. November 1990, Handelsblatt vom 2 0 . N o v e m b e r 1990, S.4, und 3 0 . N o v e m b e r 1990, S. 7, Tagesspiegel vom 2 0 . N o v e m b e r 1990, S. 11, General-Anzeiger Bonn vom 20. November 1990, Süddeutsche Zeitung vom 20. November 1990, S. 34, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. November 1990, S. 15, 29. Mai 1991, S.3, und vom 17. Juni 1991, S. 8, Der Morgen vom 5. Dezember 1990, S.2, 40 41

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die durch die aktuelle öffentliche Diskussion völlig verschobenen Maßstäbe zurechtzurücken, da die ganz überwiegende Zahl der uns erreichenden Hinweise die Stasi-Problematik nicht oder nur beiläufig betraf. Bei unserer von unserer Aufgabe und unserem Auftrag her doch sehr beschränkten Offentlichkeitswirkung waren uns dabei aber von vornherein und von der Natur der Sache her Grenzen gesetzt, die eine nennenswerte Beeinflussung der öffentlichen Diskussion praktisch nicht ermöglichten.

5 . Es konnte und kann aber auch nicht angehen, aus jeder Stasi-Tätigkeit personelle Konsequenzen zu ziehen. Allgemeines Einvernehmen bestand darüber, daß Leute, die mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet haben, jedenfalls in der ersten und zweiten Ebene der Treuhandunternehmen schlechterdings untragbar waren. Sie mußten insbesondere von allen Funktionen ausgeschlossen werden, in denen sie Entscheidungen über Menschen hätten treffen können. Aber ebenso, wie für uns als Vertrauensbevollmächtigte die bloße SED-Mitgliedschaft für sich allein kein Kriterium für personelle Konsequenzen sein konnte, konnte es auch nicht in Betracht kommen, Hunderttausende von Menschen, die irgendwie in den Staatssicherheitsdienst verstrickt waren, von vornherein auszugrenzen oder gar ausnahmslos arbeitslos zu machen. Auch sie mußten und müssen irgendwie in die neue Ordnung integriert werden, auch ihnen muß jedenfalls die Chance gegeben werden, sich ehrlich und auf Grund gewandelter Uberzeugung zur neuen Freiheit und zum freiheitlichen Rechtsstaat zu bekennen. Anderenfalls würde man konspirativen Zusammenschlüssen bis hin zu kriminellen oder sogar terroristischen Vereinigungen geradezu Vorschub leisten. Das notwendige Knowhow und vielleicht sogar die notwendige materielle Ausstattung wären in diesen Kreisen jedenfalls vorhanden. Darüber waren wir uns auch mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz und seinem Präsidenten Werthebach völlig einig. Deshalb haben wir uns in einem konkreten Fall, der hier nur als Beispiel dienen soll, massiv dafür eingesetzt, daß eine im Bereich des Personalvorstands der Treuhandanstalt von sich aus getroffene MaßSuper-Illu vom 13. Dezember 1990, S. 6, 8, Berliner Morgenpost vom 16. Dezember 1990, S. 14, Der Spiegel Nr. 51/1990, S. 102 und Nr. 9/1991, S. 140, Junge Welt vom 28. Januar 1991, Ost-West-Magazin Marktwirtschaft Nr. 2/91, S. 56, Neue Zeit vom 14. März 1991, S. 4, und 25. Juli 1991, S. 3, Capital Nr. 7/91, S. 163, Wirtschaftswoche Nr. 9 vom 21. Februar 1992, S. 12, Magdeburger Volksstimme vom 22. Februar 1992, S. 3. Nur dem ManagerMagazin Nr. 3/92 („Sket - In der Zwickmühle") blieb es vorbehalten, uns politische Abhängigkeit von „Bonn" zu unterstellen und damit den allerdings untauglichen Versuch zu machen, unsere Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen.

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nähme umgehend wieder zurückgenommen wurde. Es ging um den Komplex Massow an der Autobahn Berlin-Dresden, einen ehemaligen Standort des Berliner Wachregiments „Feliks Dzierzynski", das nicht zur N V A , der Nationalen Volksarmee, gehörte, sondern eine Spezialeinheit des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit war. Dieser Standort mit einer Ausdehnung von insgesamt 47 km 2 sollte nun unter Federführung der Deutsche Interhotel A G , d.h. eines Treuhandunternehmens, zu einer Autobahn-Raststätte mit Freizeiteinrichtungen, Golfplätzen usw. ausgestaltet werden. Zur noch vorhandenen Belegschaft von 120 Personen gehörten auch 39 ehemalige Angehörige des Wachregiments und damit also Angehörige des Staatssicherheitsdienstes, darunter auch ein Oberstleutnant und ein Major und Bataillonskommandeur. Ihnen allen sollte nach Auffassung des zuständigen Vorstandsbereichs der Treuhandanstalt wegen ihrer Stasi-Zugehörigkeit gekündigt werden, und der Vorstand der Deutsche Interhotel A G hatte sich an uns gewandt mit der Frage, ob wir diese Massenkündigung für gerechtfertigt und unverzichtbar hielten. Ich habe daraufhin mit den beiden ehemaligen Offizieren ein ausführliches Gespräch geführt und anschließend auf einer außerordentlichen Belegschaftsversammlung in Massow über die Stasi-Vergangenheit eines Teils der Mitarbeiter gesprochen. Es stellte sich heraus, daß der Oberstleutnant im Heizwerk des Komplexes und der Major und Bataillonskommandeur als Tankwart in der Tankstelle tätig waren. Auf meinen Hinweis, daß der Major die Tankstelle doch wohl leite, wurde mir erwidert, daß er tatsächlich nur Tankwart sei. Von den übrigen Belegschaftsangehörigen, die nichts mit dem Staatssicherheitsdienst zu tun gehabt hatten, wurden keinerlei Einwendungen oder Vorbehalte erhoben. Erschütternd war allerdings, daß einige junge weibliche Angestellte aus dem Restaurationsbetrieb der Raststätte erregt Klage darüber führten, daß sie, die sie dem Wachregiment gar nicht angehört hatten, von westlichen Autofahrern schon wiederholt als „Stasi-Nutten" beschimpft worden seien - ein bedrückendes Zeichen dafür, wohin die auf die schiefe Bahn geratene öffentliche Stasi-Diskussion führen konnte. Wir haben dem Vorstand der Treuhandanstalt nach Abstimmung mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz empfohlen, von den beabsichtigten Kündigungen ausnahmslos abzusehen, und der Vorstand der Treuhandanstalt ist unserer Empfehlung gefolgt - ein doch nachdenklich machendes Einzelbeispiel dafür, wie facettenreich die Probleme der politischen Vergangenheit im Osten Deutschlands sind und daß es auch in der Stasi-Problematik nicht nur Schwarz und Weiß gibt.

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VIII. Vorläufiges Fazit 1. Als wir am 6. November 1990, kaum mehr als einen Monat nach der Wiedervereinigung Deutschlands, mit unserer Arbeit als Vertrauensbevollmächtigte beim Vorstand der Treuhandanstalt in einem vorläufigen Büro am Alexanderplatz in Berlin begannen, war dieser Anfang durchaus von Skepsis geprägt. Niemand wußte genau, was uns mit unserer Aufgabe und unserem Auftrag bevorstand, niemand hatte irgendwelche einschlägigen Erfahrungen, niemand wußte, ob die Menschen in diesem Teil Deutschlands wirklich Vertrauen gewinnen und sich an uns wenden würden, und ich erinnere mich noch genau, wie zurückhaltend sich auch mein damaliger Staatssekretär Dr. Kinkel am 25. Oktober 1990 auf der Fahrt ins Bundeskanzleramt dahin äußerte, daß er sich noch nicht vorstellen könne, wie wir unsere Aufgabe erfüllen sollten; aber es sei nun einmal eine Entscheidung des Bundeskanzlers. 2. Inzwischen sind wir überzeugt davon, daß die Initiative des Bundeskanzlers richtig war. Dies zeigt allein die überraschend große Zahl der Eingaben an die Vertrauensbevollmächtigten. Hinzu kommen die zahllosen Gespräche, die wir während der gesamten Zeit unserer Tätigkeit mit Menschen aus diesem Teil Deutschlands in den unterschiedlichsten Situationen geführt haben. Allein dem Vorhandensein der Vertrauensbevollmächtigten als Ansprechpartner, die zuzuhören bereit waren, und der Tatsache, daß man sich an sie mit Problemen der politischen Vergangenheit jederzeit wenden konnte, ohne befürchten zu müssen, dadurch Nachteile zu erleiden, komme, wie mir gerade von den Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen, des Landes Brandenburg und des Landes Sachsen-Anhalt, Professor Dr. Kurt Biedenkopf, Dr. Manfred Stolpe und Professor Dr. Werner Münch, in persönlichen Gesprächen nachdrücklich versichert worden ist, eine Ventilwirkung zu, deren Bedeutung für die innere Stabilität in diesem Teil Deutschlands und damit auch für die innere Wiedervereinigung Deutschlands gar nicht hoch genug eingeschätzt werden könne. Die Einsetzung der Vertrauensbevollmächtigten habe, eben weil sie konkret auf personelle Konsequenzen aus der politischen Vergangenheit alter Funktionäre hinwirkten, keine Alibi- oder Feigenblatt-Funktion, sondern eine weithin sichtbare Signalwirkung dahin, daß das Problem als solches erkannt sei und sich doch jedenfalls hier und da und dort etwas ändere. 3. Wir haben erschütternde Erfahrungen über die Realität des Unrechtssystems der S E D machen müssen, wenn sich die Menschen an uns wandten, die nicht verstehen und nicht ertragen konnten, daß sich immer noch nicht mehr geändert habe. Wir haben lernen müssen, daß immer noch Angst bestand und weit verbreitet war, vor allem natürlich

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um den Arbeitsplatz, weil man sich immer noch ausgeliefert fühlte an diejenigen, denen man bereits in dem doch überwunden geglaubten Unrechtssystem ausgeliefert war. Es war immer wieder tief bedrückend, was uns die Menschen aus ihrer unmittelbaren Erfahrung mit 40 Jahren Parteidiktatur und sozialistischer Kommandowirtschaft zu berichten wußten. 4. Aber es war auch eine große und faszinierende Herausforderung, in diese Aufgabe unmittelbar nach der Wiedervereinigung Deutschlands gerufen zu sein. Wir hatten in unserem beruflichen Leben nach Krieg und Gefangenschaft zunächst die Chance gehabt, am Aufbau eines freiheitlichen Rechtsstaats in Deutschland mitwirken zu dürfen. Wir waren dann gefordert, unseren Beitrag zur Einigung Europas zu leisten, und hatten zuletzt noch das von niemandem erwartete Glück, den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands mit vorzubereiten. Und nun hatten wir nach Abschluß unseres beruflichen Lebens ganz überraschend und plötzlich die einzigartige Aufgabe, den Menschen zu helfen, die 40 Jahre lang auf der Schattenseite der deutschen Teilung von all diesen Chancen und Herausforderungen durch ein menschenverachtendes Unrechtssystem ausgeschlossen gewesen waren. 5. Mit dem Begriff der „objektiven Kompromittierung" glauben wir einen Maßstab gefunden zu haben, der dem Versuch einer Aufarbeitung der politischen Vergangenheit im Osten Deutschlands, soweit sich diese aus dem Auftrag der Vertrauensbevollmächtigten ergab, am ehesten gerecht werden konnte, gerade weil es bei seiner Handhabung in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle eben nicht um Vorwürfe persönlich schuldhaften Verhaltens oder auch nur um eine moralische Qualifizierung ging. Natürlich kam es auch bei „objektiver Kompromittierung" auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls an, Pauschalregelungen konnte es, selbst wenn es um eine behauptete Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst ging, schon aus rechtsstaatlichen Gründen nicht geben 43 . Aber der Begriff der „objektiven Kompromittierung" schien uns, sofern es sich nicht um Fälle individuell vorwerfbaren Verhaltens oder um eindeutiges menschliches Versagen handelte, besser als andere Maßstäbe geeignet, den Erwartungen und Hoffnungen der Menschen in diesem Teil Deutschlands nach 40 Jahren Parteidiktatur und Kommandowirtschaft gerecht zu werden, und trotzdem darauf ausgerichtet, niemandem Unrecht zu tun. Vielleicht haben wir damit als Bevollmächtigte des freiheitlichen Rechtsstaats ein wenig dazu beitragen können,

43 Stephan Speicher spricht in der FAZ vom 2. Juni 1992, S. 35, von der „mühsamglanzlosen Einzelfallprüfung nach rechtsstaatlichen Kriterien, die eine (immer angreifbare) Definition nicht belasteter Eliten voraussetzt".

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daß etwas von der Gerechtigkeit sichtbar wurde, nach der sich die Menschen als einziger Alternative zu 40 Jahren Unrechtssystem so erwartungsvoll gesehnt haben und die eben auch mit den Mitteln des freiheitlichen Rechtsstaates erreicht werden kann, so unwahrscheinlich dies gelegentlich erscheinen mag. Und wir sind dankbar dafür, daß wir mit unserer Beurteilung gerade auch in der Politik im Osten Deutschlands und bei führenden Persönlichkeiten aus den neuen Bundesländern, die das Unrechtssystem der SED aus eigenem Erleben beurteilen konnten, so viel Verständnis, Unterstützung und Ermutigung erfahren haben. 6. Wir wußten von Anfang an und mußten uns immer wieder darüber im klaren sein, daß wir das Problem nicht als Ganzes lösen konnten, daß es sich immer nur um einen Versuch, eine Gratwanderung handeln konnte, die nicht flächendeckend, sondern nur hier und da und dort Abhilfe und Hilfe ermöglichte und damit vielleicht wenigstens Zeichen setzte. Aber wir haben lernen dürfen, daß Hilfe auch nur hier und da und dort schon viel bedeutet, wenn man täglich erfährt und erlebt, welche Riesenbürde an politischer Vergangenheit auf diesem Teil Deutschlands noch lastet. 7. Abschließend möchte ich nur noch danken: Zunächst natürlich den Präsidenten der Treuhandanstalt, dem einem so entsetzlichen Mordanschlag zum Opfer gefallenen Dr. Detlev Karsten Rohwedder und seiner Nachfolgerin, Frau Birgit Breuel. Sie haben unsere Aufgabe als Vertrauensbevollmächtigte und unsere darin begründete Unabhängigkeit immer respektiert und unsere Arbeit aus ihrer Verantwortung heraus voll mitgetragen. Ich kann nur mit der allergrößten Hochachtung danken dafür, daß ich aus der Nähe miterleben durfte, wie sie die ihnen übertragene Jahrhundertaufgabe, für die es in der ganzen Welt kein Vorbild gab, wahrgenommen und bewältigt haben. Das gleiche gilt für den Präsidenten des Verwaltungsrates der Treuhandanstalt, den Vorstandsvorsitzenden der Kaufhof Holding AG, Dr. Jens Odewald. Er hat von Beginn unserer Tätigkeit an nicht nur waches Interesse für unsere besondere Aufgabe bewiesen, sondern mit eigenen Initiativen unseren Auftrag nachhaltig unterstützt und gefördert. Wir sind ihm dafür aufrichtigen Dank schuldig. Ganz besonders dankbar bin ich auch dem Personalvorstand der Treuhandanstalt, Dr. Alexander Koch, dem wir als Vertrauensbevollmächtigte unter ausdrücklicher Wahrung unserer Unabhängigkeit organisatorisch zugeordnet waren. Er hat sich vom ersten Tage unserer Tätigkeit als Vertrauensbevollmächtigte an voll mit unserer Aufgabe identifiziert und ist uns auch in schwierigen Situationen immer eine wirksame Hilfe, fast wie ein väterlicher Freund gewesen. Ich werde seine stets kooperative und konstruktive Mitwirkung immer in dankbarer

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Erinnerung behalten. In gleicher Weise gilt dieser Dank auch seinem Nachfolger Dr. Horst Föhr, den ich schon von früher her kannte und mit dem wir in ungebrochener Kontinuität zusammengearbeitet haben, auch wenn ihm dies im Vorstand der Treuhandanstalt nicht immer nur ungeteilten Beifall eingebracht haben sollte. Dank gebührt aber auch unserem Ansprechpartner im Bundeskanzleramt, Ministerialdirektor Dr. Johannes Ludewig. Er hat uns als Vertrauensbevollmächtigte von Anfang an immer als eine Institution empfunden, deren Lebensdauer er am liebsten ad infinitum verlängert hätte. Er war jederzeit für uns da und hat entscheidend dazu beigetragen, daß wir unsere Aufgabe so erfüllen konnten, wie nicht zuletzt er es sich zur Umsetzung der Initiative des Bundeskanzlers von Anfang an gedacht hatte. Danken möchte ich aber schließlich vor allem meinem Kollegen Dr. Erich Bülow, der ja schon im Bundesministerium der Justiz mein Kollege war und mit dem ich schon dort über viele Jahre manche Aufgaben gemeinsam zu bewältigen hatte, und allen anderen Vertrauensbevollmächtigten für die stets gute Zusammenarbeit, unseren Sekretärinnen Christine Liebsch und Gisela Blumentritt, beide aus dem Osten Deutschlands, ohne deren unermüdliche Hilfe wir schlechterdings unsere Arbeit nicht hätten leisten und unsere Aufgabe nicht hätten erfüllen können, unserem Büroleiter Bernd Bockmair-Freundlieb, der mir schon in der Abteilung Handels- und Wirtschaftsrecht des Bundesministeriums der Justiz ein treuer Helfer war und aus seiner zweijährigen Tätigkeit bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der D D R unmittelbar einschlägige Erfahrungen einbringen konnte, unseren Mitarbeitern Elfgard Künstler und Karl Sippmann, beide aus dem Osten Deutschlands, die mit vorbildlicher Einsatzbereitschaft unsere Arbeit in jeder Phase auf das wirksamste unterstützt haben, er mit der schrecklichen Erfahrung langjähriger Haft in Zuchthäusern der D D R als politischer Gefangener, und auch Michael Zabel, Steffi Grecke und Elvira Walter von der Gauck-Behörde, die alles in ihren Kräften Stehende getan haben, um uns die im einzelnen Fall notwendigen Auskünfte aus der unsäglichen Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes so schnell und umfassend wie möglich zu erteilen. Vielleicht und hoffentlich haben wir alle über die gefallene Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands hinweg in der gemeinsamen Arbeit an einer gemeinsamen Aufgabe und in einer gemeinsamen Anstrengung trotz oder gerade wegen so diametral entgegengesetzter Lebenserfahrung in den 40 Jahren der deutschen Teilung ein wenig zur inneren Wiedervereinigung des gemeinsamen Vaterlandes beitragen können.

Über die Kriegsarbeit deutscher emigrierter Juristen in den USA während des zweiten Weltkrieges E R N S T C . STIEFEL u n d F R A N K M E C K L E N B U R G 1

„Politik als Wissenschaft muß sich damit begnügen, bedeutsame Probleme der Tagespolitik zu analysieren und ihren Kern herauszuarbeiten. Es bedarf der Politik als Kunst, sie zu lösen." 2

Der Exodus deutscher Juden und anderer Verfolgter aus Deutschland nach dem 30. Januar 1933 brachte eine Flut von Wissenschaftlern und Fachleuten aller Richtungen in die USA. 1948 verglichen Stephen Duggan und Betty Drury, Vorsitzender und Sekretärin des amerikanischen Emergency Committee in Aid of Diplaced Foreign Scholars, dies mit der Verlagerung abendländischer Wissenschaft am Ende des 15.Jahrhunderts von Byzanz nach Italien nach dem Einfall der Türken in Konstantinopel und dem damit einsetzenden Beginn der Renaissance. Die weltweite Dominanz amerikanischer Wissenschaft, Kultur und Industrie nach dem zweiten Weltkrieg wurde zu erheblichen Teilen gespeist aus kosmopolitischen Köpfen emigrierter europäischer Wissenschaftler und ihrer amerikanischen Adepten 3 . Darunter waren auch mehrere tausend Juristen, deren Bedeutung und Einfluß bislang weitgehend unsichtbar

1 Die Verfasser danken John Herz für seine interessierten und anregenden Kommentare beim Zustandekommen dieses Beitrages. 2 Emst Fraenkel, „Diktatur des Parlaments? Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Öffentliche Meinung und Schutz der Freiheitsrechte", Zeitschrift für Politik (1954): 130. 3 Stephen Duggan und Betty Drury, The Rescue of Science and Learning. The Story of the Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars. New Y o r k 1948, S. 1; siehe auch Anthony Heilhut, Exiled in Paradiese. German Refugee Artists and Intellectuals in America from the 1930's to the Present. New Y o r k 1983.

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Ernst C. Stiefel und Frank Mecklenburg

geblieben ist4. Ihre Rolle und Bedeutung bei der Beschaffung und Bereitstellung von Informationen für den Kriegseinsatz gegen die Achsenmächte soll hier näher beleuchtet werden. Zu finden waren Emigranten in vielen der während des Krieges operierenden US-Regierungsbehörden. Einigermaßen erschöpfend ist die Arbeit von Emigranten im Office of Strategie Services (OSS) untersucht worden5, über deren Rolle in der Foreign Economic Administration (FEA) ist nichts näheres bekannt. Am Beispiel der Mitarbeit von Emigranten, und insbesondere der Juristen unter ihnen, in OSS und FEA bei der Herstellung der Richtlinien und Spezialstudien zur Situation Deutschlands unter dem Nationalsozialismus und der deutschen Kriegswirtschaft, sowie der Planung für die Militärverwaltung Deutschlands nach der Befreiung, zeigt sich eine eigentümliche Dynamik. Aus einer Atmosphäre höchster Politisierung nach dem ersten Weltkrieg in die USA verschlagen, versuchten die Emigranten ihre zerstörten und unrealisierten Vorstellungen eines demokratischen Deutschlands zum Tragen zu bringen. Die US-Regierung ermöglichte ihnen diese Betätigung trotz ihres Feindstatutes (Enemy Alien) und sicherte sich damit das in den USA anders nicht verfügbare Spezialwissen. Hierbei spielte die politische Orientierung der Emigranten für die US-Regierung keine Rolle, nur deren Fachwissen war gefragt. So wurden linke Sozialisten wie Franz Leopold Neumann in sachlich entscheidenden Funktionen bei einer politisch konservativ orientierten Behörde wie dem OSS beschäftigtDie Rolle deutscher Emigranten in den amerikanischen Kriegsbehörden soll hier unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden, daß erstens die Kriegsarbeit der Emigranten nicht innerhalb einer einzelnen Kriegsbehörde, sondern nur im Zusammenwirken der verschiedenen USKriegsbehörden gesehen werden kann; daß zweitens die die emigrierten Juristen verbindenden politischen und sozialen Orientierungen ihre Grundlagen in verschiedenen „Rechtsschulen" der Weimarer Republik hatten, die alle implizit oder explizit politisch-soziologisch orientiert waren (vor allem zu nennen sind Hugo Sinzheimer, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy und Hans Kelsen); und daß drittens die Relevanz ihrer

4 Siehe Ernst C. Stiefel und Frank Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil 1933-1950. Tübingen 1991; demnächst auch der Sammelband mit den Beiträgen zum Symposium „Der Einfluß deutschsprachiger juristischer Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland", Bonn, 11.-14. September 1991. 5 Alfons Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst. 2 Bände. Frankfurt, 1982 und 1986; Barry M.Katz, Foreign Intelligence. Research and Analysis in the Office of Strategie Services 1942-1945. Cambridge/Mass., 1990.

Deutsche emigrierte Juristen in den U S A während des Krieges

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Arbeit für die amerikanischen Behörden nicht in der Zugehörigkeit zu einer politischen oder ideologischen Schule lag, sondern in ihren beruflichen Qualifikation als Juristen und Sozialwissenschaftler zu suchen ist. I. Z u m Stand der historischen Forschung Die Rolle der Emigranten in den Kriegsbehörden der U S A ist in der deutschen und amerikanischen Literatur unter Gesichtspunkten beleuchtet worden, die sich zusammenfassend als eine nicht befriedigende Vaterrolle der U S A bezeichnen lassen könnte. Dies gilt sowohl für die Planungsphase als auch für die aktuelle Durchführung der Eroberung und Besetzung Deutschlands. Schon sehr früh ist von den befreiten Deutschen der Vorwurf laut geworden, daß die amerikanischen Besatzer die Besetzten nicht verstünden und ihnen daher hatten auch nicht gerecht werden können. Dahinter steckt u. a. die Idee des Nichtverstandenwerdens der Deutschen, das Konzept vom dritten Weg in Europa, weder links noch rechts, weder den U S A noch der UdSSR zugehörig, eine Idee, die weder von den Nationalsozialisten erfunden worden war, noch mit ihnen verschwand. Von amerikanischer Seite ist der Intellektualismus der Planer kritisiert worden, die Ineffektivität der Akademiker im US-Nachrichtendienst bei der Bereitstellung der für die militärischen Kampagnen nötigen Daten 6 . „Nicht zu verstehen" war jedoch mit Sicherheit der falsche Vorwurf an die amerikanischen Besatzer, denn unter ihnen befanden sich eine Anzahl von Emigranten, die die amerikanische Kriegsmaschine mit Informationen versorgt hatte, die ohne sie hätten weder verfügbar noch nutzbar gemacht werden können. Vermutlich hatte es bis dahin keine Besatzungsarmee in der Geschichte gegeben, die so detailliert informiert war über die inneren Zusammenhänge eines Feindlandes. Und es hatte andererseits wahrscheinlich auch keine kriegsführende Macht gegeben, die dem Feind so großangelegt die Informanten geliefert hatte, wie dies Deutschland mit dem Exil der „Feinde des Reiches" in den USA getan hatte7. Die Frage ist daher falsch gestellt, wenn nach den nicht erfüllten 6 Beispielsweise bei dem ehemaligen OSS-Mitarbeiter und späteren stellvertretenden Direktor des C I A , Ray Cline, Secrets, Spies and Scholars. Blueprints of the Essential C I A . Washington, D C , 1976, S. 60 f; es wäre wert, einmal alle abschätzigen Bemerkungen über das O S S zusammenzutragen, die den in den U S A weitverbreiteten Anti-Intellektualismus sehr gut dokumentieren, „ O S S = O h so secret" lautete eine der gängigen Formeln. 7 Siehe z . B . die Kommentare zur Fertigstellung des Civil Affairs Guide ( C A G ) R & A , N r . 1655.5a, über die Entnazifizierung wichtiger Wirtschaftskonzerne in Deutschland. Als Grundlage diente die deutsche Publikation „Wer leitet", die aufgrund von Beiträgen verschiedener Wirtschaftsverbände, Reichsministerien und Dienststellen der N S D A P zusammengestellt worden war und die Namen von etwa 28000 deutschen leitenden

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Ernst C. Stiefel und Frank Mecklenburg

B e d ü r f n i s s e n d e r E r o b e r t e n g e f o r s c h t w i r d . V i e l m e h r gilt es z u p r ü f e n , w e l c h e I n f o r m a t i o n e n v e r f ü g b a r w a r e n , wie sie p r o d u z i e r t u n d verteilt wurden

u n d w e r sie g e n u t z t hat. D i e E n t n a z i f i z i e r u n g lieferte

exemplarische

Beispiel

für

dieses

Dilemma.

Einerseits

das

weitreichend

geplant an den Schreibtischen in W a s h i n g t o n , v o r b e r e i t e t m i t F a c h l e u ten, die s o w o h l m i t den d u r c h z u f ü h r e n d e n M a ß n a h m e n als a u c h m i t den zu verfolgenden P e r s o n e n v e r t r a u t w a r e n , andererseits gescheitert an d e r z u n ä c h s t beharrlichen W e i g e r u n g der D e u t s c h e n sich v o n den T ä t e r n in den eigenen R e i h e n zu befreien, w u r d e den a m e r i k a n i s c h e n B e s a t z u n g s b e h ö r d e n d e r U n w i l l e zu a u t o r i t ä r e m D u r c h g r e i f e n als S c h w ä c h e ausgelegt. D a s N a c h k r i e g s b i l d v o n der kindlichen N a t u r der A m e r i k a n e r ist nie wirklich beseitigt w o r d e n . I n der L i t e r a t u r z u m T h e m a ist der h e r a u s r a g e n d e A s p e k t in der Zugehörigkeit

der

an

der

Kriegsarbeit

der

Amerikaner

beteiligten

E x i l a n t e n z u r F r a n k f u r t e r Schule gesehen w o r d e n 8 . W e i t e r h i n sind E m i g r a n t e n als beschäftigungslose F l ü c h t l i n g e gesehen w o r d e n , die f r o h w a r e n , daß sie eine A n s t e l l u n g fanden 9 . E s ist in der a m e r i k a n i s c h e n L i t e r a t u r ebenfalls die V o r s t e l l u n g v o n der Ineffektivität der Intellektuellen b e t o n t w o r d e n 1 0 . W e n i g b e a c h t e t w o r d e n ist bisher dagegen, d a ß

Angestellten und Wirtschaftsführern beinhaltete. In den Kommentaren der der amerikanischen Foreign Economic Administration (FEA) angehörenden Bearbeiter von CAG Nr. 1655.5a wurde angemerkt, daß selbst bei flüchtiger Durchsicht von „Wer leitet" eine Reihe von Namen als fehlend auffielen, was den Wert des den USA verfügbaren Wissens und die Rolle der deutschen Fachleute, sprich Emigranten, unterstreicht. In der Einleitung von „Wer leitet" hatte es geheißen, daß wenn man wissen wolle, mit wem man am nächsten Tage am Verhandlungstisch sitze oder einen Vertrag unterschreiben würde, so komme man ohne „Wer leitet" nicht aus. Der FEA-Bearbeiter schrieb: "We may well add: Whoever wants to undertake the elimination of the business, industrial and banking leaders of Nazi Germany most certainly needs 'Wer leitet'." Mitte 1943 stellte deshalb auch das SpeerMinisterium die weitere Publikation von „Wer leitet" ein, nachdem mit Stalingrad und der alliierten Invasion Siziliens die Niederlage Deutschlands absehbar war. Anschließend hieß es in dem hier zitierten Memorandum, daß die Ausgabe von 1942 die letzte war, daß jedoch wenn die Ausgabe von 1940 nur in einigen Photostats für den internen Gebrauch in FEA vorgelegen hatte, so könne man mit den neuen Vervielfältigungsmethoden der Lithographie die Ausgabe von 1942 in jeder gewünschten Zahl herstellen. Siehe Memo Franz L.Neumann an Sherman Kent, 1.Februar 1945, bzw. Memo Max Mandellaub an Luden Hilmer, beide FEA, vom 30. Januar 1945, in: National Archives, Washington DC, RG 226, Entry 44, Box 3. 8 Siehe Söllner, aaO, Katz, aaO; bezeichnend der Titel eines Kapitels aus Katz's Buch, als Separatartikel 3 Jahre vor Erscheinen des Buches, "The Frankfurt School Goes to War", Journal of Modern History, Bd. 59, September 1987. 9 Rainer Erd, Reform und Resignation. Gespräche über Franz L. Neumann. Frankfurt, 1985. 10 Robin W. Winks, Cloak and Gown: Scholars in the Secret War, 1939-1961. New York, 1987.

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ein wichtiger Faktor in der Berufszugehörigkeit lag, am augenfälligsten bei den Juristen. Nicht die politische Orientierung, sondern das Fachwissen war ausschlaggebend für die Anstellung von ausländischen Experten bei den Kriegsagenturen, neugeschaffenen oder klassischen Abteilungen der US-Regierungsverwaltung, Office of Strategie Services (OSS), Foreign Economic Administration (FEA), Board of Economic Warfare (BEW), Office of Price Administration (OPA), Office of War Information (OWI) oder Department of Justice, Department of the Treasury, Army und Armed Forces insgesamt. Einer an sich konservativ orientierten Behörde wie dem OSS, geleitet von Wall Street Anwalt William Donovan, war das anderweitig nicht zu beschaffende Fachwissen der Emigranten von Belang, nicht deren Zugehörigkeit zur sozialistischen Bewegung. Die tatsächliche, genuine Leistung lag nicht so sehr im Durchsetzungsvermögen bestimmter Sichtweisen, als vielmehr in der Anwendung von Fachwissen, das in den USA anders nicht verfügbar gewesen wäre. Die zur Analyse der vorliegenden Texte und Informationen, nahezu ausschließlich aus den Archiven des OSS, herangezogene klassische Methodologie der Politikwissenschaft hat das ihrige zur Verwirrung beigetragen. So werden Textstellen, etwa aus Franz Neumanns „Behemoth", verglichen mit Passagen aus Berichten des OSS/R&A und daraus der Schluß auf Einfluß und Wirkung der Frankfurter Schule gezogen. Übersehen worden ist bisher, daß die im OSS/R & A arbeitenden und im Institute of Social Research unter Adorno und Horkheimer bis dato beschäftigten Mitarbeiter, außer Herbert Marcuse, sämtlich zu den Randfiguren im Institut für Sozialforschung zählten. Der innere Zirkel der Frankfurter Schule hatte sich nicht an der Kriegsarbeit beteiligt.

II. Der anti-etatistische Staat Eine der Hauptschwierigkeiten in der Beurteilung der Rolle der Emigranten als Experten in der amerikanischen Kriegsmaschinerie im Zweiten Weltkrieg liegt in der Fremdheit der US-Regierung während der Zeit des New Deal im Gegensatz zur klassischen Idee des Staates, wie sie in europäischen Politikvorstellungen und Praxis vorherrscht. Die Politik des „New Deal" hatte die Tendenzen einer dezentralisierten USWirtschaft in den Rang einer Doktrin erhoben, insbesondere nachdem die Versuche zur Lösung der großen Wirtschaftskrise der 30er Jahre mittels staatlicher Intervention im wesentlichen gescheitert waren. Die Wirtschaftskrise von 1937 setzte den Schlußstrich unter derartige Bemühungen, so daß zu Beginn des Krieges Roosevelt eine Politik mehrerer,

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jedoch relativ schwacher Machtzentren in der US-Regierung förderte 11 . Dies prägte auch weitgehend die inneramerikanische Kriegspolitik und Wirtschaftsplanung bis 1945. Die Schaffung einer Reihe von spezifischen Kriegsbehörden förderte eine Art von Erfindungsreichtum und „experimentellem Chaos", wie man ihn von staatlichen Institutionen insbesondere im Kriegsfall nicht erwarten würde. Hierzu gehörte auch die Beschäftigung von „enemy aliens" 12 , deutschen und anderen europäischen meist jüdischen Exilanten, die einerseits Reisebeschränkungen von nicht mehr als einigen Meilen von ihrem Wohnort unterworfen waren, andererseits zu Aufgaben wie der Ausbildung von zukünftigen Besatzungsoffizieren für das zu befreiende Deutschland herangezogen wurden 13 . Die von den Deutschen während des Ersten Weltkrieges gesammelten Erfahrungen in der Kriegswirtschaft, etwa Fragen der Rationierung, wurden im Office of Price Administration ( O P A ) für die Erstellung von Plänen für eine US-Kriegswirtschaft genutzt. Die Hauptteilnehmer im Wettstreit um die Durchsetzung einer Kriegs- und Nachkriegspolitik waren neben dem Präsidenten das Kriegsministerium (War Department), das Außenministerium (State Department), das Finanzministerium (Treasury) und das Oberkommando der US-Streitkräfte (SHAEF). Die wichtigsten selbständigen informationsbeschaffenden Behörden, neben den internen Nachrichten- und Geheimdiensten der einzelnen Behörden und Ministerien, waren die Foreign Economic Administration ( F E A ) und das Office of Strategie Services (OSS) 14 .

11 Die neueste Forschung zum Thema ist wiedergegeben bei Alan Brinkley, "The New Deal and the Idea of the State", in: Steve Fräser, Gary Gerstle, Hrsg., The Rise and the Fall of the New Deal Order, 1930-1980. Princeton 1989, S. 85-121. 12 Obwohl eine Unterscheidung zwischen „real enemy aliens", wie den Angehörigen des „German-American Bund", und „friendly enemy aliens", d. h. den Emigranten existierten, waren letztere dennoch weitgehenden Restriktionen unterworfen, da man erstens die Tätigkeit von Spionen nie ausschließen konnte, zum anderen die deutschstämmigen in den USA zahlenmäßig mit an der Spitze standen. 13 Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen. Zweite Hälfte 1927-1967. Stuttgart 1967, S.353. 14 "FEA had been created in September 1943, as a catch-all to contain the proliferation of war agencies concerned with international economic activities. Into it were put the Office of Economic Warfare and the Office of Foreign Relief and Rehabilitation Operations, the Office of Lend-Lease Administration, and the Office of Foreign Economic Coordination of the Department of State. In addition, the functions of two government agencies with respect to the precurement of food in foreign countries were transfered to the FEA. Through their concern with economic warfare, FEA personnel had to be familiar with the German economy. At the same time, their responsibilities of lend-lease, relief and rehabilitation, and for the procurement of food abroad, required them to anticipate (1) what economic burden the United States, as a matter of policy, would assume for defeated Germany, and (2) to what extent and in what way Germany would be a source of supply for other countries. Such questions as the comparative standard of living in Germany and

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Erstere war eine typische „New-Deal"-Schöpfung, die mit wesentlichen Teilen der Wirtschaftsplanung für Nachkriegsdeutschland beauftragt war und einer politischen und sozialen Reformierbarkeit Deutschlands sehr kritisch gegenüberstand, während das OSS unter Leitung des konservativen Wall Street Anwaltes und Helden des Ersten Weltkrieges, William (Wild Bill) Donovan, mit der Planung einer Nachkriegsverwaltung in Deutschland beschäftigt, eine „pragmatische" Linie verfolgte. III. Über die Wissensgrundlagen der emigrierten Juristen In den sozialpolitisch orientierten „Rechtsschulen" der Weimarer Republik, exemplarisch bei Hugo Sinzheimer und Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, finden wir eine Erweiterung des rechtlichen Denkens auf den Gebieten von Politik und Gesellschaft, die der hier betrachteten späteren Arbeitsweise in den USA entgegenkam 15 . So erfuhren deutsche Juristen in den USA eine Transformation ihrer Berufsrollen, indem sie in den Kontext der amerikanischen Sozialwissenschaften gestellt wurden. Ihr Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge, gekleidet in die Sprache des Rechts, ließ sich in die Sprache der Soziologen, Politikwissenschaftler, Ökonomen und Historiker übersetzen, wie sie zur Analyse der Verhältnisse in Nazi-Deutschland gebraucht wurden. Indiz dafür ist nicht zuletzt auch die Tatsache, daß eine größere Anzahl von ehemaligen Juristen in Berufe der ebengenannten Fachrichtungen gingen 16 . Für eine Analyse der zu etablierenden Verhältnisse nach der Befreiung war die Sichtweise und der Wissensschatz der Juristen von ungleich größerer Bedeutung als das bei anderen akademischen Disziplinen der Fall war. Dem kommt die Tatsache entgegen, daß die Zahl der Juristen weit größer war, als die der Soziologen, Ökonomen, etc., oder der Tatsache, daß es vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland keine Politikwissenin liberated areas after surrender were clearly within its proper range of interests, and other problems, by the liberal interpretation of its charter, might also be made its concern. Furthermore, it had resources in information and staff which, in the economic area, were more extensive than those of any other agency." Hammond, Paul W., "Directives for the Occupation of Germany: The Washington Controversy", in: American Civil-Military Decisions. Hrsg. Harold Stein, Alabama: 1963, S. 342. Uber das OSS gibt es eine Reihe von detaillierten Darstellungen, zur Bibliographie siehe Emst C. Stiefel / Frank Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933-1950). Tübingen, 1991, S. 148 ff. 15 Die Reihe der in der Weimarer Zeit wichtigen Theoretiker unter den Juristen auf allen Ebenen des politischen Spektrums ließe sich beliebig erweitern mit Namen wie Hermann Heller, Hans Kelsen, Arthur Nussbaum, Eugen Rosenstock-Huessy, usw., sowie andererseits dem widersprüchlichen Einfluß von Carl Schmidt etwa auf Otto Kirchheimer. 16 Siehe hierzu im einzelnen Stiefel/Mecklenburg, aaO, S. 70 ff.

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schaft gab. Auf theoretischer und auch angewandter Ebene entsprachen Juristen als Berufsstand und Fachdisziplin der Breite gesellschaftlicher Fragestellungen besser als anderen Wissenschaftsdisziplinen. Die Frage der Effektivität ist somit auch nicht, wie gut oder einmalig die eine oder andere Behörde war, sondern wie im Zusammenwirken und Gegeneinanderwirken jede der Behörden beitrug zu dem, was später oder zum Zeitpunkt im Kriegseinsatz verwandt wurde oder hätte verwendet werden können. Dabei muß nach den Ebenen der entworfenen Alternativen gefragt werden, durchgeführt oder nicht. Es ist uns in der Rückschau möglich zu beurteilen, welche der Entwürfe als Antwort auf bestimmte Gegebenheiten adäquat waren oder nicht. So konnte man bereits seinerzeit sehen, daß der „Morgenthau-Plan" nicht realistisch war in bezug auf die Nachkriegsentwicklung Deutschlands im Kontext eines europäischen Gesamtkonzeptes. Das dem Morgenthau-Plan zugemessene Gewicht in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Zukunft Deutschlands und Europas nach dem Krieg geriet durch den 1944 stattfindenden Wahlkampf um die Präsidentschaft in den USA in die Schlagzeilen 17 . Inwieweit waren die Vorstellungen der Emigranten als realistisch bezüglich einer deutschen und europäischen Gesamtplanung zu bewerten? Es scheint, daß z. B. Franz Neumanns Vorstellungen zu isoliert waren; der deutschen Situation historisch gerecht werden zu wollen, war im Rahmen der Planung der Westalliierten im wesentlichen irrelevant18. Der Bedarf an Informationen wuchs bis Ende 1945. In den Vorbereitungsarbeiten zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, sowohl im Rahmen der Arbeit der Ankläger als auch für die Richter, erhielten gerade die Juristen unter den Emigranten, neben einer Vielzahl von Ubersetzern und Dokumentenbearbeitern, noch einmal erhöhte Aufmerksamkeit. Franz Neumann, Otto Kirchheimer, John Herz, Henry Kellermann, etc. erlebten den abschließenden Akt ihrer Kriegsarbeit in der Beseitigung und Aburteilung des Faschismus, und für einige der

Siehe Hammond, aaO, S. 383. Siehe etwa die Auseinandersetzungen um die Abfassung der Civil Affairs Guides "German Labor Relations and Military Government", vom April 1944, worin Neumann versucht hatte, die Ideen des Betriebsrätegesetzes von 1920 in die Nachkriegsplanung einzubeziehen, was jedoch von allen anderen Beteiligten abgelehnt wurde, "all other agencies insisted that it would be politically as well as administrative a mistake to refer to this legislation except in the historical sense." Die an der Beratung teilnehmenden Behörden waren die Liberated Areas Division und die Division of Labor Relations des State Department, das OSS, die FEA und die Civil Affairs Division der Streitkräfte. Siehe Memorandum George Wheeler an Bowen Smith, beide FEA, vom 5. April 1944, in: National Archives, Washington D C , R G 226, Entry 44, Box 7. 17 18

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Emigranten, darunter Robert Kempner oder John Fried, wurde die Arbeit in Nürnberg bestimmend für ihre zukünftigen Tätigkeiten' 9 . Nicht vergessen werden soll ein wichtiger Zweig der Informationsbeschaffung, indem die Emigranten an der Herstellung verschiedener schwarzer, weißer und grauer Listen über Personen in Deutschland beteiligt, d. h. Namenskataloge von Personen, die zu verfolgen waren, als Verbündete galten oder verschiedenen Grade der Zuverlässigkeit für unterschiedliche Verwendungszwecke aufwiesen. Die hierbei verwandten Quellen waren einerseits die verfügbaren Telefon-, Adressen- oder Berufsregister, andererseits jedoch persönliche Kenntnisse. Das hervorragendste Beispiel ist zweifellos Robert M. W . Kempner, der als Syndikus im preußischen Innenministerium intimste Kenntnisse über Personal und innere Zusammenhänge hatte 20 . Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftler innerhalb der einzelnen Behörden und zwischen den verschiedenen Behörden stellte eine Neuerung in der Arbeitsweise von Sozialwissenschaftler dar, die bis dato nur von wenigen ausprobiert worden war, Lazarsfeld und Jehoda in der Marienthal-Studie, die später in Chicago arbeiteten oder Horkheimers Projekt über Autorität und Familie. Die Überlegenheit der amerikanischen Sozialwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg ist zum erheblichen Teil dieser Kriegsarbeit und dem Zufluß von akademischen Emigranten zuzuschreiben. Es war eine kleine aber einflußreiche Zahl deutscher „Rechtsschulen", die es hier zu berücksichtigen gilt. In Frankfurt am Main die Anwaltspraxis und der Lehrstuhl von Hugo Sinzheimer 21 und in Hamburg der Lehrstuhl und das Institut für auswärtige Politik von Albrecht Mendelssohn-Bartholdy. Zu nennen ist auch Hans Kelsen, der zuerst in Köln und später in Genf eine Reihe von in unserem Zusammenhang wichtigen Schülern hatte, wenn Kelsen selbst auch keine politisch orientierte Rechtslehre betrieb. Er war als Verfasser der österreichischen Verfassung nach dem ersten Weltkrieg jedoch deutlich dem politischen Liberalismus

" Dazu zählen auch William (Wilhelm) Dickmann, obwohl wir nicht viel an Details über seine weitere Arbeit wissen, Joachim von Elbe, Robert Eisenberg und eine Reihe anderer, siehe Stiefel/Mecklenburg, aaO. 20 Als Einführung in dieses nur unbefriedigend erforschte Kapitel siehe Hernie L. Wuermeling, Die weiße Liste. Umbruch der politischen Kultur in Deutschland 1945. Berlin-Frankfurt-Wien, 1981. 21 Sinzheimer emigrierte nach Holland, konnte jedoch nicht mehr nach Amerika gelangen und starb kurz nach der Befreiung im Sommer 1945 in Amsterdam. Uber die gescheiterten Versuche seiner Schüler und Freunde zur Rettung Sinzheimers siehe die Unterlagen in der Sammlung des American Council for Emigres in the Professions, State University of New York at Albany, University Libraries, Special Collections, German Intellectual Emigre Collection.

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zuzurechnen gewesen. Als Sammelbecken für kriegswichtiges Expertenwissen war das an der New Yorker New School for Social Research arbeitende New World Institute bedeutungsvoll, das eine Reihe von ehemaligen Mitgliedern der Berliner Hochschule für Politik und des Kieler Institutes für Weltwirtschaft beheimatete. Das New World Institute, und auch einzelne Mitarbeiter des Institutes als unabhängige Experten, erstellte eine größere Anzahl von Studien, meist Auftragsarbeiten für die US-Regierung 22 . Unter den Sinzheimer Schülern zählten neben dem nach England ausgewanderten Arbeitsrechtler Otto Kahn-Freund die späteren Politologen Ernst Fraenkel, Franz Neumann und Hans Morgenthau. Mehrere während der 40er Jahre erschienene Werke, darunter Ernst Fraenkels Studien über den Nazistaat 23 und die Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg 24 , sowie Neumanns Studie „Behemoth"25 waren wichtige Manifeste europäischen Fachwissens, die in ihrer Methodik und Argumentation nicht als Produkte der Frankfurter Schule anzusehen sind, sondern zu erheblichen Teilen dem Einfluß der sozialpolitisch orientierten juristischen Schulen in Deutschland entstammen. Dies gilt wohl auch für die 1943 erschienene Studie „The Fate of Small Business in Germany", eine Gemeinschaftsarbeit von Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Arkadius Gurland 26 . Eine der wichtigsten Informationsstellen für ausländische Nachrichten und Veröffentlichungen in den 20er Jahren in Deutschland war das von Max Warburg und Carl Melchior errichtete „Hamburger Institut für auswärtige Politik". Der Leiter des Institutes war Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (mit AMB abgekürzt), der Anfang der 20er Jahre von 22 Siehe Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den U S A und die New School for Social Research. Frankfurt am Main, 1987; Peter M. Rutkoff / William B. Scott, New School. A History of the New School for Social Research. New York und London, 1986; Stiefel/Mecklenburg, aaO, S. 176 ff. 23 Ernst Fraenkel, The Dual State. New York, 1941. Auf Deutsch zuerst erschienen Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Frankfurt am Main, 1974. Die Vorstudien dazu waren unter dem Titel „Das Dritte Reich als Doppelstaat" als dreiteilige Serie in der Zeitschrift Sozialistische Warte, 1937, erschienen. 24 Ernst Fraenkel, Military Occupation and the Rule of Law. Occupation Government in the Rhineland, 1918-1923. London und New York, 1944. Während die Besetzung Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg mit einer massiven Reform der rechtlichen und politischen Grundstrukturen einherging, war die französische Besetzung des Rheinlandes nach dem ersten Weltkrieg ohne Eingriffe der Besatzungsmacht in die politischen und rechtlichen Strukturen erfolgt, wie Fraenkel in seiner Studie gezeigt hatte. 25 Franz Leopold Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Frankfurt am Main, 1984. Erste amerikanische Auflage 1942, zweite amerikanische Auflage 1944. 26 Arkadius Gurland / Otto Kirchheimer / Franz Leopold Neumann, The Fate of Small Business in Nazi Germany. Washington, D C , 1943.

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Würzburg nach Hamburg kam 27 . Er war der Herausgeber des vom Auswärtigen Amtes veröffentlichten Werkes „Die große Politik der europäischen Kabinette, 1871-1914: Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes" 2 8 , an dem die Historiker Felix Gilbert und Eckart Kehr mitarbeiteten; ebenso war er einer der deutschen Mitarbeiter des von James Shotwell herausgegebenen und von der Carnegie-Stiftung finanzierten Werkes zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges in 150 Bänden. A M B war Mitglied der Stipendienkommission der Rockefeiler-Stiftung in Deutschland und in England und den U S A ebenso oder fast besser bekannt als in Deutschland, so behauptet jedenfalls sein Neffe Felix Gilbert 29 . Auf einer Tagungsreise in die U S A hatte er Charles Beard kennengelernt, und die Aktenpublikation zur deutschen Vorkriegspolitik errang in den U S A große Anerkennung. Unter A M B ' s Mitarbeitern in Hamburg waren Fritz MorsteinMarx, Alfred Vagts, Magdalene Schoch und George Hallgarten 30 . Unter A M B ' s Mitarbeitern ist besonders hervorzuheben Marie Magdalene Schoch, die im Rahmen der Kriegsarbeit der U S A Großes leistete. Schoch hatte 1920 in Würzburg bei A M B über englische Kriegsgesetzgebung promoviert 31 , und war ihm anschließend nach Hamburg gefolgt, wo sie bis zu ihrer Auswanderung 1937 weiterarbeitete. Schoch war nicht-jüdisch und emigrierte aus politischen Gründen 32 . John Herz, Politikwissenschaftler an der City University of N e w York und Mitarbeiter des OSS, war Hans Kelsens erster Doktorant in Köln gewesen. Herz folgte Kelsen nach Genf, wo er unter dem Namen Eduard Bristier eine Studie zur Völkerrechtslehre der Nazis anfertigte 33 . In den hier genannten „Rechtsschulen" der Weimarer Republik war die enge Verknüpfung von Recht, Sozialwissenschaften und Politik sehr

27 Zur Errichtung und Arbeit des Hamburger Institutes, siehe Alfred Vagts, „Albrecht Mendelssohn-Bartholdy. Ein Lebensbild", in: Mendelssohn-Studien, Band 3, 1979, S. 201 ff. AMB hatte bereits in Würzburg zu Problemen anglo-amerikanischen Rechts veröffentlicht, siehe Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, Der Kriegsbegriff des englischen Rechts; Erläuterungen zum Fall Panariellos. Mannheim 1915. 28 Die große Politik der europäischen Kabinette, 1871-1914: Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Berlin, 1922-1927. 40 vols. 29 Felix Gilbert, A European Past. Memoirs 1905-1945. New York und London 1988, S. 169. 30 Alfred Vagts, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy: A Memoir, in: Leo Baeck Institute Archives, New York, ME 648. 31 Magdalene Schoch, „Die englische Kriegsgesetzgebung gegen feindliche Gesellschaften, insbesondere die Zwangsliquidation nach der Trading with the Enemy (Amendment) Act, 1918", abgedruckt in: Rheinische Zeitschrift, Bd. 10 (1920). 32 Ausführlicher zu M. M. Schoch, siehe Stiefel/Mecklenburg, aaO, S. 145 f. 33 Eduard Bristier (= Hans Herz), Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus. Zürich 1938.

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auffällig. Moderne Politikwissenschaft, die diese Verbindungslinien herstellt, gab es vor 1945 nicht in Deutschland. Bei Sinzheimer waren es Recht und Sozialpolitik, bei A M B Recht und internationale Politik, methodische und politische Positionen, wie sie im amerikanischen Kontext des „ N e w Deal" zu finden waren und so leicht adaptiert werden konnten. Ein akademischer „Brückenkopf" war das in Princeton angesiedelte Institute for Advanced Study, das neben seinem berühmtesten Angehörigen, Albert Einstein, eine Reihe junger Wissenschaftsemigranten aufnahm, darunter Felix Gilbert, Alfred Vagts und John Herz. Das 1939 nach dem Kriegsausbruch in Europa eingerichtete Seminar von Professor Earl über Fragen des Krieges war ein wichtiges Verständigungsforum 34 . IV. Wissensentfaltung im antinazistischen Kampf Während des Zweiten Weltkrieges, und auch nach Ende der Kampfhandlungen, beschäftigte die US-Regierung bzw. die mit ihr verbundenen Behörden eine größere Anzahl von Emigranten aus Deutschland und anderen Ländern. Man fand Emigranten als Berater für spezifische Probleme im Außenministerium, im Finanzministerium, im Arbeitsministerium und im Justizministerium, und vor allem in kleineren Behörden, die häufig erst während des Krieges eingerichtet worden waren. So waren bei den Vorbereitungen für die US-Militärregierung in Deutschland in der Ausarbeitung der Leitlinien für Zivilangelegenheiten (Civil Affairs Guides) i. W. zwei Behörden vorgesehen, das Office of Strategie Services (OSS) und die Foreign Economic Administration (FEA). Beide Behörden waren Kriegsschöpfungen, jedoch an unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums angesiedelt, F E A eine „New-Deal"-Behörde, erst während des Krieges 1943 gegründet und geleitet von Leo Crowley, der aus der Lend-Lease-Verwaltung kam, die mit der Versorgung der europäischen Alliierten mit kriegswichtigen Materialien beschäftigt war; andererseits OSS, kurz vor dem Eintritt der U S A in den Krieg gegründet und unter Leitung des Wall-Street-Anwaltes William Donovan der erste zentrale Geheimdienst der USA, vor allem zur bis dahin unzureichenden Nachrichtenbeschaffung eingerichtet. Beide Behörden wurden nach dem Ende der Kriegshandlungen aufgelöst, der genaue Zeitpunkt war der Jahreswechsel 1945/46 35 .

3,1 Hieraus ist John Herz, "Radio in International Politics", in: H.L. Childs!J.B. Whitton, Hrsg., Propaganda by Short Wave. Princeton 1942, S. 1 —4-2, hervorgegangen. 35 Wenn das OSS auch zu Recht als Vorläufer des CIA bezeichnet wird, so muß berücksichtigt werden, daß die Deutschland-Abteilung der Research and Analysis Section von OSS geschlossen in das US-Außenministerium überführt wurde, wo eine Reihe der darin tätigen Emigranten bis z. T. in die frühen 50er Jahre hinein beschäftigt blieben.

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F ü r die Abfassung der Civil Affairs Guides w a r ursprünglich eine Teilung der Aufgaben vorgesehen w o r d e n ,

die die politischen

und

sozialen Teile i. W . dem OSS und die wirtschaftlichen Teile der F E A in Auftrag gaben, wobei an vielen Stellen eine direkte Z u s a m m e n a r b e i t vorgesehen w a r . A n einzelnen Stellen w a r e n auch das State D e p a r t m e n t , der Surgeon General und andere B e h ö r d e n beteiligt 36 . Alle Studien m u ß t e n ferner d u r c h einen P r o z e ß der Begutachtung ( C l e a r a n c e ) gehen, in d e m sie interministeriellen amerikanischen ( C C A C ) und in L o n d o n sitzenden interalliierte B e h ö r d e n ( E A C ) vorgelegt w u r d e n , die Ä n d e rungsvorschläge machten 3 7 . E n d e A u g u s t 1 9 4 5 w a r der letzte Bericht eingegangen 3 8 . D i e emigrierten H i s t o r i k e r Felix Gilbert und H a j o H o l b o r n w a r e n maßgeblich bei der K o o r d i n i e r u n g der Civil Affairs Guides beteiligt 39 . D i e in den Studien behandelten Bereiche w a r e n W i r t s c h a f t , A r b e i t , E i g e n t u m , Verwaltung, V e r k e h r und öffentliche Betriebe, P r o p a g a n d a , E r z i e h u n g , Politik, R e c h t , Geld und Banken, Industrie. Insbesondere die Studien zu rechtlichen P r o b l e m e n w a r e n von F E A

Gemeinschaftsprodukte

und O S S unter konzentrierter Mitarbeit von

emigrierten

Juristen. O t t o K i r c h h e i m e r ( O S S ) und Magdalene Schoch ( F E A ) waren die ursprünglichen A u t o r e n der Studie über die Abschaffung der N a z i Gesetze 4 0 , O t t o K i r c h h e i m e r und E r n s t Fraenkel über Gerichte und

36 Siehe "The Purpose, Objectives, and Functions of a Military Government Program for Germany. Directions for the Preparation of Civil Affairs Guides and Other Planning Documents", ohne Datum [Herbst 1943], in: National Archives, Washington, DC, Record Group 226, Entry 44, Box 1. 37 "One additional element in combined planning during 1943 needs to be noted. In July, CCS established the Civil Affairs Committee (CCAC) to recommend civil affairs policies for occupied and liberated areas, and to coordinate military and civilian agency interests. Its chairman was Assistant Secretary McCloy, and its other American members were General Hilldring, a Navy officer, and James C. Dunn, Director of the Office of European Affairs of the State Department. Two British members represented the Joint Staff Mission, one the Foreign Office, and one was a civilian expert." Hammond, aaO, S. 323. 38 Siehe Brief vom 22. August 1945, Sherman Kent, Leiter der Europa-Afrika-Abteilung des R&A/OSS, an James Shoemaker, Civil Affairs Division im US-Kriegsministerium, in: National Archives, Washington DC, RG 226, Entry 44, Box 1. 39 Insgesamt konnten im OSS die folgenden Emigranten aus Deutschland festgestellt werden (nicht Juristen): Alexander, Paul Julius; Baerensprung, Horst W.; Bekker, Konrad; Caspari, John; Dickmann, Wilhelm; Eisenberg, Robert; Emmerich, Hugo; Fokin, Edgar; (Gilbert, Felix); (Gumbel, Emil J.); Herz, Hans H., später John H. Herz; (Holborn, Hajo); (Holborn, Louise); Kellermann, Henry; Kempner, Robert M. W.; (Krautheimer, Richard); Lachs, Ernst; Levy, Walter; Liebesney, Herbert Joseph; (Marcuse, Herbert); Meyerhoff, Hans J.; Neumann, Franz Leopold; Phiebig, Albert; Roetter (Roedelheimer), Friedrich; Rohrlich, Georg Friedrich; Rothschild, Walter; Sebba, Gregor; Simon, Joseph; Stiefel, Ernst; Weinmann, Erich Walter; Weigert, Oscar. 40 Abrogation of Nazi Laws, # 1655.7, EIS-2; Otto Kirchheimers Name wurde in den Unterlagen von OSS und FEA meist falsch, als Kircheimer, buchstabiert.

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Gerichtsverwaltung 41 , John Herz und Magdalene Schoch über Polizei und öffentliche Sicherheit42, sowie einer Reihe weiterer Studien verfaßt von Herbert Marcuse 43 , Franz Neumann und Oscar Weigert auf Seiten des OSS und Paul Weiden 44 in FEA. All diese Studien gingen nach Abschluß der ersten Fassung durch die Mühlen der verschiedenen Instanzen und Behörden und waren danach meist schwer nach erster Autorenschaft zu identifizieren. Wir haben nur wenige Beispiele vorliegen, in denen die Autoren, d. h. diejenigen, die die erste Fassung oder frühe Fassungen allein oder in Zusammenarbeit bearbeiteten, direkt nachgewiesen werden können. Hierzu gehören die von John Herz bearbeiteten Studien45. Während er noch in den Berichten für die Research-and-Analysis-Abteilung über Themen arbeitete, die im Rahmen seines engeren juristischen Fachwissens auf dem Gebiet des Völkerrechts lagen, z. B. über die Kontrolle der Donau oder den Minderheitenschutz in Nachkriegseuropa, lag seine Arbeit im Rahmen der Herstellung der Civil Affairs Guides nahezu ausschließlich im Bereich Staats- und Verwaltungsrecht. Dies galt auch für seine Arbeit bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, wo er u. a. über die Bedeutung des Führerprinzipes und der Gesetzgebung für die Ausführung von Kriegsverbrechen arbeitete46. Das Gewicht, das die Nachrichtenerstellung für die Kriegsführung hatte, ist nur von wenigen betont und gewürdigt worden, wird jedoch bei der Beleuchtung insbesondere von verdeckten Aktionen, häufig Sabotageaktionen etwa gegen die deutsche Schwerwasserproduktion in Norwegen, deutlich47.

Courts and Judicial Administration, # 1655.11, EIS-3. Police and Public Safety in Germany, # 1655.2, EIS-4. 43 Marcuse war kein Jurist, sondern Philosoph und der einzige aus dem Kern der Frankfurter Schule. 44 Paul L. Weiden, Dr. jur. Frankfurt/M., LLM Universität London, Mitglied der Anwaltskammern New Yorks und Washington/DC; Chief Legal Section, Liberated Areas Branch FEA; siehe "Impact of the Occupation on German Law", in: The Record of the Association of the Bar of the City of New York, Bd. 2, Nr. 8 (November 1947): 315-324. 45 John H. Herz, Statement on Work and Activities in OSS. (o. O., wahrscheinlich 1946). 46 Erhalten geblieben sind die von Louise Holborn benutzten Forschungsunterlagen, die Einblick geben in die Quellenlage der bearbeiteten Berichte. Holborn war Soziologin, Schwester von Hajo Holborn, und war Autorin der Civil Affairs Guides "Public and Private Welfare Organizations in Germany" und "Unemployment Compensation in Germany." Sie lehrte später an Amerikanischen Colleges. Ihre Papiere sind in der Schlesinger Library von Radcliff College in Cambridge gesammelt. Siehe auch ihren Aufsatz „Deutsche Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten nach 1933", in: Jahrbuch für Amerikastudien, Bd. 10, S. 15-26. 47 Siehe William Casey, The Secret War Against Hitler. New York, 1989. Casey war in der Reagan-Regierung Direktor des CIA. 41

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Deutsche emigrierte Juristen in den U S A während des Krieges

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Diese Arbeitsweise ist jedoch grundsätzlich bei allen Dokumenten der Fall, die in interbehördlichen oder interministeriellen Stäben erstellt werden. Bei bestimmten Studien kann jedoch mit Sicherheit angenommen werden, daß der Mangel an Experten zu mitteleuropäischen Rechtsund Verwaltungsfragen seinerzeit in den U S A erst durch die Emigranten behoben wurde. Als Bestätigung dafür seien einige Titel genannt, die Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre von Emigranten in den U S A veröffentlicht wurden und, gemessen an Auflagen und Zahl der Besprechungen, weite Beachtung fanden. Neben den bereits zitierten Werken von Franz Leopold Neumann und Ernst Fraenkel sind zu nennen Karl Loewensteins Buch „Hitler's Germany", zuerst im November 1939 erschienen, das Manuskript war kurz vor dem Kriegsausbruch in Europa abgeschlossen worden 48 , sowie seine Studie über die Herrschaft Vargas in Brasilien, erschienen 1942. Das 1942 erschienene Werk von Hans Ernst (John H . E.) Fried, „The Guilt of the German A r m y " , lieferte einen Beitrag zur Rolle der Wehrmacht. So ist denn auch für die Besatzungszeit ab 1945 weniger der Mangel an Vorbereitung kritisiert worden, als vielmehr die unbefriedigenden politischen Lösungen der anstehenden Probleme, am augenfälligsten in der Frage der Entnazifizierung und hier insbesondere in der Entnazifizierung des Justizbereiches. Die unmittelbar nach dem Ende der Kriegshandlungen einsetzenden offenen Auseinandersetzungen des kalten Krieges ließen viele der während des Krieges gemachten Überlegungen und Anstrengungen zu einem demokratischen Neubeginn in Europa als obsolet in den Archiven verschwinden. Von den während des Krieges aktiven, und in ihrem Sinne politisch aktiven Emigranten zogen sich viele ins Universitäts- oder Geschäftsleben der nicht mehr so neuen Heimat zurück. Sowohl in den klassischen Ministerien wie auch den speziellen Kriegsbehörden war es Emigranten nie gelungen auch nur in mittlere Führungspositionen zu gelangen. Franz Leopold Neumann, obwohl intellektuell als führend in der Deutschlandabteilung von Research & Analysis/OSS anerkannt, hatte nie Entscheidungsbefugnis erlangt, und selbst Rechtsberater der US-Militärregierung in Deutschland, wie Fritz Ernst Oppenheimer und Karl Loewenstein, letzterer von Reinhold Maier als der „Prof. Dr. L., der ,Rechtspapst' bei dem Alliierten Kontrollrat in Berlin" 49 tituliert, gelangten nie über einen, wenn auch hohen Beraterstatus hinaus. Erst später gelangten einige wenige in leitende Positionen in der US-Regierung, wie z. B. Henry Kellermann,

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Karl Loewenstein,

Hitler's Germany. The N a z i Background to War. N e w York,

1939. 49 Reinhold Maier, Ende und Wende. Das schwäbische Schicksal 1944-1946. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Stuttgart und Tübingen, 1948, S. 377.

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Ernst C. Stiefel und Frank Mecklenburg

der in den 50er Jahren als Direktor des Office of German Public Affairs in der Verwaltung des US-Hochkommissars für Deutschland für die Durchführung der kulturellen Austausch- und Reorientierungsprogramme verantwortlich war 50 . Die Zusammenarbeit einiger Dienststellen, und in unserem Falle einiger Emigranten darin, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Mangel an Zusammenarbeit zwischen einzelnen Behörden während des Krieges charakteristisch war. Was die Situation weiterhin verkomplizierte, und worauf hier einzugehen nicht möglich ist, war die sich während der Kriegsjahre verändernde Behördenlandschaft in Washington. Erst intensive Forschung in den Archiven der US-Regierung wird es möglich machen, ein umfassendes Bild der Beteiligung deutscher Emigranten an der US-Kriegsarbeit zu liefern.

50 Henry J. Kellermann, Cultural Relations as an Instrument of U. S. Foreign Policy. The Educational Exchange Program between the United States and Germany 1945—1954. Washington, D C , 1978.

Gedanken zur Reform der Hamburgischen Verfassung JÜRGEN WESTPHAL

Johannes Semler und der Autor dieses Beitrages entstammen alten Hamburger Bürgerfamilien. Manche unserer gemeinsamen Vorfahren haben als Bürgermeister und Senatoren, als Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft - des Hamburgischen Parlaments - und als Kaufleute oder Juristen in der Geschichte Hamburgs eine wichtige Rolle gespielt. Kaufleute in Schiffahrt und Handel machten diese Stadt zu einem Zentrum des Welthandels; Juristen prägten ihre Verwaltung und Stadtregierung. I. Wenige Gemeinwesen lassen sich so sehr mit Recht als Unternehmen bezeichnen, wie es ein Hamburger Bürgermeister zutreffend für Hamburg getan hat1. Für den Unternehmensrechtler mag es daher von Interesse sein, zu registrieren, vor welchen Fragen ein solches Gemeinwesen als Unternehmen steht, wenn es seine Führung und Struktur veränderten wirtschaftlichen und politischen Anforderungen in einem zusammenwachsenden Europa anpassen will.

II. Das Bewußtsein dafür, daß Verfassung und Verwaltung der Stadt und des Bundeslandes Hamburg einer grundlegenden Reform bedürfen, äußert sich seit vielen Jahren in einer Fülle von Reden, Aufsätzen und politischen Initiativen. Der quälend lange Weg zu konkreten Ergebnissen gehört jedoch ebenso zur typisch Hamburgischen Verfassungsgeschichte. Im Gegensatz zu den berühmten Verfassungen dieser Welt, etwa der amerikanischen, der französischen aus der großen Revolution, der Reichsverfassung von 1848, der Weimarer Verfassung oder auch dem 1 von Dohnanyi, Unternehmen Hamburg, 1983, Sonderdruck aus: Der Übersee-Club Hamburg Mitteilungen, 3 ff.

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Grundgesetz hat kein Hamburger Verfassungsgeber jemals den Versuch beabsichtigt oder gewagt, mit einer Verfassung ein Staatsmodell für die Zukunft zu entwerfen. Hamburger Verfassungen waren stets der Nachvollzug von Entwicklungen und Ereignissen, die schließlich eine Veränderung der Verfassung geradezu erzwangen. Dies gilt schon für den sogenannten Hauptrezeß aus dem Jahre 1712, der sich als „ein ewiges, unveränderliches und unwiderrufliches Fundamentalgesetz" bezeichnete und einen Kompromiß nach jahrzehntelangem erbittertem Streit zwischen Rat und aufkommender Bürgerschaft bedeutete2. Hamburg schloß verfassungsrechtlich damit die stürmische, auch durch den dreißigjährigen Krieg nicht unterbrochene Aufwärtsentwicklung ab, die es in den beiden Jahrhunderten seit der Entdeckung Amerikas und dem damit einsetzenden Welthandel zu einer bedeutenden Schiffahrts- und Handelsstadt gemacht hatte. Von nun an entschieden der Rat und die Bürgerschaft „in untrennbarer Verbindung", im sog. „Kondominium", d.h. gemeinsam und in der Regel im Wege des Kompromisses alle Angelegenheiten der Stadt. Dieses gemeinsame Entscheiden von Exekutive und Parlament, das Gegenteil einer strengen Gewaltenteilung, hinterläßt bis heute seine Spuren in allen späteren Hamburger Verfassungen und bestimmt die Verfassungswirklichkeit. Hierauf werde ich noch zurückkommen. Die Erschütterungen der napoleonischen Kriege, die Hamburgs Handel und damit die Existenz der Stadt gefährdeten, die Katastrophe des großen Hamburger Brandes aus dem Jahre 1842, die gleichzeitig Defizite des bestehenden Regierungssystems aufzeigten, ja selbst die im liberalen Hamburg zunächst freudig aufgenommene Revolution von 1848: Dies alles führte erst im Jahre 1859 zu einer eher vorsichtigen Weiterentwicklung der bürgerlich-republikanischen Verfassung3. Ein unbeirrt beibehaltenes Klassenwahlrecht, das im Jahre 1906 sogar zu Lasten der wirtschaftlich Schwächeren verschärft wurde, ignorierte vollständig, daß die Stadt inzwischen zu einer Millionenstadt mit Hunderttausenden von Hafen- und Industriearbeitern gewachsen war. Die letzte große Choleraepedemie in Europa, nämlich die Hamburgische von 1892, zeigte in erschreckender Weise die Schwächen der Hamburger Staatsführung auf. Freilich zeigte auch in diesem Fall Hamburg, daß es zur nachträglichen Heilung von Fehlern in der Lage war. Eine großzügig konzipierte und

1 Wohlwill, Neuere Geschichte der Freien und Hansestadt Hamburg, 1914, 48 ff; Bolland, Ein Sonderfall in der Geschichte, in: Hamburg, Organisation und Struktur des Stadtstaates, 1972, 12; von Dohnanyi, Fn. 1 aaO, 64 ff. 3 Bolland, Fn.2, 13; Wulff, Hamburgische Gesetze und Verordnungen, 1902, Iff mit dem Text der inzwischen an die Bestimmungen der Reichsverfassung von 1871 angepaßten Hamburger Verfassung in der Fassung von 1879.

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durchgeführte Sanierung und Modernisierung alter Stadtquartiere, die übrigens eng mit dem Namen des gemeinsamen Urgroßvaters des Jubilars und des Autors, Dr. Johann Georg Mönckeberg, verbunden ist, prägt noch heute das Gesichts Hamburgs. Selbstverständlich führte dann die neue Verfassung des Jahres 1921 zu demokratischen Institutionen, insbesondere zur Wahl des Senats durch die Bürgerschaft und zu einem Wahlrecht, das voll demokratischen Anforderungen gerecht wurde. Starke Elemente des Kondominiums und der Selbstregierung der Bürger bestimmen jedoch auch diese Verfassung. Sie wurden auch in die heute geltende Verfassung von 1952 herübergerettet und durch die Verfassungsreform aus dem Jahre 1971 nicht wesentlich verändert. Hierzu gehört insbesondere die Leitung der Behörden durch ehrenamtliche Mitglieder. III. Kennzeichnend für die Besonderheiten der Hamburger Verfassung ist folgendes: a) Hamburg als Land der Bundesrepublik Deutschland ist eine Einheitsgemeinde. Staatliche und gemeindliche Verwaltung werden nicht getrennt (Art. 4 Hamburgische Verfassung - HV). Diese völlige Identifizierung von staatlicher und kommunaler Verwaltung gibt es heute selbst in den beiden anderen Stadtstaaten, in Berlin und in Bremen, nicht mehr. Berlin ist in recht autonome Bezirke gegliedert, die nicht nur weisungsgebundene Verwaltungseinheiten wie die Hamburger Bezirke sind. Bremen besteht aus zwei selbständigen Kommunen, nämlich der Stadt Bremen und der Stadt Bremerhaven. Alle grundlegenden Ansätze zu einer Reform der Verwaltung und zu einer Stärkung der Rechte der Bezirke sind bisher im Sande verlaufen. Staatliche und kommunale Tätigkeit sind nicht getrennt, sondern bleiben weiterhin in der gemeinsamen Verantwortung der Verfassungsorgane. b) Der Hamburger Senat, zugleich Landes- und Stadtregierung, ist ein Kollegialorgan. Das Parlament, die Bürgerschaft, wählt nicht etwa den Bürgermeister, der dann seinerseits die Senatoren als Mitglieder der Regierung beruft. Vielmehr werden die Senatoren einzeln von der Bürgerschaft gewählt (Art. 34 H V ) und diese wählen dann - jährlich neu - aus ihrer Mitte den Bürgermeister und seinen Stellvertreter (Art. 41 HV). Anders als in den Verfassungen des Bundes und der Flächenländer steht dem Bürgermeister keine Richtlinienkompetenz zu. Vielmehr bestimmt der Senat in toto die Richtlinien der Politik (Art. 33 HV). c) Die Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft, des Landesparlaments, üben ihre Tätigkeit ehrenamtlich aus (Art. 13 HV).

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Dies ist eine absolut einmalige Regelung im Vergleich zu allen anderen Bundesländern. Ubereinstimmend wird sie als nicht mehr zeitgemäß angesehen, da sie der Aufgabe und dem Zeitaufwand der Abgeordneten nicht mehr entspricht. Die an die Abgeordneten gezahlte steuerfreie Aufwandsentschädigung ist als solche kaum mehr zu begründen, liegt andererseits auch als Nettozahlung weit unter dem Niveau der Diäten, die Abgeordnete aller anderen Länderparlamente erhalten, selbst diejenigen der anderen Stadtstaaten und der neuen Bundesländer. Die Hamburger Bürgerschaft hat im Jahre 1991 versucht, die für das Ehrenamt gezahlte Aufwandsentschädigung durch eine Diätenregelung zu ersetzen, die von einem Abgeordneten ausgeht, der einen großen Teil seiner Zeit der Politik als Beruf opfert. Dies ermöglichte auch eine Altersversorgung für die Parlamentarier. Eine heftige öffentliche Debatte, die nicht im einzelnen geschildert werden kann, führte dazu, daß der Senat, der vorher aktiv an der Neugestaltung der Diäten- und Versorgungsregelung mitgearbeitet hatte, von seinem Recht Gebrauch machte, das noch auf die Zeit des Kondominiums zurückgeht und kein Beispiel in der heutigen deutschen Verfassungswelt hat: Gemäß Art. 50 HV nutzte er sein Recht, gegen ein von der Bürgerschaft beschlossenes Gesetz Einspruch einzulegen. Diese Verfassungsbestimmung ist mit einem konsequenten Gewaltenteilungsprinzip schwer vereinbar; dem Grundsatz des gemeinsamen Regierens von Senat und Bürgerschaft entspricht sie dagegen sehr wohl. Der Senat handelte sozusagen als zweite Kammer. Freilich sieht Art. 50 HV auch vor, daß die Bürgerschaft in einem solchen Einspruchsfall ihren angegriffenen Beschluß wiederholen kann und dadurch das Veto des Senats überwindet. Hiervon machte sie deshalb keinen Gebrauch, weil sie nach der vorangegangenen kontroversen Debatte an dem Diätenbeschluß nicht festhalten mochte. Sie wählte statt dessen eine sehr Hamburgische Lösung. Die Bürgerschaft setzte eine Enquetekommission ein, deren Arbeit im Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages noch nicht abgeschlossen ist4. d) Die Mitwirkung des Volkes an der Verwaltung ist in besonders auffälliger und aus der historischen Entwicklung verständlicher Weise abgesichert und zwar über die Mitwirkung im Parlament hinaus. Art. 56 der HV besagt, daß das Volk zur Mitwirkung an der Verwaltung berufen ist. Die Mitwirkung geschieht insbesondere durch die ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Verwaltungsbehörden. Diese Mitwirkung konkretisiert sich vor allem in den sog. Deputationen, deren älteste, die Finanzdeputation, schon im 16. Jahrhundert ent4

Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 14/1008, 1992.

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stand. Bei jeder Behörde, d . h . jedem einem Senator unterstehenden Ressort, wird eine Deputation gebildet, die Entscheidungsfunktionen besitzt. Die Deputation, nach wie vor ein Organ mit hohem Ansehen, findet sich als Institution übrigens auch in Bremen und ist dort mit noch stärkeren Rechten als in Hamburg ausgestattet. Auch in einer Reihe anderer wichtiger Einrichtungen ist die ehrenamtliche Mitwirkung der Bürger gesichert, so in der Bodenordnungskommission, die für die zur Umsetzung politischer Ziele so wichtigen Grundstücksverkäufe entscheidet, in der Kreditkommission, zuständig für die Kreditgewährung und Bürgschaften, insbesondere mit dem Ziel der Wirtschaftsförderung und in der Beamtenernennungskommission, welche für die typische Exekutivaufgabe der Beamtenernennung ein Vorschlagsrecht hat und mehrheitlich mit bürgerlichen, vom Parlament gewählten Mitgliedern besetzt ist.

IV. Es gibt keinen zwingenden oder überzeugenden Grund, Mitwirkungsrechte von Bürgern und gewachsenen hanseatischen Einrichtungen, in denen sich bürgerliches Selbstbewußtsein mit historisch gewachsenen Traditionen verwirklicht, allein deshalb in Frage zu stellen, weil sie nicht dem Muster des Grundgesetzes oder der Mehrzahl der Verfassungen der anderen Bundesländer entsprechen. Jedenfalls solange nicht, als sie nicht das Demokratieprinzip beeinträchtigen und mit Art. 28 des Grundgesetzes im Einklang stehen, nach welchem die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen müssen. Die lebhafte Hamburgische Diskussion über eine Verfassungs- und Verwaltungsreform hat nicht diese, sondern andere Gründe, die über die bundesweit und gelegentlich auch von Politikverdrossenheit geprägte Verfassungsdiskussion hinausgehen. In Hamburg wird beispielsweise die Frage, ob landesspezifische Grundrechte in die Verfassung aufgenommen werden sollen, kaum diskutiert, obwohl die Hamburgische Verfassung keinen Grundrechtskatalog enthält. Die Debatte über erweiterte plebiszitäre Elemente (Volksbegehren, Volksentscheid usw.), die in der Diskussion über die kürzlich verabschiedete neue Verfassung des Nachbarlandes Schleswig-Holstein ein Zentralthema war und auch die Verfassungsdiskussion in den neuen Bundesländern weitgehend bestimmte, steht in Hamburg eher im zweiten Glied. Neben der Verwaltungsreform wird vielmehr vornehmlich die Frage der Führungsfähigkeit und damit die innere Struktur des Senats, das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive und der Status der Parlamentarier debattiert. Auf diese Fragen möchte ich mich nachstehend konzentrieren.

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1. Ansatzpunkt ist dabei nahezu übereinstimmend die insbesondere von der Wirtschaft erhobene Klage, daß, auch unabhängig von den handelnden Personen und wechselnden parteipolitischen Konstellationen in Bürgerschaft und Senat, Verwaltungs- und Regierungsentscheidungen in einem wenig transparenten und langwierigen Verfahren gefällt werden oder auch nicht zustande kommen. Dies beeinträchtige die Funktionsfähigkeit des Unternehmens Hamburg im Wettbewerb mit anderen Städten, Bundesländern aber auch ausländischen Standortkonkurrenten5. Richtig ist, daß die an Hamburg angrenzenden Flächenländer und Kommunen bei der Ansiedlung von bedeutenden Unternehmen durch unbürokratisches und schnelles Handeln Hamburg oft um eine Nasenlänge voraus waren und manches Hamburger Unternehmen unter anderem wegen der bürokratischen Schwierigkeiten in Hamburg in die Nachbarländer ausgewandert ist. Richtig ist auch, daß wichtige Strukturentscheidungen für die Entwicklung Hamburgs, etwa beim Ausbau des überregionalen Verkehrsnetzes, mit gefährlicher Langsamkeit und Halbherzigkeit zustande kommen und daß in Krisensituationen, etwa bei Großdemonstrationen, eine klare Führung durch die Regierung vermißt wird. Für wichtiger halte ich, daß in einem Stadtstaat wie Hamburg zunehmend Aufgaben von wachsender Komplexität erfüllt werden müssen, Aufgaben, die in dieser Art früher nicht vorhanden oder weniger bedeutsam waren. Die enge Verflechtung mit den Nachbarländern und die Lösung der sich daraus ergebenden Fragen reicht von Energieversorgung, Umwelt bis zu Problemen der Wirtschaft. Sie fordert verstärkt ein Handeln des Hamburger Senats als Regierung der Zentrale des gesamten norddeutschen Raums. Dies um so mehr, als die Landesparlamente wenig Neigung haben, sich diesen Aufgaben zu widmen und hier der Senat Gesprächspartner der Wirtschaft ist. Die aktive Mitwirkung im Bundesrat als eigenständige Aufgabe der Landesregierung, sprich des Senats, bindet nicht nur zunehmend Verwaltungskraft der Exekutive, sondern erfordert häufig klare politische Vorgaben durch den Regierungschef. Die Regelung etwa des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern führt - gerade in der Sondersituation eines Stadtstaates mit überregionalen Aufgaben und Pflichten - zu weitreichenden Erwägungen und Entschlüssen, deren letzte Lösung nicht nur der Weg zum Bundesverfassungsgericht sein kann. Zunehmend verlagern sich Entscheidungskompetenzen in Konferenzen der Ministerpräsidenten und Bürgermeister, etwa in den für den Medienstandort Hamburg so wichti5 Statt vieler; Bericht der Kommission zur Überprüfung der Regierungsstrukturen in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg - Stadtstaaten-Kommission, 1988, 34 ff.

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gen Rundfunk- und Fernsehfragen. Fachministerkonferenzen entscheiden heute praktisch über die Vergabe der Mittel der großen gemeinsamen Etats von Bund und Ländern, sei es bei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a des Grundgesetzes, beim Fonds Deutsche Einheit usw. Die Kultusministerkonferenz mit ihrem großen Apparat, Wissenschaftsinstitutionen mit ihren auch regionalpolitisch wichtigen Etats fordern vom Senat schnelles und koordiniertes politisches Handeln. Überdies können die Länder ihre Mitwirkung bei der Schaffung Europas durch die europäische Gesetzgebung nicht mehr nur auf die Abstimmung über die ständig wachsende gesetzgeberische Tätigkeit beschränken und deren Transformation in deutsches Recht begleiten. Der Senat muß vielmehr in Brüssel selbst aktiv sein. Dies wird sich noch verstärken, wenn die Regionen entsprechend den noch nicht ratifizierten europäischen Verträgen von Maastricht demnächst beratend an der Schaffung Europas mitwirken. Dies alles erfordert ein „Management in einem sehr komplexen System" 6 . Ist Hamburgs Führungsinstrumentarium dafür eingerichtet? Diese Problematik hat offensichtlich dazu geführt, daß sich die Regierungschefs der drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen auf Initiative des damaligen Hamburger Bürgermeisters hin im November 1986 entschlossen, eine Kommission einzusetzen, deren wesentlicher Untersuchungsgegenstand die kritische Prüfung der Frage war, ob die geltenden Regelungen, die das Zustandekommen und die Auflösung von Regierungen in den Stadtstaaten, die Kompetenz der Regierungsmitglieder und das Verhältnis zur Regierung und Parlament in den Stadtstaaten im Vergleich zu den Flächenstaaten geändert werden sollen 7 . Es ist kein Zufall, daß der Auftrag von den Bürgermeistern selbst erteilt wurde. Weder die jeweiligen Senate noch gar die Parlamente haben an der Vergabe des Auftrags mitgewirkt, wohl ein Zeichen dafür, daß das Führungsdilemma angesichts der geschilderten Aufgabensituation unterschiedlich beurteilt wird 8 . 2. Die Führungsfrage in der Politik stellt sich nicht nur in den Stadtstaaten. Offenbar hat sie sich jedoch hier besonders zugespitzt. Für das wiedervereinte Berlin wie auch für den Stadtstaat Bremen gilt dies augenscheinlich ebenfalls. Hamburg hat durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Öffnung des europäischen Ostens neue Chancen und Aufgaben erhalten, die den Anspruch an die Führungsfähigkeit des Senats eher erhöhen. Stadtstaaten-Kommission, Fn. 5, 34. Stadtstaaten-Kommission, Fn. 5, 5. 8 Kröning, Kanzlermodell: Bedürfen die Stadtstaaten einer Stärkung des Bürgermeisters?, Recht und Politik, 1988, 1 ff. 6

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Stets treten in der Öffentlichkeit und in den Medien die Regierungschefs, sei es der Bundeskanzler oder die Ministerpräsidenten der Flächerländer bzw. die Bürgermeister der Stadtstaaten als diejenigen Persönlichkeiten in den Mittelpunkt, von denen Führungsverantwortung für die Leitlinien der Politik erwartet und eingefordert werden. Dies ist auch der maßgebliche Grund für ihre hervorgehobene Herausstellung in den Wahlkämpfen. Ihre Fähigkeit zur Koordinierung der oft widerstreitenden Ressortinteressen wird als Kriterium für die Regierungsfähigkeit als solcher erwartet und zwar auch in Hamburg. Dies steht jedoch im Gegensatz zu der Hamburgischen Verfassung, die von der Allzuständigkeit des Senats als Kollegium ausgeht. Auf die Zusammensetzung dieses Kollegiums hat der Bürgermeister, der wie jeder andere Regierungschef auf Parteiströmungen seiner Partei und Personalvorstellungen eines Koalitionspartners ohnehin Rücksicht nehmen muß, keinen direkten, durch die Verfassung abgesicherten Einfluß. Fehlt ihm die Möglichkeit, seine Mannschaft, den Senat, in seiner Zusammensetzung zu formen, so bleibt er doch in der politischen und rechtlichen Gesamtverantwortung für von ihm möglicherweise abgelehnte oder nicht für kompetent gehaltene Senatsmitglieder. Die Berufung eines parteiunabhängigen Fachmannes auf ein Senatsressort ist ihm kaum möglich, auch wenn er dies sachlich für geboten hält, denn jeder einzelne Senator muß von der Bürgerschaft mit Mehrheit gewählt werden. Die Stadtstaatenkommission empfiehlt daher, daß in Zukunft nur der Bürgermeister direkt von der Bürgerschaft gewählt wird und er den Senat selbst zusammensetzen kann 9 . Dem entspricht dann, daß auch die Abberufung einzelner Senatoren in der H a n d des Bürgermeisters liegt, den damit auch die Verantwortung für seine Personalauswahl trifft. Ein Vertrauensentzug durch die Bürgerschaft kann dann auch nicht mehr gegenüber einem einzelnen Senator verwirklicht werden, wie dies heute nach Art. 35 Abs. 1 Satz 2 H V möglich ist. Vielmehr steht und fällt das A m t eines Senators mit dem des Bürgermeisters. Wird diesem das Vertrauen entzogen, fällt damit sein gesamter Senat. 3. Die Bedeutung der Richtlinienkompetenz des Regierungschefs wird dagegen häufig überschätzt. Für sie bleibt angesichts der vor den Wahlen veröffentlichten Programme der Parteien, den inzwischen auch in H a m burg zu Beginn und während der Legislaturperiode abgegebenen Regierungserklärungen, eine in Hamburg künftig noch stärker auszuprägende 9 Stadtstaaten-Kommission, Fn. 5, 38 ff; Wewer, Negativ-Koalition - oder die blokkierte Verfassungs- und Verwaltungsreform im Stadtstaat Hamburg, Politische ViertelJahreszeitschrift Stadt und Staat, Sonderheft 22/1991, 401 ff äußert sich angesichts der Parteienlandschaft in Hamburg kritisch über jede Realisierungsmöglichkeit einer Verfassungs- und Verwaltungsreform.

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Ressortverantwortlichkeit der einzelnen Senatoren und auch in Anbetracht der Geschäftsordnung des Senats wenig Platz. Es ist jedoch konsequent, den Bürgermeister, der dann nach den Vorschlägen der Stadtstaatenkommission über die Rolle des primus inter pares hinauswächst, auch insoweit die Initiative und den maßgeblichen Einfluß auf die Richtlinien zu gewähren 10 . Dies gilt besonders für unvorhersehbare Entscheidungen in Angelegenheiten von hohem Gewicht, die aus unabweisbaren Gründen schnell gefällt werden müssen. Eine solche Regelung stärkt überdies die berechtigte Erwartung an die Regierungsfähigkeit und an den Mut des Mannes an der Spitze, zur richtigen Zeit das Nötige zu tun. V. Es wäre falsch zu glauben, daß eine solche Veränderung der führenden Struktur der Exekutive automatisch mit einer Machteinbuße der Bürgerschaft verbunden sein müsse. 1. Die Stellung der Bürgerschaft muß gleichzeitig verstärkt werden. Es muß etwa das noch aus der Zeit des Kondominiums stammende Recht des Senates fallen, gegen von der Bürgerschaft verabschiedete Gesetze ein Veto einlegen zu können. Die volle Verantwortung des Bürgermeisters für die gesamte Senatsmannschaft stärkt auch seine Rechenschaft gegenüber dem Parlament. Einigkeit besteht auch darüber, daß bei einer Reform der Hamburgischen Verfassung die nicht mehr zeitgemäße Einrichtung des ewigen Senats fallen muß. Nach der HV bleibt der Senat nämlich auch mit Beendigung der Legislaturperiode im Amt. Die Bürgerschaft muß nach Neuwahlen für eine Regierungsbildung den Weg eines konstruktiven Mißtrauensvotums gemäß Art. 35 Abs. 2 HV gegen den im Amt befindlichen Senat gehen. Ein erfolgreiches Mißtrauensvotum setzt aber wiederum die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft voraus. Die zugrunde liegenden Wahlergebnisse vom Juni 1982 und vom November 1986 brachten keine handlungsfähigen Bürgerschaftsmehrheiten. Der Senat machte von der ihm zustehenden Möglichkeit des Rücktritts nicht Gebrauch, sondern blieb im Amt. In beiden Fällen beendete dann die Bürgerschaft von sich aus den verfassungspolitisch labilen Zustand durch Selbstauflösung. Nachdem die neue SchleswigHolsteinische Verfassung aus dem Jahre 1990 eine entsprechende Bestimmung ihrer Vorgängerverfassung abgeändert hat, sollte auch Hamburg nicht zögern, die Amtszeit des Bürgermeisters und der Senatoren von der Legislaturperiode der Bürgerschaft abhängig zu machen. 10

Stadtstaaten-Kommission, Fn. 5, 47 ff.

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2. Die Bürgerschaft ist insofern ein Unikum in der deutschen Verfassungslandschaft, als sie das einzig ehrenamtlich tätige Parlament aller Bundesländer ist. Hierauf habe ich oben hingewiesen. Andererseits entspricht die Tätigkeit der Bürgerschaft nach Inhalt und Zeitaufwand voll der anderen Landesparlamente 11 . Es herrscht daher in der parteiübergreifenden öffentlichen Diskussion Ubereinstimmung darüber, daß der relevante Art. 13 H V nicht aufrechterhalten werden kann. Die Diätenregelung und die Altersversorgung für die Abgeordneten kann dann entsprechend verfassungsrechtlich sauber geordnet werden. Dies beschreibt nur den formalen Aspekt einer Reform des Parlaments. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage des zukünftigen Status eines Parlamentariers in Hamburg. Bisher sind die Bürgerschaftsabgeordneten sogenannte Feierabendparlamentarier, da nach den immer wieder von Legislaturperiode zu Legislaturperiode insoweit fortgeschriebenen Geschäftsordnungen des Parlaments, Sitzungen des Parlaments grundsätzlich erst um 16.00 U h r beginnen, ebenso wie Ausschußsitzungen spät nachmittags und abends abgehalten werden. Heißt dies, daß in Zukunft der Hamburgische Bürgerschaftsabgeordnete notgedrungen ein Vollzeitparlamentarier sein muß, um aufgabengerecht arbeiten zu können, ein Parlamentarier, der nebenbei noch die Freiheit hat, soweit möglich, einen bürgerlichen Beruf auszuüben? Denkbar ist auch der Typ eines Abgeordneten, der nur einen Teil seiner Zeit der Politik widmet, allderings seinen zivilen Beruf den Zeitvorgaben der Politik anpassen muß. Der Beschluß, mit dem die Bürgerschaft nach der gescheiterten Verfassungsreform des Jahres 1991 im Jahre 1992 eine Enquetekommission zur Parlamentsreform eingesetzt hat, benutzt den Begriff des Teilzeitparlaments, ohne ihn näher zu erläutern 12 . In der Diskussion der politischen Parteien und aus den ersten vorveröffentlichen Ergebnissen der Enquetekommission schält sich eine Tendenz zugunsten eines Abgeordnetentyps heraus, der in der Politik seinen Hauptberuf sieht oder sehen muß. N u r so könne er seiner vielfältigen Sachverantwortung nachkommen und Politik glaubwürdig gegenüber dem Bürger vertreten. Ich halte dagegen, daß man den heutigen Zustand eines Sitzungsbeginns am Nachmittag verfassungsrechtlich festschreiben und dabei in Kauf nehmen sollte, daß die Abgeordneten ihre politischen Aufgaben weitgehend in ihrer Freizeit wahrnehmen müssen. N u r so kann eine Auswahl von Abgeordneten gefunden werden, die ihren Hauptberuf nicht in einer

" Raschke, Vergleichende Analyse parlamentarischer Tätigkeiten in den alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 1992, noch nicht veröffentlichtes Manuskript. 12 Fn.5.

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politischen Karriere sehen, sondern ihr Wissen und ihre Erfahrung aus einem ausgeübten Beruf oder einer anderen Tätigkeit in die parlamentarische Beratung einbringen. Dies ist meines Erachtens ein unverzichtbarer Vorteil, der dem Gemeinwesen Hamburg dient. Allerdings setzt dies eine Konzentration und sinnvolle Beschränkung ausufernder parlamentarischer Initiativen voraus. Wenn Hamburg vor einer Fülle neuer und veränderter Aufgaben steht, bedarf die Stadt mehr als je zuvor solcher Frauen und Männer als Parlamentarier, die ihre unabhängig von der Politik erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen in die politische Tätigkeit einbringen. Der Ruf nach mehr politischer Professionalität sollte nicht die politische Ochsentour, sondern die in einem bürgerlichen Beruf erworbene und weiter bewährte Professionalität meinen. 3. Für wichtig halte ich auch, daß die gute und bewährte Tradition ehrenamtlicher Mitwirkung Hamburgischer Bürger in Verwaltungsbehörden erhalten bleibt13. Ihr Sachverstand in Einrichtungen wie Deputationen, Bodenordnungskommission und Kreditkommission ist nützlich und ein Stück stiller, aber effizienter Bürgerbeteiligung. Die vorhandene Form - sozusagen die Hamburgensie - der Bürgerbeteiligung steht dem Gewaltenteilungs- und dem Demokratieprinzip nicht entgegen, sondern verwirklicht bereits heute in sachgerechter Form die vielfach geforderten plebiszitären Elemente. Dabei wird im einzelnen zu überprüfen sein, ob die in angeblich über tausend Gesetzen enthaltenen Beteiligungsformen sämtlich aufrechterhalten werden müssen. VI.

Ich bin mir nicht sicher, ob der gemeinsame Urahn des Jubilars und des Autors, der schon erwähnte Bürgermeister Dr. Mönckeberg, über alle hier unterstützten Vorschläge glücklich sein würde. Einverstanden wäre er ganz gewiß mit der Erhaltung der Deputationen, betont er doch wieder und wieder mit Stolz seine Arbeit als Präses der Finanzdeputation14. Als zugleich konservativer und liberaler, weltaufgeschlossener Hanseat würde er wohl auch heute auf eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Hamburgischen Verfassung drängen.

A . M. von Dohnanyi, Fn. 5, 69. Bürgermeister Mönckeberg, eine Auswahl seiner Briefe und Aufzeichnungen, 1918; Renate Hauschild-Thiessen, Bürgermeister Johann Georg Mönckeberg, 1989. 13 14

II. Gesellschaftsrecht

Soll das Feststellungsrecht des Jahresabschlusses bei der GmbH reduziert werden? CARSTEN PETER CLAUSSEN

Das G m b H G 1892 schrieb in §46 Nr. 1 vor, daß „die Feststellung der Jahresbilanz und die Verteilung des aus derselben sich ergebenden Reingewinns" der Bestimmung der Gesellschafter unterliegt. Das Bilanzrichtlinien-Gesetz von 19851 hat diesen Komplex in mehrfacher Hinsicht neu geregelt: einmal wurde §46 Nr. 1 G m b H G sprachlich von der „Bilanz"feststellung auf „Jahresabschlußfeststellung" umgestellt; dann wurde das Recht der Gesellschafter auf den ungeschmälerten Reingewinn als Gewinnausschüttung in einem neuen §29 G m b H G modifiziert; schließlich wurde dieses Feststellungsrecht des Jahresabschlusses strenger formalisiert, mit Fristen ausgestattet und gesetzestechnisch mit der Vorlagepflicht des Jahresabschlusses verbunden - so der neue §42a GmbHG. Dieser, seit dem 1.1.1986 geltende §42a G m b H G schreibt in Abs. 1 vor, daß die Geschäftsführer den Jahresabschluß den Gesellschaftern vorzulegen haben, was schon zuvor geltendes Recht war und 1985 zum kodifizierten Recht wurde 2 ; in Abs. 2 wird der Feststellungsbeschluß behandelt. Der hier folgende Beitrag befaßt sich mit der Frage, ob dieser Feststellungsbeschluß bei der GmbH eine überzeugende und zu einem guten Ziel führende Rechtsidee ist. Unsere Überlegungen werden in dieser Reihenfolge angestellt: I. II. III. IV.

Grundsätzliches und Geschichtliches zum Feststellungsrecht bei der AG Wertungen des Feststellungsrechts Rechtsbehelfe gegen fehlerhafte Feststellungsbeschlüsse Ergebnisse

I. Grundsätzliches und Geschichtliches zum Feststellungsrecht Das Recht, den Jahresabschluß festzustellen, hat im Aktienrecht seine Heimat. Bei der AG folgt die Feststellung zeitlich der Aufstellung des 1 2

BGBl. I 1985, S.2355. Lutter/Hommelhoff, GmbH-Komm., 12. Aufl., § 4 2 a Rdn.2.

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Carsten Peter Claussen

Jahresabschlusses durch den Vorstand, §§242, 264 HGB, und der Prüfung des Jahresabschlusses, wenn es keine kleine Kapitalgesellschaft ist. Die Feststellung liegt zeitlich vor dem Gewinnverwendungsbeschluß der HV nach § 174 AktG. Das Feststellungsrecht kann bei der AG von Vorst und AR oder alternativ von der HV ausgeübt werden. Diese Alternative hat in der aktienrechtlichen Gesetzgebung und Literatur eine lange und nicht eindeutige Geschichte 3 , was schon deutlich macht, daß es sich dabei nicht um ein unstreitiges, um ein aus sich selbst erklärendes Rechtsinstitut handelt. In dieser aktienrechtlichen Debatte um das Für und Wider des Feststellungsrechts ging es vor allem um die Frage, wer das Feststellungsrecht haben solle. Im einzelnen: In der Frühzeit der Aktiengesellschaft - der Konzessionsepoche - gab es für das Feststellungsrecht keine gesetzliche Regelung. Das Aktiengesetz v. 1843 schrieb in §24 nur vor, daß „in den ersten 3 Monaten eines jeden Geschäftsjahrs eine Bilanz des Gesellschaftsvermögens" von dem Vorstand aufzustellen ist. Nach diesem alten Recht schrieben die Gesellschaftsverträge, die der landesherrlichen Bestätigung bedurften, zumeist vor, daß die Verwaltungsräte über die Bilanz zu beschließen hatten 4 . So blieb es auch nach Art. 239 des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches vom 11. Juni 18 705. Erst der durch die Aktienrechtsnovelle vom 18.Juli 1884 eingeführte Art. 239 b brachte die Genehmigung der Bilanz durch die Generalversammlung, wobei jedoch streitig blieb, ob diese Zuständigkeitsregelung nicht durch Satzungsbestimmungen abgeändert werden könne 6 . Die Aktienrechtsnovelle von 19317 brachte dann in §260 Abs. 1 HGB die Klarstellung, daß die Generalversammlung über den Jahresabschluß beschließt, womit die Zuständigkeitsregelung auch für die Satzung unabänderlich wurde. 1937 erfolgte eine Änderung dahin, daß es Vorstand und Aufsichtsrat obliegt, den Jahresabschluß aufzustellen und zu billigen - §125 Abs. 1 und 3 AktG 1937 - sofern sich nicht die beiden Organe für eine Feststellung durch die Hauptversammlung entscheiden. Diese Lösung wurde - außer mit ideologischen Gesichtspunkten - mit dem später in der Debatte immer wiederkehrenden Gedanken begründet, daß „in der Regel die verantwortliche Leitung der Gesellschaft auf Grund ihres Einblicks in die Geschäfte und den Stand der Gesellschaft

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Eckardt, Das Wertpapier 1959, S. 63 meint: „Das Bilanzfeststellungsrecht hat eine wechselvolle Geschichte". 4 Passow, Die Aktiengesellschaft, 1922, 2. A u f l . , S. 391 ff. 5 BGBl. S. 375. 6 Staub/Koenig/Pinner/Bondi, Komm, zum H G B , 12. und 13. A u f l . 1926, § 2 6 0 , Anm. 1 u. a. 7 RGBl. I, S. 493.

Feststellungsrecht des Jahresabschlusses bei der GmbH

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s o w i e auf G r u n d des P r ü f u n g s b e r i c h t s d e r A b s c h l u ß p r ü f e r (§ 1 3 9 A k t G ) besser u n d leichter als d e r A k t i o n ä r in d e r Lage sein w i r d , die jährliche B i l a n z u n d die G e w i n n - u n d V e r l u s t r e c h n u n g festzustellen. A u ß e r d e m d ü r f t e h i e r d u r c h eine w e s e n t l i c h e G e s c h ä f t s v e r e i n f a c h u n g i n n e r h a l b d e r G e s e l l s c h a f t erreicht w e r d e n " 8 . D a s d e r H a u p t v e r s a m m l u n g v e r b l i e b e n e G e w i n n v e r t e i l u n g s r e c h t - § 1 2 6 A b s . 1 A k t G - k o n n t e d a n e b e n keine g r ö ß e r e f i n a n z w i r t s c h a f t l i c h e u n d u n t e r n e h m e r i s c h e B e d e u t u n g erlangen, w e i l in das B i l a n z f e s t s t e l l u n g s r e c h t die V o r n a h m e v o n A b s c h r e i b u n g e n , W e r t b e r i c h t i g u n g e n u n d R ü c k s t e l l u n g e n in einem w e i t e n R a h men, u n d die D o t i e r u n g der R ü c k l a g e n eingeschlossen w a r e n . In d e r A k t i e n r e c h t s r e f o r m d e b a t t e v o n 1 9 5 8 - 1 9 6 5 hatte das B i l a n z f e s t stellungsrecht eine z e n t r a l e P o s i t i o n : S o e r w ä h n t d e r B u n d e s j u s t i z m i n i ster 1 9 5 8 das B i l a n z f e s t s t e l l u n g s r e c h t u n d die Frage, w e r ü b e r die G e w i n n v e r w e n d u n g z u entscheiden haben soll, an erster Stelle 9 . Folglich sah d e r R e f e r e n t e n e n t w u r f v o r , daß die H a u p t v e r s a m m l u n g f ü r die Feststellung des Jahresabschlusses zuständig sein sollte, j e d o c h u n t e r B i n d u n g an die W e r t a n s ä t z e , die z u v o r die V e r w a l t u n g v o r g e n o m m e n hatte 1 0 m i t a u s d r ü c k l i c h e r gesetzlicher E r l a u b n i s z u r S t i l l e - R e s e r v e n B i l d u n g , w e n n die S a t z u n g dies v o r s i e h t . D e r R e g i e r u n g s e n t w u r f v o n i 9 6 0 " w o l l t e d e r H a u p t v e r s a m m l u n g den E i n f l u ß geben, „der d e r

8 Amtliche Begründung zum Gesetz der Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien vom 30.1.1937, zitiert nach Klausing, Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, 1937 (Einleitung), S. 110. 9 Vorwort zum Referentenentwurf eines Aktiengesetzes, Oktober 1958, S. VII. Ebenso die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz in ihrer Denkschrift zur Reform des Aktienrechts von 1952, dort bezeichnet die Schutzvereinigung die Rückübertragung des Bilanzfeststellungsrechts auf die Hauptversammlung „als den wesentlichsten Punkt der künftigen Neuordnung", S. 14 und S. 8. 10 Hierzu kritisch Stellungnahme der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz zum Referentenentwurf eines Aktiengesetzes, Das Wertpapier 1959, S. 122. 11 Regierungsentwurf eines Aktiengesetzes, 1960, S.94; BT-Drucks. III/1915 und IV/ 171; hierzu aus neuester Zeit Claussen, AG 1990, S. 512 ff; K r o p f f , FS Forster, S. 292 ff, die sich bei Konsens im allgemeinen in drei Einzelheiten unterschiedlich erinnern: nach Kropff aaO S. 295 ist die planmäßige Bewertung zu Anschaffungs- und Herstellungskosten - also zu festen und nicht um Stille Reserven reduzierte Werte - in § 153 Abs. 1 AktG 1965 auf ein „aus drei Grundelementen bestehendes Bewertungskonzept" des BMJ zurückzuführen, während Claussen dieses Konzept auf Kronstein/Claussen, Publizität und Gewinnverteilung im neuen Aktienrecht, S. 147 f zurückführt, wo eben dieses Bewertungskonzept nahezu wortgleich mit dem späteren Gesetzestext vorgeschlagen wurde. Auch die Publizität der a. o. Abschreibungen wurde dort erstmals vorgschlagen. - Zweite Diskrepanz ist die Erinnerung von K r o p f f , daß „das Feststellungsrecht der Hauptversammlung für die Bundesregierung kein Reformziel" war, so in FS Forster S. 292 Fn. 3. Das Gegenteil ergibt sich aus dem Vorwort des BMJ zum RefE, oben Fn. 9, und aus §§ 138, 143 Abs. 1 RefE 1958. Geßler sprach damals von dem Bilanzfeststellungsrecht als einem Urrecht der Aktionäre, BB 1961 S. 419. - Die dritte Diskrepanz ist, wann Geßler in der Aktienrechtsdebatte die „Partei der Stille-Reserve-Gegner" ergriff. Clausen, AG 1990 S. 514, meint, daß

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Eigentümerstellung der Aktionäre" entspricht, also die Zuständigkeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat einerseits und der Hauptversammlung andererseits auf dem Gebiet der Bilanzfeststellung, der Verwendung des Reingewinns und der Bildung offener und stiller Reserven neu ordnen. Der Regierungsentwurf hatte dann aber zur Feststellung die Konzeption, der Verwaltung dieses Recht der Bilanzfeststellung wieder zuzuordnen. § 160 RegE lautete: „Billigt der Aufsichtsrat den Jahresabschluß, so ist dieser festgestellt, sofern nicht Vorstand und Aufsichtsrat beschließen, die Feststellung des Jahresabschlusses der Hauptversammlung zu überlassen" 12 . Mit diesem Vorschlag war allerdings kein Beibehalt der Regelung des AktG 1937 beabsichtigt: die Aktionäre sollten einmal durch die Einführung eines Anfechtungsrechts gegenüber dem Bilanzfeststellungsbeschluß der Verwaltung, §248 Abs. 1 RegE, besser gestellt werden, sodann durch die Befugnis der Hauptversammlung zur Bildung offener Rücklagen und die damit einhergehende Erweiterung des zuvor nur formellen Gewinnverteilungsrechtes 13 . Dieses Konzept hätte zur Folge gehabt, daß die der Verwaltung zugeordnete Feststellung der Bilanz an materieller Bedeutung verliert, betriebswirtschaftlich wäre aus einer von der Verwaltung festgestellten Gewinnverwendungsbilanz eine Art von Gewinnermittlungsbilanz geworden. Auch dieses Konzept setzte sich so nicht durch. Der Deutsche Bundestag beschloß schlußendlich in §172 AktG 1965 ein Feststellungsrecht der Verwaltung mit einem Uberlassungsrecht von Vorst und AR an die HV 14 . Diese Regelung hat das BilanzrichtlinienG 1985 unbeschädigt überdauert und gilt bis heute fort. Diese Zusammenschau dieser komplizierten Entwicklung des Feststellungsrechts bei der Aktiengesellschaft stellt die Frage, ob die Ubertragung eines derart diskutierten Feststellungsrechts von der A G auf die G m b H eine glückliche Entscheidung des Gesetzgebers war. Denn was für die soviel stärker formalisierte AG schon eine kontrovers gesehene Rechtsidee ist, muß nicht für die formal weniger strenge G m b H ein rechtliches Erfordernis sein. Sollte diese Erwägung überzeugen, also das dies erst im Gesetzgebungsprozeß geschah - etwa Ende 1962 - und Geßler zuvor eine traditionellere Position innehatte, wofür der Aufsatz von Geßler BB 1961 S. 419 steht. Für Kropff, aaO S. 292 Fn. 6, war Geßler von Anbeginn ein Gegner der Stille-Reserve-Politik, weil die Bewertungs- „Regelungen des Referenten-Entwurfs und ihre Begründung Geßlers Zustimmung" hatten. Dieser RefE erlaubte aber gerade die Stille-Reserve-Politik durch ihre erstmalige Benennung im Gesetz, wenngleich ein entsprechender Satzungsvorbehalt gefordert wurde. 12 Ein weiterer Fall der Feststellung der Bilanz durch die Hauptversammlung war, daß der Aufsichtsrat den vom Vorstand aufgestellten Jahresabschluß nicht billigt, § 161 Abs. 1 RegE. 13 Wegen Einzelheiten: Entwurf eines Aktiengesetzes, 1960, aaO Fn. 11, S.207. 14 Ausführlich m. w. N . Claussen/Korth, Kölner Kommentar zum AktG, 2. Aufl., § 172 Rdn. 6 und § 173 Rdn. 2 ff.

Feststellungsrecht des Jahresabschlusses bei der G m b H

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Feststellungserfordernis für die G m b H keine geglückte Idee des Gesetzgebers sein, fragt sich, wie man Negativfolgen aus der Gesetzeslage für die Rechtsform G m b H durch teleologische Reduzierungen abfangen kann. II. Wertungen des Feststellungsrechts In Ergänzung zu den in der Literatur dargestellten Funktionen und Rechtswirkungen des Feststellungsrechts 15 sollen im folgenden einige, eher Zweifel an diesem Rechtsinstitut erregende Gesichtspunkte vorgetragen werden: 1. Das Feststellungsrecht in den Händen der Verwaltung, wie dies sowohl für die A G als auch für die GmbH 1 6 rechtlich zulässig ist, erlaubt eben dieser Verwaltung, die Richtigkeit ihrer eigenen Arbeit, nämlich der Aufstellung eines Jahresabschlusses, durch eben dieses gleiche Gremium zu diskutieren. Man denkt unwillkürlich an einen Rechtsstreit in der 2. Instanz, bei dem die Richter der 1. Instanz an der Urteilsfindung mitwirken. 2. Der oben geschilderte Kampf um die Zuständigkeit, wer den Jahresabschluß feststellen darf, nährt die Empfindung, als ob es sich hierbei um ein hehres Gut unserer Rechtsordnung oder um bedeutsame Wirtschaftsinteressen gehandelt hätte - wenn man die anzunehmende Adäquanz zwischen Kraftaufwand und angestrebter Zielvorstellung unterstellt. Wenn dem so wäre, müßte es in anderen Rechtsordnungen ähnliche Debatten um ein Feststellungsrecht geben. Aber soweit ersichtlich, kennen fremde Gesellschaftsrechte keine derart formale Inkraftsetzung eines längst in der Welt befindlichen Abschlusses. In der 4. EG-Richtlinie von 1978, die den Jahresabschluß in der E G ausführlich regelt, kommt die Feststellung nicht vor. Im deutschen Gesellschaftsrecht hingegen ist das Feststellungsrecht auf dem Vormarsch: auch bei Personengesellschaften setzt sich die Trennung von Aufstellung und Feststellung des Jahresabschlusses durch 17 . 15 Küting/Weher/Bohl, Handbuch der Rechnungslegung, 3. Aufl., § 4 2 a R d n . 4 2 f f ; Scholz/Schmidt, G m b H - K o m m . , § 4 6 R d n . 4 8 ; Lutter/Hommelhoff, GmbH-Komm., 12. Aufl., § 4 2 a R d n . 2 7 f f ; Hommelhoff, Z G R 86 S. 420 ff; weitere Nachweise Claussen/ Korth, Kölner K o m m . z. A k t G , 2. Aufl., vor §172 und bei Hommelhoff/Priester, ZGR 1986, S. 473 f. " M . w . N . Hommelhoff/Priester, Z G R 1986, S.477; Scholz/Crezelius, GmbHKomra., 7. Aufl., § 4 2 a Rdn. 35 unter Hinweis auf die Unmöglichkeit der Kontrolle bei Identität von Aufstellenden und Feststellenden. 17 B G H Z 76, S. 342; Baumbach/Duden/Hopt, H G B , 28. Aufl., §116 Rdn. 1 C ; nach Weif Müller, FS Q u a c k , S. 360 muß eine Billigung des von den geschäftsführenden Gesellschaftern aufgestellten Jahresabschlusses, also eine Feststellung erfolgen. Ähnlich

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3. Die dritte Empfindung gilt der GmbH als der im Vergleich zur A G jüngeren Rechtsform, die sich von der A G u. a. dadurch unterscheidet, daß sie die weniger formalistisch geordnete Rechtsform ist und bei ihr das personelle Element stärker ausgeprägt sein sollte 18 . Die so erleichterte Rechtsform GmbH erbt also von der „großen Schwester A G " das stark im Formellen angesiedelte Feststellungsrecht mit der dargestellten komplexen Geschichte und seinen differenzierten Hintergründen. 4. Nach §264 Abs. I HGB obliegt es dem gesetzlichen Vertreter einer Kapitalgesellschaft, den Jahresabschluß aufzustellen und ggf. vom Abschlußprüfer prüfen zu lassen, §316 HGB. Danach wird der Jahresabschluß festgestellt, und zwar bei der AG nach § 172 AktG und bei der GmbH nach § 4 2 a Abs. 2 GmbHG. Bis zu dieser Feststellung sind die aufgestellten Jahresabschlüsse nur Jahresabschlußentwürfe, die jederzeit geändert werden können 19 , also Dokumente ohne rechtlichen Gehalt. Erst die Feststellung macht aus den Entwürfen Jahresabschlüsse, nämlich verbindliche Aussagen über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft. Die wichtige Arbeit der Aufstellung des Jahresabschlusses durch Vorstand oder Geschäftsführer ist nach diesem Konzept nur ein intern wirkender Vorgang. Dieses Konzept macht einen lebensfremden Eindruck, was an zwei Beispielen demonstriert werden soll: Zum einen ist es die Konsequenz dieses Konzepts vom Jahresabschlußentwurf bis zum Zeitpunkt der Feststellung, daß es einer kleinen GmbH gem. § 4 2 a Abs. 2 GmbHG gesetzlich erlaubt ist, 11 Monate „ohne Jahresabschluß" zu leben 20 . Denn die Fristsetzungen für das Werden eines GmbH-Abschlusses folgen aus der Veröffentlichungsfrist und für die kleine GmbH ist diese Frist auf 12 Monate bemessen, § 326 Abs.l Nr. 1 HGB. Erst kurz zuvor braucht die Feststellung zu geschehen - also hat die kleine GmbH 11 Monate keinen Jahresabschluß, was dessen Sinn als einem zeitnahen Leitungs- und Informationsinstrument widerspricht. Auch dürfte diese gesetzliche Regelung nicht mit § 18 KWG übereinstimmen. Also: eine kreditbedürftige kleine GmbH muß eine kreditgebende Bank rechtzeitiger informieren, als sie einen festge-

Priester, FS Quack, S. 379, 380 m. w. N. Ein solcher Zwang zur Feststellung ist bei Personengesellschaften aus dem Gesetz und der Rechtsprechung nicht zu entnehmen, jedenfalls noch nicht. Noch ist das Feststellungsrecht in die Autonomie des Gesellschaftervertrages gestellt; zust. Ischebeck/Küting/Weber, Handbuch der Rechnungslegung, 3. Aufl., 5. 2363. 18 Kühler, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., S. 225 ff. 19 BGH DB 1985, S.567; Claussen/Korth, Kölner Kommentar zum AktG, 2. Aufl., §172 Rdn.4; dies., §245 HGB Rdn.4; Baumbach/Hueck, §172 AktG Rdn.2; Hommelhoff/Priester, ZGR 1986, S.474 sagen, daß die Aufstellung des Jahresabschlusses „seine Grenzen absteckt, erst mit der Feststellung erhält er seine abschließende Gestalt". 20 Details bei Küting/Weber/Bohl, aaO (Fn. 15) § 4 2 a GmbHG Rdn.49.

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stellten Abschluß von Gesetzes wegen vorzulegen hat. Die Praxis hilft sich denn auch in der Weise, daß die beiden angesprochenen Informationsfunktionen - als Leitungsinstrument für die Gesellschafter und als Nachweis der Kreditwürdigkeit für die Kreditgeber - mit dem sog. Jahresabschlußentwurf - also dem noch nicht festgestellten Jahresabschluß - erfüllt werden. Zum anderen: Wenn die TH-Anstalt ein Unternehmen verkauft, ist es nicht zwingend, daß die DM-Eröffnungsbilanz und/oder der Abschluß 1991 von ihr festgestellt wurde. Der neue Eigentümer kann auch aufgrund einer nicht festgestellten Eröffnungsbilanz kaufen. Das Feststellungsrecht steht dann dem neuen Eigentümer bei Vorlage des Abschlusses zu. Die TH-Anstalt nimmt nach dem Unternehmensverkauf - auch bei nur obligatorischem Verkauf - dieses Recht nicht mehr wahr. Es besteht kein einklagbarer Anspruch des Unternehmenskäufers gegen die verkaufende TH-Anstalt auf Feststellung. Diese beiden Beispiele relativieren den Feststellungsvorgang und stellen die Frage nach dem Sinn dieser Einrichtung. 5. Es ist Allgemeingut, daß der rechtliche Inhalt des Feststellungsbeschlusses nicht sehr bedeutend ist: der Beschluß der Feststellung macht den Jahresabschluß nur in Grenzen endgültig. Die Feststellung anerkennt zwar die Richtigkeit des Abschlusses und macht ihn für die Gesellschaft und Gesellschafter verbindlich 21 , auch macht sie die Tantiemeansprüche von Vorst, und AufsR unentziehbar. Aber nachträgliche Bilanzänderungen durch die Geschäftsführung bleiben auch nach der Feststellung möglich, gar erforderlich, was der Beschlußwirkung viel von ihrer Verläßlichkeit und Bedeutung nimmt 2 2 . - Andererseits ist der Einfluß der zur Feststellung berufenen Gesellschafterversammlung auf das Bild des Jahresabschlusses limitiert 23 . Auch bei der G m b H ist die Zuständigkeit der Feststellung durch Gesellschaftervertrag gestaltbar, kann also der Gesellschafterversammlung entzogen und anderen Organen zugewiesen, etwa den Geschäftsführern, die den Jahresabschluß zuvor aufstellten 24 . Die Differenzierung zwischen Aufstellung und Feststellung des Jahresabschlusses verliert also an Uberzeugungskraft, wie

H . M . ; für alle Ulmer, FS Hefermehl, S.207. Für die GmbH Kating/Weber/Bohl, aaO (Fn. 15), § 4 2 a Rdn.45; für die AG Adler/ Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 5. Aufl., §172 Rdn. 13 ff; Claussen/Korth, Kölner Komm, zum AktG, 2.. Aufl., §172 Rdn.20 mit der Fragestellung, ob die Anderungszulässigkeit frei ist oder ob sie an sachliche Vorgaben gebunden sein sollte. 23 Einzelheiten bei Küting/Weber/Bohl, aaO (Fn. 15), § 4 2 a Rdn. 58 ff; Lutterl Hommelhoff, aaO (Fn. 15), § 4 2 a Rdn. 43. 24 Hachenburg/Schilling, GmbH-Gesetz, Großkommentar, 7. Aufl., 1975, §46 Rdn. 5; Scholz/Schmidt, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 7. Aufl. 1986, §46 Rdn. 11. 21

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oben II.l bereits angesprochen. Was eigentlich als unabänderlicher Inhalt des Feststellungsrechts bleibt, ist, daß eben diese Feststellung die Voraussetzung für die Entscheidung der Gesellschafter über die Ergebnisverwendung ist. Eine Gewinnausschüttung ist ohne festgestellten Jahresabschluß nicht möglich. Aber auch dies ist aus pragmatischer Sicht für die GmbH kein sehr bedeutendes Regelungsfeld der Feststellung, weil es einmal bei der GmbH die Möglichkeit der Erzwingung des Gewinnverwendungsbeschlusses gibt25, und weil zur Höhe der Ausschüttung cum grano salis auch nach der Neufassung von § 29 GmbHG nach wie vor die Vollausschüttung als Regel gilt, sofern nicht Gesetz, Gesellschaftsvertrag oder Gesellschafterbeschluß etwas anderes sagen. Also selbst bei der wichtigen Funktion der Feststellung, Voraussetzung für den Gewinnverteilungsbeschluß zu sein, fehlt es dem Feststellungsrecht an der letzten Durchschlagkraft. Diese Auflistung macht klar, daß der Gesetzgeber das Feststellungsrecht recht behutsam als eine zu relativierende Rechtssinstitution ausgestaltet hat, wohl deshalb, damit es der Praxis nicht zu einer Bürde wird. 6. Auch aus der Aussage, der Feststellungsakt sei „Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Pflicht zur Rechenschaftslegung" 26 , läßt sich Konkretes für die Bedeutung der Feststellung nicht ableiten. Denn der BGH sieht in dem Feststellungsbeschluß einen zivilrechtlichen Vertrag 27 . Sodann ist strittig, was Rechnungslegungsrecht bei GmbH und AG, wie im HGB vorgegeben, mit öffentlichem Recht zu tun hat28; zum anderen ist zu fragen, warum gerade der letzte Akt in der Entstehung eines Jahresabschlusses derart öffentlich-rechtlich sein soll. 7. Betriebswirtschaftlich wird in der Feststellung des Jahresabschlusses die Beendigung des Berichtsjahres in der Rechnungslegung gesehen. Zugleich wird die bilanzielle Grundlage für die Fortführung der Geschäfte im neuen Geschäftsjahr durch die Übernahme der Schlußsalden als Saldovorträge geschaffen29. Für diesen buchhalterischen Vorgang bedarf es aber des formellen Feststellungsbeschlusses nicht. Vielmehr folgt die Tatsache, daß die Schlußsalden des abgelaufenen Geschäftsjahres die Anfangssalden des neuen Jahres sein müssen, aus den GoB und dem Grundsatz der formellen Bilanzidentität in §252 Abs. 1 Nr. 1 HGB, ohne Rücksicht darauf, in welcher Rechtsform bilanziert wird und ob es eine Feststellung gibt oder nicht. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, G m b H G , 15. Aufl., § 4 2 a R d n . 4 1 . So Weif Müller, FS Quack, S. 360, der aber die vielen Gründe, die gegen einen öffentlich-rechtlichen Charakter der Rechnungslegungspflicht sprechen, nicht behandelt. 27 B G H Z 76, S. 342. 28 Claussen/Korth, aaO (Fn.22), § 2 4 2 H G B Rdn.5. 29 Brönner, Großkommentar z. A k t G , Vorb. § 172 Rdn. 1. 25

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8. Zu dieser Hinterfragung des Feststellungsrechts gehört auch dessen Schnittfeld mit anderen, den Jahresabschluß regelnden Vorschriften, z . B . mit dem Gewinnverwendungsbeschluß. Bei der G m b H sind Feststellungs- und Gewinnverwendungsbeschluß in § 4 2 a Abs. 2 G m b H G gemeinsam geregelt. Beide Beschlüsse werden in der Praxis auch in der gleichen Gesellschafterversammlung, nämlich zeitlich hintereinander gefaßt, wenn es denn nach dem Modell des Gesetzgebers in der Gesellschaftversammlung abläuft, was zumal bei kleinen und mittleren Gesellschaften m.b.H. nicht unterstellt werden sollte 30 . Denn diese doppelte Befassung mit dem Jahresabschluß verstehen viele Gesellschafter einer G m b H nicht, wenn sie erstmals mit solcher Beschlußfassung befaßt sind. - Ahnliches gilt für die Rechenschaftspflicht der Geschäftsführer ihren Gesellschaftern gegenüber, nämlich den Jahresabschluß vorzulegen, wie dies die § § 3 2 5 - 3 2 8 H G B und § 5 1 a G m b H G regeln, ohne daß in diesen Regeln die Feststellung erwähnt sei. Der Gesetzgeber meidet also jede Uberbetonung des Feststellungsrechts. Eine Verbindung zwischen Gesellschafterinformation und Feststellung stellt zwar die Vorlagepflicht nach § 42 a Abs. 1 S. 1 G m b H G her, aber wenn die Bilanzfeststellung den Geschäftsführern oder einem AR 3 1 und nicht der Gesellschafterversammlung zusteht, dann ist dieser veränderten Zuständigkeit folgend der A R alleiniger Empfänger des Jahresabschlusses nach § 4 2 a Abs. 1 G m b H G . Dies hat die Unlogik zur Folge, daß der von der Feststellung ausgeschlossene Gesellschafter nach § 4 2 a G m b H G keinen Jahresabschluß vorgelegt bekommt, aber das Büchereinsichtsrecht aus § 5 1 a G m b H G hat - eine Unlogik, die aber nichts mit dem Feststellungsrecht zu tun hat.

9. Ein wichtiger Einwand der in der Praxis Stehenden gegen deutsche Jahresabschlüsse ist, daß sie zu spät die Adressaten erreichen - ein Problem, das Semler, unseren Jubilar, Zeit seines Lebens, das er in den Dienst der Verbesserung der deutschen Jahresabschlüsse stellte, umgetrieben hat und weshalb diese Ausführungen einen intensiven persönlichen Bezug haben. Diese Langwierigkeit des Werdens eines deutschen Jahresabschlusses hat mit seiner komplexen Natur und auch mit der vielfachen Befassung durch Gremien zu tun 32 , was beides den Jahresabschluß zum „Ding an sich" werden läßt 33 . Auch der Gesetzgber sah dieses Problem der Langwierigkeit des Werdens eines Jahresabschlusses und

3 0 D a die Praxis diese feinsinnigen Unterschiede zwischen Feststellungs- und Gewinnverwendungsbeschluß nicht so ernst nimmt, schlug die Wirtschaftsprüferkammer in der GmbH-Reformdebatte 1970 vor, beide Beschlüsse zu vereinigen, Wpg. 1970, S. 161.

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Lutter/Hommelhoff, G m b H - K o m m . 13. Aufl., § 4 2 a Rdn. 10. Claussen/Korth, aaO (Fn. 14), § 1 7 2 Rdn. 5. Lutter, IdW-Fachtagung 1991, S . 4 3 2 .

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erlaubt deshalb die Voraboffenlegung in §235 Abs. 1 S. 3 HGB 3 4 . Inzwischen ist die lange „Inkubationsdauer" der Jahresabschlüsse als kapitalmarktpolitisches Problem erkannt und von den drei Chemiegroßkonzernen einer überzeugenden Lösung zugeführt worden: Die Termine für die Jahresabschluß-HV wurden von Juni auf den April eines jeden Jahres vorgezogen, beginnend mit dem Jahr 1992. Wenn die Praxis solche Beschleunigungen unter Hinnahme von hohen Zinsverlusten ermöglicht, sollte dies für den Gesetzgeber ein Signal sein, ebenfalls für Beschleunigung durch Deregulierung zu sorgen. Auch ist zu hoffen, daß die SEC von diesem Publizitätsfortschritt bei den IG-Nachfolgern Kenntnis nimmt, anstatt in ihrer nicht berechtigten Kritik an deutschen Abschlüssen, die nicht „in time" vorlägen, zu beharren. Ebenso ist erwünscht, daß dieses Beispiel Schule macht: was bei den deutschen Giganten des Aktienwesens - den drei Chemiegroßgesellschaften - mit Hunderten von konsolidierungsbedürftigen Töchtern möglich ist, sollte für kleinere Organisationen eine einfache Pflichtübung sein. Denn der GmbH in § 42 a Abs. 2 GmbHG für das Entstehen eines Jahresabschlusses eingeräumte lange Vorlauf widerspricht auch dem das GmbHG beherrschenden Gläubigerschutzgedanken35. Denn diese lange Vorlagefrist ist zugleich eine Zurückhaltungsfrist des Jahresabschlusses gegenüber Gläubigern und der Öffentlichkeit. Zwar sprechen praktische Gründe für diese lange Vorlagefrist, wie das Herausschieben der Steuerzahllast, Zeit für bilanzpolitische Erwägungen, Zinseinnahmen der GmbH auf eine erst später gezahlte Dividende. Aber die Frage ist, ob der Gesetzgeber diesen Erwägungen dienlich sein sollte durch das Vorschreiben der Feststellung als formal eigenständigem Rechtsakt mit diesen langen Herstellungszeiten36. 10. Über den Rechtsgehalt des Feststellungsbeschlusses besteht Unklarheit: nach der Rechtsprechung des B G H handelt es sich bei der Feststellung des Jahresabschlusses um ein Grundlagengeschäft37, um einen Vertrag, den die Gesellschafter miteinander schließen. Andere sehen in dem Feststellungsbeschluß ein „korporationsrechtliches Rechtsgeschäft" 38 , Kritisch Claussen/Korth, aaO (Fn. 14), §325 HGB Rdn. 17. Ohne Kritik an dieser langen Frist indessen die Kommentarliteratur; z. B. Lutter/ Hommelhoff, Komm. z. GmbHG § 42 a Rdn. 27 a. In der Führung der Handelsbücher legt der Gesetzgeber strengere Maßstäbe an und schreibt die Zeitgerechtigkeit in §238 Abs. 2 HGB vor. 36 Wenngleich die Formel „In den USA gibt es keine formale Feststellung des Jahresabschlusses, aber es gibt dessen zeitgerechte Vorlage" in ihrer Griffigkeit überzogen ist. 37 BGHZ 76, 342 und 80, 357 f. 38 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 5. Aufl., §172 AktG, Rdn. 10 und 13. 34

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oder - wieder anders - sie heben auf die Adressierung des Feststellungsbeschlusses ab und sehen hierin eine empfangsbedürftige Willenserklärung 39 . Zusammenfassend ist nach alledem festzuhalten: das Feststellungsrecht hat bei der A G eine unruhige, die Konturen im Unklaren lassende Vergangenheit - wie unter I dargestellt. Der Gesetzgeber hat das Feststellungsrecht bei der G m b H nicht konzis, sondern schwach ausgeformt. Die Frage nach dem cui bono des Feststellungsrechts bei der G m b H ist nicht eindeutig zu beantworten. Sollte man wegen dieser Schwachstellen und Rechtsdefizite für eine Aufhebung des Feststellungsrechts, also für eine Streichung der Worte „über die Feststellung des Jahresabschlusses" in § 42 a Abs. 2 G m b H G plädieren? Die Antwort lautet, daß ein solches Plädoyer ungehört verhallen würde, weil der Zeitgeist derlei Deregulierungen nicht zuläßt und weil gegenwärtig eine auch noch so bescheidene Reform des GmbH-Rechts ohne EG-Hintergrund nicht im Programm des Gesetzgebers ist. Im Gegenteil sind Tendenzen erkennbar, die Feststellung auch in das Recht der Personalgesellschaften 40 zu tragen - also Expansion dieses Rechtsinstituts ist angesagt und nicht die Zurücknahme ausschließlich auf die Rechtsform A G . Also kann das Ziel nur heißen, das Feststellungsrecht bei der G m b H „leichtfüßig" teleologisch zu reduzieren, ohne legitime Rechtspositionen zu schädigen. III. Rechtsbehelfe gegen fehlerhafte Feststellungsbeschlüsse Diese Reduktion hat bei den Rechtsmitteln gegen fehlerhafte Feststellungsbeschlüsse anzusetzen. Zwischen dem fehlerhaften Beschluß und den dagegen gerichteten Rechtsbehelfen muß Adäquanz bestehen. Diese Verhältnismäßigkeit ist gestört, wenn die volle Breitseite aller rechtsstaatlichen Mittel auf das Minirecht der Feststellung angesetzt wird. Diese mehr allgemeine Begründung einer Reduktion der Rechtsbehelfe gegen einen Feststellungsbeschluß ist mit der für die Rechtsformen A G und G m b H geltenden Rechtslage abzugleichen. Es gilt folgendes: 1. Bei der A G können von der Verwaltung gefaßte fehlerhafte Beschlüsse anfechtbar oder nichtig sein. Die Anfechtung wird mit der Gestaltungsklage nach §246 AktG geltend gemacht. Die Nichtigkeit wird mit einer Feststellungsklage 41 geltend gemacht, wobei deutlich w

Claussen/Korth, aaO (Fn. 14), § 172 Rdn. 11. B G H Z 76, S. 342; vgl. Baumbach/Duden/Hopt, HGB-Komm. 27.. Aufl., §116 Rdn. 1 C ; und die oben Fn. 17 zitierten Stimmen. 41 Karsten Schmidt hebt diesen Unterschied zwischen den beiden Klagearten zwar nicht auf, aber er sieht beide gleichermaßen als Abwehr- und Gestaltungsklagen, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., S. 364. 40

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herauszustellen ist, daß sich beide Rechtsbehelfe in dem hier besprochenen Sinne nur gegen den Feststellungsbeschluß als solchen richten und nicht gegen den Jahresabschluß 42 . Im einzelnen gilt für den mangelhaften Feststellungsbeschluß bei der AG: Da das aktienrechtliche Anfechtungsrecht nach §§243 und 257 AktG nur gegen Beschlüsse der HV wirkt, ist es gegenüber Feststellungsbeschlüssen von Vorstand und Aufsichtsrat nicht einsatzfähig 43 . Stellen Vorstand und Aufsichtsrat den Jahresabschluß fest, kann die Anfechtbarkeit nur auf die allgemeinen Grundsätze von §§119, 123 BGB gestützt werden. Erfolgt die Feststellung durch die HV, kann die Anfechtung nach §257 Abs. 1 S. 2 AktG nur auf Verfahrensmängel, nicht auf inhaltliche Mängel gestützt werden. - Die Nichtigkeitsgründe von Feststellungsbeschlüssen sind für die Beschlußfassung durch die Hauptversammlung in §241 AktG, für die Beschlußfassung durch die Verwaltung in §256 Abs. 2 AktG geregelt. - Neben dem anfechtbaren und dem nichtigen Feststellungsbeschluß gibt es noch die beschlußlose Situation: Hat der AufsR am Feststellungsbeschluß überhaupt nicht mitgewirkt, sondern der Vorstand hat allein entschieden, liegt weder Nichtigkeit noch Anfechtbarkeit vor, sondern ein rechtliches Nullum, also ein Scheinbeschluß, die es in verschiedenster Façon gibt44. 2. Eine solche klare Gesetzeslage wie bei der AG gibt es bei der GmbH nicht. Das GmbHG schreibt überhaupt nichts vor, wie sich ein von mangelhaften Gesellschafterbeschlüssen betroffener Gesellschafter hiergegen wehren kann. Fehlerhafte Feststellungsbeschlüsse sind im Gesetz weder definiert noch geregelt. In Ersetzung des fehlenden Gesetzesrechtes übernehmen Rechtsprechung und Wissenschaft weitgehend das aktienrechtliche Anfechtungs- und Nichtigkeitsrecht 45 . Dies bedeutet, daß mangelhafte Feststellungsbeschlüsse bei der GmbH nur durch erfolgreiche Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage nach aktienrechtlichem Zuschnitt außer Kraft gesetzt werden können. Nach dieser herkömmlichen Sicht sind - im einzelnen - mangelhafte Feststellungsbeschlüsse bei der GmbH anfechtbar in analoger Anwendung von §257 Abs. 1 S. 1 AktG, wenn er - der Feststellungsbeschluß - nach § 243 AktG Gesetz 42 Die Verzahnung zwischen Beschlußmängeln des Feststellungsbeschlusses und dem Jahresabschluß geschieht in der Weise, daß nur ein gültiger und beständiger Feststellungsbeschluß die Inkraftsetzung des Jahresabschlusses zur Folge hat. 43 Zöllner, Kölner Kommentar zum AktG, 1. Aufl., §257 Rdn.2. 44 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., S. 719. 45 Ausschuß-Bericht des Deutschen BT zum BiRiLiG, BT-Drucks. 10/4268, S. 130-131; Geßler, FS Goerdeler, S. 131 m.w. N.; Schulze-Osterloh/Baumbach/Hueck, GmbHG, 15. Aufl., §42 a Rdn.22; Zöllner/Baumbach/Hueck, GmbHG, 15. Aufl., Anh. §47 Rdn. l f f ; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn. 2), Anh. §47 Rdn. 1; Hachenburg/Kaiser, 8. Aufl. 1991, GmbHG, Anh. § 4 7 Rdn. 3.

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oder Satzung verletzt. Der Feststellungsbeschluß ist aber nicht anfechtbar, wenn der Jahresabschluß Mängel aufweist - dies ist, wie oben bereits angesprochen, ein anderes Thema, das mit der Anfechtung eines Feststellungsbeschlusses nicht identisch ist46. Für die Nichtigkeit von Feststellungsbeschlüssen gelten nach h. M. die §§ 241 ff AktG analog, was im Umkehrschluß bedeutet, daß die allgemeinen Anfechtungs- und Nichtigkeitsvorschriften des B G B nicht gelten. 3. Noch unklarer ist die Rechtslage von fehlerhaften Feststellungsbeschlüssen bei der G m b H & Co. K G . Denn bei der Personenhandelsgesellschaft ist unklar, welche Rechtsbehelfe einem überstimmten Gesellschafter zur Bekämpfung fehlerhafter Gesellschafterbeschlüsse zur Seite stehen. Noch unsicherer ist die Rechtslage bei einem Feststellungsbeschluß, den es bei der Personenhandelsgesellschaft von Gesetzes wegen nicht gibt 47 . Dieses gesetzliche Vakuum füllt die h. M. 48 in der Weise aus, daß sie fehlerhafte Gesellschafterbeschlüsse bei Personenhandelsgesellschaften nicht dem Anfechtungsrecht - etwa dem aktienrechtlichen analog - unterstellt, sondern solche Beschlüsse als nichtig ansieht. Fehlerhafte Beschlüsse sind nach h. M. i. d. R. nichtig und nicht nur anfechtbar wie nach §§ 243 ff AktG. ,Anfechtung' heißt hier Geltendmachung der Nichtigkeit 49 . Nuanciert ist Kühler zu verstehen, für den es sich um das allgemeine Anfechtungsrecht nach §§119, 123 B G B gegen fehlerhafte Willenserklärungen handelt50. Es gibt sodann die Meinung, daß Personenhandelsgesellschaften mit kapitalistischem Anstrich zwei Rechtsbehelfe kennen sollten: das Anfechtungsrecht wird neben der Nichtigkeitserklärung gegen fehlerhafte Gesellschafterbeschlüsse für die kapitalistische KG 5 1 und die G m b H und Co. KG 5 2 auch von anderen Autoren verlangt 53 . « Wohl zust. Geßler, FS Goerdeler, S. 143; zust. Scholz/Schmidt, GmbH-Komm. 7. Aufl., §46 Rdn. 37. 47 Bei Personengesellschaften „fehlt es an gesetzlichen Vorschriften zur Feststellung des Jahresabschlusses", so Ischebeck/Kating/Weber, Handbuch der Rechnungslegung, 3. Aufl., S. 2363. 48 Alfred Hueck, Das Recht der o H G , 4. Aufl. 1971, S. 184; Schlegelberger/Geßler, HGB-Komm., 9. Aufl. 1985 Bd. II, §119 Rdn. 9; Robert Fischer, Großkomm. z. H G B , 3. Aufl. Bd.II/1 1973, §119 Anm. 17; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 153; Baumbach/Duden/Hopt, Komm. z. H G B , 28. Aufl. 1985, §119 R d n . 3 E . 49 Baumbach/Duden/Hopt, Komm. z. H G B , 28. Aufl., §119 H G B R d n . 3 E . 50 Kubier, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., S. 73. 51 Köster, Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage gegen Gesellschafterbeschlüsse bei o H G und KG, 1981, S. 115ff. 52 Thomas Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 1983, S. 288. 53 Der B G H hat diesen Gedanken nicht aufgegriffen, vgl. zuletzt B G H ZIP 1991, S. 443, wo ersichtlich von einem einheitlichen Rechtsbehelf - der Nichtigkeitserklärung ausgegangen wird.

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Kommen wir zurück zur GmbH, die nach herkömmlicher Auffassung das aktienrechtliche Nichtigkeits- und Anfechtungsrecht analog anwendet. Seit einigen Jahren ist es mit dieser Analogie nicht mehr getan, vielmehr ist in dem Nichtigkeits- und Anfechtungsrecht von fehlerhaften Gesellschafterbeschlüssen in der GmbH viel Bewegung. Neben Kritik an der oben dargestellten Analogie gibt es bedeutsame Anderungs- und Verbesserungsvorschläge zu diesem Rechtsfeld. Diese Vorschläge lassen sich aufs äußerste verkürzt - dem hier vorgegebenen Rahmen entsprechend - wie folgt charakterisieren 54 : der Analogie des aktienrechtlichen Anfechtungsrechts, §246 Abs. 1 AktG, wird die für die GmbH zu kurze und nicht sinnvolle Frist von nur einem Monat vorgehalten. Von dort ausgehend wird das aktienrechtliche Anfechtungsrecht insgesamt hinterfragt 55 : es sei falsch, daß mangelhafte Gesellschafterbeschlüsse nur mit der Anfechtungsklage beseitigt werden könnten, wenn nicht geklagt wird, sollten die Beschlüsse verbindlich sein und bleiben. Diese vom Gesetz allein zugelassene Form der Außerkraftsetzung eines Gesellschafterbeschlusses wird als ein Eingriff in die Mitgliedschaftsrechte der Gesellschafter einer GmbH gewertet, der in der Herstellung von Rechtssicherheit keine Rechtfertigung findet. Bei der Anfechtung von Gesellschafterbeschlüssen handele es sich i. d. R. um Mehrheits-Minderheitskonflikte, die nicht mit der aufwendigen Anfechtungsklage bekämpft werden sollten; sachgerechter wäre, einen mangelhaften Gesellschafterbeschluß auch, und zwar zunächst einvernehmlich und privatautonom zwischen den Gesellschaftern aufzuheben und damit die bis dahin anzunehmende Gültigkeit zu beseitigen56. Im Ergebnis führen diese Vorschläge zu drei Möglichkeiten, fehlerhafte Gesellschafterbeschlüsse anzugreifen: durch privatautonomes Aufheben des Beschlusses mit einfacher Mehrheit in der nächsten Gesellschafterversammlung ohne Beachtung der Ein-Monatsfrist des §246 Abs. 1 AktG; dann durch die Anfechtungsklage analog Aktienrecht; schließlich durch die Nichtigkeitsklage, wobei anzumerken ist, daß Nichtigkeitsfälle als Beschlußmängel schon im allgemeinen selten sind57 und speziell bei Feststellungsbeschlüssen kaum vorkommen dürften. Denn im AktG gibt es nur eine einzige Vorschrift, die sich expressis verbis mit der Feststellung und ihrer Nichtigkeit befaßt, nämlich §256 Abs. 2 AktG, wonach bei nichtordnungsmäßiger Mitwirkung von Vorstand und AR an der Feststellung, der Jahresabschluß nichtig ist - korrekter: dann ist der

54 Die Entwicklung zeichnet bis zum jüngsten Diskussionsstand nach Raiser, GmbHG, 8. Aufl. 1991, Anh. §47 Rdn.3ff. 55 Zöllner/Noack, ZGR 1989, S.525, bes. S.532. 56 Zöllner/Noack, ZGR 1989, S.535. 57 Hachenburg/Raiser, aaO (Fn.44), Anh. §47 Fn.19.

Hachenburg/

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Feststellungsbeschluß nicht erfolgt, also der Jahresabschluß in den Zustand eines Jahresabschlußentwurfs zurückversetzt 58 . Eben diese einzige Vorschrift des A k t G über die Nichtigkeit von Feststellungsbeschlüssen soll bei der G m b H nicht analog angewandt werden, weil bei der G m b H das Prinzip der Feststellung ein anderes sei, nämlich von Gesetzes wegen durch die Gesellschafterversammlung erfolgt 59 . Dann gibt es noch die Nichtigkeitsgründe des §241 A k t G , wovon in unserem Fall der Feststellungsbeschlüsse nur die N r . 1 in Betracht kommt, also die nicht ordnungsgemäße Einladung zur Gesellschafterversammlung, die über die Feststellung zu beschließen hat 60 . Zusammenfassend kann man sagen, daß bei grundsätzlicher Übernahme des Nichtigkeitsrechts des A k t G auf die G m b H dieses Nichtigkeitsrecht wegen fehlender praktischer Relevanz außerhalb der Diskussion steht, weshalb wir hier die Nichtigkeit verlassen können und uns auf die dargestellte Anfechtbarkeit der Feststellungsbeschlüsse bei der G m b H zu konzentrieren haben. Zusammenfassend ist also eine Tendenz auszumachen, mangelhafte Beschlüsse von GmbH-Gesellschafterversammungen weniger formell als im A k t G geregelt zu behandeln. Insbesondere soll die Einmonatsfrist des §246 Abs. 1 A k t G nicht für die G m b H gelten 61 . Auch wird die privatautonome Korrektur solch mangelhafter Beschlüsse zugelassen, wenn die Mängel des Gesellschafterbeschlusses in der Gesellschafterversammlung angesprochen und gerügt wurden. Schließlich soll weniger strikt zwischen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage bei der G m b H zu trennen sein. Diese erleichterte Form der Mängelabarbeitung von fehlerhaften Gesellschafterbeschlüssen dürfte aus der hier unter Abschnitt II erarbeiteten Wertung des Feststellungsbeschlusses diesem Beschluß in Sonderheit entsprechen. Der Feststellungsbeschluß der G m b H verlangt nicht nach mehr und weitergehenden Rechtsbehelfen. Es soll hier also der Vorschlag gemacht werden, den Feststellungsbeschluß von einer Verfestigung und stärkeren Durchdringung des Rechtes mangelhafter Beschlüsse freizustellen 62 . Ausgehend von dem Gedanken, daß die Intensität eines Rechtsbehelfs der Beschlußschwere entsprechen soll, und ein Feststellungsbeschluß ein Rechtsakt von minorer Bedeutung ist und etwas mit einem Liquidationsbeschluß einer G m b H oder einem

Siehe oben Abschnitt II.4. Geßler, FS Goerdeler, S. 139 m. w . N . 60 Einzelheiten Rowedder/Koppensteiner, G m b H G , 1985, § 4 7 R d n . 7 8 f f . 61 B G H G m b H R 1990, S.344, aber die 1-Monatsfrist hat noch eine Leitbildfunktion; näheres zu der Fristenfrage Hachenburg/Raiser, a a O (Fn. 43), Anh. § 4 7 Rdn. 178. 62 Zuerst, aber nur ansatzweise vorgetragen von Claussen, Z G R 1992, S. 263. 58

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Beschluß auf Einziehung von Geschäftsanteilen nicht vergleichbar ist, sollten auch die Rechtsbehelfe gegen Abschlußfeststellungsbeschlüsse bescheidener sein. Dies bedeutet, daß die Mängelrüge eines Feststellungsbeschlusses privatautonom möglich sein sollte, ohne daß es auf die Frist von einem Monat ankommt. Aber es muß verlangt werden, daß der überstimmte Gesellschafter seine Mängelrüge in der Gesellschafterversammlung bereits vorgebracht hat. Auf das Klageerfordernis ist also zu verzichten 63 . Dieser Vorschlag der Sonderbehandlung des Feststellungsbeschlusses muß sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, daß es dem Gesellschaftsrecht insgesamt möglicherweise guttäte, wenn es zu einheitlicher Institutionenbildung vordringen würde, also Einrichtungen aufweist, die für vergleichbare Rechtsformen einheitlich vorhanden und ausgestaltet sind. In diese Richtung zielt der Vorschlag, traditionell unterschiedene Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen gegen mangelhafte Gesellschafterbeschlüsse unter der Uberschrift „kassatorische Klagen" zusammenzufassen und diese kassatorischen Klagen als ein allgemeines Institut des privaten Verbandsrechts zu verstehen64, mit Geltung für alle Gesellschaftsformen unseres Privatrechts. So sollen z.B. fehlerhafte Gesellschafterbeschlüsse in Gesellschafterversammlungen, sogar von Personenhandelsgesellschaften und Vereinen, mit der Beschlußanfechtungsklage und nicht nur mit der Nichtigkeitsklage angreifbar sein. Denn die verworrene Gesetzeslage dürfe nicht dazu führen, daß mit dem Verzicht auf eine Anfechtungsklage der Unterschied zwischen der Rechtswidrigkeit eines Beschlusses und dessen Nichtigkeit verwischt werde. Wegen ihrer dogmatischen Unterschiede zwischen Anfechtung und Nichtigkeit sollten auch bei den anderen Rechtsformen unseres Gesellschaftsrechts zwei verschiedene Rechtsbehelfe zulässig sein - wie im Aktienrecht. Dies wäre also eine Ausdehnung und Verfestigung der Rechtsbehelfe gegen fehlerhafte Gesellschafterbeschlüsse und kein Konzept der Vereinfachung und kein Konzept, das Differenzierungen und Ausnahmen offen gegenübersteht. Dennoch steht der Institutionenbildungsgedanke unserem Vorschlag der Sonderbehandlung des Feststellungsbeschlusses nicht entgegen, weil die Feststellung des Jahresabschlusses kein Beschluß ist, der mit sonstigen Gesellschafterbeschlüssen eine „Institution" bildet, sondern zum Rechtsgebiet Rechnungslegungsrecht gehört und von dort seine - vom Gesellschaftsrecht abweichenden - Anwendungs- und Auslegungsmaßstäbe erhält.

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Hachenburg! Raiser, aaO (Fn.44), Anh. § 4 7 Rdn. 176. Karsten Schmidt, FS Stimpel, S. 217; den., Gesellschaftsrecht, S. 365 f f ; ders., in: Scholz/Schmidt, GmbHG, 7. Aufl. 1988, § 4 5 Rdn. 46. 64

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Rechnungslegungsrecht ist weniger methodenrechtlich, noch nach den dogmatischen Strukturen deutschen Zivilrechts zu erfassen, sondern hier gelten die europarechtlichen Vorgaben der finalen Orientierung auf das Ziel hin, nämlich ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft zu vermitteln, §264 Abs. 1 S.2 HGB - es gilt der True-and-fair-viewGedanke. Angesichts dieser besonderen und andersartigen Zielvorgabe des Gesetzgebers ist das Rechnungslegungsrecht insgesamt erst nachrangig in den gesellschaftsrechtlichen Kontext eingebunden, es kann also der Feststellungsbeschluß als letzte Etappe des Jahresabschlusses eigene Wege gehen, ohne an das Recht der anderen Beschlüsse und deren Rechtfortschreibung gebunden zu sein65. IV. Ergebnisse 1. Das Feststellungsrecht kam in das deutsche Rechnungslegungsrecht der GmbH über die Aktiengesellschaft. Im Aktienrecht hat das Feststellungsrecht seine komplexe und widersprüchliche Vergangenheit. 2. Bei der GmbH hat das Feststellungsrecht keine besondere eigene Rechts- oder Entwicklungsgeschichte; bei der GmbH folgt das Feststellungsrecht mehr oder weniger unreflektiert dem Aktienrecht, allerdings mit der Zuständikeitsumkehrung, daß die Gesellschafterversammlung von Gesetzes wegen und die Verwaltung nur bei Satzungsentscheid für den Feststellungsbeschluß zuständig ist66 und daß das Feststellungsorgan an den aufgestellten Jahresabschluß nicht gebunden ist. 3. Der Feststellungsbeschluß sollte im GmbH-Recht wegen seiner schwachen Bedeutung reflektiert, ausgestaltet, also niedriger gehängt werden. Der Feststellungsbeschluß verträgt weder nach seiner Herkunft, seiner Bedeutung und Praxisrelevanz eine ähnliche Behandlung wie die von vitalen Beschlüssen, z. B. wie von Kapitalerhöhungs- und Liquiditationsbeschlüssen. Feststellungsbeschlüsse und deren Mängel sollten in ihrer rechtlichen Bedeutung reduziert werden. 65 Für diese Zulässigkeit der Abkoppelung des Feststellungsbeschlusses von dem Beschlußanfechtungsrecht spricht auch, daß in der geschilderten Debatte über die richtige Ausformung der Rechtsmittel gegen mangelhafte Gesellschafterbeschlüsse der hier ausschließlich behandelte Feststellungsbeschluß soweit ersichtlich nicht behandelt, nicht einmal erwähnt wird, sondern als Beispiel für den Reformbedarf sowohl bei Noack, bei Zöllner/Noack und bei Kaiser ausschließlich andere, nämlich schwergewichtigere Beschlußgegenstände angeführt werden. Auch Kommentare zum G m b H G im Anhang zu § 4 7 G m b H G bringen den Feststellungsbeschluß nirgends bei ihren Ausführungen zu mangelhaften Gesellschafterbeschlüssen. 66 Schulze-Osterloh/Baumbach/Hueck, GmbHG, 15. Aufl., § 4 2 a Rdn. 1 6 f f .

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4. Für eine solcherart begründete teleologische Reduzierung sind die Rechtsbehelfe gegen fehlerhafte Feststellungsbeschlüsse in erster Linie angesprochen. Mangelhafte Feststellungsbeschlüsse sollten also privatautonom aufhebbar sein; führt dies nicht zum Ziel, soll eine - aber nur eine - Klagemöglichkeit offen sein, die indessen frei ist von der Frist des §246 Abs. 1 AktG. Der analogen Anwendung im GmbH-Recht ist der aktienrechtliche Rechtsbehelf gegen unzulässige Unterbewertung §§258-261 AktG fähig und in Sonderheit geeignet67.

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Die sogenannte Einheitsgesellschaft ein funktionsunfähiges Gebilde? HANS-JOACHIM FLECK

I. Einführung Die sog. Einheitsgesellschaft - eine G m b H & Co. K G , die alleinige Inhaberin aller Geschäftsanteile der Komplementär-GmbH ist - wurde im Schrifttum vor mehr als 20 Jahren als ideale Rechtsfigur vorgestellt und gerühmt: Sie sollte die Möglichkeit bieten, die wechselseitigen Beteiligungen so miteinander zu verklammern, daß die völlige Identität der Gesellschafter dauernd gewahrt bleibt; dabei sollten die Kommanditisten als die wirtschaftlichen Unternehmensträger den entscheidenden Einfluß auf die Unternehmensführung ausüben können. Als weiterer Vorzug wurde hervorgehoben, daß es keiner eingehenden und schwierigen gesellschaftsvertraglichen Regelungen bedürfe, um namentlich bei Erbfällen und Veräußerungsgeschäften unterschiedliche Beteiligungsverhältnisse in der K G einerseits, der G m b H andererseits zu vermeiden. Auch könnten die gegensätzlichen Beschlußanforderungen - hier regelmäßig einfache Kapitalmehrheit (§47 G m b H G ) , dort grundsätzlich Einstimmigkeit (§119 Abs. 1 H G B ) oder, bei zugelassenen Mehrheitsbeschlüssen, im Zweifel Personenmehrheit (§119 Abs. 2 H G B ) - auf diese Weise überbrückt werden 1 . Demgegenüber meldeten sich aber auch kritische Stimmen, die, vor allem wegen organisationsrechtlicher Schwierigkeiten, der Praxis empfahlen, diese „hypertrophe Rechtskonstruktion" tunlichst zu meiden 2 . Schienen die Diskussionen um die Einheitsgesellschaft in den letzten Jahren abgeflaut zu sein, so deutet eine Veröffentlichung aus jüngster Zeit 3 darauf hin, daß die Einheitsgesellschaft - die übrigens auch die Vgl. Esch, B B 91, 1129 ff m. w. N . K.Schmidt, Gesellschaftsrecht, 1991, 2.Aufl., §56 I I 3 e ; den., G m b H R 84, 272, 277; S c h o l z / K . S c h m i d t , G m b H G , 1988, 7.Aufl., Anh. §45 Anm. 58-61; ebenso früher Schilling in: Großkomm. H G B , 1970, 3. Aufl., § 161 Anm. 26 zu b): „nicht ratsam"; anders Mertens in: Hachenburg, G m b H G , 1979, 7. Aufl., §13 Anh. I Rdn. 16: „nicht unproblematisch", aber einem legitimen wirtschaftlichen Interesse entsprechend; ders., N J W 66, 1049, 1052 f. 3 Esch, aaO (Fn. 1). 1

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Finanzgerichte wiederholt beschäftigt hat4 - in der Praxis nach wie vor eine Rolle spielt und Erörterungen über ihre zweckmäßige Vertragsgestaltung unverändert aktuell sind. So gehen auch die folgenden Ausführungen auf ein Gutachten zurück, das der Verfasser unlängst in Auseinandersetzung mit namhaften Rechtslehrern zu einem praktischen Fall erstattet hat. So hofft er, das Thema als einen geeigneten Beitrag für eine Festschrift zu Ehren eines Mannes betrachten zu dürfen, der in einzigartiger Weise sein verantwortungsvolles Wirken in führenden Positionen des Wirtschaftslebens mit einer vielseitigen wissenschaftlichen Tätigkeit vor allem auch in den Bereichen des Gesellschafts- und Unternehmensrechts zu verbinden weiß. II. Zur Problematik der Einheitsgesellschaft Nachdem der Gesetzgeber durch den im Jahre 1980 eingefügten § 172 Abs. 6 Satz 1 H G B eine GmbH & Co., bei der die Geschäftsanteile der Komplementär-GmbH in der Hand der Kommanditgesellschaft selbst liegen, als mögliche Rechtsform vorausgesetzt hat, ist deren Zulässigkeit nicht mehr im Streit. Im wesentlichen geklärt ist auch die Frage, wie bei einer solchen Gestaltung die Aufbringung und Erhaltung des GmbHKapitals und damit der Gläubigerschutz sichergestellt werden kann5. Die Diskussionen konzentrieren sich jetzt um die Frage der Funktionsfähigkeit. Ist es denkbar, daß der Geschäftsführer der GmbH für diese als geschäftsführende Gesellschafterin der K G zugleich deren Stimmrecht als Gesellschafterin der GmbH ausübt? Wie verhält es sich namentlich in den Fällen des §46 Nr. 5, 6 und 8 G m b H G - Bestellung, Abberufung und Entlastung von Geschäftsführern, Maßregeln zur Prüfung und Uberwachung der Geschäftsführung, Verfolgen von Ansprüchen gegen Geschäftsführer? Dazu wird im Schrifttum die Ansicht vertreten, es sei „offensichtlich" („evident"), daß die GmbH nicht in dieser Weise - oder jedenfalls nicht bei den genannten Entscheidungen - Gesellschafterrechte bei sich selbst wahrnehmen und insbesondere nicht das Stimmrecht für ihren einzigen Gesellschafter ausüben könne6. In der Tat leuchtet es ein, 4 BFH, Urt. V. 11.4.1967, W M 67, 965; Urt. v. 9.5.1985, B F H E 144, 158 = G m b H R 86, 64. 5 Vgl. Mertens, a a O (Fn.2), §13 Anh. I, Rdn. 19 ff; Hohner in: Hachenburg, G m b H G , 1991, 8. Aufl., §33 Rdn. 82 ff. 6 So Martens in: Schlegelberger, H G B , 1973ff, 5.Aufl., §161 Rdn. 101; Scholz/ K.Schmidt, a a O (Fn.2), Anh. § 4 5 A n m . 5 9 ; ebenso Mertens, a a O (Fn.2), §13 Anh. I Rdn. 17 (anders aber in N J W 66, 1049, 1053 f); Hunscha, Die G m b H & C o . K G als Alleingesellschafterin ihrer GmbH-Komplementärin, Diss. Köln 1974, S. 44 unter Hinweis auf das Fehlen eines entsprechenden kapitalmäßigen Risikos („rechtliches Unvermögen"); Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften

Einheitsgesellschaft - ein funktionsunfähiges Gebilde?

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daß der Geschäftsführer in der Gesellschafterversammlung der G m b H diese in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin der K G nicht vertreten darf, wenn etwa zu beschließen ist, ob ihm selbst Entlastung erteilt oder er aus wichtigem Grund aus seinem Amt abberufen werden soll. Eine Lösung wird in der Literatur darin gesehen, daß in der Einheitsgesellschaft die Gesellschafterrechte der K G in der Gesellschafterversammlung der G m b H - zumindest in den Fällen des § 46 N r . 5 G m b H G - durch die Kommanditisten wahrgenommen werden „müßten", sei es als Vertreter der KG, sei es kraft eigenen Rechts. Während ursprünglich die Ansicht vorherrschte, diese Rechtslage bestehe schon nach dem Gesetz 7 , wird heute überwiegend eine entsprechende gesellschaftsvertragliche Regelung für erforderlich gehalten 8 . Dazu soll im folgenden aufgrund der Gesetzeslage wie auch im Hinblick auf eine sinnvolle Vertragsgestaltung Stellung genommen werden. III. Zur Rechtslage nach dem Gesetz 1. Geschäftsführung und Vertretung durch die

GmbH

Nach den §§ 164, 170 H G B sind in einer Kommanditgesellschaft die Kommanditisten von der Geschäftsführung und Vertretung ausgeschlossen; soweit es sich um die Vertretungsmacht handelt, ist diese Regelung unabdingbar 9 . Für eine typische G m b H & Co. bedeutet dies, daß sie zwingend durch ihre Komplementär-GmbH vertreten wird, die, wenn nichts anderes bestimmt ist, auch die Geschäfte der K G führt. Für die Einheitsgesellschaft gilt nichts anderes. §170 H G B , der generell die organschaftliche Vertretungsmacht in der K G allein der persönlich haftenden Gesellschafterin zuweist, wird nicht schon dadurch „funktionslos", daß die Kommanditisten, wie in der Einheitsgesellschaft, das wirtschaftliche Risiko tragen 10 . Auch wird die These, daß es sich hier bei

des Handelsrechts, 1970, S. 133 f, 139 f; Gonella, D B 65, 1165, 1166: „eine Willensbildung völlig unmöglich"; dagegen Mertens, NJW 66, 1049, 1053; desgl. Wiethölter, Aktuelle Probleme der G m b H & Co., 1967, S. 48 f: „falsche Argumente aus dem Arsenal des Naturalismus und Psychologismus"; Hohner in: Hachenburg, aaO (Fn. 5), § 3 3 Rdn. 92; Binz, Die G m b H & Co., 1992, 8. Aufl., § 14 II 1 Rdn. 10. 7 So Schilling in: FS Barz, 1974, S. 70 ff; wohl auch Mertens in: Hachenburg (Fn. 2), § 1 3 Anh. I Rdn. 17. « So Schilling in: Großkomm. H G B , 1987, 4. Aufl., §161 Rdn. 35; Martens aaO (Fn. 6), § 161 Rdn. 101; Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn. 2), Anh. § 45 Anm. 58 ff; Esch, BB 91, 1129, 1131; wohl auch Roth, G m b H G , 1987, 2. Aufl., § 1 Anm. 6.3. 9 B G H Z 41, 367, 369; 51, 198, 201; B G H WM 1968, 509; a.M. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, S. 257 ff. 10 So aber Hunscha aaO (Fn.6) S.41; Mertens in: Hachenburg (Fn.2), § 1 3 Anh. I Rdn. 17.

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den Angelegenheiten der GmbH um Beziehungen der Gesellschafter untereinander im Sinne des Personengesellschaftsrechts handle, für deren Regelung allein die Kommanditisten aus eigenem Recht zuständig seien", nicht dem Umstand gerecht, daß ungeachtet des engen Zusammenschlusses zu einem wirtschaftlich einheitlichen Unternehmen auch in der Einheitsgesellschaft die K G einerseits und ihre KomplementärGmbH andererseits juristisch selbständige Rechtsträger mit unterschiedlicher Struktur und unterschiedlichen Organen bleiben12. Es verstieße gegen grundlegende Strukturprinzipien des Gesellschaftsrechts, eine GmbH & Co. durch die Kommanditisten vertreten zu lassen oder diesen generell die Funktionen einer Gesellschafterversammlung der Komplementär-GmbH zuzuweisen. Das Gesetz räumt den Kommanditisten zwar gewisse materielle Befugnisse ein, wie insbesondere das Recht, aus wichtigem Grund dem persönlich haftenden Gesellschafter die Geschäftsführung gerichtlich entziehen zu lassen (§§117, 161 Abs. 2 H G B ; B G H Z 51, 198) oder ihn aus der Gesellschaft auszuschließen (§§133, 140 H G B ; B G H Z 6, 113); ihnen stehen gewisse Kontrollrechte zu (§ 166 HGB); auch bedürfen außergewöhnliche Geschäfte ihrer Zustimmung (§ 164 Satz 1 Halbs. 2 HGB). Sie haben jedoch keinerlei Organbefugnisse innerhalb der KG, geschweige denn in der Komplementär-GmbH 13 . In der GmbH sind deren Gesellschafter als das oberste Willensbildungsorgan unentbehrlich und unersetzbar. Ihre einzelnen Befugnisse können weitgehend auf andere Organe übertragen, aber nicht im Kern beseitigt werden14. In der Einheitsgesellschaft trifft dies auf die Kommanditgesellschaft als solche, nicht auf deren Mitglieder und schon gar nicht auf die Kommanditisten allein zu.

2. Zur Frage der

Funktionsfähigkeit

Es bleibt das bei den Erörterungen um die Einheitsgesellschaft heute im Vordergrund stehende Bedenken, daß ein Zusammenfallen von Gesellschafts- und Gesellschafterrechten in der Hand der GmbH die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft beeinträchtige oder gar ausschließe. Allgemein gesehen, greift dieses Bedenken nicht durch. 11 So Schilling in: FS Barz, 1974, S.72f; den. in Großkomm. HGB, 1987, 4. Aufl., §161 Rdn.35. 12 K.Schmidt, GmbHR 84, 272, 279; Mertens in: Hachenburg (Fn.2), §13 Anh. I Rdn. 17. » Vgl. Hopt, ZGR 1979, 1, 2 f. 14 Scholz /K.Schmidt aaO (Fn.2), §45 Anm.5; Hüffer in: Hachenburg, GmbHG, 1991, 8. Aufl., §45 Rdn. 15, 21 ff.

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Da die persönlich haftende Gesellschafterin hier nur einen Gesellschafter hat, nämlich die nach §§ 124, 161 H G B im Rechtsverkehr als selbständiger Rechtsträger auftretende und mit ihren einzelnen Gesellschaftern nicht identische Kommanditgesellschaft, ist die Einheitsgesellschaft im Grunde nichts anderes als eine Einmann-GmbH 1 5 , nur mit der Besonderheit, daß sie mit ihrer einzigen Gesellschafterin zu einer G m b H & Co. KG vereinigt ist, in der von Gesetzes wegen die Gesellschafterrechte der KG in der G m b H durch diese selbst, handelnd durch deren Vertretungsorgan, geschäftsführend wahrgenommen werden. Für die gewöhnliche Einmann-GmbH ist anerkannt, daß hier der einzige Gesellschafter alle Entschlüsse faßt, für die nach § 46 G m b H G die Gesellschafterversammlung zuständig ist, einschließlich der Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern 16 ; wenn dieser sich selbst zum Geschäftsführer bestellt hat, fallen das gesetzmäßige Vertretungsorgan der GmbH, deren einziger Gesellschafter und die Willensbildung in der „Gesellschafterversammlung" in einer Person zusammen. Durchgreifende Argumente, warum die Rechtslage in der Einheitsgesellschaft grundsätzlich anders zu beurteilen sein sollte, bestehen nicht 17 . Im übrigen gilt hier folgendes: a) Aus dem Zuständigkeitskatalog des §46 G m b H G können Entscheidungen über die Feststellung des Jahresabschlusses und die Ergebnisverwendung (Nr. 1) der - ihrerseits durch den Geschäftsführer vertretenen - der G m b H selbst als der gesetzmäßigen Vertreterin ihrer einzigen Gesellschafterin, der KG, überlassen bleiben. Nach herkömmlicher Auffassung ist die G m b H auch allein befugt, den Jahresabschluß der Kommanditgesellschaft festzustellen. Eine im Vordringen befindliche Auffassung geht jedoch dahin, schon von Gesetzes wegen die Feststellung (Billigung) der Bilanz - die ja im Unterschied zu ihrer Aufstellung kein Akt der Geschäftsführung ist18 - von der Zustimmung der Kommanditisten abhängig zu machen oder diesen Mitwirkungsrechte einzuräumen; dazu stehen ihnen die Kontrollrechte aus § 166 Abs. 1 H G B zu19.

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Vgl. Mertens, N J W 66, 1049: „Die E i n m a n n - G m b H & Co. K G " . B a u m b a c h / H u e c k , G m b H G , 1988, 15.Aufl., § 6 Rdn. 16 m . w . N . , auch zur Gegenmeinung. 17 So zutreffend Sndhoff, Der Gesellschaftsvertrag der G m b H & Co., 1979, 4. A u e . , S. 60; Mertens, N J W 66, 1049, 1054; Binz, aaO (Fn.6). 18 B G H Z 76, 338, 342. 19 Ulmer in: FS Hefermehl, 1976, S. 207ff; Goerdeler in: FS Kellermann, 1991, 5. 77 ff; Schilling in G r o ß k o m m . H G B , 1987, 4. Aufl., §166 Rdn. 8, §167 Rdn. 34; Martens, aaO (Fn.6), §167 R d n . 5 f f ; Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), Anh. §45 Anm. 17 m . w . N . Z u m Kontrollrecht des Kommanditisten: Binz, BB 91, 785, 786. 16

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Zusammen mit der persönlich haftenden Gesellschafterin wählen die Kommanditisten auch den Abschlußprüfer nach §6 Abs. 3 PublizitätsG 20 . Namens der G m b H als Vertreterin der einzigen Gesellschafterin entscheidet der Geschäftsführer auch über die Einforderung der restlichen Stammeinlage (Nr. 2), wenn diese - zulässigerweise - erst teilweise eingezahlt ist; dabei sprechen beachtliche Gründe dafür, daß die Kommanditisten als Gesamtschuldner für die restliche Einlage, soweit sie nicht aus freiem KG-Vermögen aufgebracht werden kann, der G m b H gegenüber unbeschränkt persönlich haften 21 . Die Rückzahlung von Nachschüssen (Nr. 3 mit §30 Abs. 2 G m b H G ) unterliegt ebenso wie deren Einforderung (§26 G m b H G ) gleichfalls dem Bestimmungsrecht der G m b H , dürfte aber in der Einheitsgesellschaft praktisch kaum in Betracht kommen. Ebenso verhält es sich mit der (internen) Zustimmung zur Bestellung von Prokuristen und Generalhandlungsbevollmächtigten (Nr. 7). In der Praxis wird sie kaum für die GmbH, sondern regelmäßig für die KG ausgesprochen werden; hier ist die G m b H als einzige persönlich haftende und geschäftsführende Gesellschafterin sowohl für die Zustimmung zur Bestellung eines Prokuristen als auch für die Bestellung selbst oder deren Widerruf (§§ 116 Abs. 3, 126, 161 Abs. 2 HGB) sowie für die Erteilung einer Generalhandlungsvollmacht zuständig. Die Einziehung von Geschäftsanteilen (Nr. 4) entfällt, wenn eine KG die einzige Gesellschafterin ist. Ebenso scheidet eine Teilung des oder der ausschließlich in der Hand der KG befindlichen Geschäftsanteile, solange die Gesellschafter an der Einheitsgesellschaft festhalten wollen, praktisch aus, da sie nur im Zusammenhang mit einer Veräußerung zulässig wäre (§17 Abs. 6 Satzl G m b H G ) und diese die enge Verzahnung von G m b H und KG lösen würde. Juristisch läßt sich freilich nicht ausschließen, daß ein alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer auf diese Weise pflichtwidrig über Geschäftsanteile verfügt 22 . Die Streitfrage, ob eine förmliche Genehmigung der Teilabtretung durch die Gesellschaft gem. §17 Abs. 1 und 2 G m b H G auch dann wirksam ist, wenn ein zustimmender Gesellschafterbeschluß nach § 46 N r . 4 G m b H G fehlt 23 , kann sich hier ebensowenig stellen wie die Frage, ob sich im Falle einer Teilveräußerung durch den Alleingesellschafter eine

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B G H Z 76, 338, 342. Schilling in: FS Barz, 1974, S.75f; ders. in: Großkomm. H G B , 1987, 4. Aufl., §161 Rdn.36; Binz, aaO (Fn.6), §14 III 2. 22 Vgl. Sudhoff, aaO (Fn. 17), S.64; a.M. Schilling in: FS Barz, 1974, S.73: Insoweit keine Verfügungsbefugnis der G m b H . 23 So B G H Z 14, 25, 31; krit. dazu Baumbach/Hueck (Fn. 16), § 17 Rdn. 10. 21

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solche Genehmigung erübrigt24; denn der Geschäftsführer vertritt im Namen der GmbH zugleich die alleinige Gesellschafterin. b) Maßregeln zur Prüfung und Überwachung der Geschäftsführung (§46 Nr. 6 GmbHG), die in einer GmbH & Co. an sich die Angelegenheiten und Belange der KG einschließen25, fallen in der Einheitsgesellschaft, wenn die GmbH nicht mehr als einen Geschäftsführer hat, ebenso fort wie in einer gewöhnlichen Einmann-GmbH, deren Gesellschafter selber die Geschäfte führt. Sind mehrere alleinvertretungsberechtigte Geschäftsführer bestellt, so ist es theoretisch denkbar, daß der eine von ihnen als (mittelbarer) Vertreter der KG Maßnahmen zur Kontrolle des anderen beschließt. Praktisch werden solche Maßnahmen aber angesichts der gleichgeordneten Stellung der beiden Organmitglieder (wenn nicht gerade einer von ihnen Kommanditist ist) kaum in Betracht kommen oder jedenfalls nicht über das hinausgehen, was von einem Geschäftsführer auch sonst im Verhältnis zu seinem Amtskollegen zu verlangen ist26. c) In engem Zusammenhang mit den in § 46 Nr. 6 GmbHG aufgeführten Kontrollrechten der Gesellschafter stehen einmal ihr Auskunfts- und Einsichtsrecht (§51 a GmbHG), zum anderen ihre umfassende Befugnis, der Geschäftsführung nicht nur Schranken aufzuerlegen (§37 Abs. 1 GmbHG), sondern ihr auch Weisungen zu erteilen27. aa) Die Informationsrechte der Gesellschafter, die durch einen aus §§46 Nr. 1, 42 a Abs. 1 GmbHG folgenden Anspruch auf Vorlage eines Jahresabschlusses mit Lagebericht ergänzt werden, gehen, wenn die GmbH nur einen Geschäftsführer hat, der in deren Namen zugleich die KG als einzige Gesellschafterin der GmbH vertritt, ins Leere. Wenn mehrere alleinvertretungsberechtigte Geschäftsführer bestellt sind, beschränken sich deren Informationsrechte und -pflichten, ähnlich wie bei den Befugnissen aus § 46 Nr. 6 GmbHG, praktisch auf das, was unter Geschäftsführern ohnehin gilt (vgl. vorstehend zu b). Allenfalls ist hier mit Rücksicht auf die Doppelfunktion - Geschäftsführung für die GmbH und (mittelbar) für die KG - an die Wahrung des Informationsrechts ebenso wie an die Informationsbereitschaft des Mitgeschäftsführers ein gesteigerter Maßstab anzulegen.

» So B G H ZIP 88, 1046 = W M 88, 1335 zu 4. 25 Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), Anh. § 4 5 Anm. 7. 2 6 B G H G m b H R 86, 302 = W M 86, 789 = ZIP 87, 1050; B F H , Beschl. v. 4 . 3 . 8 6 , G m b H R 86, 288; Fleck, G m b H R 74, 224, 225; Dreher, Z G R 1992, 22, 55, 60 f; Zöllner in: Baumbach/Hueck, G m b H G , 1988, 15. Aufl., § 3 5 Rdn. 18, § 4 3 Rdn. 17 m. w . N . 27 B G H Z 31, 258, 278; 89, 48, 52.

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Anders läge es, wenn man die Rechte aus § 51 a G m b H G - die sich bei der G m b H & Co. nach verbreiteter Ansicht auch auf die Angelegenheiten der KG beziehen 28 - nicht nur der durch die G m b H vertretenen KG selbst, sondern auch den Kommanditisten persönlich zubilligen könnte. Dem steht aber entgegen, daß diese Rechte ausschließlich den Gesellschaftern der G m b H zuerkannt sind29. Dazu gehört in der Einheitsgesellschaft nicht der einzelne Kommanditist. Dessen Informationsrecht ließe sich allenfalls aus anderen Vorschriften herleiten. So schlägt Ulmerits vor, die Auskunfts- und Rechenschaftspflicht der §§713, 666 BGB auch gegenüber der Gesamtheit der übrigen Gesellschafter (also hier der Kommanditisten) gelten zu lassen und dann zu deren Durchsetzung jedem einzelnen von ihnen die - wohl nur auf Leistung an alle gehende - actio pro socio zuzubilligen. Angesichts der Spezialregelungen des § 166 HGB, die damit unterlaufen würden, erscheint diese Lösung nicht unproblematisch 31 . Das trifft verstärkt auf die weitergehende Auffassung von Hubei?1 zu, der jedem Kommanditisten eine auf §§ 713, 666 BGB gestützte, unmittelbar auf Leistung an sich selbst gerichtete Auskunftsklage als Individualrecht einräumen möchte. Hinzu kommt, daß sich aus den §§713, 666 BGB eine Informationspflicht der Komplementär-GmbH allein gegenüber der KG herleiten ließe33 und damit, weil auf Auskunftserteilung an sich selbst gerichtet, gegenstandslos wäre. Von einem anderen Ansatz gehen die Stimmen aus, die eine mehr oder minder umfassende Informationsbefugnis der Kommanditisten über eine erweiternde Auslegung des § 166 H G B zu begründen suchen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes hat der Kommanditist nur ein eng begrenztes, auf die abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses und Prüfung seiner Richtigkeit durch Einsichtnahme in die Unterlagen gerichtetes ordentliches Kontrollrecht und daneben das außerordentliche, einen wichtigen Grund voraussetzende und nur mit richterlicher Hilfe zu verwirklichende Informationsrecht des §166 Abs. 3 HGB. Im Schrifttum wird 28

B G H NJW 89, 225, 226 = G m b H R 88, 435, 436 = EWiR § 166 H G B 1/88, 1221 mit Kurzkomm. Vossel; Hiiffer, aaO (Fn. 14), §51 a Rdn. 75; S c h o l z / K . Schmidt, aaO (Fn.2), §51 a Anm. 53 m . w . N . ; a.M. Binz, aaO (Fn. 6), § 7 17 Rdn. 83-85 und BB 91, 785, 799f, gerade auch im Hinblick auf die Einheitsgesellschaft, unter Hinweis auf eine Schweigepflicht der Komplementär-GmbH und eine zu vermeidende Bevorzugung der lediglich an der G m b H beteiligten Gesellschafter gegenüber den Nur-Kommanditisten. 29 Hüffer, aaO (Fn. 14), §51 a Rdn.76; Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), §51 a Anm. 52. 30 In MünchKomm. z. BGB, 2. Aufl. 1986, §713 Rdn. 7; desgl. Schilling in: Großkomm. H G B , 1987, 4. Aufl., § 166 Rdn. 3. 31 Insoweit zutreffend Roth, aaO (Fn. 8), §51 a Anm. 5. 32 ZGR 1982, 539 ff. 33 Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), §51 a Anm.56.

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diese Regelung mit guten Gründen als unzulänglich empfunden und deshalb ihre rechtsfortbildende Ausdehnung auf ein allgemeines Auskunfts- und Einsichtsrecht des Kommanditisten befürwortet 34 . Freilich könnte man fragen, ob für eine solche Rechtsfortbildung angesichts der bewußt eng gefaßten, sei es auch im Vergleich mit §51 a G m b H G unbefriedigenden, gesetzlichen Regelung (namentlich auch des § 1 6 6 Abs. 2 H G B ) überhaupt Raum ist 35 . Da hierfür aber in der Tat eine unabweisbare sachliche Notwendigkeit besteht, wird man dieses Bedenken letztlich nicht für durchgreifend erachten können. Eine Grenze bildet freilich das Informationsbedürfnis des Kommanditisten im Rahmen seiner Mitgliedschaft 36 . Mit dieser Einschränkung kann das in der Literatur vertretene erweiterte Auskunfts- und Einsichtsrecht des Kommanditisten gerade in der Einheitsgesellschaft ein erwünschtes Mittel sein, die Rechtsstellung der Kommanditisten gegenüber der Geschäftsleitung von Gesetzes wegen in dem angemessenen und notwendigen Umfang zu stärken. bb) Die Ausübung GmbH-rechtlicher Weisungsbefugnisse scheidet, auch wenn mehrere Geschäftsführer vorhanden seien, praktisch aus, da jeder Geschäftsführer die Weisung des anderen durch eine gegenteilige Weisung blockieren könnte. Es bleibt nach verbreiteter Auffassung, die § 1 1 6 Abs. 2 neben §164 H G B auch zugunsten der Kommanditisten gelten läßt, lediglich die (interne) Bindung der persönlich haftenden Gesellschafterin an die Zustimmung der Kommanditisten 37 , die aber strikt auf außergewöhnliche Geschäfte begrenzt ist und deshalb ein Recht auf Untersagung einfacher Geschäftsführungsmaßnahmen selbst dann nicht umfaßt, wenn sie pflichtwidrig sind38. Dabei bestimmt sich nach objektiven Kriterien, ob eine Handlung als ungewöhnlich zu qualifizieren ist 39 . 34 Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 375 ff; Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn. 2), §51 a Anm. 56; Martens, aaO (Fn. 6), §166 Rdn. 18f; Schilling in: Großkomm. HGB, 1987, 4. Aufl., §166 Rdn. 1 f; Roth, aaO (Fn. 8), §51 a Anm. 5; Goerdeler in: FS

Kellermann, 1991, S. 7 7 f ; Bim, BB 91, 785, 787f; offengelassen in B G H , Urt. v. 2 3 . 3 . 9 2 , B B 92, 1024 = W M 92, 875 = ZIP 92, 758 = E W i R § 166 H G B 1/92, 575 mit Kurzkomm.

Westermann. Vgl. dazu Schieß, G m b H R 85, 109, 110. B G H , Urt. v. 2 3 . 3 . 9 2 (wie F n . 3 4 ) . 37 R G Z 158, 302, 306ff; Schilling in: Großkomm. H G B , 1987, 4. Aufl., § 1 6 4 R d n . 2 ; K.Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn.2), § 5 3 III 2 b ; Kubier, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., § 8 II l d ; Martens, aaO ( F n . 6 ) , § 1 6 4 Rdn. 16; B a u m b a c h / D u d e n / H o p t , 1989, 28. Aufl., § 164 Anm. 1 B; a. M. Roth, aaO (Fn. 8), § 37 Anm. 2.2.3: bloßes Widerspruchsrecht nach § 1 6 4 H G B ; offengeblieben in B G H Z 65, 93, 100. 35 36

B G H Z 76, 160. Vgl. B G H Z 76, 106, 162ff; B G H L M H G B § 1 1 6 N r . l ; mißverständlich BUlow, G m b H R 82, 121, 124 F n . 2 6 unter Hinweis auf B G H W M 67 (richtig: 70) S.246, 2 4 7 f . 38

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d) Ein Beschluß, die Satzung der GmbH zu ändern (§53 GmbHG), obliegt wiederum deren Geschäftsführer als mittelbarem Vertreter der (zwingend hierfür zuständigen) einzigen Gesellschafterin40. Für eine Änderung des KG-Vertrages gilt demgegenüber nichts besonderes: Bei ihr müssen nach dem Gesetz (§119 Abs. 1 H G B ) alle Gesellschafter mitwirken - einschließlich der GmbH, vertreten durch deren Geschäftsführer, sofern dieser nicht vom Stimmrecht ausgeschlossen ist41. Die Möglichkeit, bei Personengleichheit von Kommanditisten und GmbHGesellschaftern den einstimmigen Anderungsbeschluß als Gestattung des Selbstkontrahierens durch die GmbH zu deuten42, scheidet hier aus. e) Uber die Auflösung einer GmbH beschließen nach §60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG deren Gesellschafter mit Dreiviertel-Mehrheit. Diese Befugnis ist zwingend und kann keinem anderen Organ, namentlich auch nicht den Geschäftsführern, zugewiesen werden43. Angesichts dieser gesetzlichen Konzeption mutet es auf den ersten Blick seltsam an, daß in der Einheitsgesellschaft kraft Gesetzes gerade der Geschäftsführer der GmbH für diese Entscheidung zuständig sein soll. Das ist aber eine notwendige Folge davon, daß der Geschäftsführer namens der GmbH zugleich für deren einzige, von ihr vertretene Gesellschafterin zu handeln berechtigt ist. Die Auflösung der GmbH führt zwar nicht sofort auch zur Auflösung der KG 4 4 , kann diese aber auf längere Sicht bewirken, wenn der Eintritt eines neuen persönlich haftenden Gesellschafters nicht erreichbar ist45. Wenn die Kommanditisten aber die Gesellschaft alsbald mit einem neuen Komplementär fortsetzen wollen, können sie nach § 140 H G B (einstimmig) auf Ausschließung der GmbH klagen. Anderenfalls bleibt ihnen die Auflösung der K G durch einstimmigen Beschluß gem. §119 Abs. 1 H G B (unter Mitwirkung der GmbH) oder sonst im Wege einer Klage nach § 133 HGB 4 6 . f) Besondere Probleme bereiten in der Einheitsgesellschaft die Entscheidungen nach § 46 Nr. 5 und 8 GmbHG - Bestellung, Abberufung und Entlastung von Geschäftsführern oder die Verfolgung von Ansprüchen gegen sie. 40 A. M. Schilling in: FS Barz, 1974, S. 73: Vertretung der KG durch die Kommanditisten. 41 Vgl. BGHZ 65, 93, 95 f. « BGH NJW 76, 1538. 45 Schulze/Osterloh in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 1988, 15.Aufl., §60 Rdn. 15 m. w. N. 44 BGHZ 75, 178, 181 ff. 45 Vgl. Sudhoff, aaO (Fn. 17), S.64. 46 BGHZ 75, 178, 182.

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aa) Verfügt die G m b H über mehrere allein (oder zusammen mit einem Prokuristen) vertretungsberechtigte Geschäftsführer, so kann jeder von ihnen den anderen namens der KG nach §38 Abs. 1 G m b H G abberufen und an seiner Stelle einen anderen als Geschäftsführer bestellen (und anstellen), es sei denn, daß der Widerruf der Bestellung nach der Satzung auf wichtige Gründe beschränkt (§ 38 Abs. 2 G m b H G ) und ein solcher Grund noch nicht eingetreten ist. Unter diesen Umständen hängt die ordnungsmäßige Vertretung nicht nur der G m b H , sondern auch der KG davon ab, daß die einmal bestellten Geschäftsführer von den Möglichkeiten des §46 N r . 5 G m b H G (und gegebenenfalls des §46 N r . 8 G m b H G - Bestimmung über eine Vertretung der Gesellschaft im Prozeß) mit pflichtgemäßer Sorgfalt allein aus sachlichen Gründen, also z. B. nicht bloß deshalb Gebrauch machen, um dem anderen zuvorzukommen. Rechtlich möglich ist auch die Entlastung des einen durch den anderen Geschäftsführer, wobei der eine lediglich als Vertretungsorgan der G m b H betroffen ist, der andere zugleich für die Alleingesellschafterin handelt. Praktische Bedeutung hat diese Möglichkeit kaum - abgesehen vielleicht von Fällen grober, einen Vertrauenserweis offensichtlich ausschließender Pflichtverletzung weil die Geschäftsführer aufeinander angewiesen sind. Ahnlich verhält es sich mit der Entscheidung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen den anderen Geschäftsführer nach §46 N r . 8 G m b H G . bb) Wenn nur ein Geschäftsführer vorhanden ist, besteht eine ähnliche Lage wie in der Einmann-GmbH mit einer natürlichen Person als Gesellschafter: Dieser kann sich selbst abberufen (also praktisch sein Amt niederlegen) und an seiner Stelle einen anderen Geschäftsführer ernennen. Allerdings muß hier die die Neubestellung namens der KG der Beendigung des eigenen Amtes mindestens eine „logische Sekunde" vorausgehen, da sie nur bei noch bestehender Vertretungsmacht möglich ist. Versäumt der bisherige Geschäftsführer dies oder scheidet er durch den Tod oder Ablauf seiner Amtszeit aus, ohne zuvor für einen Nachfolger gesorgt zu haben, so muß notfalls gem. §29 BGB vom Gericht ein neuer Geschäftsführer bestellt werden. Vermeiden läßt sich dies dadurch, daß bereits in der Satzung der G m b H , aufschiebend bedingt durch den Wegfall der Erstbestellten, ein weiterer Geschäftsführer bestimmt wird 47 ; ein Schwebezustand, der die Zulässigkeit der Bedingung in Frage stellen könnte, kann dadurch nicht eintreten 48 . 47

Sudhoff, aaO (Fn. 17), S.61. Vgl. Zöllner, aaO (Fn.26), §35 Rdn. 10; a.M. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 13. Aufl., 1991, § 6 Rdn.24; Scholz/Schneider, GmbHG, 1986, 7. Aufl., §6 Anm.27 gegen Winter, 6. Aufl., 1978-1983, § 6 Anm.9. 48

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cc) Schwieriger noch liegt es bei Abschluß, Änderung oder Kündigung des Anstellungsvertrages, wenn es nur einen Geschäftsführer gibt; dann ist dieser durch §181 BGB gehindert, namens der KG als Alleingeschäftsführerin mit sich selbst ein Rechtsgeschäft vorzunehmen und damit auch seine Anstellungsbedingungen zu vereinbaren. Das gilt unabhängig von der Rechtslage, die durch die fragwürdige Vorschrift des § 35 Abs. 4 G m b H G geschaffen wurde. Soll der Geschäftsführer (allgemein oder für den Einzelfall) vom Verbot des § 181 BGB befreit sein, so muß dies, wenn die G m b H Vertragspartnerin sein soll, deren Satzung bestimmen 49 . Wenn dagegen die KG die Vertragspartnerin sein soll, muß ihm grundsätzlich deren Gesellschaftsvertrag oder ein Gesellschafterbeschluß mit der zur Änderung des Gesellschaftsvertrages erforderlichen Mehrheit das Insichgeschäft gestatten 50 ; eine ausnahmsweise durch die Gesellschafterversammlung der G m b H ausgesprochene Erlaubnis 51 kommt in der Einheitsgesellschaft, wo der Geschäftsführer zugleich die einzige Gesellschafterin vertritt, nicht in Betracht. Es bleibt der Ausweg, daß der bisherige einen weiteren Geschäftsführer bestellt, der aber nicht lediglich als sein Gehilfe bei einer Umgehung des § 35 Abs. 4 G m b H G fungieren darf 52 . g) Ein besonderes Problem und ein verbreitetes Hauptargument gegen die Funktionsfähigkeit der Einheitsgesellschaft sind die Hemmnisse, die auftreten können, wenn wichtige Gründe die sofortige Abberufung des Geschäftsführers notwendig machen. aa) Ist außer dem abzuberufenden noch ein weiterer alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer verfügbar, so ist dieser zwar rechtlich imstande, die Bestellung des anderen im Namen der KG aus wichtigem Grund zu widerrufen, wogegen der andere, wie sich von selbst versteht, hierüber nach §181 BGB nicht befinden darf 53 . In der Praxis wird sich dies aber vielfach nur unter erheblichen Erschwernissen oder überhaupt nicht verwirklichen lassen. So kann der Mitgeschäftsführer sich scheuen, die Verantwortung für eine so gravierende Maßnahme gegen seinen Kollegen zu übernehmen. Es kann sich aber auch gerade umgekehrt so verhalten, daß beide Geschäftsführer versuchen werden, bei der Abberufung einander zuvorzukommen, und daß dann ein ähnlich unerfreulicher

« Vgl. Sudhoff, NJW 67, 2133, 2136 f. » BGHZ 58, 115; BGH LM HGB 109 Nr. 7 = WM 70, 249. 51 So BGH LM HGB § 109 Nr. 7 = WM 70, 249. 52 Scholz/Schneider, aaO (Fn.48), §35 Anm. 111. 53 Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), §47 Anm. 155.

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Schwebezustand eintritt, wie bei einem Streit zweier gleich hoch beteiligter Gesellschafter-Geschäftsführer54. bb) Noch schwieriger scheint es zu liegen, wenn der untragbar gewordene Geschäftsführer der einzige Organträger und nicht bereit ist, gutwillig sein Amt zur Verfügung zu stellen; dann ist niemand vorhanden, der für den Widerruf seiner Bestellung aus wichtigem Grund unmittelbar zuständig wäre. Aber gerade unter den tatsächlichen Voraussetzungen des §38 Abs. 2 GmbHG sind die Kommanditisten nicht schutzlos und insofern nicht schlechter gestellt als in einer gewöhnlichen GmbH & Co. Zwar räumt das Gesetz auch im Falle des §38 Abs. 2 GmbHG den Kommanditisten kein unmittelbares Abberufungsrecht gegenüber dem Geschäftsführer der Komplementär-GmbH ein; es wäre mit der gesellschaftsrechtlichen Struktur unvereinbar (s. vorstehend zu I U I ) . Der Gesetzgeber hat den Kommanditisten aber mit den §§117, 161 Abs. 2, 133, 140 H G B wichtige Instrumente in die Hand gegeben, die Abberufung eines untragbar gewordenen Geschäftsführers durchzusetzen. Nach §§117, 161 Abs. 2 H G B kann in der Kommanditgesellschaft einem Gesellschafter - in der GmbH & Co. also auch der Komplementär-GmbH - auf Antrag der übrigen Gesellschafter durch gerichtliche Entscheidung die Befugnis zur Geschäftsführung, mit Rücksicht auf § 170 H G B allerdings nicht auch die Vertretungsmacht55, entzogen werden. Diese Möglichkeit steht den Kommanditisten auch in der Einheitsgesellschaft offen. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen56 dürfen sie von ihr aber erst Gebrauch machen, wenn sie die Entlassung desjenigen Geschäftsführers, in dessen Person der wichtige Grund liegt, als die weniger einschneidende Maßnahme nicht durchzusetzen vermögen. Zwar können sie aus den §§117, 127, 161 Abs. 2 H G B auch im Wege der Analogie nicht das Recht herleiten, gegen den Geschäftsführer direkt auf Ausschluß von der Geschäftsführung und Vertretung zu klagen57. Denn diese Vorschriften betreffen aus guten Gründen lediglich das Rechtsverhältnis zwischen Kommanditisten und persönlich haftender Gesellschafterin und schaffen keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen zwischen ihnen und dem Vertretungsorgan der GmbH. Auf einen solchen „Durchgriff" sind die Kommanditisten aber auch nicht angewiesen. Sie können sich vielmehr darauf beschränken, der GmbH eine Klage auf Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis für den Fall anzudrohen,

Vgl. dazu B G H Z 86, 177, 181 ff. B G H Z 51, 198, 200 ff; Wiedemann, 1987, 4. Aufl., § 1 7 0 R d n . 3 . 56 B G H Z 51, 198, 203. 57 So aber Hopt, Z G R 1979, 1, 16 ff. 54

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J Z 69, 470 ff; Schilling

in: Großkomm. H G B ,

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daß sie ihren Geschäftsführer nicht unverzüglich entläßt oder, wenn sie nur diesen einen Geschäftsführer hat, daß dieser sein Amt sofort aufgibt. Wird dem nicht entsprochen, so ist nunmehr ein wichtiger Grund gegeben, der GmbH selbst durch eine Klage nach § 117 H G B , bei der alle Gesellschafter mitzuwirken verpflichtet sind58, die Geschäftsführungsbefugnis entziehen zu lassen59. Die Folge einer solchen Entscheidung wäre, daß nicht nur der eine, sondern jeder Geschäftsführer gehindert wäre, in den Angelegenheiten der K G für diese weiterhin tätig zu werden. Zwar behielte er nach außen seine Vertretungsmacht. Wollte er diese aber unberechtigt ausnutzen, könnte ihm unter Umständen eine Strafverfolgung wegen Untreue (§ 266 StGB) drohen. Dem wird sich ein Geschäftsführer in aller Regel nicht aussetzen. Angesichts dieser Rechtslage wird er daher vernünftigerweise lieber nach Bestellung eines anderen Geschäftsführers sein Amt niederlegen und es nicht erst darauf ankommen lassen, daß die GmbH selbst ihre Geschäftsführungsbefugnis verliert und sein Amt dadurch wertlos wird. Es kann allerdings auch so kommen, daß der mißliebig gewordene Geschäftsführer zwar formal sein Amt niederlegt, das von den Kommanditisten angestrebte Ziel aber zu hintertreiben versucht, indem er einen unfähigen oder ihm gefügigen neuen Geschäftsführer bestellt oder von einer Neubestellung überhaupt absieht. In diesem Fall bleibt den Kommanditisten äußerstenfalls die Möglichkeit einer gegen die GmbH gerichteten Ausschließungsklage nach § 140 H G B , die allerdings zur Auflösung der Gesellschaft führt60 und bei deren Erfolg sie, wenn sie an der Einheitsgesellschaft festhalten wollen, genötigt sind, die Gesellschaftsverhältnisse durch Gründung einer anderen GmbH und deren Aufnahme als persönlich haftende Gesellschafterin alsbald neu zu gestalten. Unter dem Gesichtspunkt des „milderen Mittels" könnte man übrigens auch daran denken, den Kommanditisten zumindest in ihrer Gesamtheit einen Anspruch gegen ihre Mitgesellschafterin, die GmbH, auf Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund einzuräumen. Im Unterschied zu der - oben verneinten - Möglichkeit einer Klage gegen den Geschäftsführer selbst ließe sich ein solcher Anspruch auf ein zwischen den Parteien bestehenden Rechtsverhältnis stützen, nämlich auf die gesellschaftliche Treuepflicht, die es der persönlich haftenden Gesellschafterin verbietet, einen für die Gesellschaft nicht mehr tragba-

B G H Z 64, 253, 257 ff. So auch Binz, aaO (Fn. 6), § 14 II 1 Rdn. 10 f. « B G H Z 51, 198, 200 f; Hopt, ZGR 1979, 1, 19, 21; Schilling in: Großkomm. HGB, 1987, 4. Aufl., §170 Rdn. 3. 58

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ren Geschäftsführer im Amt zu belassen. Das Bedenken, daß die GmbH unter Einhaltung des Wettbewerbsverbots (§112 HGB) auch anderweit geschäftlich tätig sein könnte61, scheidet bei der Einheitsgesellschaft in aller Regel aus. Ist ein Kommanditist Geschäftsführer der GmbH, so kann die mitgliedschaftliche Treuepflicht schließlich auch eine gegen ihn gerichtete Klage auf Amtsniederlegung nach Bestellung eines anderen Geschäftsführers rechtfertigen, wenn dieser Schritt im Interesse der Gesellschaft unabweisbar geboten ist62. cc) Die vorstehend aufgezeigten Möglichkeiten versagen, wo die Kommanditisten sich nicht auf einen wichtigen Grund nach §38 Abs. 2 GmbHG stützen können. Wenn hier die Bestellung zeitlich unbefristet ist, ist ihre Dauer dem Gutdünken des Geschäftsführers selbst überlassen, so daß er eine sonderrechtsähnliche Stellung genießt. Da er, anders als bei Entlassung aus wichtigem Grund, als Geschäftsführer der alleinigen Gesellschafterin über seine Bestellung selbst (mit-)entscheiden darf63, kann er sich sogar nach deren Ablauf neu bestellen, es sei denn, die Frist sei in der Satzung der GmbH festgelegt. Das mag ebenso unbefriedigend sein wie der Umstand, daß die Kommanditisten bei Vorliegen eines wichtigen Grundes auf den etwas umständlichen Weg verwiesen sind, die Entlassung durch die Drohung mit einer Klage nach §§117, 161 Abs. 2 HGB mittelbar zu erzwingen. Es sind aber nur die Folgen der für Kommanditgesellschaften allgemein geltenden gesetzlichen Regelung, die den Kommanditisten, wenn sie nicht zugleich Gesellschafter der GmbH sind, ausschließlich die auf wichtige Gründe beschränkten Rechte aus §§117, 133, 140, 161 Abs.2 HGB eröffnet, soweit es um die Geschäftsführung und Vertretung geht. dd) Besteht zwischen den Beteiligten Streit darüber, ob ein wichtiger Grund für die Entlassung des Geschäftsführers vorliegt, und muß dieser Streit zwischen den Kommanditisten und der GmbH oder (bei Vorhandensein eines zweiten Geschäftsführers, der gem. §46 Nr. 5 und 8 GmbHG zu handeln vermag und handelt) zwischen letzterer und dem betroffenen Geschäftsführer ausgetragen werden, kann es unter Umständen zu einem für die Gesellschaft oder den Geschäftsführer selbst schwer erträglichen Schwebezustand kommen, der durch eine entsprechende Anwendung des § 84 Abs. 3 Satz 4 AktG kaum zu beseitigen sein wird64. Das ist jedoch keine Besonderheit der Einheitsgesellschaft, sondern ein Problem, das im Streit um die Abberufung eines Geschäftsfüh61 62 63 M

So Hopt, ZGR 1979, 1, 11 f, 15 f. Vgl. B G H WM 70, 249 zu II 2 a, aber auch d. Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), §46 Anm. 74-76 m . w . N . Vgl. B G H Z 86, 177, 181 ff.

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rers nach §38 Abs. 2 GmbHG stets auftreten kann. Zur Abhilfe bietet sich gegebenenfalls ein Antrag auf vorläufige Regelung im Wege einstweiliger Verfügung gem. §940 ZPO an, die nicht nur zu Lasten des Abzuberufenden 65 , sondern auch zu seinen Gunsten zulässig sein dürfte 66 . IV. Vertragliche Regelungen Es wurde gezeigt, daß die Einheitsgesellschaft im großen und ganzen funktionieren kann, auch wenn es bei der Gesetzeslage verbleibt. In diesem Fall haben jedoch die Geschäftsführer eine von den Gründern in aller Regel nicht gewollte Machtfülle, wogegen den Kommanditisten die Möglichkeit unmittelbarer und wirksamer Einflußnahme auf die Unternehmensleitung, wie sie im Schrifttum gerade als Vorzug dieser Rechtsfigur herausgestellt worden ist (s. zu I), vorenthalten bleibt. Es bedarf daher vertraglicher Regelungen, wenn sichergestellt sein soll, daß die Kommanditisten als die wirtschaftlichen Unternehmensinhaber in allen wichtigen Angelegenheiten die letzte Entscheidung haben und diese auch durchsetzen können 67 . 1. Die Kommanditisten

als Gesellschafterversammlung

f

Als einfachste Lösung scheint sich zunächst anzubieten, daß den Kommanditisten in der Satzung der GmbH alle Rechte einer Gesellschafterversammlung übertragen werden 68 . Diese Lösung scheitert aber, wie bereits erwähnt (s. zu III 1), daran, daß die Gesellschafterversammlung als oberstes Organ der GmbH im ganzen unersetzbar ist und ihre Kompetenzen teilweise auf andere Organe übertragen, aber nicht „bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehöhlt" werden können 69 . Überhaupt nicht entziehbar sind für die Gesellschafterversammlung strukturändernde Grundlagenbeschlüsse wie Satzungsänderungen 70 , Auflösung 71 , Vgl. B G H Z 86, 177, 183. Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn.48), § 3 8 Rdn.35, 36; Zöllner, aaO (Fn.26), § 3 8 Rdn.35, 36; a.M. Scholz/Schneider, aaO (Fn.48), §38 A n m . 6 8 , 73. 67 Eingehende Formulierungsvorschläge finden sich bei Esch, BB 91, 1129, 1131 ff; ein Muster für einen - in einigen Punkten freilich nicht unbedenklichen - Vertragsentwurf ist auch bei Riegger, Münchener Vertragshandbuch Bd. 1 - Gesellschaftsrecht - zu III 9 abgedruckt. 68 Vgl. S c h o l z / K . S c h m i d t , aaO (Fn.2), Anh. § 4 5 A n m . 6 0 : eine „Kommanditistenversammlung" als Einheitsorgan; aber auch Anm. 61: „Bedenken"; ähnlich Sudhoff (Fn. 17), S. 62. 69 Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), §45 Anm. 10. 70 B G H Z 43, 216, 264. 71 R G Z 137, 305, 308. 65

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Einheitsgesellschaft - ein funktionsunfähiges Gebilde?

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Umwandlung und Verschmelzung, Unternehmensverträge72 oder die Einforderung (nicht die Rückzahlung) von Nachschüssen (§26 Abs. 1 GmbHG) 7 3 . 2. Die Kommanditisten

als Vertreter der KG?

Auf ein unüberwindbares gesetzliches Hindernis stößt auch der Vorschlag, nicht die Funktionen der GmbH-Gesellschafterversammlung selbst, wohl aber die Vertretung der K G als Gesellschafterin in dieser Versammlung den Kommanditisten oder einigen von ihnen zuzuweisen, was im Unterschied zu der zu 1 erörterten Regelung im Gesellschaftsvertrag der K G geschehen müßte. Auch in der Einheitsgesellschaft kann der persönlich haftenden Gesellschafterin nach §170 H G B nicht die Vertretungsmacht, sondern lediglich die Geschäftsführungsbefugnis entzogen werden (vgl. zu III 2gbb 7 4 ). 3. Bevollmächtigung

der

Kommanditisten?

Ein verbreiteter Vorschlag geht dahin, die Kommanditisten zur Ausübung des Stimmrechts in der Gesellschafterversammlung der GmbH zu bevollmächtigen, wobei die einheitliche Stimmabgabe namens der K G in deren Gesellschaftsvertrag sicherzustellen wäre75. Das ist jedoch nicht unproblematisch. Zwar kann sich hierbei das Bedenken, daß ein fehlendes Stimmrecht nicht auf Bevollmächtigte übertragen werden könne76, nicht stellen, wenn es lediglich um den (allein praktischen) Fall geht, daß eine gegen den Geschäftsführer der GmbH gerichtete Maßnahme oder dessen Entlastung beschlossen werden soll (s. zu III 2f); denn als Vollmachtgeber käme nach diesem Vorschlag nicht der jeweilige Geschäftsführer der GmbH, sondern nur die durch sie vertretene K G in

72 Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), §45 Anm. 8, §46 Anm. 178 ff; Scholz /Priester, G m b H G , 1988, 7. Aufl., §53 Anm. 60; Hüffer, aaO (Fn. 14), §45 Rdn.21. 75 R G Z 70, 326, 328ff; Scholz/Emmerich, G m b H G , 1986, 7.Aufl., §26 Anm. 14; Hüffer, wie Fn. 72; differenzierend Reuter in: Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 631, 640. 74 A . M . Schilling in: FS Barz, 1974, S.74; ders. in: Großkomm. H G B , 1987, 4. Aufl., §161 Rdn.35. 75 So K. Schmidt, G m b H R 84, 272, 279 unter Hinweis auf einen Formulierungsvorschlag von Ippen, Die G m b H & Co. K G als alleinige Inhaberin sämtlicher Geschäftsanteile ihrer GmbH-Komplementärin, Diss. Münster 1967, S. 74; ders., Gesellschaftsrecht, 1991, 2. Aufl., §56 113e; Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), §45 Anm.59; Martens, aaO (Fn.6), §161 Rdn. 101; Priester, Vertragsgestaltung bei der G m b H & Co., 1991, 2. Aufl. (RWSSkript 107), S. 114; kritisch zu einer Vollmachtlösung: Binz, aaO (Fn.6), §14 112 Rdn. 18 ff. 76 Gonella, DB 65, 1165, 1166; Bülow, G m b H R 82, 121, 123 m . w . N .

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Betracht, in deren Gesellschaftsvertrag die Bevollmächtigung zweckmäßigerweise aufzunehmen wäre77. Die Schwierigkeit liegt aber darin, daß eine solche Vollmacht den Zweck, den Kommanditisten die volle Herrschaft in der Gesellschafterversammlung der GmbH dauernd zu gewährleisten, nur dann erfüllen kann, wenn der Geschäftsführer der GmbH sie weder durch einen Widerruf noch durch eine gegenteilige Stimmrechtsausübung durchkreuzen könnte. Dem könnte nur durch die Erteilung einer unwiderruflichen Vollmacht unter Verzicht auf eigene Stimmrechtsausübung im Namen der KG begegnet werden. Das liefe aber auf einen Eingriff in die gesetzliche Vertretungsmacht der Komplementär-GmbH gem. §170 H G B (vgl. vorstehend zu 2) hinaus, der, ähnlich wie nach verbreiteter Auffassung eine entsprechende, der verbotenen Abspaltung von Mitgliedschaftsrechten gleichkommende Gestaltung des innergesellschaftlichen Stimmrechts78, unzulässig wäre79. 4. Die Kommanditisten

als

Geschäftsführer

Bei einer sehr geringen Zahl von Kommanditisten ließe sich eine volle und dauerhafte Ubereinstimmung der Geschäftsführung mit dem Willen der Kommanditisten dadurch erreichen, daß sie alle (in der Satzung der GmbH) persönlich zu Geschäftsführern bestellt werden. Dabei wäre (etwa durch eine Gesamtvertretungsregelung) sicherzustellen, daß ein Geschäftsführer nicht gegen den Willen der Mehrheit handeln kann. Auch wäre in geeigneter Weise für den Fall vorzusorgen, daß ein Geschäftsführer aus wichtigem Grund, oder weil er aus der Gesellschaft ausgeschieden ist, entlassen werden muß. Eine solche Gestaltung ist aber darum nicht zu empfehlen, weil mit ihr die als Vorzug der GmbH & Co. geltende Möglichkeit der Fremdorganschaft preisgegeben werden muß. 5. Übertragung

einzelner

Kompetenzen

Anders als eine pauschale „Entmündigung" der Gesellschafterversammlung (vorstehend zu 1) ist die Übertragung einzelner ihrer Befugnis, auch mit „verdrängender" Wirkung, statthaft, wobei lediglich ein nennenswerter Restbestand eigener Kompetenz - einschließlich der Vgl. Baltzer, GmbHR 97, 106 Fn. 86. Vgl. dazu B G H Z 3, 354 (OHG); 20, 363 (KG); 43, 261, 267 (GmbH); B G H N J W 68, 396, 397; Ulmer, aaO (Fn.30), §717 Rdn.7, 9 ff; Fischer, GmbHR 52, 113; Fleck in: FS Fischer, 1979, S. 106, 115, 129; Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn.48), § 4 7 Rdn.2, 11; Scholz / Schmidt, aaO (Fn.2), Anh. § 4 5 Anm.43, § 4 7 Anm.20, 82, 83 m . w . N . '•> Sudhoff, aaO (Fn. 17), S. 61 f; a. M. Hunscha, aaO (Fn. 6) S. 39 ff. 77 78

Einheitsgesellschaft - ein funktionsunfähiges Gebilde?

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Zuständigkeit für strukturändernde Beschlüsse (vorstehend zu 1) gewahrt bleiben muß80. a) Dafür kommen in erster Linie alle diejenigen Zuständigkeiten in Frage, die mit der Rechtsstellung und Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer zusammenhängen, also vor allem Bestellung und deren Widerruf, Entlastung (§ 46 Nr. 5 GmbHG) einschließlich der sog. Generalbereinigung81, Prüfung und Überwachung der Geschäftsführung (§46 Nr. 6 GmbHG) sowie die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Geschäftsführer und die Regelung der Prozeßvertretung (§46 Nr. 8 GmbHG). aa) Hier ist zunächst an ein direktes Bestimmungsrecht der Kommanditisten zu denken. Zwar ist es nach richtiger Auffassung unzulässig, gesetzliche Zuständigkeiten der Gesellschafterversammlung auf einen Dritten zu übertragen, sofern dieser nicht als Organ der Gesellschaft mit allen dazu gehörigen Pflichten und Verantwortlichkeiten eingesetzt ist82. Eine „Kommanditistenversammlung"83 wird man jedoch gerade in der Einheitsgesellschaft angesichts der engen Verknüpfung von GmbH und KG und der Mitverantwortung der Kommanditisten für die Geschicke des Unternehmens aufgrund ihrer Treuepflicht nicht als außenstehendes Gremium betrachten, sondern als möglichen Träger organschaftlicher Kompetenzen auch in der Komplementär-GmbH ansehen können, wenn deren Satzung ihnen diese anstelle der durch die KG verkörperten Gesellschafterstellung für bestimmte Fälle einräumt84. bb) Als eine stärker auf den Organcharakter zugeschnittene und vielfach, vor allem bei großer Kommanditistenzahl, auch zweckmäßigere Lösung bietet sich an, in der Satzung der GmbH einen für die genannten Aufgaben zuständigen Aufsichtsrat, Beirat oder Verwaltungsausschuß*'' einzusetzen, in den Kommanditisten wie auch vertrauenswürdige Außenstehende berufen werden können, wobei dafür zu sorgen ist, daß letztere nicht das Ubergewicht erlangen, und, wenn nötig, wieder abbe80 Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), §45 Anm.8ff, 10; ähnlich Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn.48), §45 Rdn.6; Zöllner, aaO (Fn.26), §46 Rdn.63; weitergehend wohl BGHZ 43, 261, 264. 81 Vgl. Hüffer, aa O (Fn.14), §46 Rdn. 72; Scholz / K. Schmidt, aaO (Fn.2), §46 Anm. 103 ff. 82 Lütter/Hommelhoff, aaO (Fn.48), §45 Rdn. 5; Scholz/K. Schmidt, aaO (Fn.2), §45 Anm. 15, §46 Anm. 72; Scholz/Schneider, aaO (Fn.48), §52 Anm. 136; Ulmer in: FS Werner, 1984, 911, 923; Fleck, ZGR 1988, 104, 121; jeweils m.w.N. 83 Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), Anh. §45 Anm.60; Priester, aaO (Fn.75), S. 114; Hesselmann/Tillmann, Handb. der GmbH & Co., 17.Aufl., Rdn.321. 84 Hopt, ZGR 1979, 1, 6f; Binz, aaO (Fn.6), §14 112 Rdn. 13; a.M. Scholz/ Schneider, aaO (Fn.48), §38 Anm.24, 25. 85 Zu diesen Begriffen vgl. Zöllner, aaO (Fn.26), §45 Rdn. 13; speziell zum Beirat: Reuter, aaO (Fn. 73), S. 631 ff.

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rufen werden können86. Bestellung und Abberufung dieses Repräsentativorgans - das ein solches der GmbH und nicht der KG ist87 - werden in der GmbH-Satzung zweckmäßigerweise den Kommanditisten überlassen, was jedenfalls in der Einheitsgesellschaft, wo die Kommanditisten nicht als „Dritte" zu betrachten sind (vorstehend zu bb), bei einem fakultativen Organ unbedenklich sein dürfte 88 . cc) Was die Prüfungs- und Überwachungskompetenzen (§46 Nr. 6 GmbHG) angeht, kann ihre Übertragung auf ein besonderes Organ nach nahezu einhelliger Auffassung grundsätzlich nicht die Letztzuständigkeit der Gesellschafterversammlung beseitigen89. Für die Einheitsgesellschaft kann dies jedoch nicht gelten, weil hier ein Vorrang der durch ihren Geschäftsführer vertretenen GmbH vor der Zuständigkeit eines von den Kommanditisten bestellten Kontrollorgans die Dinge geradezu auf den Kopf stellen hieße; der Geschäftsführer kann und darf sich nicht selbst kontrollieren 90 . dd) Ebenso verhält es sich mit dem Recht zur Abberufung eines Geschäftsführers aus wichtigem Grund, das der Gesellschafterversammlung der GmbH wohl normalerweise nicht gänzlich entzogen werden darf91. Auch hier kann eine in der Satzung festgelegte Abberufungskompetenz der Kommanditisten aus naheliegenden Gründen nicht durch eine vorrangige Zuständigkeit der GmbH und ihrer Geschäftsführer selbst überspielt werden. b) Wie schon erwähnt (zu IV1), können strukturändernde Entscheidungen der Gesellschafterversammlung der GmbH nicht genommen werden. Das wird auch für die Einheitsgesellschaft gelten müssen, wo die durch ihren Geschäftsführer handelnde GmbH die Funktionen der Gesellschafterversammlung wahrnimmt. Dem sollte dadurch abgeholfen werden, daß der Gesellschaftsvertrag der KG die Geschäftsführungsbefugnisse der GmbH im Innenverhältnis beschränkt, indem sie etwa die Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), §45 Anm. 12, 13, §46 Anm. 72, 84, 88, 119, 143. Die bei Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), Anh. §45 Anm.63 erörterte Rechtsprechung und Literatur zur Publikumsgesellschaft betreffen nur den letzteren Fall. 88 Vgl. Kaiser in: Hachenburg, GmbHG, 1991, 8. Aufl., §52 Rdn.93; Lutterl Hommelhoff, aaO (Fn.48), §52 Rdn.6, 7; Scholz/Schneider, aaO (Fn.48), §52 Anm. 133 ff; Zöllner, aaO (Fn.26), §52 Rdn.28. 8' Zöllner, aaO (Fn.26), §46 Rdn. 32; H ü f f e r , aaO (Fn. 14), §46 Rdn. 80; Lütter/ Hommelhoff, aaO, §46 Rdn. 17; Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), §46 Anm. 112; offengelassen freilich in BGH, Urt. v. 23.3.1992 (Fn. 34); a. M. Reuter, aaO (Fn. 73), S. 631, 645 f. 90 Scholz/K.Schmidt, aaO (Fn.2), §46 Anm. 119. " So Rowedder/Koppensteiner, GmbHG, 1989, 2.Aufl., §38 Rdn. 17; Scholz/ K.Schmidt, aaO (Fn.2), §46 Anm.3; Roth, aaO (Fn.8), §38 Anm.2.2.1; a.M. Zöllner, aaO (Fn.26), §38 Rdn. 12, §46 Rdn.63; Scholz/Schneider, aaO (Fn.48), §38 Anm.22. 86

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genannten Grundlagenentscheidungen an die Zustimmung der Kommanditisten bindet. Eine solche Regelung kann allerdings die äußere Rechtsmacht der Geschäftsführung, ähnlich wie entsprechende Bindungen in der Satzung der GmbH (§ 37 Abs. 2 GmbHG), nach § 170 HGB nicht beeinträchtigen. Ihre Einhaltung kann nur mittelbar über § 117 HGB erzwungen werden (vorstehend zu III 2 g). Diese Möglichkeit sollte der Gesellschaftsvertrag ausdrücklich vorsehen und dabei anstelle der gerichtlichen Entscheidung einen Gesellschafterbeschluß zulassen. c) Wie ebenfalls bereits dargelegt wurde (zu III 2 a), ist die durch ihren Geschäftsführer vertretene Komplementär-GmbH imstande, für sich selbst den Jahresabschluß festzustellen und über die Ergebnisverwendung zu beschließen (§46 Nr. 1 GmbHG). Demgegenüber haben die Kommanditisten bei der Feststellung des in der Regel weit bedeutsameren Jahresabschlusses der Kommanditgesellschaft nach verbreiteter Auffassung ein Recht auf Zustimmung oder Mitwirkung. Solche Rechte sollten vorsorglich im Gesellschaftsvertrag normiert und dazu bestimmt werden, daß die Kommanditisten die von der Geschäftsführung aufgestellte Bilanz auch ändern dürfen. Eine Ausdehnung dieser Regelung auf die Bilanz der GmbH ist möglich, hat aber in der Einheitsgesellschaft keine erhebliche Bedeutung, weil sich hier die Funktionen der GmbH auf die Leitung der KG beschränken und die dabei anfallenden Erträge und Aufwendungen gering sind. 6.

Genehmigungsvorbehalte

Allgemein empfiehlt es sich, die Geschäftsführung sowohl in Angelegenheiten der GmbH als auch vor allem der KG vertraglich im Innenverhältnis an eine Reihe von Zustimmungsvorbehalten zu binden, wie sie auch in einer gewöhnlichen GmbH sehr verbreitet sind. Sie können Zuwiderhandlungen der Geschäftsführer aufgrund der für sie unentziehbaren Vertretungsmacht zwar nicht verhindern, aber geeignete Sanktionen auslösen (wie etwa die sofortige Abberufung der in dieser Weise tätigen Geschäftsführer durch das satzungsgemäß hierfür eingesetzte Organ). Als genehmigungspflichtig kommen alle über den normalen Geschäftsverkehr hinausgehenden Handlungen in Frage, wie etwa Betriebsänderungen, -erweiterungen oder -einschränkungen, Erwerb oder Aufgabe von Zweigniederlassungen, Beteiligungen, Erwerb von Tochtergesellschaften, Unternehmensverträge und sonstige Grundlageentscheidungen (vgl. zu IV1), Erwerb, Veräußerung oder Belastung von Grundstücken, Investitionen, Wechselverbindlichkeiten oder Bürgschaften oberhalb einer bestimmten Vermögensgrenze, Erteilung oder Widerruf von Prokuren oder Handlungsvollmachten für den gesamten Geschäftsbetrieb, Dienstverträge von einem bestimmten Jahresgehalt an

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oder Versorgungszusagen. Dabei ist zweckmäßigerweise vorzuschreiben, in welchen Angelegenheiten der Zustimmungsbeschluß einer qualifizierten Mehrheit bedarf.

7.

Weisungsbefugnis

Darüber hinaus ist es angezeigt, für die Kommanditisten gegenüber der geschäftsführenden Komplementär-GmbH und damit auch deren Geschäftsführern eine allgemeine Weisungsbefugnis zu normieren. Hierfür stehen zwei Wege offen: Einmal dürfte es zulässig sein, in der Satzung der GmbH das ihren Gesellschaftern kraft Gesetzes zustehende Weisungsrecht gegen den Geschäftsführer91, das in der Einheitsgesellschaft wegen der Personengleichheit praktisch entfällt (zu III 2 c bb), in der Satzung der GmbH auf die Kommanditisten zu übertragen92, und zwar gerade auch in den Angelegenheiten der GmbH 93 . Die Kommanditisten können aber auch im KG-Vertrag die Befugnis erhalten, der Komplementär-GmbH (intern) Weisungen für die Geschäftsführung zu erteilen und sie an deren Geschäftsführer weiterzugeben. Solche Weisungen können einzelne Maßnahmen oder Unterlassungen, vor allem aber auch Richtlinien zur allgemeinen Unternehmenspolitik betreffen94.

8. Kapitalbeteiligung

und

Stimmrecht

Schließlich entspricht es einer verbreiteten und gerade in der Einheitsgesellschaft sinnvollen Regelung, der GmbH in der K G weder eine Kapitalbeteiligung95 - schon um etwaige Verfügungen über sie zu unterbinden - noch ein Stimmrecht einzuräumen; letzteres dürfte jedenfalls für Beschlüsse, die nicht in den Kernbereich eingreifen, zulässig sein96.

Hopt, ZGR 1979, 1, 6f; Fleck, ZHR 1985, 387, 404f. Lutter/Hommelhoff, aaO (Fn.48), §37 Rdn. 18; a.M. Esch, NJW 88, 1553 ff, 1559; vgl. auch BGHZ 75, 321, 326. 94 Vgl. Scholz/K. Schmidt, aaO (Fn.2), §37 Anm. 10. 95 Vgl. Riegger, aaO (Fn.67), Anm. 12 S.236f. % Baumbach/Duden/Z/opt, aaO (Fn. 37), §119 Anm.2D; Schilling in: Großkomm. HGB, 1987, 4. Aufl., § 161 Rdn. 32; Sudhoff, aaO (Fn. 17), S. 65; Binz, aaO (Rdn. 6), § 14 II 2 Rdn. 18 Fn. 37; Hesselmann/Tillmann, aaO Fn. 83 Rdn. 321; Mertens, aaO (Fn. 2), § 13 Anh. I, Rdn. 18; Huber, aaO (Fn. 6), S. 310 ff; Hueck, Das Recht der OHG, 1971, § 11 III 1 S. 169; a.M. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S.368f; einschränkend Martens, aaO (Fn.6), §119 Rdn.37; differenzierend Comes, DB 74, 2189ff, 2237ff, 2241 f; offengeblieben in BGHZ 20, 363, 368. 92 93

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9.

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Ergebnis

Die Einheitsgesellschaft ist jedenfalls unter der Voraussetzung, daß die Leitungsmacht der Kommanditisten gesellschaftsvertraglich gesichert ist, ein rechtlich geeigneter und funktionsfähiger Unternehmensträger.

Die betriebliche Altersversorgung für Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften HANS-JOACHIM FONK

I. Vorbemerkung Die meisten Aktiengesellschaften besitzen ihr „eingefahrenes" Muster für Vorstandsverträge. Steht die Bestellung eines neuen Vorstandsmitglieds bevor, wird das Vorgänger-Exemplar zur Hand genommen. Das sichert als entscheidenden Vorteil die Gleichbehandlung der Vorstandsmitglieder, jedoch nicht immer das notwendige Niveau. Ahnliches gilt für das Procedere, die Aufgabenverteilung zwischen Aufsichtsrat, Aufsichtsratsausschuß und Aufsichtsratsvorsitzendem. In der Regel bedarf es erst negativer Erfahrungen, das Muster ebenso wie das Verfahren kritisch zu prüfen und Änderungen durchzuführen. Das aber genügt nicht. Eine Uberprüfung in regelmäßigen Zeitabständen ist notwendig. Das Vorstandsmitglied andererseits sollte sich der Befristung seiner Vorstandstätigkeit und der Bedeutung formaler aktienrechtlicher Vorschriften bewußt sein. Die Befristung gibt den Fragen der Altersversorgung ein besonderes Gewicht, obwohl es nicht überall auf Verständnis stößt, solche Anliegen - vornehmlich in jungen Jahren - zu diskutieren, ganz zu schweigen von der Zuziehung eines Beraters. Die Einsicht in die Notwendigkeit sorgfältiger Prüfung, klarer und ausführlicher Formulierung des Vertrages, ist auf beiden Seiten verbesserungsbedürftig. Anzuerkennen ist, daß die Fairneß der Vertragspartner in vielen Fällen auch bei mangelhaften Verträgen zu befriedigenden Ergebnissen verhilft. Sich darauf zu verlassen, heißt jedoch, sich mit dem Schicksal der jeweils handelnden Personen zu verbinden. Dazu kann in so grundlegenden Fragen nicht geraten werden. Es reizt den Praktiker, „Aktienrecht und Aktienwirklichkeit"1 zu vergleichen, verbunden mit Hinweisen zu einem Thema, das den Jubilar in seinem ganzen Berufsleben beschäftigt hat - zugleich eine Würdigung der vor nunmehr zehn Jahren begonnenen vertrauensvollen Zusammenarbeit im Vorstand der Mercedes Aktiengesellschaft Holding. 1 So der Titel der empirischen Untersuchung deutscher Aktiengesellschaften von Vogel, 1980.

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II. Ruhegeld2 1. Rechtscharakter des Ruhegeldes Zwei Begriffe beherrschen die Diskussion: Ruhegeld als Ausfluß der Fürsorge oder Bestandteil des Entgelts, wobei sprachliche Modernisierungsversuche der „Fürsorge" gelten, bis hin zu der Bemerkung, hier handele es sich um ein „Stück häufig mißbrauchter Sozialromantik"3. Der Theorienstreit ist für Vorstandsverträge nicht sonderlich ergiebig. Das Bundesarbeitsgericht betont seit den 70er Jahren stärker den Entgeltcharakter4. Damit wird jedoch nicht die Austauschbeziehung zwischen der Arbeitsleistung einerseits und der Ruhegeldleistung andererseits angesprochen. Entgeltcharakter soll das gegenseitige Austauschverhältnis zwischen Betriebstreue und Ruhegeldleistung bezeichnen5. Der B G H sieht das Ruhegeld ebenso als eine besondere Vergütung dafür, daß die Arbeitskraft „für lange Zeit" in den Dienst des Unternehmens gestellt wird, erkennt den wirtschaftlichen Wert im beständigen „Ausharren" im Betrieb6. Die Vorstellung eines in der Gesellschaft „ausharrenden" Vorstandsmitglieds löst nicht nur sprachlich bedingte Irritationen aus. Auch wenn viele Ruhegeld-Verträge der Dauer der Vorstandstätigkeit einen das Ruhegeld begründenden oder (häufiger) die Höhe beeinflussenden Maßstab geben, kann nicht anerkannt werden, daß „Betriebstreue" generell aus Sicht der Gesellschaft das entscheidende Motiv für den Abschluß von Ruhegeldvereinbarungen mit Vorstandsmitgliedern ist. In der Entscheidung vom 7. Januar 1971 hat der B G H Entgeltcharakter immer dann angenommen und den Fürsorgecharakter geleugnet, wenn das Ruhegeld als Teil des Entgelts für versprochene Dienste frei vereinbart wird7. Auch das überzeugt nicht. Die Vorstellung vom freien

2 Der Beitrag beschränkt sich auf einzelvertragliche Direktzusagen, die Form der Altersversorgung, die in der Praxis für Vorstandsmitglieder überwiegt; vgl. Schulte, BB 1989, 659, 660. 3 Schwerdtner, Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen, 1970, S. 91. 4 Z . B . BAG BB 1980, 470, 471; ausführlich zum gegenwärtigen Diskussionsstand: Steinmeyer, Betriebliche Altersversorgung und Arbeitsverhältnis, 1991, S. 30 ff; vgl. ferner Höfer/Heiners/Wüst, BetrAVG, Bd.I, 1992, 3. Aufl., ART Rdn.41 und Blomeyer/Otto, BetrAVG, 1984, Einl. R d n . l l 4 f f . 5 Blomeyer/Otto, Fn.4, Einl. Rdn. 115; vgl. jedoch BAG BB 1990, 2410. - Paulsdorff, FS Ahrend, 1992, S. 195,203, sieht die Betriebstreue hierdurch von „der Geschäftsgrundlage zum Motiv degradiert". 6 B G H NJW 1984, 1529, 1530; für GmbH-Geschäftsführer vgl. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 1991, 13. Aufl., Anh. § 6 Rdn. 36; Scholz GmbHG/Schneider, 1986, 7. Aufl., § 3 5 Rdn. 200. 7 B G H Z 55, 274, 278; dazu ausführlich Fleck, Anm. zu LM BGB §242 (Cd) Nr. 144; Fleck, FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 197, 198 f.

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Aushandeln der Vertragsbedingungen ist selbst bei Vorstandsmitgliedern nicht immer ein Spiegelbild der Wirklichkeit. Am ehesten haben noch von außen kommende potentielle Vorstandsmitglieder, insbesondere wenn sie bereits in entsprechenden Positionen tätig waren, die Möglichkeit, ihre Bedingungen individuell auszuhandeln. Aber hier zieht die Gleichbehandlung mit den übrigen Vorstandsmitgliedern deutliche Grenzen, die auch dann nicht überschritten werden sollten, wenn auf die Gewinnung eines neuen Vorstandsmitglieds besonderer Wert gelegt wird. Das entscheidende Motiv für die Gewährung eines Ruhegeldes an ein Vorstandsmitglied ist der Wunsch, daß die das Schicksal der Gesellschaft entscheidend bestimmenden Organmitglieder, trotz der Kurzfristigkeit ihrer Bestellung, ihre ganze Kraft der Arbeit für das Unternehmen ohne materielle Sorgen widmen können, ohne Sorgen für das Alter oder den Fall der Invalidität, ohne Sorgen um die materielle Sicherstellung der Hinterbliebenen im Todesfall. Insoweit sind auch Gedanken der Fürsorge durchaus angemessen, die deshalb aus Sicht der Gesellschaft nicht uneigennützig sein müssen und durchaus Gegenstand der Diskussion über die Vertragsbedingungen sein können. Fürsorge in diesem Sinn muß kein karitatives Element enthalten, keine Zusage nach „Gutsherrenart" sein, wenn es denn eine solche je gegeben hat. Hinweise in der Literatur8, daß die Rechtsprechung dem Vorstandsmitglied insbesondere im Zusammenhang mit Versorgungsansprüchen ein Recht auf die „Treue und Fürsorge" der Gesellschaft zubillige, treffen so uneingeschränkt formuliert nicht mehr zu. Die angesprochenen Entscheidungen9 sehen in der Ruhegeldzahlung noch den Regelfall einer Fürsorgeleistung. Die „Fürsorge" aber hat, diesen Eindruck erweckt die Lektüre der Rechtsprechung, mit Erlaß des Betriebsrentengesetzes ihre Schuldigkeit getan. Nur noch ausnahmsweise werden ihre Dienste in Anspruch genommen10. Zur Begründung einer Altersversorgung hat sie ausgedient; bei der Frage, ob eine Entziehung des Ruhegeldes wegen der Verfehlungen eines Vorstandsmitglieds gerechtfertigt ist, sind Gedanken der Fürsorge hinderlich. Es sprechen viele Gründe dafür, der Altersversorgung zumindest im Zusammenhang mit Vorstandsverträgen unverändert Fürsorge- und Entgeltcharakter zuzubilligen. Das gilt für das Ruhegeld des Vorstandsmitglieds, erst recht aber für Witwen- und Waisengelder. Wenn von einem „echten juristischen Eigentor" gesprochen wird, weil sich der ursprünglich zum Schutz des Arbeitnehmers entwickelte Gedanke der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers auf dem Weg über eine korrespondie8 9 10

Z . B . Münch.Hdb.AG/Wiesner, 1988, § 2 1 Rdn. 12. Zuletzt: B G H Z 50, 378, 382 für Vorstandsmitglieder einer Genossenschaft. Vgl. B G H Z 93, 383, 388.

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rende Treuepflicht des Arbeitnehmers gegen diesen kehren könnte 11 , hat dieser Gedanke für den Vorstandsvertrag sicherlich nichts Abschreckendes. Die Gesellschaften tun gut daran, ungeachtet des Theorienstreites, Fürsorge zu praktizieren12. 2. Pensionsfälle Die Beendigung des Anstellungsvertrages mit oder nach Vollendung eines bestimmten Lebensalters und die hieran anschließende Zahlung eines lebenslangen Ruhegeldes bilden den klassischen ersten Pensionsfall. Uberwiegend gilt die Orientierung an der allgemeinen Altersgrenze 65 Jahre 13 . Wenn nicht alles täuscht, haben die Diskussionen, die Altersgrenze vorzuverlegen, auf beiden Seiten an Intensität verloren. Vorstandsbestellungen über das Lebensalter 65 hinaus sind noch die Ausnahme, deuten jedoch wohl auf eine Trendumkehr, für die nicht einmal die Neuordnung der Rentenversicherung als Indiz in Anspruch genommen werden muß. Gesellschaft und Vorstandsmitglied sind in der Entscheidung über die Festlegung der Altersgrenze frei. Aufgrund des Betriebsrentengesetzes, das auch für Vorstandsmitglieder mit nicht beherrschendem (Aktionärs-) Einfluß gilt (§ 17 Absatz 1 Satz 2 BetrAVG) 14 , stellt sich aber die Frage des nach § 7 BetrAVG insolvenzgeschützten und nach §16 BetrAVG anzupassenden Ruhegeldes. Der Schutz des Gesetzes ist auf Leistungen der Altersversorgung beschränkt. Das ist der Fall, wenn die Leistungen dazu dienen sollen, die Versorgung nach dem Ausscheiden des Berechtigten aus dem Erwerbsleben zu sichern. Das Bundesarbeitsgericht sieht Zahlungen mit Vollendung des 60. Lebensjahres als Altersversorgung im Sinne des Gesetzes, wenn der Ruhegeldvertrag dem Mitarbeiter das Recht einräumt, zu diesem Zeitpunkt eine Betriebsrente zu beanspruchen15. Der B G H hat offengelassen, wie er Fälle der vorgezogenen allgemeinen Altersgrenze entscheiden würde. Liegt die generelle Grenze bei Erreichen des 65. Lebensjahres, wird aber vorher ohne Rücksicht auf " Grunsky, JuS 1970, 19. 12 Unabhängig vom Theorienstreit sollten die Gesellschaften nicht zögern, ihren Vorstandsmitgliedern (und nicht nur diesen) den Wert der Altersversorgung, das heißt deren Kosten, deutlich zu machen. Es gehört zu den Mindestinformationen, die jährlichen Zuführungen zur Pensionsrückstellung ebenso wie den Stand der Rückstellung mitzuteilen. 13 Bleicher, Der Aufsichtsrat im Wandel, 1987, S.60. 14 Im einzelnen: Brandes, Betriebliche Altersversorgung 1989 zwischen Rentenund Steuerreform, 1989, S.89, 90 ff; für GmbH-Geschäftsführer: Baumbach/Hueck, GmbHG, 1988, 15. Aufl., § 3 5 Rdn. 106. 15 BAG DB 1987, 587, 588.

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das Lebensalter ein Ruhegeld gezahlt, fixiert der B G H den Beginn der insolvenzgeschützten Altersversorgung auf die Vollendung des 63. Lebensjahres 16 . Die starre Grenzziehung des B G H dient der Rechtssicherheit. Ergebnis und Begründung befriedigen jedoch nicht, da dem Einzelfall zu wenig Bedeutung eingeräumt wird 17 . Vertragsklauseln, wonach der Anstellungsvertrag unabhängig von der Bestellung mit Vollendung des 65. Lebensjahres (automatisch) endet, sind nicht unproblematisch. Hat das Aufsichtsrats-Plenum über Bestellung und Anstellung entschieden, steht die Rechtsgültigkeit nicht in Frage, jedoch die Zweckmäßigkeit einer solchen Vertragsbestimmung. Die Dauer der Vorstandstätigkeit sollte über den Zeitraum gesteuert werden, für den die Bestellung erfolgt, und nicht allein über die Anstellung. Anders ist die Rechtslage, wenn die Anstellungsbedingungen von einem Aufsichtsrats-Ausschuß beschlossen werden. Der B G H hat in der Entscheidung Poullain/WestLB mit aller wünschenswerten Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß die Befugnis eines vom Bestellungsorgan eingesetzten Ausschusses dort ihre Grenzen hat, „wo eine solche Regelung in die ausschließliche Bestellungs- und Abberufungszuständigkeit des übergeordneten Organs eingreift." 18 Das verbietet vertragliche Regelungen, die mit Vollendung eines bestimmten Lebensalters ohne Mitwirkung des Aufsichtsrats-Plenums der Bestellung die Grundlage entziehen. Haben Gesellschaft und Vorstandsmitglied den Wunsch, die Altersgrenze flexibel festzulegen, finden sich in Anstellungsverträgen für beide Seiten einseitige Kündigungsmöglichkeiten, zum Beispiel für den Zeitraum nach Vollendung des 60. Lebensjahres. O b und unter welchen Voraussetzungen der Gesellschaft ein ordentliches Kündigungsrecht vor Ablauf der Bestellung eingeräumt werden kann, ist umstritten 19 . Dem Vorstandsmitglied soll dagegen ein ordentliches Kündigungsrecht zugestanden werden können, und zwar mit der Möglichkeit, jederzeit - außer

" BGH WM 1981, 762, 764 = NJW 1981, 2410, 2411; BGH WM 1984, 1324, 1325. Hierzu ausführlich: Rauser/Wurzberger, DB 1985, 970ff mit Hinweisen auf den Dissens zwischen BGH und BAG hinsichtlich der Höhe des Ruhegeldes (ungekürzt oder Quotierung). - Der BGH wird mit Rücksicht auf die in der gesetzlichen Rentenversicherung in späteren Jahren vorgesehene flexible Altersgrenze - frühestens mit Vollendung des 62. Lebensjahres - seine Rechtsprechung überprüfen müssen, zumindest dann, wenn § 6 BetrAVG praktische Bedeutung beigemessen wird. 18 BGHZ 79, 38, 41. 19 Bejahend Geßler/Eckardt/Hefermehl/Kropff AktG/Hefermehl, 1973, 1974, §84 Rdn.85; einschränkend Kölner Komm. KktG/Mertens, 1989, 2. Aufl., §84 Rdn.22f; ablehnend Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 180 ff (es sei denn, daß die Kündigung an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 84 Abs. 3 AktG gebunden wird); Wiesner, Fn. 8, §21 Rdn.20; Großkomm. AktG/Meyer-Landrut, 1973, 3. Aufl., AktG, 1968, 13. Aufl., § 84 Rdn. 16; O L G Karlsruhe DB § 84 Anm. 30; Baumbach/Hueck, 1973, 1446, 1447 = BB 1973, 1088 mit Anm. Miller. 17

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zur Unzeit - zu kündigen und sein Amt niederzulegen 20 . Die Rechtsgültigkeit einer Kündigungsklausel begegnet ernsthaften Bedenken immer dann, wenn sie ohne Kenntnis des Aufsichtsratsplenums nur auf Beschlüssen eines Ausschusses beruht. Dieser darf, das ist der Grundgedanke der Poullain/WestLB-Entscheidung des BGH, das AufsichtsratsPlenum in seinen Entscheidungen über Bestellung oder Aufhebung der Bestellung nicht präjudizieren 21 . Hat das Plenum die Bestellung auf eine bestimmte Frist ausgesprochen, kann ein Ausschuß ohne Mitwirkung des Plenums weder der Gesellschaft noch dem Vorstandsmitglied ein einseitiges Kündigungsrecht einräumen 22 . Der zweite Pensionsfall ist die Beendigung des Anstellungsvertrages und Gewährung von Ruhegeld, wenn das Vorstandsmitglied aus gesundheitlichen Gründen voraussichtlich auf Dauer nicht in der Lage ist, die ihm obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Oft wird von Arbeitsunfähigkeit oder Dienstunfähigkeit gesprochen23. Wichtiger ist die vertragliche Definition dessen, was zur Beendigung des Anstellungsvertrages führen soll24. In Zweifelsfällen ist ein ärztliches Gutachten notwendig. Um menschlich belastende Diskussionen zu vermeiden, sollte vereinbart werden, daß die dauernde Arbeitsunfähigkeit als festgestellt gilt, wenn die Arbeitsunfähigkeit ununterbrochen z.B. länger als zwölf Monate dauert25. Soweit in diesen Fällen überhaupt eine Wartezeit vorgesehen wird, ist sie in der Regel von kurzer Dauer26. Naheliegend, wenn auch nicht unproblematisch, ist eine Einschränkung der Leistungspflicht bei vorsätzlicher Herbeiführung der Arbeitsunfähigkeit und dann, wenn sie aufgrund besonders groben Verschuldens verursacht wurde. Denkbar ist, die Leistungspflicht zu versagen, wenn der Versicherungsschutz in der Berufsunfähigkeits-Versicherung ausgeschlossen sein würde. Die praktische Bedeutung einer Ausschlußklausel dürfte gering sein, eine gerechte Lösung um so schwieriger. Entfällt die Invalidität, kommt die betriebliche Altersversorgung regelmäßig wieder in Fortfall 27 . Das wird

Mertens, Fn. 19, §84 Rdn.23. Hoffmann-Becking, FS Stimpel, 1981, S.589, 593. 22 Zu der hier vertretenen Auffassung neigen auch LutterlKrieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 1992, 3. Aufl., §4 Rdn. 160. 23 Zum Begriff der Invalidität: Heubeck/Höhne, BetrAVG, 1982, 2. Aufl., §1 Rdn. 25 a. 24 Vgl. den Vorschlag in: Beck'sches F o r m u l a r b u c h / H o f f m a n n - B e c k i n g , 1991, 5. Aufl., Form. X.13, §5 Abs. 2. 25 Alternativ: Münch. Vertragshdb.///ö/im, Bd. 1, 1992, 3. Aufl., Form. V. 48, §4 Abs. 2 S. 2; vgl. auch die Regelung in §42 Abs. 1 S.2 BBG. 26 Förster, Betriebliche Altersversorgung 1989 zwischen Renten- und Steuerreform, S. 117, 124. 27 Blomeyer/Otto, Fn. 4, Einl. Rdn. 22. 20 21

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man bei Vorstandsverträgen allenfalls annehmen können, wenn dem Vorstandsmitglied der Abschluß eines neuen Anstellungsvertrages zu gleichen oder besseren Bedingungen angeboten werden kann. Eine vertragliche Regelung erscheint insoweit nicht geboten, wichtig sind jedoch Klauseln zur Anrechnung anderweitiger Einkünfte. Die Gesellschaft hat zu entscheiden, ob sie „Ruhegeld" auch dann zahlen will, wenn der Anstellungsvertrag - ohne daß Dienstunfähigkeit vorliegt - vor Vollendung der vereinbarten Altersgrenze endet, weil er vorzeitig beendet oder nicht verlängert wird. Damit ist der sogenannte dritte Pensionsfall angesprochen, dem für das Vorstandsmitglied unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Unabhängigkeit besondere Bedeutung zukommt 28 , der andererseits für die Gesellschaft eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen kann. Beides gilt insbesondere, wenn die Ruhegeldzahlung unmittelbar nach Beendigung des Anstellungsvertrages beginnen soll - die für den dritten Pensionsfall typische Regelung 29 . Die Zahlungen haben zunächst den Charakter eines nicht insolvenzgeschützten Ubergangsgeldes 30 . Eine hieran angepaßte Terminologie dient der Verständlichkeit und Klarheit des Ruhegeldvertrages. Das beachtliche finanzielle Risiko der Gesellschaft kann durch Einschränkungen der Leistungspflicht vermindert werden. So ist es möglich, die Verpflichtung zur Zahlung eines Übergangsgeldes neben oder anstelle eines Mindestalters an die Dauer der Betriebszugehörigkeit oder Vorstandstätigkeit zu binden. In diesem Fall ist allerdings der Alternative der Vorzug zu geben, einen Anspruch auf Zahlungen im dritten Pensionsfall erst dann vertraglich zuzusichern, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Häufiger wird die Zahlungsverpflichtung ausgeschlossen, wenn das Vorstandsmitglied eine ihm angebotene Verlängerung der Bestellung und des Anstellungsvertrages zu gleichen oder für ihn günstigeren Bedingungen ablehnt 31 oder die vorzeitige Beendigung oder NichtVerlängerung auf einem von ihm verschuldeten wichtigen Grund beruht 32 . Denkbar ist auch, die Zahlung eines Ubergangsgeldes davon 28 Der BGH A G 1981, 44, 45 verweist mit Recht auf die Schwierigkeiten des ausscheidenden Vorstandsmitglieds (hier im Zeitpunkt des Ausscheidens 47 Jahre alt), eine annähernd gleichwertige Beschäftigung zu finden. Das Ubergangsgeld dient dem Ausgleich für die regelmäßig verminderten zukünftigen Einkommenschancen, ein Gesichtspunkt, den Fischer in der Anm. zu BGH LM Nr. 4 zu §75 AktG (1937) nicht anspricht. Vgl. ferner OLG Hamburg WM 1992, 786, 788 (Zusage deckt Risiko einer Beschäftigungslosigkeit ab). 29 Die sofortige Zahlungspflicht sollte klar und deutlich im Vertrag zum Ausdruck kommen, vgl. LAG Hamm DB 1987, 2210, 2211. 30 BGH WM 1984, 1324, 1325; vgl. auch BGH NJW 1981, 2407, 2408. 31 Hierzu BGH AP §242 BGB Nr. 186 Ruhegehalt. 32 Hoffmanti-Becking, Fn.24, §6 Abs. 2. - Gelegentlich wird die Leistungspflicht daran gebunden, daß „nicht in der Person des Vorstandsmitglieds liegende Gründe" vorliegen, vgl. hierzu BGH WM 1980, 1139, 1140.

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abhängig zu machen, daß keine anderweitige Tätigkeit, z.B. bei einer Konzerngesellschaft, zu mindestens gleichen materiellen Bedingungen angeboten werden kann. Der in der Praxis häufige Fall der vorzeitigen einvernehmlichen Beendigung von Vorstandsmandat und Anstellungsvertrag bedarf keiner vorherigen vertraglichen Regelung. Ruhegeldleistungen werden zu den wichtigsten Themen der Ausscheidensverhandlungen gehören. Liegt eine vertragliche Unverfallbarkeit nicht vor, können die gesetzlichen Voraussetzungen für die Unverfallbarkeit der Versorgungsanwartschaft nach § 1 BetrAVG erfüllt sein. Das wird vor allem der Fall sein, wenn das Vorstandsmitglied vorher in der Gesellschaft außerhalb des Vorstands tätig gewesen ist. Auf die möglicherweise gegebene gesetzliche Unverfallbarkeit im Vertrag hinzuweisen, ist nicht überflüssig33. Erwägenswert ist auch ein am Betriebsrentengesetz orientierter anteiliger, jedoch vertraglicher Ruhegeldanspruch für den Fall, daß die Beendigung des Vorstandsmandats auf Wunsch des Vorstandsmitglieds erfolgt.

3. Höhe des

Ruhegeldes

Im Rahmen der Gesamtversorgung hat die betriebliche Altersversorgung im Regelfall nur Ergänzungsfunktionen34. Eine ungleich größere Bedeutung kommt ihr jedoch für Vorstandsmitglieder zu35. Die betriebliche Altersversorgung ist hier, wie der BGH mit Recht formuliert, die „Hauptquelle" der Altersversorgung36. Damit wird die Notwendigkeit der privaten Eigenvorsorge nicht abgewertet. An Vorstandsmitglieder sind auch insoweit besondere Anforderungen zu stellen. Die Annahme jedoch, die Höhe der Bezüge ermögliche normalerweise die wirtschaftliche Unabhängigkeit37, wird den Gegebenheiten insbesondere dann nicht gerecht, wenn die Vorstandstätigkeit nur wenige Jahre dauert. Der privaten Eigenvorsorge, die zum großen Teil aus versteuertem Einkommen erfolgen muß, sind Grenzen gesetzt373. Vgl. Hoffmann-Becking, Fn.24, § 6 Abs. 5. Vgl. Schaub, Arbeitsrecht-Handbuch, 1992, 7. Aufl., §81 I 2 b; Semler, Betriebliche Altersversorgung und Pensionsrückstellung, Börsen-Zeitung v. 10.6.1989; Lubnow, BB 1991, 337 ff. 35 Die Rolle der gesetzlichen Rentenversicherung ist u. a. durch die Abwertung der Ausbildungszeiten im Zuge der Rentenreform insbesondere für den Bereich der Führungskräfte noch weiter geschmälert worden; vgl. Ahrend, Betriebliche Altersversorgung 1989 zwischen Renten- und Steuerreform, S. 11, 12. 36 NJW 1981, 2465, 2466; vgl. auch Fleck, FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 197, 205. 37 So Mertens, Fn. 19, § 8 4 Rdn.37; auf der gleichen Linie, Leugnung eines sozialen Sicherungsbedürfnisses, BVerfG WM 1992, 1512. 37 " Ebenso Förster, FS Ahrend, 1992, S. 116, 127. 33 34

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Auf die Frage nach der angemessenen Höhe des Ruhegeldes gibt es keine eindeutige Antwort. Zuverlässige Marktinformationen sind spärlich38. Die Unternehmensgröße spielt eine bedeutende Rolle, aber auch die Branche, der Standort, die Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt die wirtschaftliche Lage des Unternehmens 39 . In vielen Fällen ist Bemessungsgrundlage das letzte Grundgehalt. Die Versorgungsqualität ist hier nicht allein anhand eines einzigen Prozentsatzes zu beurteilen, zumindest dann nicht, wenn in größerem Umfang variable Bezüge gezahlt werden. In diesen Fällen erfordert die Bewertung, die Relation zu den Ges^iwibezügen unabhängig davon einzubeziehen, daß die Gesamtbezüge in der Regel nicht vertragliche Bezugsbasis sind. Der Verfasser geht für seine Beratungstätigkeit davon aus, daß ein Ruhegeld in der Größenordnung von 30 % bis 40 % der Gesamtbezüge - unter Berücksichtigung der Eigenvorsorge und einer insgesamt geringeren Steuerbelastung - die Aufrechterhaltung des Lebensstandards während des Ruhestandes sicherstellt. Hieraus leiten sich, bezogen auf die festen Bezüge, individuelle Prozentsätze ab, die eine erhebliche Bandbreite (50% bis 75%) aufweisen. Das Ruhegeld kann in einer bestimmten Relation zum versorgungsfähigen Einkommen des Vorstandsmitglieds stehen. Ist das (feste) Gehalt40 der Bezugspunkt, sollte auf den Durchschnitt der letzten zwölf Monate abgestellt werden. Denkbar ist auch die Bezugnahme auf die Vergütung einer anderen Gruppe von Mitarbeitern der Gesellschaft oder bestimmte Beamtenbezüge, ferner die Festlegung eines fiktiven versorgungsfähigen Einkommens oder bestimmten Ruhegeld-Betrages, was wirtschaftlich 38 Zu nennen ist insbesondere die jährlich aktualisierte Vergütungsstudie für Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Kienbaum Vergütungsberatung, Gummersbach, zuletzt: 1990/91, 15. Ausgabe; wertvolle Hinweise auch für Vorstandsmitglieder enthält der Mustervertrag Nr. 10 der Kienbaum Vergütungsberatung: „Die Altersversorgung der Geschäftsführer", 1990; vgl. ferner Mustervertrag Nr. 3 der Kienbaum Vergütungsberatung: „Anstellungsvertrag Vorstandsmitglieder", 1991. - Die Regelung des öffentlichen Dienstes (§ 14 Abs. 1 BeamtVG) bietet für Einzelgestaltungen interessante Anregungen, die Höhe der Altersversorgung ist mit 75 % der Gesamtbezüge jedoch kein Maßstab für die Wirtschaft, a. A. Spitaler/Niemann, Die Angemessenheit der Bezüge geschäftsführender Gesellschafter einer GmbH, 1991, 6. Aufl.; zur Angemessenheit vgl. auch Heubeck, Die Altersversorgung der Geschäftsführer bei GmbH und GmbH & Co., 1991, 3. Aufl., S. 46 ff; Evers/Grätz/Näser, Die Gehaltsfestsetzung bei Geschäftsführern der GmbH und GmbH & Co., 1992, 3. Aufl., S. 48 ff; Brandes, Die Rechtsprechung des BGH zur GmbH, WM 1992, Beil. Nr. 3, S. 15; grds. zu Geschäftsführerbezügen BGH BB 1992, 1583, 1585. 39 Ahrend, Fn.35, S. 11, 14. 40 Mertens, Fn. 19, §84 Rdn. 65, will unter „Gehalt" die vertraglich vereinbarte Gesamtvergütung einschließlich einer Tantieme verstehen; ebenso für den Begriff „Endgehalt" bei GmbH-Geschäftsführern: Schneider, Fn. 6, §35 Rdn. 201. Das entspricht nicht der üblichen Terminologie. Nur dann, wenn auf die „Bezüge" des Vorstandsmitglieds verwiesen wird, ist die Tantieme einbezogen.

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dasselbe ist. Richtlinienverbände wie der Bochumer Verband und der Essener Verband gewähren Ansprüche in Höhe festgelegter Gruppenbeträge, wobei die Einstufung einkommensabhängig ist. Aus Sicht des Vorstandsmitglieds dürfte eine Relation zum jeweiligen Gehalt am günstigsten sein, wenn nicht wesentliche Gehaltsbestandteile über die Konstruktion einer Festtantieme abgespalten werden. Für die Gesellschaft jedoch ist jede Gehaltserhöhung zusätzlich belastet. Zwei Entscheidungen, die eine über Veränderungen des Gehalts, die andere über Veränderungen des Ruhegeldes, geben mehr vergütungspolitische Flexibilität, erhöhen jedoch die Verantwortung für eine regelmäßige Überprüfung der Angemessenheit des Ruhegeldes. Die zweite Grundsatzentscheidung ist die, ob das Ruhegeld dienstzeitabhängig aufgebaut oder unabhängig von der Dauer der Tätigkeit im Unternehmen oder im Vorstand gezahlt werden soll. Das dienstzeitabhängige System verdient aus Sicht der Gesellschaft eindeutig den Vorzug, befriedigt jedoch nur dann, wenn einige Voraussetzungen Berücksichtigung finden. Das Betriebsrentengesetz kann zu einem Kumulierungs-(Rentenansammlungs-)Effekt führen 41 . Hierauf ist insbesondere zu achten, wenn eine Anrechnung vorerdienter Ruhegelder nicht erfolgt 42 . In diesem Fall ist eine Gleichbehandlung der Vorstandsmitglieder nur dann gegeben, wenn das mit einer unverfallbaren (nicht anrechenbaren) Anwartschaft in die Gesellschaft eingetretene Vorstandsmitglied bei Erreichen des Ruhestandes von der Gesellschaft eine niedrigere Altersversorgung erhält als der den überwiegenden Teil seines Berufslebens in der Gesellschaft tätige Kollege. Vor Schematisierungen sei gewarnt. Vorstandsverträge rechtfertigen eine alle Gegebenheiten des Einzelfalles berücksichtigende Bewertung 43 . Zu berücksichtigen sind gegebenenfalls Vordienstzeiten bei anderen Arbeitgebern ohne unverfallbare Anwartschaft 44 . Beginnt der Ruhegeldanspruch nicht mit Null, sollte nicht der Rechenmodus bis zu diesem Zeitpunkt, sondern der fixierte Prozentsatz

41 Höfer/Reiners/Wüst, F n . 4 , § 2 Rdn. 1709, haben nachgewiesen, daß ohne Berücksichtigung fiktiver Dienstzeiten ein Wert von 208,3 % als maximal sammelbarer Wert denkbar ist. Der unverfallbare Teil einer Ruhegeldzusage ist, bezogen auf das bei Erreichen der Altersgrenze erzielbare Ruhegeld, prozentual um so höher, je später der Beginn der Betriebszugehörigkeit liegt; hierzu auch Heubeck/Höhne, Fn. 23, § 2 Rdn. 121 ff. 42 Vgl. unten Ziffer 4. 43 Wertvolle Anregungen geben Höfer/Reiners/Wüst, F n . 4 , § 2 Rdn. 171 Off. 44 Der Vertrag muß klarstellen, ob die „geschenkten" Dienstzeiten nur für die Leistungshöhe und evtl. auch für die Wartezeit berücksichtigt werden sollen oder ob auch eine gegenüber der gesetzlichen günstigere vertragliche Unverfallbarkeitsregelung erfolgen soll; vgl. Höfer/Reiners/Wüst, F n . 4 , § 1 Rdn. 1454.

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als Ausgangspunkt in den Vertrag aufgenommen und dieser auf die jährlichen Steigerungsraten und die Festlegung der Obergrenze beschränkt werden. Unabhängig davon ist zu prüfen, zu welchen Ergebnissen der Vertrag bei Invalidität und im Todesfall führt. Entweder sollte für die Invalidität ein Mindestprozentsatz vorgegeben oder die Erreichung eines bestimmten Lebensalters fingiert werden. Im Todesfall ist zu empfehlen, das Witwengeld als Untergrenze auf das Ruhegeld zu beziehen, das im Invaliditätsfall hätte gezahlt werden müssen 45 . Die Wertsicherung des Ruhegeldes ist für jeden Vertrag unter zwei Gesichtspunkten zu prüfen: Zum einen die Dynamisierung der Pensionsanwartschaft während der aktiven Zeit (Anwartschaftsdynamik) und zum anderen die Wertsicherung des Ruhegeldes nach Eintritt des Versorgungsfalls. Insbesondere für die laufenden Ruhegeldzahlungen ist zu entscheiden, ob mindestens der Geldwert der laufenden Zahlungen erhalten bleiben soll oder darüber hinaus allgemeine Gehaltssteigerungen auch dem Ruhegeldempfänger zugute kommen sollen. Auf dieser Grundlage haben die Vertragspartner die Wahl zwischen automatisch wirkenden Wertsicherungsklauseln oder das Ermessen einbeziehenden Leistungsvorbehalten 46 . Garantierte Mindestanpassungen finden sich da, wo die wirtschaftliche Angemessenheit der Pensionsrückstellungen besonders ernst genommen wird. Aus Sicht des Vorstandsmitglieds kommt der Wertsicherung der laufenden Zahlungen vordringliche Bedeutung zu, da in diesem Zeitpunkt seine Beeinflussungsmöglichkeiten in der Regel nur noch gering sind. Im Zusammenhang mit der Wertbeständigkeit des Ruhegeldes ist letztlich auf § 16 BetrAVG für die Fälle zu verweisen, in denen vertragliche Anpassungen nicht vorgesehen sind 47 . Der Aufsichtsrat hat bei der Vereinbarung von Ruhegeldbezügen eine zweifach motivierte Grenze zu beachten. Das Aktiengesetz verpflichtet den Aufsichtsrat, dafür zu sorgen, daß Ruhegeld, Hinterbliebenenbe45 Zusätzlich ist der Abschluß einer Risiko-Lebensversicherung und einer Berufsunfähigkeitsversicherung eingehend zu prüfen. 46 Ein Beispiel für echte Wertsicherungsklauseln, die nach §3 WährG genehmigungsbedürftig, aber auch genehmigungsfähig sind, in Beck'sches Formularbuch/Ho/jfmann-Becking, Fn. 24, §6 Abs. 8. U m nicht genehmigungsbedürftige Spannungsklauseln handelt es sich dann, wenn die Höhe des Ruhegeldes zu Tarif-Gehältern (die Bezugnahme auf die Gehälter der aktiven Vorstandsmitglieder war früher weit verbreitet, ist heute eher selten) oder dem Ruhegehalt einer Beamtenbesoldungskategorie in Beziehung gesetzt wird (hierzu Palandt BGB /Heinrichs, 1992, 51. Aufl., §245 Rdn.24f). Bei Leistungsvorbehalten findet sich gelegentlich die Regelung, daß der Aufsichtsrat über die Anpassung der Ruhegelder entscheidet (so z.B. Wiesner, Fn. 8, §21 Rdn.48), obwohl nach herrschender Meinung die Zuständigkeit des Aufsichtsrats für pensionierte Vorstandsmitglieder insoweit nicht mehr gegeben ist (ausführlich Schmits, A G 1992, 149 ff). 47 Zur Anpassung von Versorgungsbezügen im Konzern vgl. Stimpel, FS Kellermann, 1991, S. 423 ff; B A G BB 1992, 2152.

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züge und Leistungen verwandter Art in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen (§87 Absatz 1 Satz 1 und 2 AktG). Der „Zeigefinger" des Gesetzgebers ist in der Praxis wenig hilfreich 48 . Auf die Schwierigkeiten, die Angemessenheit einer Ruhegeldvereinbarung zu beurteilen, wurde bereits hingewiesen. Hinzu kommt, daß die Lage der Gesellschaft im Zeitpunkt der Zusage glänzend, im Zeitpunkt der Zahlung des Ruhegeldes äußerst schwierig sein kann. Wirtschaftlich notleidende Gesellschaften können darüber hinaus gezwungen sein, relativ hohe Ruhegeldvereinbarungen abzuschließen, um überhaupt qualifizierte Vorstandsmitglieder zu finden 49 . Im übrigen dürfte die praktische Bedeutung des § 87 Absatz 1 AktG auch deshalb gering sein, weil es sich nur um eine Richtlinie für den Aufsichtsrat, nicht jedoch um ein Verbotsgesetz handelt50. Gewichtiger ist die aus § 84 Absatz 1 AktG abgeleitete Grenze, wonach die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats über die erneute Bestellung nicht durch die Vereinbarung eines zu hohen Ruhegeldes oder einer Leistung verwandter Art unbillig eingeschränkt werden darf. Wie gefährlich in diesem Zusammenhang Pauschalierungen sein können, zeigt die in der Literatur unter Verweisung auf die BGH-Entscheidung vom 28. Januar 195351 vertretene Auffassung, daß es unzulässig sei, ein Ruhegeld zu vereinbaren, das dem vollen oder nahezu vollen Gehalt entspricht52. Diese Aussage ist nur dann verständlich, wenn „Gehalt" durch „Gesamtbezüge" ersetzt wird, wie es in dem der BGH-Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt der Fall war 53 . Auffallend ist ferner, daß in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Angemessenheit abgestellt wird 54 . Das ist nur insoweit richtig, als davon auszugehen ist, daß eine ¿«gemessene Ruhegeldvereinbarung nicht zur Annahme einer unbilligen Bindung des Aufsichtsrats führen kann. Aber auch ein unangemessen hohes Ruhegeld ist unter dem Gesichtspunkt des § 84 Absatz 1 AktG unbedenklich, wenn das Ruhegeld nicht zu einer Einschränkung der Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats führt 55 . Das kann insbesondere bei größeren Gesellschaften der Fall sein. Ebenso Näser, GmbHR 1985, 252. Vgl. den der Entscheidung des BGH W M 1970, 1394, zugrundeliegenden Sachverhalt; ferner Mertens, Fn. 19, § 87 Rdn. 6; Baumbach/Hueck, Fn. 19, § 87 Rdn. 4. 50 Mertens, Fn. 19, §87 Rdn. 3. 51 BGHZ 8, 348, 359 f. 52 Hefermehl, Fn. 19, §84 Rdn. 45. 53 In Altverträgen findet sich gelegentlich noch die Regelung, daß das Vorstandsmitglied nach seinem Ausscheiden anstelle des Ruhegeldes für einen weiteren Zeitraum (bis zu einem Jahr) das Festgehalt erhält; eine solche Regelung ist im allgemeinen rechtlich unbedenklich, jedoch unzweckmäßig; vgl. aber Hölters, Fn.25, § 6 Abs. 1: sechs Monate Gehalt und Tantieme. 54 Z.B. Mertens, Fn.19, §84 R d n . l l . 55 Hefermehl, Fn. 19, §84 Rdn. 33. 48 49

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Die Rechtsfolgen einer gegen §84 Absatz 1 AktG verstoßenden Ruhegeldvereinbarung sind vor allem für das Vorstandsmitglied von großer Bedeutung. Weitgehende Ubereinstimmung besteht, daß solche Ruhegeldvereinbarungen unwirksam, das heißt nichtig sind 56 . Das bedeutet nicht zwangsläufig, daß ein Ruhegeldanspruch völlig entfällt. Entgegen der Vermutung des §139 BGB haben Verstöße gegen §84 Absatz 1 A k t G nicht die Unwirksamkeit der Vereinbarung im ganzen zur Folge 57 . Mit dem B G H ist anzunehmen, daß die unwirksame Vereinbarung in einer H ö h e aufrechterhalten wird, die den aktienrechtlichen Geboten entspricht 58 . 4. Kürzung oder Verlust des Ruhegeldes Die vertragliche Vereinbarung der Anrechnung anderweitiger Einkünfte ist zu prüfen, wenn Leistungen bereits beim Ausscheiden vor Erreichen der Altersgrenze, das heißt im unmittelbaren Anschluß an die Beendigung des Anstellungsvertrages, zugesagt werden. Das ist der sogenannte dritte Pensionsfall, aber auch für Ruhegeld bei Invalidität sind Überlegungen notwendig, eine Anrechnung vorzusehen. Immer dann, wenn Ruhegeldzahlungen (Ubergangsgeld) vor Erreichen der Altersgrenze möglich sind, empfiehlt sich, bis zum Erreichen der in der Gesellschaft für Vorstandsmitglieder vorgesehenen Altersgrenze 59 die Anrechnung anderweitiger Einkünfte aus selbständiger und unselbständiger Arbeit vorzusehen 60 . Voraussetzung sollte sein, daß es sich um Einkünfte aus der Verwertung der Arbeitskraft handelt 61 . In der Praxis finden sich die verschiedensten Anrechnungssysteme. Werden Einkünfte ohne jede Einschränkung angerechnet, liegt der Verdacht nahe, daß die Fleißigen „bestraft" und die Faulen „belohnt" werden. U m dies zu vermeiden, wird häufig vereinbart, daß die Anrech56

B G H Z 8, 348, 360 f; B G H W M 1973, 506; so wohl auch B G H Z 41, 282, 290; lediglich am Rande der Entscheidung LM Nr. 11 zu § 75 AktG (1937) vertritt der B G H die Auffassung, daß eine gegen das Gesetz verstoßende Vereinbarung in der Regel nicht nichtig sei; vgl. auch Mertens, Fn. 19, §84 Rdn. 11. 57 B G H Z 8, 348, 361. 58 B G H Z 8, 348, 367; vgl. auch MünchKomm. BGB/Mayer-Maly, 1984 2. Aufl., § 134 Rdn. 88; Baumbach/Hueck, Fn. 19, § 84 Rdn. 9 („ . . . wird § 139 BGB regelmäßig nur zu angemessener Herabsetzung führen). 59 Hierzu ausführlich HansOLG Hamburg WM 1992, 786, 788. Eine Anrechnung über das übliche Pensionierungsalter ist zulässig - B G H AP Nr. 10 zu § 7 BetrAVG - , aber unbillig; vgl. jedoch Steindorff, BB 1973, 1129, 1134; BAG BetrAV 1973, 202; Blomeyer/ Otto, Fn. 4, §5 Rdn. 149. 60 Fehlt eine Anrechnungsklausel, liegt in der Regel keine Vertragslücke vor, B G H WM 1961, 299, 300. 61 Blomeyer!Otto, Fn.4, §5 Rdn. 159.

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nung erst beginnt, wenn die anderweitigen Einkünfte zusammen mit dem Ruhegeld das zuletzt gezahlte Jahresgehalt (oder -bezüge) überschreiten62. Vorzuziehen ist eine prozentuale Anrechnung von Anfang an (zum Beispiel 50 %), da sie den Anreiz zu einer anderweitigen Tätigkeit ohne Limit beläßt. Gelegentlich werden Einkünfte aus Aufsichtsrats- oder vergleichbaren Mandaten sowie schriftstellerischer oder wissenschaftlicher Betätigung von der Anrechnung ausgenommen. Auch finden sich Regelungen, die die Anrechnung in das Ermessen der Gesellschaft (Vorstand oder Aufsichtsrat) stellen; davon ist abzuraten. Weitere Überlegungen gelten der Notwendigkeit, das Sammeln von Ruhegeldern zu verhindern oder zumindest zu begrenzen. Ist dies nicht über eine dienstzeitabhängige Gestaltung der Versorgungshöhe möglich, bleibt trotz mancher Schwächen63 als eine Alternative die Anrechnung aufrechterhaltener Anwartschaften, die das Vorstandsmitglied bei anderen Gesellschaften bereits erworben hat. Empfehlenswerter ist die Übernahme der aufrechtzuerhaltenden Anwartschaft durch die Gesellschaft des Vorstandsmitglieds gemäß § 4 Absatz 1 Satz 1 BetrAVG. Dies erfordert jedoch eine wirtschaftlich richtige Bewertung der Kosten der Anwartschaft. Die Pensionsrückstellung reicht in der Regel nicht aus64. Wird das volle Ruhegeld gezahlt, liegt außerdem die Anrechnung nacherdienter Ruhegeldansprüche nahe. Dies ist nur bis zur Grenze der gegebenenfalls gesetzlich aufrechtzuerhaltenden Versorgungsanwartschaft möglich (§ 2 Absatz 5 Satz 3 BetrAVG). Der übersteigende Anteil unterliegt dem Anrechnungsverbot nicht65. Weitere Anrechnungsthemen sind Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung 66 , die Anrechnung einer Karenzentschädigung auf das Ruhegeld 67 sowie die Anrechnung etwaiger Schadensersatzansprüche, falls der Pensionsfall auf das Verhalten eines Dritten zurückzuführen ist (Invalidität) 68 . Im Zusammenhang mit dem Thema „Anrechnung" ist auf die Zweckmäßigkeit der vertraglichen Regelung von Mitteilungs- und Nachweispflichten hinzuweisen. 62 Vgl. z.B. Hoffmann-Becking, Fn.24, § 6 Abs.4 S.2. Die Geldentwertung sorgt in diesem Fall dafür, daß die Anrechnung Jahr für Jahr belastender wird. 63 Vgl. Höfer/Reiners/Wüst, Fn.4, § 2 Rdn. 1712. 64 Hierzu grundsätzlich Zimmermann, Betriebliche Altersversorgung 1989 zwischen Renten- und Steuerreform, S. 141, 150 ff. 65 Blomeyer/Otto, Fn.4, §2 Rdn.428. 66 Da Vorstandsmitglieder nicht angestelltenversicherungspflichtig sind (vgl. Wiesner, Fn. 8, §21 Rdn. 13), dürfte, auch bei einem Anspruch aus Arbeitszeiten vor der Pensionierung, die praktische Bedeutung gering sein. 67 Vgl. Hoffmann-Becking, FS Quack, 1991, S.273, 283. 68 So z.B. § 1 6 Leistungsordnung Essener Verband; auch die (teilweise) Anrechnung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung kommt in Betracht, zur Zulässigkeit BAG BB 1992, 859 f.

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Wird das Ruhegeld (Übergangsgeld), ohne daß Arbeitsunfähigkeit gegeben ist, vor Erreichen der Altersgrenze gezahlt, sind vertragliche Regelungen einer Kürzung69 alternativ oder zusätzlich zur Anrechnung zu bedenken. Insoweit stellt sich dieselbe Frage wie für die vorgezogene Altersleistung nach § 6 BetrAVG für den Fall, daß Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen wird 70 . Welche Kürzung ist wirtschaftlich gerechtfertigt, wobei Gedanken der Fürsorge miteingebracht werden sollten? Die Literatur geht bei vorgezogenem Ruhegeld von einer wertgleichen Altersleistung dann aus, wenn die kürzere Dienstzeit, die längere Bezugsdauer und die Zinswirkung der vorzeitigen Zahlung berücksichtgt werden 71 . Die arbeitsrechtliche Wertung, wonach die Versorgung eine „Gegenleistung für die gesamte Betriebstreue des Arbeitnehmers" darstellt 72 , trifft nach hier vertretener Auffassung - wenn überhaupt - nur sehr eingeschränkt auf Vorstandsverträge zu. Das spricht gegen die Berücksichtigung der kürzeren Dienstzeit beim Ruhegeld für Vorstandsmitglieder, vor allem, wenn das Ruhegeld dienstzeitabhängig gestaltet ist. Die voraussichtlich längere Zahlung rechtfertigt jedoch auch für das Ruhegeld in Vorstandsverträgen - ebenso wie die Zinswirkung der vorzeitigen Zahlung - eine Kürzung, die Höfer/ Reiners/Wüstn auf 0,4 % bis 0,5 % pro Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme beziffern. Eine Obergrenze sollte erwogen werden, damit die Zusage in jedem Fall einen Mindestwert behält. Die Kürzung setzt eine vertragliche Regelung voraus 74 . Bei der Festlegung der Kürzungsfaktoren sind die Vertragspartner hinsichtlich des 69 Aus heutiger Sicht besteht keine Notwendigkeit, dem Beispiel der Rentenversicherung folgend, das Ruhegeld der Vorstandsmitglieder bei einer über das 65. Lebensjahr hinausgehenden Vorstandstätigkeit aufzustocken. 70 Die Anwendung des § 6 BetrAVG auf Vorstandsmitglieder ist - soweit ersichtlich - bisher nicht in Frage gestellt worden. Grundlage ist die Entscheidung B G H Z 77, 233 ff, die den § 6 BetrAVG über § 1 7 Abs. 1 S. 2 BetrAVG für anwendbar hält. Seit 1 9 6 9 nach einer kurzen „Pflicht"-Periode ( 1 . 1 . 1 9 6 8 - 3 1 . 7 . 1 9 6 9 ) - sind Vorstandsmitglieder nicht angestelltenversicherungspflichtig. Es bestehen deshalb ernsthafte Zweifel, ob die ratio legis - hierzu: BAG AP Nr. 1 zu § 6 BetrAVG, Ziff. 1 b) - des § 6 BetrAVG auf diesen Personenkreis anwendbar ist.

71 72

Höfer/Rainers/Wüst, Höf er/Heiners/Wüst,

Fn.4, §6 Rdn.2617; Blomeyer/Otto, Fn.4, §6 Rdn.2635.

Fn.4, §6 Rdn.95, 113.

Fn.4, § 6 Rdn.2643. Die Entscheidungen B G H Z 77, 233, 248 und B G H AP Nr. 2 zu § 1 7 BetrAVG dürften heute, nahezu 20 Jahre nach Erlaß des Betriebsrentengesetzes, auch in bezug auf § 6 BetrAVG nicht mehr für eine abweichende Ansicht herangezogen werden können. In Ruhegeldverträgen für leitende Angestellte wird häufiger formuliert: „Nimmt Herr . . . vor Vollendung des 65. Lebensjahres das Altersruhegeld aufgrund zwingender gesetzlicher Bestimmungen in Anspruch, so mindert sich das Ruhegeld..." Fehlt eine vertragliche Regelung, kann von einer Vertragslücke nicht länger gesprochen werden. 73 74

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Übergangsgeldes grundsätzlich frei. Auf der Basis der BGH-Rechtsprechung beginnt mit der Vollendung des 63. Lebensjahres das Altersruhegeld; somit kann, falls die Voraussetzungen des Betriebsrentengesetzes gegeben sind, eine Kürzung nur insoweit vereinbart werden, als sie mit den Grundsätzen der Unverfallbarkeit vereinbar ist. Bei der Empfehlung einer konkreten Grenze steht der Berater auf unsicherem Boden 75 . Unter diesen Umständen wird eine allgemeine Formulierung empfohlen, wonach die Kürzung mit Vollendung des 63. Lebensjahres endet, soweit sie einen unverfallbar gewordenen Anspruch mindert. Für die laufenden Leistungen ist ferner das Auszehrungsverbot des § 5 Absatz 1 B e t r A V G zu beachten. Viele Vorstands-Ruhegeldverträge enthalten Widerrufsvorbehalte, die den Einkommensteuer-Richtlinien 76 nachgebildet sind. Die juristische Relevanz solcher Vorbehalte ist ungeachtet der steuerrechtlichen Wertung äußerst zweifelhaft. Das betrifft zunächst die nachhaltige Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft, die unter engen Voraussetzungen auch ohne ausdrückliche vertragliche Regelung zur Kürzung oder Einstellung der Ruhegeldleistungen berechtigen kann 77 . Sind die Voraussetzungen der gesetzlichen Unverfallbarkeit gegeben78, besteht Insolvenzschutz auch für das Vorstandsmitglied, ein Schutz, der allerdings wegen der Höchstgrenze ( § 7 Absatz 3 BetrAVG) 7 9 und der Nichtanwendung des § 16 B e t r A V G nicht ganz die

75 Im Zusammenhang mit § 6 BetrAVG hat das BAG bisher nur Fälle entschieden, in denen Vereinbarungen über die Kürzung fehlten. Hier soll nur eine Einflußgröße, nämlich die kürzere Dienstzeit, Berücksichtigung finden, vgl. BAG BB 1991, 480, 482; im übrigen hat das BAG in AP Nr. 1 zu § 6 BetrAVG (mit ausführl. Anm. von Ahrend/ Förster/Rößler) Gestaltungsspielräume aufgezeigt, jedoch ausdrücklich offengelassen, ob versicherungsmathematische Berechnungen zu angemessenen Ergebnissen führen (a. A. offenbar Höfer/Reiners/Wüst, Fn. 4, Rdn.2621 und 2643 zu § 6 BetrAVG); die Rechtsprechung des BGH, z.B. WM 1981, 762 = AP Nr. 10 zu § 7 BetrAVG und WM 1982, 1123 gibt keine Hilfestellung für die Beantwortung der Frage, ob eine alle versicherungsmathematischen Faktoren berücksichtigende Kürzung den Grundsätzen des Betriebsrentengesetzes gerecht wird. 76 Abschn. 41 Abs. 4 EStR 1990. 77 BGHZ 93, 383, 387; BGH WM 1961, 299, 300; BGH WM 1979, 250, 251. 78 Vertragliche Unverfallbarkeit genügt nicht, so ausdrücklich Mertens, Fn. 19, §84 Rdn. 68. Das BAG will den gesetzlichen Insolvenzschutz ausnahmsweise auch auf solche Anwartschaften erstrecken, deren Unverfallbarkeit auf der Anrechnung von Vordienstzeiten beruht, BAG WM 1984, 162, 163; ausführlich BAGE 31, 45; vgl. auch Höfer/Reiners/ Wüst, Fn. 4, § 1 Rdn. 1456. Voraussetzung ist, daß die angerechnete Betriebszugehörigkeit bereits von einer Versorgungszusage begleitet war und an das Arbeitsverhältnis heranreicht. Eine Entscheidung des BGH hierzu steht aus. Zur Anrechnung von Nachdienstzeiten BAG BB 1992, 2220 ff. 79 Das Dreifache der im Zeitpunkt der ersten Fälligkeit geltenden Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (1992: 20400 DM monatlich).

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Qualität der vertraglichen Ruhegeldzusage hat80. Vor allem für Ruhegeldansprüche, die noch nicht die gesetzlichen Unverfallbarkeits-Voraussetzungen erfüllen, stellt sich die Frage der Sicherheiten, eine Diskussion, die nicht immer und überall auf Gegenliebe stoßen wird. Der Vergleich der AEG erinnert daran, daß auch große Unternehmen keinen absoluten Schutz bieten81. Steuerlich unschädlich ist ferner ein Widerrufsvorbehalt für den Fall, daß der Pensionsberechtigte Handlungen begeht, die in grober Weise gegen Treu und Glauben verstoßen oder zu einer fristlosen Entlassung berechtigen würden. Bedeutung haben solche Klauseln allenfalls noch, wenn man dem Abschreckungseffekt für „Gutgläubige" einen Nutzen zuspricht. Die Rechtsprechung hat sie entwertet 82 . Für die Rechtsfolgen im aktiven Dienst begangener Pflichtwidrigkeiten ist die Entscheidung des BGH vom 19. Dezember 198383 von besonderer Wichtigkeit. Hiernach können nur schwerste Verfehlungen unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben ausnahmsweise die Versagung von Ruhegeldansprüchen rechtfertigen. Der BGH stellt allerdings in seiner Begründung sehr intensiv auf eine „ausreichend lange Betriebszugehörigkeit" ab. Eingehend wird begründet, welchen Wert eine lange Dienstzeit für den Arbeitgeber hat. Auch wenn diese Begründung im allgemeinen zutreffen sollte, auf Vorstandsmitglieder ist sie schon deshalb nicht übertragbar, weil das Aktienrecht der Länge der Dienstzeit nicht die gleiche positive Bedeutung beimißt. Für Vorstandsmitglieder könnte jedoch die Auffassung des BAG ebenso von Bedeutung sein, das seine restriktive Rechtsprechung mit der grundlegenden Wertentscheidung des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung begründet 84 . Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 22. Juni 198185 80 Voraussetzung der Kürzung oder des Wegfalls des Ruhegeldes ist nach Auffassung des BGH die Verpflichtung der Gesellschaft, unverzüglich das Verfahren einzuleiten und zügig durchzuführen, mit dem der Träger der Insolvenzsicherung zur Übernahme der Versorgungsleistungen zu veranlassen ist, BGHZ 93, 383, 388. Den Abschluß des Verfahrens fordert der BGH entgegen der Meinung des BAG ZIP 1981, 424, 426, nicht; vgl. Wiesner, Fn.8, §21 Rdn.51. 81 Zu denken ist insbesondere bei lediglich vertraglicher Unverfallbarkeit an den Abschluß eines Rückdeckungsversicherungsvertrages, der für den Insolvenzfall des verpflichteten Unternehmens an das Vorstandsmitglied verpfändet wird. Die Versicherung, beschränkt auf Leistungen, die nicht Gegenstand der Übernahme des PSV im Insolvenzfall sind (Übergangsgelder/nicht unverfallbare Anwartschaften), ist offenbar unbekannt. 82 Das gilt gleichermaßen für die Rechtsprechung von BGH und BAG. Die von Wiedemann, FS Stimpel, 1985, S. 955, 960, gesehene „unterschwellige Divergenz" in der Rechtsprechung beider Gerichte wird von den Urteilsgründen nicht bestätigt; vgl. Fleck, Fn. 36, S. 197, 222. 83 NJW 1984, 1529 ff. 84 BAG NJW 1980, 1127. 85 NJW 1981, 2407, 2408.

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gleichfalls den Schutzgedanken des Betriebsrentengesetzes in den Mittelpunkt der Begründung gestellt. Die Entziehung des Ruhegeldes kommt hiernach nur dann in Betracht, wenn ein auf andere Weise, insbesondere durch Ersatzleistung, nicht wiedergutzumachender schwerer Schaden entstanden ist und die vergüteten Dienste „nachträglich entwertet" erscheinen. Der vertraglichen Widerrufsklausel kommt nach Auffassung des B G H keine Relevanz zu86. Die Entstehungsgeschichte des Betriebsrentengesetzes gibt für eine so weitgehende Einengung der Vertragsfreiheit keine Anhaltspunkte 87 . Der Eindruck drängt sich auf, daß die Besonderheiten der Vorstandsverträge nicht ausreichend Berücksichtigung finden. Einerseits mißt der B G H dem Umstand, daß die Vertragsbedingungen frei ausgehandelt werden, besondere Bedeutung bei88, andererseits soll die Vereinbarung eines Widerrufsvorbehaltes ohne rechtliche Folgen bleiben. Ausführlich beschäftigt sich der B G H mit den Erwartungen des Versorgungsempfängers, der hierauf seine „Planungen für den Lebensabend" aufbaut 89 . Das Vorstandsmitglied tut dies in Kenntnis seiner besonderen Verpflichtungen und bei vertraglicher Widerrufsklausel mit den Konsequenzen etwaiger Pflichtwidrigkeiten vor Augen. Hier „Treu und Glauben" für eine Aufrechterhaltung des Ruhegeldanspruchs in Anspruch zu nehmen, ist schwer verständlich. Das Betriebsrentengesetz selbst liefert keine zwingende Begründung 89 a. Auch dann, wenn man mit der Rechtsprechung dem Betriebsrentengesetz die Wirkung zuspricht, daß Widerrufsvorbehalte bedeutungslos werden, sollte eine zweistufige Prüfung erfolgen. Der B G H gewährt den verstärkten Schutz gegen die Versagung von Pensionsansprüchen wegen pflichtwidrigen Verhaltens nicht dem Ubergangsgeld, sondern erst der Altersversorgung mit der Vollendung des 63. Lebensjahres 90 . Konsequenterweise sollte der vertraglichen Widerrufsklausel nicht jeglicher Wert abgesprochen werden. Das gilt zunächst bei lediglich vertraglicher Unverfallbarkeit 903 . Zu denken ist ferner daran, daß ein Widerruf bei Vorliegen der Voraussetzungen der gesetzlichen Unverfallbarkeit das Vorstandsmitglied so stellt, als wenn es lediglich mit den Benefizien der 86 So ausdrücklich B G H NJW 1984, 1529, 1530. - Das BAG (WM 1982, 1263, 1265) lehnt eine Unterscheidung zwischen einer Vertragstreuen und einer treuwidrigen Dienstzeit mit unterschiedlichen versorgungsrechtlichen Folgen ab. Dazu tendiert jedoch der B G H (NJW 1984, 1529, 1530), nicht ohne wieder vom „langjährigen Ausharren" im Betrieb zu sprechen. 87 Vgl. die Darstellung in BAG NJW 1980, 1127; Wiedemarin, Fn. 82, S.955, 956. 88 So B G H Z 55, 274, 280. 89 B G H NJW 1984, 1529, 1530. A.A. Steinmeyer, Fn.4, S. 183. 90 B G H NJW 1981, 2407, 2408 f. 90a Ebenso Steinmeyer, Fn.4, S. 184, für noch nicht verfallbare Anwartschaften.

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gesetzlichen Unverfallbarkeit ausgeschieden wäre. Das kann im dritten Pensionsfall Einfluß auf die Höhe des Ruhegeldes haben, aber auch z. B. vertragliche Indizierungs-Bestimmungen beseitigen und die Anpassung auf § 16 BetrAVG beschränken. Bei Treupflichtverletzungen nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst sieht der B G H einen Widerruf der Ruhegeldzusage allenfalls dann als begründet an, „wenn der Ruhegeldempfänger ruinösen Wettbewerb treibt oder auf andere Weise das Unternehmen, das mit seinen Erträgen das Ruhegeld erwirtschaften soll, in seiner wirtschaftlichen Grundlage gefährdet" 91 . Der BGH betont, daß in dem zu entscheidenden Sachverhalt eine vertragliche Widerrufsklausel nicht vorgesehen war. Die zwischenzeitliche Rechtsprechung zu den während der aktiven Zeit begangenen Pflichtwidrigkeiten läßt aber wenig Hoffnung, daß den Widerrufsklauseln insoweit noch Bedeutung beigemessen wird. Die Rechtsprechung des BGH befriedigt schon deshalb nicht, weil sie mit ihrer Forderung, die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft müßten gefährdet sein, den Kreis der größeren und großen Gesellschaften von vornherein ausgrenzt, sie damit Treupflichtverletzungen insoweit schutzlos ausliefert. Wird die besondere Verantwortung eines Vorstandsmitglieds, die mit der Beendigung des Anstellungsvertrages ihre Bedeutung nicht völlig verliert, in die Beurteilung einbezogen, erscheint es geboten, von einer besonders zu honorierenden Vertragstreue zu sprechen. Das sollte zumindest vertraglichen Widerrufsvorbehalten in Vorstandsverträgen eine andere juristische Bewertung geben, als dies für einen normalen Arbeitnehmer gesehen wird, ganz abgesehen von der hier weit überdurchschnittlichen Höhe des betrieblichen Ruhegeldes92. III. Hinterbliebenenversorgung 1. Witwengeld Die hinterbliebene Ehefrau erhält als Witwengeld im Anschluß an Übergangsbezüge (Gnadenquartal oder -halbjahr) lebenslänglich ganz überwiegend 60 % des Ruhegeldes, das das Vorstandsmitglied am Todestag bezog oder bezogen hätte, wenn der Pensionsfall eingetreten wäre93. Der Anspruch auf Witwengeld wird entweder der namentlich 91 B G H Z 55, 274, 280; vgl. auch die ausführliche Besprechung von Fleck zu dieser Entscheidung in LM Nr. 144 zu §242 (Cd) BGB; für den GmbH-Geschäftsführer: Schneider, Fn. 6, § 35 Rdn. 208. 92 Unbedenklich ist eine vertragliche Klausel, wonach der Anspruch auf Ruhegeld solange ruht, wie eine Konkurrenztätigkeit ausgeübt wird; vgl. Hoffmann-Becking, Fn. 67, S. 273, 285. 93 Förster, Fn.26, S. 117, 124, beziffert die Bandbreite auf 5 0 % bis 75 % .

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benannten Ehefrau im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses94 oder - weit häufiger - der „Witwe" des Vorstandsmitglieds eingeräumt95. Hierbei sind die Vertragsjuristen offenbar seit Generationen von dem Bild der am heimischen Herd wirkenden, das Vorstandsmitglied tatkräftig unterstützenden, nicht berufstätigen Ehefrau ausgegangen, die im Falle seines Todes versorgt werden muß. Die Berufstätigkeit der Ehefrau spielt soweit ersichtlich - in den Verträgen keine das Witwengeld beeinflussende Rolle96. Da die Zahl der weiblichen Vorstandsmitglieder noch gering ist, stellt sich andererseits die Frage einer Witwerversorgung nur in wenigen Einzelfällen97. Ist die namentlich benannte Ehefrau im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses anspruchsberechtigt, bedeutet dies aus Sicht des Vorstandsmitglieds, daß er bei Wiederverheiratung nach dem Tod seiner Ehefrau oder Scheidung der Ehe um eine Vertragsänderung bitten muß. Andererseits werden aus Sicht der Gesellschaft Einschränkungen überflüssig, die bei Anspruchsberechtigung der „Witwe" dringend geboten sind. Angesprochen sind damit die Späteheklauseln. Eine Eheschließung nach Eintritt

94 Ein Witwengeldanspruch entsteht für die namentlich benannte Ehefrau nur dann, wenn die Ehe im Zeitpunkt des Todes des Vorstandsmitglieds noch Bestand hat. Ein entsprechender Hinweis im Vertrag ist zweckmäßig, vgl. B G H WM 1970, 667. 95 „Witwe" meint im Zweifel nicht nur die zur Zeit des Vertragsabschlusses lebende, sondern auch die spätere Ehefrau des Versorgungsberechtigten, die er nach dem Tode der ersten Ehefrau geheiratet hat, vgl. B A G AP Nr. 7 zu § 242 B G B Ruhegehalt; B A G AP Nr. 17 zu §242 B G B Ruhegehalt. Für Lebens Versicherungsverträge, in denen die „Ehefrau" als Bezugsberechtigte bezeichnet ist, hat der B G H N J W 1981, 984 ff, entschieden, daß die bei Eintritt des Versicherungsfalles mit dem Versicherungsnehmer verheiratete Frau bezugsberechtigt ist. % Zu denken ist z. B. an die Anrechnung anderweitiger Versorgungsbezüge der Witwe; zur Problematik Höfer/Reiners/Wüst, Fn.4, ART Rdn.540 und § 5 Rdn.2391ff. 97 Von einer rechtlichen Verpflichtung zur Gewährung einer Witwerversorgung ist nicht mit Sicherheit auszugehen. In Individualverträgen folgt die Verpflichtung nicht aus der Drittwirkung der Grundrechte und mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht aus deren Geltung im Rahmen des §138 B G B (a. A. Schaub, Fn. 34, §81 III 2). Zuzustimmen ist der Auffassung des B G H (BGHZ 70, 313, 324 f), wonach ein Rechtsgeschäft, das gegen Artikel 3 Abs. 2 G G verstößt, nur dann sittenwidrig ist, wenn es aus besonderen Umständen als anstößig empfunden wird; vgl. auch MünchKomm. BGB/Söllner, 1988, 2. Aufl., §611 Rdn. 183, 179. Eine Ruhegeldvereinbarung, die insoweit auf völlig sicherem juristischen Boden stehen will, wird in allen Vorstandsverträgen Witwen- und Witwerversorgung davon abhängig machen, daß der oder die Verstorbene den Familienunterhalt „überwiegend" bestritten hat (so z. B. die Leistungsordnung des Bochumer Verbandes, § 4 Abs. 1 lit. a), womit auch den geänderten Verhältnissen der Versorgungsnotwendigkeit Rechnung getragen würde. Der Gesichtspunkt der „Lohngleichheit" (vgl. B A G AP Nr. 8 zu § 1 BetrAVG Hinterbliebenenversorgung) ist dann gewahrt, wenn bei Verzicht auf eine Witwer- oder Witwenversorgung über eine vergleichsweise höhere Ruhegeldzusage verhandelt wird. Eine entsprechende Anwendung der §§ 611 a, 612 Abs. 3 B G B dürfte nicht in Betracht kommen.

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des Pensionsfalls, ggf. Invalidität ausgenommen, berechtigt im allgemeinen nicht zu einer Witwenversorgung 98 . Auch sind Altersgrenzen für den Zeitpunkt der Eheschließung üblich. Heiratet das Vorstandsmitglied nach Vollendung eines bestimmten Lebensalters (60 bis 65 Jahre), entsteht kein Anspruch auf Witwengeld. Ferner kann der Altersunterschied zwischen Vorstandsmitglied und Ehefrau entweder den Anspruch auf Witwengeld ausschließen - hier ist ein Altersunterschied von mehr als 25 Jahren die Regel - oder das Witwengeld wird gekürzt, wobei ein Altersunterschied bis zu zehn Jahren ohne Kürzung toleriert wird 99 . Der Phantasie sind im übrigen keine Grenzen gesetzt. Es finden sich Regelungen über Mindestdauer der Ehe, Mindestalter der Ehefrau, teilweise bei Unterschreitung den Anspruch nur dann ausschließend, wenn die Ehe kinderlos geblieben ist, und andere mehr100. In Vorstandsverträgen sind Klauseln äußerst selten, die Leistungen dann ausschließen, wenn die Eheleute im Zeitpunkt des Todes des Vorstandsmitglieds getrennt gelebt haben (Getrennt-Leben-Klauseln). Die rechtliche Zulässigkeit dürfte nicht in Frage stehen101, die Vorstellung jedoch, zu welchen Auseinandersetzungen eine hierauf gestützte Leistungsverweigerung führen kann, sollte solche Klauseln in Vorstandsverträgen ausschließen. Die Witwe erwirbt ein unmittelbares Recht auf Leistung nach § 331 BGB erst mit dem Tode des Ehemannes102. Das Vorstandsmitglied kann grundsätzlich bis zu seinem Tod andere vertragliche Vereinbarungen treffen, zum Beispiel auf das Witwengeld zugunsten der Waisen verzichten103. 98 Da Witwen- (und Waisen-)Geldansprüche bei Eheschließungen nach Eintritt des Pensionsfalls ausgeschlossen werden können, muß die Zulässigkeit auch für Klauseln gelten, die Ansprüche auf Witwengeld im Hinblick auf unverfallbare Anwartschaften dann nicht gewähren, wenn die Ehe (entsprechend für Waisen die Geburt) nach dem Ausscheiden aus den Diensten der Gesellschaft geschlossen wurde; ausführlich Heubeck!Höhnet Paulsdorff/Weinert, Betriebsrentengesetz, Bd.I, 1982, 2. Aufl., §1 Rdn. 80 k und 1. 99 Zur Zulässigkeit BAG AP Nr. 158 zu §242 BGB Ruhegehalt; zu der Frage einer Kürzung ohne vertragliche Regelung vgl. LG Köln DB 1985, 2252 f; BAG AP Nr. 17 zu §242 BGB Ruhegehalt. 100 Eine sehr differenzierte Lösung enthält §20 Abs. 2 BeamtVG. - Die Leistungsordnungen des Bochumer Verbandes (§ 4 Abs. 6) und des Essener Verbandes (§ 4 Abs. 5) sehen ausdrücklich die Leistungsverweigerung für den Fall vor, daß die Ehe nur geschlossen worden ist, um dem Ehegatten Leistungen aus dem Ruhegeldvertrag zuzuwenden. Die Beweisführung dürfte hier auf ganz besondere Schwierigkeiten stoßen. Sollte sie gelingen, müßten die Voraussetzungen eines Rechtsmißbrauchs gegeben sein. 101 Ausführlich BAG AP Nr. 183 zu §242 BGB Ruhegehalt mit Anm. Beitzke. 102 Wiesner, Fn. 8, §21 Rdn. 54. 103 BGH WM 1970, 667, 668; vgl. ferner BAG AP Nr. 2 zu § 1 BetrAVG Hinterbliebenenversorgung mit Anm. Leipold, der auch zu der Frage Stellung nimmt, ob anstelle der Ehefrau die Lebensgefährtin rechtswirksam begünstigt werden kann. Zur Abfindung im Scheidungsverfahren vgl. Ahrend/Förster, BetrAVG, 1991, 4. Aufl., §3 Rdn. 4.

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Die zunehmende Zahl von Ehescheidungen fordert von den Gesellschaften eine grundsätzliche Entscheidung, ob sie bereit sind, den Anspruch zwischen der geschiedenen und der neuen Ehefrau aufzuteilen. Diese Frage hat besonderes Gewicht, weil der Versorgungsausgleich aus versteuertem Einkommen in vielen Fällen nahezu unbezahlbar ist. Die Ruhegeldvereinbarung selbst kann eine Regelung vorsehen, zwingend ist das nicht. Die Gesellschaft sollte jedoch im Grundsatz bereit sein, im Rahmen einer vertraglichen Regelung das Witwengeld aufzuteilen, soweit ein Versorgungsausgleich nach § 1587 BGB nicht stattgefunden hat104. Will die Gesellschaft in diesen Fällen eine Risikoerhöhung vermeiden, wird sie eine Kürzung für den Fall vorsehen, daß die zweite Ehefrau wesentlich jünger ist als die erste. Eine Logik kommt dieser Kürzung allerdings nur dann zu, wenn die Gesellschaft auch bei der ersten Ehefrau dann eine Kürzung vorgenommen hätte, wenn der Altersunterschied der Ehegatten gewichtig gewesen wäre. Unterbleibt eine vertragliche Regelung bei Ehescheidung, ist in den Fällen des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs die Möglichkeit einer verlängerten Ausgleichsrente aufgrund des § 3 a des Gesetzes zur Vermeidung von Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG) zu berücksichtigen 105 . Die verlängerte Ausgleichsrente wird auf eine Witwenversorgung angerechnet (§ 3 a Absatz 4 Satz 1 VAHRG), so daß für die Gesellschaft keine Mehrbelastung eintritt. In der überwiegenden Mehrzahl der Vorstandsverträge entfällt das Witwengeld bei Wiederverheiratung. Hier kommt am stärksten der Fürsorgegedanke zum Ausdruck, und zwar in dem Sinne, daß die der Versorgung bedürfende Witwe dann anderweitig gesichert ist oder dafür Sorge tragen müßte, wenn sie wieder heiratet. Diese Auffassung war schon bisher äußerst fragwürdig, denn die neue Ehe konnte nach kurzer Zeit wegen Todes oder Scheidung wieder aufgehoben werden, möglicherweise ohne jede Versorgung für die Witwe des Vorstandsmitglieds. Ein wirklich neues Element bringen die gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere die zunehmende Akzeptanz der Lebensgemeinschaft106. Die Witwe wird eine Ehe ohne Trauschein führen und damit anspruchsberechtigt bleiben107. Viele Gesellschaften leisten „Beihilfe" zur Onkelehe, nicht gerade ein Zeichen hohen Respektes vor dem Grundrecht Ehe und Familie. Zur Mindestausstattung der Wiederver-

Vgl. auch Leistungsordnung des Essener Verbandes, §4 Abs. 6. Palandt B G B / D i e d e r i c h s e n , 1992, 51. Aufl., Anh.III zu §1587b. 106 Vgl. LG Köln DB 1985, 2252, 2253. 107 Von Klauseln, die Gewährung der Witwenleistung auch davon abhängig zu machen, daß die Witwe keine eheähnlichen Beziehungen nach dem Tode ihres Mannes aufnimmt, ist mit Höfer/Reiners/Wüst, Fn. 4, ART Rdn. 655, dringend abzuraten. 104

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heiratungsklausel sollte daher gehören, daß der Witwengeldanspruch unter Anrechnung der der Witwe aus der neuen Ehe zufließenden Leistungen wiederauflebt, wenn die neue Ehe durch Tod oder Scheidung aufgehoben worden ist108. Vereinzelt wird für die Dauer der Wiederverheiratung ein vermindertes Witwengeld, häufiger eine Abfindung gezahlt109. Die Richtlinienverbände sehen ausdrücklich vor, daß in besonderen Fällen Witwengeld auch dann gewährt werden kann, wenn die Voraussetzungen nicht gegeben sind110. In Vorstandsverträgen kann hierzu nicht geraten werden. Damit werden Hoffnungen geweckt, die nur in Ausnahmefällen erfüllt werden können 111 . Notwendig ist jedoch die Bereitschaft der Gesellschaft, Härtefälle menschlich zu regeln, was bestätigt, daß „Fürsorge" doch noch nicht zum alten Eisen gehört. 2. Waisengeld Der Versorgung von Kindern im Todesfall, vor allem den materiellen Voraussetzungen für eine Ausbildung entsprechend ihren Fähigkeiten, kommt aus Sicht des Vorstandsmitglieds erhebliche Bedeutung zu l l l a . Im Vertrag sollte der Kreis der versorgungsberechtigten Kinder bestimmt werden. Wird der Witwengeldanspruch der namentlich benannten Ehefrau eingeräumt, bestehen keine rechtlichen Bedenken, den Waisengeldanspruch auf die leiblichen Kinder aus dieser Ehe zu beschränken. In allen anderen Fällen ist zunächst daran zu denken, einen Anspruch auf Waisengeld auszuschließen, wenn es sich um Kinder aus Ehen handelt, die nach Eintritt des Pensionsfalls geschlossen worden sind, der Invaliditätsfall ggf. ausgenommen. Die gesetzliche Rentenversicherung zieht den Kreis der versorgungsberechtigten Waisen sehr weit" 2 . Richtlinienverbände wie der Essener Verband gewähren Waisengeld den ehelichen, für ehelich erklärten und an Kindes Statt angenommenen Kindern sowie den nichtehelichen Kindern, wenn die Unterhaltspflicht festgestellt worden ist (§ 4 Absatz 1 lit. b.). Eine erwägenswerte Alternative ist die Beschränkung auf unterhaltsberechtigte Kinder" 3 . 108 In der gesetzlichen Rentenversicherung seit der Rentenreform 1992: „Witwenrente nach dem vorletzten Ehegatten", §46 Abs. 3 SGB VI. 109 Die sehr ausgewogene Lösung des Beamtenversorgungsgesetzes verbindet die Abfindung (§21) mit dem Wiederaufleben des Anspruchs bei Auflösung der neuen Ehe (§61 Abs. 3). 110 Bochumer Verband, § 7 Abs. 3; Essener Verband, § 7 Abs. 1 lit. c). 111 Außerdem unterliegen die Entscheidungen bei Härteklauseln einer Billigkeitskontrolle, vgl. BAG WM 1979, 503, 505 = AP Nr. 179 zu §242 BGB Ruhegehalt mit Anm. Brox. " u Unverständlich Hölters, Fn. 25, § 7 Abs. 1 lit d, der Witwengeld und erst nach dem Tod der Witwe (Wiederverheiratung?) Waisengeld vorsieht. 1,2 Vgl. §48 SGB VI; ebenso §2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG). 113 So das Muster Hoffmann-Becking, Fn.24, § 7 Abs. 2.

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Kritisch könnte die (automatische) Einbeziehung adoptierter Kinder sein114, wenn Mißbräuche befürchtet werden, ferner die Anspruchsberechtigung nichtehelicher Kinder. Eine Beschränkung auf leibliche eheliche Kinder ist nach hier vertretener Auffassung nicht rechtswidrig 115 . Für die Höhe des Waisengeldes findet sich in der Praxis im Gegensatz zum Witwengeld eine beachtliche Schwankungsbreite. Die Zahlungen für jede Halbwaise betragen zwischen 1 0 % und 2 5 % des Ruhegeldes, das das Vorstandsmitglied im Todesfall bezogen hat oder im Pensionsfall bezogen hätte. Eine deutliche Differenzierung ist für Zahlungen an Vollwaisen geboten, wobei dieser Fall immer dann gegeben ist, wenn Witwengeld nicht gezahlt wird (zum Beispiel auch bei Anwendung der Wiederverheiratungsklausel). Die Prozentsätze für jede Vollwaise schwanken zwischen 1 5 % und 40 % 1 1 6 . Witwengeld und Waisengelder dürfen zusammen nicht das Ruhegeld des Vorstandsmitglieds übersteigen. Sind Kürzungen notwendig, ist in vielen Verträgen eine ratierliche Minderung aller Berechtigten vorgesehen. Vorzuziehen ist, die Kürzung auf die Waisengelder zu beschränken, da insoweit der Unterhaltsanspruch gegen die Witwe und Mutter zu berücksichtigen ist. Nicht selten findet sich eine isolierte Grenze von 60 % bis 80 % für die (Voll-)Waisengelder insgesamt, bezogen auf das Ruhegeld des Vorstandsmitglieds 117 . Dazu kann nicht geraten werden. In 114 Adoptionen während des Bezugs von Ruhegeld (Invalidität ausgenommen) sollten nicht zum Bezug von Waisengeld berechtigen. 115 Rechtsgeschäfte können zwischen leiblichen Abkömmlingen und Adoptivkindern unterscheiden, so ausdrücklich MünchKomm. BGB/Lüderitz, 1992, 3. Aufl., §1754, 1755 Rdn. 3 m. w. Nachw.; nur im Zweifel gilt die Gleichstellung von ehelichen und adoptierten Kindern, z. B. wenn der Vertrag den Begriff „Abkömmling" verwendet, vgl. BayObLG NJW 1960, 965. Schwieriger zu beurteilen ist der Ausschluß nichtehelicher Kinder, zumal Rechtsprechung fehlt. Ist die Nichteinbeziehung adoptierter Kinder rechtsgültig, kann der Ausschluß nichtehelicher Kinder jedoch nicht anders beurteilt werden. Wenn schon innerhalb der kraft Gesetzes als ehelich anzusehenden Kinder Differenzierungen zulässig sind, dann erst recht zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern; a. A. Höfer/Reiners/ Wüst, Fn. 4, ART Rdn. 588; vgl. jedoch auch hier BGHZ 70, 313, 324 f und die Gegenposition von Canaris, AcP 184, 201, 236. 116 o j e Prozentsätze der gesetzlichen Rentenversicherung mit 10 % für jede Halbwaise und 20 % für jede Vollwaise (§ 67 SGB VI) sind die Untergrenze dessen, was in Vorstandsverträgen angemessen ist. - Die Leistungsordnung des Bochumer Verbandes bestimmt in § 4 Absatz 2 Satz 3, daß in Fällen, in denen der Unterhalt für den einzelnen Hinterbliebenen durch Geldleistungen erbracht worden ist, die Bezüge den Betrag nicht übersteigen dürfen, den der Verstorbene zuletzt als Unterhalt geleistet hatte oder hätte leisten müssen. Eine solche Regelung kommt für Waisen ebenso wie für Witwen in Betracht. In letzterem Fall werden Getrennt-Leben-Klauseln weitgehend überflüssig, andererseits dürften die Beweisschwierigkeiten nicht zu unterschätzen sein. 117 Vgl. z.B. Henn, Handbuch des Aktienrechts, 1991, 4. Aufl., S.220, der die Grenze von 60 % empfiehlt; der Bochumer Verband beschränkt die Zahlung bei Wegfall des Ehegattengeldes wegen Wiederverheiratung auf insgesamt 75 %, §4 Abs.4; ebenso Essener Verband §4 Abs.4.

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der Regel werden leistungsfähige Unterhaltsverpflichtete nicht mehr vorhanden sein, so daß eine Grenzziehung nicht angemessen ist. Das Waisengeld ist in jedem Fall bis zum vollendeten 18. Lebensjahr zu zahlen. In vielen Verträgen endet die Zahlung bei Fehlen einer weitergehenden Schul- oder Berufsausbildung erst mit der Vollendung des 21. Lebensjahres. Die heute geltende frühere Volljährigkeit sollte Anlaß einer entsprechenden Korrektur sein. Üblich ist die Zahlung des Waisengeldes für die Dauer der Schul- oder Berufsausbildung" 8 . Die obere Altersgrenze jedoch schwankt zwischen der Vollendung des 25. und des 27. Lebensjahres, teilweise wird die Aufstockung über das 25. bis 27. Lebensjahr hinaus für den Zeitraum konzediert, für den die Schul- oder Berufsausbildung durch Erfüllung der gesetzlichen Wehroder Ersatzdienstpflicht unterbrochen oder verzögert worden ist 119 . Für behinderte Kinder wird empfohlen, eine individuelle Vereinbarung zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitglied zu treffen. Eine Zahlungsverweigerung nach Vollendung des 18. Lebensjahres ist hier auch bei fehlender Schul- oder Berufsausbildung nicht angemessen. Einkommen aus einem Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis sollte erst oberhalb einer Untergrenze, die prozentual im Verhältnis zum Waisengeld festgelegt werden kann, zur Anrechnung kommen, wobei auch hier für eine Anrechnung nur zur Hälfte plädiert wird 120 . In älteren Verträgen findet sich immer noch die Regelung, daß der Anspruch nur „unverheirateten" Waisen zusteht. Unabhängig von der Rechtsgültigkeit 121 ist für die Beurteilung an die Überlegungen zur Wiederverheiratungsklausel zu erinnern. Es fällt schwer, sich in die Gründe einer solchen Einschränkung hineinzudenken 122 , aus heutiger Sicht jedenfalls ist nachhaltig für eine Streichung zu plädieren.

1 , 8 Der Essener Verband verlangt als Voraussetzung eine „ordnungsgemäße" Schuloder Berufsausbildung (§ 4 Abs. 1 lit. b); das Motiv einer solchen Beschränkung verdient Zustimmung; wie hilfreich jedoch eine solche Klausel im Einzelfall ist, mag dahingestellt bleiben; § 1610 Abs. 2 B G B spricht von einer „angemessenen Vorbildung zu einem Beruf", vgl. Diederichsen, Fn. 105, §1610 R d n . 3 7 f f . ' 1 9 Leistungsordnung Bochumer Verband, § 4 Abs. 1 lit. b. Gelegentlich wird die Altersgrenze unter Bezugnahme auf die jeweiligen Bestimmungen des Bundeskindergeldgesetzes gewählt. E s kann nicht geraten werden, sich derart jeglichen gesetzlichen Änderungen auszuliefern. 120 Ebenso Leistungsordnungen Bochumer Verband § 4 Abs. 3, Essener Verband § 4 Abs. 3. 121 Zu Heiratsklauseln in betrieblichen Altersversorgungen L A G H a m m B B 1981, 52 ff; Blomeyer/Otto, F n . 4 , Einl. R d n . 2 3 6 ; Höfer/Reiners/Wüst, Fn.4, A R T Rdn.586; grundsätzlich BVerfG N J W 1992, 2012 f. 122 §§1602 Abs. 2 und 1603 Abs. 2 B G B nachgebildet, die allerdings nur für minderjährige Kinder gelten.

Zur Differenzhaftung nach § 9 GmbHG H E R B E R T GIENOW

Die Gesellschafter einer GmbH haben ihre Stammeinlagen grundsätzlich in Geld zu leisten (§ 19 Abs. 5 GmbHG). Nicht selten aber machen sie von der Möglichkeit Gebrauch, die Stammeinlage insgesamt oder zu einem Teil durch andere Vermögenswerte zu erbringen (§5 Abs. 4 GmbHG). Als eine solche Sacheinlage kann auch ein Unternehmen oder Unternehmensteil eingebracht werden. Mit einigen Besonderheiten dieser Form einer Sacheinlage befaßt sich der folgende Beitrag. Die Einbringung von Sachen oder Sachgesamtheiten kann im Gegensatz zu der Einlage in Geld die Aufbringung des Kapitals gefährden, weil die Möglichkeit einer Uberbewertung oder Mangelhaftigkeit besteht. Dies muß nicht einhergehen mit einem Verschulden oder gar arglistigen Verhalten des Sacheinlegers. Dem trägt die Differenzhaftung Rechnung, die als § 9 GmbHG durch die GmbH-Novelle 1980 eingefügt worden ist. Der Sacheinleger muß gegebenenfalls den Fehlbetrag zwischen Sacheinlagewert und Stammeinlage in bar leisten. Sachlich handelt es sich um eine Klarstellung inzwischen weitgehend anerkannter Grundsätze über die Kapitalsicherung1, die im Interesse des redlichen Rechtsverkehrs für das GmbH-Recht ebenso gelten mußten, wie es für das Aktienrecht aus dem ausdrücklichen Verbot einer Unterpariemission (§ 9 AktG) gefolgert wurde2. Der Sacheinleger wird durch § 9 GmbHG verpflichtet, neben der vereinbarten Sacheinlage eine Geldeinlage zu erbringen, soweit der objektive Wert des Gegenstands der Sacheinlage den Nennbetrag der übernommenen Stammeinlage nicht erreicht. Auf diese Weise wird sichergestellt, daß ein dem Stammkapital entsprechendes Vermögen auch dann aufgebracht wird, wenn die Gesellschafter den Gegenstand der Sacheinlage überbewertet haben. Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Gründung einer GmbH, sondern auch im Fall der Kapitalerhöhung (§56 Abs. 2 GmbHG). 1 2

BGHZ 29, 300, 306f; 68, 191, 195; Schmidt, GmbHR 78, 5. BGHZ 68, 191, 195.

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Dieser Beitrag wird sich nur mit der verschuldensunabhängigen Haftung des Sacheinlegers im Fall der Uberbewertung beschäftigen. I. Die Rechtsnatur der Differenzhaftung Der Gesetzgeber hat die Haftung gemäß § 9 G m b H G unabhängig von einem Verschulden des Sacheinlegers als Garantiehaftung ausgestattet, „da sie allein ein Ausfluß der in seinem Einlageversprechen enthaltenen Deckungszusage ist" 3 . Der Anspruch aus § 9 G m b H G auf Zahlung einer Differenz in Geld ist gesellschaftsrechtlicher Natur und unterscheidet sich nach Entstehung und Durchsetzbarkeit deutlich von dem Schadensersatz- und Gewährleistungsanspruch des § 9 a G m b H G 4 . Er geht zurück auf eine jahrzehntelange Diskussion über Bestehen und dogmatische Begründung der Differenzhaftung 5 . Das Problem der Deckung von Kapitalziffer und Kapitalwert stellt sich erst, nachdem die Rechtsprechung von dem Grundsatz freier Bewertung 6 der Sacheinlage durch die Gesellschafter abgerückt ist 7 , der die Aufbringung des Stammkapitals zu einer bloßen Formalie machte 8 . Die nun objektivierte Kapitalaufbringung konnte nur durch eine verschuldensunabhängige Haftung sichergestellt werden, weil sich das Risiko einer Falschbeurteilung nicht zu Lasten der Gläubiger auswirken sollte 9 . Unter Berufung auf eine „Deckungszusage" des Sacheinlegers 10 , die auf dem Gebot der Rechtsordnung beruht, einen bestimmten Einsatz an Kapital zur Verfügung zu stellen11, wurde eine Differenzhaftung überwiegend anerkannt12. Diese Auseinandersetzungen haben sich mit der Einführung des § 9 G m b H G erledigt. Den Fehlbetrag hat der Sacheinleger als Bareinlage zu leisten. So ist gewährleistet, daß die übrigen Gesellschafter für die Aufbringung dieser Einlage mithaften (§24 G m b H G ) . Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 8/1347, S.35. Hachenburg/Ulmer § 9 Rdn. 4. 5 Vgl. dazu Hachenburg/Ulmer, 7. Aufl., § 5 Rdn. 71 ff. 6 Vgl. R G Z 141, 204, 212. 7 Vgl. R G Z 155, 211, 217. 8 Wiedemann, Sacheinlagen in der G m b H , Festschrift für Ernst E. Hirsch, S. 257, 259. 9 Wiedemann, aaO, S. 261. 10 Näheres bei Hachenburg/Ulmer, 7. Aufl., § 5 Rdn. 71 ff. 11 Wiedemann, aaO, S.261; ähnlich Schmidt, G m b H R 78, 5, 8, der sie als objektivrechtliche Sanktion des Uberbewertungsverbots bezeichnet. 12 Hachenburg/Ulmer, 7. Aufl., § 5 Rdn. 71; Scholz, 5. Aufl., § 5 G m b H G Rdn. 24; Wiedemann, aaO, S. 260 ff. 3

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Zur Differenzhaftung nach § 9 GmbHG

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II. Die Bewertungsmethodik Voraussetzung für eine Differenzhaftung nach § 9 G m b H G ist, daß der Wert des Gegenstandes der Sacheinlage nicht den Nennbetrag der übernommenen Stammeinlage erreicht. Sie erfordert also eine Bewertung der Einlage. Besonderes gilt, wenn eine Unternehmung eingebracht und bewertet werden soll. 1. Theorie der

Wertermittlung

Die Vorstellungen der Beteiligten über den Preis einer Unternehmung werden regelmäßig aufgrund der Verschiedenartigkeit ihrer Interessen auseinanderfallen. Dem Sacheinleger wird es darum gehen, einen hohen Wert zu erzielen, während es im Interesse der Geldgeber ist, den Wert der Sacheinlage niedrig anzusetzen. Uber die Theorie der Unternehmensbewertung gibt es in der Betriebswirtschaftslehre seit geraumer Zeit Kontroversen, ohne daß sich hierzu in dem umfangreichen Schrifttum allgemein anerkannte Auffassungen entwickelt haben. Insofern kann man sagen, daß es den schlechthin richtigen Unternehmenswert nicht gibt 13 . Der Grundsatz der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung, wie er in mehreren Vorschriften des G m b H G seine Ausprägung gefunden hat, gebietet im Interesse eines effektiven Gläubigerschutzes, daß auf das Stammkapital als Haftungsfonds nicht durch privatautonome Bestimmungen der Parteien Einfluß genommen werden kann. Den Wert eines eingebrachten Unternehmens hat deshalb letztlich ein Bewerter festzusetzen, ohne daß eine Einigung der Parteien diesen Wert korrigieren kann. Dieser Wert als ein objektivierter schaltet auch ein Ermessen des Bewerters aus oder begrenzt es jedenfalls 14 . Dementsprechend besteht Einigkeit darüber, daß bei der Wertfestsetzung der „wirkliche Wert" 1 5 , der „wahre Wert" 1 6 , der „objektive Wert" 1 7 oder der „tatsächliche Wert" zu ermitteln ist 18 . 2.

Bewertungsverfahren

Damit stellt sich die Frage, welches Verfahren in der Praxis zur Ermittlung des (objektivierten) Wertes heranzuziehen ist. Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung, S. 6. Moxter, aaO, S.33. 15 B G H Z 68, 191, 196. 16 B G H Z 60, 324, 327. " Schmidt, GmbHR 78, 5, 8. 18 Baumbach/Hueck § 9 Rdn.3. 13 14

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Ganz überwiegend wird heute zur Ermittlung des Wertes eines Unternehmens (oder Unternehmensteiles) das Ertragswertverfahren angewandt19. Dahinter steht die Auffassung, daß der Wert eines Unternehmens grundsätzlich durch seine Eigenschaft bestimmt wird, Gewinne zu erzielen, so daß der Barwert der Überschüsse aller Einnahmen über alle Ausgaben regelmäßig den Unternehmenswert bildet20. Maßgeblich für die Unternehmensbewertung ist der zukünftige Nutzen des Unternehmens. Demgegenüber wird eine Bewertung des Unternehmens ohne Berücksichtigung des Ertragswertes allein auf der Basis des Substanzwertes als der Summe aller materiellen und immateriellen Güter einer Unternehmung 2 ' heute von keiner Seite mehr vertreten22. Die Rechtsprechung hat sich für eine ertragswertorientierte Unternehmensbewertung, jedoch unter Heranziehung des Substanzwertes als Bewertungselement ausgesprochen23. Dazu heißt es in einer grundlegenden Entscheidung des B G H : „Der Liquidationswert bildete grundsätzlich die Untergrenze. Lag der Ertragswert über dem Liquidationswert, jedoch unter dem Substanzwert, so wurde der Unternehmenswert nach dem Ertragswert bestimmt. War er größer als der Substanzwert, so wurde dieser in die Bewertung einbezogen. Nicht betriebsnotwendige Vermögensteile wurden mit ihren Liquidationswerten a n g e s e t z t . . . Hiergegen ist aus Rechtsgründen nichts einzuwenden .

Inwieweit sich (auch) der Substanzwert in der Unternehmensbewertung niederschlägt, ist nicht gleichermaßen deutlich: Das L G Frankfurt sieht im Substanzwert lediglich einen Hilfswert zur Kontrolle der mit Hilfe des Ertragswertverfahrens gewonnenen Ergebnisse, da erst die Erfolge der Substanz ihren Wert verliehen25. Dagegen erachtet das O L G Düsseldorf ähnlich wie der B G H eine Kombination von Substanz- und Ertragswert mit Betonung des Ertragswertes in der Form für sachgemäß, daß dem Ertragswert des betrieblichen der Substanzwert des betriebsneutralen Vermögens hinzugerechnet wird26. Dahinter steht die Überlegung, daß der Wert des Unternehmens als gesellschaftliche Einheit " Hartmann, Neuere Tendenzen der Unternehmensbewertung, Z f B F 81, 1090, 1094; vgl. auch: Arbeitskreis Unternehmensbewertung des IdW, Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertung, WPg 1980, 409 ff. 20 Arbeitskreis des IdW, aaO, S.409. 21 Viel/Bredt/Renard, Die Bewertung von Unternehmen und Unternehmensteilen, S. 25. 22 Müller, Der Wert der Unternehmung, J u S 74, 147, 149. 25 B G H Z 71, 40, 52; B G H N J W 85, 192, 193; O L G Frankfurt A G 89, 442; O L G Düsseldorf D B 90, 2312. 24 B G H Z 71, 40, 52. 25 L G Frankfurt A G 85, 88. 26 O L G Düsseldorf A G 84, 216 f; im Ergebnis auch O L G F r a n k f u n A G 89, 442.

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maßgebend und von einer möglichst vorteilhaften Verwertung des Gesellschaftsvermögens im Ganzen auszugehen sei; soweit es aus diesem Grund vorteilhafter sei, einzelne Betriebsteile zu veräußern, ohne das Unternehmen in seinem wirtschaftlichen Bestand zu beeinträchtigen, müsse diese Möglichkeit auch im Rahmen einer Bewertung des Unternehmens berücksichtigt werden. Diese Vermögensteile seien mit dem erzielbaren Einzelveräußerungspreis zu bewerten 27 . Dem ist auch insoweit zuzustimmen, als Wertuntergrenze stets der Liquidationswert sein muß, also die Summe des Einzelverkaufs aller Vermögenswerte unter Abzug der Kosten, Schulden und Lasten. Nach der - jedenfalls schwergewichtigen - Festlegung auf den Ertragswert stellt sich die Frage, wie er zu ermitteln ist. Inwieweit sollen künftige Unternehmensentwicklungen und künftige Ertragsgestaltung für das zu bewertende Unternehmen zugrunde gelegt werden und inwieweit sind die Vergangenheitserträge maßgeblich? Allgemein besteht in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur 28 und in der Rechtsprechung 29 Einigkeit, daß der Ertragswert durch künftige Erträge bestimmt wird. Zwar begegnet das prognoseorientierte Ertragswertverfahren im Hinblick auf die Ermittlung Bedenken. Die Bewertung nach Maßgabe von fünf oder zehn Jahre in die Zukunft reichenden Ergebniserwartungen ist mit Schätzungsunsicherheiten behaftet, die dem Bewerter zwangsläufig einen Ermessensspielraum gewähren 30 . Doch der Versuch einer Ertragswertobjektivierung durch Orientierung allein an Vergangenheitserträgen unterstellt einen linearen Wirtschaftsverlauf, der vielfachen Erfahrungen des Wirtschaftslebens widerspricht. Während also reine Vergangenheitsorientierung als Mittel zur Bestimmung zukünftiger Erträge sich logisch wie empirisch verbietet, kann umgekehrt wohl nie ein Unternehmen als going concern ganz ohne Berücksichtigung der Vergangenheit bewertet werden. Die Rechtsprechung löst diesen Konflikt im gleichen Sinne unter Berücksichtigung des Stichtagsprinzips. Es ist der zum Bewertungsstichtag geltende Unternehmenswert als Ertragswert zu ermitteln 31 . D a dem Ertragswertverfahren die künftigen Erträge des Bewertungsobjekts zugrunde liegen, konkretisiert das Stichtagsprinzip die Zukunftsbezo-

O L G Düsseldorf A G 84, 216. Hartmann, aaO, S. 1094; Arbeitskreis des IdW, aaO, S.410f; a.A. Bellinger, Eine Wende in der Unternehmensbewertung?, Wpg 80, 575 ff. 29 O L G Frankfurt A G 89, 442; O L G Düsseldorf A G 84, 216, 217; O L G Celle D B 79, 1031. 30 Bellinger, aaO, S. 582 ist der Ansicht, daß es an der Prognostizierbarkeit des langfristig zu erwartenden Zukunftserfolges fehle. 31 Moxter, aaO, S. 168. 27

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genheit in dem Sinne, daß nur die am Bewertungsstichtag erlangbaren Informationen über die Zukunftserträge maßgeblich sind32. Die Rechtsprechung berücksichtigt also die prognostizierten Zukunftsergebnisse nur insoweit, als die Wurzeln künftiger Entwicklungen bereits im Zeitpunkt des Bewertungsstichtages erkennbar waren33. III. Der Beurteilungsspielraum In Anbetracht der Tatsache, daß der von dem Bewerter ermittelte Unternehmenswert nur einer von mehreren möglichen Werten auf einer Skala ist, stellt sich die Frage, ob und inwieweit dem Sacheinleger ein Bewertungsspielraum zusteht. Noch in einem BGH-Urteil vom 14. März 1977 heißt es, daß erst das Überschreiten des Beurteilungsspielraums die Differenzhaftung des Einlegers auslöse34. Man störte sich daran, daß der Sacheinleger haften soll, obwohl der Bewerter und das Registergericht die Bewertung der Sacheinlage für vertretbar gehalten haben. Dennoch ist es für die Zielsetzung der Differenzhaftung unumgänglich, den Wert der Sacheinlage, auch wenn er nur schätzbar ist, als Fixbetrag zu denken35. Dementsprechend kann es keinen Beurteilungsspielraum für den Sacheinleger geben36. Nötigenfalls muß mit sachverständiger Hilfe die Schätzung durch den Richter den Wert bestimmen. IV. Der Bewertungsstichtag Nach § 9 G m b H G ist der Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft (oder der Sach-Kapitalerhöhung) zur Eintragung in das Handelsregister für die Bewertung maßgeblich; die Sacheinlage muß im Zeitpunkt der Anmeldung den im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Wert haben. Damit stellt die gesetzliche Regelung auf einen Zeitpunkt ab, der dem Abschluß des Gesellschaftsvertrages und auch der Einbringung der Sacheinlage nachfolgt. Denn die Anmeldung zur Eintragung in das Handelsregister setzt voraus, daß die Sacheinlage zur freien Verfügung der Geschäftsführer steht (§ 7 Abs. 3 GmbHG). Damit geht der Gegenstand der Einlage schon vor dem Bewertungsstichtag aus dem Herrschaftsbereich des Einlegers ohne Beschränkung und Vorbehalte auf die Gesellschaft über 37 . 32

Moxter, aaO, S.271. OLG Frankfurt AG 89, 442; OLG Düsseldorf AG 84, 216, 217; OLG Celle DB 79, 1031. 34 BGHZ 68, 191, 196. 35 Schmidt, GmbHR 1978, 5, 8. 36 Hachenburg!Ulmer §9 Rdn. 13; Scholz/Winter § 9 Rdn. 9; Baumbach/Hueck §9 Rdn.3. 37 Hachenburg/Ulmer § 7 Rdn. 47. 33

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Der Wert der Sacheinlage kann sich aber sowohl zwischen Abschluß des Gesellschaftsvertrages und Einbringung der Sacheinlage wie auch zwischen Einbringung und Anmeldung ändern. Wertminderungen gehen in beiden Fällen zu Lasten des Sacheinlegers. Im ersten Fall haftet der Sacheinleger für die Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Gesellschaftsvertrag. Im zweiten Fall aber haftet der Sacheinleger, obgleich der Gegenstand mit der Einbringung möglicherweise in einen anderen Einfluß- und Risikobereich hineingelangt ist, Wertänderungen von seinem Einfluß also unabhängig sind! Dies bedeutet eine erhebliche Risikoerhöhung, die dadurch zumutbar wird, so die Begründung des Regierungsentwurfes zum GmbHG, daß die Gesellschafter einen möglichst nahe an der Anmeldung liegenden Einbringungszeitpunkt wählen können 38 . Wenn also einerseits für den Sacheinleger die Gefahr bleibt, daß die zunächst richtig bewertete Sacheinlage im Zeitpunkt der Anmeldung von den Vereinbarungen in dem Gesellschaftsvertrag abweicht, so folgt umgekehrt aus §9 GmbHG, daß eine Wertminderung, die erst nach Anmeldung zum Handelsregister, aber vor der Eintragung entstanden ist, nicht zu einer Differenzhaftung führt 39 . Doch müßte in solchem Fall das Registergericht die Eintragung ablehnen (§9c GmbHG). Trägt es dennoch ein, widerspricht zwar die Nichthaftung der gesetzgeberischen Zielsetzung einer möglichst weitgehenden Kapitalerhaltung, doch scheidet eine analoge Anwendung von § 9 G m b H G aus, da der Gesetzgeber trotz Kenntnis von der Möglichkeit einer solchen Entwicklung diesen Fall nicht regelte40. V. Umfang der Differenzhaftung 1.

Negativwert

Die Höhe der Nachzahlungspflicht wird sich regelmäßig im Rahmen der Stammeinlage halten. Doch sind Negativwerte von Sacheinlagen in vielerlei Hinsicht vorstellbar: ein umweltgefährdend belastetes Grundstück, dessen Entsorgung höhere Kosten verursacht, als das schadstofffreie Grundstück wert ist; ein Unternehmen, das nachhaltig Verluste macht. Eine Begrenzung der Haftung auf die Höhe der übernommenen Stammeinlage läßt sich aus dem Gesetzeswortlaut nicht ableiten. Er läßt 38

Begründung des Regierungsentwurfs, aaO, S. 35.

39

Hachenburg!Ulmer

40

§9 Rdn. 16.

Begründung des Regierungsentwurfs, aaO, S. 35 unten: „Sollte der Wert einer Sacheinlage in der Zeit zwischen ihrer Einbringung und der Eintragung der Gesellschaft sinken, so wird das Gericht, dem dies bekannt wird, die Eintragung nach § 9 c GmbHG abzulehnen haben."

172

Herbert Gienow

im Gegenteil erkennen, daß auch der Negativwert ersetzt werden muß, da der „Fehlbetrag" geschuldet wird, der begrifflich auch umfaßt, was die Sacheinlage weniger als Null wert ist. Der B G H hat in einer Entscheidung zu §11 Abs. 2 G m b H G obiter dazu Stellung genommen, indem er ausführt: „Diese Haftung ist, falls die Verluste das Stammkapital übersteigen, nicht auf dessen Höhe und die der einzelnen Stammeinlagen beschränkt, sondern geht wie bei der verbotenen Einlagenrückgewähr und dem Ausgleich der Sacheinlagen (§ 9 G m b H G n. F.) auf vollen Verlustausgleich"41. Es bleibt die Frage nach der dogmatischen Begründung für die Haftung auf den Negativwert. Zahlt der Sacheinleger einen Betrag in Höhe der Stammeinlage nach, so wird er sagen, er habe seine Stammeinlage erbracht, und nur die habe er geschuldet. Diese einer NominalwertTheorie entsprechende Begründung ist jedenfalls seit der Schaffung des §9 G m b H G durch die Novelle von 1980 nicht mehr zu vertreten. Den Rechtsgrund für die weitergehende Haftung aus dem Verbot der Unterpari-Emission herleiten zu wollen, ist wenig befriedigend, da dieses Verbot nur eine Konsequenz des Prinzips uneingeschränkter Kapitalaufbringung ist und selbst nichts über Art und Umfang von Sanktionen aussagt42. Vielmehr wird man die Antwort in dem ungeschriebenen, aber in vielen Bestimmungen des Aktien- und GmbH-Rechts durchscheinenden Grundsatz der realen Kapitalaufbringung finden. Das Vermögen der G m b H muß sich um den Betrag mehren, der dem Nennbetrag der Sacheinlage entspricht. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Sacheinleger zwar die Einlage in Höhe des Nominalwertes in bar aufgrund von § 9 G m b H G nachzahlt, zuvor aber Gesellschaftsvermögen abgeschöpft hatte, weil die G m b H nun aus ihrem (sonstigen) Vermögen Belastungen/ Verluste decken muß, die vorher die des Gesellschafters waren. Erforderlich ist, daß der Gesellschaft im Ergebnis ein Vermögenswert zufließt, der dem Betrag der Stammeinlage entspricht, besser gesagt, ihr das Stammkapital im Zeitpunkt ihrer Entstehung unversehrt zur Verfügung stehen läßt43. Der Gedanke der realen Kapitalaufbringung kommt in besonderem Maße in § 19 G m b H G zum Ausdruck, der eine ordnungsgemäße Erfüllung der Einlageverpflichtung, wie sie nach Gesetz, Gesellschaftsvertrag oder Beschluß geschuldet wird, statuiert 44 . Insbesondere der in Absatz 2 41

BGH WM 82, 40. Schmidt, GmbHR 78, 5, 6. « Vgl. OLG Hamburg, DB 1985, 1488, 1491; BGH WM 82, 40. 44 Lutter/Hommelhoff § 19 Rdn. 3. 42

173

Zur Differenzhaftung nach § 9 G m b H G

der Vorschrift enthaltene Grundsatz des Ausschlusses jeder rechtsgeschäftlichen Verringerung der Einlagepflicht zeigt, daß eine Beeinträchtigung des Stammkapitals - gleichviel in welcher Form - unzulässig ist. Ist die Einlage de facto um den Negativwert der Sacheinlage gemindert, kommt dies einer Auszahlung von Stammkapital an den Sacheinleger oder einer völligen oder teilweisen Befreiung von der festgelegten Einlagepflicht gleich, weil die Befreiung auf Kosten des Gesellschaftsvermögens bewirkt wird 45 .

2. Anspruch der Gesellschaft auf Zahlung des Aufgeldes

(Agio)

Häufig entfällt bei der Einbringung von Sacheinlagen im Rahmen von Gesellschaftsgründungen oder Kapitalerhöhungen ihr Gegenwert nicht ausschließlich auf die Einlage, sondern teilweise auch auf ein in der Bilanz getrennt ausgewiesenes Aufgeld (Agio). Eine solche ÜberpariEmission ist rechtlich zulässig 46 . Denn die Gesellschafter können im Innenverhältnis grundsätzlich frei disponieren, solange eine Gefährdung der Gläubiger durch die Vereinbarung eines Aufgeldes nicht eintreten kann 47 . Rechtlich betrachtet man das Agio nicht als Teil der Stammeinlagepflicht, sondern als Nebenleistungspflicht i. S. d. § 3 Abs. 2 G m b H G 4 8 . Dahinter steht wohl ursprünglich die Vorstellung von zwei Leistungen: einer (Haupt-)Leistung auf die Stammeinlage und einer (Neben-)Leistung auf das Agio. Wird im Rahmen einer Sacheinlage der Wert eines einheitlich einzubringenden Gegenstandes auf die Stammeinlage und ein Aufgeld verrechnet und bleibt der objektive Wert der Sacheinlage hinter dem Nennwert von Stammeinlage und Agio zurück, so umfaßt die Differenzhaftung nach § 9 G m b H G auch das Agio. Im Rahmen der Differenzhaftung nach dem Aktienrecht setzt sich bereits zunehmend die Auffassung durch, daß der Sacheinleger im Falle einer Uberbewertung des Gegenstandes sowohl bei der Gründung als auch bei der Kapitalerhöhung nicht nur auf den Nennbetrag der Aktie, sondern auch auf das Agio, den höheren Ausgabebetrag der Aktie,

45 Vgl. zur Erfüllung fremder Verbindlichkeiten als Auszahlung, Hachenburg/ Goedeler/Müller §30 Rdn. 42; zum Erlaß wegen Annahme einer unzulänglichen Leistung, Lutter/Hommelhoff § 19 Rdn. 9; zur wirtschaftlichen Befreiung, Hachenburg/Ulmer § 19 Rdn. 43. 46 Hachenburg/Ulmer §5 Rdn. 155; Rowedder/Rittner § 5 Rdn. 15; Scholz/Winter §5 Rdn. 34. 47 Hachenburg/Ulmer §5 Rdn. 155. 48 Scholz/Winter § 5 Rdn. 34.

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Herbert Gienow

haftet49. Begründet wird diese Auffassung vor allem mit § 3 6 a Abs. 2 Satz 3 AktG, wonach der Wert der Aktie nicht nur dem Nennbetrag, sondern auch dem Mehrbetrag entsprechen muß, für die sie ausgegeben worden ist. Eine dem § 36 a Abs. 2 Satz 3 AktG vergleichbare Vorschrift im GmbH-Recht fehlt, und im Rahmen der GmbH-Novelle 1980 hat der Gesetzgeber eine entsprechende Vorschrift nicht eingeführt. Der Wortlaut von § 9 GmbHG beschränkt die Haftung auf die Stammeinlage. Anders als das AktG unterwürfe also das GmbHG nur das Stammkapital der strikten Vermögensbindung mit der Konsequenz, daß nur die Aufbringung des Stammkapitals einer Kontrolle unterliegen müßte. Weil die nach § 7 Abs. 2 GmbHG vorgesehenen Mindesteinzahlungen sich regelmäßig an dem Nennbetrag der Stammeinlage orientieren, wird vielfach angenommen, es sei vom Registergericht nicht zu prüfen, ob der Gesellschaftsvertrag ein Agio vorsieht50. Das aber läßt sich kaum machen, wenn das Agio nicht als zusätzliche Leistung neben der Sacheinlage erbracht wird, sondern sich der Wert der Sacheinlage aus dem Nennbetrag der Stammeinlage plus dem Betrag des Agios errechnet51. Zumindest in solchem Fall muß der Wert der Sacheinlage auch den Wert des Agios decken, so daß das Registergericht die Eintragung andernfalls abzulehnen hat52. Dies zur Vermeidung einer Irreführung über den objektiven Wert der Stammeinlage53. Das muß gleichermaßen für die Differenzhaftung gelten, und nicht nur aus dem angeführten Grund. Soweit das Registergericht Wertansätze zu prüfen hat, geschieht dies allemal im Interesse der (künftigen) Gläubiger. Aus der Prüfungspflicht ist also auf den Schutz zu schließen. Erkennt das Gericht den Mangel, bewirkt es den Schutz durch Ablehnung der Eintragung. Ubersieht es ihn, muß § 9 GmbHG eingreifen, um den Mangel des Wertes nicht über einen Fehler des Gerichts auf den Gläubiger durchschlagen zu lassen.

« Geßler/Eckhardt §46 AktG Rdn.20; Geßler/Hefermehl §183 AktG Rdn. 106; Hoffmann/Becking, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, § 4 Rdn. 28; wohl auch Krieger, ebenda § 56 Rdn. 40; wohl auch Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 740 f, wonach der Sacheinleger zur Deckung der Wertdifferenz verpflichtet ist, wenn die Sacheinlage nicht vollwertig ist. Vollwertigkeit nach seiner Definition bedeutet, daß sie dem Wert des Nennbetrages, im Fall der Überpari-Emission zuzüglich des Aufgeldes, entsprechen muß. 50 Fischer/Lutter/Hommelhoff § 9 c Rdn. 16. 51 Hachenburg/Ulmer § 9 c Rdn.33; Scholz/Winter § 9 c Rdn.25; Geßler, BB 80, 1385, 1387; a.A. Müller, WPg 1980, 369, 372 f unter Hinweis auf eine restriktive Auslegung des § 9 c. 52 Ebenso Geßler, BB 80, 1385, 1387; Hachenburg/Ulmer § 9 c Rdn. 33. 53 Hachenburg/Ulmer § 5 Rdn. 156.

Zur Differenzhaftung nach § 9 GmbHG

175

Obwohl sich dieser Gedanke geradezu aufdrängt, lassen es die Vertreter der Prüfungspflicht an der Konsequenz fehlen 54 . Die Bestimmung der Höhe des Stammkapitals über das gesetzliche Mindestmaß hinaus ist wie bei der A G in das Ermessen der Gesellschafter gestellt und hier wie dort eine (freiwillige) Vermögensbindung der Gesellschafter. Sie wird bilanziell als Eigenkapital gezeigt, und zwar in gleicher Form wie bei der A G . Gälte § 9 G m b H G nicht auch für das Agio, würde der Allgemeinheit von Gesetzes wegen ein bestimmtes Kapital als Haftungsfonds der Gesellschaft in Aussicht gestellt, dessen Aufbringung aber nicht gesichert. Es ist auch nicht so, daß anders als bei der A G das Agio einer G m b H beliebig ausgeschüttet werden kann: Die G m b H ist durch § 4 2 Abs. 2 G m b H G verpflichtet, das Aufgeld gemäß § 2 7 2 Abs. 2 N r . 1 H G B in die Kapitalrücklage einzustellen. Die Gläubiger können daran erkennen, welches nicht aus erwirtschafteten Gewinnen stammende Eigenkapital der Gesellschaft neben dem Stammkapital zur Verfügung steht. Die Auflösung dieser Rücklage im Rahmen der Gewinnverwendung nach § 2 9 G m b H G und eine Ausschüttung an die Gesellschafter unter Beachtung des § 30 G m b H G setzt voraus, daß die Gesellschafter dies beschließen (können). Wenngleich das Agio keiner gesetzlichen Ausschüttungssperre unterliegt, kann es jedenfalls nur nach Maßgabe des Gesellschaftsvertrages an die Gesellschafter ausgezahlt werden. Es dürfen also im Gesellschaftsvertrag insoweit keine abweichenden Regelungen getroffen sein 55 . Ist hiernach eine Auflösung des in die Kapitalrücklage eingestellten Agios nicht zulässig, bedarf es vor Ausschüttung einer Änderung des Gesellschaftsvertrages, für die regelmäßig eine Dreiviertelmehrheit erforderlich ist ( § 5 3 Abs. 2 G m b H G ) . Zwischen Gründung (oder Kapitalerhöhung) und Ausschüttung ist das Agio wie Stammkapital gebunden. Vom Ergebnis dieser Überlegungen her ist die Differenzhaftung nach § 9 G m b H G nicht auf die Stammeinlage beschränkt.

3.

Zinsen

Sachverhalte, die zu einer Differenzhaftung führen, sind vermutlich keine einfachen. Denn die Bewertung bei Anmeldung und die Prüfung durch das Registergericht beschränken im Tatsächlichen den Anspruch

54 Hachenburg/Ulmer § 5 Rdn. 124 sagt, daß die Voraussetzungen des § 9 nicht vorliegen und ein Anspruch gegen den Sacheinleger im Regelfall nicht gegeben ist (Unterstreichung vom Verfasser). 55 Küting/Weber, Handbuch der Rechnungslegung, § 42 GmbHG, Rdn. 17.

176

Herbert Gienow

auf Fälle schwer und darum erst später erkennbarer Mängel. Die Erstreckung der Verjährungsfrist auf fünf Jahre in § 9 Abs. 2 G m b H G trägt dem Rechnung. Lange Zeiträume bedeuten aber jedenfalls im Geschäftsleben erhebliche Zinsdifferenzen. Wenn §20 G m b H G der Gesellschaft unabhängig von Mahnung und Verschulden ab Einforderung Verzugszinsen gegenüber dem säumigen Einzahler von Bareinlagen zuspricht, gilt das auch für die in Höhe des Fehlbetrages zu leistende Einlage nach § 9 GmbHG 5 6 . Beim allseitigen Handelsgeschäft betragen die gesetzlichen Verzugszinsen 5 % p.a. (§§352, 343 HGB), anderenfalls 4 % p.a. (§288 BGB). Da der Anspruch aus § 9 G m b H G der Gesellschaft zusteht, die aber am Abschluß des Gesellschaftsvertrages nicht beteiligt war, wird vielfach angenommen, es liege kein Handelsgeschäft (zwischen ihr und dem Differenzschuldner) vor 57 . Gesetzt den Fall, alle Gesellschafter sind Vollkaufleute (die Gesellschaft ist es ohnehin), dann kann auch die Gründung/Kapitalerhöhung nur als Handelsgeschäft gedacht werden. Der Schaden aus der minderwertigen Sacheinlage und der im Rahmen des § 9 G m b H G zwangsläufig gegenüber der Einforderung (der Sacheinlage) verspäteten Differenz-Barzahlung wird freilich auch durch 5 % Zinsen regelmäßig nicht ausgeglichen. Darum abschließend die Frage nach einer schadensbedingten weitergehenden Verzinsung aus § 9 GmbHG. Der die Verzinsung auch dieses Anspruchs regelnde §20 G m b H G spricht der Gesellschaft „von Rechts wegen" Verzugszinsen zu. Der in solchem Zusammenhang ungewöhnliche Gesetzeswortlaut geht auf die Zeit vor Inkrafttreten des BGB zurück, bezieht sich also ursprünglich nicht auf die Bestimmungen unseres heutigen Schuldrechts. Dennoch ist deutlich, daß „von Rechts wegen" die Rechtsfolge Verzugszinsen von ihrer Voraussetzung Verschulden und Mahnung abstrahieren soll; gelten soll nur die Rechtsfolge Zinspflicht. Warum nicht über 5 % ( 4 % ) p.a. hinaus, da über die Verzugszinsen hinaus die Geltendmachung weiteren Schadens nicht ausgeschlossen ist (§288 Abs.2 BGB)? Den Unternehmenswert maßgeblich bestimmender Ertragswert ist der Barwert der künftigen Erträge (oben II. 2.), also die abgezinste Summe dieser Zukunftserträge. Diese Kapitalisierung legt für eine Unternehmensbewertung nicht nur den Zins längerfristiger Geldanlagen zugrunde, sondern berücksichtigt auch das (im Kapitalmarktzins nicht

56 Scholz/Winter §20 Rdn. 1; Hachenburg/Müller §20 Rdn. 9; §20 Rdn. 1. 17 Hachenburg/Müller §20 Rdn. 35 nennt dies h. M.

Lutter/Hommelhoff

Zur Differenzhaftung nach § 9 G m b H G

177

enthaltene) Unternehmerrisiko und das Risiko aus der andersartigen allgemeinen Fungibilität. Der Satz, mit dem die Summe der Erträge abgezinst wird, liegt dadurch meist erheblich über dem Kapitalmarktzins (und dieser selten bei nur fünf oder gar vier Prozent). Wird eine fehlgeschlagene Sacheinlage nachträglich kraft § 9 GmbHG durch eine Geldeinlage ersetzt und war als Sache ein Unternehmen eingebracht worden, wird also das in der Unternehmensbewertung dafür zugrunde gelegte Ergebnis nur erreicht, wenn die Geldeinlage nach § 9 GmbHG von der Anmeldung der Gründung oder Kapitalerhöhung an mit dem Satz verzinst wird, mit dem bei der Ermittlung des Unternehmens(Ertrags-)wertes gerechnet wurde. In der Größenordnung liegt der Abzinsungssatz etwa beim Doppelten der 5 % p. a. des HGB. Die Relevanz der Frage nach dem Ersatz auch des „weitergehenden" Zinsschadens ist also ganz unabhängig von sonstigen Mängelfolgen beträchtlich58. Das Verzugsrecht gewährt einen solchen Ersatz nur bei Verschulden des Schuldners. Wie § 9 auf die Differenz, gibt §20 GmbHG einen verschuldensunabhängigen Anspruch auf „Verzugszinsen". Diese Rechtsfolgenverweisung (§§288 BGB, 352 HGB) wird allgemein auf die dort zahlenmäßig genannten Zinsen beschränkt gesehen59. Die fehlgeschlagene Sacheinlage in der Form eines nach dem abgezinsten Wert seiner Erträge eingebrachten Unternehmens haben aber wohl weder diese Autoren noch der Gesetzgeber im Blick gehabt.

58 Trotz dieser Ableitung ist die Zinsdifferenz nicht Inhalt des Anspruchs aus § 9 G m b H G . Der nominelle Stichtagswert (Anmeldung) der Sacheinlage bestimmt die Höhe der Geldforderung und entspricht der an Stammkapital/Agio fehlenden Differenz. Ein Mehr oder Weniger an Ertrag daraus erfaßt § 9 G m b H G nicht. 5 « Hachenburg/Müller, § 2 0 R d n . 3 5 ; Rowedder, § 2 0 R d n . 9 .

Die in § 23 AGBG vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht BARBARA GRUNEWALD

I. Normidee und Wirklichkeit Der Gesetzgeber hat in § 23 Abs. 1 AGBG angeordnet, daß das Gesetz bei Verträgen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts keine Anwendung findet, wobei zum Gesellschaftsrecht auch das Vereins- und das Genossenschaftsrecht zählt1. Ausweislich der in diesem Punkt recht knappen Gesetzesbegründung wollte man mit dieser Bestimmung deutlich machen, daß die besonderen Eigenarten dieses Rechtsgebiets einer Anwendung des AGBG entgegenstehen, wobei auch darauf hingewiesen wurde, daß die Regeln des A G B G mehr auf Austauschverträge zugeschnitten sind2. Was genau diese besonderen Eigenarten des Gesellschaftsrechts sind, bleibt in der Gesetzesbegründung allerdings offen. Immerhin liegt die Vermutung nahe, der Gesetzgeber könne gemeint haben, im Bereich des Gesellschaftsrechts fehle es an einem besonderen Schutzbedürfnis3, das die Anwendung des AGBG plausibel machen könnte. Dabei kann dieses Fehlen eines Schutzbedürfnisses auf zweierlei Art und Weise begründet werden: Entweder mit dem Hinweis darauf, daß die Gesellschafter ihre Interessen selber wahren können, oder aber unter Berufung auf den häufig zwingenden Charakter der einschlägigen gesetzlichen Regelungen. Beide Überlegungen treffen vielfach zu, liefern aber gleichwohl keine überzeugenden Argumente für die Bereichsausnahme. Insbesondere im Recht der Personengesellschaften, aber auch im Recht der GmbH ist es tatsächlich oftmals so, daß die Gesellschafter bei 1 Weitgehend unstreitig, siehe Bundestagsdrucksache VII/3919, S. 41; MünchKommJ Basedow/Kotz, 3. Auflage, §23 A G B G Rdn.9; Horn in: Wolf/Horn/Lindacher, A G B G , 2. Auflage, § 23 Rdn. 77; Staudinger/Schlosser, Kommentar zum B G B , 12. Auflage, §23 A G B G Rdn. 6; Soergel/Sto«, Kommentar zum BGB, 12. Auflage, §23 A G B G Rdn. 9; Ulmer in: Ulmer/Brandner/Hensen, A G B G , 6. Auflage, §23 Rdn. 22; a. A. Erman/ Werner, Kommentar zum BGB, 8. Auflage, §23 A G B G Rdn. 8. 2 Bundestagsdrucksache VII/3919, S.41. 3 So die Interpretation von Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 70 und Soergel/SteiH (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 8.

180

Barbara Grunewald

Vertragsschluß ihre Interessen selber wahren. Eine irgendwie geartete Kontrolle des Gesellschaftsvertrages ist dann nicht notwendig. Vielmehr würde sie eine durch nichts gerechtfertigte Beschränkung der Vertragsfreiheit beinhalten. Die sog. Publikumspersonengesellschaften haben aber gezeigt, daß atypische Situationen auch im Personengesellschaftsrecht auftreten und eine Inhaltskontrolle dann durchaus gerechtfertigt sein kann. Die Judikatur hat sich dem nicht verschlossen und unter Berufung auf §242 BGB ein mittlerweile fest etabliertes Sonderrecht geschaffen4. Durchaus vergleichbar ist die Entwicklung im Vereinsrecht. Hier steht mittlerweile fest, daß die Regelungen, die die Rechtsstellung der Mitglieder betreffen, der Inhaltskontrolle nach §242 BGB jedenfalls dann unterliegen, wenn der Verein im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine überragende Machtstellung innehat5. Ob sich auch das Genossenschaftsrecht in diese Richtung entwickeln wird, bleibt abzuwarten6. Jedenfalls hat diese auf §242 BGB gestützte Inhaltskontrolle zur Folge gehabt, daß die prinzipiellen Überlegungen, die zu der Bereichsausnahme des § 23 AGBG führten, an Uberzeugungskraft verloren haben7. Im Bereich des Kapitalgesellschaftsrechts wird das Fehlen eines Schutzbedürfnisses, das seinerseits die Unanwendbarkeit des AGBG begründen soll, mit dem Hinweis auf das vielfach zwingende Gesetzesrecht begründei8. Da aber eine Inhaltskontrolle sowieso nur dann in Frage kommt, wenn vom Gesetzesrecht abgewichen wird, spricht auch diese an sich durchaus überzeugende Überlegung letztlich nicht gegen eine Inhaltskontrolle. Neben dem Hinweis auf das fehlende Schutzbedürfnis wird die Bereichsausnahme des § 23 AGBG für das Gesellschaftsrecht auch damit gerechtfertigt, daß das AGBG in weiten Teilen auf Austauschverträge zugeschnitten ist, und daher eine sachgerechte Überprüfung der doch meist organisatorische Regelungen betreffenden Bestimmungen von Gesellschaftsverträgen mit Hilfe dieses Gesetzes nicht erreichbar sei9.

4 Nachweise bei Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht 1992, S. 124 ff; Baumbach/Duden/Z/opi, HGB, 28. Auflage, Anh. § 177 a, VIII, 3; H e y m a n n / H o r n , HGB, § 1 6 1 Rdn. 1 6 0 f f ; Ulmer (Fn. 1) § 2 3 R d n . 2 8 f f . 5 B G H Z 105, 318; siehe auch Grunewald, Der Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, 1987, S. 141 ff; MünchKomm./Äeafer, Kommentar zum BGB, 2. Auflage, V o r § 2 1 A G B G Rdn. 126; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 29. 6 Offengelassen in B G H Z 103, 219, 226. 7 Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 71; Soergel/Siei» (Fn. 1) § 2 3 A G B G Rdn. 8; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 19 f. * Münch^ommJBasedow/Kotz (Fn. 1) § 2 3 A G B G Rdn. 9; Horn (Fn. 1) § 2 3 Rdn. 70; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 19. 9 Bundestagsdrucksache VII/3919, S . 4 1 ; MünchK-ommJ Basedow/Kotz (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 11; Soergel/Siei« (Fn. 1) § 2 3 A G B G Rdn. 8; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn.20.

In §23 AGBG vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht

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Diese Argumentation bezieht sich ersichtlich nicht auf die §§ 2 - 6 AGBG und läßt auch die Frage offen, ob, wenn doch einmal eine Austauschbeziehung in einem Gesellschaftsvertrag angesprochen ist, Parallelen zu den Regeln des AGBG gezogen werden können. Immerhin macht der Hinweis darauf, daß die Regeln des AGBG auf Austauschbeziehungen zugeschnitten sind, deutlich, daß auch ohne die Bereichsausnahme des §23 AGBG die Probleme von Publikumspersonengesellschaften und Großvereinen nicht gelöst wären. Die genannten Überlegungen haben letztlich allgemein zu einer kritischen Haltung gegenüber der Bereichsausnahme für das Gesellschaftsrecht geführt. Demgemäß entspricht es einer weitverbreiteten Ansicht, daß diese Bestimmung eng ausgelegt werden sollte10. II. Vereinbarungen zwischen Gesellschaft/Verein und Gesellschaftern/Mitgliedern 1. Vereinbarungen

im

Gesellschaftsvertrag/Satzung

a) Organisatorische

Regelungen

Die Bereichsausnahme betrifft Verträge auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts. Hierzu gehören zweifelsohne die Gesellschaftsverträge und Satzungen der BGB-Gesellschaft, O H G , KG, AG, KGaA, GmbH, Genossenschaft und des Vereins". Soweit dabei organisatorische Regelungen betroffen sind, ist dies das genuine Anwendungsfeld der Bereichsausnahme. Eine Inhaltskontrolle nach den Regeln des AGBG findet dort also nicht statt. b) Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft/Verein und Gesellschaftern/Mitgliedern In den letzten Jahren hat sich allerdings gezeigt, daß Gesellschaftsverträge und Satzungen bisweilen auch Regelungen enthalten, die Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft/Verein und Gesellschaftern/ Mitgliedern betreffen. In diesen Zusammenhang gehört etwa ein Urteil des B G H , in dem es um die Verpflichtung zur Entgeltzahlung für die Nutzungsmöglichkeit einer EDV-Anlage sowie einer Telefon- und Funkzentrale einer Genossenschaft von Taxen ging12. Der Beklagte hatte die Einrichtungen der Genossenschaft nicht mehr in Anspruch genommen und fühlte sich durch die Kündigungsfristen für die Mit10 Horn (Fn. 1) §23 Rdn.3; Staudinger/ScMosser (Fn. 1) §23 AGBG Rdn. 1; Soergel/Stein (Fn. 1) §23 AGBG Rdn.2. 11 Zur stillen Gesellschaft, unten II 1 d. 12 BGHZ 103, 219.

182

Barbara Grunewald

gliedschaft und die daran gekoppelte fortdauernde Entgeltzahlungspflicht für die Nutzungsmöglichkeit bezüglich der Einrichtungen der Genossenschaft übermäßig belastet. Er meinte, mindestens die Pflicht zur Zahlung des Entgelts für die Nutzungsmöglichkeit in bezug auf die Einrichtungen der Genossenschaft müsse kurzfristig beendbar sein. Insofern berief er sich auf § 11 Nr. 12 AGBG. Nicht viel anders lag der Sachverhalt einer Entscheidung des BGH, die eine stille Gesellschaft betraf 13 . Dort war dem stillen Gesellschafter ein sog. „Ferienrecht" eingeräumt, worunter die Befugnis zu verstehen war, Immobilien, die im Eigentum des anderen Gesellschafters standen oder von ihm verwaltet wurden, zu nutzen. Außerdem war der stille Gesellschafter automatisch Mitglied des sog. „A-Clubs", was ihn zur Inanspruchnahme von Leistungen aus dem „Clubleistungspaket" berechtigte, das die Möglichkeit verbilligten Einkaufs von allerlei Artikeln - vom Auto bis zu Möbeln - bot. Gestritten wurde um die Kündigungsmöglichkeit für das Gesellschaftsverhältnis, wobei wiederum § 11 N r . 12 AGBG herangezogen wurde. Im Ergebnis hat der B G H die beiden Fälle unterschiedlich beurteilt. Im Rechtsstreit der Genossenschaft hat er das AGBG nicht angewandt, wohl aber bei der stillen Gesellschaft. Dabei wurde darauf abgestellt, ob die Verpflichtungen unmittelbar auf dem Gesellschaftsvertrag beruhen, ob sie mitgliedschaftlicher Natur sind und ob sie dazu dienen, den Gesellschaftszweck zu verwirklichen. N u r wenn alle drei Kriterien kumulativ gegeben sind, entfällt nach Ansicht des B G H die Anwendbarkeit des AGBG 14 . Bei den Clubleistungen sah der B G H jedenfalls das zuletzt genannte Kriterium als nicht erfüllt an: Es gehe bei der in Rede stehenden stillen Gesellschaft in erster Linie darum, die Immobilien des einen Gesellschafters zu nutzen. Die verbilligten Einkaufsmöglichkeiten hätten hiermit nichts zu tun. Eine nur mittelbare Förderung des Gesellschaftszwecks, wie sie durch jede Schaffung von Attraktionen für die Stellung des stillen Gesellschafters eintrete, weil damit die Möglichkeit verbunden ist, weitere stille Gesellschafter anzuwerben, reiche nicht aus. Im Genossenschaftsfall fiel die Wertung demgegenüber anders aus: Betroffen war die wichtigste Förderleistung der Genossenschaft. Damit, so der BGH, sei ein unmittelbarer Bezug zum Zweck des genossenschaftlichen Zusammenschlusses gegeben15.

13

B G H W M 92, 99. Zustimmend MünchKomm./Basedow!Kotz (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 13; Soergel/ Stein (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 9. 15 Anders lag der Fall des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese in NJW-RR 91, 998, der einen Dauernutzungsvertrag einer Wohnungsbaugenossenschaft betraf; das A G B G war daher anwendbar; so hat auch das Amtsgericht entschieden. 14

In §23 AGBG vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht

183

Beide Urteile gehen von der Überlegung aus, daß allein die Tatsache, daß eine Regelung in der Satzung!Gesellschaftsvertrag getroffen worden ist, nicht zur Folge haben kann, daß das AGBG nicht zur Anwendung kommt16. Dies überzeugt. Denn andernfalls würde ein rein formales Kriterium - der O r t der Regelung das mit dem Schutzbereich des A G B G nichts zu tun hat, über dessen Anwendbarkeit entscheiden. U m zur Nichtanwendbarkeit des A G B G zu kommen, muß nach Ansicht des B G H hinzukommen, daß die Verpflichtungen mitgliedschaftlicher Natur sind und dazu dienen, den Gesellschaftszweck zu verwirklichen. Diese Formulierungen sind nicht ganz klar, zumal man sich kaum vorstellen kann, daß eine Pflicht mitgliedschaftlicher Natur ist, aber nicht dem Gesellschaftszweck dient. Was gemeint ist, wird deutlich, wenn man die genannten Urteile näher betrachtet. Der Inhaltskontrolle entzogen werden - um die Terminologie des Kapitalgesellschaftsrechts zu benutzen - die sog. materiellen Satzungsbestandteile, der Inhaltskontrolle unterworfen die sog. formellen Satzungsbestandteile. Dies ist auch der Grund dafür, daß in dem Genossenschaftsurteil darauf abgestellt wird, daß das Austausch- und Nutzungsverhältnis auf „korporationsrechtlicher Ebene" ablief17. Dieses Anknüpfen an formelle und materielle Satzungsbestandteile macht auch Sinn. Materielle Satzungsbestandteile sind diejenigen mitgliedschaftlichen Vereinbarungen, die jedenfalls im Bereich der Kapitalgesellschaften und Vereine besonderen Auslegungsregeln unterliegen, nur in einem förmlichen Verfahren geändert werden können und ipso iure auf den Erwerber der Mitgliedschaft übergehen, soweit ein solcher Erwerb möglich ist18. In diesem Bereich wäre eine Inhaltskontrolle anhand des A G B G aus mehreren Gründen fehl am Platze. Zum einen soll nach der Anordnung des Gesetzgebers auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts eine Inhaltskontrolle anhand des A G B G nicht stattfinden. Hierzu müssen die mitgliedschaftlichen Vereinbarungen wohl schon vom Wortlaut des §23 A G B G her gezählt werden. Auch kann in bezug auf solche korporationsrechtlichen Regelungen noch am ehesten erwartet werden, daß Gesellschafter/Mitglieder von ihnen bei einem Beitritt Kenntnis nehmen und ihre Zweckmäßigkeit überprüfen.

" Soergel/Sta« (Fn. 1) §23 AGBG Rdn.9; UunchKomm./Basedow/Kotz (Fn. 1) §23 AGBG Rdn. 13 für den Verein. 17 Deutlich O L G Köln NJW-RR 87, 1116f als Vorinstanz des B G H ; hier soll nicht zu der Frage Stellung genommen werden, ob diese Beziehung überhaupt auf korporationsrechtlicher Ebene denkbar ist; zur Kritik der Judikatur Michel, Die Fördergeschäftsbeziehung zwischen Genossenschaft und Mitglied, 1987; dazu Hadding, WM 88, 1466. 18 Siehe Scholz/Emmerich, G m b H G , 7.Auflage, § 3 Rdn.61; Lutter/Hommelhoff, G m b H G , 13. Auflage, § 3 Rdn. 44; Winter, Z H R 154 (1990), S.259, 263.

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Zugleich bewahrt die Notwendigkeit eines besonderen Abänderungsverfahrens die Gesellschafter/Mitglieder vor ständig wechselnden Regelungswerken, auf deren Ausgestaltung sie keinen Einfluß nehmen können. Auch sind gerade diese korporationsrechtlichen Normen der Regelungsbereich, der üblicherweise Inhalte betrifft, die anhand der Klauselverbote des AGBG nicht überprüft werden können. Soweit Rechtsschutzlücken bleiben, kann erwartet werden, daß die Judikatur ohne weiteres unter Rückgriff auf §242 BGB Abhilfe schaffen wird. Dabei können die Grundgedanken etwa von § 3 AGBG (überraschende Klausel) und §5 AGBG (Unklarheitenregel) sowie etwa auch das sog. Transparenzgebot durchaus eine Rolle spielen19. Für die Personengesellschaft findet sich eine Unterscheidung zwischen materiellen und formellen Bestandteilen des Gesellschaftsvertrages von der Terminologie her - soweit ersichtlich - nicht 20 . In der Sache muß diese Abgrenzung aber ebenfalls getroffen werden, da es auch bei diesen Gesellschaften Abreden gibt, die — unabhängig davon, ob sie im Gesellschaftsvertrag oder anderswo getroffen worden sind - nur zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter (und nicht auch seinem Einzelrechtsnachfolger) gelten sollen und die aufgrund einer schlichten Vereinbarung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft wieder abgeändert werden können, ohne daß das für Gesellschaftsvertragsänderungen vorgesehene Verfahren eingehalten werden müßte. Daher kann durchgängig für alle Gesellschaften, Genossenschaften und Vereine gesagt werden, daß sog. materielle Gesellschafts-/Satzungsbestandteile der Inhaltskontrolle nach dem AGBG entzogen sind. Betrachtet man das Urteil des B G H zur stillen Gesellschaft unter diesem Aspekt, so bleiben gewisse Zweifel, ob in diesem Fall wirklich wie es der B G H angenommen hat - eine Inhaltskontrolle möglich war. Da die Gesellschaft nur aus zwei Personen bestand, ist die Abgrenzung zwischen formellen und materiellen Gesellschaftsvertragsbestandteilen zweifelsohne besonders schwierig. Denn die Abänderbarkeit der getroffenen Vereinbarung - sonst ein recht klares Unterscheidungskriterium ist dann vielfach die gleiche: erforderlich ist, gleichgültig ob es sich um einen formellen oder um einen materiellen Gesellschaftsvertragsbestandteil handelt, stets das Einverständnis des Partners. Sollte allerdings, was durchaus möglich erscheint, ein einseitiges Änderungsrecht des Vertragspartners des Stillen gerade in bezug auf den Inhalt der Clubmitgliedschaft vorgesehen gewesen sein, so spräche dies deutlich für die

" Dazu Fastrich (Fn.4) S.324. Siehe aber die Andeutungen bei Priester, DB 79, 681 und den eine KG betreffenden Fall B G H W M 70, 246. 20

In §23 A G B G vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht

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Lösung des B G H . Auch eine Rechtsnachfolge in die Gesellschafterstellung ist bei 2-Personen-Gesellschaften vielfach nicht vorgesehen, so daß auch nicht danach unterschieden werden kann, ob der Nachfolger in jedem Fall ebenfalls gebunden sein soll. In dieser Situation hat der B G H dann auf den Zweck der Mitgliedschaft abgestellt und dabei die verschiedenen „Zwecke" der Beteiligung - Ferienwohnrecht und billige Einkaufsmöglichkeiten - gewichtet. So recht überzeugen will das allerdings nicht. Denn es mag ja durchaus sein, daß manche Gesellschafter mehr Interesse an einem verbilligten PKW als einem Ferienwohnrecht haben. Daher sollte man in den Fällen, in denen die Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Gesellschaftsvertrags-/Satzungsbestandteilen schwerfällt, von der Vermutung ausgehen, daß das, was im Gesellschaftsvertrag/ in der Satzung geregelt ist, auch als materieller Bestandteil dieses Vertrages zu verstehen ist 21 . O b im Fall des B G H diese Vermutung zu widerlegen war, muß hier letztlich offenbleiben. Im allgemeinen läßt sich aber sagen, daß sich für eine Regelung als materieller Bestandteil des Gesellschaftsvertrages / der Satzung (schon wegen der erschwerten Abänderbarkeit bezüglich der einmal getroffenen Bestimmungen) allenfalls die Grundaussagen in bezug auf das nebenher laufende Austauschverhältnis eignen. Nicht glücklich ist es jedenfalls, wenn das Urteil noch einmal innerhalb der Art der Clubleistungen differenziert und die Inhaltskontrolle auf diejenigen Clubleistungen beschränkt, die mit dem Ferienwohnrecht nicht in Zusammenhang stehen 22 . Denn schließlich bezieht sich die zur Diskussion stehende Bindung auf die gesamte Mitgliedschaft. 2. Vereinbarungen außerhalb von Gesellschaftsvertrag und Satzung Absprachen, die das Rechtsverhältnis zwischen Gesellschaft/Verein und Gesellschaftern/Mitgliedern betreffen, befinden sich bisweilen auch außerhalb von Gesellschaftsverträgen und Satzungen. Unabhängig von ihrem Inhalt unterliegen diese Abreden jedenfalls im Bereich des Kapitalgesellschaftsrechts und der Genossenschaft der Inhaltskontrolle nach dem A G B G . Für die Kapitalgesellschaften und Genossenschaften folgt dies aus der bereits geschilderten Tatsache, daß nur echte Satzungsbestandteile der Inhaltskontrolle entzogen sind und solche echten Satzungsbestandteile stets den Formerfordernissen unterliegen, die für die Satzungsurkunde vorgesehen sind. Damit ist ein klares Abgrenzungskriterium gegeben. Es kann nur das dem Anwendungsbereich des A G B G entzogen sein, was in

21

Lutter/Hommelhoff (Fn. 18) §3, Rdn.44; a. A. Hueck in: Baumbach/Hueck,

G m b H G , 15. Auflage, §3 Rdn.56. 22 Stein in A n m . L M 4/1992 §3 A G B G Nr. 10 Bl. 722.

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der Satzungsurkunde enthalten ist. Hieraus folgt zugleich, daß Vereinsordnungen der Inhaltskontrolle nach dem AGBG unterliegen 23 . Bei den Personengesellschaften wird vielfach ebenfalls ein schriftlicher Gesellschaftsvertrag vorliegen. Außerhalb eines solchen Gesellschaftsvertrages getroffene Absprachen können ihn durchaus ergänzen und sind dann ebenfalls, soweit es sich um formelle Gesellschaftervertragsbestandteile handelt, der Inhaltskontrolle entzogen. Immerhin gilt aber wiederum die bereits geschilderte Vermutung, daß Absprachen, die formell außerhalb des Gesellschaftsvertrages getroffen werden, auch materiell keine Regelungen des Gesellschaftsvertrages enthalten. Wie weit die Judikatur sich auf diese Linie festlegen wird, kann bislang noch nicht abschließend gesagt werden. Immerhin betonen die Entscheidungen zur Genossenschaft und zur stillen Gesellschaft, daß Regelungen nur dann der Inhaltskontrolle nach dem AGBG entzogen sind, wenn sie unmittelbar auf dem Gesellschaftsvertrag / der Satzung beruhen. Das entspricht dem hier vertretenen Standpunkt. Entscheidungserheblich war das genannte Kriterium aber bislang noch nicht, da diese formellen Voraussetzungen in beiden Fällen gegeben waren. Wären die gleichen Vereinbarungen außerhalb des Gesellschaftsvertrages / der Satzung getroffen worden, so wäre in dem Genossenschaftsfall die Inhaltskontrolle mit Sicherheit eröffnet worden. Bei der stillen Gesellschaft hätte eine entsprechende Vermutung für dasselbe Ergebnis gesprochen. Die Erleichterungen bei der Abänderbarkeit der getroffenen Regeln (keine Gesellschaftsvertrags-/Satzungsänderung erforderlich) müssen also mit der Hinnahme der Kontrolle nach dem AGBG erkauft werden. Damit fallen auch Absprachen zwischen Gesellschaft/Verein und Gesellschaftern/Mitgliedern in den Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle, die kein Austauschverhältnis betreffen24. Demgegenüber könnte man der Ansicht sein, daß jedenfalls diejenigen Absprachen, die außerhalb der Satzung/des Gesellschaftsvertrages erfolgen und die sich nicht auf ein Austauschverhältnis zwischen Gesellschaft/Verein und Gesellschaftern/Mitgliedern beziehen, dem AGBG entzogen sind. Uberzeugen würde das allerdings aus mehreren Gründen nicht. Zum einen ist eine solche inhaltliche Unterscheidung wegen der wenig klaren Abgrenzungskriterien stets problematisch. Hinzu kommt, daß auch sonst das AGBG ja nicht deshalb unanwendbar ist, weil der Klauselkatalog nicht

23 Grunewald, ZHR 152 (1988), S.242, 251 f f ; Staudinger/ScWosttT ( F n . l ) , § 2 3 A G B G Rdn. 8; a. A . Wieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990, S. 230; a. A . f ü r die Geschäftsordnungen der Genossenschaft, in denen Einzelheiten der Sachleistungspflichten der Genossen festgelegt werden, Müller, G e n G , 2. Auflage, § 1 8 Rdn. 10. 24 Ebenso für den Verein, Staudinger/ScWossir (Fn. 1) § 2 3 A G B G Rdn. 8.

In § 23 A G B G vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht

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eingreift. Auch ist zu bedenken, daß eine Inhaltskontrolle auch dann sinnvoll und möglich ist, wenn die auf Austauschverhältnisse zugeschnittenen Klauselverbote des A G B G nicht eingreifen. Dies gilt etwa für die Bestimmungen der §§2-5, aber auch für § 9 A G B G , der allerdings unter Rückgriff auf gesellschaftsrechtliche Grundprinzipien angereichert werden muß. 3. Die stille Gesellschaft In der Literatur ist gesagt worden, daß für die stille Gesellschaft die Bereichsausnahme des §23 A G B G von vornherein nicht gilt25. Dabei wird auf die Ähnlichkeit zu reinen Austauschverträgen hingewiesen 26 . In dem geschilderten Urteil des B G H , das eine stille Gesellschaft betraf, wird auf diese Ansicht nicht eingegangen. Da der B G H aber die Anwendbarkeit des A G B G im gegebenen Fall bejaht hat, kann der Entscheidung nicht entnommen werden, daß der B G H nicht eventuell doch der Ansicht zuneigen wird, für die stille Gesellschaft gelte die Bereichsausnahme in keinem Fall. Würde man die stille Gesellschaft prinzipiell der Inhaltskontrolle nach dem A G B G unterwerfen - also die Bereichsausnahme stets für unanwendbar halten - , so würde man sich für diesen Gesellschaftstyp die gerade bei zweigliedrigen Gesellschaften besonders schwierige Abgrenzung zwischen formellen und materiellen Gesellschaftsvertragsbestandteilen ersparen. Wirklich überzeugen würde ein solches Ergebnis aber nicht. Denn schließlich werden andere 2-Personen-Gesellschaften ganz unstreitig der Inhaltskontrolle entzogen. Auch kann allein der Hinweis darauf, daß eine gewisse Nähe zu schlichten Austauschverträgen besteht, nicht dazu führen, daß die Inhaltskontrolle stets eingreifen müßte. Dies wiederum zeigt der Blick auf die Genossenschaft. Soweit das Austauschverhältnis korporationsrechtlicher N a t u r ist, unterliegt es ja gerade nicht der Inhaltskontrolle. Im übrigen ist der Wortlaut des §23 A G B G eindeutig: ausgenommen sind Verträge auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts. Hierzu gehört aber auch die stille Gesellschaft. Praktisch geworden ist die Frage nach der Inhaltskontrolle außer in dem bereits geschilderten Fall des B G H bei stillen Gesellschaften, bei denen die Beitragsleistung des Stillen in der Übernahme einer Bürgschaft 25 Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 24; die stille Gesellschaft wird in die Bereichsausnahme mit einbezogen von O L G Köln DB 83, 104, 105; LG Koblenz ZIP 82, 165; LG Mannheim ZIP 82, 558; Fastrich (Fn.4) S.231; L ö w e / v. Westphalen /Trinkner, AGBG, 2. Auflage, §23 Rdn. 12 sowie Staudinger/S'cWojser (Fn. 1) §23 AGBG Rdn.6; Soergel/Siem ( F n . l ) §23 A G B G Rdn.9; je nach Vertragsgestaltung soll nach Horn ( F n . l ) §23 Rdn.75 die Bereichsausnahme gelten oder nicht. 26 Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 24.

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für die Schulden des anderen Gesellschafters lag27, wobei der Stille bei Abschluß des Bürgschaftsvertrages durch den anderen Gesellschafter vertreten wurde. Diese Vertretungsmacht wurde in dem jeweiligen Gesellschaftsvertrag erteilt. Die Vollmachtklausel stand dann später zur Überprüfung. Völlig zu Recht sind diese Klauseln nicht anhand des A G B G überprüft worden. Es ging um die Beitragsleistung des Stillen und damit eindeutig um ein materielles Element des Gesellschaftsvertrages. Die Bereichsausnahme des §23 A G B G war also einschlägig. 4. Der Mißbrauch der Bereichsausnahme In der Literatur findet sich vielfach der Hinweis, die Bereichsausnahme des §23 A G B G könne auch mißbraucht werden. Dann greife sie nicht ein28. Welche Fallgestaltungen damit erfaßt werden sollen, ist noch nicht abschließend geklärt. Gemeint sind aber wohl vorwiegend Mitgliedschaften in Vereinen, aber auch in Gesellschaften, die nur der Anknüpfungspunkt für die Erbringung von Dienst- und Warenleistungen sind. Hierzu können etwa Buch- und Schallplattenclubs rechnen29. Einen Beispielsfall bildet unter Umständen ein Urteil des O L G Frankfurt 30 . Dort betrieb die Klägerin einen sog. „W-Club", in welchem sie für ihre Mitglieder Wochenendveranstaltungen organisierte. Diese Veranstaltungen waren jeweils gesondert zu vergüten. Die Einzelheiten waren in einem Formularvertrag niedergelegt, der zugleich die Mitgliedschaft in dem W-Club begründete. Daß hier eine Inhaltskontrolle zu erfolgen hat, dürfte im Ergebnis unstreitig sein. Vermutlich ging es überhaupt nicht um den Erwerb einer Mitgliedschaft, da ein solches kommerzielles Unternehmen in dieser Rechtsform gar nicht aufgezogen werden dürfte. Vielmehr lag schlicht ein Dienstvertrag vor, der nur anders bezeichnet war31. Sofern aber wirklich im Zusammenhang mit Vereinsmitgliedschaften oder Gesell27 LG Koblenz ZIP 82, 165 und O L G Köln DB 83, 105; die Sachverhalte sind aber nicht ganz deutlich, eventuell lag eine Unterbeteiligung vor; auch handelt es sich vielleicht nicht um eine Bürgschaft, sondern um einen Darlehensvertrag; siehe auch LG Mannheim ZIP 82, 558: der Fall betrifft eine Unterbeteiligung. 28 Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 80; Staudinger/ScMosser (Fn. 1) §7 AGBG; Soergel/Stein (Fn. 1) §7 AGBG Rdn. 4; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 24. 29 Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 80; Soergel/Sto« (Fn. 1) §7 AGBG Rdn. 4; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 25; kritisch Staudinger/ScWosser (Fn. 1) §7 AGBG. 30 NJW 84, 180; angeführt bei Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn.25. 31 Im Ergebnis auch O L G Frankfurt NJW 84, 180 ohne Erwähnung der Problematik des §23 AGBG.

In §23 A G B G vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht

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schaftsbeteiligungen Leistungen des Vereins / der Gesellschaft erbracht werden, gilt die bereits geschilderte Regel: Entscheidend ist, ob die Leistungen auf korporationsrechtlicher Basis erbracht werden oder nicht. D a eine Anpassung solcher Leistungen an veränderte Verhältnisse meist möglich sein muß, scheidet eine Festschreibung in der Satzung / im Gesellschaftsvertrag vielfach aus, so daß die Kontrolle nach dem A G B G möglich ist. Lediglich die Grundaussagen lassen sich zweckmäßigerweise als materielle Satzungs-/Gesellschaftsvertragsbestandteile ausgestalten. Es ist daher kaum zu erwarten, daß das Umgehungsverbot des § 7 A G B G in diesem Bereich des §23 A G B G praktisch werden wird. Jedenfalls reicht es für die Anwendung des § 7 A G B G nicht aus, daß eine Leistung im Zusammenhang mit einer Mitgliedschaft erbracht wird, die auch auf der Basis eines Austauschvertrages hätte abgewickelt werden können 32 . Denn es ist Sache der Parteien, darüber zu befinden, wie sie ihre rechtlichen Beziehungen zueinander ausgestalten. III. Vereinbarungen der Gesellschafter/Mitglieder untereinander Vereinbarungen, die sich auf die Mitgliedschaft beziehen, werden vielfach auch unter den Gesellschaftern/Mitgliedern getroffen. In diesen Zusammenhang gehören etwa sog. Stimmbindungsverträge, Pool- und Kooperationsvereinbarungen sowie die Festlegung von Berichtspflichten und Vorkaufsrechten 33 . Es liegt nahe, wegen der Thematik dieser Abreden, die sich ja auf Fragen der Mitgliedschafts- / der Gesellschaftsbeteiligung beziehen, die Bereichsausnahme anzuwenden, jedenfalls soweit nicht ein reiner Austauschcharakter vorherrscht 34 . Die Bereichsausnahme des §23 A G B G würde dann jedenfalls für Absprachen gelten, die die Ausübung von Gesellschafterrechten betreffen 35 . Damit wären diejenigen Vereinbarungen der Inhaltskontrolle nach dem A G B G entzogen, für deren Überprüfung den Klauselverboten nur wenig entnommen werden kann. Von dem hier vertretenen Standpunkt aus kann dem nicht gefolgt werden. Allein die Thematik der Abreden kann nicht dazu führen, daß eine Inhaltskontrolle nach dem A G B G entfällt. Nicht jede Vereinbarung, die gesellschaftsrechtliche Fragen betrifft, beinhaltet einen Vertrag auf dem Gebiet des Gesellschaftsrecht im Sinne des §23 A G B G . Jede Kritisch zur Bestandsaufnahme Staudinger/Sci/osser (Fn. 1) § 7 A G B G . Beispiele bei Baumann/Reis, Z G R 89, 157. 34 Soergel/Ston (Fn. 1) §23 A G B G Rdn.9; wohl auch Waichshöfer, 10 Jahre AGBGesetz, herausgegeben von Heinrichs/Löwe/Ulmer, 1987, S. 155, 160. 35 Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 74; für Stimmbindungsverträge ebenso Soergel/Siej« (Fn. 1) §23 A G B G Rdn.9; a.A. in bezug auf Stimmrechtsvollmachten, MünchKomm./ Basedow (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 12. 32

33

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andere Sichtweise führt zwangsläufig zu unklaren Abgrenzungskriterien: Daß Vorkaufsrechte in bezug auf Gesellschaftsbeteiligungen der Inhaltskontrolle unterliegen, dürfte unstreitig sein, obwohl sich auch im Bezug auf diese Vereinbarungen durchaus sagen ließe, daß sie „auf Struktur, Personenkreis und Willensbildung" der Gesellschaft einwirken 36 . Wie wenig deutlich die Grenze ist, wird auch im Zusammenhang mit Absprachen klar, die das Stimmrecht betreffen. Hier sollen Stimmrechts vollmachten dem A G B G unterfallen, nicht aber Stimmbindungsverträge 37 , obwohl doch beides ganz nahe beieinander liegt. Im übrigen wäre ein so weites Verständnis der Bereichsausnahme auch nicht sachgerecht: Das zeigt etwa auch der Vergleich mit dem unstreitig 38 der Inhaltskontrolle unterfallenden Depotstimmrecht. Soll allein die Tatsache, daß Vertragspartner ein Mitgesellschafter ist, dazu führen, daß Vereinbarungen, die das Stimmrecht betreffen, dann von der Bereichsausnahme erfaßt werden? Dies läßt sich auch dann nicht rechtfertigen, wenn man auf die persönliche Motivation des Gesellschafters etwa in dem Sinne abstellt, daß bei der Stimmausübung durch die Bank die Erbringung einer Dienstleistung im Vordergrund steht 39 . Auch der Schutzzweck des A G B G verlangt nach der Anwendung dieses Gesetzes auf Absprachen der Gesellschafter untereinander, gleich welchen Inhalts. Wenn ein Gesellschafter sich durch vorformulierte Vereinbarungen eine besondere Stellung in der Gesellschaft schaffen will, so besteht genau das Machtgefälle, dem das A G B G entgegentreten will. Daß die Klauselverbote nicht passen, hat nicht zur Folge, daß das A G B G insgesamt nicht herangezogen werden könnte. Die übrigen Bestimmungen behalten ihren Aussagegehalt. Daß auch sonst aus der Unanwendbarkeit der Klauselverbote nicht der Schluß gezogen wird, daß das A G B G insgesamt nicht zur Anwendung kommt, wurde schon gesagt 40 . Sofern es sich bei den Absprachen der Gesellschafter/Mitglieder untereinander um echte Satzungs-/Gesellschaftsvertragsbestandteile handelt, greift die Bereichsausnahme allerdings ein. Für die juristische Person kommen insoweit aber wieder nur Vereinbarungen im Rahmen der Satzungsurkunde in Frage, da ja korporationsrechtliche Absprachen außerhalb der Urkunde nicht wirksam getroffen werden können. Für die Personengesellschaften gelten keine vergleichbaren Formerfordernisse. Doch wird sich auch hier meist durchaus problemlos feststellen lassen, So die Abgrenzung bei Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 74. MünchKommJBasedow (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 12; das A G B G ist nicht anwendbar, wenn eine BGB-Gesellschaft vorliegt, Ulmer (Fn. 1) §23 R d n . 2 1 a. 38 M ü n c h K o m m . / B a s e d o w (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 12; Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 74; Soergel/Ston (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 9; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 21 a. 39 So Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 74. 40 Oben II. 2. 36

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In § 23 A G B G vorgesehene Bereichsausnahme für Gesellschaftsrecht

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ob der Gesellschaftsvertrag ergänzend abgeändert werden sollte. Soweit - wie wohl stets - ein schriftlicher Gesellschaftsvertrag existiert, greift die bereits genannte Vermutung ein41. IV. Vereinbarungen der Gesellschafter mit Dritten Wie weit Vereinbarungen der Gesellschafter mit Dritten unter die Bereichsausnahme fallen, ist ebenfalls umstritten. Im ganzen herrscht aber wohl doch die Tendenz vor, hier die Bereichsausnahme nicht anzuwenden, zumal die Gesetzesbegründung ausdrücklich sagt, daß Depotstimmrechtsverträge der Inhaltskontrolle nicht entzogen sind 42 . Auch Verträge über die Veräußerung und Verpfändung sowie die Nießbrauchbestellung an Gesellschafterbeteiligungen werden meist durchaus der Inhaltskontrolle unterstellt43. Eine Ausnahme für Fälle, in denen dem Partner ein gesellschafterähnlicher Einfluß auf die Gesellschaft eingeräumt wird 44 , sollte nicht anerkannt werden. Denn sonst wäre bei jedem Rechtsgeschäft, das auf die Übertragung von Gesellschaftsbeteiligungen zielt (Hauptbeispiel: Kauf solcher Beteiligungen), das A G B G nicht anwendbar. Diese unterschiedliche Behandlung der Gesellschaftsbeteiligungen gegenüber allen anderen Gegenständen des Rechtsverkehrs wäre nicht sachgerecht. Ebenso wird allgemein gesagt, daß Treuhandverträge der Investoren mit den jeweiligen Treuhändern der Inhaltskontrolle unterliegen45. Auch das überzeugt. Denn soweit es um Verträge der Gesellschafter/Mitglieder mit Dritten geht, kann - ganz unabhängig vom jeweiligen Regelungsinhalt - die Bereichsausnahme des § 23 A G B G nicht zur Anwendung kommen. Dies ergibt sich aus der bereits geschilderten Überlegung, daß nur echte Satzungs-/Gesellschaftsvertragsbestandteile der Inhaltskontrolle entzogen sind. Daß allein der Hinweis auf einen Regelungsinhalt, der gesellschaftsrechtliche Fragen betrifft, der Anwendbarkeit des A G B G nicht Oben II. 1. Bundestagsdrucksache VII/3919, S.41. 43 MünchKommJBasedow (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 12; Walchshöfer (Fn.34) S. 160; Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn. 21a; Soergel/5to« (Fn. 1) §23 A G B G Rdn. 9 mit Ausnahme der Regeln, die die Mitgliedschaftsrechte betreffen; aber das kann leicht der ganze Vertrag sein. 44 Horn (Fn. 1) §23 Rdn. 74 unter Hinweis darauf, daß der Schutz der übrigen Gesellschafter durch das Gesellschaftsrecht sichergestellt wird; das ist zwar sicher richtig, rechtfertigt aber nicht die Nichtanwendung des A G B G gegenüber den veräußernden Gesellschaftern, siehe dazu Ulmer (Fn. 1) §23 Rdn.21 a, Fn.59. 45 MünchKomm./Ätte2 BGHZ 64, 325; Lutter, aaO (Fn.4), S. 134; Rittner, aaO (Fn.7), S.369. 13 Bei Offenbarungen, deren Wirkung der Gesellschaft zugute kommen soll, ist ein absolut verstandenes Verschwiegenheitsgebot problematisch; vgl. Rittner, aaO (Fn. 7), S. 379; K.K/Mertens, AktG, §93 Rdn. 82.

Gesellschaftsvertragliche Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten

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gung wird man den zuständigen Organen einen Beurteilungsspielraum zugestehen müssen. Die h. M. lehnt einen derartigen Beurteilungsspielraum zwar ab14, doch wird auch von Vertretern des objektiven Geheimnisbegriffs die Befugnis zur Einschränkung von Geheimnissen und damit Lockerung der Verschwiegenheitspflicht durchaus anerkannt. Dies geschieht allerdings mittels des dogmatisch etwas unklaren (subjektiven) Geheimhaltungswillens als weiterem Tatbestandsmerkmal des Geheimnisbegriffs 15 .

3.

Geheimhaltungswille

Da die h. M. beim Geheimhaltungsinteresse jegliche Dispositionsbefugnis der Beteiligten ablehnt, benötigt sie als subjektives Korrektiv den Geheimhaltungswillen des Berechtigten, der allerdings grundsätzlich vermutet oder unterstellt wird 16 . Abgesehen von möglichen strafrechtsdogmatischen Bedenken im Rahmen der §§404 AktG, 85 GmbHG, legt es schon die prinzipiell unbestreitbare Verfügungsbefugnis der im Rahmen der Gesellschaftsorganisation zuständigen Organe über Gesellschaftsvermögen nahe, sie auch über die Geheimhaltung/Offenbarung von Informationen eigenverantwortlich unternehmerisch entscheiden zu lassen. Der im Rahmen seiner Organkompetenz Verfügungsberechtigte soll deshalb auf den Geheimnisschutz verzichten und damit die Verschwiegenheitspflicht der Geheimnisträger aufheben können 17 . Mit der (hiernach gerechtfertigten) Offenbarung eines Geheimnisses im Einzelfall durch das zuständige Organ verliert die relativ unbekannte Tatsache freilich nicht ihren Charakter als Geheimnis. Ohne die zumindest konkludente Erklärung, den Geheimhaltungswillen generell aufzugeben, berechtigt die Offenbarung durch ein zuständiges Organ andere Beteiligte nicht dazu, die Information ebenfalls weiterzugeben. 14 Dafür spricht das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot beim Tatbestand der §§404 AktG, 85 GmbHG, vielleicht aber auch das Interesse, die Kontrolle über die Gesellschaftsorgane zu wahren; der objektive Geheimnisbegriff wurde ja insbesondere zur Begrenzung des Schweigegebots von Aufsichtsratsmitgliedern entwickelt; BGH DB 1975, 1309; Säkker, NJW 1986, 803, 805. 15 Zur Unterscheidung von positiver Ausweitung und negativer Beseitigung des Geheimnischarakters Lütter, aaO (Fn. 4), S. 209. " Scholz/Schneider, §43 Rdn. 117; Scholz/Tiedemann, §85 R d n . 7 f f ; BGH DB 1975, 1309; von Stebut, aaO (Fn.4), S. 28 ff m . w . N . ; Lutter, aaO (Fn.4), S. 136; Hoffmann, Der Aufsichtsrat, 1985, S. 59; ablehnend: Lutter/Hommelhoff, § 85 Rdn. 4 m. w. N.; Baumbach/Hueck/Zöllner, §35 Rdn. 21; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, §85 Rdn. 11. 17 Lutter, aaO (Fn.4), S. 107; von Stebut, aaO (Fn.4), S.26.

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Rüdiger Volhard und Dolf Weber

Welchem Organ der GmbH die Befugnis zusteht, sich den Geheimhaltungswillen zu bilden und ihn zu äußern und damit über den Geheimnisschutz zu disponieren, ist streitig. Dem wird im folgenden nachgegangen. Dabei ist von besonderem Interesse, ob ein Verzicht auf die Geheimhaltung gegen den Willen und/oder das Interesse anderer Gesellschaftsbeteiligter möglich ist. Bei der Suche nach praktikablen Kriterien für die Abgrenzung zwischen Offenbarungs- und Verschwiegenheitspflichten werden die in Betracht kommenden Informanten und Informationsempfänger getrennt untersucht. III. Offenbarungsrechte des Geschäftsführers 1. Gegenüber

Dritten

Die Erteilung von Auskünften an Dritte ist im Regelfall Geschäftsführungsmaßnahme18. Stärker als der eigenverantwortlich handelnde Vorstand der Aktiengesellschaft (§ 76 Abs. 1 AktG) ist der Geschäftsführer einer GmbH allerdings an die Entscheidungen der Gesellschafter gebunden, deren Weisungen er grundsätzlich zu befolgen hat. Der Bereich, innerhalb dessen für Geschäftsführer die unmittelbare Dispositionsbefugnis über Informationen, also ein eigenes Recht zur Auskunftserteilung, in Betracht kommt, wird durch das Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung beschränkt. a) Gesellschafterweisung, eine Information („ Informationssperre ")

nicht zu erteilen

Die Gesellschafter können Geschäftsführerentscheidungen durch Beschluß beeinflussen oder sogar an sich ziehen (§§37 I, 45 GmbHG). Ihre Weisungsbefugnis ist nicht auf die Grundlagen der Unternehmenspolitik beschränkt, nur darf sie nicht jede eigene Geschäftsführungsbefugnis beseitigen19. Die Gesellschafterversammlung kann danach den Geschäftsführer auch zur Verschwiegenheit in einzelnen Angelegenheiten gegenüber Dritten anweisen. An diese Weisung ist er gebunden; er darf Auskunft nicht erteilen, und zwar auch dann nicht, wenn objektiv fraglich ist, ob das Gesellschaftsinteresse die Vertraulichkeit überhaupt 18 Bei der AG folgt aus der Geschäftsführungsbefugnis des Gesamtvorstandes auch dessen Befugnis, als „Herr des Gesellschaftsgeheimnisses" über den Kreis der Personen zu bestimmen, die von dem Geheimnis Kenntnis erlangen dürfen. KK¡Mertens, AktG, §93 Rdn. 82; Geßler/Hefermehl, AktG, § 93 Rdn. 21; Volhard, GRUR 1980, 498; Säcker, NJW 1986, 805; a. A. Schnorr, AuR 1953, 135 (Zuständigkeit der Hauptversammlung). " H.M., Baumbach/Hueck/Zöllner, § 3 7 Rdn. 6 ff, §46 Rdn. 60; Hachenburg/ Mertens, §37 Rdn. 8; Scholz/Schneider, §37 Rdn. 29; a.A. Hommelhoff, ZGR 1978, 127, 129.

Gesellschaftsvertragliche Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten

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erfordert 20 . Für diesen Weisungsbeschluß der Gesellschafterversammlung genügt gem. §47 G m b H G die einfache Mehrheit. Es spielt für den Geschäftsführer auch keine Rolle, ob der Beschluß gegen die Interessen von Minderheitsgesellschaftern verstößt oder verstoßen kann, etwa weil er eine für sie vorteilhafte Entwicklung (Unternehmensübernahme, Kapitalzufuhr) erschwert oder verhindert 21 . O b eine Tatsache der Geheimhaltung bedarf oder nicht, entscheiden im Verhältnis zum Geschäftsführer die Gesellschafter. Der Geschäftsführer darf die Entscheidung der Gesellschafter also nicht darauf „überprüfen", ob ein für den objektiven Geheimnisbegriff erforderliches Geheimhaltungsinteresse überhaupt vorliegt. Dieses wird durch den von der Gesellschafterversammlung ausdrücklich erklärten Geheimhaltungswillen überlagert. Der Geschäftsführer verletzt bei Offenbarung entgegen einer ausdrücklichen Informationssperre seine Verschwiegenheitspflicht deshalb sogar dann, wenn feststehen sollte, daß ein objektiv relevantes Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft gar nicht besteht. Die Verschwiegenheitspflicht wird hier durch den Gesellschafterbeschluß umfassend definiert und betrifft schlechthin alles, was der Geschäftsführer aus seiner Tätigkeit für die Gesellschaft erfährt 22 .

b) Gesellschafterweisung, eine Information zu erteilen („ Informationsfreigabe ") Umgekehrt können die Gesellschafter den Geschäftsführer - wie dies bei Unternehmensverkäufen insbesondere durch den Alleingesellschafter oder alle Gesellschafter häufig geschieht - anweisen, Dritten eine unter die Geheimhaltungspflicht fallende Information zu erteilen (wegen der Mehrheitserfordernisse eines solchen Beschlusses s. unten V. 1.). Entsprechend den GmbH-rechtlichen Organkompetenzen ist er auch an eine solche Weisung gebunden 23 . Allerdings besteht insoweit eine eingeschränkte - Prüfungspflicht. Von der Verschwiegenheitspflicht befreit nur eine Weisung, die nicht offensichtlich fehlerhaft ist, etwa weil das Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft erkennbar das Offenbarungsinteresse überwiegt oder weil der Beschluß aus formellen Gründen unwirksam ist oder weil der Geschäftsführer die Weisung selbst pflicht20

Hachenburg/Mertens, §43 Rdn.44; ScholzHJ.H. Schneider, §43 Rdn. 117. Zur Bindungswirkung im unmittelbaren Anwendungsbereich des §51a GmbHG vgl. Hachenburg/Hueffer, §51a Rdn. 54; Scholz/K.Schmidt, §51aRdn.43. 22 Strafbarkeit des Geschäftsführers gem. §85 GmbHG kommt allerdings nicht in Betracht, wenn es am objektiven Tatbestandsmerkmal des Geheimhaltungsinteresses fehlt; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, §85 Rdn. 10; Lutter/Hommelhoff, §85 Rdn. 3. 23 Zur Bindung an anweisende Gesellschafterbeschlüsse vgl. Zöllner, ZGR 1977, 324; Hachenburg/Schilling, §37 Anm.3; Roth, GmbHG, 2. Aufl. 1987, §45 Anm.2.1.2. 21

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widrig herbeigeführt hat. Von derartigen Konstellationen abgesehen darf er die Auskunft erteilen und ist von jeder Haftung sowohl der Gesellschaft als auch Minderheitsgesellschaftern gegenüber befreit24. c) Entscheidungsspielraum oder Pflicht zur Herbeiführung eines Gesellschafterbeschlusses ? Fehlt es an einer Weisung der Gesellschafter, kommt ein eigenverantwortlicher Entscheidungsspielraum des Geschäftsführers in Betracht. Die Befugnis, in eigener Zuständigkeit darüber zu entscheiden, ob eine unbekannte Tatsache geheimgehalten werden soll oder nicht, ergibt sich für den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb aus der umfassenden Kompetenz, alle unternehmerischen Entscheidungen für die Gesellschaft im Rahmen der §§35f GmbHG zu treffen25. Fraglich kann nur sein, ob diese Zuständigkeit bei einer geplanten Anteilsveräußerung anders zu beurteilen ist. Bei der Aktiengesellschaft wird dem Vorstand jegliche Kompetenz zu Abwehrmaßnahmen gegen eine beabsichtigte Übernahme bestritten mit dem Hinweis auf die diesbezügliche Neutralitätspflicht des Vorstands. Seine Aktionäre dürfe sich der Vorstand nicht aussuchen. Der Gesellschaft sei die Zusammensetzung ihres Gesellschafterkreises gleichgültig 26 . Ob dieser Beschränkung der Vorstandskompetenzen trotz § 76 Abs. 1 AktG generell zuzustimmen ist, soll hier nicht erörtert werden. Jedenfalls läßt sich die Argumentation nicht auf die GmbH übertragen, weil bei ihr ohnehin alle ungewöhnlichen Entscheidungen von der Gesellschafterversammlung zu treffen sind. Auch ohne ausdrückliche Anordnung hat deshalb der Geschäftsführer die Gesellschafter (ggf. auch andere Organe) über wesentliche Entwicklungen oder Planungen zu informieren. Das gilt insbesondere dort, wo damit gerechnet werden muß, daß die Gesellschafter (um überhaupt Weisungen erteilen zu können) mit der Problematik befaßt werden wollen. Da der Gesellschaf-

24 Zum Haftungsausschluß bei weisungsgemäßem Verhalten vgl. Hachenburg/Mertens, §43 Rdn. 67 ff; BaumhochIHueck/Zöllner, §43 Rdn. 22 ff; Rowedder/Koppensteiner, §43 Rdn. 25; Heisse, Die Beschränkung der Geschäftsführerhaftung gegenüber der GmbH, 1988, S. 6 4 f f ; a. A.: Höhn, Die Geschäftsleitung der GmbH, 1987, S.35, der dem Willen der Gesellschafter keine rechtliche Bedeutung für den Geschäftsführer beimißt und für diesen allein die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes maßgebend sein läßt. 25 Str., wie hier: Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, §85 Rdn. 11; Hachenburg/ Kohlmann, §85 Rdn. 47; Scholz/Tiedemann, §85 Rdn. 9; Roth, §43 Anm. 2.2 (e); MeyerLandrut, GmbHG 1987, §85 Rdn. 4; a.A. Lutter/Hommelhoff, §85 Rdn. 4. 26 KK/Mertens, AktG, §76 Rdn.26; Ebenroth/Daum, DB 1991, 1157, 1158, 1161; Lutter, JZ 1976, 225; LG Frankfurt, WM 1992, 437; Rümker, aaO (Fn.4), S.688.

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terversammlung das Weisungsrecht hinsichtlich der Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen zusteht, hat der Geschäftsführer im Regelfall vor der beabsichtigten Weitergabe von Gesellschaftsinterna an Dritte im Zusammenhang mit einem geplanten Gesellschafterwechsel die Gesellschafter hierüber zu unterrichten. Fraglich ist nur, ob er über diese Pflicht hinaus eine Entscheidung durch Abstimmung in einer Gesellschafterversammlung oder in anderer Weise (§48 Abs. 2 GmbHG) herbeizuführen/abzuwarten27 hat oder ob ihm eine eigene Entscheidungsbefugnis zusteht. Eine derartige Pflicht folgt nicht bereits aus § 5 1 a Abs. 2 Satz 2 GmbHG. Diese Zuständigkeitsregelung betrifft nur die Information von Gesellschaftern, nicht die von Dritten. Zur Einberufung der Gesellschafterversammlung ist der Geschäftsführer außer in ausdrücklich bestimmten Fällen gem. § 4 9 Abs. 2 GmbHG verpflichtet, wenn dies im Interesse der Gesellschaft erforderlich erscheint. Erforderlich ist die Einberufung, wenn die Gesellschafter für die Entscheidung ausschließlich zuständig sind und nicht daneben eine eigene Zuständigkeit des Geschäftsführers besteht28. Außergewöhnliche Maßnahmen halten sich nicht mehr im Rahmen der gesetzlichen Geschäftsführer-Zuständigkeit29; üblicherweise bedarf kraft ausdrücklicher Satzungsregelung alles, was nicht im Rahmen des gewöhnlichen Geschäftsbetriebes liegt, der Zustimmung der Gesellschafterversammlung oder von Aufsichtsgremien. Da die Anteilsveräußerung zur Veränderung der Gesellschafterzusammensetzung (der Eigentümerstruktur) führt, gehören die damit in Zusammenhang stehenden Maßnahmen nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb. Daraus könnte zu folgern sein, auch die Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen im Zusammenhang einer geplanten Anteilsübertragung liege grundsätzlich nicht in der Zuständigkeit des Geschäftsführers. Durch die Offenbarung ohne ausdrückliche Zustimmung der Gesellschafter verletzte der Geschäftsführer somit seine Verschwiegenheitspflicht30. Dieses Ergebnis läßt jedoch Zweifel offen angesichts der Vielfältigkeit von möglichen Zusammensetzungen der Gesellschafterversammlung

17 Für Zustimmungserfordernis der Gesellschafterversammlung Lutter/Hommelh o f f , §85 Rdn. 4; Scholz/Tiedemann, §85 Rdn. 18; bei personalistisch strukturierter GmbH auch Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, §85 Rdn. 11. 28 BaumbachIHuecklZöllner, § 4 9 Rdn. 13. 29 Hachenburg/Mertens, §37 Rdn. 5; Scholz/Schneider, §37 Rdn. 10 ff; Lutter/ Hommelhoff, §37 Rdn. 10; Rowedder/Koppensteiner, GmbHG, §37 Rdn. 10; a. A. Baumbach IHueckl Zöllner, § 3 7 Rdn. 6. 30 So Koppensteiner, Z H R 1991, 100 m . w . N .

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und der damit verbundenen Interessenkonstellationen. Eine differenzierte Betrachtung entspricht deshalb eher den weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten bei der Abgrenzung von Rechten und Pflichten des Geschäftsführers gegenüber den Gesellschaftern. Als Differenzierungskriterium bieten sich aufgrund des engen Sachzusammenhangs zwischen der Veräußerung von Geschäftsanteilen und der damit verbundenen Offenbarung die zu § 15 Abs. 5 GmbHG entwickelten Fallgruppen an. Die grundsätzlich freie Abtretung der Anteile kann gem. § 15 Abs. 5 GmbHG von der „Genehmigung der Gesellschaft" abhängig gemacht werden. Dieses Zustimmungserfordernis läßt sich im Gesellschaftsvertrag unterschiedlich regeln: aa) Schreibt der Gesellschaftsvertrag die Zustimmung „der Gesellschafterversammlung" oder „der Gesellschafter" vor, so bedarf es eines entsprechenden Beschlusses, der im Zweifel mit einfacher Mehrheit zustande kommt, sofern der Gesellschaftsvertrag nicht andere Mehrheiten vorsieht31. Dann muß auch die mit der Zustimmung zur Anteilsübertragung unmittelbar zusammenhängende Entscheidung über die Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen an den Erwerbsinteressenten durch Gesellschafterbeschluß erfolgen. bb) Verlangt der Gesellschaftsvertrag die Zustimmung „der Gesellschaft", so wird sie zwar vom Geschäftsführer erklärt. Dieser benötigt aber zuvor eine Ermächtigung durch Beschluß der Gesellschafterversammlung, sofern der Vertrag nichts anderes vorsieht32. Ist ein vorhergehender Beschluß der Gesellschafterversammlung erforderlich, so umfaßt diese Zuständigkeitsregelung im Innenverhältnis aufgrund des engen sachlichen Zusammenhangs auch die Verfügungsbefugnis über Geschäftsgeheimnisse, so daß der Geschäftsführer zur Offenbarung ohne Zustimmung der Gesellschafterversammlung nicht berechtigt ist. cc) Sieht die Satzung die Zustimmung eines anderen Organs der Gesellschaft (z. B. des Aufsichtsrats) vor, ist streitig, ob dieses die Zustimmung zu erteilen und zu erklären hat33 oder der Geschäftsführer34. Auf diesen die Vertretung im Außenverhältnis betreffenden Meinungsstreit kommt es aber für die Frage eines Verstoßes gegen die gesellschaftsinterne Verschwiegenheitspflicht nicht an. Ohne das vorherige Einverständnis

31

Scholz/Winter, §15 Rdn.93; Baitmbach/Hueck, §15 Rdn.43; Rowedder, §15 Rdn. 102. 32 OLG Hamburg, WM 1992, 1531; Scholz/Winter, §15 Rdn. 96; Baumbach/ Hueck, § 15 Rdn. 41; Rowedder, § 15 Rdn. 101; a. A. Meyer-Landrut, § 15 Rdn. 14. 33 Scholz/Winter, §15 Rdn.97; Baumbach/Hueck, §15 Rdn. 42. 34 Rowedder, §15 Rdn. 102.

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des zuständigen Organs besteht jedenfalls kein Offenbarungsrecht des Geschäftsführers. dd) Ein eigener Entscheidungsspielraum des Geschäftsführers über die Zustimmung zur Übertragung eines Geschäftsanteils und danach auch zu der sachlich damit zusammenhängenden Offenbarung von Gesellschaftsinterna besteht, sofern die Abtretung einer Genehmigung gem. §15 Abs. 5 G m b H G bedarf, somit nur dann, wenn der Gesellschaftsvertrag vom Erfordernis eines Gesellschafterbeschlusses ausdrücklich absieht. Außerdem kommt er immer in Betracht, wenn der Anteil frei abtretbar ist. ee) Dieser Spielraum des Geschäftsführers wird nicht durch eine „Neutralitätspflicht" in bezug auf die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises eingeschränkt35. Insbesondere für die personalistisch strukturierte G m b H ist die Identität der Gesellschafter von wesentlicher Bedeutung. Die Lösung aus der Gesellschaft wegen des Hinzutritts unerwünschter Gesellschafter ist schwieriger als bei der A G (§15 Abs. 3 GmbHG). Bestand und Veränderung des Gesellschafterkreises werden hier u. U. zum Gesellschaftsinteresse und sind deshalb auch vom Geschäftsführer zu beachten. Nicht einmal bei der kapitalistisch organisierten GmbH ist auszuschließen, daß ein Gesellschafterwechsel das Gesellschaftsinteresse berührt. Allenfalls ließe sich sagen, daß die Wahrung des Einflusses (sei es der Gesellschafter, sei es der Gesellschaft) auf die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises ausschließlich über die gesellschaftsvertragliche Vereinbarung eines Zustimmungsvorbehaltes gem. §15 Abs. 5 G m b H G möglich sei. Macht der Gesellschaftsvertrag davon keinen Gebauch, sei jede Einflußnahme auf einen Gesellschafterwechsel ungerechtfertigt. Aber auch wenn dem Geschäftsführer die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises gleichgültig zu sein hätte, muß er im Einzelfall zwischen der Gefahr einer Schädigung der Gesellschaft durch Offenbarung von Interna und dem Interesse zumindest des veräußernden Gesellschafters an der Anteilsübertragung abwägen. Allenfalls führt die Neutralitätspflicht dazu, daß bei einem bloßen Gesellschaftertausch die Identität des Dritten dann außer Betracht zu bleiben hat, wenn sie im konkreten Fall ohne Bedeutung für die Gesellschaft ist. Die Neutralitätspflicht des Geschäftsführers allein rechtfertigt danach weder die Erteilung noch die Verweigerung von Auskünften an erwerbsinteressierte Dritte. 35 Zur Neutralitätspflicht des Vorstandes Rdn.26; Rümker, aaO (Fn.4), S.688.

bei der A G

vgl. KK/Mertens,

§76

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d) Verschwiegenheitspflicht des Geschäftsführers Innerhalb seines beschränkten Entscheidungsspielraums bleibt der Geschäftsführer generell der Verschwiegenheitspflicht unterworfen, hat also grundsätzlich gegenüber Dritten in bezug auf Gesellschaftsgeheimnisse Stillschweigen zu bewahren. In Ermangelung einer ausdrücklichen Vorschrift wird diese in §85 GmbHG vorausgesetzte Pflicht entweder aus der allgemeinen Förderpflicht des Geschäftsführers36 oder aus §43 Abs. 1 GmbHG 3 7 hergeleitet. Die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes ist die Sorgfalt, „die ein ordentlicher Geschäftsmann in verantwortlich leitender Position bei selbständiger, treuhänderischer Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen einzuhalten hat" 37a . Das gilt auch für die Anbahnung von Verhandlungen über einen geplanten Anteilsverkauf und die damit zusammenhängende Offenbarung von Gesellschaftsinterna. Schließlich kann die Pflicht zu loyalem Verhalten (Treuepflicht) gem. § 242 B G B die Offenbarungsrechte des Geschäftsführers gegenüber Dritten beschränken38. Im Einklang mit dem objektiven Geheimnisbegriff kann der Geschäftsführer nicht bestimmen, ob überhaupt ein Geschäftsgeheimnis vorliegt. Dies ist immer dann der Fall, wenn das Bekanntwerden von Tatsachen jedenfalls generell geeignet ist, die Interessen der Gesellschaft zu beeinträchtigen. Der Geschäftsführer hat, wenn man so will, keine „Definitionsmacht". Allenfalls kann er innerhalb seiner Zuständigkeit (subjektiv) die Entscheidung darüber treffen, ob und wann geheime Tatsachen offenbart werden sollen. Dafür können im Einzelfall beachtliche Gründe sprechen. Der Geschäftsführer verstößt dabei nur dann nicht gegen das Verschwiegenheitsgebot, wenn ein konkret nachweisbares Gesellschaftsinteresse an der Offenbarung besteht. Bei Ermittlung dieses Gesellschaftsinteresses ist das Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft und das Offenbarungsinteresse des Gesellschafters (oder sogar der Gesellschaft) zu ermitteln und sachgerecht gegeneinander abzuwägen.

e) Gesellschaftsinteresse bei beabsichtigter

Anteilsveräußerung

Die verbreitete Formulierung, die Geschäftsführer seien verpflichtet, nicht offenkundige Tatsachen über die Gesellschaft geheimzuhalten, 36 BGH, DB 1975, 1309; O L G Koblenz, WM 1986, 481; Hachenburg/Mertens, §43 Rdn.44; Scholz/Schneider § 4 3 Rdn. 115. 37 RGZ 64, 257; O L G Bremen, GmbHR 1964, 8 ff. 371 Hachenburg/Mertens, § 4 3 Rdn. 23. 38 Baumbach/Hueck/Zöllner, § 3 5 Rdn. 21; Scholz/Schneider $43 Rdn. 121 ff; Hachenburg/Mertens, § 4 3 Rdn.37; Hachenburg/Hüffer, §51a Rdn.ll; Rowedder/Koppensteiner, §43 Rdn. 19.

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sofern das Gesellschaftsinteresse durch deren Offenbarung beeinträchtigt werden könnte39, legt die Annahme nahe, eine möglicherweise nachteilige Offenbarung von unternehmensinternen Tatsachen wäre dem Geschäftsführer im Rahmen der Vorbereitung einer Anteilsveräußerung schlechthin verboten40. Dabei bliebe jedoch unbeachtet, daß die Ermittlung des maßgeblichen Gesellschaftsinteresses eine subjektive Abwägung erfordert, die allerdings unter vergleichbaren Gesichtspunkten objektiv nachvollziehbar und auch gerichtlich überprüfbar sein muß, wie sie im Verwaltungsrecht für die Uberprüfung von Ermessensentscheidungen entwickelt worden sind41. Die Abwägungskompetenz des Geschäftsführers vorausgesetzt (s. oben III. 1. c), ist zunächst das Gesellschaftsinteresse für beide Entscheidungsalternativen zu ermitteln, also das Geheimhaltungsinteresse einerseits und das Interesse an der Offenbarung der vertraulichen Information andererseits. Neben dem Gesellschaftsinteresse kann dabei durchaus auch das besondere Interesse einzelner Gesellschafter Gewicht erlangen. Bei der anschließenden Abwägung ist dann jede Offenbarung auszuschließen, die „gesellschaftsfremden Zwecken" dient (§51 a Abs. 2 GmbHG). Allerdings wird sich oft nicht eindeutig beurteilen lassen, ob mit dem Anteilserwerb an der GmbH ein „gesellschaftsfremder Zweck" verfolgt wird, insbesondere dann nicht, wenn der Erwerber bereits Gesellschafter ist. Maßgeblich ist deshalb darauf abzustellen, welche Zwecke mit der geplanten Übernahme von Gesellschaftsanteilen verfolgt werden. In diese Richtung zielt wohl auch Lutter, wenngleich seine Ansicht, das Geheimhaltungsinteresse könne durch ein Gegeninteresse an der Verbreitung derart aufgehoben werden, daß begrifflich (objektiv) überhaupt kein Geheimnis mehr vorliegt42, ohne Not die Einzelfallabwägung über den Geheimnischarakter entscheiden läßt. aa) Von besonderer Bedeutung ist bei dieser Abwägung der Informationsempfänger. Offenbarungsrechte sind weiter, wo der Empfänger seinerseits durch Gesetz oder Vertrag zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Daher werden Offenbarungsrechte insbesondere gegenüber zur Berufsverschwiegenheit verpflichteten Personen (Steuerberatern, Wirt39 So Koppensteiner, Z H R 1991, 100; ähnlich Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, §85 Rdn. 10; Rowedder/Koppensteiner, §43 Rdn. 19. 40 So ausdrücklich Koppensteiner, Z H R 1991, 100, der die Zustimmung der Gesellschafter zur Offenbarung von Geheimtatsachen für erforderlich hält. 41 Die Begriffe „Ermessen" und „Reduzierung auf N u l l " verwenden z. B. auch Scholz/Schneider, §43 Rdn. 118; ablehnend: Rittner, aaO (Fn.7), S.369. 42 Lutter, aaO (Fn.4), S. 139.

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schaftsprüfern und Rechtsanwälten) weitgehend anerkannt, häufig auch in Gesellschaftsverträgen ausdrücklich43. bb) Der Geschäftsführer persönlich kann ebenso wie die durch ihn vertretene Gesellschaft gegenüber dem interessierten Erwerber zur Information verpflichtet sein. Insbesondere beim Management-Buy-Out gerät der Geschäftsführer durch die doppelte Pflichtenkonstellation gegenüber den Buy-Out-Partnern einerseits und der Zielgesellschaft andererseits in eine Interessenkollision, die er bei der Abwägung zu berücksichtigen hat44. Die bloße Existenz einer Pflichtenkollision befreit den Geschäftsführer aber nicht von seiner Verschwiegenheitspflicht. cc) Gründe für die Geheimhaltung ergeben sich bei „Geheimnissen" i. e. S. aus dem objektiven Geheimnisbegriff. Eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht liegt hier bereits vor, wenn die Verbreitung des Geheimnisses gesellschaftsschädigende Wirkung haben kann. Bei den weniger schutzbedürftigen „vertraulichen Angaben" sind die Anforderungen an die Begründung des Geheimhaltungsinteresses entsprechend höher. Dies gilt erst recht für die bloßen „sonstigen Interna", bei welchen eine konkret nachweisbare Schädigung der Gesellschaft erforderlich sein muß, um eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht zu begründen. Die Verschwiegenheitspflicht des Geschäftsführers beim geplanten Anteilserwerb besteht also nicht umfassend in dem Sinne, daß er an Dritte schlechthin nichts von dem weitergeben darf, was er durch seine Tätigkeit erfahren hat. Vielmehr besteht ein Spielraum für die unternehmerische Entscheidung, der um so weiter ist, je weniger das Geheimhaltungsinteresse beeinträchtigt wird. dd) Für die Abwägung zwischen den Folgen der Preisgabe einer Information für die Gesellschaft und den Gründen, die für die Offenbarung sprechen, lassen sich folgende Fallgruppen unterscheiden: Geht es um die wirtschaftliche Rettung des Unternehmens, wird die Weitergabe hierzu erforderlicher Informationen normalerweise berechtigt sein. Voraussetzung ist eine objektiv nachvollziehbare (und gerichtlich überprüfbare) Prognose des Geschäftsführers. Allerdings wird er vorab zu erwägen haben, ob ihm in der Krise überhaupt die OrganKompetenz für eine solche Entscheidung zusteht (s. oben III. 1. c). Ist die geplante Übernahme von Gesellschaftsanteilen nur wirtschaftlich nützlich (verbesserte Kapitalversorgung, erleichterter Marktzugang, größere Marktanteile, Zuführung von Know-how, Synergien und dgl.), 43

Scholz /K. Schmidt, § 5 1 a Rdn.6; Hachenburg/Hüffer, dazu Koppensteiner, Z H R 1991, 101 (dort Fn.6). 44 Hauschka, BB 1987, 2169, 2175.

§ 5 1 a Rdn. 15; kritisch

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wird eine aus der Offenbarung möglicherweise folgende Gefährdung des Gesellschaftsinteresses stärker zu beachten und der Kreis der Informationen, die ohne Verstoß gegen Geheimhaltungspflichten offenbart werden können, enger zu ziehen sein. Erscheint dem Geschäftsführer die geplante Übernahme im Gesellschaftsinteresse unerwünscht, stellt sich namentlich die Frage, ob und welche Informationen an einen "White Knight" zulässig sind. Auch hier ist abzuwägen, welche Entscheidung dem Gesellschaftsinteresse mehr entspricht. Wie jedes Organ oder Organmitglied eine Prognose-Entscheidung aber nur innerhalb der ihm gesellschaftsrechtlich zugewiesenen Kompetenzen treffen kann, darf der Geschäftsführer bei Abwehr einer Übernahme nicht gegen einen Gesellschafterbeschluß handeln. Gegen den - unterstellt rechtmäßig gebildeten - Willen der Gesellschafterversammlung darf er den Anteilserwerb durch einen ihm unerwünschten Übernehmer also nicht zu verhindern versuchen und etwa zu diesem Zweck einem White Knight Informationen geben. ee) Fraglich bleibt allerdings, ob bei der Abwägung auch Interessen einzelner Gesellschafter zu berücksichtigen sind. Hierfür dürfte es auf die Struktur der Gesellschaft ankommen. Je personalistischer die GmbH ausgestaltet ist, desto stärker ist die Treuepflicht unter den einzelnen Gesellschaftern45. Daraus folgt jedenfalls für den GesellschafterGeschäftsführer die Pflicht zur stärkeren Berücksichtigung einzelner Gesellschafterinteressen neben dem von der Mehrheit definierten Gesellschaftsinteresse. Ferner ist die konkrete Interessenkonstellation zu berücksichtigen: Liegt es im Interesse von Gesellschaftern, ein Geschäftsgeheimnis weiterhin geheimzuhalten, während der Gesellschaft als solcher die Offenbarung zugute käme, sollte das Interesse der Gesellschafter als Abwägungskriterium Vorrang haben (z. B. wenn der Erwerbsinteressent Konkurrent einzelner Gesellschafter, nicht aber der Gesellschaft ist)46. Sind umgekehrt Gesellschafter an der Offenbarung interessiert, kann der Geschäftsführer Auskünfte an sie verweigern und einen entsprechenden Gesellschafterbeschluß einholen, wenn der Gesellschaft durch die Auskunft ein nicht unerheblicher Nachteil droht (§ 51 a Abs. 2 GmbHG). Dies gilt erst recht, wenn Dritten im Interesse oder gemäß 45 Martin Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindung im GmbH-Recht, 1988, S. 43 ff; BGHZ 14, 25, 38. 44 Siehe aber Scholz/K.Schmidt, §51a Rdn.40 m.w.N.: Danach soll im Rahmen des §51 a Abs. 2 der bloß einem Mitgesellschafter drohende Nachteil außer Betracht bleiben, wobei K. Schmidt allerdings zutreffend darauf hinweist, daß ein Nachteil einzelner Gesellschafter wegen des entstehenden Unfriedens auch ein Nachteil für die Gesellschaft zu sein pflegt.

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ausdrücklichem Willen eines Gesellschafters Informationen gegeben werden sollen. Eindeutig nicht zu berücksichtigen sind lediglich eigene Interessen des Geschäftsführers (auch wenn er Mitgesellschafter ist), die in der Diskussion unter dem Stichwort „Verteidigung der eigenen Position" eine Rolle spielen. Daß der Geschäftsführer nach dem Gesellschafterwechsel mit einem Verlust seiner Stellung rechnen muß, ist weder ein Gesellschaftsnoch ein Gesellschafterinteresse, das bei der Abwägung zu berücksichtigen wäre, mag es in der Praxis auch gelegentlich geschehen. f f ) Schließlich können die Interessen der Arbeitnehmer für die Offenbarungsrechte gegenüber Dritten bedeutsam sein, und zwar unabhängig vom Anwendungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes und vom Vorhandensein eines Aufsichtsrats 47 . Zwar sind die Interessen der Arbeitnehmer nicht mit dem Interesse der Gesellschaft identisch, auch gibt es keine gesetzliche Einschränkung der Verschwiegenheitspflicht gegenüber den Arbeitnehmern der Gesellschaft 48 . Gleichwohl können auch Arbeitnehmerinteressen in die Ermessensentscheidung des Geschäftsführers, ob eine Tatsache geheimgehalten werden soll oder nicht, mit einbezogen werden, insbesondere dann, wenn die Veränderung des Gesellschafterkreises sie berührende, einschneidende Maßnahmen (wie z.B. Betriebsstillegungen) mit sich bringen wird 49 . ggj Hält der Geschäftsführer nach Abwägung die Offenbarung für überwiegend geschäftsschädigend, ist er zur Information Dritter nicht berechtigt. Kommt er bei der Abwägung zu dem Ergebnis, daß die Information im überwiegenden Interesse der Gesellschaft zu erteilen ist, kann er sie erteilen. Das bedeutet nicht, daß die betreffenden Tatsachen nunmehr frei verbreitet werden dürfen. Das Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft besteht fort, solange sie noch „relativ unbekannt" sind. Die Offenbarung darf nicht weitergehen, als es das Gesellschaftsinteresse im konkreten Fall gestattet. Insbesondere kann sie auch unter Einschränkungen (etwa nach Unterzeichnung einer sog. „Vertraulichkeitserklärung") erfolgen. 2. Gegenüber der

Gesellschafterversammlung

Sofern es die Mehrheit der Gesellschafterversammlung verlangt, ist der Geschäftsführer ihr gegenüber ohne Einschränkungen verpflichtet, 47 Zu den Arbeitnehmerinteressen als Wertungsprinzip des Gesellschaftsrechts vgl. Wiedemann, Gesellschaftsrecht Bd.I (1980) §11. 48 Baumbach/Hneck/Zöllner, §35 Rdn.21. 49 Rittner, aaO (Fn. 7), S. 373 ff; Hachenburg/Mertens, § 43 Rdn. 44.

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über Geschäftsinterna zu berichten. Das folgt schon aus der Kompetenzverteilung zwischen dem Geschäftsführer und der ihn überwachenden Gesellschafterversammlung (§ 46 Nr. 6 G m b H G ) , deren Weisungsrecht er unterliegt. Eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht durch den Geschäftsführer ist insoweit ausgeschlossen 50 . 3. Gegenüber einzelnen

Gesellschaftern

Für die Minderheit der Gesellschafterversammlung oder einzelne Gesellschafter gilt §51 a G m b H G . Danach ist der Geschäftsführer grundsätzlich zur Auskunft über Geschäftsinterna verpflichtet (Abs. 1), er kann sie nur aufgrund Gesellschafterbeschlusses (oder kurzfristig bis zu dessen Herbeiführung) verweigern. Eine Verschwiegenheitspflichtverletzung könnte aber in Betracht kommen, wenn er Auskünfte erteilt, statt einen Gesellschafterbeschluß herbeizuführen, obwohl die Voraussetzungen des §51 a Abs. 2 Satz 1 G m b H G vorliegen. §51 a G m b H G soll die Stellung des einzelnen Gesellschafters stärken und ihm die Wahrnehmung seiner Kontroll- und Mitwirkungsrechte in der Gesellschaft ermöglichen. Dem dienen das Auskunfts- und Einsichtsrecht und die korrespondierende Offenbarungspflicht des Geschäftsführers. Eine Verschwiegenheitspflicht des Geschäftsführers gegenüber einzelnen Gesellschaftern läßt sich aus §51 a G m b H G dagegen nicht herleiten. D a die Gesellschaftermehrheit von sich aus durch Beschluß ein Auskunftsverbot festlegen könnte, an das der Geschäftsführer gebunden wäre, selbst wenn nach seiner Auffassung die materiellen Voraussetzungen des §51 a Abs. 2 Satz 1 G m b H G nicht gegeben sind 51 , stellt sich die Frage, ob der Geschäftsführer in Ermangelung eines solchen Beschlusses zur Offenbarung berechtigt ist oder ob er einen Gesellschafterbeschluß herbeiführen oder zumindest die Gesellschafter von der beabsichtigten Offenbarung unterrichten muß. Auch das kann sich nur aus einer Abwägung von Auskunfts- und Verschwiegenheitspflicht ergeben. Gesellschaftsinteresse und Interesse der Gesellschafter (auch betroffener Minderheitsgesellschafter) hier kurzerhand gleichzusetzen und damit der Verschwiegenheitspflicht in jedem Fall den Vorrang einzuräumen, erscheint angesichts des §51 a G m b H G nicht angängig. Die Abwägung

50 Hachenburg/Mertens, §43 Rdn.49; K.Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2.Aufl. 1991, S. 867; Scholz/ U. H. Schneider, §43 Rdn. 119. 51 Hachenburg/Hüffer, §51 a Rdn. 54; Scholz / K. Schmidt, §51 a Rdn. 43 mit Hinweis auf die Möglichkeit des Geschäftsführers, einem rechtswidrigen Gesellschafterbeschluß die Gefolgschaft zu verweigern, doch dürfte eine in unserem Zusammenhang „rechtswidrige" Weisung der Mehrheit kaum vorkommen.

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zwischen beiden hat grundsätzlich die Gesellschafterversammlung vorzunehmen; §51 a Abs. 2 Satz 2 GmbHG vermeidet damit eine Interessenkollison, die den Geschäftsführer aufgrund seiner Abhängigkeit von den Gesellschaftern überfordern könnte 52 . Er hat daher die Gesellschafter über das Auskunftsverlangen und seinen Verdacht gesellschaftsschädigender Verwendung unverzüglich zu unterrichten (durch Einberufung der Gesellschafterversammlung, im schriftlichen Verfahren oder auf andere Weise). Kommt es daraufhin nicht zu einem mehrheitlichen Verweigerungsbeschluß, ist er berechtigt, dem Auskunft verlangenden Gesellschafter auch Geheimnisse zu offenbaren, selbst wenn dies objektiv gegen die Interessen der übrigen Gesellschafter und zum Nachteil der Gesellschaft geschieht. Die Verweigerung des Geschäftsführers, nachdem er der Gesellschafterversammlung die Möglichkeit zur Entscheidung gegeben hat, wäre gegenüber dem Gesellschafter pflichtwidrig53. Der Geschäftsführer darf sich zudem darauf verlassen, daß auch der Gesellschafter seinerseits der Verschwiegenheitspflicht unterliegt. Es entspricht denn auch herrschender Ansicht, daß die Informationsgewährung im Rahmen des § 51 a GmbHG den Straftatbestand des §85 GmbHG niemals erfüllen kann. Es fehlt am Merkmal der unbefugten Offenbarung, weil der Gesellschafter nicht Dritter i. S. v. § 85 GmbHG, sondern selbst Geheimnisträger ist54. Anders kann es sich bei kollusivem Zusammenwirken zwischen Geschäftsführer und Gesellschafter zu Lasten der Gesellschaft verhalten oder, wenn die Voraussetzungen des § 5 1 a Abs. 2 Satz 1 G m b H G zweifellos vorliegen und ein Mehrheitsbeschluß treuwidrig vereitelt worden ist55. 4. Gegenüber dem Aufsichtsrat/Beirat Ebensowenig wie gegenüber der Gesellschafterversammlung gibt es gegenüber dem Aufsichtsrat als Uberwachungsorgan im Grundsatz eine Verschwiegenheitspflicht des Geschäftsführers56. Eine Verschwiegenheitspflicht kommt allenfalls dann in Betracht, wenn der Geschäftsführer einen offensichtlichen Mißbrauch der Informationen durch einzelne

Hachenburg/Hüffer, §51 a Rdn.52. Hachenburg/Hüffer, § 5 1 a Rdn.52. 54 Hachenburg/Hüffer, § 5 1 a Rdn.55; Baumbach/Hueck/Zöllner, § 8 5 Rdn.20; Rowedder/Koppensteiner, §51 a Rdn. 19; Müller, G m b H R 1987, 92. 55 Zu letzterem vgl. Scholz/K. Schmidt, §51 a Rdn.43. 56 Hachenburg/Mertens, § 4 3 Rdn. 47; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, §85 Rdn.20; Rowedder/Koppensteiner, §43 Rdn. 19. 52 53

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Aufsichtsratsmitglieder zu besorgen hat57. Die Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen an ein Aufsichtsratsmitglied zu dem erkennbaren Zweck ihrer Weitergabe an Dritte im Zusammenhang mit einem geplanten Anteilserwerb kann nur unter denselben Voraussetzungen zulässig sein, wie sie es unmittelbar gegenüber den Dritten wäre58. Soweit der Geschäftsführer einem obligatorischen Aufsichtsrat zur Wahrung der gesetzlichen Mitwirkungs- bzw. Mitbestimmungsrechte Informationen im Zusammenhang mit einer geplanten Anteilsveräußerung preiszugeben hat, tritt das Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft in gleichem Maße zurück. Der Geschäftsführer verstößt deshalb nicht gegen seine Verschwiegenheitspflicht, wenn er dem Aufsichtsrat einheitlich (d. h. beiden „Bänken", Anteilseigner- wie Arbeitnehmervertretern) mitbestimmungsrelevante Informationen gibt. Auch muß er sich darauf verlassen dürfen, daß die Aufsichtsratsmitglieder ihrerseits zur Verschwiegenheit verpflichtet sind59. Eine ausdrückliche Weisung der Gesellschafterversammlung, dem obligatorischen Aufsichtsrat im Zusammenhang mit einem geplanten Anteilserwerb bestimmte Tatsachen zu verschweigen, die für diesen zur Ausübung seiner Uberwachungsaufgaben von Bedeutung sind, wäre rechtswidrig und für den Geschäftsführer (wie für den Aufsichtsrat) unbeachtlich60. Auch beim fakultativen Aufsichtsrat dürfte eine solche Weisung der Gesellschafter jedenfalls dann unwirksam sein, wenn sie die Wahrnehmung seiner Aufgaben vereitelt oder erschwert. IV. Offenbarungspflichten des Geschäftsführers 1. Gegenüber Dritten Durch eine konkrete Verpflichtung des Geschäftsführers, Dritten Auskünfte zu erteilen, kann die Rechts- und Pflichtwidrigkeit einer Offenbarung ausgeschlossen sein61. Hachenburg/Mertens, §43 Rdn.48. Weitergehend Hachenburg/Mertens, §43 Rdn.48, wonach die Verschwiegenheitspflicht für alle Sachverhalte bestehen soll, die zwischen der Gesellschaft und einem Organmitglied kontrovers ausgetragen werden. 59 Einer Differenzierung nach den verschiedenen Erscheinungsformen des Aufsichtsrats bedarf es hier nicht, da hinsichtlich der Verschwiegenheitspflicht stets auf die §§116, 93 AktG verwiesen wird (vgl. §§25 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG, 3 Abs. 2 MontanMitbestG, 3 MitbestErgG, 77 Abs. 1 Satz 2 BetrVG 1952, 52 GmbHG). 60 Hachenburg/Mertens, §43 Rdn. 44. 61 Baumbach/Hueck/Schulze-Osterlob, §35 Rdn. 19 ff; zu den gesetzlichen Offenbarungspflichten gegenüber Abschlußprüfern (§320 HGB), staatlichen Stellen und im Prozeß vgl. von Stebut, aaO (Fn.4), S. 112 ff. 57 58

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So kann der Geschäftsführer von den veräußerungswilligen Gesellschaftern (wenn dies nicht alle Gesellschafter sind: mit Zustimmung der Gesellschafterversammlung) beauftragt werden, dem Erwerber als „due diligence"-Partner zur Verfügung zu stehen. Der Geschäftsführer wird damit als Erfüllungsgehilfe der verkaufenden Gesellschafter verantwortlich für die Information des Kaufinteressenten. Die aufgrund der Vertragsbeziehungen zwischen den Beteiligten einer Anteilsveräußerung entstehenden Offenbarungspflichten sollen hier nicht weiter untersucht werden62. Hier interessiert die gesellschaftsrechtliche Betrachtung. Danach darf der Geschäftsführer ohne entsprechende Ermächtigung der Gesellschafterversammlung gegenüber erwerbsinteressierten Dritten keine Verpflichtung eingehen, die ihm einen Verstoß gegen seine Verschwiegenheitspflicht auferlegte63. 2. Gegenüber

der

Gesellschafterversammlung

Die Pflicht zur Befolgung von Weisungen der Gesellschafterversammlung schließt ein Recht des Geschäftsführers aus, vor der Gesellschaftermehrheit Interna geheimzuhalten, ohne Rücksicht darauf, ob diese ein spezielles Informationsbedürfnis geltend macht oder gar nachweist64. Das bedeutet eine umfassende Informationspflicht über die ihm zur Kenntnis gelangten Absichten verkaufswilliger Gesellschafter, Ubernahmeangebote Dritter etc.65. Bei größeren, kapitalistisch organisierten Gesellschaften muß allerdings eine gewisse Erheblichkeit des Beteiligungserwerbs hinzukommen, die man mit Rücksicht auf den gesellschaftsrechtlichen Einfluß bei mehr als 25 % , je nach Ausgestaltung der Minderheitsrechte im Gesellschaftsvertrag aber auch schon darunter annehmen könnte. 3. Gegenüber

einzelnen

Gesellschaftern

Die Offenbarungspflicht des Geschäftsführers gegenüber einzelnen Gesellschaftern entspricht deren Informationsrecht nach §51a GmbHG, das dem Schutz ihrer Individualinteressen dient und ihre Kontrollrechte gegenüber dem Geschäftsführer gewährleistet, soweit das zur Wahrnehmung der mitgliedschaftlichen Interessen erforderlich ist66. Dieser Bezug auf die Mitgliedschaft braucht der Beachtlichkeit der mit Vgl. Fn. 6. Hauschka, BB 1987, 2175. 64 Scholz/Schneider § 4 3 Rdn. 119; Rowedder/Koppensteiner, § 4 3 Rdn. 13. 65 Koppensteiner, ZHR 1991, 102 ff. 66 Das Informationsrecht wird deshalb als „eigennütziges mitgliedschaftliches Individualrecht" bezeichnet; Hachenburg/Hüffer, § 51 a Rdn. 7; Lutter, ZGR 1982, 1 ff; Iverts, GmbHR 1989, 273 ff. 62 63

Gesellschaftsvertragliche Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten

407

dem Anteil verbundenen eigenen Interessen des Gesellschafters als Grundlage eines Informationsanspruchs aber nicht entgegenzustehen. Insbesondere sollte jeder Gesellschafter nach § 51 a GmbHG auch Informationen beanspruchen können, die ihm die Bewertung seines Anteils zwecks Veräußerung ermöglichen67. Nach ganz überwiegender Meinung braucht er überhaupt ein besonderes Informationsbedürfnis nicht darzulegen68. Die Absicht, seine Beteiligung aufzugeben, steht dem Anspruch des Gesellschafters auf Auskunftserteilung jedenfalls nicht entgegen. Sie kann allenfalls aus besonderen Gründen die Informationsverweigerung rechtfertigen. O b Gesellschaftern Informationen zu verweigern sind, entscheiden gem. § 51 a Abs. 2 Satz 2 GmbHG die Gesellschafter durch Beschluß, an den der Geschäftsführer gebunden ist. Bis zum Vorliegen dieses Beschlusses ist er berechtigt, die Information vorläufig zu verweigern, sofern die Voraussetzungen des §51 a Abs. 2 Satz 1 GmbHG vorliegen. Er verstößt aber gegen seine Auskunftspflicht, wenn er die Information verweigert und den Beschluß nicht unverzüglich herbeiführt69. Bei der (also nur vorläufig vom Geschäftsführer zu treffenden) Entscheidung nach § 51 a Abs. 2 GmbHG ist wieder zwischen dem Auskunftsrecht des Gesellschafters und dem Gesellschaftsinteresse abzuwägen, wobei insbesondere der Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten ist. Zu verweigern ist eine Auskunft bei Besorgnis ihrer gesellschaftsfremden Verwendung durch den Gesellschafter. Gesellschaftsfremd ist die Verwendung, die „außerhalb ordnungsmäßigen mitgliedschaftlichen Verhaltens" liegt70. Die Absicht des Gesellschafters, seinen Geschäftsanteil zu veräußern, hat mit der Mitgliedschaft als solcher, mit der Kontrolle der Geschäftsführung und der Ausübung von Verwaltungsrechten zwar nichts zu tun. Da ein Auskunftsverlangen nach h. M. keiner Rechtfertigung bedarf, kann auch ein mit der Veräußerungsabsicht begründetes Auskunftsverlangen nur abgelehnt werden, wenn konkrete, begründete Zweifel an der zuverlässigen Einhaltung der dem Gesellschafter seinerseits obliegenden Verschwiegenheitspflicht bestehen, weil nur

67 Die Offenbarungspflicht des §51 a GmbHG ist erheblich weiter als die des §131 §51 a Abs. 1 AktG; vgl. Hachenburg/HUffer, §51 a Rdn. 7; Rowedder/Koppensteiner, Rdn.2. 68 Nein: Hachenburg/Schilling, Erg. Bd. § 5 1 a Rdn. 7; Roth, § 5 1 a Anm. 2.2.1.; Lutter/Hommelhoff, §51 a Rdn. 3; Lutter, ZGR 1982, 4; K. Müller, GmbHR 1987, 89; Ja: K.Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 866ff; Baumbach/Hueck/Zöllner, §51 a Rdn. 20. 69 Hachenburg/HUffer, § 5 1 a Rdn. 52; str. ist, ob ein Beschluß nur erforderlich ist, wenn der Geschäftsführer die Informationsverweigerung auf §51 Abs. 2 Satz 1 GmbHG stützen will - vgl. K. Schmidt, in: FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 574 m. w. N. 70 Baumbach/Hueck/Zöllner, §51 a Rdn.24; Scholz/K.Schmidt, § 5 1 a Rdn.39; Hachenburg/HUffer, §51 a Rdn. 47.

408

Rüdiger Volhard und Dolf Weber

dann die Besorgnis, daß der Gesellschaft durch zweckwidrige Informationsverwendung ein nicht unerheblicher Nachteil zugefügt wird, als zweites Tatbestandsmerkmal erfüllt ist71. Der Nachteil für die Gesellschaft muß nicht feststehen. Es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die nicht bei jeder Verkaufsabsicht gegeben sein wird, wohl aber z. B. bei Verhandlungen mit einem Konkurrenten der Gesellschaft. Wenn die Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaft betroffen ist, besteht regelmäßig ein gesteigertes Geheimhaltungsinteresse 72 . Daher spielt die Identität des potentiellen Anteilserwerbers für die Annahme oder Ablehnung einer Auskunftspflicht u . U . die entscheidende Rolle, weil naheliegt, daß der Gesellschafter die erlangten Informationen bei den Verhandlungen weitergibt. Das mag anders sein, wenn der Erwerber bereits Gesellschafter ist und ebenfalls der Verschwiegenheitspflicht unterliegt. Die Auskunftspflicht des Geschäftsführers wird dann kaum jemals verneint werden können. Ist der Interessent dagegen nicht schon Gesellschafter, dann ist mit der Verwendung der Information in den Verkaufsverhandlungen zu rechnen, für die sie gerade erbeten wurden. Mit der Beachtung der Verschwiegenheitspflicht durch den verkaufswilligen Gesellschafter kann dann realistischerweise nicht gerechnet werden.

4. Gegenüber

dem

Aufsichtsrat/Beirat

Informationsrechten des Aufsichtsrats/Beirats nach Gesetz oder Gesellschaftsvertrag stehen entsprechende Offenbarungspflichten des Geschäftsführers gegenüber. Es würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, die Informationsrechte des Aufsichtsrats im einzelnen zu erörtern73. Grundsätzlich ist aber nach den verschiedenen Rechtsgrundlagen des Aufsichtsrats zu unterscheiden: Der nach dem MontanMitbestG und MitbestErgG zu bildende Aufsichtsrat einer GmbH ist dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft gleichgestellt. Der Gesellschaftsvertrag kann deshalb die für den Aufsichtsrat im Aktienrecht vorgesehenen Rechte und Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder bezüglich Geheimhaltung und Verschwiegenheit 71 KG, GmbHR 1988, 224; OLG Köln, WM 1986, 763; Müller, GmbHR 1987, 88; Hachenburg/Hüffer, § 51 a Rdn. 50. 72 Baumbach/Hueck/Zöllner, §51 a Rdn. 25; Rittner, aaO (Fn.7), S.371 und OLG Stuttgart, GmbHR 1983, 242; dort war allerdings nicht der Erwerber, sondern der veräußernde Gesellschafter gleichzeitig Konkurrent der Gesellschaft, auf die geplante Anteilsveräußerung kam es deshalb nicht an. 73 Zu den Informationsrechten der verschiedenen Aufsichtsräte vgl. Baumbach/ Hueck/Zöllner, §52 Rdn.68ff; 158ff, 188, 209; Lutter, BB 1980, 219; Mertens, AG 1980, 67; Köstler-Schmidt, BB 1981, 88; Klein, AG 1982, 7.

Gesellschaftsvertragliche Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten

409

nicht verändern74. Für den GmbH-Aufsichtsrat nach BetrVG 1952 und MitbestG wird zwar in vollem Umfang auf § § 1 1 6 , 9 3 AktG, nicht aber auf § 90 Abs. 1 und 2 AktG Bezug genommen. Dies hat Bedeutung für die (formalisierten) Berichtspflichten des Geschäftsführers gegenüber diesem Aufsichtsrat 75 . Beim fakultativen Aufsichtsrat gem. § 52 G m b H G können die Informationsrechte und -pflichten im Gesellschaftsvertrag geregelt, nicht aber unangemessen beschränkt werden76. V. Offenbarungsrechte der Gesellschafterversammlung 1. Gegenüber

Dritten

Die Gesellschafterversammlung als oberstes Organ der GmbH kann über die Organisation der Gesellschaft, über den Gegenstand ihrer Tätigkeit und über ihre Geschicke bis hin zu ihrer Auflösung frei bestimmen. Sie ist als solche auch frei in ihrer Entscheidung darüber, ob Interna weitergegeben werden sollen oder nicht, weil sie über das Geheimhaltungsinteresse disponiert. Umstritten ist allerdings, welcher Mehrheit die Gesellschafterversammlung für diese Entscheidung bedarf: a)

Einstimmigkeit

Einstimmig kann die Gesellschafterversammlung jegliche Informationen freigeben, und zwar entweder selbst oder durch eine entsprechende Weisung an den Geschäftsführer 77 . Auch bei objektiven Geheimnissen kommt hier ein Verstoß gegen das Gesellschaftsinteresse nicht in Betracht, da dieses ja die Gesellschafterversammlung festlegt: Gesellschaftsinteresse ist, was die Gesellschafter übereinstimmend dafür halten. b) Qualifizierte

Mehrheit

Mit Rücksicht auf die Auflösungskompetenz der Gesellschafterversammlung (§ 60 Nr. 2 GmbHG) muß für den Beschluß, ein Geschäftsgeheimnis zu offenbaren, auch die Dreiviertelmehrheit genügen. Da es der Gesellschafterversammlung freisteht, die Auflösung der Gesellschaft zu beschließen und der geplante Anteilserwerb für die Zielgesellschaft zu

74

Lutter, aaO (Fn.4), S.232. Sehr Str., vgl. Baumbach/Hueck/Zöllner, § 5 2 Rdn. 188; Lutter, aaO (Fn.4), S. 233 ff. 76 Baumbach/Hueck/Zöllner § 5 2 Rdn. 68 ff. 77 Vgl. Koppensteiner, Z H R 1991, 101; Baumbach/Hueck/Zöllner. §35 Rdn.21. 75

410

Rüdiger Volhard und Dolf Weber

einer „liquidationsähnlichen Zustandsveränderung" führt, kann auch die damit in unmittelbarem Sachzusammenhang stehende Offenbarung von Gesellschaftsinterna an Dritte keine größere Mehrheit erfordern 78 . c) Einfache

Mehrheit

Zweifelhaft ist nur, ob nicht sogar die einfache Mehrheit ausreicht79. aa) Dafür spricht zunächst, daß auch eine gem. §15 Abs. 5 GmbHG vorgesehene Zustimmung der Gesellschafterversammlung zur Abtretung eines Geschäftsanteils nach h. M. mit einfacher Mehrheit beschlossen wird, soweit der Gesellschaftsvertrag nichts anderes vorsieht (§47 GmbHG) 80 . Freilich geht die Entscheidung, einem Dritten als potentiellem Abtretungsempfänger Geheimnisse zu offenbaren, in ihrer Bedeutung über die Zustimmung zur - nach der dispositiven Gesetzesregelung zustimmungsfreien - Anteilsübertragung hinaus. bb) Für die einfache Mehrheit läßt sich ferner anführen, daß auch der Beschluß nach § 51 a Abs. 2 GmbHG über die Erteilung oder Verweigerung von Informationen an Gesellschafter nur der einfachen Mehrheit bedarf, falls der Gesellschaftsvertrag nichts anderes besagt. Jedenfalls im Rahmen des §51 a GmbHG bleiben von den überstimmten Gesellschaftern befürchtete Nachteile grundsätzlich außer Betracht 81 . §51 a Abs. 2 Satz 2 GmbHG bezieht sich aber ausdrücklich nur auf die Entscheidung über eine Informationsverweigerung und regelt außerdem nur das Verhältnis gegenüber Gesellschaftern. Er befaßt sich nicht mit der Weitergabe von Informationen an Dritte gegen den Willen von Mitgesellschaftern. cc) Es gilt generell als zulässig, wenn ein Gesellschaftsorgan innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs trotz Vorliegens eines objektiven Geheimhaltungsinteresses nach Ermittlung und Abwägung des Gesellschaftsinteresses auf den Geheimnisschutz verzichtet 82 . Ausgeschlossen ist dagegen die dispositive Ausdehnung der Verschwiegenheitspflicht, also die Begründung eines objektiv nicht existierenden Geheimhaltungsinteresses83. Diese Unterscheidung zwischen zulässiger Preisgabe und unzulässiger Ausdehnung des Geheimhaltungsinteresses beruht im wesentlichen auf 78

Koppensteiner, ZHR 1991, 101; a.A. Baumbach/Hueck/Zöllner, §35 Rdn.21: Einstimmigkeit erforderlich. 79 So Koppensteiner, ZHR 1991, 101. 80 Vgl. Fn. 31. 81 Scholz / K. Schmidt, § 51 a Rdn. 40. 82 Lutter, aaO (Fn.4), S. 136 ff m. w.N.; Säcker, NJW 1986, 805; KK/Mertens, AktG, §93 Rdn. 82. 83 Vgl. Fn. 12.

Gesellschaftsvertragliche Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten

411

der Gleichsetzung von Gesellschafts- und Gesellschafterinteresse. Unberücksichtigt bleibt dabei allerdings, daß die Preisgabe von der Geheimhaltungspflicht unterliegenden Informationen die Interessen der Gesellschafter unter Umständen stärker beeinträchtigen kann als die bloße Weigerung, ihnen solche Informationen zu erteilen. Denn soweit die Gesellschafterversammlung die Weitergabe von Informationen untersagt, wird damit nur die Verschwiegenheitspflicht in bezug auf diese Informationen konkretisiert. Scheitert die Anteilsveräußerung deswegen, wird nicht in bestehende Gesellschafterrechte eingegriffen, sondern nur eine Erwerbschance vereitelt. Für die unternehmenspolitische Entscheidung, die Voraussetzungen für die Verwirklichung einer solchen Chance nicht zu schaffen, ist daher die einfache Mehrheit in der Gesellschafterversammlung auf jeden Fall gerechtfertigt. Demgegenüber kann die Offenbarung von Geheimnissen im Zusammenhang mit einer geplanten Anteilsübertragung in bereits bestehende Gesellschafterrechte eingreifen. Ein dadurch ermöglichter Gesellschafterwechsel kann weitreichende Folgen für Vermögens- und sonstige Interessen der übrigen Gesellschafter haben. Veränderte Mehrheitsverhältnisse können sogar den Bestand der Gesellschaft selbst berühren. Diese Gefahr besteht aber generell bei Gesellschafterwechseln (also unabhängig von der Frage einer Geheimnisoffenbarung), und insoweit bleibt es bei der gesetzlichen Wertung der §§15 Abs. 5, 47 GmbHG, wonach für einen Wechsel mangels abweichender Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag die einfache Mehrheit genügt. Wenn die Anteilsveräußerung scheitert, besteht zwar die Gefahr, daß der Dritte die ihm in den Verhandlungen offenbarten Geheimnisse zum Nachteil der Gesellschaft nutzt. Dies gilt aber auch in den Fällen des § 51 a GmbHG, und auch dort genügt nach der gesetzlichen Wertung die einfache Mehrheit. Mit einfacher Mehrheit sollte die Gesellschafterversammlung daher gegenüber Dritten die Offenbarung von Geheimnissen ohne Rücksicht auf das Gesellschaftsinteresse nicht nur verbieten, sondern auch gestatten können84, jedenfalls dann, wenn für die Zustimmung zur Anteilsveräußerung keine höhere Mehrheit erforderlich ist. dd) Wenn die einfache Mehrheit für die Offenbarung von Geheimnissen ausreichen soll, muß der Beschluß allerdings dem objektiv nachweisbaren Gesellschaftsinteresse entsprechen, d. h., die einfache Mehrheit kann dann nicht genügen, wenn die Offenbarung gesellschaftsschädigenden

8
Karsten Schmidt, JZ 1992, 856, 858.

576

Hans-Joachim Priester

Legt man nämlich den vorerwähnten Normzweck dieser Bestimmung zugrunde, dann ergibt sich für den Fall des reinen Beherrschungsvertrages: Ein uneingeschränkter Verlustausgleich und damit eine Risikoübernahmepflicht des herrschenden Unternehmens schießt über das gesetzliche Ziel hinaus. Denn: Sind die Verluste auf externe Ursachen zurückzuführen, so können sie nicht auf kapitalsicherungswidrigen oder sonst pflichtwidrigen Maßnahmen des herrschenden Unternehmens beruhen. Nur auf solche Verlustursachen zielt aber § 302 AktG. Die Vorschrift des § 302 AktG ist deshalb im Wege der teleologischen Reduktion dahin auszulegen, daß das herrschende Unternehmen beim reinen Beherrschungsvertrag gegenüber der grundsätzlich gegebenen Verlustausgleichspflicht einwenden kann, die eingetretenen Verluste hätten mit der Konzernleitung nichts zu tun91. Gleiches gilt dann - entgegen der Auffassung des B G H im Stromlieferungs-Urteil92 - auch für den, freilich praktisch höchst seltenen, reinen Beherrschungsvertrag mit einer abhängigen GmbH. 2. Faktischer Konzern: Analogie zu §302

AktG

Auf den qualifizierten faktischen GmbH-Konzern wenden der Bundesgerichtshof und das ihm darin weitgehend folgende Schrifttum den §302 AktG entsprechend an93. Dabei handelt es sich um eine doppelte Analogie94. Einmal muß eine Regelung für den Vertragskonzern auf den vertragslosen, faktischen Konzern transponiert werden, zum anderen eine aktienrechtliche Bestimmung in das GmbH-Recht. Was zunächst die Übertragung vom Vertragskonzern auf den faktischen Konzern betrifft, so erscheint es gerechtfertigt, nicht die Regeln des (einfachen) faktischen AG-Konzerns (§§311 ff AktG), sondern diejenigen des aktienrechtlichen Vertragskonzerns anzuwenden. Das gebie91 Ulmer, NJW 1986, 1579, 1585, hat die Frage nach einer solchen teleologischen Reduktion ausdrücklich offengelassen; Timm, NJW 1987, 977, 983, hat sie dagegen als eine Rechtsfortbildung contra legem bezeichnet und abgelehnt; wie hier jedoch Hadding, JZ 1992, 736, 737 f. 92 BGH, DB 1992, 29, 30. 93 Während der BGH im Autokran-Urteil eine Heranziehung des § 302 AktG bei der Mehrpersonen-GmbH als möglich, gegenüber der Einmann-GmbH aber als schwer zu begründen ansah (BGHZ 90, 330, 345), befürwortete er sie im Tiefbau-Urteil bei der Mehrpersonen-GmbH (BGHZ 107, 7, 16) und im Video-Urteil auch bei der EinmannGmbH (BGHZ 115, 187, 197f). Wegen der kaum noch zu übersehenden Stellungnahmen zu den Urteilen vgl. die reichhaltigen Nachweise bei R. Kohl, MDR 1992, 204 Fn. 5. Auch die ablehnenden Beiträge, vor allem zum Video-Urteil (insbes. Flume, DB 1992, 25 ff; dersZIP 1992, 817ff; Knobbe-Keuk, DB 1992, 1461 ff) richten sich weniger gegen die Übertragung von §302 AktG auf den qualifizierten faktischen GmbH-Konzern als vielmehr gegen dessen Tatbestands-Abgrenzung durch den BGH. 94 Rehbinder, AG 1986, 85, 91.

Uneingeschränkter Verlustausgleich

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tet die Vergleichbarkeit der Sachlage: Im qualifizierten faktischen Konzern besteht nach dessen Definition95 die gleiche dichte Einflußnahme, wie sie der Vertragskonzern aufweist, zumindest aber ermöglicht. Die wesentliche Scheidelinie verläuft insoweit - wie zu wiederholen ist nicht zwischen Vertrags- und vertragslosem, sondern zwischen einfachem und qualifiziertem Konzern. Beim zweiten Analogieschritt geht es darum, ob die Besonderheiten des GmbH-Rechts einer Heranziehung der aktienrechtlichen Bestimmung des §302 AktG entgegenstehen. Beide Gesellschaftsformen sind nach unterschiedlichen Strukturprinzipien konstruiert. Auf der einen Seite steht das Aktienrecht mit seiner Autonomie des Vorstandes gegenüber den Aktionären (§76 AktG), auf der anderen Seite das GmbHRecht, das durch die Weisungsbefugnis der Gesellschafter gegenüber der Geschäftsführung charakterisiert ist (§37 GmbHG). Diese Unterschiede hindern jedoch eine Übertragung der aktienrechtlichen Verlustausgleichspflicht insoweit nicht, als sie eine Kompensation für die Nachteile aus der Konzernsituation darstellt. Konzerngefahren sind rechtsformindifferent, mag auch die Konzernresistenz der einzelnen Rechtsformen durchaus unterschiedlich sein96. Das zeigt nicht zuletzt die Entwicklung eines Konzernhaftungsrechts auch bei den Personengesellschaften. Insoweit ist auf die bereits erwähnte Gervais-Danone-Entscheidung des Bundesgerichtshofes zum Beherrschungsvertrag gegenüber einer Personengesellschaft97 und das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu verweisen, mit dem die Haftungsgrundsätze aus dem Autokran-Urteil auf die GmbH & Co. übertragen werden98. Schließt man sich darüber hinaus der hier vorgeschlagenen Reduktion des § 302 AktG an, wonach nur konzernbedingte Verluste auszugleichen sind, finden gleich mehrere die Diskussion noch beschäftigende Problempunkte eine einfache Lösung: Einer GmbH-spezifischen Teil-Analogie zur Einschränkung der Verlustausgleichspflicht, wie sie der BGH vornimmt99, bedarf es nicht. Es handelt sich bei der Begrenzung auch nicht um ein noch zu überwindendes Provisorium100, sie stellt sich 95

Vgl. oben II, 1. Zur Eignung der Gesellschaftsformen als Organisationselemente im Konzemaufbau eingehend Hommelhoff, in: Mestmäcker/Behrens (Hrsg.), Das Gesellschaftsrecht der Konzerne im internationalen Vergleich, 1991, S. 91 ff. 97 B G H , DB 1979, 1833. Dabei ist allerdings nicht ganz unstreitig, ob überhaupt ein Beherrschungsvertrag vorlag; vgl. Emmerich/Sonnenschein, (Fn. 14), § 2 7 III 1 a, S.418. 98 BAG 15.1.1991, A G 1991, 434. Dazu Schanze!Kern, A G 1991, 421, 423 ff; Limmer, G m b H R 1992, 265 ff. 99 Vgl. oben II, 3. und dort Fn. 38. 100 Vgl. oben I und dort Fn. 8. 96

578

Hans-Joachim Priester

vielmehr als systemimmanent dar. Schließlich entfällt das Argument, es handle sich insoweit um eine Prämierung des qualifizierten faktischen Konzerns gegenüber dem Vertragskonzern 101 . Uber den Ausschluß nicht-konzerninduzierter Nachteile hinaus stellt sich dann noch die - vom B G H bisher ausdrücklich offengelassene102 Frage, ob die Verlustausgleichspflicht gegenüber einer abhängigen GmbH etwa auf den Ersatz verlorenen Stammkapitals beschränkt ist. Im Schrifttum ist diese Auffassung teilweise vertreten worden103. Eine solche Einschränkung folge aus dem bei der GmbH weniger stark ausgeprägten Kapitalschutz. Während das Aktiengesetz jede Rückführung an Aktionäre verbiete, die keine Ausschüttung von Bilanzgewinn darstelle (§58 Abs. 5 AktG), stehe bei der GmbH das Eigenkapital oberhalb der Stammkapitalziffer zur jederzeitigen Disposition ihrer Gesellschafter (§30 GmbHG). Eine derartige Abweichung im Schutzumfang darf allerdings zunächst einmal nicht überschätzt werden104. Es geht nur darum, ob offene Rücklagen, so sie denn vorhanden sind, vorrangig zum Verlustausgleich herangezogen werden müssen. Dabei könnte dann noch zwischen solchen unterschieden werden, die vor Eintritt der qualifizierten Beherrschung und solchen, die danach gebildet wurden105. Man sollte einer entsprechenden Eingrenzung des Verlustausgleichs aber nicht das Wort reden106. Es geht bei ihm eben nicht allein um eine Kompensation für Verstöße gegen Kapitalschutzbestimmungen, sondern auch für sonstige pflichtwidrige Eingriffe. Eine andere Frage ist, ob die abhängige Gesellschaft auf solche Ersatzansprüche verzichten darf. Das wird man bejahen können, wenn das Stammkapital nicht betroffen ist und - in der mehrgliedrigen GmbH - alle übrigen Gesellschafter zustimmen107. Es bleibt schließlich noch kurz zu bemerken, daß für den qualifizierten faktischen AG-Konzern, mag er in praxi auch weit seltener sein, ein Vgl. oben I und dort Fn. 7. BGHZ 107, 7, 16; BGHZ 115, 187, 198. 103 Insbes. Ulmer, AG 1986, 123, 129; ders., NJW 1986, 1579, 1584. Ihm zustimmend Ziegler, WM 1989, 1041, 1043; Vonnemann, BB 1990, 217, 222; Ehenroth/Wilken, BB 1991, 2229, 2232. 104 Lutter/Hommelhoff, (Fn. 17), Anh. §13 Rdn. 23; noch weiter einschränkend R.Kohl, MDR 1992, 204, 208. 105 Dazu Basten, GmbHR 1990, 442, 447 f. 106 Abi. auch Kaiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 2. Aufl., 1992, §53 Rdn. 48, S. 595 f; Geitzhaus, GmbH 1989, 397, 405; Deilmann, Die Entstehung des qualifizierten faktischen Konzerns, 1990, S. 164 ff; Emmerich/Sonnenschein, (Fn. 14), §24 III 3 b, S.388f; Stimpel, ZGR 1991, 144, 158 f. 107 So mit Recht Karsten Schmidt, (Fn. 41), S. 188 f. Dazu für die abhängige Personengesellschaft schon Stimpel, in: Probleme des Konzemrechts, (Fn. 2), S. 11, 25. 101

102

Uneingeschränkter Verlustausgleich

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- unter Umständen eingeschränkter - Verlustausgleich trotz der dagegen vor allem von Koppensteiner erhobenen Einwände 108 gleichfalls auf der Basis einer Analogie zu §302 A k t G erfolgen muß 109 . Diese Vorschrift erweist sich als Ausdruck des pauschalierten Nachteilsausgleichs bei qualifizierter Konzernierung, handle es sich nun um einen vertraglichen oder einen vertragslosen qualifizierten Konzern.

108 109

Koppensteiner, (Fn.2), S. 90 ff; ablehnend neuestens auch Balz, A G 1992, 277, 292. So die heute h . M . ; Nachw. b. Decher, DB 1990, 2005, 2007, Fn.35.

Die Mitteilungspflichten des § 20 A k t G und ihr Einfluß auf das Verhalten der Organe des Mitteilungsadressaten KARLHEINZ Q U A C K

Die N o r m des §20 A k t G erlegt Aktionären, welche Unternehmen sind, aber auch der Gesellschaft, an deren Grundkapital diese Aktionäre beteiligt sind, Mitteilungs- und Bekanntmachungspflichten auf, deren Verletzung durch den Aktionär (nicht durch die Gesellschaft) die Sanktion des § 20 Abs. 71 auslöst. Abgesehen davon, daß noch keine Einigkeit darüber besteht, wie die etwas diffuse Formulierung in § 20 Abs. 7 („Rechte aus Aktien . . . können für die Zeit, für die das Unternehmen die Mitteilung nicht gemacht h a t . . . nicht ausgeübt werden") zu verstehen ist (Näheres dazu unten zu II), scheint die N o r m des § 20 insgesamt klar, und Gesellschafter- und Gesellschaftspflichten scheinen eindeutig geregelt. Der Schein trügt. Denn die Frage, welche Pflichten die Organe der Gesellschaft und damit diese - treffen, wenn sie von der Verletzung einer Mitteilungspflicht eines zu ihren Aktionären zählenden Unternehmens erfahren, beantwortet §20 ebensowenig, wie sich die Antwort aus den auf §20 bezogenen Vorschriften der §§21 und 22 ergibt. Aber gerade diese Frage hat Jubilar und Verfasser vor einiger Zeit beschäftigt, und so hat dieser Beitrag - keineswegs unbeabsichtigt - eine persönliche Note. I. Sobald einem Unternehmen mehr als 25 % der Aktien einer inländischen Aktiengesellschaft gehören, hat es dies der Gesellschaft unverzüglich schriftlich mitzuteilen, und ebenso hat es zu verfahren, sobald ihm eine Mehrheitsbeteiligung zusteht (§20 Abs. 1 und 4). Rechte aus Aktien, die einem danach mitteilungspflichtigen Unternehmen i. S. des §20 zuzurechnen sind, können für die Zeit, in der die Mitteilung unterlassen worden ist, nicht ausgeübt werden (§20 Abs. 7). 1

Paragraphen ohne Bezeichnung sind solche des Aktiengesetzes.

582

Karlheinz Quack

1. N u r Unternehmen sind mitteilungspflichtig; der Aktionär, dem die Unternehmenseigenschaft fehlt, braucht die durch §20 Abs. 1 und 4 vorgeschriebenen Mitteilungen nicht zu machen 2 . Der Unternehmensbegriff ist in §20 kein anderer als der in § 153. Dieser Beitrag fordert keine abschließende Definition des Unternehmensbegriffes 4 , unterstellt freilich das Bestehen von Mitteilungspflichten und damit auch die Unternehmenseigenschaft des Normadressaten. Gehören - im Sinne des §20 Abs. 2 - müssen die Aktien dem Unternehmen. Die Möglichkeit, etwa aufgrund von Vollmachten, Stimmrechte aus den Aktien auszuüben, reicht selbst dann nicht aus, wenn die Vollachten aufgrund von Vereinbarungen erteilt werden, die dazu verpflichten 5 . 2. Das Erreichen der Schwellenwerte des §20 ist der Gesellschaft, an welcher die relevanten Beteiligungen bestehen, schriftlich mitzuteilen. „Die Vorschriften über die Mitteilung sind zwingendes Recht. Auf ihre Einhaltung kann nicht verzichtet werden, selbst wenn die Beteiligung schon bekannt ist" 6 . Dabei genügt der Aktionär „seiner Mitteilungspflicht nur, wenn die Gesellschaft nicht korrigierend eingreifen muß, vielmehr die Beteiligung und deren Inhaber, wie sie ihr mitgeteilt worden sind, bekanntmachen kann, ohne daß in der Öffentlichkeit Zweifel entstehen, welche Art Beteiligung gemeint und wem sie zuzurechnen ist" 7 . Denn nur dann kann der Gesetzeszweck erreicht werden, „ . . . die Aktionäre, die Gläubiger und die Öffentlichkeit über geplante und bestehende Konzernbindungen besser zu unterrichten und die vielfach auch für die Unternehmensleitung selbst nicht erkennbaren wahren Machtverhältnisse in der Gesellschaft deutlicher hervortreten zu lassen" 8 . Da schließlich „durch diese Mitteilungspflicht die Rechtssicher-

2

Vgl. dazu Koppensteiner in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz 2. Aufl. §20 Rein. 23. 3 So Geßler in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Aktiengesetz, § 20 Anm. 1 und §15 Anm. 22; Koppensteiner Fn.2 Rdn. 23 und wegen der Unternehmenseigenschaft von Gebietskörperschaften, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland, vgl. Heinsius, Rechtsfolgen einer Verletzung der Mitteilungspflichten nach §20 AktG, FS Fischer, 1979, S. 215, 218 im Anschluß an B G H Z 69, 334 „VEBA/Gelsenberg". 4 Zum Stand der Meinungen vgl. nur Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 6 ff mit einer Vielzahl weiterer Nachweise. 5 Vgl. §20 Abs. 1 Satz 2 und zur Behandlung unwiderruflicher Angebote Koppensteiner Fn.2 §20 Rdn. 11 m. w . N . aber auch KG 14.6.1990 WM 1990, 1546f. 6 So B G H Z 114, 203, 213 m . w . N . aus dem Schrifttum. 7 B G H Fn. 6 S.215. 8 So die Begründung zum Regierungsentwurf abgedruckt bei Kropff, Aktiengesetz, S. 38.

Die Mitteilungspflichten des § 20 AktG

583

heit bei der Anwendung derjenigen Vorschriften (erhöht werden soll), die an die Höhe einer Beteiligung anknüpfen.. ." 9 , scheint die Regelung der Rechtsfolgen bei Verletzung der Mitteilungspflichten durch § 2 0 Abs. 7 nur konsequent. Von der Sanktion des § 2 0 Abs. 7 sind alle durch die Aktien vermittelten Rechte betroffen und es ist das Recht zur Teilnahme an der Hauptversammlung ebenso erfaßt wie das Stimm-, das Auskunftsrecht, der Dividendenanspruch, der Anteil am Liquidationserlös, aber auch das Bezugsrecht bei einer Kapitalerhöhung 10 wie auch die Rechte, die einer Minderheit oder einem einzelnen Aktionär zustehen 11 . Verloren werden nicht nur die Rechte aus den Aktien, mit denen die Schwellenwerte des § 2 0 überschritten werden, sondern der Rechtsverlust betrifft sämtliche Aktien, die dem mitteilungspflichtigen Unternehmen — im Sinne von § 2 0 Abs. 2 - gehören 12 .

II. Keineswegs eindeutig ist allerdings die Formulierung, daß für den Fall unterlassener Mitteilung Rechte aus Aktien „nicht ausgeübt werden" können. Schon bald nach Inkrafttreten des Aktiengesetzes 1965 wurde auf die Mehrdeutigkeit dieser Formulierung hingewiesen und angemerkt, daß sie sowohl die Auslegung zulasse, für den Zeitraum der unterlassenen Mitteilung entfielen als auch ruhten die Rechte 1 3 , und bis heute gibt es keine einheitliche befriedigende Antwort für alle aus den Aktien folgenden Rechte (das gilt auch für das Ergebnis der besonders gründlichen Behandlung dieser Frage durch Heinsius Fn. 3, der sich für eine Auslegung „im Sinne eines Ausübungsverbots oder Ruhens der Rechte" ausspricht, weil sie „in allen Punkten klare und praktikable Lösungen" ergebe - S . 2 2 9 - ) . Die Antwort auf diese Frage muß gegeben werden, denn sie ist nicht bloß für die Mittel von Bedeutung, die der Vorstand bei einer Verletzung der Mitteilungspflichten anzuwenden hat, sondern auch für den Maßstab, an dem die Sorgfaltspflichten des § 93 Abs. 1 Satz 1 (auf den sich auch § 116 bezieht) zu messen sind.

So wiederum Begr. RegE Fn. 8. Hierzu BGH Fn. 6 S. 214: „Zu den Rechten auf Aktien zählt das Bezugsrecht gemäß §186 AktG nach einer ordentlichen Kapitalerhöhung". 11 Vgl. dazu Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 42 m. w. N. 12 So schon Begr. RegE Fn.8 S. 42 und Schäfer Fn. 13 S. 1005 und heute herrschende Meinung vgl. Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 39. 15 Vgl. dazu Schäfer, BB 1966, 1004, 1005. 9

10

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1. Mit Geßleru wird man sich gegen HeinsiusXi für den endgültigen Rechtsverlust auch in den Fällen entscheiden müssen, in denen es Schwierigkeiten machen kann, diese Konsequenz zu praktizieren: Mit den Rechten „für die Zeit" können nur solche gemeint sein, die in dieser Zeit auszuüben waren oder auf sie entfallen, sich also auf sie beziehen. Bei Stimmrechten sind dies die Stimmen auf Hauptversammlungen, die in der „mitteilungslosen" Zeit stattfinden, bei Dividenden die Ansprüche, die dem Mitteilungspflichtigen für die Zeit zustehen, für die er die Mitteilung unterlassen hat. Können diese Rechte nicht ausgeübt werden, bedeutet dies ihren Verlust. Wenn wirklich nur das Ruhen der Rechte hätte angeordnet werden sollen, hätte es sprachlich näher gelegen, dies mit Worten „während der Zeit" oder „bis" oder „solange" die Mitteilung nicht gemacht worden ist, auszudrücken. Die gewählte ungewöhnliche Fassung „für die Zeit" darf nicht unberücksichtigt bleiben. Da diese Auslegung des Wortlautes durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, insbesondere durch ihre Änderung im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens, bestätigt wird, spricht alles dafür, von einem Rechtsverlust und nicht bloß von einem Ruhen der Rechte auszugehen 16 . 2. Die Frage, ob §20 Abs. 7 im Sinne eines Verlustes der aus der Aktie folgenden Rechte oder im Sinne ihres Ruhens zu beantworten ist, ist auch für die Frage der Heilung von Bedeutung. Zwar spielt die Antwort beim Teilnahme-, beim Frage- und beim Stimmrecht keine Rolle, denn auch das „ruhende Recht" kann nicht ausgeübt werden, und wenn die Hauptversammlung, zu der die schriftliche Mitteilung hätte vorliegen müssen, vorüber ist, sind die Rechte für diese Hauptversammlung erloschen, aber anders liegt es beim Anspruch auf die Dividende, bei dem auf das Bezugsrecht und bei dem Anteil am Liquidationserlös 17 . Bedeutung gewinnt die Antwort auch für die Haftung der Organmitglieder des Mitteilungsadressaten (§§93, 116), denn beim Ruhen der Rechte heilt die verspätete Mitteilung die Säumnis mit der Folge, daß solange die Bezugsfrist nicht abgelaufen ist - das Bezugsrecht ausgeübt, die noch nicht ausgeschüttete Dividende gefordert und der Anteil am Liquidationserlös verlangt werden kann. Sind die Rechte dagegen verloren, gibt es derartige Ansprüche des Aktionärs nicht, und werden sie

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BB 1980, 217ff. Und gegen Adler/Düring/Schmaltz § 170 Rdn. 12 f. 16 So weitgehend wörtlich Geßler Fn. 11 S. 217. 17 Vgl. hierzu Heinsius Fn.3 S. 233 ff, aber auch B G H F n . 6 S.218 für das Bezugsrecht. 15

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gleichwohl befriedigt, können sich Schadensersatzansprüche gegen die Organe ergeben (im einzelnen nachstehend zu III.). III. Die Rechtsfolgen des § 20 Abs. 7 treten ohne Rücksicht auf ein Verschulden des Mitteilungspflichtigen ein18. Es kommt auch nicht darauf an, ob das mitteilungspflichtige Unternehmen rechtsirrtümlich angenommen hat, zur Mitteilung nach §20 Abs. 1, 3 und 4 nicht verpflichtet zu sein (vgl. aber § 62 Abs. 1 Satz 2), sondern die bloße Verletzung der Mitteilungspflicht führt zum Rechteverlust 19 . 1. Es ist nicht einmal selten, daß Mitteilungspflichten verletzt werden, aber die Gesellschaft, der die Mitteilung hätte gemacht werden müssen, von dem die Mitteilungspflicht auslösenden Sachverhalt erfährt 20 . Erfährt der Vorstand - oder eines seiner Mitglieder21 - von dem Sachverhalt, hat die Gesellschaft davon Kenntnis. Gleiches gilt aber auch, wenn der relevante Sachverhalt dem Aufsichtsrat oder einem seiner Mitglieder zur Kenntnis kommt, denn die dem Aufsichtsrat auferlegten Pflichten (wie z.B. die die Pflicht zur Beratung enthaltende Uberwachungspflicht des §111 Abs. I 22 , die Pflicht, Schaden von der Gesellschaft zu wenden) verpflichten jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied, Kenntnisse, die für die Gesellschaft von Bedeutung sind, dem Vorstand zu vermitteln, denn nur dann erfüllt der Aufsichtsrat (oder sein Mitglied) das Gebot des § 93 Abs. 1 Satz 1, das wegen der Vorschrift des § 116 auch für ihn gilt. Bedenken, die Kenntnis, die ein Aufsichtsratsmitglied erlangt hat, der Kenntnis der Gesellschaft gleichzusetzen, bestehen um so weniger, als für Aufsichtsratsmitglieder wie für Mitarbeiter der Gesellschaft die Regel des § 166 BGB gilt. 2. Die Kenntnis, welche die Organe der Gesellschaft zur Verwirklichung der Regel des §20 Abs. 7 verpflichtet, ist die gesicherte Kenntnis des sanktionsbegründenden Sachverhaltes. Sie sich zu verschaffen, ist der Vorstand verpflichtet. Das folgt aus §93 Abs. 1 Satz 1, denn dessen Sorgfaltsgebot verpflichtet den Vorstand (und den Aufsichtsrat wegen §116), Schaden von der Gesellschaft zu wenden und deren Geschäfte in Ubereinstimmung mit den gesetzlichen Geboten zu führen 23 . Besteht 18 So schon Schäfer Fn. 13 S. 1004, auch Geßler Fn. 3 Anm. 63, zweifelnd wohl Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 36 und Heinsius Fn. 3 S. 236. " Ebenso Geßler Fn.3 Rdn. 63. 20 Vgl. nur die Beispiele bei Heinsius F n . 3 S.217, aber auch KG F n . 5 S. 1547. 21 Auch dessen Kenntnis ist Kenntnis der Gesellschaft - vgl. B G H Z 41, 282, 287 - . 22 Vgl. dazu Geßler Fn. 3 § 111 Rdn. 36. 23 Vgl. nur Mertens in Kölner Kommentar §93 Rdn. 7.

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Grund zu der Annahme, daß ein Aktionär seiner Mitteilungspflicht mit der Folge des Rechteverlustes - nicht genügt hat, ist der Vorstand verpflichtet, nach besten Kräften sich um gesicherte Kenntnis des sein Handeln (oder Unterlassen) bestimmenden Sachverhaltes zu bemühen24. Nicht jedem Gerücht braucht der Vorstand nachzugehen, aber ein Sachverhalt wie der, welcher dem Beschluß des Kammergerichts vom 14. Juni 1990 zugrunde lag25, rechtfertigt nicht nur Fragen des Vorstands an den betroffenen Aktionär, sondern verpflichtet ihn dazu. Der betroffene Aktionär ist seinerseits zu wahrheitsgemäßer Antwort verpflichtet. Denn wenn es begründete Zweifel an der Ausübbarkeit der aus den Aktien folgenden Rechte gibt, ist es Sache desjenigen, der die Zweifel auszuräumen in der Lage ist, die dafür erforderliche Auskunft zu geben26. Zur Auskunft verpflichtet ist aber nicht nur der betroffene Aktionär, sondern auch derjenige, welcher an der Verwirklichung der Ordnungswidrigkeit des §405 Abs. 3 Nr. 5 mitwirkt. Denn mag er auch ein Interesse daran haben, die Ordnungswidrigkeit nicht bekanntwerden zu lassen, verdient dies Interesse doch keinen Schutz gegenüber demjenigen der Gesellschaft an der Verwirklichung der von § 20 Abs. 7 angeordneten Rechtsfolgen. Liegen die Voraussetzungen des § 20 Abs. 2 vor, gelten für die Auskunftspflicht der Normadressaten die gleichen Grundsätze wie für den betroffenen Aktionär selbst27. Mögen auch die Ansprüche auf Auskunft klagbar sein, wird die Praxis davon kaum Gebrauch machen, denn ehe über das Klagebegehren entschieden ist, dürfte sich der Streit durch Erfüllung der Mitteilungspflicht (oder Zurückführung der Beteiligung auf einen nicht mitteilungspflichtigen Umfang) in der Hauptsache erledigt haben. Auch die Entscheidung des Kammergerichts28 ist nicht in einem Auskunftsprozeß, sondern auf Beschwerde in einem Verfahren nach § 132 ergangen. Ist der Vorstand demnach grundsätzlich nicht verpflichtet, den Auskunftsanspruch im Prozeßwege durchzusetzen, muß es für die Annahme gesicherter Kenntnis ausreichen, wenn ein „für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit und nicht nur von Wahrscheinlichkeit (erreicht ist), der einem restlichen etwaigen Zweifel Schweigen gebietet, ohne ihn völlig ausschließen zu müssen" 29 . Aber diesen Grad von Gewißheit muß sich der Vorstand verschaffen, um dem Sorgfaltsgebot des § 93 Abs. 1 Satz 1 zu genügen.

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Vgl. dazu auch Geßler Fn. 3 Anm. 86 und ihm folgend Heinsius Fn.3 S.235. Vgl. KG Fn. 5 S. 1548. Vgl. nur BGHZ 95, 285, 287/288. KG Fn. 25. Fn. 20. Baumbach/Hartmann §286 ZPO Anm.2C.

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3. Ist der Vorstand zu der Überzeugung gekommen, der Aktionär habe seine Mitteilungspflicht verletzt, ist er verpflichtet, die Ausübung der aus den Aktien folgenden Rechte zu verhindern, wenn der betroffene Aktionär einer unter gedrängter Darstellung des Sachverhaltes ihm übermittelten Aufforderung, seiner Mitteilungspflicht zu genügen, innerhalb angemessener Frist nicht entspricht. Ohne eine solche Aufforderung begegnet die Durchsetzung des in § 2 0 Abs. 7 normierten Gebotes Bedenken, weil - wenn auch vom Säumigen zu vertreten - die zu treffenden Maßnahmen (vgl. dazu unten zu 4.) so einschneidend sind, daß zunächst eine weniger belastende zu versuchen ist, die dem Aktionär die Möglichkeit gibt, entweder die Mitteilungspflichten des § 20 zu erfüllen oder die Nichtanwendbarkeit der Norm darzutun 30 . Nicht dagegen ist der Vorstand verpflichtet, eine ihm zur Kenntnis gekommene, aber nicht gemäß § 2 0 mitgeteilte Beteiligung von sich aus bekanntzumachen 31 . Macht die Gesellschaft von dieser Möglichkeit Gebrauch, entfallen 32 die Sanktionen nicht: Zum einen knüpft § 2 0 Abs. 7 nicht an die Bekanntmachung, sondern an das Unterlassen der Mitteilung an 33 , zum anderen aber sind die Vorschriften über die Mitteilung zwingendes Recht, und auf ihre Einhaltung kann nicht verzichtet werden und dies selbst dann nicht, wenn die Beteiligung schon bekannt ist 34 . Wäre die Bekanntmachung des mitteilungspflichtigen Sachverhaltes durch die Gesellschaft geeignet, die Mitteilungspflicht des Unternehmens und die Sanktion des § 2 0 Abs. 7 entfallen zu lassen, käme dies einem Verzicht auf die Mitteilung gleich. Ist dieser aber wirksam nicht möglich, kann die Bekanntmachung durch die Gesellschaft das mitteilungspflichtige Unternehmen weder von den Mitteilungspflichten entbinden noch die Sanktion des § 2 0 Abs. 7 ausräumen. Die Gesellschaft ist indessen gut beraten, wenn sie angesichts der Auffassungsunterschiede im Schrifttum (auch Leo - Fn. 31 - hält die Bekanntmachung für geeignet, die Rechtsfolgen des § 2 0 Abs. 7 zu vermeiden) auf eine Bekanntmachung - zu der sie nicht verpflichtet ist 35 - verzichtet, zumal sie häufig nicht in der Lage sein wird, die Beteiligung so genau zu bezeichnen, daß in der Öffentlichkeit keine „Zweifel entstehen, welche Art Beteiligung gemeint und wem sie zuzurechnen ist" ( B G H Fn. 6 S. 215).

30 31 32 33 34 35

Vgl. dazu auch BGHZ 51, 198, 203, insbesondere aber BGHZ 18, 350, 363 ff. Vgl. dazu Leo, AG 1965, 352, 353. Gegen Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 34. Worauf Geßler Fn. 3 Anm. 54 zu Recht verweist. BGH Fn. 6. Vgl. BGH Fn. 6 S. 215.

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4. Keines der aus der Aktie folgenden Rechte darf, werden die Mitteilungen des § 20 unterlassen, ausgeübt werden (vgl. oben zu I.2.). a) Nach ganz allgemeiner Meinung gehört dazu auch das Recht, an der Hauptversammlung teilzunehmen. Ein von der Teilnahme ausgeschlossener Aktionär kann auch nicht verlangen, daß ihm die Einberufung der Hauptversammlung, die Bekanntmachung der Tagesordnung und etwaige Anträge und Wahlvorschläge von Aktionären einschließlich des Namens des Aktionärs, der Begründung und einer etwaigen Stellungnahme der Verwaltung und die in der Hauptversammlung gefaßten Beschlüsse schriftlich mitgeteilt werden (§ 125 Abs. 1, 2 und 4). Er kann dies auch nicht etwa deswegen, weil ihm Gelegenheit gegeben werden muß, vor einer Hauptversammlung die Mitteilungen gemäß § 20 nachzuholen, weil er über die Tatsache der Hauptversammlung durch die Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern ebenso erfährt wie über deren Zeitpunkt und ihre Tagesordnung (§ 121 Abs. 3). Wird allerdings zu Unrecht unterstellt, daß der Aktionär wegen der Sanktion des §20 Abs. 7 von der Ausübung der Aktionärsrechte ausgeschlossen ist, ist das Unterlassen der durch § 125 vorgeschriebenen Mitteilung ein Anfechtungsgrund im Sinne des § 243 Abs. 1. Dem Aktionär darf der Zutritt zur Hauptversammlung verwehrt werden, denn ist er zur Ausübung des Teilnahmerechtes nicht befugt, ist er ebenso zu behandeln wie ein Dritter, der nicht Aktionär der Gesellschaft ist36. Erfüllt nunmehr, wozu er berechtigt ist, der Aktionär die ihn aus §20 treffende Pflicht, darf er von der Hauptversammlung nicht ausgeschlossen, es muß ihm die Teilnahme ermöglicht, der Zutritt also gewährt werden. b) Nicht immer wird es gelingen, den betroffenen Aktionär schon am Eintritt in den Versammlungssaal und damit an der Teilnahme an der Hauptversammlung zu hindern. Dann aber ist darauf zu achten, daß er sein Stimmrecht nicht ausüben kann. Denn die Beschlüsse, die unter seiner Mitwirkung zustande kommen, sind nach allgemeiner Meinung 37 anfechtbar. Koppensteiner bezweifelt, daß sich aus der Anfechtbarkeit des Beschlusses „irgendwelche praktischen Wirkungen ergeben", weil es schwierig sei, rechtzeitig Kenntnis von dem Anfechtungstatbestand zu erlangen, um die kurze Anfechtungsfrist des §246 Abs. 1 zu wahren. Hat die Gesellschaft aber die zu fordernde sichere Kenntnis (siehe oben zu III.2.), ist der anfechtungsberechtigte Vorstand (§245 Nr. 4) auch in der Lage, fristwahrend Anfechtungsklage zu erheben. Dazu kann er übri-

36 37

Vgl. dazu Zöllner in Kölner Kommentar § 119 Rdn. 75 f. Vgl. nur Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 53 m. w. N.

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gens verpflichtet sein (§93 Abs. 1 Satz 1), wenn es im Interesse der Gesellschaft liegt, den unter Verletzung des §20 Abs. 7 zustandegekommenen Beschluß zu vernichten. Es ist nicht einmal auszuschließen, daß solche Beschlüsse sogar nichtig sind. Denn wenn die Mitteilungspflicht bestimmt ist, „die Öffentlichkeit über geplante und bestehende Konzernverbindungen besser zu unterrichten" 38 , läßt sich durchaus die Meinung vertreten, bei § 20 handele es sich um eine Vorschrift, die „im öffentlichen Interesse gegeben" sei39. Bei so gewichtigen Folgen einer Rechtsverletzung kommen „Hilfslösungen", wie etwa stillschweigendes Nichtmitzählen der Stimmen des betroffenen Aktionärs, gesonderte Erfassung dieser Stimmen, um feststellen zu können, wie der Beschluß ohne das Votum des betroffenen Aktionärs ausgefallen wäre, u.dgl., nicht in Betracht. Der Leiter der Hauptversammlung ist vielmehr verpflichtet, das Stimmverbot des § 20 Abs. 7 durchzusetzen, indem er offen erklärt, daß der betroffene Aktionär zur Abgabe seiner Stimme nicht berechtigt ist, daß, stimme er gleichwohl mit, seine Stimmen nicht berücksichtigt würden, sondern er so behandelt würde, als sei er in der Hauptversammlung weder anwesend noch vertreten 40 . Denn dem Hauptversammlungsleiter obliegt es (auch), dafür zu sorgen, daß anfechtbare Beschlüsse nicht gefaßt werden. Dies folgt aus seiner Pflicht, für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Hauptversammlung zu sorgen41. c) Dem von der Sanktion des §20 Abs. 7 betroffenen Aktionär steht weder ein Rede- noch ein Fragerecht zu. Er hat also auch keinen Anspruch auf Antwort und deswegen auch nicht das Recht zu verlangen, seine Frage und den Grund der Auskunftsverweigerung in das über die Hauptversammlung zu führende Protokoll aufzunehmen (§ 131 Abs. 5). Gleichwohl wird der Urkundsnotar den Vorgang in seinem Protokoll vermerken, denn die Niederschrift soll Auskunft über alle rechtserheblichen Entscheidungen und Maßnahmen geben, und die Auskunftsverweigerung zählt dazu 42 , selbst dann, wenn sie gerechtfertigt ist. Auch hier aber gilt: Teilt der Aktionär seine relevante Beteiligung der Gesellschaft schriftlich mit und sei dies in der Hauptversammlung, darf er vom Zeitpunkt des Zugangs der Mitteilung an seine Rechte wieder ausüben.

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Begr. RegE Fn. 8 S. 38. " Vgl. dazu Geßler Fn. 14 S.219. 40 Zur Frage der verbotswidrig abgegebenen Stimmen vgl. auch Heinsius Fn. 3 S.223 m. w. N . 41 Vgl. dazu auch Zöllner Fn. 36 Rdn. 57 ff. 42 Vgl. dazu auch Zöllner Fn.36 § 130 Rdn. 44 ff.

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d) Auch ein Bezugsrecht ist der betroffene Aktionär auszuüben nicht berechtigt43. Das ist zwar nicht unproblematisch44, aber entspricht der herrschenden Meinung. Nicht weniger problematisch ist, was mit den neuen Aktien zu geschehen hat, die der vom Bezugsrecht ausgeschlossene Aktionär eigentlich beziehen könnte. Dem Urteil des Bundesgerichtshofs45 ist Eindeutiges zu dieser Frage nicht zu entnehmen. Hat der nicht bezugsberechtigte Aktionär gleichwohl sein Bezugsrecht ausgeübt und sind ihm Aktien zugeteilt worden, soll nach einer Ansicht die Gesellschaft berechtigt sein, diese Aktien herauszuverlangen, um den anderen Aktionären ein - nachträgliches - Bezugsrecht einzuräumen46, während andere der Gesellschaft das Recht geben wollen, die Aktien entsprechend §§214 Abs. 3, 226 Abs. 3 für Rechnung des betroffenen Aktionärs zu verwerten47. Zu folgen haben wird man wohl KriegerAS, der den betroffenen Aktionär nur für verpflichtet hält, der Gesellschaft den Wert des ihm zu Unrecht eingeräumten Bezugsrechtes gemäß § 62 Abs. 1 zu erstatten. Diesen Anspruch aber ist der Vorstand verpflichtet, gegen den betroffenen Aktionär geltend zu machen, wenn er seiner aus § 93 Abs. 1 Satz 1 folgenden Pflicht entsprechen will. Das gilt mindestens dann, wenn der Aktionär während der Bezugsfrist die ihm nach § 20 obliegende Mitteilung nicht gemacht hat. Denn nach Ablauf der Frist ist das Bezugsrecht in jedem Falle erloschen, und der unrechtmäßige Bezug steht fest. Für den geltend zu machenden Anspruch spielt dann die Frage, ob §20 Abs. 7 zu einem Rechteverlust oder nur zu einem Ruhen der Rechte führt, keine Rolle mehr49. e) Zu Unrecht gezahlte Dividenden sind nach allgemeiner Ansicht zurückzuzahlen; dem entspricht die Pflicht des Vorstands, sie zurückzufordern50. Durchgesetzt hat sich jetzt auch die Ansicht, daß Grundlage des Rückforderungsanspruchs §62 Abs. 1 ist; die Meinung, der Anspruch ergebe sich aus §§812 ff BGB 5 1 , ist Mindermeinung geblie-

BGH Fn.6 S.207. Dazu Krieger in Münchner Handbuch zum Gesellschaftsrecht, Band 4 Aktiengesellschaft, §68 Rdn. 144 und ders. EWiR §20 AktG 1/91, 745. 45 Fn.6. 46 Vgl. dazu Geßler Fn. 2 Anm. 81 und ders. Fn. 14 S.220, aber auch Koppensteiner Fn.3 Rdn. 55. 47 So Heinsius Fn.3 S.233f. 48 Fn. 44 §68 Rdn. 147. 49 Vgl. dazu auch BGH Fn.6 S.218. 50 Vgl. als Ausdruck der herrschenden Ansicht nur Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 54 m. w. N. 51 So noch Biedenkopf/Koppensteiner in der l.Aufl. des Kölner Kommentars §20 Rdn. 39. 43

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ben52. Wird der Rückforderungsanspruch nicht geltend gemacht, erwächst der Gesellschaft unter den Voraussetzungen der §§93, 116 ein Schadensersatzanspruch gegen die pflichtwidrig Handelnden. f ) Während nach überwiegender Ansicht das Recht auf einen Anteil am Liquidationserlös von der Sanktion des §20 Abs. 7 erfaßt werden soll53, wird das Bezugsrecht bei Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln nach überwiegender Meinung von ihr nicht berührt 54 . Wenn auch Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung angemeldet werden, daß der betroffene Aktionär auch kein Recht auf Teilnahme am Liquidationserlös habe 55 , sollte der Vorstand auf diese abweichende Ansicht so lange nicht vertrauen, als nicht mindestens obergerichtliche Entscheidungen sie bestätigt haben. Er setzt sich sonst dem Vorwurf aus, fahrlässig auf einen Anspruch verzichtet zu haben, dessen Berechtigung die überwiegende Auffassung im Schrifttum bejaht.

IV. Die auf den „Unternehmensaktionär" gemünzte Vorschrift des §20 begründet, wie sich zeigt, gewichtige, über die Bekanntmachungspflicht des § 20 Abs. 6 hinausgehende Pflichten der Gesellschaftsorgane. Denn ihnen gebietet die Sorgfaltspflicht (der §§93 Abs. 1 Satz 1 und 116), im Interesse der Gesellschaft dafür zu sorgen, daß dem gesetzlichen Verdikt des § 20 Abs. 7 nicht zum Nachteil der Gesellschaft oder ihrer Aktionäre zuwider gehandelt wird. Mögen auch einige Fragen, die sich aus §20 Abs. 7 ergeben, noch nicht eindeutig beantwortet sein, wird doch in der Regel von einem Verschulden der Organe gesprochen werden müssen, wenn sie auf die Durchsetzung der Ansprüche verzichten, die sich gegen den säumigen Aktionär als Folge einer Verletzung des durch §20 Abs. 7 stipulierten Gebotes ergeben. Dabei dürfen die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht indessen nicht überspannt werden. N u r dann sind die Organe verpflichtet, den Säumigen an der Ausübung der aus der Aktie folgenden Rechte zu hindern, wenn sie sichere Kenntnis von dem Tatbestand haben, der die Rechtsfolge des §20 Abs. 7 auslöst. Sie sich zu verschaffen ist bei hinreichendem Anlaß der Vorstand ebenso verpflichtet, wie Aktionäre und die von §20 Abs. 2 Erfaßten die von ihnen erforderten zur Erlangung der Kenntnis nötigen Auskünfte zu geben gehalten sind.

52 53 54 55

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

jetzt Koppensteiner Fn. 2 Rdn. 54. nur Heinsius Fn. 3 S. 234. dazu Geßler Fn. 3 Rdn. 72 und ebenso Heinsius Fn. 3 S. 231. dazu Krieger Fn. 44 §68 Rdn. 139.

Parallele Aufspaltung von Gesellschaften WOLFGANG ROSENER

Einleitung* Am 6. April 1991 ist das Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen1 (SpTrUG) in Kraft getreten. Dieses, wie Ganske es genannt hat, „kleine Spaltungsgesetz"2 bezweckt, die Privatisierung der unmittelbar oder mittelbar zu 100 % in der Hand der Treuhandanstalt befindlichen Unternehmen durch Aufteilung von zu großen Wirtschaftseinheiten zu erleichtern. Tatsächlich besteht in diesem Zusammenhang auch das Bedürfnis, nicht lediglich eine Gesellschaft aufzuteilen, sondern komplexere Umgestaltungen bei Unternehmensgruppen vorzunehmen. Ein derartiger Vorgang liegt dieser Darstellung zugrunde. Es handelt sich dabei um einen der vielen ungewöhnlichen und neuartigen Vorgänge, die im Zuge der Umgestaltung der Wirtschaft der ehemaligen DDR in marktwirtschaftliche Strukturen erforderlich werden. Hierbei traten nicht nur eine Reihe von besonderen Rechtsproblemen auf, sondern auch die praktische Abwicklung erwies sich als überaus kompliziert, wie dies vielfach unter anderem wegen der Neukonstituierung von Registergerichten und Behörden in den neuen Bundesländern der Fall ist. In Abstimmung mit den Herausgebern sollen daher hier sowohl rechtliche Gesichtspunkte als auch Fragen der praktischen Abwicklung dargestellt werden. I. Ausgangspunkt: Wirtschaftliche Aufgabenstellung Die Treuhandanstalt hatte im Oktober 1990 die Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbG (GPH) gegründet. Sie sollte gewissermaßen als „Privatisierungsagentur " für die Objekte der ehemals staatlichen ostdeutschen Handelsorganisation (HO) - Ladengeschäfte, Gaststätten, Hotels - neue Betreiber finden. Diese Objekte - zum Stichtag " Dieser Beitrag ist gemeinschaftlich mit Rechtsanwalt Dr. Ulrich Blech, Düsseldorf, ausgearbeitet worden; beide Verfasser haben bei der dem Beitrag zugrundeliegenden Aufgabe eng zusammengearbeitet. 1 Gesetz vom 5 . 4 . 1 9 9 1 , B G B l . I, S. 854. 2 D B 1991, 791.

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31.12.1989 rund 30 000 - gehörten zu den insgesamt 153 HO-Nachfolgegesellschaften, die in der Rechtsform der GmbH über das gesamte Gebiet der neuen Bundesländer verstreut waren. Bei diesen GmbHs handelte es sich sowohl um solche, die nach der „Modrow-Verordnung" 3 , als auch um solche, die nach dem Treuhandgesetz 4 umgewandelt worden waren. Unter den letzteren befanden sich Gesellschaften, die noch „im Aufbau" waren. Viele Betriebe dieser Unternehmen waren in gemieteten Räumlichkeiten tätig. Insgesamt gehörten aber den HONachfolgegesellschaften etwa 6000 Immobilien im Gesamtwert von ca. 3,5 Milliarden DM. Die Geschäftsführung der GPH hatte nun das wirtschaftliche Konzept erarbeitet, alle betriebsnotwendigen Immobilien - „Handelsimmobilien" - in einer einzigen Gesellschaft, alle nicht betriebsnotwendigen Immobilien in einer zweiten Gesellschaft und die verbleibenden übrigen Aktiva und Passiva in einer dritten Gesellschaft zu konzentrieren. Die rechtliche Aufgabenstellung ging somit dahin, auf dem denkbar einfachsten Wege das Vermögen aller rund 150 HO-Nachfolgegesellschaften in der vorgenannten Weise aufzuspalten und auf drei neu zu gründende Gesellschaften zu überführen. Der Sinn dieser Umstrukturierung lag darin, die weitere Privatisierung dieser Immobilien zentral durch die beiden neuen Immobiliengesellschaften steuern zu können und ebenso sämtliche sonstigen Abwicklungsmaßnahmen an einer Stelle in der dritten Gesellschaft zusammenzufassen. Dies war u. a. deswegen dringend geboten, weil sich die Führungs- und Organisationsstrukturen der rund 150 HO-Nachfolgegesellschaften überall im Lande in Auflösung befanden: Vielfach waren Leitungskräfte zu den neuen Betreibern übergewechselt oder aus anderen Gründen ausgeschieden. Das an sich schon recht ehrgeizige Unterfangen einer derartigen Umstrukturierung wurde nun noch zusätzlich kompliziert durch den Zeitdruck, unter den es geriet. Dies beruhte auf folgendem Umstand. Nach § 1 Abs. 5 DMBilG konnte bei unternehmerischer Umgestaltung, die bis zum 30.6.1991 bewirkt war, die DM-Eröffnungsbilanz per 1.7.1990 - also weit rückwirkend - für die neu entstandenen Gebilde statt für die ursprünglich vor der Umstrukturierung vorhanden gewesenen Gesellschaften aufgestellt werden. Im konkreten Fall bedeutete das also, daß DM-Eröffnungsbilanzen nicht für die über 150 HO-Nachfolgegesellschaften, sondern nur für die drei neu entstehenden Gesellschaften in Berlin vorgelegt werden sollten.

3 Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften vom 1.3.1990, GBl. DDR 1, S. 107. 4 Vom 17.6.1990, GBl. DDR I, S.300.

Parallele Aufspaltung von Gesellschaften

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Nachstehend soll nun dargestellt werden, auf welchem rechtlichen Weg und in welcher praktischen Weise das dargestellte unternehmerische Konzept durchgeführt wurde. II. Lösungsmöglichkeiten 1. Für die angestrebte Zusammenfassung und Neuordnung der Aktivitäten der HO-Nachfolgegesellschaften wurde zunächst erwogen, die verschiedenen Gesellschaften nach § 32 KapErhG in einem ersten Schritt auf eine einzige neue Gesellschaft zu verschmelzen, von der in einem zweiten Schritt die verschiedenen Grundstücksaktivitäten nach § 1 Ziffer 2 SpTrUG abgespalten worden wären. Diese Vorgehensweise war jedoch nicht zu verwirklichen, weil es nach §24 Abs. 2 Satz 3 KapErhG erforderlich gewesen wäre, für alle übertragenden HO-Nachfolgegesellschaften Schlußbilanzen aufzustellen, deren Stichtag nicht länger als 8 Monate hätte zurückliegen dürfen. Da diese Gesellschaften in ihrer Mehrzahl zur fraglichen Zeit - Mai 1991 - noch nicht einmal über DMEröffnungsbilanzen verfügten, wäre es unmöglich gewesen, im vorgesehenen Zeitrahmen die für eine Verschmelzung notwendigen Schlußbilanzen vorzulegen. Das D-Mark-Bilanzgesetz 5 (DMBilG) sieht zwar in § 1 Abs. 5 Satz 1 und 2 ausdrücklich vor, daß eine bis zum 30. Juni 1991 mit Verschmelzung nach §346 Abs. 4 Satz 1 AktG oder §25 Abs. 3 Satz 1 KapErhG erloschene übertragende Gesellschaft keine DM-Eröffnungsbilanz vorlegen mußte. Der Gesetzgeber hatte es jedoch versäumt, den damit bestehenden Widerspruch zu den verschmelzungsrechtlichen Anforderungen der §§345 Abs. 3 Satz 4 AktG, 24 Abs. 3 Satz 3 KapErhG aufzulösen, deren Verpflichtung zu einer zeitnahen Schlußbilanz, die notwendig eine vorherige DM-Eröffnungsbilanz voraussetzt, den Verzicht auf eine DM-Eröffnungsbilanz der übertragenden Gesellschaft nach dem DMBilG ins Leere laufen läßt. Die Regelung des DMBilG kann insoweit nicht als eine die gesellschaftsrechtlichen Anforderungen abändernde Sonderregelung für Treuhandunternehmen verstanden werden 6 , weil das Erfordernis einer Schlußbilanz als Eintragungsvoraussetzung streng auszulegen ist. Den strengen Anforderungen an eine Abänderung der Eintragungsvoraussetzungen wird § 1 Abs. 5 DMBilG jedoch nicht gerecht, da diese Vorschrift die rückwirkende Bilanzierung ausdrücklich nur für Zwecke des DMBilG anordnet. Es hätte insoweit einer eindeutigen Äußerung des BGBl. 1990 II S. 885, S.889 i.d.F. vom 22.3.1991, BGBl. I S. 971. So aber Budde/Forster D-Mark-Bilanzgesetz Ergänzungsband/Müller, 1991, § 1 Rdn. 9 ff. 5

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Gesetzgebers bedurft, daß für Treuhandunternehmen im Rahmen der Frist des § 1 Abs. 5 DMBilG auf das gesellschaftsrechtliche Erfordernis einer Schlußbilanz verzichtet wird. 2. Anders als die verschmelzungsrechtlichen Vorschriften enthält das SpTrUG für die Aufspaltung von GmbHs nicht die Verpflichtung, eine Schlußbilanz der zu spaltenden Gesellschaften zu erstellen. Allein im Rahmen des SpTrUG war es so möglich, die vom Gesetzgeber angebotene Möglichkeit der „rückwirkenden" Bilanzierung nach § 1 Abs. 5 DMBilG wirkungsvoll zu nutzen. Für die Umstrukturierung der HO-Nachfolgegesellschaften lag daher der Gedanke nahe, durch eine zeitgleiche Aufspaltung dieser Gesellschaften insgesamt nur drei neue Gesellschaften zu gründen und so bereits in einem Schritt das Ziel der Umstrukturierung zu erreichen, ohne diese Gesellschaften zuvor gesondert zu verschmelzen. Grundlage für eine solche „verschmelzende" oder - richtiger - „parallele" Aufspaltung verschiedener Gesellschaften auf dieselben dadurch neu entstehenden Gesellschaften ist die Überlegung, daß das SpTrUG als eigentliche Neuerung die Möglichkeit enthält, Vermögensiez/e einer GmbH im Wege der Gesamtrechtsnachfolge zu übertragen, während sich die Gründung der neuen Gesellschaften gemäß §3 SpTrUG nach dem jeweiligen Gründungsrecht bestimmt. Es ist daher möglich, eine Vielzahl von Gesellschaften zeitgleich aufzuspalten und deren Vermögensteile auf dieselben drei neuen Gesellschaften zu übertragen. Aus der Sicht der jeweils betroffenen Altgesellschaften ergibt sich dabei kein Unterschied zum „Normalfall" einer Einzelaufspaltung: Die Gesellschaft wird aufgespalten und überträgt wie von § 1 Ziffer 2 SpTrUG vorausgesetzt - ihre Vermögensteile zur Neugründung anderer Gesellschaften. Die Besonderheit der parallelen Aufspaltung liegt allein bei der Gründung der drei neuen Gesellschaften. Diese Neugründungen, die sich - wie erwähnt - nach dem GmbH-Gründungsrecht bestimmen, sind Sachgründungen7. Aber anders als im „Normalfall" bringt die Treuhandanstalt als alleinige Gesellschafterin nicht die durch Aufspaltung entstehenden Vermögensteile nur einer einzigen, sondern einer Vielzahl von Gesellschaften zur Gründung der neuen Gesellschaften ein. III. Die parallele Aufspaltung im einzelnen Aus Wortlaut und Systematik des SpTrUG ergibt sich nicht, daß eine zeitgleiche Aufspaltung mehrerer Altgesellschaften und die Ein7

Priester

D B 1991, 2373/2376.

Parallele Aufspaltung von Gesellschaften

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bringung ihrer Vermögensteile zur Gründung neuer Gesellschaften ausgeschlossen ist. 1. Die parallele Aufspaltung steht dem Ziel des SpTrUG nicht entgegen, das zum Zwecke der besseren Privatisierung wirtschaftliche Umstrukturierungsmaßnahmen erleichtern soll8. Eine Unzulässigkeit der parallelen Aufspaltung läßt sich insbesondere nicht aus der Gegenüberstellung des SpTrUG mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts (EUmwG) 9 aus dem Jahre 1988 herleiten, an den das SpTrUG ausdrücklich anknüpft. Der EUmwG enthält in § 138 Abs. 2 - anders als das SpTrUG - den ausdrücklichen Hinweis, daß die Aufspaltung auch unter gleichzeitiger Beteiligung mehrerer übertragender Unternehmen erfolgen kann. Hieraus kann nicht geschlossen werden, daß die parallele Aufspaltung im Rahmen des SpTrUG ausgeschlossen sein soll10, denn diese Regelung des EUmwG hat lediglich klarstellende und nicht konstitutive Bedeutung. Dies zeigt sich insbesondere daran, daß der EUmwG zwar gesonderte Abschnitte zur Aufspaltung zur Aufnahme (§141) sowie zur Aufspaltung zur Neugründung (§ 148) enthält, nicht aber zur Aufspaltung unter Beteiligung mehrerer übertragender Gesellschaften. Hieraus kann nur geschlossen werden, daß es sich bei der parallelen Aufspaltung nicht um eine eigenständige Form der Aufspaltung handelt, die einer gesonderten Regelung bedurft hätte. Das Fehlen eines besonderen Hinweises auf die Möglichkeit einer parallelen Aufspaltung schließt daher die Zulässigkeit einer solchen Aufspaltung nicht aus. 2. Auch dem Umstand, daß in den Gesetzesformulierungen des SpTrUG für die Aufspaltung zumeist der Singular gebraucht wird, kann nicht entnommen werden, daß eine zeitgleiche Aufspaltung mehrerer Gesellschaften ausgeschlossen ist. Dies zeigt ein Blick u. a. in den erwähnten EUmwG, der trotz der ausdrücklichen Erwähnung der Aufspaltung mehrerer Gesellschaften immer nur den Singular verwendet. Gleiches gilt für den Umstand, daß die im SpTrUG vorgeschriebene registerrechtliche Behandlung der Aufspaltung lediglich auf die Spaltung jeweils nur einer Gesellschaft in mehrere neue Gesellschaften zugeschnitten ist. Auch der EUmwG geht für die registerrechtliche BehandAmtl. Begr. z. SpTrUG BT-Drucks. 12/105 S. 7. Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts BMJ III A 1-3501/1. 10 So aber Mayer/Vossius, Spaltung und Kapitalneufestsetzung nach dem SpTrUG und dem DM-BilG, 1991, S.40; Mayer DB 1991, S. 1609; Priester DB 1991, 2373/2375. 8 9

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lung von Aufspaltungen von dem „Normalfall" der Aufspaltung jeweils nur einer Gesellschaft aus, vgl. §§ 140, 150. Zu beachten ist dabei, daß eine Abwandlung des registerrechtlichen Verfahrens nur in Hinblick auf §8 Abs. 2 SpTrUG erforderlich ist. Diese Vorschrift regelt nicht die Übertragung des Vermögens der aufgespaltenen Gesellschaften, sondern sie soll allein die wirksame Entstehung der neuen Gesellschaften sicherstellen, indem sie verhindert, daß diese neuen Gesellschaften ohne jede Vermögensausstattung entstehen. Sie dient daher allein dem Schutz des Rechtsverkehrs 11 , indem sie für die besondere Situation der Neugründung durch Spaltung das materielle Gebot der vorherigen Einlageleistung gem. §7 Abs. 2 und 3 G m b H G sicherstellt. Für den bei der parallelen Aufspaltung gegebenen Fall der Leistung der Sacheinlage durch die Übertragung der Vermögensteile mehrerer Gesellschaften gilt daher entsprechend, daß diese Sacheinlage in die neue Gesellschaft erst dann bewirkt ist, wenn durch die Aufspaltung aller vorgesehenen Altgesellschaften die gesamte Sacheinlage für diese neue Gesellschaft geleistet wurde. Da aber eine zeitgleiche Eintragung der Aufspaltung mehrerer Gesellschaften durch verschiedene Registergerichte nicht möglich ist, kann es zu einer sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen erstreckenden „Auffüllung" der Sacheinlage bei der neuen Gesellschaft kommen, die bis zum Abschluß der Übertragungen wohl lediglich als Vorgesellschaft mit allen damit verbundenen Problemen besteht (vgl. dazu noch unten IV. 7.). Die Aufspaltung auf eine durch die Spaltung zur Neugründung notwendig entstehende Vorgesellschaft ist - anders als die Aufspaltung auf eine bereits bestehende Gesellschaft - zulässig, denn auch bei einer Einzelaufspaltung wird zwangsläufig zunächst auf eine im Rahmen des SpTrUG entstandene Vorgesellschaft aufgespalten. Die Frage, inwieweit eine Aufspaltung auf eine außerhalb des Spaltungsverfahrens entstandene Vorgesellschaft möglich ist, ist insoweit nicht berührt 12 . 3. Auch der in der Literatur angesprochene numerus clausus der Übertragungsmöglichkeiten 13 steht einer parallelen Aufspaltung nicht entgegen, weil bei dieser Aufspaltung - wie im Gesetz vorausgesetzt - die Übertragung der Vermögensteile zur Neugründung einer Gesellschaft erfolgt. Es handelt sich hier also nicht um eine Übertragung von Vermögensteilen von Gesellschaften, für die der Gesetzgeber keine Regelung zur Übertragung von Vermögensteilen vorgesehen hat, wie beispielsweise für Personengesellschaften, oder um eine im Gesetz nicht

» Vgl. Amt. Begr. z. SpTrUG BT-Drucks. 12/105 S. 11. 12 Ablehnend ohne jede Differenzierung Mayer/Vossius S. 40. 13 Mayer/Vossius aaO.

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vorgesehene Aufspaltung auf bestehende Gesellschaften 14 . Die bei der parallelen Aufspaltung vorgesehene Übertragung von Vermögensteilen entspricht vielmehr dem gesetzlichen Modell. Es handelt sich daher auch nicht um eine analoge Anwendung der Vorschriften des SpTrUG. Die Besonderheit der parallelen Aufspaltung liegt allein in der durch das Gründungsrecht bestimmten Einbringung einer Vielzahl von Vermögensteilen zur Gründung neuer Gesellschaften. Diese Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Übertragungsakt, der dem Numerus clausus der Gesamtrechtsnachfolgeregelung unterliegt und der vorliegend durch die Spaltung entsprechend dem SpTrUG bewirkt wird, und der Gründung der neuen Gesellschaften, bei denen durch diese Übertragungen die Sacheinlagen geleistet werden, findet ihre Grundlage im SpTrUG, das für die Neugründung der jeweiligen Gesellschaften ausdrücklich auf das jeweilige Gründungsrecht verweist. Sie ist auch nicht neu. Sie entspricht der Auffassung, daß sich bei einer Verschmelzung durch Neubildung neben den übertragenden Gesellschaften weitere Personen mit Bar- und Sacheinlagen an der Gründung der neuen Gesellschaft beteiligen können 15 . Auch der bereits erwähnte Umstand, daß der EUmwG keinen gesonderten Abschnitt zur parallelen Aufspaltung mehrerer Gesellschaften enthält, zeigt, daß hier keine eigenständige Form der Vermögensübertragung vorliegt, die nur zulässig wäre, sofern sie vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen wäre. 4. Für die Zulässigkeit der „parallelen" Aufspaltung ist neben den dargestellten systematischen Erwägungen vor allem entscheidend, ob hierdurch Rechte Ditter beeinträchtigt sein könnten. Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere die Rechte der Gläubiger der HO-Nachfolgegesellschaften und ihrer Arbeitnehmer. Da einzige Gesellschafterin aller aufzuspaltenden Unternehmen die Treuhandanstalt war, stellt sich vorliegend nicht die Frage nach schutzwürdigen Interessen von Minderheitsgesellschaftern. a) Für die Interessen der Gläubiger gilt bei einer Aufspaltung zunächst folgendes: Bei der Aufspaltung gehen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 SpTrUG Verbindlichkeiten entsprechend dem Spaltungsplan auf eine der neu entstehenden Gesellschaften über. Die jeweilige Gesellschaft wird damit zum Schuldner der ihr zugewiesenen Verbindlichkeiten. Daneben gilt § 11 14

Weimar ZIP 1991, S. 769/776. So Baumbach/Hueck, AktG, 13. Aufl. 1970, §353 Rdn.6 m . w . N . ; Godin/ Wilhelmi, AktG, 4. Aufl. 1971, §353 Anm.7; barteilHenkes, GmbHG, 2. Aufl. 1986, II KapErhG Nr. 145. 15

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Abs. 1 Satz 1 SpTrUG, wonach alle an der Spaltung beteiligten Gesellschaften als Gesamtschuldner bis zu dem Betrag haften, den der Gläubiger erhalten hätte, wenn die Spaltung nicht durchgeführt worden wäre. Die Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 1 SpTrUG bedeutet aber nicht, daß auch die Haftung der Gesellschaft, die nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 SpTrUG die Verbindlichkeit entsprechend dem Spaltungsplan übernommen hat, auf das Vermögen der Ursprungsgesellschaft beschränkt sein soll. Während also die Gesellschaft, die die Verbindlichkeit übernommen hat, diese in vollem Umfang schuldet - ungeachtet des ursprünglichen Vermögensbestandes haften die anderen durch die Spaltung entstehenden Gesellschaften daneben als Gesamtschuldner nur in der Höhe beschränkt. Dieses Nebeneinander der in der Höhe beschränkten gesamtschuldnerischen Haftung durch alle Gesellschaften und der Übernahme der vollen Verbindlichkeit durch eine Gesellschaft stellt sicher, daß den Gläubigern durch die Verteilung von Verbindlichkeiten und Aktivvermögen im Rahmen der Aufspaltung keine Haftungsmasse entzogen wird16. Dies gilt in gleicher Weise bei einer parallelen Aufspaltung mehrerer Gesellschaften. Auch hier gilt, daß die die Verbindlichkeiten jeweils übernehmende Gesellschaft für diese in vollem Umfang haftet, während die anderen durch die Aufspaltung entstehenden Gesellschaften lediglich jeweils bis zur Höhe des Vermögens der Ursprungsgesellschaft gesamtschuldnerisch einzustehen haben. Die Tatsache, daß bei einer parallelen Aufspaltung Vermögensteile verschiedener Gesellschaften in den neuen Gesellschaften zusammengefaßt werden, führt zu keiner Verschlechterung der Gläubigerstellung. Anders sogar als bei der Verschmelzung, bei der es der Gläubiger abgesehen von der Möglichkeit der Sicherheitsleistung nach §§347 Abs. 1 AktG, 26 Abs. 1 KapErhG - hinnehmen muß, wenn die Bonität seines Schuldners durch die Verschmelzung verschlechtert wird, bleibt dem Gläubiger hier die ursprüngliche Haftungsmasse im Grundsatz immer erhalten. Im Falle der hier beschriebenen parallelen Aufspaltung kam hinzu, daß die Treuhandanstalt nach § 11 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 10 Abs. 3 Satz 3 SpTrUG erklärte, daß sie bis zur Höhe des Vermögens der jeweils übertragenden Gesellschaft für die Erfüllung der Verbindlichkeiten der jeweils übertragenden Gesellschaft einstehen werde. Die gesamtschuldnerische „Sekundär"-Haftung der Gesellschaften, die die jeweiligen Verbindlichkeit nicht unmittelbar übernommen hatten, war damit aus-

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Ganske DB 1991, S. 791/794.

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geschlossen17. Eine in der Höhe beschränkte gesamtschuldnerische Haftung aller neuen Gesellschaften bleibt lediglich für „vergessene" Verbindlichkeiten bestehen, also jene Verbindlichkeiten, die keiner der neuen Gesellschaften im Außenverhältnis ausdrücklich zugewiesen wurde. Der Umstand, daß bei der parallelen Aufspaltung eine Schlußbilanz nicht erforderlich ist, beinhaltet ebenfalls keine zusätzliche Gefährdung der Gläubiger über jene hinaus, die der Gesetzgeber durch den Verzicht auf eine Schlußbilanz im Rahmen des SpTrUG ohnehin hinnimmt. b) Von besonderer Bedeutung ist weiterhin der Schutz der betroffenen Arbeitnehmer, vorliegend also der Schutz der Interessen der bei den HO-Nachfolgegesellschaften verbliebenen Arbeitnehmer. Dieser Schutz wird umfassend durch §613 a BGB gewährleistet, der mit der Verabschiedung des SpTrUG entsprechend angepaßt worden war. Nach §613 a Abs. 1 Satz 1 BGB tritt derjenige, auf den ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft übergeht, in die Rechte und Pflichten der im Zeitpunkt des Ubergangs bestehenden Arbeitsverhältnisses ein. Diese Regelung setzt allein voraus, daß ein Betrieb oder Betriebsteil übergeht. Durch die Zuweisung der Vermögensteile in den Spaltungsplänen wird demgegenüber lediglich bestimmt, auf wen welche Vermögensteile übergehen sollen. An diesen Vermögensübergang knüpft § 613 a BGB die gesetzliche Folge der entsprechenden Übernahme der Arbeitsverhältnisse. Die Spaltungspläne vermögen die Rechtsfolge des §613a BGB nicht zu beeinflussen. Der durch § 613 a BGB gewährleistete Schutz der Arbeitnehmer wird daher durch eine parallele Aufspaltung mehrerer Gesellschaften nicht anders berührt als bei einer Aufspaltung nur einer einzelnen Gesellschaft. Auch hier gilt, daß die Gesellschaft, auf die der jeweilige Betriebsteil übergegangen ist, in die Arbeitsverhältnisse eintritt. Es ist also nicht möglich, daß eine Aufspaltung - gleich welcher Gestalt gegen § 613 a Abs. 1 B G B verstößt18.

17 Die Erklärung nach § 11 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 10 Abs. 3 Satz 3 SpTrUG befreit nicht die Gesellschaft, die nach dem Spaltungsplan die Verbindlichkeit erhalten hat, von ihrer Verpflichtung. Sie führt lediglich dazu, daß die anderen Gesellschaften von den ungewissen Risiken der gesamtschuldnerischen Haftung für Verbindlichkeiten, die ausdrücklich einer Gesellschaft zugewiesen wurden, insoweit befreit werden. Hingegen führt die - im vorliegenden Fall nicht abgegebene - Erklärung zu „vergessenen" Verbindlichkeiten nach §10 Abs. 3 Satz 3 SpTrUG dazu, daß alle Gesellschaften von Verbindlichkeiten, die im Spaltungsplan keiner Gesellschaft zugewiesen wurden, zu Lasten der Treuhandanstalt entschuldet werden. Für diese „vergessenen" Verbindlichkeiten würden alle neu entstehenden Gesellschaften - ohne entsprechende Freistellungserklärung - gesamtschuldnerisch nach § 10 Abs. 3 Satz 2 SpTrUG haften. Die Freistellungserklärung nach § 10 Abs. 3 Satz 3 SpTrUG ist daher von der Freistellungserklärung nach § 11 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 10 Abs. 3 Satz 3 SpTrUG zu unterscheiden. 18 So aber Kreisgericht Erfurt, ZIP 1991, 1233/1255.

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Im übrigen ist der Schutz der Arbeitnehmer wie der sonstigen Gläubiger durch die gesamtschuldnerische Haftung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 bzw. durch die Erklärung der Treuhandanstalt nach § 11 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 10 Abs. 3 Satz 3 SpTrUG sichergestellt. Nicht nachvollziehbar ist daher die Auffassung des Kreisgerichts Erfurt 19 , das im Rahmen einer Prüfung einer konzernrechtlichen Haftung der Treuhandanstalt davon ausgeht, daß eine mißbräuchliche Ausübung der Leitungsmacht durch die Treuhandanstalt vorliege, weil die Treuhandanstalt als Gesellschafterin das Vermögen der aufgespaltenen Gesellschaften unterschiedlichen Gesellschaften zugewiesen habe, ohne einen entsprechenden Ausgleich für die Gläubiger zu schaffen. Abgesehen von den hier nicht zu erörternden Zweifeln an den konzernrechtlichen Erwägungen des Gerichts, fehlt es bereits an der vom Gericht selbst genannten Voraussetzung, nämlich der Gefährdung von Gläubigerinteressen. Durch die parallele Aufspaltung einer Vielzahl von Gesellschaften entstehen - wie oben dargelegt - keinerlei zusätzliche Risiken für die Gläubiger oder Arbeitnehmer der betroffenen Gesellschaften. Die Situation der Gläubiger ist bei der parallelen Aufspaltung verschiedener Gesellschaften keine andere als bei dem „Normalfall" der Aufspaltung lediglich einer Gesellschaft. Weder dogmatische noch praktische Erwägungen sprachen daher grundsätzlich gegen eine parallele Aufspaltung der HO-Nachfolgegesellschaften auf drei neue Gesellschaften. Die praktischen Schwierigkeiten der Umsetzung dieses Modells lagen vielmehr vor allem in dem Umstand, daß die parallele Aufspaltung rund 150 Gesellschaften erfassen sollte und die Mitwirkung praktisch aller Registergerichte in den neuen Bundesländern erforderte. Dabei ist anzumerken, daß keines der beteiligten Registergerichte eine Eintragung der Aufspaltungen mit der Begründung ablehnte, daß das SpTrUG eine solche parallele Spaltung nicht zulasse. Unabhängig von den besonderen Problemen der Anwendung des SpTrUG auf eine parallele Aufspaltung mehrerer Gesellschaften zeigt die Diskussion aber auch, wo im Rahmen des EUmwG noch weiterer Regelungsbedarf besteht. Dies gilt insbesondere für das sehr zeitaufwendige gegenseitige Unterrichtsverfahren der Gerichte über die jeweils erfolgten Eintragungen. Genauerer Regelung bedarf darüber hinaus die Leistung der Sacheinlagen durch die verschiedenen Altgesellschaften und der Status der hierdurch entstehenden neuen Gesellschaften vor Abschluß aller Spaltungen.

" Vgl. Fn. 18.

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IV. Die praktische Durchführung 1. Es liegt auf der Hand, daß eine so umfangreiche Transaktion wie die vorliegend behandelte parallele Aufspaltung von etwa 150 Gesellschaften nicht ohne genauen Zeitplan, logistische Planung und Abstimmung mit den in Betracht kommenden Stellen erfolgreich durchgeführt werden kann. Da es praktisch nicht möglich war, mit sämtlichen fünfzehn in Betracht kommenden Registergerichten von Rostock bis Suhl vorher in Verbindung zu treten, wurde die Problematik mit dem in BerlinCharlottenburg für die neu entstehenden drei Gesellschaften zuständigen Registergericht eingehend erörtert. Nach umfassender Durchsprache des unternehmerischen Konzepts einerseits, der oben dargestellten Aspekte des Gläubigerschutzes und Arbeitnehmerschutzes (ein Minderheitsgesellschafterschutz entfiel ja wie erwähnt im vorliegenden Falle) andererseits, entschloß sich der zuständige Registerrichter, den Gesamtvorgang als mit dem SpTrUG vereinbar und eintragungsfähig anzusehen. Dabei war bekannt, daß Vertreter des Bundesjustizministeriums der Frage der Vereinbarkeit des vorgesehenen Vorgehens mit dem SpTrUG reserviert gegenüberstanden. Eingehende Abstimmungsgespräche, die mit Vertretern des Bundesjustizministeriums ebenso wie mit solchen des Bundesfinanzministeriums geführt wurden, hatten zur Folge, daß von Seiten des Bundesjustizministeriums hinsichtlich des konkreten Vorgangs Zurückhaltung geübt wurde; die in zufriedenstellender Weise abgeklärten steuerlichen Aspekte gehören nicht in den Rahmen dieser Darstellung. Daß der Charlottenburger Registerrichter bereit war, eine kurz gefaßte positive Stellungnahme von seiner Seite den Registerrichtern in den neuen Bundesländern übermitteln zu lassen, half sicherlich beim Gelingen des Vorhabens. Denn nicht nur waren die Registerrichter zum Teil mit dem für sie neuen Recht noch nicht vollständig vertraut - hinzu kam, daß das SpTrUG zu jener Zeit gerade erst in Kraft getreten war und es an jeder Kommentierung fehlte. 2. Aus registerrichterlicher Sicht ergab sich folgende Aufstellung der zu planenden und durchzuführenden Rechtsakte: - Beurkundung des Spaltungsplans (§ 2 SpTrUG), - Einreichung des Spaltungsplans beim Handelsregister der übertragenden Gesellschaften und dessen Veröffentlichung (§ 2 Abs. 3 SpTrUG), - Anmeldung des Spaltungshinweises („Hinweis auf die bevorstehende Spaltung") zur Eintragung in das Handelsregister des Sitzes der übertragenden Gesellschaften (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SpTrUG),

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- Anmeldung der neuen Gesellschaften zur Eintragung beim zuständigen Gericht (Berlin-Charlottenburg), - Eintragung des Spaltungshinweises in den Registern der übertragenden Gesellschaften, - Mitteilung hiervon an die Register der entstehenden Gesellschaften (dieser notwendige Schritt ist ausdrücklich im Gesetz nicht geregelt), da erst danach die neuen Gesellschaften eingetragen werden dürfen, und zwar mit dem Vermerk, daß die Eintragung der neuen Gesellschaft erst mit der Eintragung der Spaltung selbst im Handelsregister des Sitzes der übertragenden Gesellschaft wirksam wird (§8 Abs. 2 SpTrUG), - frühestens einen Monat nach Veröffentlichung eines Hinweises auf den Spaltungsplan (§2 Abs. 3 Satz 2 SpTrUG): Beurkundung des Spaltungsbeschlusses (§ 7 Abs. 1 SpTrUG) für alle übertragenden Gesellschaften, - Anmeldung der Spaltung zur Eintragung in das Handelsregister des Sitzes der übertragenden Gesellschaften (§ 9 Abs. 1 SpTrUG: Eintragung der Spaltungen erst nach Eintragung der neuen Gesellschaften, und zwar aufgrund entsprechenden Hinweises des Gerichts des Sitzes der neuen Gesellschaften an die Gerichte des Sitzes der übertragenden Gesellschaften: § 9 Abs. 2 Satz 1 SpTrUG). Mit der Eintragung der Spaltung in das Handelsregister des Sitzes der übertragenden Gesellschaft geht gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 SpTrUG das Vermögen auf die neue Gesellschaft über; die übertragende Gesellschaft erlischt (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 SpTrUG). Mängel der Spaltung heilen mit deren Eintragung gemäß §10 Abs. 2 SpTrUG. Das Handelsregister des Sitzes der übertragenden Gesellschaft hat den Zeitpunkt der Eintragung der Spaltung dem Gericht des Sitzes der neuen Gesellschaft mitzuteilen, der dort einzutragen ist (§ 9 Abs. 2 Sätze 2 und 3 SpTrUG). Ein Blick auf die vorstehende Aufstellung vor dem Hintergrund von rund 150 HO-Nachfolgegesellschaften als übertragenden Gesellschaften zeigt, daß hier die Erarbeitung, Beurkundung und Einreichung Hunderter von notariellen Urkunden erforderlich wurde. Eine Reihe von in diesem Zusammenhang auftretenden Fragen soll nachstehend dargestellt werden. 3. Aufstellung des Spaltungsplanes in notariell beurkundeter Form sowie die Anmeldungen zu den Registern der übertragenden Gesellschaften obliegen den Geschäftsführern dieser Gesellschaften. Sie waren über die gesamten neuen Bundesländer verstreut. Deswegen wurde beschlossen, die beiden führenden Persönlichkeiten der G P H gleichzei-

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tig bei sämtlichen in Betracht kommenden Gesellschaften als zwei (weitere) gemeinschaftlich vertretungsberechtigte Geschäftsführer zu bestellen, um die Folgevorgänge zentral in Berlin abwickeln zu können. Der hierfür erforderliche privatschriftlich niederzulegende Beschluß des immer gleichen Gesellschafters, der Treuhandanstalt, wurde in Form einer einzigen Urkunde unter Befügung der Liste aller betroffenen Gesellschaften erstellt. Notwendig blieben aber die notariell zu beglaubigenden Anmeldungen zu den Handelsregistern der rund 150 Gesellschaften. Der Beschleunigung halber wurden auch die Anmeldungen in einer einzigen Urkunde zusammengefaßt, in der es hieß: „In den Handelsregistersachen aller in den Anlagen zu den hier in beglaubigten Fotokopien beigefügten Gesellschafterbeschlüssen vom 31.1.1991 und 15.5.1991 genannten Gesellschaften . . . melden wir zur Eintragung in das Handelsregister a n . . Auf diese Weise bedurfte es nicht der Eintragung von über 150 Nummern in der Urkundenrolle, sondern nur der Herstellung einer entsprechenden Anzahl beglaubigter Abschriften der einzigen Urkunde. Dieses Verfahren hat sich bewährt und zu keinerlei Schwierigkeiten geführt; inhaltlich repräsentiert die Urkunde natürlich rund 150 Anmeldungen. Dieses Verfahren wurde teilweise - darauf wird zurückzukommen sein - auch bei den folgenden Urkunden angewandt. Es ergab sich jedoch ein besonderes Problem: Aufgrund des oben begründeten Zeitdruckes lagen im Zeitpunkt der Abwicklung zwar Listen sämtlicher in Betracht kommender Gesellschaften (die sich später als nicht völlig fehlerfrei erwiesen) vor, nicht jedoch Handelsregisterauszüge aller in Betracht kommenden Gesellschaften. Somit konnte nicht festgestellt werden, inwieweit es sich bei den Gesellschaften noch um solche „im Aufbau" (§14 T H G ) handelte. Für diese Gesellschaften ergab sich folgende Schwierigkeit: Ihre Eintragung erfolgte ohne Gesellschaftsvertrag, der erst später nachzuholen war. Damit galten die gesetzlichen Vertretungsverhältnisse: „Die Gesellschaft wird durch die Geschäftsführer gerichtlich und außergerichtlich vertreten. Dieselben haben in der durch den Gesellschaftsvertrag bestimmten Form ihre Willenserklärungen kundzugeben und für die Gesellschaft zu zeichnen. Ist nichts darüber bestimmt, so muß die Erklärung und Zeichnung durch sämtliche Geschäftsführer erfolgen." (§35 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GmbHG) Dies hätte - da wie ausgeführt gesellschaftsvertragliche Regelungen bei Aufbaugesellschaften nicht vorhanden sind - ungeachtet des

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Beschlußtextes bei den Aufbaugesellschaften dazu geführt, daß die beiden vorerwähnten Personen nicht zu zweit, sondern nur zusammen mit den übrigen noch eingetragenen Geschäftsführern vertretungsberechtigt gewesen wären. Ein Widerruf der Vertretungsberechtigung noch vorhandener weiterer Geschäftsführer kam aus vielen Gründen nicht in Betracht. So wurde folgender Weg gewählt: Die Treuhandgesellschaft hielt Gesellschafterversammlungen der Gesellschaften ab - vorsorglich: sämtlicher Gesellschaften, da es am Uberblick, welche „im Aufbau" waren, fehlte - , mit denen zwar nicht ein Gesellschaftsvertrag, wohl aber die Regelung der Vertretungsbefugnis dahingehend, daß die Gesellschaft durch je zwei Geschäftsführer gemeinschaftlich vertreten werde, beschlossen wurde. Für diesen „Satzungssplitter" wurden Anmeldungen zur Eintragung ins Handelsregister gefertigt.

4. a) Ein besonderes Problem stellte die Vorbereitung und Beurkundung der Spaltungspläne dar. Zwar war mittlerweile deutlich geworden, daß aus verschiedenen Gründen einige Gesellschaften aus der Gesamttransaktion entfielen, so daß „nur" 139 Spaltungspläne in Betracht kamen. Auch hier entschloß man sich, zur Vermeidung von 139 Urkundenrollen-Nummern die 139 Pläne in einer Urkunde zusammenzufassen. In Anlage 1 wurden die 139 Gesellschaften, für die jeweils wortlautgleich derselbe Spaltungsplan galt, aufgelistet20. Wesentlich ist nun, daß gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 9 SpTrUG dem Spaltungsplan „die genaue Beschreibung und Aufteilung der Gegenstände des Aktiv- und Passiwermögens, die an jede der neuen Gesellschaften übertragen werden", beigefügt werden muß. Weiter heißt es dort u.a.: „Bei Grundstücken ist §28 der Grundbuchordnung zu beachten." Grundstücke müssen also mit den genauen in § 28 GBO aufgeführten Einzelangaben, wie in notariellen Urkunden üblich, gekennzeichnet werden. b) In wochenlanger Vorarbeit waren in allen neuen Bundesländern bei den sämtlichen HO-Nachfolgegesellschaften nach einheitlich von der GPH vorgegebenem Schema die rund 6000 Grundstücke erfaßt worden. Aus dieser Erfassung wurden zwei buchstarke Listen gebildet: Einmal die Liste der betriebsnotwendigen Grundstücke, die auf die „EXHOGrundstücksverwaltungsgesellschaft mbH" übertragen werden sollten. Zum anderen die Liste der nicht betriebsnotwendigen Grundstücke, die 20 Eine einhundertvierzigste Gesellschaft sollte durch Abspaltung (§ 1 N r . 2 S p T r U G ) mit in die Transaktion eingezogen werden. Aus bestimmten, hier nicht weiter interessierenden Gründen ließ sich dies jedoch nicht durchführen, so daß es im Ergebnis bei 139 Spaltungen blieb.

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auf die „FREHO-Grundstücksverwaltungsgesellschaft m b H " übertragen werden sollten. Im Spaltungsplan war festgelegt, daß alle übrigen, in diesen beiden Listen nicht aufgeführten Gegenstände und Verbindlichkeiten auf die „DUHO-Verwaltungsgesellschaft m b H " übergehen sollten. Die Grundstücke waren in beiden Listen jeweils nach den 139 Gesellschaften geordnet. Bei den 139 beglaubigten Abschriften, die für jedes einzelne Handelsregister gefertigt werden mußten, wurden immer nur die auf die betreffende Gesellschaft bezüglichen Seiten beigefügt: Es wurde demgemäß jeweils eine auszugsweise beglaubigte Abschrift mit dem entsprechenden notariellen Vermerk erteilt. Jede andere Verfahrensweise wäre undenkbar gewesen: Die Urkunde, die auf diese Weise die 139 Spaltungspläne umfaßt, ist drei Leitzordner stark (in Fortsetzungen geheftet) und - dies sei am Rande bemerkt - ihre Verlesung nahm einen vollen Tag in Anspruch. In diesem Zusämmenhang sei auch darauf hingewiesen, daß die Geschäftsführer im Rahmen ihrer eingeengten zeitlichen Möglichkeiten zum Teil selbst unterzeichneten, zum Teil aber - insbesondere für Beurkundungen - Vollmachten erteilten21. c) Ein großes Problem stellte die Organisation der Veröffentlichung der Hinweise auf den eingereichten Spaltungsplan dar: Gerade im Hinblick auf die oben erwähnte Ein-Monatsfrist war es erforderlich, alle Veröffentlichungen sozusagen schlagartig an einem Tage vorzunehmen; eine auch nur annähernd zeitnahe Veröffentlichung durch 15 Registergerichte für 139 Gesellschaften war unvorstellbar und unkontrollierbar. Die G P H reservierte daher zwei Seiten im Bundesanzeiger und im Handelsblatt. Mit der Aussendung der 139 beglaubigten Abschriften des Spaltungsplans nebst Anschreiben wurde demgemäß eine Notiz über das Gesamtprojekt und seinen Ablauf an alle Registergerichte verteilt und der ausformulierte Entwurf einer Veröffentlichungsverfügung für die Registergerichte hinzugefügt; die G P H veranlaßte dann die Veröffentlichung in Geschäftsführung ohne Auftrag für die Registergerichte. 5. §3 SpTrUG legt fest: „Auf die Gründung jeder neuen Gesellschaft sind die für deren Rechtsform geltenden Gründungsvorschriften anzuwenden, soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt." 21 Daß durch zeitweilige Erkrankung eines Geschäftsführers die Vollmachten wegen des bestehenden Zeitdrucks nur vor einem anderen Notar erteilt und dann mittels Flugzeug und Boten nach Berlin gebracht werden konnten, sei zur Illustrierung der praktischen Probleme stellvertretend für viele andere Detailkomplikationen hier ebenfalls nur angemerkt.

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Das bedeutet unter anderem, daß für die neuen GmbH die Sachgründungsvorschriften des G m b H G gelten. Demgemäß muß dem Registergericht für die Sacheinlage ein Werthaltigkeitsnachweis eingereicht werden (§ 8 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG). Angesichts des Wertes der in die „ E X H O " und die „ F R E H O " einzubringenden Immobilien bestanden insoweit nicht die geringsten Probleme. Für alle drei neuen Gesellschaften war im übrigen nur ein Nominalwert des Stammkapitals von 50.000,- DM vorgesehen. Auch für die „ D U H O " blieben noch erhebliche Vermögenswerte, aber auch Verbindlichkeiten übrig. Hier wurde die Werthaltigkeitsbescheinigung noch dadurch in gesonderter Weise abgesichert, daß - wie oben dargestellt - die Treuhandanstalt gegenüber den Registergerichten sämtlicher 139 Gesellschaften eine Garantieerklärung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. §10 Abs.3 Satz 3 SpTrUG abgab. Im Hinblick darauf konnte die Werthaltigkeitsbescheinigung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft - unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Garantieerklärungen der Treuhandanstalt - auch für „ D U H O " abgegeben werden. 6. Ein besonderes Problem war, wie oben schon kurz erwähnt, die „Logistik" der Verteilung der Urkunden an die 139 Register bei 15 Registergerichten. Dabei sei hervorgehoben, daß die einen Monat nach Veröffentlichung des Spaltungsplanes beurkundeten Spaltungsbeschlüsse ebenso wie die dazugehörigen Handelsregisteranmeldungen da insoweit eine Vorbereitung ohne Zeitdruck möglich war - in Form von jeweils 13222 Einzelurkunden niedergelegt wurden und zu verteilen waren. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß die Gründung der neuen Gesellschaften in Verbindung mit der Anmeldung des Hinweises auf die bevorstehende Spaltung bei den übertragenden Gesellschaften nicht wie inzwischen üblich geworden23 - gleichzeitig mit dem Spaltungsplan beurkundet worden war. Vielmehr hatte sich zunächst aufgrund des mehrfach erwähnten Zeitdrucks alles auf die Fertigstellung des Spaltungsplanes konzentriert. Die Anmeldung der Spaltungshinweise und der neuen Gesellschaften folgte also später. Im Hinblick darauf waren drei „Wellen" zur Aussendung an die 15 Registergerichte erforderlich. Dies geschah jeweils mittels Boten, die mit Kraftfahrzeugen ausgerüstet waren und vorbereitete Empfangsbestätigungen der Registergerichte bei sich führten. Letzteres erwies sich später als besonders wertvoll, weil durch den zum Teil stürmischen Aufbau der

22 Zwischen Spaltungsplan und Spaltungsbeschluß schieden noch einmal Gesellschaften aus verschiedenen Gründen aus der Gesamttransaktion aus. 23 Mayer/Vossius, Mustersammlung zum S p T r U G 1991, S. 9 ff.

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neuen Registergerichte an einzelnen Standorten zeitweilig - wie Recherchen anläßlich des Ausbleibens von Eintragungsnachrichten ergaben die Akten nicht auffindbar waren. Folgende Aussendungen waren erforderlich: - Im Mai für die Spaltungspläne und Anträge auf Vollzug der Veröffentlichungsverfügung; - in der ersten Hälfte Juni für die Anmeldungen der Spaltungshinweise; - am 26. Juni für die 132 Spaltungsbeschlüsse, Handelsregisteranmeldungen und Garantieerklärungen der Treuhandanstalt. Bei der zweiten Aussendung konnte ein erläuterndes und befürwortendes Rundschreiben des zuständigen Registerrichters aus Charlottenburg an seine Kollegen mit übersandt werden. Bei der dritten Aussendung wurden die 132 vom Amtsgericht Charlottenburg ausgestellten amtlichen Hinweise auf die Eintragung der neuen Gesellschaften gemäß §9 Abs. 2 Satz 1 SpTrUG vom 24.6.1991 mit verteilt. 7. Wesentlich war es, die Wirksamkeitsvoraussetzungen von Spaltungen und Neugründungen bis zum 30.6.1991 herbeizuführen, um - wie oben ausgeführt - in den Genuß der Regelung des § 1 Abs. 5 DM-Bilanzgesetz zu kommen. Dabei war angesichts des sehr knappen Zeitplans besonders hinderlich, daß der 29. und 30.6.1991 auf ein Wochenende fielen, so daß als letzter Arbeitstag der 28.6.1991 in Betracht kam. Auf die Frage des Wirksamwerdens bzw. des Abschlusses der Aufspaltung ist vorstehend unter 2. (vgl. auch oben III. 2.) schon eingegangen worden. Als Schlußakt des Gesamtvorganges ist gemäß §9 Abs. 2 Satz 3 SpTrUG nach Eingang der Spaltungsmitteilung bei den neuen Gesellschaften der Zeitpunkt der Eintragung der Spaltung in das Handelsregister des Sitzes jeder neuen Gesellschaft von Amts wegen einzutragen - hierdurch wird die Gleichzeitigkeit der endgültigen Entstehung sichergestellt. Der Vermerk nach § 8 Abs. 2 Satz 2 SpTrUG, wonach die Eintragung der neuen Gesellschaft erst mit der Eintragung der Spaltung im Handelsregister des Sitzes der übertragenden Gesellschaft wirksam wird, ist zu löschen24. Es ist deutlich, daß die vorgenannten Regelungen keine ausdrückliche Berücksichtigung der parallelen Aufspaltung enthalten, bei welcher und so war es im vorliegenden Fall - die Spaltungen der verschiedenen parallel aufgespaltenen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten nacheinander eingetragen werden und demgemäß auch die Eintragungs24

Vgl. Mayer/Vossius,

Mustersammlung, S. 35.

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mitteilungen bei den Registern der neuen Gesellschaften erst sukzessive eingehen. Der Autor vertritt dazu die Auffassung, daß die neuen Gesellschaften bereits mit Aufspaltung der ersten Altgesellschaft endgültig wirksam entstanden sind, sofern hierdurch bereits die Übertragung eines Vermögensteils bewirkt wurde, der zur Abdeckung des Stammkapitals der neuen Gesellschaften von jeweils 50.000,- DM ausreichend war. Hiervon kann im vorliegenden Fall ausgegangen werden - insbesondere im Hinblick auf den Wert der Immobilien einerseits und das Mindestnominalkapital andererseits. Die sukzessive stattfindenden weiteren Spaltungen bewirken dann nur noch die Einbringung eines Agio in Form von Sacheinlagen. Tatsächlich sind die neuen Gesellschaften am 24.6.1991 unter Aufführung aller gespaltenen Gesellschaften in Charlottenburg eingetragen worden mit dem Vermerk: „Diese Eintragung wird erst mit der Eintragung der Spaltungen in den Handelsregistern der Sitze der übertragenden Gesellschaften wirksam." Daraus läßt sich zumindest ein sukzessives Wirksamwerden ableiten. Die Abstimmung mit den Ministerialvertretern ergab, das sei an dieser Stelle erwähnt, daß die Eintragung mindestens einer Spaltung vor dem 30.6.1991 als ausreichend angesehen werden würde, um die Anwendbarkeit von § 1 Abs. 5 DMBilG zu bejahen. Da allein drei der zu spaltenden Gesellschaften ebenfalls im Register des Amtsgerichts Charlottenburg eingetragen waren, konnte sichergestellt werden, daß mindestens diese drei Spaltungen rechtzeitig eingetragen wurden. Tatsächlich sind bei einer Reihe von weiteren Gesellschaften in den neuen Bundesländern die Eintragungen auch noch bis einschließlich 28.6.1991 erfolgt. Selbst wenn man die Auffassung vertritt, daß die endgültige Wirksamkeit der Eintragung der neuen Gesellschaften bei der parallelen Aufspaltung erst mit Eintragung der letzten Spaltung eintritt - bis dahin also nur Vorgesellschaften der neuen Gesellschaften bestehen —, kann abschließend festgestellt werden, daß mittlerweile auch dieser Umstand eingetreten ist - wenn auch erst im Frühjahr des Jahres 1992.

Übersehene Risiken bei der Privatisierung und Betriebsveräußerung durch die Treuhandanstalt Z u einem gesetzgeberischen Irrweg und untauglichen Versuch: z u r T r a g w e i t e des § 2 8 a E G A k t G *

WOLFRAM TIMM

A. Einleitung I m gesellschaftsrechtlichen

Schrifttum der vergangenen zwei Jahre

w a r die k o n z e r n r e c h t l i c h e H a f t u n g d e r T r e u h a n d a n s t a l t ( T H A ) w i e d e r holt Gegenstand eingehender Untersuchungen1. Dabei wurde mehrfach die A n s i c h t v e r t r e t e n , d a ß die T H A d u r c h a u s h e r r s c h e n d e s U n t e r n e h m e n eines qualifiziert f a k t i s c h e n K o n z e r n s sein k a n n 2 u n d sie d a m i t die entsprechenden haftungsrechtlichen Konsequenzen (insbesondere Verlustausgleichspflicht g e m . § 3 0 2 A k t G a n a l o g ) treffen k ö n n e n 3 .

Gegen

diese B e w e r t u n g h a t t e sich die T H A in d e n v o n ihr v e r b r e i t e t e n „ T h e s e n zu H a f t u n g s f r a g e n " 4 mit N a c h d r u c k gewandt, ohne aber für ihre Posi-

3 Der Beitrag wurde im September 1992 abgeschlossen, stellt mithin eine Momentaufnahme des sich seit Mitte 1990 ständig wandelnden Ubergangsrechtes zur Angleichung der Rechts- und Wirtschaftsbedingungen in den neuen Bundesländern dar. Unabhängig von dieser Momentaufnahme des seit September 1992 geltenden Rechts, welches zum Erscheinen der Festschrift bereits durch den berühmten „Federstrich des Gesetzgebers" Rechtsgeschichte sein kann, gelten die Überlegungen unter C. nicht nur für die Treuhandanstalt, sondern allgemein für jeden Groß- oder Alleinaktionär, der „seine" Aktiengesellschaft (teilweise) liquidieren will. Meinem Assistenten, Herrn Dr. Torsten Schöne, danke ich für seine Unterstützung. 1 Haarmeyer/Wutzke!Förster, GesO, 1992, 2. Aufl., Einl. Rdn.97ff; Habighorst/ Spoerr, Z G R 92, 498 ff; Hirte, in: Der qualifizierte faktische Konzern (RWS-Dokumentation 12, hrsg. von Hirte), 1992, einleitende Bemerkungen, S. 1, 11 ff; Priester, in: Bericht über die IDW-Fachtagung vom 16. bis 18.10.1991 in Berlin, 1992, S.81, 94 ff; Schuppert, ZGR 92, 454 ff; Ulmer, in: Hommelhoff (Hrsg.), Treuhandunternehmen im Umbruch, RWS-Forum 7, S.39, 40; Weimar, ZGR 92, 477 ff; Weimar/Bartscher, ZIP 91, 69, 73 f; zuletzt Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 975 ff. 2 Die Konzernhaftung der T H A war auch Gegenstand zahlreicher Beiträge in Tageszeitungen und periodisch erscheinenden Magazinen; vgl. z.B. FAZ vom 22.April 1992; Handelsblatt vom 18. Mai 1992; Der Spiegel, Heft 15/1992, S. 138. 3 Haarmeyer/Wutzke/Förster, aaO (Fn. 1); Ulmer, aaO (Fn. 1); Weimar, ZGR 92, 477, 490 ff; Weimar/Bartscher, ZIP 91, 69, 73 f; Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 975 ff. < Vgl. ZIP 92, 446 ff.

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tion überzeugende Argumente anführen zu können5. Diese Diskussion soll hier nicht erneut aufbereitet und vertieft werden6. Hier soll vielmehr der Blick auf die sich nach der Einführung des § 28 a EGAktG 7 präsentierende Rechtslage gerichtet werden8: Gem. §28 a S. 1 EGAktG sind die Vorschriften des Aktiengesetzes über herrschende Unternehmen auf die Treuhandanstalt nicht anzuwenden; S. 2 dieser Vorschrift bestimmt, daß dies nicht für die Anwendung von Vorschriften über die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat eines von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmens gilt. Die Einführung dieser Vorschrift wurde mit der außerordentlichen Bedeutung der Haftungsrisiken für die THA begründet: Es solle klargestellt werden, daß die Vorschriften des Aktiengesetzes über herrschende Unternehmen nicht anzuwenden seien. Die Sonderstellung der THA sei damit zu rechtfertigen, daß ihr gesetzlich Aufgaben zugewiesen seien, deren Erfüllung sich von der Betätigung eines Unternehmens oder auch eines anderen öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers als herrschenden Konzernunternehmens grundlegend unterscheiden9. Die Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit dieser „lex-Treuhand" sollen an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden10. Aus rechtsstaatlichen Gründen kann es jedoch unter Beachtung des Rückwirkungsverbotes keinem Zweifel unterliegen, daß die Einführung dieser „Enthaftungsnorm"11 für die Bewertung der „Altfälle" nichts ändern kann12. Vor allem die Nachteilsausgleichspflicht und Schadensersatzpflicht gem. §§311,317 AktG für zuvor erteilte und bereits durchgeführte nachteilige Weisungen der THA im faktischen Konzern bestehen nach wie vor. Das Augenmerk gilt hier vielmehr einer anderen Frage: K.Schmidtn hat § 28 a EGAktG als „warnendes Beispiel" bezeichnet, „für eine Gesetzge-

5 Vgl. Thesen Nr. 10 und 11. Zur eingehenden Kritik hierzu siehe Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 975 ff. 6 Vgl. hierzu jüngst umfassend Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 975. Im Ergebnis ebenso Weimar/Bartscher, ZIP 91, 69, 73 f; Haarmeyer/Wutzke/Förster, aaO (Fn.l), Einl. Rdn. 97 ff. 7 Zweites Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14. Juli 1992 (VermRAndG), Art. 11 §5, BGBl. I S. 1257. 8 Diese „lex-Treuhand" ist ebenso wie die Einführung des § 5 6 e DMBilG von der T H A initiiert worden, vgl. FAZ vom 22. April 1992, Handelsblatt vom 18. Mai 1992 und Der Spiegel, Heft 12/1992, S. 138. 9 BT-Drucks. 12/2480. 10 Vgl. dazu bereits Weimar/Alfes, DB 92, 1225 ff. 11 Zum vernünftigen Sinn der Regelung als Freistellung der T H A von den Konzernrechnungslegungsvorschriften vgl. Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 976. >2 Weimar/Alfes, DB 92,1225; Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 976; Meilicke, DB 92, 1867, 1872 hält die „Enthaftungsnorm" des § 28 a E G A k t G jedenfalls für die Altfälle als mit dem Willkürverbot des Art. 3 G G für schwerlich vereinbar. » JZ 92, 856, 866.

Privatisierung und Betriebsveräußerung durch die Treuhand - § 2 8 a E G A k t G

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bung, die atemlos mit Dementis auf jede Haftung antwortet.. . " H . Die Bewertung verdient uneingeschränkt Zustimmung: § 28 a E G A k t G (dessen verfassungsrechtlicher Bestand im folgenden unterstellt wird) führt für die „Neufälle" nicht zu einer entscheidenden Verbesserung der Haftungslage der T H A : An die Stelle der entfallenden Haftung der T H A im einfach faktischen bzw. qualifiziert faktischen Konzern tritt die nicht minder gefährliche Haftung gem. §117 AktG 1 5 - und damit gerät die T H A (wie im folgenden noch zu belegen sein wird) vom Regen in die Traufe! Der untaugliche Versuch des Gesetzgebers, die T H A von allen haftungsrechtlichen Risiken „freizustellen", sollte Mahnung genug sein, den Gesetzgeber jedenfalls nicht zu weiteren Unglücken wie § 2 8 a E G A k t G zu veranlassen. Für die Haftung nach § 117 A k t G ist nicht erforderlich, daß der Einflußnehmer Unternehmen i. S. d. Aktiengesetzes ist. Großaktionäre, die kein Unternehmen sind (wie z. B. die öffentliche Hand bei ausdrücklicher Freistellung vom Recht der verbundenen Unternehmen), können also durchaus bei gesellschaftsschädlichen Einflußnahmen auch außerhalb und ganz unabhängig von einer konzernmäßigen Unternehmensverbindung gem. §117 A k t G haften 16 . Diese Vorschrift enthält den allgemeinen Rechtsgedanken, daß derjenige, der Leitungsmacht usurpiert, indem er faktisch unternehmerischen Einfluß ausübt, der Gesellschaft und ihren Aktionären gegenüber eine besondere gesellschaftsrechtliche Haftung übernimmt 17 . Die Haftung nach §117 A k t G trifft insbesondere auch den Alleinaktionär; schädigt er „seine" Gesellschaft und schmälert er dadurch ihr haftendes Vermögen, kann der Ersatzanspruch der Gesellschaft gem. § 117 Abs. 5 A k t G von den Gesellschaftsgläubigern geltend gemacht werden 18 . Die Haftung der T H A gem. § 117 A k t G kann vor allem bei der Veräußerung von Betrieben oder Betriebsteilen von Treuhandunternehmen relevant werden. Derartige Maßnahmen unterfallen - entgegen dem Verständnis und der ständigen Praxis

14 Wobei K.Schmidt allerdings zu Unrecht meint, daß diese Haftung „vorschnell herbeigeredet worden" sei. 15 So bereits Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 976. " Kropff, in: Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Aktiengesetz, 1973, § 1 1 7 Rdn. 1; Mertens, in: Kölner Kommentar zum A k t G , 1973, 1. Aufl., §117 Rdn. 8. 17 Mertens, a a O (Fn. 16), § 1 1 7 Rdn. 8. Dabei handelt es sich nicht um eine Schadensersatzpflicht wegen Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht, da nach dem Wonlaut des § 117 A k t G auch Nichtaktionäre haften; vgl. Kropff, a a O (Fn. 16), § 117 Rdn. 5. 18 Würdinger, Aktien- und Konzernrecht, 1973, 3.Aufl., § 2 7 113 (S. 144); Kropff, a a O (Fn. 16), § 117 Rdn. 14; Lütter, in: Festschrift für Steindorff, 1990, 125, 143 stellt völlig zutreffend fest, daß auch der Alleinaktionär nach deutschem Aktienrecht strikt an das Verbot nachteiliger Eingriffe gebunden ist.

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der T H A - nicht ihrem Privatisierungsauftrag, sondern sind allenfalls im Zuge der Verwertung aufgelöster Treuhand-Gesellschaften gerechtfertigt. Diese Unterscheidung soll im folgenden zunächst anhand einer Konkretisierung des Privatisierungsauftrages der T H A verdeutlicht werden. Anschließend werden die Möglichkeiten und Grenzen der Einflußnahme der T H A auf den Vorstand einer von ihr abhängigen Aktiengesellschaft mit dem Ziel, die Veräußerung des Betriebes oder wesentlicher Teile hiervon an einen Erwerbsinteressenten zu erreichen, im einzelnen dargestellt. Hierbei wird keineswegs verkannt, daß Überlegungen aus der Sicht eines entwickelten Rechts in einer „heilen Welt" nicht unbesehen auf die Welt „drüben", die eben nicht heil ist und nicht einfach von heute auf morgen auf unsere Daten umgestellt werden kann, übergestülpt werden können. Diese Besonderheiten, die etwa bei der Bestimmung des Pflichtenrahmens der Verwaltungsorgane berücksichtigt werden können, dürfen allerdings nicht als Freibrief für die T H A mißverstanden werden 19 . Die Gläubiger der Treuhandunternehmen kennen zwar vielfach deren schwierige Lage; es geht aber keineswegs darum, ihnen im Falle des Scheiterns der Privatisierung den „windfall-profit" einer Haftung der T H A zu verschaffen; zu befinden ist allein über eine gerechte Verteilung von Sanierungslasten: insoweit muß ausgeschlossen werden, daß die T H A einseitig auf Kosten der Gläubiger spekuliert, insbesondere gegen den Willen einer Unternehmensführung und gegen die wohlverstandenen Interessen des Unternehmens törichte Entscheidungen trifft. Oder - mit dem Volksmund gesprochen: „Wer die Musik bestellt, muß sie auch bezahlen." B. Der Privatisierungsauftrag der T H A I. Systematischer Überblick Bei dem der T H A gem. Art. 25 Abs. 1 EV i. V. m. § 2 T H G obliegenden Aufgabenquartett (Privatisierung, Sanierung, Entflechtung bzw. Stillegung der früheren volkseigenen Kombinate und Betriebe) besitzt 19 N u r am Rande vermerkt: Gelegentlich kann man sich des Eindrucks nicht entledigen, daß die T H A nach dem Motto handelt: „Sollten dereinst wirklich Haftungsansprüche gegen die T H A rechtskräftig durchgesetzt werden können, gibt es diese Anstalt nicht mehr" - soll der Bund dann eben die Folgelasten tragen! Vor diesem Hintergrund sind Aussagen von Vertretern der Rechtswissenschaft wie diejenige von Schuppen, Z G R 92,454, 456, man möge „die Tätigkeit der Treuhandanstalt und das ihre Tätigkeit steuern sollende Treuhandgesetz nicht mit der herkömmlich und möglicherweise zu kleinkarierten Elle rechtsstaatlicher Standardanforderungen messen" (Hervorhebung vom Verf.), geradezu leichtfertig, vermögen sie doch die Treuhandanstalt in ihrer (zunehmend häufiger anzutreffenden) Position zu bestärken, sie besitze eine Blankovollmacht zur Nichtbeachtung geltenden Rechts.

Privatisierung und Betriebsveräußerung durch die Treuhand - § 2 8 a E G A k t G

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die Privatisierung eindeutig den Vorrang 20 . Streng genommen läßt sich der Aufgabenkatalog der T H A auf zwei sich im Ergebnis gegenseitig ausschließende Ziele zurückführen: Privatisierung oder Stillegung lauten die beiden einzigen echten Entscheidungsalternativen; Sanierung und Entflechtung sind dagegen lediglich privatisierungsvorbereitende Maßnahmen. Diese Systematik sei kurz verdeutlicht: 1. Der Gegensatz zwischen Privatisierung

und

Stillegung

Der sachlogische Gegensatz zwischen Privatisierung und Stillegung beruht auf wirtschaftlichen Erwägungen. § 2 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 8 Abs. 1 T H G knüpft für die Stillegung zwar an das Tatbestandsmerkmal der (fehlenden) Sanierungsfähigkeit des Treuhandunternehmens an. Das ist aber nicht als Ausdruck einer Polarisierung von Sanierung und Stillegung zu verstehen. Sanierungsunfähige Unternehmen sind grundsätzlich nicht veräußerbar und damit auch nicht privatisierungsfähig. Aus § 2 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 8 Abs. 1 T H G läßt sich vielmehr ein Rangverhältnis zwischen den Entscheidungsalternativen Privatisierung und Stillegung ableiten. Erst im Falle des Scheiterns der Privatisierungsbemühungen, insbesondere wegen Sanierungsunfähigkeit der Gesellschaft, kommt die Stillegung des Betriebes und Verwertung des Vermögens des Treuhandunternehmens in Betracht 21 . 2. Sanierung

und Entflechtung als Vorbereitungshandlungen der Privatisierung

Die Bewertung der Sanierung als „Hilfsaufgabe" zur Durchführung der Privatisierung folgt aus der Systematik des T H G . Die T H A ist 20 Ebenso Möschel, ZGR 91, 177; Tettinger, BB 92, 2, 5. Das Verhältnis zwischen Privatisierung und Sanierung war in der politischen Öffentlichkeit lange Zeit streitig; vor allem die GRÜNEN (FAZ vom 28. März 1991) und die SPD (FAZ vom 7. November 1991) hatten Vorstöße in Richtung auf eine gesetzliche Festschreibung des Vorrangs der Sanierung vor der Privatisierung unternommen. Dabei blieb jedoch außer Betracht, daß sich die Vertragsparteien des Einigungsvertrages in A II Nr. 7 des Gemeinsamen Protokolls über Leitsätze zur Wirtschaftsunion (Grundlage des Gemeinsamen Protokolls ist Art. 4 Abs. 1 S. 1 des Staatsvertrages vom 18. Mai 1990, BGBl. 1990 II, S. 537) bereits ausdrücklich darauf verständigt hatten, die in Staatseigentum befindlichen Unternehmen „so rasch wie möglich wettbewerblich zu strukturieren und soweit wie möglich in Privateigentum zu überführen". Damit war der Vorrang der Privatisierung bereits unverrückbar festgeschrieben. Von einem noch ungeklärten Verhältnis der im T H G formulierten Ziele zueinander, insbesondere der Relation von Privatisierung und Sanierung, kann entgegen der Ansicht von Schuppen, ZGR 92, 454, 460 f mithin nicht (mehr) gesprochen werden. 21 Die Stillegung erfolgt im Wege der Auflösung der Gesellschaft durch entsprechenden Auflösungsbeschluß (vgl. §262 Abs. 1 Nr. 2 AktG, §60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG). Die Verwertung des Gesellschaftsvermögens wird durch die Liquidation gem. §§264 ff AktG, §§66 ff GmbHG vorgenommen.

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mittel- und langfristig auf Selbstauflösung konzipiert 22 ; nach der T H A Konzeption soll ein dauerhafter Treuhandunternehmens-Verbund nicht geschaffen werden. Die Sanierung ist in aller Regel wirtschaftlich notwendige Vorbedingung für die Privatisierung. Ein marodes Unternehmen läßt sich gewöhnlich nicht in neue Eigentumsverhältnisse überführen. Die Beseitigung der finanziellen Schwierigkeiten notleidender Unternehmen in einem solchen Umfang, daß ihre Existenzfähigkeit unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zumindest mittelfristig gesichert erscheint, wird typischerweise conditio sine qua non für die Erwerbsbereitschaft von Interessenten sein. Die Entflechtung ist gleichfalls nicht als eigenständige Aufgabe der T H A anzusehen23. Die in der Planwirtschaft entstandenen „Wirtschaftskolosse" sind aus wirtschaftlichen Gründen durchweg nicht als Einheit zu veräußern24. Die Entflechtung der Treuhandunternehmen - auf der Rechtsgrundlage des SpTrUG 2 5 - in überschaubare und unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten wettbewerbsfähige Betriebsgrößen ist deshalb gemeinhin gleichfalls (notwendige) Vorbereitungshandlung für deren Privatisierung26. II. Anteilsverkauf als alleinige der THA unmittelbar zustehende Privatisierungsmaßnahme Weder der Einigungsvertrag, der Staatsvertrag nebst Anlagen, das T H G und seine Durchführungsverordnungen noch die Satzung der T H A vom 18.7.1990 geben eine gesetzliche Definition des Begriffs „Privatisierung des volkseigenen Vermögens" 27 . Allgemein anerkannt scheint lediglich zu sein, daß das Ziel des T H G in der möglichst baldigen Rückführung des Einflusses der öffentlichen Hand auf die dem T H A -

22 Nach den Zielvorstellungen der Präsidentin der THA, Frau Breuel, soll die Privatisierungsaufgabe der T H A nicht, wie zunächst angenommen, Ende 1994, sondern bereits Ende 1993 abgeschlossen sein; vgl. Berichte in der FAZ vom 4. November 1991 und 18. Mai 1992. « Ebenso Weimar, ZIP 91, 769. 24 Vgl. die anschauliche Darstellung von Wild, in: Hommelhoff (Hrsg.), Treuhandunternehmen im Umbruch, R WS-Forum 7, S. 1, 10 f. 25 Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen, BGBl. I 1991, S. 854. Vgl. hierzu näher Ganske, DB 91, 791 ff; Marsch-Barner, DWiR 91, 89ff; D.Mayer, DB 91, 1609ff. 26 Zur Problematik von Entflechtungen, die vor dem Inkrafttreten des SpTrUG vorgenommen worden sind, siehe näher Kühler, in: Festschrift für Merz, 1992, 333 ff. 27 Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, S. 319, geht von einem umfassenden Privatisierungsbegriff aus: Er beinhalte erstens die Schaffung einer privatrechtlichen Organisation der sozialistischen Wirtschaftseinheiten, zweitens ihre ausreichende Kapitalausstattung und drittens ihre Übernahme durch private Investoren.

Privatisierung und Betriebsveräußerung durch die Treuhand - §28 a E G A k t G

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Verbund zugehörigen Unternehmen auf Null besteht. Zu den der T H A zur Verwirklichung dieses Zieles zustehenden Befugnissen nehmen die genannten gesetzlichen Vorschriften keine Stellung. Welche Handlungsmöglichkeiten stehen der T H A nun zur Durchführung ihres Privatisierungsauftrages offen? Von dem allgemeinen öffentlich-rechtlichen Privatisierungsbegriff ausgehend, meint R. Schmidt2* offenbar - allerdings ohne nähere Begründung - , der Privatisierungsauftrag berechtige die T H A u. a. zur Veräußerung der Grundstücke und Betriebe der Treuhandunternehmen an private Personen oder Unternehmen. Diese Auffassung vertritt offensichtlich auch die THA. Nach ihrer ständigen Ausschreibungspraxis bietet sie vielfach Betriebsteile einzelner Treuhandunternehmen zum Kauf an29. Dieser Rechtsauffassung kann im Grundsatz jedoch nicht gefolgt werden. Die Verfügungsbefugnis der T H A beschränkt sich bei den ihrem Verbund angehörenden werbenden Gesellschaften allein auf die Veräußerung der von ihr gehaltenen Geschäftsanteile. Das läßt sich deutlich einer Gesamtschau der gesetzlichen Vorschriften entnehmen. Ausgehend von der grundsätzlichen Vermögenszuweisung in § 1 Abs. 4 T H G , wonach die T H A Anteilseignerin der nach dem T H G zwangsumgewandelten Gesellschaften wird, konstituiert das T H G einen mehrstufigen Beteiligungsaufbau. Die T H A ist (alleiniger und unmittelbarer) Inhaber der Aktien der infolge der gesetzlichen Zwangsumwandlung30 nach dem T H G aus den ehemaligen Kombinaten entstandenen Aktiengesellschaften31 (§ 1 Abs. 4 i. V. m. § 12 Abs. 1 THG). Durch die gem. § 12 Abs. 2 T H G erfolgte Zuweisung der Inhaberschaft der aus den Kombinaten entstandenen Aktiengesellschaften an den Geschäftsanteilen der jeweiligen GmbH, die ihnen vor dem 1. Juli 1990 als frühere VEB unterstellt waren, hat die T H A an diesen Gesellschaften die mittelbare alleinige Beteiligung erworben. Das Vermögen der aus der Fondsinha-

28 In: Hommelhoff (Hrsg.), Treuhandunternehmen im Umbruch, RWS-Forum 7, 17, 23. 29 Vgl. z. B. die Inserate im wöchentlichen Immobilienanzeigenteil der F A Z . 30 Zur rechtlichen Beurteilung dieser Zwangsumwandlung für die „entstehenden" Gesellschaften siehe Timm, Z I P 91, 413, 415; D. Mayer, D B 91, 1609ff; Weimar, G m b H R 91, 507, 509; Ganske, D B 91, 791, 797; Priester, D B 91, 2373; Rosener/Roitsch, D t Z 90, 38, 39 f; Ulmer, a a O (Fn. 1), 39, 46. 31 Für die nachstehenden Überlegungen macht es keinen Unterschied, ob die Treuhandunternehmen „Aufbau"-Gesellschaften i.S. d. T H G oder fertige Kapitalgesellschaften sind, bei denen die „Nachgründung" gem. §§19 ff T H G bereits durchgeführt worden ist. D a die „Nachgründung" der „Aufbau"-Gesellschaften gem. § 2 2 T H G bis zum 30. Juni 1991 abgeschlossen sein mußte, bietet es sich an, aus Vereinfachungsgrunden im folgenden nur noch von den (fertigen) Kapitalgesellschaften in der Rechtsform von Aktiengesellschaften und G m b H zu sprechen.

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berschaft d e r bisherigen Wirtschaftseinheiten s o w i e des in Rechtsträgerschaft befindlichen G r u n d u n d B o d e n s ist nach der ausdrücklichen A n o r d n u n g des § 11 A b s . 2 S. 2 T H G in das Eigentum d e r z w a n g s u m g e w a n d e l t e n Kapitalgesellschaften übergegangen. N i c h t die T H A ist damit Eigentümer des ehemals volkseigenen V e r m ö g e n s , sondern die auf der G r u n d l a g e des T H G „entstandenen" Gesellschaften 3 2 . Diese gesetzliche Eigentumszuweisung ist auch bei der Privatisierung zu beachten. D i e originäre Befugnis der T H A z u r D u r c h f ü h r u n g der Privatisierung besteht ausschließlich in dem V e r k a u f der v o n ihr unmittelbar u n d mittelbar gehaltenen A n t e i l e an den T r e u h a n d - G e s e l l s c h a f t e n an p r i v a t wirtschaftliche Hände 3 3 . M i t d e r Bestimmung des A n t e i l s v e r k a u f s als der nach dem G e s e t z allein vorgesehenen Privatisierungsmöglichkeit f ü h r t das T H G die Systematik der j o i n t - v e n t u r e - V e r o r d n u n g 3 4 k o n s e q u e n t fort. §3 joint-venture-Verordnung benannte ausdrücklich den Geschäftsanteil als Privatisierungsgegenstand 3 5 . D a s T H G als „ N a c h f o l g e " - G e s e t z v o n U m w V O 3 6 u n d j o i n t - v e n t u r e - V e r o r d n u n g hat nicht zu einer E r w e i t e r u n g der Befugnisse der T H A z u r Realisierung der Privatisierungsaufgabe durch Einräumung eines umfangreichen M a ß -

32 Eine unmittelbare Verfügungsbefugnis der THA über Grundstücke, Gebäude und bauliche Anlagen ist nur aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Zuweisung anzunehmen. Ein Beispiel hierfür ist § 3 a Abs. 1 S. 3 VermG a. F. (vgl. hierzu Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 971 Fn. 18). § 3 a VermG ist durch Artikel 1 Nr.4 VermRÄndG aufgehoben worden. An der Stellung der THA als gesetzlicher Vertreter für die Rückgabe von Vermögenswerten, die im Eigentum von Treuhandunternehmen stehen, hat sich dadurch nicht geändert; das ist nunmehr geregelt in §25 des Gesetzes über den Vorrang für Investitionen bei Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz (InvVorG), BGBl. I 1992, 1257, 1268 ff. Eine unmittelbare Verfügungsbefugnis ist der THA auch durch die zweite Durchführungsverordnung zum Treuhandgesetz vom 22. August 1990 (GBl. 1990 Teil I Nr. 56, abgedruckt in: HommelhofflKrebs, RWS-Dokumentation 3, 2.2) eingeräumt worden. Nach § 3 dieser VO erfolgt die Privatisierung des der THA übertragenen ausgesonderten Militärvermögens durch Veräußerung der Grundstücke, Gebäude und baulichen Anlagen. 33 Der nach dem THG nicht ausgeschlossene Anteilsverkauf an öffentlich-rechtliche Körperschaften bzw. öffentliche Unternehmen führt deshalb nicht zum erwünschten Privatisierungseffekt; vgl. zutreffend Weimar, DB 91, 373, 374. 34 Regelung für die Bildung von Gemeinschaftsunternehmen (Joint Venture) vom 25. Januar 1990, GBl. DDR I Nr.4 S. 16ff; aufgehoben nach Anlage III des Staatsvertrages mit Inkrafttreten des Staatsvertrages am 1. Juli 1990. 35 Ein deutliches Indiz dafür, daß allein die von der THA gehaltenen Beteiligungen Gegenstand der Privatisierung sind, läßt sich auch aus § 10 Abs. 3 THG entnehmen. Nach dieser Vorschrift sollen die Vorstände der Treuhand-Aktiengesellschaften insbesondere über Erfahrungen bei der Veräußerung von Geschäftsanteilen verfügen. Nachdem die Treuhand-Aktiengesellschaften nicht gegründet worden sind, wird diese Vorschrift auf die THA sinngemäß anzuwenden sein, vgl. R.Schmidt, aaO (Fn.28), 17, 24. 36 Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften vom l.März 1990 (GBl. I Nr. 14, S. 107), abge-

Privatisierung und Betriebsveräußerung durch die Treuhand - § 2 8 a EGAktG

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nahmekatalogs geführt. Lediglich der Umfang der Privatisierung wurde erweitert. Statt der in § 3 Abs. 1 joint-venture-Verordnung grundsätzlich vorgesehenen Beschränkung des Anteilsverkaufs auf maximal 49 % aller Geschäftsanteile wird nunmehr der Verkauf sämtlicher Geschäftsanteile der Treuhand-Gesellschaften angestrebt 37 . Das gewonnene Ergebnis, nämlich Befugnis der T H A nur zum Verkauf ihrer Anteile an den Treuhand-Gesellschaften, läßt sich durch eine weitere Überlegung absichern. Zu Beginn der Arbeit der T H A wurden Größenordnung und betriebliche Struktur der ehemaligen volkseigenen „Wirtschaftskolosse" als entscheidende Privatisierungshemmnisse beklagt. Auf Initiative der T H A verabschiedete der Gesetzgeber daraufhin das S p T r U G . Dieses Gesetz regelt die formellen und materiellen Anforderungen für die Teilung von 1 0 0 % igen Treuhandunternehmen in mehrere Einzelgesellschaften. Gem. § 10 Abs. 1 N r . 3 i. V. m. § 1 Abs. 1 S. 1 S p T r U G setzt sich die Anteilsinhaberschaft der T H A an den neuen Gesellschaften fort. Den Erlaß des S p T r U G hätte es nicht bedurft, wenn der T H A die Befugnis zur separaten Veräußerung einzelner Betriebe oder Betriebsteile der Treuhandunternehmen an investitionswillige Interessenten zuzubilligen wäre. Das S p T r U G ist damit ein untrügliches Zeichen dafür, daß die T H A nach dem Willen des Gesetzgebers nur verfügungsbefugt über die von ihr gehaltenen Gesellschaftsbeteiligungen ist. Die gegenteilige Rechtsauffassung, nämlich unmittelbare Zugriffsbefugnis der T H A auf das Vermögen der einzelnen abhängigen (werbenden) Treuhand-Gesellschaften, läßt sich auch nicht mit der von der T H A propagierten These eines „Treuhand-Sonderrechts" begründen 38 . Die bereits an anderer Stelle erfolgte eingehende Kritik dieser Rechtsposition soll hier nicht erneut dargelegt werden 39 . Lediglich der Hinweis auf die grundlegende Position sei gestattet: Die allgemein geltenden Grundsätze des Gesellschaftsrechts, insbesondere die zwingenden Regelungen des

druckt, in: Hommelhoff/Krebs, RWS-Dokumentation 3, 3.2; aufgehoben durch § 12 Nr. 9 der Verordnung über die Änderung oder Aufhebung von Rechtsvorschriften vom 28. Juni 1990 (GBl. I Nr. 38, S.509). 37 Zweifellos ist der Privatisierungseffekt verwirklicht, wenn die T H A über keinerlei unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an einem Treuhandunternehmen mehr verfügt. Der vollständige Anteilsverkauf ist jedoch nicht notwendig, um das Unternehmen als in private Hände überführt anzusehen. Die Privatisierungsschwelle wird überschritten sein, wenn der Anteil der T H A an dem einzelnen Unternehmen soweit zurückgeführt worden ist, daß es nicht mehr als Beteiligungsunternehmen des Bundes i. S. d. §65 Abs. 3 B H O , §53 Abs. 2 HGrG anzusehen ist. 38 Vgl. hierzu „Thesen der Treuhandanstalt zu Haftungsfragen", ZIP 92, 446. 39 Vgl. Timm/Schöne, ZIP 92, 969, 971 ff. Die Notwendigkeit der Harmonisierung öffentlich-rechtlicher Vorschriften mit Regelungen des Zivilrechts, insbesondere des Gesellschaftsrechts, ist keine Aufgabe, die erstmals hinsichtlich der Tätigkeit der T H A aktuell geworden ist. Als weitere Beispiele seien hier nur die Berichterstattung von

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AktG, sind auch von der T H A uneingeschränkt (!) zu beachten. Daher darf sie sich bei der Durchführung ihres Privatisierungsauftrages nur im Rahmen der zwingenden Kompetenzordnung der von ihr abhängigen Aktiengesellschaften und GmbH bewegen40. Für die Berechtigung der THA, das Vermögen der Treuhandunternehmen zu veräußern, ist folglich danach zu unterscheiden, ob das Unternehmen einer werbenden oder einer in Liquidation befindlichen Gesellschaft gehört. Bei den in Auflösung befindlichen Kapitalgesellschaften wird die oben beschriebene Ausschreibungspraxis der T H A regelmäßig nicht zu beanstanden sein: Es kann unterstellt werden, daß die T H A hier jeweils gem. §§265 Abs. 2 AktG, 66 Abs. 1 G m b H G zum Liquidator bestellt worden ist. Bei werbenden Kapitalgesellschaften wird damit aber in eklatanter Weise gegen die gesetzlich vorgeschriebene Kompetenzordnung der Vertretungsorgane der Treuhand-Gesellschaften verstoßen. Uber den Verkauf des gesamten Betriebsvermögens oder Teilen hiervon kann nur der Vorstand (bzw. die Geschäftsführung) - ggfs. mit Zustimmung des Aufsichtsrats - der jeweiligen Treuhand-Gesellschaft verfügen. C. Möglichkeiten und Grenzen der Einflußnahme der THA auf den Vorstand einer von ihr abhängigen Aktiengesellschaft Die Bedeutung der fehlenden „originären" Verfügungsbefugnis der T H A über das Vermögen der werbenden Treuhand-Gesellschaften wäre Aufsichtsratsmitgliedern einer Gebietskörperschaft nach § 394 AktG (vgl. hierzu SchmidtAßmann/Ulmer, BB 88, Beilage 13) sowie die Bedeutung des H G r G für das private Korporationsrecht (grundlegend: Lutterl Grunewald, WM 84, 385 ff) genannt. 40 A . A . insb. Schuppert, Z G R 92, 454ff; dessen Ansatz aber überzeugt nicht: Wenn der „Umgang" der T H A mit „ihren" Unternehmen primär von ihrem öffentlich-rechtlichen Auftrag geprägt wäre, so bliebe unverständlich, warum in den §§ 11 ff T H G die Anwendung privaten Rechts auf die umgestalteten Wirtschaftseinheiten vorgesehen worden ist. Selbst wenn man der T H A - was keineswegs selbstverständlich ist - die Aufgabe zuordnen würde, selbst „Struktur- und Sozialpolitik" zu betreiben, kann dies nicht bedeuten, daß ein solcher Auftrag gestatten würde, das gesetzlich vorgesehene „private Gesellschaftsrecht" nach eigenem Belieben links liegenzulassen! Die Gläubiger eines privatwirtschaftlich agierenden Unternehmens - mag daran letztlich auch der Staat beteiligt sein - dürfen ex lege darauf vertrauen, daß auch der Staat sich bei der Ausübung seiner Gesellschafterrechte wie jeder andere Gesellschafter verhält, d. h. öffentliche Interessen (wie etwa die Durchsetzung einer bestimmten Struktur- oder Sozialpolitik) - nur unter Beachtung der privaten Gesellschaftsinteressen (und damit auch der Gläubigerinteressen!) verfolgt. Entgegen der Auffassung von Weimar (DöV 91, 813, 819) gibt es deshalb keine „treuhandgesetzliche Uberlagerung des Aktienrechts, die das Aktienrecht modifiziert"! Zu Recht hat ein Vertreter des Bundesministeriums der Justiz kürzlich darauf hingewiesen, daß man angesichts des Wortlauts des Gesetzes (THG) davon ausgehen müsse, daß der Gesetzgeber die gesellschaft- und konzernrechtlichen Bindungen nicht nur sehenden Auges in Kauf genommen, sondern auch gewollt habe; so die Wiedergabe einer Stellungnahme im Diskussionsbericht von Habighorst/Spoerr, ZGR 92, 499, 509.

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relativiert, wenn die THA dieses Ergebnis über den „Umweg" 41 entsprechender Weisungsbefugnisse erreichen könnte. Mit anderen Worten: Kann die THA den Vorstand einer von ihr abhängigen Aktiengesellschaft formlos anweisen, den Betrieb der Gesellschaft oder wesentliche Teile hiervon an einen bestimmten Interessenten zu festgelegten Bedingungen zu veräußern? Bei der Auslotung der Weisungsbefugnisse der THA ist zu beachten, daß das Gesetz ihr zwar die Stellung als Alleinaktionärin einräumt, ihr darüberhinaus aber keinerlei Kompetenzen gegenüber dem Vorstand der Aktiengesellschaft zugebilligt werden, die über die Rechte eines „herkömmlichen" Mehrheits- oder Alleinaktionärs hinausgehen. Bei der Beantwortung der Frage über die in Rede stehenden Weisungsbefugnisse befindet man sich also durchweg auf gängigem aktienrechtlichem Terrain, nämlich dem Anwendungsbereich des § 117 AktG. I. Der Schutzzweck des § 117 AktG Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Schutzzweck des § 117 AktG. Das Schutzgut dieser Vorschrift besteht zum einen in der Autonomie der Willensbildung innerhalb der Verwaltung einer wirtschaftlich selbständigen AG und zum anderen in dem Vermögensschutz der Gesellschaft und/oder ihrer Aktionäre gegen fremdveranlaßte Schädigung 42 . Der primäre Schutz der Zuständigkeitsordnung des Aktienrechts hinsichtlich der Einflußnahme seitens der Aktionäre läßt sich deutlich §117 Abs. 7 entnehmen: Danach ist die Nichtanwendung der Absätze 1 bis 6 nur in zwei Ausnahmefällen vorgesehen: Die Schadensersatzpflicht tritt nicht ein zum einen bei Weisungen, die auf einer zulässigen konzern-

41 Ein anderer „Umweg", nämlich die Auflösung der Gesellschaft, dürfte ebenfalls ausgeschlossen sein. Kraft ihrer Alleingesellschafterstellung verfügt die THA zwar jederzeit über die zur Auflösung der Gesellschaft erforderliche Beschlußmehrheit. Wie bereits oben ausgeführt, enthält das in §2 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 8 Abs. 1 THG normierte Rangverhältnis zwischen Privatisierung und Stillegung das Gebot, die Stillegung und Verwertung des Vermögens der Treuhandunternehmen erst durchzuführen, wenn die Privatisierungsbemühungen (endgültig) gescheitert sind. Durch diese gesetzliche Anordnung ist der allgemein geltende Grundsatz, wonach die Entscheidung über die Desinvestition im Belieben der qualifizierten Gesellschaftermehrheit liegt, für die THA aufgehoben worden (vgl. hierzu BGH NJW 80, 1278 ff = BB 80, 550 ff = DB 80, 870 ff; Timm, JZ 80, 665 ff; Lutter, ZGR 81, 171 ff). Diese gesetzgeberische Entscheidung ist auch interessengerecht. Der THA-Verbund ist auf Auflösung konzipiert. Als vorrangiges Mittel dazu soll die THA privatisieren. Die Zerschlagung des Gesellschaftsvermögens ist daher nur ultima ratio. Die Verwertung des Gesellschaftsvermögens ist folglich kein Minus, sondern ein Aliud gegenüber der Privatisierung. 42 Vgl. Brüggemann, A G 88, 93, 96; Kropf/, aaO, (Fn.16), § 1 1 7 Rdn.6.

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rechtlichen Verbindung (Beherrschungsvertrag gem. §291 AktG, Eingliederung gem. §319 AktG) beruhen, oder zum anderen bei Ausübung des Stimmrechts in der Hauptversammlung, also bei einer nach außen hin offen dokumentierten „Benutzung des Einflusses auf die Gesellschaft". II. Voraussetzungen des § 117 AktG 1. Tatbestand Die Schadensersatzpflicht gem. § 117 Abs. 1 S. 1 AktG tritt ein, wenn fünf Tatbestandsmerkmale erfüllt sind: Einfluß auf die Aktiengesellschaft, Benutzung dieses Einflusses auf die Gesellschaft, Maßnahme der AG, Schaden der AG und eine zweifache Kausalbeziehung. a) Das Tatbestandsmerkmal des „Einflusses auf die Gesellschaft" bereitet keine rechtlichen Probleme; es ist weit auszulegen. Jede entsprechende rechtliche oder faktische Machtstellung gegenüber der Geschäftsleitung genügt, worauf diese auch immer beruhen mag43. Daher erfüllt eine Mehrheitsbeteiligung bzw. die Stellung als Alleinaktionär, wie sie für die T H A aufgrund der Bestimmungen nach dem T H G charakteristisch ist44, fraglos die Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal „Einfluß auf die Gesellschaft". b) Während § 101 AktG 1937 noch verlangte, daß der Einfluß „ausgenutzt" wird, verwendet § 117 Abs. 1 S. 1 AktG nunmehr die Formulierung „Benutzung" des Einflusses. Damit wird klargestellt, daß die Einflußnahme nur an ein Verleiten zu gesellschaftsschädlichem Handeln anknüpft, ein besonders anstößiges oder mißbräuchliches Handeln mithin nicht vorausgesetzt ist45. Zudem ist nicht erforderlich, daß der Einflußnehmer mit der Bestimmung den Zweck verfolgt, für sich oder einen Dritten gesellschaftsfremde Sondervorteile zu erlangen46. Einfluß 43 Eine gesellschaftsrechtliche Beziehung ist nicht erforderlich. Die Machtstellung kann insbesondere auf geschäftlichen Beziehungen beruhen, z.B. als Kreditgeber, Lieferant, Gläubiger; vgl. Kropff, aaO (Fn. 16), §117 Rdn.16; Mertens, aaO (Fn. 16), §117 Rdn. 9. Streitig ist, ob auch persönliche Beziehungen erfaßt werden (befürwortend: Kropff, aaO (Fn. 16), §117 Rdn. 17; Mertens, aaO (Fn. 16), §117 Rdn.9; a.A. Godin/Wilhelmi, Aktiengesetz, 1971, 4.Aufl., §117 Anm.3; Meyer-Landrut, in: Großkommentar zum Aktiengesetz, 1973, 3. Aufl., §117 Anm.2). 44 Vgl. hierzu oben B II. 45 Begr. RegE Kropff, §117 AktG, S. 162; Kropff, aaO (Fn. 16), §117 Rdn. 18; Mertens, aaO (Fn. 16), §117 Rdn. 11; Godin/Wilhelmi, aaO (Fn.43), §117 Anm.4. 46 Brüggemann, A G 88, 93, 96; Mertens, aaO (Fn. 16), §117 Rdn. 2; Godin/ Wilhelmi, aaO (Fn.43), §117 Anm.4. Dieses einengende Tatbestandsmerkmal war noch Bestandteil des §101 AktG 1937.

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wird demnach z. B. konkret ausgeübt, wenn der Mehrheits- bzw. Alleinaktionär den Vorstand außerhalb der Hauptversammlung anweist, bestimmte Maßnahmen vorzunehmen. Die bereits erwähnten zahlreichen Zeitungsannoncen der T H A , in denen der Betrieb (oder wesentliche Teile hiervon) einer werbenden Treuhand-Gesellschaft zum Verkauf angeboten wird, lassen die Schlußfolgerung zu, daß es nicht unübliche Praxis der T H A ist, den Vorstand der Gesellschaft nach Abschluß des Ausbietungsverfahrens formlos anzuweisen, das ausgeschriebene Betriebsvermögen zu den vorgegebenen Bedingungen an den ausgewählten Erwerber zu veräußern. Folgt die Geschäftsleitung dieser Instruktion, hat die T H A allein die Entscheidung über das Verwertungskonzept getroffen. Das gilt selbst dann, wenn sich die Geschäftsleitung den Willen der T H A vollständig zu eigen macht47. Die Befugnis zu derartigen Weisungen könnte der T H A zustehen, wenn das Tatbestandsmerkmal „Benutzung des Einflusses" bei Grundlagenentscheidungen einschränkend auszulegen ist. Nach der Rechtsprechung des BGH ist der Vorstand verpflichtet, „grundlegende Entscheidungen, die tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreifen", der Hauptversammlung zur Entscheidung vorzulegen48. Selbst wenn sich die Veräußerung einzelner Betriebe oder wesentlicher Betriebsteile des Unternehmens als eine Ausgliederung unterhalb der Schwelle des §361 AktG darstellt, bedarf diese Maßnahme als Teilliquidation dennoch nach der „Holzmüller-Doktrin" der Zustimmung durch die Hauptversammlung. Ist damit die Hauptversammlung (praktisch also die T H A ) letztlich für die Entscheidung über den Verkauf des Betriebes oder wesentlicher Teile hiervon „primärzuständig", könnte man versuchen wie folgt zu argumentieren: Gem. §83 AktG ist der Vorstand auf Verlangen der Hauptversammlung verpflichtet, Maßnahmen, die in deren Zuständigkeitsbereich fallen, vorzubereiten und die entsprechenden Beschlüsse der Hauptversammlung auszuführen. Gegebenenfalls ist der Vorstand sogar gehalten, Verträge (etwa Unternehmensverträge gem. § 293 AktG) vorzubereiten und abzuschließen, die nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam werden. Dann müßte es der T H A auch möglich sein,

47 Bergmann, Z H R 105 (1938), 1, 26; Kropff, a a O (Fn. 16), § 1 1 7 R d n . 2 0 . Zu der vergleichbaren Situation bei dem Verkauf der Feldmühle N o b e l A G durch die Friedrich Flick K G siehe ausführlich Lutter, in: Festschr. für Steindorff, 1990, 125 ff. 48 BGHZ 83, 122 ff (Holzmüller); vgl. hierzu eingehend Heinsius, Z G R 84, 383 ff; Hübner, in: Festschr. für Stimpel, 1985, 791 ff; Lutter, in: Festschr. für Fleck, 1988, 169ff; Martens, Z H R 147 (1984), 377 ff; Johannes Semler, B B 1983, 1566 ff; Timm, A G 80, 172 ff; H.P. Westermann, Z G R 84, 352ff; ders., Z H R 156 (1992), 203, 2 1 2 f f .

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außerhalb der Hauptversammlung die Anweisung zu erteilen, einen Vertrag über die Veräußerung wesentlicher Vermögensgegenstände des Unternehmens mit einem bestimmten Erwerber zu festgelegten Bedingungen abzuschließen. Eine solche Sicht wäre jedoch aus mehreren Gründen allzu vordergründig: Wie gerade die Existenz des § 117 A k t G belegt, darf ein Anteilseigner nur auf einem Weg Einfluß auf die Entscheidung des Vorstandes nehmen, nämlich über einen entsprechenden Hauptversammlungsbeschluß. Außerhalb des aktienrechtlich vorgezeichneten Weges aber sind Einflußnahmen des Anteilseigners schlechthin unzulässig, führen zu einem entsprechenden Verbot der Einflußnahme des (selbst 100% igen) Anteilseigners. Soweit ein Alleingesellschafter kraft seiner Gesellschafterstellung seine persönlichen Interessen zum Gegenstand des Unternehmensinteresses erheben kann und will, steht ihm dies im Rahmen der durch die konkrete Gesellschaftsform vorgegebenen Möglichkeiten und Verfahren frei. Die „informelle" Vermischung seiner in der Gesellschaft gebundenen Interessen und seiner sonstigen Interessen durch beliebige Einflußnahme auf die Gesellschaft ist ihm dagegen nicht gestattet 49 . Der Einfluß des Alleingesellschafters darf sich in rechtsverbindlicher Weise nur in den Formen vollziehen, die das Gesetz hierfür vorsieht 50 . §117 A k t G will gerade unkontrollierte Einflußnahmen auf die Verwaltung der Gesellschaft verhindern; toleriert werden allein offen durch einen Hauptversammlungsbeschluß dokumentierte Einflußnahmen. Für eine Freistellung des Großaktionärs von diesen Regeln ist nach der gesetzlichen Systematik kein Raum, da § 117 A k t G sonst fast vollständig seines Sinns beraubt würde. Gerade für den Alleinaktionär stellt § 117 A k t G insoweit keine unüberwindbaren Hürden auf, kann er doch jederzeit problemlos eine Vollversammlung einberufen, auf der er gegebenenfalls seine Entscheidung entsprechend den gesetzlichen Förmlichkeiten treffen kann. N u r wird bei diesem vom Gesetz nun einmal vorgeschriebenen Weg anders als bei formloser Anweisung - die Einflußnahme publik, aktuelle oder potentielle Gläubiger und Aktionäre werden gewarnt. Selbst ein etwaiger Entscheidungsvorrang der Aktionäre bei Grundlagenentscheidungen beseitigt mithin nicht die Notwendigkeit, den Willen der Aktionäre in einer Hauptversammlung zu bilden. Die zwingenden abschließenden Regelungen des Aktiengesetzes (§23 Abs. 5 AktG) sind im öffentlichen Interesse dazu bestimmt, ein transparentes System von Zuständigkeitsordnung und Verantwortlichkeit zu schaffen.

49 Zutreffend Mertens, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 1988, 2. Aufl., §93, Rdn. 112 für die vergleichbare Rechtslage nach §93 Abs. 4 AktG. 50 Mertens, aaO (Fn. 49).

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c) Als mögliche „Handlungen" i.S.v. §117 Abs. 1 AktG, zu denen der Vorstand der Aktiengesellschaft bestimmt worden sein kann, kommen einerseits die Zustimmung (und Durchführung) zum Verkauf des Betriebes und andererseits das Unterlassen einer anderweitigen (und besseren) Verwertung oder Nutzung dieses Vermögenswertes in Betracht. Als Vergleichsmaßstab für die genaue Bestimmung der „Handlung" i.S.v. §117 Abs. 1 AktG ist darauf abzustellen, welche Entscheidung ein ordentlicher Geschäftsleiter getroffen hätte. Dabei sind grundsätzlich zwei Alternativen denkbar. (1) Ein ordentlicher Geschäftsleiter hätte sich nicht zu einem Verkauf des Betriebes oder Betriebsteiles entschlossen. Diese Schlußfolgerung ist insbesondere berechtigt, wenn es sich bei dem zur Veräußerung anstehenden Unternehmensteil um das „Sahnehäubchen" mit zentraler Bedeutung für die Ertragskraft des Gesamtunternehmens handelt. Mit anderen Worten: Es wäre ein grober Verstoß gegen die Pflichten eines ordentlichen Geschäftsleiters, diejenigen (lukrativen) Teile eines sanierungsfähigen Unternehmens zu veräußern, die für den Erfolg der Sanierung von entscheidender Bedeutung sind. (2) Soweit ein Verkauf der Unternehmensteile zwar nicht notwendig, aber betriebswirtschaftlich durchaus sinnvoll ist, muß ein ordentlicher Geschäftsleiter alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausnutzen, um mit dem Verkauf einen angemessenen Preis zu erzielen. Insoweit besteht zwar keine Verpflichtung, den überhaupt allerhöchst möglichen Verkaufserlös zu erzielen. Gewisse Preisabschläge können im Rahmen der Verhandlungen hinzunehmen sei. Als Mindestanforderung an die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Geschäftsleiters ist aber zu fordern, daß er den Verkauf nicht vornimmt, ohne sich zunächst umfassenden Aufschluß über den Wert des zu veräußernden Betriebes oder Unternehmensteils verschafft und mit mehreren Interessenten über den Verkauf verhandelt hat. d) Die vom Vorstand vorgenommene Handlung muß ferner zu einem Schaden der Gesellschaft geführt haben. Bei der Schadensfeststellung nach §§287 ZPO, 252 B G B ist von allgemeinen Erfahrungstatsachen auszugehen. Gegebenenfalls ist die genaue Schadenshöhe vom Gericht im Rahmen des §287 ZPO zu schätzen51.

51 Der Schadensersatzanspruch der abhängigen AG kann nicht nur von ihrem Vorstand und jedem ihrer Gläubiger, sondern auch von jedem einzelnen ihrer nach der Vermögensveräußerung beteiligten Aktionär in Prozeßstandschaft für die AG geltend gemacht werden; vgl. Lutter, in: Festschr. für Steindorff, 1990, 125, 140 ff.

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e) Gem. §117 Abs. 1 AktG muß die Benutzung des Einflusses für die Maßnahme der Geschäftsleitung ursächlich gewesen sein, und die Handlung ihrerseits muß zu dem eingetretenen Schaden der Gesellschaft geführt haben. Diese Feststellungen werden regelmäßig problemlos zu treffen sein. 2.

Rechtswidrigkeit

Nach wohl h. M. ist jede Handlung des Einflußnehmers rechtswidrig, die den objektiven und subjektiven Tatbestand des §117 Abs. 1 AktG erfüllt 52 . Nach anderer Auffassung setzt die Rechtswidrigkeit auch voraus, daß auch das Handeln des beeinflußten Organs pflichtwidrig ist53. Der h. M. ist zuzustimmen. Eine Pflichtverletzung der beeinflußten Organmitglieder wird gem. § 117 Abs. 2 AktG nur für deren Haftung vorausgesetzt. Dagegen fordert der Wortlaut des § 117 Abs. 1 AktG für die Schadensersatzpflicht des Einflußnehmers keine Pflichtverletzung des beeinflußten Organs. Der Einflußnehmer kann der Rechtswidrigkeit seiner Einflußnahme nicht mit dem Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens 54 begegnen55. Das mögliche Vorbringen des einflußnehmenden Mehrheits- oder Alleinaktionärs, aufgrund seiner primären Zuständigkeit für Grundlagenentscheidungen sei es ihm erlaubt, die entsprechenden Weisungen außerhalb der Hauptversammlung zu erteilen, ist bereits oben als nicht tragfähig dargestellt worden. 3.

Vorsatz

Die Ersatzpflicht nach § 117 Abs. 1 AktG greift nur bei vorsätzlichem Handeln des Einflußnehmers. D a die „Bestimmung zu einer schädlichen Handlung" nicht ohne Vorsatz erfolgen kann, bezieht sich der Zusatz „vorsätzlich" im praktischen Ergebnis im wesentlichen auf den Schaden 52 Mertens, aaO (Fn. 16), §117 Rdn. 14; Meyer-Landrut, aaO (Fn.43), §117 Anm.6; Wälde, D B 72, 2289; Brüggemann, A G 88, 93, 97. 53 Kropff, aaO (Fn. 16), § 117 Rdn.23; Würdinger, aaO (Fn. 18), §27 II 1 c. 54 Vgl. hierzu BGHZ 29, 187 ff; 61, 123 ff; 96, 173 ff, BGH NJW 91, 167 ff; Esser/ Schmidt, Schuldrecht, Band I, Allgemeiner Teil, 1976, 5. Aufl., §33 III 2, Grunsky, in: Münchener Kommentar zum BGB, 1985, 2. Aufl., vor §249 Rdn. 87ff; Palandt/Heinrichs, BGB, 1992, 51. Aufl., Vorbem. v. §249 Rdn. 105 ff; Lange, Schadensersatz, 1990, 2. Aufl., §4 XII 5; Gemhuber, Bürgerliches Recht, 1991, 3. Aufl., §41 IV2; Wissmann, NJW 71, 549 ff. 55 Die Unbeachtlichkeit des Einwandes rechtmäßigen Alternatiwerhaltens ist von Lutter, in: Festschr. für Steindorff, 1990, 125, 135 ff überzeugend für die nach den §§311 ff, 317 ff AktG zu beurteilende Parallelsituation dargelegt worden, daß das herrschende Unternehmen die abhängige Aktiengesellschaft durch rechtswidrige Vermögensveräußerungen schädigt.

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der Gesellschaft 56 . Zwar müssen Inhalt und Umfang des Schadens nicht vom Vorsatz erfaßt sei; die generell-abstrakte Schädigung der Gesellschaft muß aber mindestens billigend in Kauf genommen worden sein57. Nach zutreffender Ansicht ist bei nachteiliger Veranlassung der Schädigungsvorsatz des Einflußnehmers zu vermuten 58 . Bei den Motiven des Einflußnehmers, seine Beweggründe für die Einflußnahme, seine Uberlegungen und damit letztlich die mögliche Schädigungsabsicht, handelt es sich um Umstände, die allein in der Sphäre des Einflußnehmers liegen. Es ist daher nur recht und billig, ihm auch die Beweislast für das NichtVorliegen des Schädigungsvorsatzes aufzubürden. III. Nichtanwendung des § 117 A k t G aufgrund Einverständnisses des Alleinaktionärs mit der schädigenden Handlung? Als letzter „Rettungsanker" bleibt schließlich noch zu untersuchen, ob ein Schadensersatzanspruch der Gesellschaft gem. § 117 AktG in erweiternder Auslegung oder lückenfüllender Analogie entfällt, wenn der Alleinaktionär die schädigende Handlung veranlaßt hat oder mit ihr einverstanden ist. Die Nichtanwendung des § 117 AktG könnte in diesen Fällen mit der Erwägung gerechtfertigt werden, daß lediglich eine Selbstschädigung des wirtschaftlichen Alleininhabers des Unternehmens vorliege. Diese Überlegungen finden ihre Parallele in der Diskussion zum schadensersatzausschließenden Einverständnis des Alleinaktionärs im Rahmen des § 93 AktG. Danach soll eine Haftung gem. § 93 Abs. 4 S. 1 AktG entfallen, wenn vor der Ausführung der schadenbringenden Handlung alle Aktionäre ihre Einwilligung erklärt haben, und zwar auch dann, wenn dies nicht in einer Hauptversammlung und in einem förmlichen Beschluß geschehen ist; es bedeute eine Uberspannung der Formvorschriften, die Haftungsbefreiung nur deshalb zu versagen, weil kein förmlicher Beschluß getroffen worden ist59. Dieser Ansicht kann jedoch nicht gefolgt werden. Sie ist mit der in §§ 76, 119 Abs. 2 AktG zwingend statuierten umfassenden und eigenverantwortlichen Leitungsverantwortung des Vorstandes der Aktiengesellschaft nicht vereinbar 60 . Die 56 Vgl. allgemein Kropff, aaO (Fn. 16), §117 Rdn.25; Mertens, aaO (Fn. 16), §117 Rdn. 14; Godin/Wilhelmi, aaO (Fn. 43), § 117 Anm. 4; Brüggemann, A G 88, 93, 96 f. 57 Kropff, aaO (Fn. 54); Mertens, aaO (Fn. 54); Brüggemann, aaO (Fn. 54). 58 Wälde, DB 72, 2289 Fn. 9; Kronstein, BB 67, 640; für eine Einzelfallbetrachtung Kropff, aaO (Fn. 16), § 117 Rdn. 26. 59 Schilling, in: Großkommentar zum Aktiengesetz, 1973, 3. Aufl., §93 Anm. 32; ähnlich Godin/Wilhelmi, aaO (Fn.43), §93 Anm. 22. 60 Ebenso Hefermehl, in: Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Aktiengesetz, 1973, §93 Rdn. 56 f; Mertens, aaO (Fn.49), §93 Rdn. 112; Horn, ZIP 1987, 1225, 1230 f.

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Hauptversammlung oder der Alleinaktionär ist zwar aus dem Leitungsbereich nicht völlig ausgeschlossen. Dies machen z . B . die §§119 A b s . 2 , 93 Abs. 4 S. 1 A k t G deutlich. Die Leitung durch Hauptversammlungsbeschluß ist gegenüber dem Vorstandshandeln jedoch stets die Ausnahme, wie sich gerade in der geforderten Förmlichkeit der Einflußnahme ausdrückt. Das Aktiengesetz toleriert Weisungen des Großaktionärs an den Vorstand nur im Wege eines Hauptversammlungsbeschlusses. D a jeder Hauptversammlungsbeschluß gem. § 130 Abs. 5 A k t G zum Handelsregister einzureichen ist, wird damit die Information Dritter (gegenwärtiger oder zukünftiger Gläubiger) gewährleistet. Außerhalb förmlicher Hauptversammlungsbeschlüsse findet demgegenüber eine Dokumentation von Einflußnahmen durch den Großaktionär grundsätzlich 61 nicht statt. Eine punktuelle Haftungsbefreiung des Vorstandes wird vom Gesetz daher nur bei Beachtung der in § 93 Abs. 4 S. 1 A k t G geforderten Förmlichkeiten akzeptiert. Die im Rahmen des § 93 Abs. 4 S. 1 A k t G diskutierte Haftungsfreistellung läßt sich aber für § 117 Abs. 1 A k t G nicht fruchtbar machen. Selbst wenn man eine Befreiung von der Haftung gem. § 93 Abs. 4 S. 1 A k t G im Falle des formlosen Einverständnisses des Alleinaktionärs befürworten würde, könnte dies im Rahmen von § 117 A k t G nicht gelten. Während bei § 93 A k t G über die Haftung des Vorstandes zu befinden ist, steht im Rahmen von § 117 A k t G die Haftung des einflußnehmenden Aktionärs in Rede. Bei Einflußnahme auf die^Gesellschaft ist nach dem aktienrechtlichen Haftungssystem für eine Privilegierung des Alleinaktionärs kein Raum 6 2 ; andernfalls würde die erstrebte Publizität der zulässigen Einflußnahme - für die allein der Weg des förmlichen Hauptversammlungsbeschlusses reserviert ist, vgl. § 117 Abs. 7 N r . 1 A k t G - gefährdet. § 117 Abs. 7 A k t G enthält gerade keine Haftungsfreistellung des Alleinaktionärs wegen schädlicher Einflußnahme als weitere Ausnahme von §117 Abs. 1 AktG. Der Alleingesellschafter ist vielmehr nur dort „privilegiert" in dem Sinne, daß auf ihn die allgemeinen Vorschriften keine Anwendung finden, wo der Gesetzgeber dies ausdrücklich anordnet (vgl. insbesondere § 3 5 2 b Abs. 2 AktG). Dieses Ergebnis stellt keine unzumutbaren Anforderungen an den Alleinaktionär. Er kann ohne weiteres von dem einen auf den anderen Tag eine sog. Vollversammlung abhalten und auf dieser ohne Nichtigkeitsfolge (vgl. §241 N r . 1 A k t G ) seine Stimmrechte ausüben. Bei diesem Weg ist die Information der Öffentlichkeit über das Handelsregister voll gewährleistet. Der Gesetzgeber hat die Vorschriften zur Vermö-

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Eine Sondersituation ist in §312 AktG geregelt. Ebenso Mertens, aaO (Fn.49), §93 Rdn.22.

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gensbindung der A G keineswegs nur im Interesse der Gesellschaftergesamtheit ausgeformt, sondern auch im öffentlichen Interesse, im Interesse also künftiger Gläubiger oder Aktionäre. Die A G ist kein Spielball privater Interessen des Alleinaktionärs. Auch der Alleinaktionär verfügt nicht über eine freie Dispositionsmöglichkeit über Vermögenswerte, die in einer A G separiert sind.

D. Zusammenfassung 1. Ein Geschäftsleiter, der blindlings Weisungen des Alleingesellschafters (etwa: der T H A ) zur Veräußerung einer Beteiligung zu einem bestimmten Preis befolgt, ohne überhaupt selbst Alternativen zu suchen (etwa günstigere Veräußerungsmöglichkeiten zu prüfen), handelt - verglichen mit dem Maßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einer unabhängigen A G in vergleichbarer Situation (vgl. §317 Abs. 2 A k t G ) - pflichtwidrig. 2. Derartige Weisungen der Aktionäre oder eines Alleingesellschafters (etwa der T H A ) im Zusammenhang mit einer geplanten Teilliquidation der A G (etwa im Rahmen einer Privatisierung nach dem T H G ) sind für den Vorstand nicht maßgebend, es sei denn, die Entscheidung der Aktionäre hat in einem formellen Hauptversammlungsbeschluß Ausdruck gefunden. Dies gilt auch (und erst recht) in einer Einmann-Gesellschaft; hier steht es dem Alleinaktionär frei, Entscheidungen nicht nur über das O b , sondern auch über das Wie einer Teilliquidation zu treffen; hierzu bedarf es jedoch stets einer Hauptversammlung, die der Aktionär (etwa die T H A ) ggfs. im Wege der Universalversammlung durchführen kann. Es gibt keine Pflicht des Vorstandes zur Durchführung von „Teilliquidations-" bzw. „Privatisierungsmaßnahmen" aufgrund formloser Anweisungen des Alleinaktionärs; bindend sind solche formlosen Anweisungen nur innerhalb eines Vertragskonzerns. 3. D a außerhalb der vorerwähnten Möglichkeiten (förmlicher Hauptversammlungsbeschluß; Vertragskonzern) Einflußnahmen des Alleinaktionärs nicht legitimiert sind, findet §117 A k t G auch Anwendung auf Veranlassungen im Rahmen einer geplanten Privatisierung oder Teilliquidation. Eine einschränkende Auslegung des §117 A k t G bei Grundlagenentscheidungen, die von den Aktionären außerhalb einer Hauptversammlung getroffen werden, ist nicht möglich. 4. Es gibt keinen Rechtssatz etwa des Inhaltes, daß „in Anlage und Durchführung seriöse Privatisierungs- oder Umstrukturierungskonzepte" eine A G von der Einhaltung der aktienrechtlichen Normen freigestellt sind. Zu einem „in der Anlage und Durchführung seriösen

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Wolfram Timm

Privatisierungs- bzw. Umstrukturierungskonzept" gehört vielmehr die Beachtung der zwingenden aktienrechtlichen Legalordnung. 5. Durch §28 a EGAktG hat der Gesetzgeber im Ergebnis keine „Enthaltung der T H A " vorgenommen, sondern - jedenfalls soweit es die AG betrifft - die Haftung tendenziell (wenn auch unbeabsichtigt) verschärft. O b sich diese gesetzgeberische Fehlleistung im Wege der „Auslegung" bereinigen läßt, erscheint zweifelhaft. Der Mangel an besseren Lösungen sollte jedenfalls nicht zu mißglückten Haftungsdementis führen.

Die Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Bestimmung von Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren

KARL H E I N Z WEISS

I. Einleitung 1. Die Thematik der zutreffenden Behandlung nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Bewertung von Unternehmen ist ein Problem, das sich in Spruchstellenverfahren regelmäßig stellt und auch in einer Vielzahl von Entscheidungen behandelt worden ist. Die Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle im Rahmen der Ermittlung der Abfindung für den ausscheidenden Aktionär angesprochen, ist aber auch im Rahmen der Ermittlung des Ausgleichs verschiedentlich erörtert worden. So hat sich das Landgericht München I vor nicht allzu langer Zeit im Rahmen eines Spruchstellenverfahrens anläßlich des Abschlusses eines Gewinnabführungsvertrages sowohl bei der Ermittlung der angemessenen Abfindung als auch des angemessenen Ausgleichs eingehend mit den Fragen der Definition und Behandlung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens befaßt 1 . 2. Auch in der Literatur wird die Problematik überwiegend im Rahmen von § 305 AktG diskutiert, wobei sich eine einheitliche Meinung bislang nicht herausgebildet hat, während eine vertiefte Erörterung dieser Fragen bei der Ermittlung des angemessenen Ausgleichs nicht ersichtlich ist. Die uneinheitliche Behandlung dieses Themas durch die Gerichte und durch die Literatur, die zu einer nicht unerheblichen Verunsicherung bei der Gestaltung von Abfindung und Ausgleich beiträgt, beruht auf dem unterschiedlichen Verständnis dieses Begriffs und seiner Funktion im Rahmen der Unternehmensbewertung.

1 Beschluß des L G München I vom 25.Januar 1990, Az.: 17 H K O veröffentlicht in A G 1990, S. 404 ff.

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II. Die rechtliche Bedeutung von Abfindung und Ausgleich 1. Der Gesetzgeber eröffnet mit einer Reihe gesellschaftsrechtlicher Bestimmungen die Möglichkeit tiefgreifender Beeinträchtigungen der gesellschaftsrechtlichen Stellung einzelner Gesellschafter bis hin zur völligen Entziehung ihres Mitgliedschaftsrechts durch Mehrheitsentscheidung. Dabei ist regelmäßig ein entsprechender finanzieller Ausgleich dieser Beeinträchtigungen zwingend vorgesehen. Genannt seien hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Abschluß von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen gemäß §291 ff AktG; die Eingliederung durch Mehrheitsentscheidung gemäß §320 AktG; formwechselnde Umwandlungen nach den §§362 ff AktG, übertragende Umwandlungen nach §§ 1 ff UmwG sowie die Verschmelzung nach §§339 ff AktG für die Aktiengesellschaft. In diesen Fällen hat der Gesetzgeber die Rechtmäßigkeit der gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen, die die Beeinträchtigung auslösen, nicht von der Angemessenheit der dafür festgelegten Kompensation abhängig gemacht, sondern hierfür ein besonderes Verfahren vorgesehen, in dem auf Antrag der betroffenen Gesellschafter die Angemessenheit der Kompensation überprüft wird. Verfahrensregelungen zur Uberprüfung enthalten § 306 AktG für den Abschluß eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages, § 320 Abs. 6 Satz 2 AktG für die Eingliederung durch Mehrheitsbeschluß, § 375 Abs. 2 Satz 2 AktG für die formwechselnde Umwandlung, § 13 Satz 2 UmwG für die übertragende Umwandlung auf eine offene Handelsgesellschaft durch Mehrheitsbeschluß, § 19 Abs. 3 UmwG für die errichtende Umwandlung oder § 352 c Abs. 1 Satz 2 AktG für die Nachprüfung des Umtauschverhältnisses bei einer Verschmelzung. Diesen Fällen ist gemein, daß das Gericht in diesem Verfahren die angemessene Kompensation für die erlittene Beeinträchtigung - im Falle des Verlusts der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung regelmäßig durch Abfindung - zu ermitteln hat. Im Rahmen dieser Verfahren stellt sich dann - meist bei Ermittlung der angemessenen Abfindung - die Frage nach dem Wert des Unternehmens und in diesem Zusammenhang häufig die weitere Frage der zutreffenden Behandlung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens. Im folgenden soll diese Problematik exemplarisch für das aktienrechtliche Spruchstellenverfahren bei Abschluß eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages nach § 306 AktG zur Ermittlung des angemessenen Ausgleichs sowie der angemessenen Abfindung untersucht werden. 2. Die in einer Aktie verkörperte gesellschaftsrechtliche Beteiligung an einer Aktiengesellschaft beinhaltet neben Mitgliedschaftsrechten auch insbesondere vermögensrechtliche Ansprüche auf Gewinnbeteiligung, ggf. auf Bezug junger Aktien, sowie auf die anteilig entfallende Abwick-

Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren

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lungsquote und stellt daher gesellschaftsrechtlich vermitteltes Eigentum dar, das den Schutz des Art. 14 GG genießt2. Bei der gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung der Beteiligung im Wege der Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG hat der Gesetzgeber die grundlegende Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten des Privateigentums im herkömmlichen Sinne zu beachten. Daher ist bei tiefgreifenden und nachhaltigen Beeinträchtigungen dieses gesellschaftsrechtlich vermittelten Eigentums ohne oder gegen den Willen des Eigentümers, die den Wesensgehalt der Mitgliedschaft berühren, eine Kompensation der durch diese Eingriffe verursachten Nachteile verfassungsrechtlich zwingend geboten. 3. Der Abschluß eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages führt zu einer Unterwerfung der Gesellschaft unter eine besonders intensive Konzerngewalt und damit zu nachhaltigen Auswirkungen auf die mit dem Mitgliedschaftsrecht verbundene Teilhabe an Vermögen und Ertrag der Gesellschaft3. Deshalb hat der Gesetzgeber in §§ 304 ff AktG zugunsten außenstehender Aktionäre einen Ausgleich für die entgehende Teilhabe am Gewinn der Gesellschaft vorgesehen. Darüber hinaus wurde wegen der weiteren Beeinträchtigungen den außenstehenden Aktionären die Möglichkeit eingeräumt, gegen angemessene Abfindung (§305 AktG) aus der Gesellschaft auszuscheiden.

a) Dem außenstehenden Aktionär, der in aller Regel außerstande ist, den durch das herrschende Unternehmen beabsichtigten Abschluß des Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages zu verhindern, soll so die Möglichkeit eröffnet werden, frei von Furcht vor wirtschaftlichen Einbußen die Entscheidung zu treffen, ob er trotz der tiefgreifenden Veränderungen, die seine Beteiligung an der nunmehr beherrschten Gesellschaft erfahren hat, weiterhin in dieser Gesellschaft als Aktionär mit der Gewißheit verbleiben will, die zu erwartenden, anteilig auf ihn entfallenden Erträge als jährliche Ausgleichszahlung zu erhalten, oder es vorzieht, gegen angemessene Abfindung aus dieser Gesellschaft auszuscheiden4. Aus der Regelung über die Befristung des Abfindungsangebotes (§305 Abs. 4 Satz 3 AktG) ergibt sich, daß der Gesetzgeber dem außenstehenden Aktionär diese Entscheidung über seinen Verbleib in 2 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1962, Az.: 1 BvL 16/60, „Feldmühle", veröffentlicht in BVerfGE 14, S. 263 ff = NJW 1962, S. 1667 ff. Statt aller: Papier, in: Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Stand: September 1991, Art. 14, Rdn. 185. 3 Mestmaecker, Zur Systematik des Rechts der verbundenen Unternehmen im neuen Aktiengesetz, Festgabe für Kronstein, 1967, S. 129 ff, 137. 4 Zur Entscheidungssituation vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zu §305 Abs. 1 AktG, abgedruckt bei Kropff, Textausgabe zum Aktiengesetz, 1965, S. 397 ff.

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der beherrschten Gesellschaft unter voller Berücksichtigung der wirtschaftlichen Determinanten verschaffen wollte. Wird nämlich ein Antrag auf gerichtliche Bestimmung von Abfindung oder Ausgleich gestellt, läuft die Frist für die Annahme des Abfindungsangebotes frühestens zwei Monate nach Bekanntmachung der letzten rechtskräftigen Entscheidung über Abfindung oder Ausgleich ab, weil erst damit die wirtschaftlichen Determinanten für die vom Aktionär zu treffende Entscheidung endgültig feststehen5. Dies erklärt, warum der Gesetzgeber die Frist für die Erwerbsverpflichtung nicht nur an die gerichtliche Bestimmung der Abfindung geknüpft hat, sondern auch, ggf. sogar nur, an die rechtskräftige gerichtliche Bestimmung des Ausgleichs. b) Für den Fall, daß der außenstehende Aktionär trotz des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages in der Gesellschaft verbleiben will, weil er zum Beispiel die Unternehmenspolitik des herrschenden Unternehmens grundsätzlich positiv beurteilt und trotz möglicher Risiken an der beherrschten Gesellschaft weiter beteiligt sein will, steht ihm ein Anspruch auf Ausgleich nach §304 AktG zu. Diese Regelung soll den Aktionär hinsichtlich der Erträge seiner Beteiligung weitestgehend so stellen, wie er ohne den Abschluß des Beherrschungs- oder des Gewinnabführungsvertrages stehen würde6. Demzufolge hat der außenstehende Aktionär Anspruch auf eine Ausgleichszahlung in Höhe mindestens des Betrages, der aus Sicht zum Zeitpunkt des Stichtages nach der bisherigen Ertragslage der Gesellschaft und ihren künftigen Ertragsaussichten voraussichtlich als durchschnittlicher Gewinnanteil auf die einzelne Aktie hätte verteilt werden können 7 . Die zukünftigen Erträge werden auf der Basis der bisherigen Ertragslage in der Vergangenheit ermittelt, wobei ein Zeitraum zwischen drei und zehn Jahren, überwiegend ein Zeitraum von etwa fünf Jahren 8 für zutreffend erachtet wird. Die Vergangenheitsergebnisse dieses Zeitraums sind um außerordentliche Erträge und Verluste sowie um stille Reserven, die zu Lasten des Ergebnisses gebildet wurden, zu bereinigen. Die auf diese Weise ermittelten Vergangenheitsergebnisse bilden die Grundlage der Prognose der zukünftigen Ertragsaussichten während der Dauer des Vertrages, wobei

5 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, §§291-328 AktG, 1987, 2. Aufl., §305, Rdn. 8. ' Geßler, in: Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Kommentar zum AktG, §§291-318 AktG, 1976, §304, Rdn. 79. 7 Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 5 Aktiengesellschaft / Krieger, 1988, §70, Rdn. 47 m . w . N . 8 O L G Celle, Beschluß vom l.Juli 1980, Az.: 9 W X 9/79, veröffentlicht in AG 1981, S. 234ff; L G Dortmund, Beschluß vom 31.10.1980, Az.: 18 Akt E 2/79, veröffentlicht in AG 1981, S. 236 ff, 238.

A b f i n d u n g und Ausgleich im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren

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angemessene Abschreibungen, Wertberichtigungen sowie erforderlich werdende Rückstellungen und die Einstellungen in die gesetzliche Rücklage zu berücksichtigen sind9. c) Die Zubilligung des Ausgleichs soll die mit dem Unternehmensvertrag verbundenen Nachteile im Hinblick auf den Wegfall der Teilhabe am Ertrag kompensieren10. Die mit Abschluß eines Beherrschungsvertrages verbundenen Beeinträchtigungen des Herrschaftsrechts der Anteilseigner werden dadurch nicht ausgeglichen. Weiter können auch die gesetzlichen Regelungen zur Sicherung der beherrschten Gesellschaft gerade im Hinblick auf die später mögliche Beendigung des Unternehmensvertrages die damit verbundenen Risiken für den Fortbestand der beherrschten Gesellschaft und für die Beteiligung des außenstehenden Aktionärs nicht vollständig ausschließen. Aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber dem außenstehenden Aktionär in §305 AktG die Möglichkeit eingeräumt, durch Annahme des Abfindungsangebots aus der beherrschten Gesellschaft auszuscheiden, wobei ihm der volle Wert seiner Beteiligung zu erstatten ist11. Daraus folgt für die Bemessung der Abfindung, daß sie im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts12 grundsätzlich den vollen wirtschaftlichen Wert der Beteiligung des ausscheidenden Aktionärs zu umfassen hat. Trotz der Formulierungsunterschiede in § 305 Abs. 3 AktG für die Abfindung in Aktien des herrschenden Unternehmens einerseits und die Barabfindung andererseits geht die einhellige Meinung in der Literatur davon aus, daß die Abfindung in beiden Fällen nach den gleichen Maßstäben festzusetzen ist13. Erforderlich ist in beiden Fällen eine Bewertung des beherrschten Unternehmens zum Stichtag gemäß §305 Abs. 3 Satz 2 AktG, dem Tag der Hauptversammlung der beherrschten Gesellschaft, in der über den Abschluß des Unternehmensvertrages Beschluß gefaßt wird. Im Falle der Abfindung gegen Aktien des herrschenden Unternehmens ist darüber hinaus noch eine Bewertung des herrschenden Unternehmens zum gleichen Stichtag notwendig, um die Wertrelation zu ermitteln, die bei Verschmelzung der Gesellschaften gelten würde. Der Wert der dem einzelnen Aktionär zustehenden Abfindung bestimmt sich dann nach dem auf seine gesellschaftsrechtliche Beteiligung anteilig entfallenden Unternehmenswert. 9 Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, aaO (Fn.6), §304, R d n . 8 0 f f ; Krieger, aaO (Fn. 7), Rdn. 49, insgesamt m. w. N. 10 Begründung des Regierungsentwurfs, aaO (Fn. 4), S. 394. 11 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 5), § 305, Rdn. 2. 12 Urteil des BVerfG vom 7. August 1962, aaO (Fn. 2); dazu insbesondere Mestmaekker, JUS 1963, S . 4 1 7 f f . 13 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 5), §305, Rdn. 27 m . w . N.

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III. Die Unternehmensbewertung zur Ermittlung der angemessenen Abfindung 1. Die Ermittlung der angemessenen Abfindung ist daher von einer vorgängigen Bewertung des gesamten Unternehmens abhängig, aus deren Ergebnis dann der auf den ausscheidenden Aktionär entfallende anteilige Betrag abzuleiten ist. Die zutreffende Bewertung von Unternehmen ist seit langem Gegenstand einer intensiven Diskussion in der betriebswirtschaftlichen Theorie und Praxis14. Dabei hat sich gezeigt, daß ein „objektiver", von Bewertungsanlaß und Bewertungsziel unabhängiger Unternehmenswert nicht existiert15.

a) Nach dem Bewertungsanlaß werden der Entscheidungswert (auch Grenzpreis oder kritischer Wert genannt) und der Schiedswert unterschieden. Während als Entscheidungswert der Unternehmenswert bezeichnet wird, den die Beteiligten im Rahmen von Verhandlungen im Vergleich mit anderen bestehenden Investitionsalternativen und unter Berücksichtigung der den Erwerb oder die Veräußerung tragenden Motive äußerstenfalls konzedieren können, ist der Schiedswert der unparteiisch ermittelte, den fairen Ausgleich gegenläufiger Interessen bezweckende Unternehmenswert, der einen Kompromiß zwischen den Bewertungssubjekten darstellt16. b) Zur Bewertung von Unternehmen sind in der Betriebswirtschaftslehre eine Reihe unterschiedlicher Methoden entwickelt worden. In der früheren Literatur wurde allgemein die Substanzwertmethode zur Unternehmensbewertung herangezogen und auch in der Praxis regelmäßig angewandt. Die Bewertung zum Substanzwert fragt, welcher Aufwand erforderlich ist, um das Unternehmen „nachzubauen"17 (Rekonstruktionswert) und ermittelt daher den Wert der einzelnen Wirtschaftsgüter zu Wiederbeschaffungspreisen. Anschließend wird dann der Unternehmenswert durch Summierung der so gewonnenen Einzelwerte und durch Abzug der Verbindlichkeiten18 ermittelt. Demgegenüber fragt die in der betriebswirtschaftlichen Theorie und Praxis mittlerweile vorherrschende Ertragswertmethode, welche zukünftigen Erträge das Unter" WP-Handbuch 1985/86, 9. Aufl., Band I, Abschnitt I X „Unternehmensbewertung", S. 1053 ff, 1053. 15 Piltz, Die Unternehmensbewertung in der Rechtsprechung, 1989, 2. Aufl., S. 8; Großfeld, Die Unternehmens- und Anteilsbewertung im Gesellschaftsrecht, 1987, 2. Aufl., S. 16 ff. 16 Piltz, a a O (Fn. 15), S . 9 f f m . w . N . 17 Piltz, a a O (Fn. 15), S.32. 18 Bellinger/Vahl, Unternehmensbewertung in Theorie und Praxis, 1984, S. 127 f, 158 ff.

Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren

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nehmen erwarten läßt und ermittelt den Unternehmenswert dann durch Kapitalisierung dieser Erträge19. Darüber hinaus sind verschiedene Mischformen entwickelt worden, so das Mittelwertverfahren, bei dem der Substanzwert die Wertuntergrenze bildet und bei einem diesen übersteigenden Ertragswert ein rechnerisches Mittel als Unternehmenswert ermittelt wird; das Stuttgarter Verfahren, bei dem der Überschuß des Gewinns über die Normalverzinsung des Unternehmenswerts für eine Dauer von fünf Jahren zum Substanzwert hinzugerechnet wird; die Verfahren der Ubergewinnverrentung und Ubergewinnkapitalisierung, das Verfahren der Geschäftswertabschreibung und der Minderabschreibung sowie eine Reihe weiterer Verfahren20. Dabei hat sich in der betriebswirtschaftlichen Literatur die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese Methoden wegen ihrer Schematisierung zur Unternehmensbewertung nicht geeignet sind21. Auch die Werte der Substanz des Unternehmens haben nur noch Hilfsfunktion22, während nach überwiegender Meinung die Ertragswertmethode in der Regel den zutreffenden Unternehmenswert ergibt23. Allerdings wird - vornehmlich aus praktischer Sicht - eine Einbeziehung der Substanzwertermittlung in die Unternehmensbewertung nach wie vor für erforderlich gehalten24. 2. Unternehmensbewertung

als

Rechtsproblem

Die unterschiedlichen Werte, die sich je nach Bewertungsanlaß, -ziel und -methode für ein Unternehmen ergeben25, beeinflussen die Höhe der Abfindung, die auf dieser Grundlage errechnet wird. Für die Ermittlung der Abfindung ist daher zunächst zu klären, ob sich die Ermittlung des zutreffenden Unternehmenswerts nicht lediglich als Aufgabe der Betriebswirtschaft darstellt, an deren Ergebnisse die Rechtswissenschaft gebunden ist. a) In der Tat ist in älteren Entscheidungen, aber auch in der älteren Literatur, verschiedentlich die Auffassung vertreten worden, daß die Methode für die Bewertung von Unternehmen „dem pflichtgemäßen Urteil der mit der Bewertung befaßten Fachleute (unterliege), unter den in der Betriebswirtschaftslehre vertretenen Verfahren das im Einzelfall geeignet erscheinende auszuwählen. Das von ihnen gefundene Ergebnis " Piltz, aaO (Fn. 15), S. 16 ff. Eingehend hierzu Piltz, aaO (Fn. 15), S. 36 ff m.w.N. 21 WP-Handbuch 1985/86, aaO (Fn. 14), S. 1066. 22 WP-Handbuch 1985/86, aaO (Fn. 14), S. 1066. 23 Piltz, aaO (Fn. 15), S. 16. 2< Helbling, Unternehmensbewertung und Steuern, 1989, 5. Aufl., S. 71; Ertragswertgutachten, DBW 1988, S.417. 25 Vgl. die Modellrechnung von Piltz, aaO (Fn. 15), S.41 ff. 20

Zimmerer,

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hat dann der Tatrichter frei zu würdigen"26. Diese Auffassung wird auch heute noch vereinzelt in der Literatur vertreten27. b) Gegen diese Annahme spricht jedoch schon die Tatsache, daß sich sowohl in der betriebswirtschaftlichen als auch in der juristischen Literatur mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß ein Unternehmenswert „an sich" nicht existiert, sondern daß eine Unternehmensbewertung lediglich abgestellt auf den konkreten Zusammenhang sinnvollerweise erfolgen kann28. Wenn aber ein „objektiver", d. h. für alle Situationen in gleicher Weise geltender Unternehmenswert nicht existiert, müssen aus dem jeweiligen Regelungszusammenhang, in den die Abfindungsregelung eingebunden ist, die für den Bewertungsansatz maßgeblichen Kriterien abgeleitet werden. Die Aufgabe, die für die Auswahl der Bewertungsmethode maßgeblichen Kriterien aus dem Gesamtzusammenhang des Gesetzes abzuleiten, ist daher eine Rechtsfrage, die der jeweiligen Umsetzung durch die Betriebswirtschaftslehre vorgelagert ist29. Dieser Auffassung haben sich nun mittlerweile jedenfalls der Sache nach auch der Bundesgerichtshof30 sowie die Instanzgerichte31 angeschlossen32. c) Richtigerweise erschöpft sich die Aufgabe der Gerichte nicht in der Übernahme eines vom Sachverständigen gefundenen Unternehmenswerts; vielmehr haben die Gerichte im Rahmen der Entscheidungsfindung die konkreten rechtlichen Determinanten der Abfindungsregelung durch Auslegung zu ermitteln, um anhand dieser Kriterien den für diese Abfindungssituation zutreffenden Unternehmenswert zu ermitteln. BGH WPg, 1978, S. 302 ff, 304. Dörner, Grandsätze der Durchführung von Unternehmensbewertungen, WPg, 1983, S. 549, der Unternehmensbewertungen als rein betriebswirtschaftliches Gebiet definiert. 28 Vgl. oben III 1. 29 Lutter, Materielle und förmliche Erfordernisse eines Bezugsrechtsausschlusses, ZGR 1971, S. 401 ff, 416; Hommelhoff, Die Sachmängelhaftung beim Unternehmenskauf, 1975, S. 75; Großfeld, Untemehmensbewertung als Rechtsproblem, JZ 1981, S.641 ff, 643; ders., Bewertung von Anteilen an Unternehmen, JZ 1981, S. 769 ff; ders., Unternehmensund Anteilsbewertung im Gesellschaftsrecht, 1987, 2. Aufl., S. 8 ff, S. 11-14; Ränsch, Die Bewertung von Unternehmen als Problem der Rechtswissenschaft, AG 1984, S. 202 ff, 203; Blomeyer, Rechtliche Kriterien für die Untemehmensbewertung im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung, RdA 1986, S. 69 ff, 72; Zehner, Untemehmensbewertung im Rechtsstreit, DB 1981, S.2109ff, 2111; Müller, Der Wert des Unternehmens, JuS 1973, S. 603 ff. 30 BGH Urteil vom 17. Januar 1973, Az. IV ZR 142/70, veröffentlicht in WM 1973, S.306ff; Urteil vom 29.Mai 1978, Az. II ZR 52/77, veröffentlicht in WM 1978, S. 1044ff. 31 Vgl. bspw. OLG Düsseldorf, Beschluß vom 16.10.1990, Az. 19 W 9/88, veröffentlicht in ZIP 1990, S. 1474 ff. 32 Lütter, aaO (Fn.29), S.417. 26

27

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3. Untersucht man die Regelung über die Abfindung eines aus Anlaß eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages ausscheidenden Aktionärs, so lassen sich daraus f ü r die Bewertung folgende Kriterien ableiten: a) D e r ausscheidende Gesellschafter, dessen anteilige gesellschaftsrechtliche Beteiligung auf die herrschende Gesellschaft übergeht, scheidet aus einem lebenden Unternehmen aus. Deshalb ist in aller Regel vom Prinzip des „Going-Concern" auszugehen. Die Bewertung des U n t e r nehmens hat daher nicht nach Zerschlagungskriterien, sondern nach Fortführungskriterien, die den Betrieb als Einheit behandeln, stattzufinden. b) Im Gegensatz zu einer Verhandlungssituation, in der die Entscheidung über eine Einigung nicht vorgegeben ist, schränkt das Gesetz durch den Zwang, eine Abfindungsregelung vorzusehen, den wirtschaftlichen Handlungsspielraum der herrschenden Gesellschaft grundlegend ein. Bei Festlegung einer höheren Abfindung durch die Gerichte verbleibt dem herrschenden Unternehmen nur noch die Möglichkeit, den Unternehmensvertrag insgesamt zu beenden. Daraus ergibt sich, daß bei der Ermittlung der Abfindung nicht auf Grenzpreise des Veräußerers, also des ausscheidenden Aktionärs, oder des Erwerbers, also der herrschenden Gesellschaft, abgestellt werden kann, sondern ein Schiedswert, d. h. ein Mittelwert der vorgenannten Extrema, zu ermitteln ist 33 . c) Weiter ergibt sich aus dem oben bereits angesprochenen Stichtagsprinzip, nach dem f ü r die Berechnung der Abfindung auf den Zeitpunkt der Hauptversammlung der beherrschten Gesellschaft abzustellen ist, in der über den Unternehmensvertrag beschlossen wird, daß der Unternehmenswert ohne Berücksichtigung der durch den Abschluß des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages eintretenden Veränderungen nach der Vermögens- und Ertragslage zum Stichtag zu ermitteln ist. Dies bedeutet, daß f ü r die Berechnung der zukünftigen Erträge, aus denen der Ertragswert abzuleiten ist, nur solche Umstände berücksichtigt werden dürfen, die zum Zeitpunkt des Stichtags bereits in der konkreten U n t e r nehmensplanung angelegt waren 34 . 4. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wurde der Schluß gezogen, daß die Ertragswertmethode zur Ermittlung des Unternehmenswerts 33 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum AktG, aaO (Fn. 5), Rdn. 34; Lutter, aaO (Fn. 29), S.418; Großfeld, aaO (Fn.15), S. 123 ff; insgesamt m . w . N . ; a.A. Ränsch, aaO (Fn.29), S.206ff m . w . N . 34 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 5), §305, Rdn. 28 ff; Großfeld, aaO (Fn.15), S. 40 ff; Emmerich/Sonnenschein, Konzernrecht, 1992, 4. Aufl., § 17 III 3 lit. (c), S. 291 ff; Ränsch, aaO (Fn. 29), S. 208 f; insgesamt m. w. N .

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rechtlich zwingend geboten sei35. Dagegen haben die Gerichte die Auffassung abgelehnt, daß ein bestimmtes Bewertungsverfahren durch die rechtlichen Vorgaben der Unternehmensbewertung zwingend vorgeschrieben wird36. Hierfür spricht zum einen, daß auch der heutige Stand der betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse es nicht ausgeschlossen erscheinen läßt, daß aufgrund neuerer Forschungserkenntnisse ein Wandel über die anzuwendende Bewertungsmethode eintreten könnte37. Zum anderen sind durchaus besondere Fallgestaltungen denkbar, in denen die Ertragswertmethode nicht zu brauchbaren Ergebnissen führt. Richtig ist daher die Auffassung, daß die im Einzelfall anzuwendende Methode der Prüfung des Gerichts unterliegt, wobei die Unternehmensbewertung mit Hilfe der Ertragswertmethode im Regelfall zur Bestimmung der angemessenen Abfindung als geeignet angesehen wird und eine Abweichung von dieser Methode im einzelnen der Darlegung und Begründung bedarf38. IV. Die Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Bemessung der Abfindung 1. Die Problematik der zutreffenden Abgrenzung des betriebsnotwendigen vom nicht betriebsnotwendigen Vermögen und seine gesonderte Berücksichtigung durch Einzelbewertung bei der Ermittlung des Unternehmenswerts stellt sich nur, soweit die Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode erfolgt. Bei der Substanzwertermittlung wird ohnehin eine Einzelbewertung des gesamten Betriebsvermögens unabhängig von seiner Betriebsnotwendigkeit durchgeführt. Deshalb ist die Abgrenzung nach der Betriebsnotwendigkeit ohne Einfluß auf das Ergebnis der Unternehmensbewertung nach der Substanzwertmethode. Der Unternehmenswert, der nach Ertragswertmethode ermittelt wurde, beruht auf den zukünftigen Erträgen des Unternehmens, da sich der zutreffende Wert des Unternehmens in seiner Gesamtheit aus den bestehenden Ertragschancen ergeben soll und die Summe der Substanz-

35 Piltz/Wissmann, Unternehmensbewertung beim Zugewinnausgleich, N J W 1985, S. 2673 ff, 2677; einschränkend nunmehr Piltz, aaO (Fn. 15), S. 121 ff m. w . N . , wohl auch Krieger, aaO (Fn.7), §70, Rdn.81; Kaiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 1992, 2. Aufl., §54, Rdn. 59. 36 O L G Düsseldorf, Beschluß vom 17. Februar 1984, Az.: 19 W 1/81, veröffentlicht in WM 1984, S. 732 ff, 733; L G Frankfurt, Beschluß vom 16. Mai 1984, Az.: 3/3 AktE 144/ 80, veröffentlicht in AG 1985, S.310ff, 311. 37 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 9), §305, Rdn. 36. 38 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 6), §305, Rdn. 36 m.w. N.

Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Spruchstellen verfahren

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werte hierfür bedeutungslos sei. Denn bewertet wird nicht die Summe der Einzelgegenstände, sondern die Gesamtheit des Unternehmens. Eingang in den Unternehmenswert finden daher diejenigen Vermögensgegenstände, die im Rahmen des Unternehmensgegenstandes der Gewinnerzielung zu dienen bestimmt und dafür erforderlich sind. Dagegen finden die anderen Vermögensteile, die zur Gewinnerzielung im Rahmen des Unternehmensgegenstandes nicht erforderlich sind, keinen Eingang in den Unternehmenswert. Da die Abfindung grundsätzlich den vollen Wert des anteiligen Betriebsvermögens zu umfassen hat, ist im Grundsatz anerkannt, daß dem Ertragswert der Wert des nicht betriebsnotwendigen Vermögens hinzuzurechnen ist39. Fraglich ist allerdings, nach welchen Grundsätzen die Unterscheidung zwischen betriebsnotwendigem und nicht betriebsnotwendigem Vermögen vorzunehmen ist. 2. Der Begriff des nicht betriebsnotwendigen Vermögens wird zwar in einer Reihe von gerichtlichen Entscheidungen im Rahmen der Unternehmensbewertung verwendet40 und auch in der aktienrechtlichen und betriebswirtschaftlichen Litratur angesprochen41. Zumeist erfolgt jedoch keine Klärung des Begriffsinhaltes, sondern dieser wird den Erörterungen vorausgesetzt.

a) In der Literatur werden zum nicht betriebsnotwendigen Vermögen alle diejenigen Gegenstände gerechnet, deren Vorhandensein den Ertragswert nicht oder nicht wesentlich beeinflußt, deren Vermögenswert jedoch bedeutsam ist42. Negativ formuliert soll dies bedeuten, daß alle diejenigen Vermögensteile, die frei veräußert werden könnten, ohne daß dadurch die eigentliche Unternehmensaufgabe berührt würde und der Ertragswert in seinen eigentlichen Grundlagen Veränderungen erfahren würde, dem nicht betriebsnotwendigen Vermögen zugerechnet werden sollen, soweit diese Substanz außerhalb des funktionalen Zusammenhangs der Werte im Betriebsgeschehen steht43. Betriebsnotwendig ist danach das Vermögen, das im Rahmen des Unternehmensgegenstandes 39

Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 5), Rdn. 41. Vgl. O L G Düsseldorf, Beschluß vom 7.6.1990, Az.: 19 W 13/86, veröffentlicht in D B 1990, S. 1394ff; L G Düsseldorf, Beschluß vom 16.12.1987, Az.: 34 AktE 1/82, veröffentlicht in A G 1989, S. 138 ff; L G München I, aaO ( F n . l ) ; O L G Düsseldorf, Beschluß vom 11.1.1990, Az.: 19 W 6/86, veröffentlicht in A G 1990, S. 397 ff; O L G Celle, Beschluß vom 4. April 1979, Az.: 9 Wx 2./77, veröffentlicht in WM 1979, S. 1336ff; O L G Düsseldorf, Beschluß vom 11.4.1988, Az.: 19 W 332/86, D B 1988, S. 1109ff. 41 Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 5), §305, Rdn.41; Großfeld, aaO (Fn. 15), S . 9 4 f f ; Piltz, aaO (Fn. 15), S. 164ff, insgesamt m . w . N . « Großfeld, aaO (Fn. 15), S.94; Piltz, aaO (Fn.15), vgl. S. 165, U. E. C.-Entwurf, W p G 1977, S. 679 ff, 680. « WP-Handbuch 1985/86, aaO (Fn. 14), S. 1081 f m. w. N . 40

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zur Erzielung von Einnahmen erforderlich ist44. Dieser funktionale Ansatz findet sich auch in Entscheidungen der Gerichte wieder, etwa wenn das O L G Celle ausführt, daß alle Wirtschaftsgüter, die zum Zeitpunkt der Bewertung nicht der Erzielung von Erträgen dienen, gesondert zu bewerten seien45. Entsprechendes gilt für die Formulierung, nicht betriebsnotwendige Vermögensgegenstände seien solche, die zur Erreichung des Unternehmenszwecks nicht notwendig seien und daher aus dem Unternehmen herausgelöst werden könnten 46 . b) Verschiedentlich wird der Begriff jedoch nicht mehr ausschließlich funktional verstanden, sondern auch wertbezogen, so daß alle diejenigen Vermögensgegenstände, die sich ohne Schaden für den Ertrag aus dem Unternehmen herauslösen lassen, dem nicht betriebsnotwendigen Vermögen zugeschlagen werden, wenn sich auf diese Weise ein höherer Unternehmenswert ergibt47. Dies gilt auch für die Überlegung des O L G Düsseldorf 48 , daß die Einbeziehung in das betriebsnotwendige Vermögen dazu führe, daß der Substanzwert des Vermögens im Ertragswert aufgehe und keine Berücksichtigung mehr finden könne und deshalb Vermögensgegenstände, die nicht überwiegend betriebsnotwendig seien, dem nicht betriebsnotwendigen Vermögen zugeschlagen werden müßten. 3. Der zutreffende Begriffsinhalt ist entsprechend dem oben 49 Gesagten aus Sinn und Zweck der Abfindungsregelung und den daraus abgeleiteten Kriterien für die Abfindung zu gewinnen. a) Auszugehen ist dabei zunächst von der Prämisse, daß angemessen im Sinne von § 305 AktG grundsätzlich nur die volle, den gesamten Wert der aufgegebenen Beteiligung umfassende Abfindung ist. Bei Anwendung der Ertragswertmethode muß daher in jedem Falle dasjenige Vermögen des Unternehmens eine gesonderte Bewertung erfahren, das bei der Ermittlung des Ertragswerts keinen Eingang findet. Daher sind Vermögensgegenstände, die nicht zur Einnahmeerzielung im Rahmen der Unternehmenszwecke zu dienen bestimmt sind und im Falle einer Substanzbewertung zu einem höheren Unternehmenswert führen, zwingend zu berücksichtigen. Dies gilt etwa für Grundstücke, deren betriebliche Nutzung in absehbarer Zeit nicht vorgesehen ist, für Beteiligungen Piltz, aaO (Fn. 15), S. 164 f. O L G Celle, Beschluß vom 4. April 1979, aaO (Fn.40), S.232. 46 L G Frankfurt, Beschluß vom 1. Oktober 1986, Az.: 3/3 O 145/83, veröffentlicht in WM 1987, S.559ff, 561. 47 Ransch, aaO, Fn.29, S.208; Großfeld, aaO (Fn. 15), S.95; Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen, H F A 2/83, WPg 1983, 474. 48 O L G Düsseldorf, aaO (Fn.31), S. 1476. 49 Vgl. oben III 2. 44

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ohne Bezug zur Unternehmenstätigkeit, aber auch für Wohnungsbaudarlehen oder für an Arbeitnehmer vermietete Werkswohnungen. b) Daneben sind bei der Bestimmung des Begriffsinhalts auch die weiteren Prinzipien zu berücksichtigen. Die Abfindung stellt die Kompensation für die Übertragung einer Beteiligung an einem lebenden Unternehmen dar. Daher ist nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Unternehmenseinheit grundsätzlich das gesamte Bewertungsobjekt in allen seinen relevanten Faktoren heranzuziehen50. In diesem Zusammenhang muß darauf verwiesen werden, daß Ausgangspunkt der Ertragswertmethode ja gerade die Überlegung ist, daß der zutreffende Wert des Unternehmens als lebender Organismus in seiner konkreten Ausprägung durch die Einzelbewertung der einzelnen Vermögensgegenstände nicht zutreffend ermittelt werden könne, da der eigentliche Wert durch die wirtschaftliche Ertragskraft der Gesamtheit vermittelt werde, der durch die Bewertung der einzelnen Vermögensgegenstände nur unzureichend erfaßt werde51. Daher ist es ein Gebot der systemimmanenten Folgerichtigkeit, alle diejenigen Gegenstände, die nach der konkreten unternehmerischen Zweckverfolgung der Erzielung von Einnahmen zu dienen bestimmt sind, dem betriebsnotwendigen Vermögen zuzuschlagen sind. Damit erweist sich lediglich der funktionale Ansatz des nicht betriebsnotwendigen Vermögens als systemkonform. Demgegenüber führt der wertbezogene Ansatz in seiner konsequenten Weiterentwicklung zu einem Systembruch: Danach müßte nämlich ein Vermögensgegenstand immer dann als nicht betriebsnotwendiges Vermögen angesehen werden, wenn die gesonderte Berücksichtigung des Wertes des einzelnen Vermögensgegenstandes einen höheren Unternehmenswert ergibt, als wenn (nur) der Ertragsbeitrag dieses Vermögensgegenstandes in die Wertermittlung einfließt. Auf den funktionalen Zusammenhang zum Betrieb käme es nicht an. Eine solche gedankliche Herauslösung von Gegenständen aus dem betrieblichen Zusammenhang widerspricht der Grundannahme des Ertragswertverfahrens, daß der Betrieb als Einheit mit den hieraus sich ergebenden Ertragschancen zutreffend bewertet sei, während der Wert der Einzelgegenstände lediglich in Form des Liquidationswertes als Wertuntergrenze von Bedeutung sei. Grund für die gesonderte Bewertung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode ist wegen

WP-Handbuch, aaO (Fn. 14), S. 1074. Großfeld, Elemente der Unternehmensbewertung, in Festschrift für MeyerHayoz, 1982, S. 193 ff, 197; Piltz, aaO (Fn. 15), S. 16; WP-Handbuch 1985/86, aaO (Fn. 14), S. 1064 ff. 50

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des Prinzips der vollen Abfindung die Erfassung derjenigen Vermögensgegenstände, die im Ertragswert keinen Niederschlag gefunden haben. Mit diesem Ansatz ist es jedoch nicht vereinbar, Gegenstände, die der Erzielung von Erträgen im Rahmen des Unternehmensgegenstandes dienen und damit Eingang in den Ertragswert gefunden haben, aus diesem gedanklich herauszulösen und gesondert zu bewerten. c) Darüber hinaus sind bei Anwendung des wertbezogenen Begriffs komplizierte Abschläge bei der Ermittlung des Ertragswerts vorzunehmen, da nach allgemeiner Meinung die Erträge des nicht betriebsnotwendigen Vermögens aus dem Unternehmensertrag zu eliminieren sind52. Im Falle des OLG Düsseldorf 53 wäre daher der Ertrag, den die Gaststättengrundstücke erbringen, die als nicht betriebsnotwendig eingestuft wurden, zur Gänze, also nicht nur bezüglich der Mieteinnahmen, sondern auch hinsichtlich des Bierabsatzes zu eliminieren, da die Aufrechterhaltung des Bierabsatzes bei einer Grundstücksveräußerung nicht mehr gesichert wäre. d) Damit gebieten die auf §305 AktG beruhenden Regeln für die Ermittlung der angemessenen Abfindung ein funktionales Verständnis des Begriffs. Auch das Prinzip der vollen Abfindung erfordert nicht die Anwendung eines wertbezogenen Begriffs, da der Ausgangspunkt der Ertragswertmethode gerade die Erkenntnis ist, daß der Substanzwert der Vermögensgegenstände keine Aussagekraft für den Unternehmenswert hat und daher einem in Vergleich zum Beitrag zum ertragshöheren Substanzwert eines einzelnen Gegenstandes für den Unternehmenswert keine Bedeutung zukommt. Würde das Prinzip der vollen Abfindung eine Berücksichtigung solcher Differenzen gebieten, so würde damit die Ertragswertmethode insgesamt in Frage gestellt. IV. Die Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Bemessung des Ausgleichs 1. Die Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens wird jedoch nicht nur im Rahmen der Ermittlung der angemessenen Abfindung nach §305 AktG angesprochen, sondern verschiedentlich auch bei der Ermittlung des angemessenen Ausgleichs diskutiert 54 . Dabei sind zwei unterschiedliche Überlegungen zu trennen.

WP-Handbuch, aaO (Fn. 14), S. 1053 ff, 1082. O L G Düsseldorf, Beschluß vom 16.10." 1990, aaO (Fn. 31), S. 1474 ff. 54 Beschluß des LG München I vom 25.Januar 1990, aaO (Fn. 1), S. 404 ff; O L G Düsseldorf, Beschluß vom 1 1 . 1 . 1 9 9 0 , aaO (Fn. 40), S. 397 ff. 52

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a) Wie sich aus der Entscheidung des O L G Düsseldorf ergibt, ist die Realisierung stiller Reserven aus der Veräußerung nicht betriebsnotwendigen Vermögens, soweit hierfür zum Stichtag konkrete in die Zukunft hineinreichende Anhaltspunkte bestehen, bei der Berechnung des Ausgleichs zu berücksichtigen. Die Richtigkeit dieser Überlegung ergibt sich schon aus Anwendung der allgemeinen Grundsätze, die oben zur Ermittlung des angemessenen Ausgleichs nach § 304 AktG wiedergegeben wurden. b) Daneben wird jedoch in der Praxis bei der Ermittlung des Ausgleichs zum Teil in der Praxis die Auffassung vertreten, daß die Veräußerung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens zum Stichtag und die verzinsliche Wiederanlage zu unterstellen sei, um dann die Zinsen dann bei der Berechnung des angemessenen Ausgleichs als Ertrag zu berücksichtigen55. Fraglich ist jedoch, ob diese Praxis mit den Grundsätzen zur Ermittlung des Ausgleichs nach § 304 AktG vereinbar ist. 2. Die Vereinbarkeit dieser Praxis mit §304 AktG setzt zunächst die Klärung voraus, welche Zielvorstellungen und Bewertungsvorgaben der gesetzlichen Regelung entnommen werden können.

a) Diese ergeben sich aus den Zwecken, die das Gesetz mit der Anordnung einer angemessenen Ausgleichszahlung verfolgt56. Diese soll den dem außenstehenden Aktionär durch Verlust der Teilhabe am Ertrag der Gesellschaft entstehenden Nachteile ausgleichen, während der Fortbestand seiner Beteiligung mittelbar durch die Regelungen über die Sicherung der beherrschten Gesellschaft geschützt wird. Demgegenüber sollte mit der Abfindungsregelung dem Aktionär gerade das Ausscheiden ermöglicht werden. Anders als bei der Eingliederung durch Mehrheitsbeschluß (§320 Abs. 1 AktG), bei der die Hauptgesellschafterin die letzten (höchstens 5 % des Kapitals) außenstehenden Aktionäre aus der eingegliederten Gesellschaft hinausdrängen kann und demzufolge sich die Bewertung freier Aktien bei der Eingliederung vermehrt am Interesse der Hauptgesellschafterin zu orientieren hat57, dient die Abfindung nach § 305 AktG den außenstehenden Aktionären - wie oben ausgeführt - als Entscheidungsgrundlage dafür, ob sie gegen Kompensation aus der abhängigen Gesellschaft ausscheiden wollen oder aber in der Gesellschaft verbleiben und die jährliche Ausgleichszahlung erhalten wollen. Daraus kann jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß der Gesetzeszweck verlange, daß der außenstehende Aktionär stets eine Ausgleichszahlung als wirtschaftlich interessante, gleichwertige Alternative zur 55 56 57

L G München, aaO (Fn.l), S.406f. Vgl. Hommelhoff, in: Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht, S. 185. Vgl. Hommelhoff, aaO (Fn. 53), S. 185.

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Abfindung wählen können müßte58. Nach dem Regelungsgehalt des §304 AktG soll der Aktionär als Ausgleich grundsätzlich den Betrag erhalten, den er als Gewinn erwarten könnte, wenn der Unternehmensvertrag nicht bestünde. Maßgeblich sind danach die zum Stichtag bestehenden konkreten Ertragserwartungen unter Berücksichtigung der Ertragslage in der Vergangenheit. Dies kann in Extremfällen sogar dazu führen, daß entgegen einer verbreiteten Auffassung59 nach überwiegender Meinung der Ausgleich bis auf Null festgesetzt werden kann, wenn bei der Gesellschaft nach den Erwartungen zum Stichtag Dividendenzahlungen nicht nahegelegen hätten60. b) Gewinnabführungsverträge führen - wie oben im einzelnen ausgeführt - dazu, daß die Aktionäre ihres Anspruchs auf den Bilanzgewinn verlustig gehen, da die Gesellschaft vertraglich verpflichtet ist, den erwirtschafteten Gewinn abzuführen. Ein Bilanzgewinn wird daher nicht mehr ausgewiesen. Beim Beherrschungsvertrag kann zwar ein Bilanzgewinn noch entstehen. Seine Höhe wird jedoch durch die Leitungsmacht der herrschenden Gesellschaft bestimmt. Darüber hinaus führt der Abschluß eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages zu einer tiefgreifenden Veränderung im gesellschaftsrechtlichen Verhältnis zwischen der abhängigen Gesellschaft und dem außenstehenden Aktionär, so daß sich für den Minderheitsaktionär grundsätzlich die Frage stellt, ob er in der Gesellschaft unter den vorgegebenen Umständen verbleiben will oder es vorzieht, aus der Gesellschaft auszuscheiden. Diese Voraussetzungen und Grundlagen für eine sinnvolle rationale Entscheidung hat der Gesetzgeber in den Regelungen der §§ 304 und 305 AktG geschaffen. Soweit nun der außenstehende Aktionär bei seiner Entscheidung den Verbleib in der Gesellschaft und damit den angemessenen Ausgleich wählt, ist zu berücksichtigen, daß ihm im Gegensatz zum ausscheidenden Aktionär, der die Abfindung gewählt hat, die Substanz seiner gesellschaftsrechtlichen Beteiligung verbleibt und durch die Gewinnabführung lediglich die Beteiligung am Ertrag der Gesellschaft verlorengeht. Demgemäß kommt der Regelung über die Zubilligung eines angemessenen Ausgleichs die Aufgabe zu, den in der Gesellschaft verbleiben-

58 Krieger, aaO (Fn. 7), § 70, Rdn. 50; a. A. Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 5), § 304, Rdn. 35. 59 Meilicke, Die Berechnung der Ausgleichszahlung nach §304 Abs. 2 Satz 1 AktG, D B 1974, S. 417ff, 418: Koppensteiner, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, aaO (Fn. 5), §304, Rdn. 35. 60 Krieger, aaO (Fn. 7), §70, Rdn. 50; Hartmann/Hartmann, Zur Frage eines „Null-Ausgleichs" nach § 304 AktG, Festschrift für Pleyer, 1986, S. 287 ff, 294; Hüchtung, Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Beherrschungsvertrag, 1972, S. 70 ff.

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den Aktionär für diesen Verlust seiner Beteiligung am Ertrag zu entschädigen. Daher ist bei der Bemessung des angemessenen Ausgleichs eine Prognose darüber anzustellen, welche Chancen und Risiken die abhängige Gesellschaft ohne Abschluß eines Unternehmensvertrages am Markt gehabt hätte und welche Ertragsentwicklung für die Aktionäre daraus zu erwarten gewesen wäre. Anders gestalten sich die Überlegungen im Rahmen der Bemessung der angemessenen Abfindung nach § 305 AktG. Wie oben im einzelnen ausgeführt, führt der Abschluß eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages zu einer tiefgreifenden Veränderung der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung des außenstehenden Aktionärs. Im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG hat daher der Gesetzgeber dem außenstehenden Aktionär die Möglichkeit eingeräumt, gegen Abfindung aus der Gesellschaft auszuscheiden, um auf diese Weise die eingetretenen Verluste an Vermögens- und Herrschaftsrechten zu kompensieren. Demgemäß umfaßt der Wert der Abfindung den vollen Wert der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung des ausscheidenden Aktionärs. c) Da der den Ausgleich wählende Aktionär sich letztlich für einen Verbleib in der Gesellschaft in Ansehung der veränderten Umstände entscheidet und damit für sich und seine Beteiligung die Chancen und Risiken der Zukunft, versehen mit einer Mindestabsicherung nach § 304 AktG wählt, während der die Abfindung wählende Aktionär aus der Gesellschaft ausscheidet und hierfür den Wert seiner Beteiligung vergütet erhält, kann der angemessene Ausgleich im Sinne von §304 AktG auch nicht in dem Sinne verstanden werden, daß es sich hierbei lediglich um eine Ratenzahlungsregelung für eine zu bemessene Abfindung handelt. Vielmehr sind Ausgleich und Abfindung sowohl vom Regelungsziel als auch vom Gegenstand der Kompensation her unterschiedlich und nicht miteinander kompatibel. 3. Angesichts dieser bei §304 AktG zu berücksichtigender Interessenlage und Regelungsprämissen findet die Praxis fiktiver Wiederanlagezinsen im Gesetz keinerlei Stütze. Die für die Bestimmung des angemessenen Ausgleichs relevanten Determinanten stehen dieser Handhabung entgegen. a) Zunächst verstößt schon die Annahme, das nicht betriebsnotwendige Vermögen werde zum Liquidationswert veräußert, regelmäßig gegen das Prinzip der Berücksichtigung der konkreten Ertragsaussichten zum Stichtag, soweit sich nicht in der konkreten Unternehmensplanung der beherrschten Gesellschaft Anhaltspunkte für eine solche geplante Liquidierung finden lassen. b) Darüber hinaus verstößt die Annahme einer verzinslichen Wiederanlage dieses Veräußerungserlöses aber auch gegen das Prinzip der Voll-

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ausschüttung. Da im Regelfall mit der Veräußerung nicht betriebsnotwendigen Vermögens die Aufdeckung stiller Reserven verbunden ist, wäre insoweit dieser Teil im Rahmen der Bemessung des Ausgleichs zu berücksichtigen und stünde daher bei Berücksichtigung der Fiktion der Vollausschüttung für eine Wiederanlage nicht mehr zur Verfügung. c) Sie rechtfertigt sich aber auch nicht mit der Annahme, daß der ausscheidende und der in der Gesellschaft verbleibende Aktionär gleich zu behandeln seien. Abgesehen davon, daß angesichts der unterschiedlichen Entwicklung schon eine Gleichbehandlung nicht geboten ist, vernachlässigt dieser Ansatz, daß der in der Gesellschaft verbleibende Aktionär, der den angemessenen Ausgleich gewählt hat, im Gegensatz zu dem aus der Gesellschaft ausscheidenden Aktionär an der Substanz des Unternehmens weiterhin beteiligt ist. Eine zusätzliche Berücksichtigung fiktiver Erträge dieser tatsächlich nicht liquidierten Substanz bei der Bemessung des Ausgleichs würde den ausscheidenden Aktionär daher in Wirklichkeit gegenüber dem in der Gesellschaft verbleibenden Aktionär schlechterstellen. Dieser ist weiterhin über seine Vermögensbeteiligung an den Wertsteigerungen der Substanz beteiligt, während die Verzinsung so bemessen wird, als ob die Substanz liquidiert worden wäre. Im Falle von Grundvermögen beispielsweise würde dies dazu führen, daß der Aktionär eine durch Vermietung nicht erzielbare Verzinsung erhält und andererseits an den Wertsteigerungen weiterhin teilnimmt, die bei Liquidation nicht mehr anfallen würden. Demgegenüber hat der ausscheidende Aktionär keine Möglichkeit mehr, an dem entstehenden Wertzuwachs teilzunehmen. Damit führt diese Auffassung zu einer gesetzlich nicht vorgesehenen Besserstellung des den Ausgleich wählenden Aktionärs, die nicht gerechtfertigt ist. Daher ist diese Praxis mit den tragenden Grundsätzen für die Ermittlung des angemessenen Ausgleichs, nämlich dem Stichtagsprinzip, dem Prinzip der Berücksichtigung konkreter Ertragsaussichten und dem Prinzip der Vollausschüttung unvereinbar. VI. Zusammenfassung 1. Bei der Ermittlung der angemessenen Abfindung im Rahmen von § 305 AktG ist bei der Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode das nicht betriebsnotwendige Vermögen grundsätzlich gesondert und zusätzlich in Ansatz zu bringen. Bei der Bestimmung, welche Gegenstände dem nicht betriebsnotwendigen Vermögen zuzuordnen sind, ist dabei nicht von einem wertbezogenen, sondern einem funktionalen Ansatz auszugehen. Nicht betriebsnotwendig sind damit alle diejenigen Vermögensgegenstände, die nicht im Rahmen der konkreten Verfolgung der Unternehmenszwecke zur Erzielung von Einnahmen bestimmt sind.

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2. Die Erträge aus der Veräußerung nicht betriebsnotwendigen Vermögens sind nach den allgemeinen Grundsätzen bei der Ermittlung des angemessenen Ausgleichs dann in Ansatz zu bringen, wenn zum Stichtag die Veräußerung solchen Vermögens in dem Unternehmen im Rahmen der Planung bereits angelegt und absehbar war. Dagegen scheidet eine Berücksichtigung fiktiver Wiederanlagezinsen des Veräußerungserlöses nicht betriebsnotwendigen Vermögens bei der Bemessung des angemessenen Ausgleichs aus, da eine solche Annahme mit den tragenden Prinzipien der Bestimmung des angemessenen Ausgleichs nicht vereinbar ist.

Die Zweckmäßigkeit der Verschmelzung als Gegenstand des Verschmelzungsberichts, der Aktionärsentscheidung und der Anfechtungsklage H A R M PETER WESTERMANN

I. Zur Fragestellung Die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften, von der es noch im Jahre 1988 hieß, die Rechtsprechung habe sich nur selten mit ihr befassen müssen, und in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des II. Senats des BGH finde sich keine einzige Entscheidung zu diesem Themenbereich1, hat seither an Aktualität für die Gerichte erheblich gewonnen, und zwar nicht nur im Hinblick auf vor das Revisionsgericht gelangte Fälle mit grundsätzlicher Bedeutung, sondern auch und gerade in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung 2 . Das hängt u. a. damit zusammen, daß Beschlüsse über Verschmelzungen ihre (weittragenden) Rechtsfolgen nicht entfalten können, bevor die Maßnahme bei der übertragenden und bei der übernehmenden Gesellschaft im Handelsregister eingetragen ist, was oftmals nicht geschehen wird, wenn in der Anmeldung erklärt wird, daß die Beschlüsse der Hauptversammlung der einen und/oder anderen Gesellschaft von Aktionären angefochten sind3. Die Gefahr, daß eine Anfechtungsklage die Wirksamkeit der Maßnahme weit hinauszögert, schafft gewisse Anreize für einen Einsatz der Anfechtungsklage als Kampfmittel von erheblichem Lästigkeitswert, begründet aber auf der anderen Seite ein hohes Interesse der Gesellschaften an sorgfältiger, tunlichst perfekter Berichterstattung im Verschmelzungs- und im Verschmelzungsprüfungsbericht 4 und an eingehender Auskunftserteilung in 1 Hoffmann/Becking, Festschrift für Fleck, 1988, S. 105; s. allerdings die Nachw. bei H.P. Westermann/Biesinger, DWiR 1992, 13, 14 Fn. 8. 2 Rechtsprechungsübersicht bei H.P. WestermannIBiesinger aaO S. 14ff. 3 Zur Prüfung durch den Registerrichter zuletzt BGH WM 1990, 1372 mit Anm. Schick WuB II A §345 AktG 2/90; s. auch den Kurzkom. Lutter EWiR §345 AktG 2/90. Eingehend Kiem, Die Eintragung der angefochtenen Verschmelzung: Aktienrechtliche und registerrechtliche Auswirkungen von Verschmelzungsblockaden, 1991. 4 Grundlegend zu den inhaltlichen Anforderungen an die Berichte Mertens, AG 1990, 20 ff; Priester, ZGR 1990, 420 ff; Wirk, Festschrift für Steindorff, 1990, S. 187 ff; Keil, Der Verschmelzungsbericht nach §340a, 1990; Möller, Der aktienrechtliche Verschmel-

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der Hauptversammlung vor einem Beschluß gem. §340c AktG. Verschmelzungsverfahren stehen damit im Mittelpunkt des Spannungsfeldes, das sich um die Rechte der Hauptversammlung als Organ und die Individualrechte der Aktionäre als dem einen Pol und die Interessen an unternehmerischer Entscheidungsfreiheit im Kapitalgesellschaftsrecht als dem anderen Pol in den letzten Jahren gebildet hat5. Das bedingt auch gewisse Parallelen zwischen Maßnahmen wie Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen und/oder mit Bezugsrechtsausschluß, Abschluß von Beherrschungs- und sonstigen Unternehmensverträgen und den Beschlüssen über die Verschmelzung im Hinblick auf die Anforderungen an die „sachliche Rechtfertigung" von Mehrheitsentscheidungen und die gerichtliche Überprüfung des Vorliegens derartiger Gründe im Rahmen von Anfechtungsprozessen. Der Jubilar, der sich auch theoretisch mit Fragen der Einschränkung der Verwaltungsbefugnisse in der AG und mit dem hierdurch ausgelösten Unbehagen am Zustand der Gewaltenteilung der Organe in der großen Kapitalgesellschaft befaßt hat6, weiß natürlich um die Anfälligkeit unseres Rechtssystems gegenüber Versuchungen, Ansprüchen auf unternehmerisches Beurteilungs- und Handlungsermessen und Äußerungen kapitalistischer Mehrheitsmacht mit ebenfalls allgemein gehaltenen Kontrollinstrumenten entgegenzutreten, und um die Notwendigkeit, hier zu einem Gleichgewicht der Kräfte auf der Grundlage der Anwendung (oder auch erst Erarbeitung) von Prüfungsmaßstäben mit vorausberechenbaren Kriterien zu gelangen. Es liegt daher nahe, in der ihm gewidmeten Festschrift einen Beitrag zu den skizzierten Hintergrund-Fragen anhand eines vordergründig rein praktischen Einzelkonflikts zu leisten, der sich angesichts eines aktuellen Verschmelzungsfalls zwar bisher lediglich in der Hauptversammlung der übertragenden Gesellschaft zugetragen hat7, der aber möglicherweise nach Fertigstellung dieses Beitrages noch bei Gericht anhängig werden wird 7a . Es geht dabei um einen Ausschnitt aus der Diskussion, die bisher hauptsächlich mit Blick auf das Umtauschverhältnis der Aktien der an der Verschmelzungsbeschluß, 1991, S. 114ff; Geßler/Hefermehl/Grunewald §340a AktG Rdn.5ff, §340b Rdn. 12 ff; zum Druckpotential der Klagen gegen Umstrukturierungsversuche Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 466 ff. 5 Uberblick über den gegenwärtigen Zustand und rechtspolitische Lösungsmöglichkeiten bei H.P. Westermann, ZHR 156 (1992), 203 ff. 6 Semler BB 1983, 1566 ff. 7 S. „Die Zeit" Nr. 32 vom 31.7.1992, S. 24, Rubrik „Manager und Märkte", Bericht über die Opposition des früheren Generalbevollmächtigten der übertragenden Gesellschaft, der Hoesch AG, gegen deren Verschmelzung mit der Fried. Krupp AG. 7> Nach der Fertigstellung des Manuskripts sind gegen die Beschlüsse der Hauptversammlungen zwei Klagen erhoben und später zurückgenommen worden, so daß die Verschmelzung inzwischen eingetragen ist.

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zung beteiligten Gesellschaften geführt wurde, die aber ausgedehnt werden könnte auf die wirtschaftliche Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Beschlusses unter dem speziellen Aspekt, ob eigentlich eine Verschmelzung angebracht ist oder eine andere „unternehmensstrukturelle"8 Maßnahme wie etwa ein Beherrschungsvertrag. In der weiteren Perspektive derartiger Überlegungen läge die Entwicklung eines allgemeinen rechtlichen Gebots zur Anwendung eines die Interessen der überstimmten Minderheit möglichst schonenden oder einfach „milderen" Mittels bei der Umgestaltung von Gesellschaftsrechtsverhältnissen9. Hat also der Vorstand im Verschmelzungsbericht darzulegen, daß es zur Erreichung der mit der Verschmelzung verfolgten Ziele kein „milderes Mittel" gibt, hat die Hauptversammlungsmehrheit diesen Aspekt in ihre Abwägung einzubeziehen, kann ein mit einer Anfechtungsklage befaßtes Gericht unter diesem Gesichtspunkt einen Hauptversammlungsbeschluß überprüfen und gegebenenfalls kassieren? Die grundsätzliche Thematik ist nicht neu; namentlich die Diskussion um die Gründe für einen Bezugsrechtsausschluß hat mehrere Versuche zur Entwicklung eines Systems abgestufter Kontrollmaßstäbe im Hinblick auf Mehrheitsentscheidungen ergeben10, die teilweise auch im Zusammenhang mit Überlegungen zum Minderheitenschutz im Kapitalgesellschaftsrecht auftreten11. Dieser Hintergrund der Fragestellung kann hier nicht voll ausgeleuchtet werden, ist aber bei der Detailstudie zum Stellenwert der Frage nach der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit der Verschmelzung im Auge zu behalten. II. Sinn und Inhalt des Verschmelzungsberichts und der Aktionärsentscheidung über eine Verschmelzung 1. Stellungnahme des Verschmelzungsberichts zur Zweckmäßigkeit der Maßnahme Welche Rolle im aufgezeigten Rahmen der Frage nach der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit (und - daraus folgend - vielleicht der Vorzugswürdigkeit einer anderen unternehmensstrukturellen Maßnahme) zukommt, kann möglicherweise beurteilt werden durch eine Analyse der gesetzlichen Bestimmungen über die Entscheidungen der Hauptversammlungen der beteiligten Gesellschaften und ihre Vorbereitung durch 8 Der Ausdruck taucht m. W. erstmalig auf bei Timm, DB 1980, 1201 ff. ' Dazu grundlegend zunächst nur Meier-Hayoz/Zweifel, Festschrift für H. Westermann, 1974, S. 383 ff; weitere Nachw. unten im Text bei II 3 b. 10 Hervorzuheben sind Überlegungen von Lutter, ZGR 1981, 171 ff; Wiedemann, ZGR 1980, 147, 157ff; Timm, ZGR 1987, 403 ff; Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 460f; Zöllner, Einl. KK-AktG, Rdn.55; Möller, aaO (Fn.4), S. 91 ff. 11 Martens, GmbHR 1984, 265, 270.

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durch den Bericht der Vorstände 12 . Nun wird man wohl nicht sagen können, daß alle im Zusammenhang mit der Entscheidung nach § 350 c AktG die Aktionäre möglicherweise interessierenden Tatsachen und Umstände in den Berichten angesprochen sein müssen; doch kann jedenfalls davon ausgegangen werden, daß die Aktionäre aus dem Verschmelzungs- und dem Verschmelzungsprüfungsbericht ein so umfassendes und detailgenaues Bild der geplanten Maßnahme und ihrer Folgen müssen gewinnen können, daß sie in den Stand gesetzt werden, eine sachgemäße Entscheidung zu treffen13. In diesem Zusammenhang einer funktionellen Betrachtung der inhaltlichen Anforderungen ist hervorzuheben, daß die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der Verschmelzung ausdrücklich als Gegenstand der Offenlegungspflicht der Organe bezeichnet wird14. Klar ist weiter, daß die Gerichte - obwohl sich dies hauptsächlich auf die Angaben zum Umtauschverhältnis bezieht - die Vorlage und Erläuterung von konkretem Zahlenmaterial, von einzelnen Mitteilungen über Planungen und Prognosen sowie Wertschätzungen fordern15 und sich mit allgemeinen Angaben nicht zufriedengeben. Der Aktionär muß in die Lage versetzt werden, die von den Unternehmensorganen angestellten Überlegungen allein oder mit fachkundiger Unterstützung auf ihre Stichhaltigkeit nachzuvollziehen, nicht auch, die Entscheidung auf ihre Richtigkeit und auf die Vollständigkeit der zugrundegelegten Tatsachen hin zu überprüfen16. Für die hier interessierenden Fragen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit bedeutet dies, daß nicht nur die Vorteile einer Verschmelzung, sondern auch ihre Nachteile dargestellt werden müssen17; im Schrifttum wird zuweilen auch gefordert, Alternativen zu nennen 18 . Bezieht man mit ein, daß auch die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte zu erläutern sind19, so könnte man den Schluß ziehen, daß auch die wirtschaftlichen und rechtlichen 12 Zu diesem Vorgehen Mertens, aaO (Fn. 4), S.22ff, dem allerdings klar ist (aaO S. 21), daß sich allein aus § 3 4 0 a AktG der Informationsgehalt, der dem Verschmelzungsbericht zu entnehmen sein muß, nicht entwickeln lasse. 13 Unstreitig, B G H WM 1989, 1128, 1130; WM 1990, 140 f; O L G Köln WM 1988, 1792; O L G Hamm ZIP 1988, 1051; O L G Karlsruhe WM 1989, 1134, 1139; Mertens, aaO (Fn. 4), S. 29; Nirk, aaO (Fn.4), S.187f; Ganske, DB 1981, 1551, 1553; Keil, aaO (Fn.4), S. 19; Geßler/Hefermehl/Grunewald § 340 a Rdn. 2. 14 BGH, aaO (Fn. 13), und dazu Werner, Anm. WuB I I A § 3 4 0 a AktG 3/89; Heuer, WM 1989, 1401; Heckschen, ZIP 1989, 1168; s. auch Priester, N J W 1983, 1459, 1461. 15 Ubersicht über die Rechtspr. besonders der Instanzgerichte bei H. P. Westermann / Biesinger, aaO (Fn. 1), S. 15; s. auch Mertens, aaO (Fn. 4), S. 22. 16 Mertens ebd.; s. auch Geßler/Hefermehl/Grunewald § 340 a Rdn. 8. " Grunewald, aaO (Fn. 13), Rdn.7, 8; Möller, aaO (Fn.4), S. 120. 18 Bayer, A G 1988, 323, 327; Möller ebd.; ähnlich Lutter, ZGR 1979, 401, 408 für einen Vorschlag, das Bezugsrecht auszuschließen. 19 Geßler/Hefermehl/Grunewald, aaO (Fn. 13), Rdn. 9.

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Folgen von alternativen Vertragslösungen anzusprechen und so darzustellen sind, daß die Aktionäre den Vorschlag des Vorstandes auf seine Plausibilität prüfen können. Indessen ist darauf zu achten, daß die Anforderungen an den Bericht nicht überspannt werden dürfen20, indem nicht so viel an - durchaus auch komplexen - Einzelheiten eingebracht wird, daß am Ende dem Aktionär selbst bei fachkundiger Beratung kein klares Bild mehr vermittelt wird. Jeder, der auch nur einigermaßen mit den Gegebenheiten der Rechts- und Wirtschaftsberatung vertraut ist, weiß, daß insbesondere die Aufbereitung verschiedener Alternativmodelle mit ihren Vor- und Nachteilen rechtlicher (einschließlich steuerrechtlicher) und wirtschaftlicher Art den Adressaten derartiger Informationen, wenn er nicht Fachmann ist, zu überfordern droht, und daß Informationsvielfalt auch eingesetzt werden kann, um zu vernebeln. Es kommt hinzu, daß einer Preisgabe zahlreicher Einzelheiten und planerischer Zusammenhänge ein im Grundsatz berechtigtes Geheimhaltungsbedürfnis der Gesellschaft entgegenstehen kann21. Daher ist im Ergebnis ein Mittelweg angebracht, der eine Art Parallelwertung in der Laiensphäre erlaubt und gerade im Hinblick auf die Verständnismöglichkeiten eines durchschnittlichen Aktionärs eine eigenständige - und nicht eine gegenüber der Masse fachtechnischer Informationen und Erwägungen resignierende - Entscheidung der Aktionäre vorbereiten hilft. Hierfür spricht auch noch ein anderer Grund 22 . Zwar entscheiden am Ende die Hauptversammlungen der beteiligten Gesellschaften über die Verschmelzung, aber zu der dem Vorstand gemäß § 76 AktG obliegenden Leitungsaufgabe gehört es, die Entschließung der Aktionäre so vorzubereiten, daß die Gesellschaft nicht durch die Unsicherheit Schaden erleidet, die von zu dürftigen oder einseitig gefärbten, aber auch von nicht mehr nachvollziehbaren Entscheidungsgrundlagen durch die Gefahr von Anfechtungen ausgeht. Wie dieser Mittelweg zu finden und zu begehen ist, stellt eine unternehmerische Entscheidung des Vorstandes dar. Dies ist bei der Untersuchung der Kontrollkompetenz der Gerichte noch einmal aufzugreifen. 2. Notwendigkeit eines sachlichen Grundes für die Verschmelzung Zunächst ist aber in einem weiteren Schritt zu prüfen, wie sich die Anforderungen an die Transparenz der zur Verschmelzung veranlassen20 Andeutungen in dieser Richtung auch bei Möller, aaO (Fn.4), S. 127; Nirk, aaO (Fn.4), S. 187, 195. 21 Eingehend dazu Mertens, aaO (Fn.4), S.27; Heckschen, aaO (Fn. 14), S. 1171; Möller, aaO (Fn.4), S. 130ff; Bayer, WM 1989, 121, 122; s. auch B G H ZIP 1989, 980, 983; ZIP 1990, 168 f und die O L G e Köln, Hamm und Karlsruhe, aaO (Fn. 13). 22 Zum folgenden Mertens, aaO (Fn. 4), S. 23.

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den Umstände und Prognosen zu den Gegebenheiten einer (qualifizierten) Mehrheitsentscheidung verhalten, die im Gesetz jedenfalls nicht ausdrücklich vom Vorliegen bestimmter Sachgründe abhängig gemacht ist. Es liegt nahe, die inhaltlichen und formalen Anforderungen an Verschmelzungs- und Verschmelzungsprüfungsbericht hauptsächlich aus der Sicht der Minderheitsaktionäre der übertragenden Gesellschaft zu bestimmen, da Großaktionären auch andere Informationsmöglichkeiten nachgesagt werden und ohne ihre Zustimmung schließlich die Maßnahme nicht durchsetzbar ist. Gerade im Hinblick auf die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit einer Verschmelzung wird der Großaktionär der übertragenden Gesellschaft, wenn er die übernehmende Gesellschaft ist oder sie seinerseits beherrscht, ohnehin zumeist der Urheber des Verschmelzungsplans gewesen sein. Von daher versteht sich, daß nach einem Denkmodell, wie es auch von sonstigen strukturändernden Gesellschafterbeschlüssen bekannt ist, unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs in Mitgliedschaftsrechte außenstehender Aktionäre der übertragenden Gesellschaft gefordert wird, daß die Maßnahme unternehmerisch erforderlich ist und die mit ihrer Verwirklichung erstrebten Vorteile in einem angemessenen Verhältnis zu den Eingriffen in die Rechtsstellung der Minderheit stehen. Allerdings ist der Stand des wissenschaftlichen Schrifttums insoweit nicht eindeutig. a) Es gibt Stimmen, die die Übertragung der von der ganz herrschenden Meinung gebilligten Rechtssätze des BGH zu den Anforderungen an einen Bezugsrechtsausschluß23 - auch beim genehmigten Kapital - auf die zur Verschmelzung gefaßten Beschlüsse fordern, also bei hinlänglich intensivem Eingriff in Gesellschafterrechte eine sachliche Rechtfertigung für nötig halten24. Das geschieht teilweise im Rahmen allgemeiner Überlegungen zur Inhaltskontrolle von Mehrheitsbeschlüssen25, u. a. in Anwendung „rechtsethischer" Grundsätze, die ein Gegengewicht gegen eine formale Handhabung gesellschaftsrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten bilden sollen26. Allerdings soll die Rechtsprechung zum Bezugs-

23 B G H Z 71, 40 (Kali und Salz); 83, 319 (Philipp-Holzmann); im Schrifttum besonders Hirte, Bezugsrechtsausschluß und Konzernbildung, 1986, S. 20 ff; Timm, DB 1982, 211; KK-Lutter § 186 Rdn. 158 ff. 24 Becker, A G 1988, 223; Hirte, aaO (Fn.23), S. 148 f (sogar für den Zustimmungsbeschluß der übernehmenden Gesellschaft); a. M. aber Geßler/Hefermehl/Grunewald § 340 c Rdn. 16. 25 Geßler/Hefermehl/Hüffer §243 Rdn. 54, 55 (s. aber andererseits daselbst Rdn. 56); hinsichtlich der sachlichen Rechtfertigung in ihrem Verhältnis zum „Mißbrauch der Mehrheitsmacht" auch Scholz/Priester, Anh. Umwandlung Rdn. 11; anders insoweit Zöllner, Einl. KK Rdn. 55. 26 Wiedemann, ZGR 1980, 147, 157.

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rechtsausschluß auf den Verschmelzungsbeschluß nicht unbesehen übertragen werden, sondern nur auf schwere Eingriffe in die Mitgliedschaftsrechte27, zu denen bisweilen auch der Beherrschungsvertrag gerechnet wird28. Anzutreffen ist auch eine - aus der Sicht der Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft gezogene - Parallele zwischen dem Verschmelzungs- und einem Auflösungsbeschluß, wobei dann die sachliche Rechtfertigung des letzteren gefordert wird und die Gleichbehandlung des Verschmelzungsbeschlusses auf der Hand liegt29. Dies alles erweckt den Eindruck, als müsse doch aus den konkreten Sachinformationen, die der Verschmelzungsbericht den Aktionären an die Hand geben muß, ein Überwiegen der sachlichen Gründe für die Verschmelzung ersichtlich sein, damit die Aktionäre sich ein Urteil über die Plausibilität des auf eine Verschmelzung gerichteten Vorschlags bilden können (soeben unter 1.). Da Beschlüsse gefaßt, aber nicht begründet werden, die Gesellschaftermehrheit abstimmt, aber nicht ihre Motive formuliert - schon gar nicht schriftlich - , könnte dies nur heißen, daß aus dem Bericht des Vorstandes selber ein objektivierbarer Schluß auf die sachliche Rechtfertigung der Maßnahme muß abgeleitet werden können, allenfalls noch aus Protokollnotizen darüber, ob Aktionäre, die zu den betreffenden Tagesordnungspunkten Fragen gestellt haben, diese Fragen für befriedigend beantwortet erklärt haben. Dabei kann der Horizont des Objektiven nichts anderes sein als die gerichtliche Uberprüfung. Es erscheint zweifelhaft, ob dies wirklich sachgerecht ist, und das angeführte Schrifttum läßt nicht immer erkennen, ob es bereit ist, mit dem Ziel des Kampfes gegen „Mißbrauch der Mehrheitsmacht" oder einen „unternehmerischen Freiraum der Mehrheit" in jedem der hier zum Vergleich herangezogenen Fälle eine richterlich kontrollierbare sachliche Rechtfertigung der Mehrheitsentscheidung zu verlangen. Man könnte die sehr weit vorangetriebenen Bemühungen der h. M. um Ausführlichkeit und Konkretheit der Berichterstattung über alle wirtschaftlichen und rechtlichen Aspekte einer Verschmelzung im Gegenteil auch dahin verstehen, daß grundsätzlich die Unterlagen es dem Aktionär ermöglichen sollen, nun aber auch eigenverantwortlich d.h.: ohne Notwendigkeit einer Begründung oder einer Offenlegung

27 Brandes, WM 1984, 289, 296 f; da dabei auch ein möglicher Verlust von Sperrminoritäten als schwerer Verlust angesehen wird (aaO S.297), könnte man auch die Verschmelzungsbeschlüsse bei der übertragenden und der aufnehmenden Gesellschaft hierher zählen. 28 Martens, FS für Fischer, 1979, S.437, 446. 29 Martens, G m b H R 1984, 265, 270; s. aber andererseits Geßler/Hefermehl/Hüffer §243 Rdn.56.

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seiner Kriterien - über die vorgeschlagene Maßnahme zu entscheiden und diese Entscheidung nicht paralysiert oder kassiert zu sehen, weil die Schlußfolgerungen der überstimmten Gesellschafter besser gerechtfertigt seien. Dies geht in die Richtung einer Legitimation des Beschlußergebnisses durch das zu seiner Gewinnung eingehaltene Aufklärungs- und Informationsverfahren. Das ist ein aus der Diskussion um den Einbau der Mitbestimmung in die Gesellschaftsorgane vielleicht noch erinnerlicher Gedanke 30 , der im Verhältnis von Mehrheit und Minderheit nicht ebenso passen mag, aber immerhin eine Begründung dafür ermöglicht, warum es sein könnte, daß eine inhaltliche Nachprüfung eines Verschmelzungsbeschlusses auf Zweckmäßigkeit bei ausreichender Berichterstattung über die relevanten Tatsachen nicht mehr stattzufinden braucht. b) Im Schrifttum werden mit starkem Gewicht Versuche unternommen, hinsichtlich der Pflicht der Mehrheit zur inhaltlichen Begründung ihrer Entscheidung durch sachliche Überlegungen, die auf eine Interessenabwägung und eine richtige Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes31 schließen lassen, nicht einfach nur nach der Schwere des Eingriffs in Mitgliedschaftsrechte differenzieren zu müssen, sondern von der jeweils angewendeten Gesetzesbestimmung ausgehende Maßstäbe zugrundezulegen. Ein erster Ansatzpunkt für eine solche Betrachtungsweise ergibt sich, wenn man davon ausgeht, daß manche Entscheidungen, die das Gesetz bei Vorliegen bestimmter Mehrheiten gestattet, schon deshalb nicht von im Unternehmensinteresse liegenden Sachgründen unterstützt sein können, weil sie der gemeinschaftlichen Zweckverfolgung ein Ende bereiten wollen. Dies wird für den Auflösungsbeschluß angenommen, ist allerdings streitig 32 . Die auf dem ersten Blick naheliegende Folge, daß der Auflösungsbeschluß und die mit ihm eingeleitete Deinvestition des Kapitals durch den Anteilseigner nach freiem Ermessen möglich sei, wird allerdings heute insofern nicht gezogen, als gerade bei der Regelung der Folgen eines Auflösungsbeschlusses im wichtigen Linotype-Urteil des B G H die Treupflicht der Mehrheit gegenüber den Belangen der Minderheit - nicht am Fortbestand des gesellschaftlichen Engagements, aber doch an einer vorteilhaften Abwicklung der aufgelösten Gesell-

30 Hier nur H.P. Westermann, ZGR 1977, 219, 235 im Hinblick auf diese Bestimmung des MitbestimmungsG als „Prozeßgesetz" ohne materielle Zielkonzeption. 31 Uber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Zivilrecht zuletzt eingehend Medicus, AcP 192 (1992), 35 ff.

32

Lutter, ZGR 1981, 171, 177; s. auch Timm, JZ 1980, 665; a.M. Martens,

1984, 265, 270.

GmbHR

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schaft - erstmals höchstrichterlich anerkannt wurde33. Auch insoweit blieb am Ende der Angriff auf das Verhalten des Mehrheitsaktionärs und der Verwaltung freilich erfolglos34; das Ergebnis ist also jedenfalls, daß die Freiheit einer qualifizierten Mehrheit erhalten bleibt, ihr Engagement zu beenden und ihr Kapital alternativ einzusetzen35. Man wird allerdings zweifeln, ob dies für einen Verschmelzungsbeschluß aus der Sicht der außenstehenden Aktionäre der übertragenden Gesellschaft auch gesagt werden kann, da sie doch - so wenig wie die Gesellschaftermehrheit-ihr Kapital nicht abziehen können, sondern vielmehr hinnehmen müssen, an der neuen Gesellschaft beteiligt zu werden36. Wie im Fall der Auflösung kann jedoch bei der Verschmelzung nicht ein Unternehmens- oder Gesellschaftsinteresse als Maßstab herangezogen werden, weil die übertragende Gesellschaft untergeht und an der aufnehmenden gerade keine gemeinsame Beteiligung bestand. Daher läßt sich am Ende doch eine Parallele zum Linotype-Fall erkennen. Sie besteht darin, daß in die unternehmerische Entscheidung, ein gesellschaftliches Engagement zu beenden, nicht durch das Erfordernis einer sachlichen Begründung eingegriffen wird, daß zugleich aber bei der Abwicklung der gemeinsamen Anlage die Interessen der Minderheitsgesellschafter der übertragenden Gesellschaft nicht vernachlässigt werden dürfen. Die den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildende Beobachtung, daß das Gesetz selber Hinweise bezüglich der Voraussetzungen einer Strukturmaßnahme geben, die Maßstäbe ihrer Beurteilung determinieren und damit der Mehrheit einen Begründungszwang ersparen kann37, läßt sich an dieser Stelle mit Blick auf die Verschmelzungsbeschlüsse noch etwas weiterführen. Im Schrifttum ist darauf aufmerksam gemacht worden38, daß die Angemessenheit des Umtauschverhältnisses, also in der Denkweise des Linotype-Falles die Regelung der Folgen der von der Minderheit nicht gewollten Veränderung ihres wirtschaftlichen Engagements, bei der Verschmelzung in ein besonderes Verfahren verlagert ist, nämlich das Spruchstellenverfahren gem. §352c AktG, zu dem die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft, die ja ihr Engagement

33 BGHZ 103, 184 mit Anm. Wiedemann, JZ 1989, 447 sowie Timm, NJW 1988, 1582; der Gedanke der Treupflicht des Aktionärs ist noch ausgebaut durch Lutter, ZHR 153 (1989), S. 446, 453 ff; s. auch Hüffer, Festschrift für Steindorff, 1990, S.59, 68 ff. 34 S. das zweite Berufungsurteil des OLG Frankfurt ZIP 1991, 657. 35 Lutter, in: 25 Jahre AktG, 1991, S.53, 57. 36 Einwand von Möller, aaO (Fn.4), S. 91 f. 37 Lutter, ZGR 1981, 176. Das Urteil BGHZ 71, 40, 45 weist in diesem Zusammenhang etwa auf die Einführung eines Höchststimmrechts gem. § 134 Abs. 1 S. 2 AktG hin (s. auch Brandes, WM 1984, 289, 296 f); ob die Parallele allerdings verfängt, kann angesichts der lebhaften neueren Diskussion um diese Strukturmaßnahme hier nicht geklärt werden. 38 Zum folgenden Mertens, aaO (Fn.4), S.23f; s. auch Timm, JZ 1980, 656, 668.

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fortsetzen, bezeichnenderweise keinen Zugang haben. Ein Grund, in das allgemeine Anfechtungsverfahren wegen der Konditionen des Umtauschs einzutreten, besteht daher außerhalb des für eine Übermaßkontrolle ausreichenden Klagegrundes nach §243 Abs. 2 A k t G nicht. Man kann somit von einer speziellen gesetzlichen Regelung des Interessenkonflikts zwischen den Gesellschaftern der übertragenden Gesellschaft ausgehen. Sie geht dahin, daß die Entscheidung über das O b und das Wie der Verlagerung der Investition aufgrund der vorgeschriebenen Informationen von der Hauptversammlung mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden kann. D i e überstimmten Aktionäre werden, soweit nicht ein Fall des Strebens nach gesellschaftsfremden Sondervorteilen vorliegt, auf das Verfahren nach § 352 c A k t G , das ihre Vermögensinteressen voll wahrt, verwiesen. Diese Regelung ist mit dem vereinbar, was man die „Linotyperule" nennen könnte. Ähnliche Entscheidungen des Gesetzes sind im Rahmen der § § 9 , 12, 30 ff U m w G , 319, 320 A k t G zu sehen 39 .

c) Einwände gegen diese Sichtweise, die praktisch auf eine differenzierende und abschließende Festlegung des Verfahrens der Interessenabwägung zwischen Mehrheit und Minderheit durch das Gesetz hinausläuft, könnten sich aus einem vergleichenden Blick auf die Schwere der jeweiligen Eingriffe in Mitgliedschaftsrechte ergeben. So ist es nicht ganz von der H a n d zu weisen, daß die Instrumente einerseits der Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluß, verbunden mit der Einbringung eines Unternehmens als Sacheinlage, und andererseits der Verschmelzung in manchem ähnlich wirken können 4 0 . D i e Dinge liegen aber gerade in rechtlichef 1 Hinsicht und besonders bezüglich der Rechtsfolgen keineswegs gleich, wie schon ein Blick auf die Risiken der Sachkapitalerhöhung zeigt. Wieder anders, wenn durch die Verschmelzung die Aktionäre der übertragenden bisher nicht konzernverbundenen Gesellschaft im Rahmen der übernehmenden Gesellschaft in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem Dritten geführt werden. Denn damit gewönne die Konzernspitze ohne die gewöhnlichen Folgen eines Unternehmensvertrages (§§302 ff, besonders § 3 0 4 A k t G ) gewissermaßen ein Glied hinzu. Dies dürfte der G r u n d dafür sein, weshalb auch Autoren, die an sich das Erfordernis einer sachlichen Rechtfertigung des Verschmelzungsbeschlusses ablehnen, eine Ausnahme machen, soweit eine bislang unabhängige A G auf eine abhängige verschmolzen wird 4 1 .

« Lutter, aaO (Fn.38), S. 180 f; zust. Geßler/HefermehUGrunewald « Timm, 41

Z G R 1987, 403, 417; ebenso schon Hirte,

Geßler/Hefermehl/Grunewald,

aaO (Fn.24).

§ 340 c Rdn. 16.

aaO (Fn. 13), Rdn. 16 im Anschluß an

Z G R 1981, 71, 180 f (dort nicht völlig eindeutig); Timm,

Z G R 1987, 403, 428.

Lütter,

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Gegen die vom Gesetz ausgehenden Überlegungen könnte weiter geltend gemacht werden, auch bei Maßnahmen wie dem Bezugsrechtsausschluß habe sich die Rechtsprechung trotz der lediglich auf formale Voraussetzungen abhebenden gesetzlichen Regelung nun einmal nicht davon abhalten lassen, eine sachliche Begründung des Mehrheitsentscheids zu fordern. Es kommt hinzu, daß die immer wieder auftretenden Bestrebungen, in Übertragung einer - übrigens wohl überholten Vorstellung des Verwaltungsrechts der Gesellschaft oder der Unternehmensleitung einen „Beurteilungsspielraum" einzuräumen 42 , mit Argwohn und Vorbehalten aufgenommen werden. Häufig wird hier lieber ein Verfließen der Grenzen zwischen der im Grunde unstreitigen Übermaßkontrolle und der als bedenklich erkannten Prüfung einer sachlichen Rechtfertigung als die Einräumung einer Kontrollfreiheit einer Mehrheitsentscheidung zugestanden. Auf der anderen Seite muß gefragt werden, ob wirklich die Verschärfung und Verfeinerung von Kontrollmaßstäben, nachdem die Prüfung der Zulänglichkeit der durch Verschmelzungsbericht und Verschmelzungsprüfungsbericht gegebenen Informationen voll durchgesetzt ist, noch viel an Minderheiten- und Individualschutz bringt. Es könnte nämlich ein im Grunde richtiger Weg gewesen sein, durch scharfe, aber am Ende nicht unerfüllbare Anforderungen an die Berichterstattung 43 den Aktionären und einem mit dem Beschluß befaßten Gericht die Informationen zu vermitteln, die es gestatten, eine effektive Mißbrauchskontrolle gegenüber Mehrheitsbeschlüssen zu betreiben. Wenn dem abgestuften System der Berichte und der Kontrollinstrumente im Verschmelzungsrecht die Vorstellung des Gesetzgebers entnommen werden kann, die Durchführung von Verschmelzungsmaßnahmen nicht ohne N o t von Urteilen auf unsicherer Grundlage abhängig zu machen44, so ist der Verzicht auf das Erfordernis einer „sachlichen Rechtfertigung" der betreffenden Hauptversammlungsbeschlüsse angezeigt. 3. Zur Vorzugswürdigkeit eines „milderen Mittels" Im Rahmen einer Übermaßkontrolle, aber auch bei Prüfung des Vorliegens sachlicher Gründe, könnte die Frage auftreten, ob von der Gesellschaftermehrheit statt der angegriffenen unternehmensstrukturellen Maßnahme nicht ein „schonenderes" oder ein „milderes" Mittel hätte eingesetzt werden können.

42

Möller, aaO (Fn.4), S. 101. Zu dieser Einschätzung s. den Rechtsprechungsbericht von H.P. Biesinger, aaO (Fn. 1), S. 15. 44 So verstehe ich die Ausführungen von Mertens, aaO (Fn. 4), S. 24. 43

Westermann /

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a) Aus der Sicht der außenstehenden Aktionäre der übertragenden Gesellschaft kann sich unter diesem Aspekt etwa die Frage stellen, ob nicht an die Stelle der Verschmelzung der Abschluß eines Beherrschungsvertrages gesetzt werden kann, was zur Folge haben würde, daß die herrschende Gesellschaft gemäß §304 AktG einen Ausgleich und gem. §305 AktG nach Wahl des Aktionärs eine Abfindung schuldet. Ohne die Folgen eines Beherrschungsvertrages, insbesondere die Möglichkeit einer abfindungsweisen Gewährung von Aktien zu erörtern45, kann man sagen, daß insbesondere die Alternativen von festem und variablem Ausgleich, im letzteren Zusammenhang die Berechnung des „Gewinnanteils" i. S. des §304 Abs. 2 S. 2 AktG, die Abfindung gem. §305 AktG in Aktien oder Geld sehr in den Vordergrund des Interesses haben rücken lassen. Vielfach wird die Abfindung als Ausgleich für den Verlust von Mitverwaltungsrechten und für die Schwächen vor allem des variablen Ausgleichs verstanden. Andererseits gibt das Gesetz einen solchen Abfindungsanspruch nicht etwa, wie zumindest in der Tendenz das US-amerikanische Recht, bei Vorliegen eines von der Mehrheit durchgesetzten „fundamental corporate change", sondern knüpft ihn an den Abschluß eines Beherrschungsvertrages, den die außenstehenden Aktionäre nicht erzwingen können46. Käme man dahin, den Abschluß eines Beherrschungsvertrages gegenüber einer Verschmelzung, etwa durch Kennzeichnung der ersteren Maßnahme als eines „milderen Mittels", im Zuge der Erwägungen über eine sachliche Rechtfertigung der Verschmelzung als objektiv vorzugswürdig anzusehen, mit der weiteren Folge, daß auch im Zuge einer Anfechtungsklage das Gericht eine dennoch beschlossene Verschmelzung als rechtswidrig ansehen könnte, so würde auf diesem - zugegeben verschlungenen - Wege doch die Pflicht zur Abfindung der außenstehenden Aktionäre durchgesetzt. Es ergäbe sich dann dasselbe Ergebnis, wie wenn doch ein Beherrschungsvertrag geschlossen worden wäre. Damit würde die Anwendung des Grundsatzes des „milderen Mittels" dem gesetzlichen Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten der Mehrheit und Verteidigungsmöglichkeiten der Minderheit eine jedenfalls vom Gesetz nicht gewollte hinzufügen. Bereits dies spricht gegen eine solche Handhabung. b) Der Grundsatz des „mildesten Mittels", der im Hinblick auf die Prüfung eines Verschmelzungsbeschlusses im Schrifttum in der Tat,

45 Überblick bei Emmerich/Sonnenschein, Konzernrecht, 4. Aufl. 1992, §17 113; KK-Koppensteiner §304 R d n . 4 2 f f . 44 Zur Bewertung dieses Zustandes s. die Betrachtungen von Kühler, Festschrift für Goerdeler, 1987, S.279, 283 f.

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wenn auch nur knapp, erwähnt worden ist 47 , hat einen Niederschlag im Gesellschaftsrecht bisher vor allem bei den Gestaltungsklagen im Personengesellschaftsrecht gefunden. Es geht dabei im Kern darum, bei der klageweisen, aus der Sicht des Beklagten also zwangsweisen Umgestaltung des Gesellschaftsverhältnisses diejenige Neugestaltung zu wählen (und einzuklagen), die für den Beklagten am ehesten erträglich ist 48 . Praktisch ist etwa eine Ausschließung aus O H G oder K G angeblich erst zu erwägen, wenn eine Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis zur Aufrechterhaltung der Zusammenarbeit der Gesellschafter unter zumutbaren Bedingungen nicht mehr ausreicht 49 . Bei der Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis wird erwogen, ob nicht auch die Einräumung von Gesamtgeschäftsführung oder anderer verstärkter Mitwirkungsrechte genügt. Die Ausschließung eines persönlich haftenden Gesellschafters wäre gegebenenfalls im Vergleich zum Wechsel in eine Kommanditistenstellung zu würdigen 50 . Die Komplexität der Fälle zeigt aber deutlich, daß ein Stufenverhältnis der Gestaltungsmöglichkeiten sich in Wahrheit nicht herstellen läßt. Wer als persönlich haftender und mit Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis ausgestatteter Gesellschafter nicht mehr geduldet wird, wird sich vielleicht lieber ausschließen und abfinden lassen, statt als ein von der Geschäftsführung ausgeschlossener Gesellschafter die persönliche Haftung weiterhin zu tragen. Ein persönlich haftender Gesellschafter, dem eine Tätigkeits- und eine Haftungsvergütung zugesagt wird, wird vielleicht lieber über eine Neuinvestition seines Kapitals nachdenken wollen als künftig in der bisherigen Gesellschaft Kommanditist zu sein. In dieser Lesart kann der Grundsatz des milderen Mittels im Fall der Verschmelzung von Aktiengesellschaften nicht rechtlich relevant werden. Es dürfte unmöglich sein, zwischen den verschiedenen Formen und Kombinationen von Unternehmensverträgen, der Eingliederung, der Umwandlung, der Spaltung und der Übertragung der nicht betriebsnotwendigen Güter auf eine Vermögensverwaltungs-GmbH der bisherigen Aktionäre, der Auflösung gem. § 119 Abs. 1 N r . 8 A k t G und schließlich der Verschmelzung ein Stufenverhältnis in der Weise herzustellen, daß im Einzelfall jeweils ersichtlich ist, welche Strukturmaßnahme die für die Widersprechenden „mildere" ist. Das scheitert im Fall des Verschmel-

47 Möller, aaO (Fn. 4), S. 101; als „schonendstes Mittel" unter gleichzeitiger Bezugnahme auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch bei KK-Zöllner Einl. Rdn. 55. 48 Zum folgenden H. P. 'Westermann / Klingberg, Handbuch der Personengesellschaft, I, Rdn. 330 m. N . « B G H Z 4, 108, 111; 51, 198; B G H DB 1975, 1886; Sandrock, J Z 1968, 323, 328; Großk. HGB-Fischer § 117 Anm. 7 c; Schlegelberger/Geßler § 117 Rdn. 3. 50 B G H WM 1971, 20.

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zungsvertrages schon daran, daß es nicht anginge, die Entscheidung allein aus der Sicht der außenstehenden Aktionäre der übertragenden Gesellschaft zu sehen. Auch bliebe zu differenzieren, ob beim Beherrschungsvertrag ein fester oder ein variabler Ausgleich gewährt wird (die Freiheit hierzu könnte nicht gut durch Richterspruch beschränkt werden), ob das herrschende Unternehmen AG oder GmbH mit Sitz im Inoder Ausland ist und dergl. - alles Umstände, die das Anspruchsgeflecht nach den §§ 304 ff beeinflussen. In die Wertung, welches Mittel „milder" wirkt, müßten wenn schon nicht die Interessen der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft, so doch die der fortbestehenden oder untergehenden Gesellschaften miteinbezogen werden51: Bei der Verschmelzung könnten der übernehmenden Gesellschaft durch den Umtausch eigene Aktien zufallen; ein Beherrschungsvertrag kann u. U. gekündigt werden; nach einer Verschmelzung könnte die Möglichkeit, frühere Abschlüsse der untergegangenen Gesellschaft mit steuerlicher Wirkung zu ändern, bestritten werden. Bezieht man in eine derartige Kette einerseits die anderen Unternehmensverträge ein, andererseits die Eingliederung, so wird sich i. d. R. eine solche Fülle von Alternativen ergeben, daß es auf die von Fall zu Fall (auch individuell) verschiedene Präferenz des Betrachters ankommt, welche „günstiger" oder „milder" wirkt. Die Abstufung kann nicht einmal allein aus der betriebswirtschaftlichen Sicht der Gesellschaft beurteilt werden52, weil bei einem Beherrschungsvertrag mehrere selbständige Gesellschaften verbleiben, die eines Tages auch wirtschaftlich wieder eigene Wege gehen könnten und in den Stand versetzt werden müssen, dies auch zu tun, woran auch ihre außenstehenden Gesellschafter ein vitales Interesse haben. Schließlich bleibt zu bedenken, daß im wesentlichen nur im theoretischen Modell die Wahl besteht zwischen dem Abschluß eines Beherrschungsvertrages zwischen zwei bisher unabhängigen Gesellschaften und ihrer Verschmelzung. In der Praxis wird in beiden Fällen häufig eine maßgebliche Beteiligung des einen (des künftig herrschenden oder aufnehmenden) am Kapital des anderen Unternehmens existieren, und ebenso häufig werden 51

Zum folgenden s. auch die Überlegungen von Hohner, DB 1973, 1487 zum Verhältnis von Beherrschungsvertrag und Verschmelzung, die allerdings die Frage prüfen, ob und mit welchen Folgen während eines bestehenden Beherrschungsvertrages oder eines laufenden Abfindungsangebots die herrschende oder die abhängige Gesellschaft verschmolzen werden können. 52 So aber wohl Möller, aaO (Fn. 4), S. 101, der dann einen „Beurteilungsspielraum" der Gesellschaft anerkennen will, aber gleichwohl verlangt, daß eine vor dem Gesellschaftsinteresse gleichwertige Alternativmaßnahme darauf geprüft wird, ob die mit ihr verbundenen Belastungen „für die Minderheitsaktionäre geringer sind als bei Durchführung der Verschmelzung".

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beide ihrerseits in Konzernverbindungen stehen, die durch eine Verschmelzung anders beeinflußt werden als durch den Abschluß eines Beherrschungsvertrages 5 3 . Im Ergebnis kann unter diesen Umständen nicht angenommen werden, daß ein Mehrheitsbeschluß, durch den für eine Verschmelzung entschieden wird, als materielles Rechtmäßigkeitselement voraussetzt, daß ein Beherrschungsvertrag für die außenstehenden Aktionäre der übertragenden Gesellschaft „milder" oder „schonender" wirken würde als die Verschmelzung. Eine andere Frage ist, inwieweit Überlegungen der hier skizzierten Art im Verschmelzungsbericht im Hinblick auf die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit (dazu oben 1) angesprochen werden müssen. Aber i. d. R . wird der Verschmelzungsbericht eingehende Erörterungen zu den von den Vorständen der beteiligten Gesellschaften erhofften Synergieeffekten der geplanten Maßnahme enthalten, und es liegt auf der H a n d , daß hierbei die prognostizierten Entwicklungen von Produktion, Absatz, Finanzierung und Kosten beider beteiligten Gesellschaften (bzw. Gesellschaftsgruppen) zur Sprache kommen müssen. Dann aber ist es demjenigen, der eine von den genannten zahlreichen anderen Alternativen erwägt, unbenommen, die Vorteile der Verschmelzung gegen die aus seiner Sicht entstehenden Vorteile einer anderen Maßnahme zu halten und gegebenenfalls in der Hauptversammlung entsprechende Auskunft zu verlangen 54 . Inwieweit dann der Vorstand erschöpfend zu den Alternativen Stellung nehmen muß und im konkreten Fall genommen hat, ist eine Frage des Auskunftsrechts (mit gegebenenfalls - mittelbaren Folgen für die Wirksamkeit des Beschlusses), nicht aber der rechtlichen Gültigkeit der Mehrheitsentscheidung.

c) Im Kapitalgesellschaftsrecht hat der Grundsatz der „schonenden Rechtsausübung" mehr die Funktion einer generellen Schranke der Mehrheitsmacht, der auch mit anderen ausfüllungsbedürftigen Begriffen wie dem G e b o t des „civiliter uti" 5 5 oder mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip umschrieben werden kann. Im Kontext des Gesellschaftsrechts soll die schonende Rechtsausübung einem Gegner zuteil werden, dem „weniger hart treffende Maßnahmen" zugestanden werden müssen, wenn sich das berechtigte Ziel auch auf jene Weise erreichen läßt 56 . Dabei wird die Gegnerschaft (von Mehrheit und Minderheit) erkennbar Auch dazu Hohner, aaO (Fn. 53), S. 1488 f. So ist in der Hauptversammlung der übertragenden Gesellschaft in dem oben Fn. 7 genannten Fall auch verfahren worden. 55 So Meier-Hayoz/Zweifel, aaO (Fn. 9), S. 390 ff; s. auch Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 352 ff. * B G H Z 4, 110 f zur Übernahmeklage gem. § 142 H G B . 53

54

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auf die Konfrontation in einer Gesellschaft bezogen, so daß klar ist, daß das durch den Mehrheitsbeschluß angestrebte Ziel im Interesse dieser Gesellschaft liegt57 und auch bei Anwendung des „schonenderen Mittels" erreichbar ist. Bei der Verschmelzung kann - das wurde schon oben gesagt - der Bezugspunkt, auf den sich die „Gegner" verständigen müssen, nicht die übertragende Gesellschaft sein, deren Existenz zu beenden zu den berechtigten Zielen der für eine Verschmelzung eintretenden Aktionäre gehören kann, auch nicht die aus der Sicht der Mehrheitsaktionäre der übertragenden Gesellschaft vorteilhafteste Form der Liquidation ihres Engagements an der untergegangenen Gesellschaft. Daß und wie der Interessenausgleich im einzelnen erfolgt, ist außerhalb der Voraussetzungen des §243 Abs. 2 AktG gerade nicht ein Rechtmäßigkeitserfordernis des Verschmelzungsbeschlusses als solchem, solange der Vertrag, dem zugestimmt wird, den Anforderungen des §340 Abs. 2 AktG genügt. Auf dem Wege über den Grundsatz der schonenden Rechtsausübung zu einem Mißbrauch der Mehrheitsmacht beim Verschmelzungsbeschluß zu gelangen, wird daher nur möglich sein, wenn die Folgen der Verschmelzung für die Minderheit in einem außerhalb des Umtauschverhältnisses liegenden Punkt ungleich nachteilig sind. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in den Prüfungsmaßstäben der Mißbräuchlichkeit und des Gebots schonender Rechtsausübung enthalten, so daß seine Anwendung keine anderen Ergebnisse erwarten läßt, soweit es nicht um die Einwirkungen staatlicher Gewalt auf privatrechtliche Rechtsverhältnisse geht, die von hier aus besonders beurteilt werden können58. Man muß auch sehen, daß im Rahmen genauer gesetzlicher Bestimmungen über Voraussetzungen und Folgen von Ereignissen meist schon der Gesetzgeber durch seine Differenzierungen zum Ausdruck bringt, was „verhältnismäßig" ist59. Dies dürfte im Hinblick auf die Voraussetzungen und Folgen unternehmensstruktureller Maßnahmen der Hauptversammlung einer AG im deutschen AktG in besonderem Maße der Fall sein, so daß es sich verbietet, das genau austarierte Gewicht durch das Instrument einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu überwinden. III. Die Zweckmäßigkeitsprüfung im Anfechtungsverfahren Es liegt auf der Hand, daß die im vorigen zu den materiellen Rechtmäßigkeitserfordernissen eines Verschmelzungsbeschlusses vorgetragenen Erwägungen von Anfang an auch der Frage der Justiziabilität der 57 58 59

So auch Meier-Hayoz/Zweifel, aaO (Fn. 9), S. 393. Dazu Medicus, aaO (Fn.31), S . 4 4 f f . Medicus, aaO (Fn.31), S.37 in bezug auf die Haftungsordnung.

Zweckmäßigkeit der Verschmelzung

667

Entscheidung galten. Daher genügt es zur Abrundung dieser Betrachtung, im folgenden noch kurz aufzuzeigen, daß die Gegebenheiten der hier vorgesehenen gerichtlichen Verfahren einer Ausweitung der materiellen Voraussetzungen zuwiderlaufen.

1. Zu den Verhältnissen im gerichtlichen

Erkenntnisverfahren

Es wird schon generell bezweifelt, ob der Richter überhaupt entscheiden kann, ob die Verschmelzung verhältnismäßig oder sachdienlich ist60. Bekanntlich besteht zur Zeit eine generelle Tendenz, die Gefahren langwieriger gerichtlicher Prüfung der Rechtmäßigkeit strukturändernder Hauptversammlungsbeschlüsse auf der Grundlage mehr oder weniger indeterminierter Begriffe durch die Abkopplung des Rechtsstreits von der Prüfung der reinen Geltungsvoraussetzungen abzuschwächen, was konkret durch die Zuweisung weiterer Streitpunkte zu Spruchstellenverfahren geschehen könnte61. Auch bei der Prüfung von Verschmelzungsbeschlüssen wird aus der Verlagerung der Untersuchung des Umtauschverhältnisses in das Spruchstellenverfahren geschlossen, der Gesetzgeber habe gesehen und vermeiden wollen, daß die im Ergebnis immer einigermaßen unsichere Prüfung der Werte zweier Unternehmen die bei einer Maßnahme dieser Tragweite vordringliche Rechtssicherheit gefährdet62. Das spricht dafür, auch im verbleibenden Bereich einer Ubermaßkontrolle unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit der Verschmelzung und/oder der unverhältnismäßigen Benachteiligung der Belange der außenstehenden Aktionäre der übertragenden Gesellschaft die Justiziabilität der Akte davon abhängig zu machen, daß ein schwerwiegender Mißbrauch geltend gemacht werden kann. Ein Angriff auf die Richtigkeit des Verschmelzungsbeschlusses unter dem Gesichtspunkt, daß der Abschluß eines Beherrschungsvertrages dieselben wirtschaftlichen Effekte hätte erreichen können, der überstimmten Minderheit aber geringere Opfer zugemutet hätte, gehört nach den soeben behandelten materiellrechtlichen Bedenken gegen eine diesbezügliche Heranziehung des Gebots der Anwendung des „milderen Mitels", des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und überhaupt angesichts der Einwände gegen eine Abhängigkeit der Verschmelzung vom Vorliegen „sachlicher Gründe" nicht hierher. Deutliche Zurückhaltung in bezug auf die gerichtliche Durchsetzung eines „milderen Mittels" begegnet auch im Personengesellschaftsrecht (zur materiellrechtlichen Seite oben 12 b). Soweit es sich um die Organiw Geßler/Hefermehl/Grunewald §340c Rdn. 17. " Nachw. und Diskussion bei H. P. Westermann, aaO (Fn. 5), S. 225 ff. 62 Mertens, aaO (Fn.4), S.21, 23.

668

Harm Peter Westermann

sation des Innenverhältnisses der Gesellschaft handelt, kann das Gericht nicht ohne weiteres sein Ermessen an die Stelle der verantwortlichen Entscheidung der Beteiligten setzen63, was jedenfalls dann geschähe, wenn eine vom Gesetz vorgesehene Gestaltungsklage durch eine vom Gericht für geeignet gehaltene Modifikation des Gesellschaftsverhältnisses ersetzt würde. Z. T. begegnet man dem im Prozeß mit der Befugnis des Gerichts, auf entsprechende Hilfsanträge der Parteien hinzuwirken64, doch bleibt es bedenklich, wenn das Gericht das Verhalten einer Partei, die sich weigert, auf einen das Gesellschaftsverhältnis gründlich umgestaltenden Vergleichsvorschlag einzugehen, als Umstand bei der Prüfung der Zumutbarkeit des Verbleibens eines Gesellschafters in der Gesellschaft (§ 140 HGB) mitberücksichtigt 65 . Selbst wenn man also der Ansicht folgen will, daß die Mehrheit beim Verschmelzungsbeschluß materiellrechtlich einen sachlichen Grund auf ihrer Seite haben muß, so ist dennoch das Gericht gehalten, sich bei der Konkretisierung seiner Anforderungen an diese Motivation und an ihre Darlegung im Verschmelzungsbericht große Zurückhaltung aufzuerlegen und die Notwendigkeit einer verantwortlichen unternehmerischen Entscheidung zu beachten, die im Kern nicht von der Beurteilung rechtlicher Fragen abhängt. 2. Zum

Eintragungsverfahren

Das zuletzt viel erörterte Problem, wie das Registergericht zu verfahren hat, wenn ein Vorstand bei der Anmeldung der Verschmelzung die in § 355 Abs. 2 AktG geforderte Negativerklärung nicht abgeben kann, weil eine Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage anhängig ist, braucht nicht in voller Breite erörtert zu werden, da insoweit die Rechtslage bei der Verschmelzung nur einige Besonderheiten aufweist. Der Umstand, daß die Negativerklärung hier - im Gegensatz zu anderen Fällen einer mit konstitutiver Wirkung ausgestatteten Registereintragung - ausdrücklich im Gesetz vorgeschrieben ist, begründet keine Sonderbehandlung der Verschmelzung. Denn in jedem Fall geht es darum, daß der Registerrichter die Gelegenheit haben soll, Bedenken gegenüber der materiellen Wirksamkeit der Rechtsänderung vor der Eintragung zu prüfen, damit verhindert werden kann, daß die Verschmelzung eingetragen wird und später nur unter großen Schwierigkei-

« S. dazu Pabst, BB 1978, 895; H.P. Westermann / Klingberg, aaO (Fn.48), Rdn. 330. 64 Fischer, NJW 1959, 1057; Lukes, JR 1960, 41. 65 Gegen BGHZ 18, 350, 363 daher Reinhardt, JZ 1956, 251; Bötticher, MDR 1957, 345; H.P. Westermann/Klingberg, aaO (Fn.48), Rdn. 329.

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ten rückgängig gemacht werden kann66. Weder der RegE noch die später folgenden Ausschußberichte haben das gegenläufige Problem einer unbegründeten, die Eintragung und ihre Wirkungen u . U . jahrelang hinauszögernden Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage gesehen, sondern betonen lediglich, daß der Registerrichter hinsichtlich des Stichtags der der Anmeldung nach §345 Abs. 3 S. 4 AktG beizufügenden Bilanz keinen Ermessensspielraum habe67. Im Schrifttum wird freilich angenommen, die Eintragung dürfe nicht erfolgen, wenn eine Anfechtungsoder Nichtigkeitsklage erhoben ist68. Dies läßt sich nicht mit einer Qualifizierung der Negativerklärung als Wirksamkeitserfordernis der Anmeldung oder gar der Eintragung begründen; die Erklärung kann nachgereicht werden, und ohne sie ist die Anmeldung zwar unvollständig, aber nicht unwirksam69. Eine trotz erhobener Anfechtungsklage eingetragene Verschmelzung wird sachlich wirksam (bestandskräftig)70. Daher sprechen die besseren Gründe dafür, mit einer vordringenden Ansicht dem Registergericht die Prüfung zu gestatten, ob die Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage Aussicht auf Erfolg bietet, und bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit die Verschmelzung einzutragen71. Der B G H hat in diesem Sinne für eine gegen einen Verschmelzungsbeschluß gerichtete mißbräuchliche Anfechtungsklage entschieden72. Nun ist für den Registerrichter Mißbräuchlichkeit nicht schwerer oder leichter zu erkennen als eine offensichtliche Unbegründetheit unter dem Gesichtspunkt, daß mit der Klage in Gestalt der sachlichen Rechtfertigung des Mehrheitshandelns ein Wirksamkeitselement des angegriffenen Beschlusses eingefordert wird, das es so nicht gibt. Gleich steht auch der Fall, daß ein nicht justiziabler Punkt zum Gegenstand der Prüfung gemacht wird. Den Spielraum, dies zu prüfen, läßt § 127 F G G dem Registergericht allemal, da bei einer umfassenden Würdigung auch die

66 Begründung zum RegE zu §355, s. dazu Kropff, AktG 1965, S.459; zu den Schwierigkeiten der Entflechtung (im Hinblick auf den insoweit vergleichbaren Fall des §24 Abs. VI, Abs. VII GWB) Kerber, Die Unternehmensentflechtung nach dem GWB, 1987, S. 109 ff. 67 Kropff, aaO (Fn.66), S.460. 68 O L G Frankfun ZIP 1990, 509; Geßler/Hefermehl/Hüffer §243 Rdn. 135; Godin/Wilhelmi AktG §345 Anm. 3. " Geßler/Hefermehl/Grunewald, aaO (Rdn. 9); KK-Kraft §355 Rdn. 4. 70 KK-Kraft § 352 a Rdn. 16. 71 Baums, B B 1981, 262, 263; Hirte, B B 1988, 1476; Lüke, Z G R 1990, 657, 671 ff; KK-Kraft §345 Rdn. 6; Geßler/Hefermehl/Grunewald §345 Rdn. 7; Scholz/Priester Anh. Umwandlung §24 KapErhG Rdn. 6; Timm/Schick, D B 1990, 1221, 1223; so in der Rechtsprechung bereits L G Frankfurt WM 1990, 592, 593 f; s. auch O L G Hamm WM 1988, 943 f. 72 WM 1990, 1372, 1377; darüber gehen wohl auch die erläuternden Bemerkungen von Boujong, Festschrift für Kellermann, 1991, S. 1, 3 nicht hinaus.

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Nachteile für die Gesellschaft während des u. U. langdauernden Schwebezustandes zu bedenken sind. IV. Schlußbetrachtung Der Gesetzgeber des AktG hat nicht nur bei der Regelung der Verschmelzung, sondern auch bei „einfachen" Satzungsänderungen, Kapitalerhöhungen und weitergreifenden Strukturänderungen offenbar geglaubt, als Richtigkeitsgewähr nur ein hohes Quorum an positiven Stimmen in der Hauptversammlung vorsehen zu müssen, und die Inhaltskontrolle im übrigen nach allgemeinem Zivilrecht auf mißbräuchliches Handeln der Aktionärsmehrheit beschränken zu können. Dies Konzept hat sich schon vor dem Aufkommen des Mißbrauchsproblems als brüchig erwiesen, ohne daß die Erscheinung mißbräuchlicher Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklagen allein mit Machenschaften am Rande der Kriminalität erklärt werden könnte. Sie hängt vielmehr mit grundsätzlichen, auch und gerade gesellschaftspolitischen Meinungsverschiedenheiten über die Voraussetzungen kapitalistischen Wirtschaftens und über die Entscheidungsfindung nach Kapitalmehrheit zusammen 73 . Das bedeutet auf der anderen Seite, daß grundsätzlich über ein Gleichgewicht zwischen Mehrheitsherrschaft und Individualrechten nachzudenken ist und dabei die Notwendigkeiten einer nur begrenzt mit rechtlichen Kriterien erfaßbaren unternehmerischen Willensbildung bedacht werden müssen. Dies weist eine gewisse Verwandtschaft auf mit der eher auf Haftungsprobleme zugeschnittenen business-judgement-rule des US-amerikanischen Rechts74, indem es Grenzen der Rationalität unseres Fachs ins Blickfeld rückt. Derartige ein wenig spekulative Erwägungen in einer Festschrift zur Diskussion zu stellen, paßt zu dem in einem solchen Rahmen an den Autor gestellten Anspruch, ein wenig über den fachlichen Alltag hinauszublicken.

73

Näher H.P.

'Westermann, in: Lutter (Hrsg.), 25 Jahre Aktiengesetz, 1991, S. 79,

88 f. 74 Dazu vgl. etwa Trockels, A G 1990, 139; Frank/Moreland, R I W 1989, 761; Wiedemann, Organverantwortung und Gesellschafterklagen in der Aktiengesellschaft, 1989, S. 13; aus dem US-amerikanischen Schrifttum Clarkson/Miller/Jentz/Cross, West's Business Law, 5th ed. 1992, S. 794 u. 842.

IV. Unternehmensfuhrung und -organisation

Unfinished Business H O R S T ALBACH

A. Einleitung Johannes Semler vollendet sein 70. Lebensjahr. Will man dieses Ereignis zum Anlaß nehmen, die persönliche Verbundenheit mit dem Jubilar zum Ausdruck zu bringen, dann ist der handgeschriebene Brief das richtige Medium, nicht jedoch das gedruckte Wort. Festschriften sollen einem solchen Ereignis eine über die Person hinausreichende Bedeutung verleihen, das Exemplarische, sachlich Gültige betonen, an dem der Jubilar mitgewirkt hat und an dem noch viele Jahre mitwirken zu können man ihm wünscht. Wenn die Verbundenheit mit dem Jubilar auf der gemeinsamen Arbeit an Sachproblemen beruht, sollte es nicht schwerfallen, dem Jubilar eine Freude zu machen und einer breiteren Öffentlichkeit Stoff zum Nachdenken zu geben. Wenn es sich bei den Sachproblemen aber um die gemeinsame Arbeit von Aufsichtsrat und Vorstand handelt, dann mag das Allgemeingültige sich nicht leicht erschließen. Ich überlasse es dem Leser zu entscheiden, ob es sich bei dem Problem, das ich im folgenden behandeln möchte, um etwas Exemplarisches oder um etwas sehr Persönliches handelt. Aus der Zusammenarbeit mit Johannes Semler gibt es eine „Hängepartie". Uber sie will ich hier berichten. Es wird deutlich werden, daß dieses Problem auch nach dem hier unternommenen Lösungsversuch „unfinished business" bleibt. Ich möchte daher meine Glückwünsche mit der Hoffnung verbinden, daß Johannes Semler Zeit findet, überzeugendere Lösungen zu erarbeiten. B. Der Kurs der MAH-Aktie I. Das Modell Aus der gemeinsamen Arbeit in der Mercedes-Automobil-Holding Aktiengesellschaft ist ein Problem offen geblieben: warum liegen die Kurse der MAH-Aktie unter den Kursen der Daimler-Benz-Aktie? Diese Frage ist bisher in der verschiedensten Weise beantwortet worden. Die Analogie zur stimmrechtslosen Aktie hat genauso zu Beantwortungen herhalten müssen wie die Unkenntnis der Ausländer. Wir waren mit diesen Antworten nicht zufrieden.

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Von Anfang an haben die Kurse der MAH-Aktie unter den Kursen der Daimler-Aktie gelegen. In früheren Jahren machten die Kursabstände zwischen 5 % und 1 0 % aus. In der jüngeren Vergangenheit haben sie zwischen 12 % und sogar 23 % gelegen. In einer DVFAVeranstaltung am 11.6.1989 stellte Semler fest: „Die interessante, aber auch extrem kontroverse Diskussion bezüglich der Erklärung des zum Teil sehr auffälligen Kursabstandes der schwächer notierten, abgeleiteten MAH-Aktie gegenüber der Daimler-Benz-Stammaktie konnte bis jetzt noch keine befriedigende Lösung generieren. Wirklich schlüssige Gründe für die Höhe des Abstandes lassen sich ebenso wenig finden wie Gründe für die Veränderung selbst."

Abb. 1: Die Kursbildung der MAH-Aktie

Unfinished Business

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Der Wert einer Aktie ist gleich ihrem Ertragswert. Der Ertragswert ist die diskontierte Summe der Dividendenausschüttungen und des Verkaufserlöses. Der Verkaufserlös hängt vom inneren Wert der Aktie ab, spiegelt also die Investitionspolitik und das Ausschüttungsverhalten des Unternehmens wider. Der Kurs der MAH-Aktie hängt mithin von der Investitionspolitik und der Ausschüttungspolitik des Unternehmens ab. Bei der Investitionspolitik sei zwischen der strategischen Anlagepolitik und der operativen Anlagepolitik unterschieden. Die strategische Anlagepolitik ergibt sich aus der Satzung der MAH, wonach die Gesellschaft stets über 25 % des Grundkapitals von Daimler halten soll. Die operative Anlagepolitik betrifft die Verwendung der von Daimler bezogenen Dividende bis zur eigenen Dividendenausschüttung. Die Ausschüttungspolitik ist keine Frage der Unternehmenspolitik der MAH, sondern eine Frage der Ausschüttungspolitik von Daimler-Benz. Die M A H leitet die Dividende lediglich durch. Mein Modell der Preisbildung für die MAH-Aktie ist in Abbildung 1 enthalten. II. Operative Anlagepolitik

Johannes Semler hat die Anlagepolitik der M A H in der genannten Veranstaltung wie folgt beschrieben: „Die Geschäftspolitik der M A H ist ganz klar darauf gerichtet, in der Verweilzeit der Daimler-Dividende von Juli bis Dezember zwar einen möglichst hohen Zinsertrag aus der Anlage der Dividende zu erzielen, aber dabei keinesfalls ein Risiko einzugehen, das zu Verlusten führen kann. Unsere Geldanlagen sind konventionell, unsere Partner erste Adressen. Trotz aller gut gemeinten Ratschläge, die Rendite in der Verweilzeit durch Aktienerwerb, durch Termingeschäfte oder durch Währungsanlagen zu verbessern, haben wir den Grundsatz der Sicherheit unserer Anlagen stets im Vordergrund gesehen und deswegen allen Versuchungen widerstehen können. So wird es auch in Zukunft sein. Die Anlagepolitik ist mit unserem Aufsichtsrat abgestimmt. Es gilt der Grundsatz: Sicherheit geht vor Ertrag." Zu fragen ist, ob dieser Grundsatz von den Aktionären in der Weise „honoriert" wird, daß sie die MAH-Aktie niedriger bewerten als die Daimler-Aktie. Sicher ist, daß mit diesem Grundsatz nicht so viel Geld verdient wird, wie das in der Daimler-Benz A G arbeitende Kapital erwirtschaftet. Im Durchschnitt der Jahre von 1975 bis 1989 hat die Daimler-Benz A G auf jede DM Eigenkapital 26,5 % vor Steuern verdient. Berücksichtigt man, daß das buchmäßige Eigenkapital der Daimler-Benz A G wegen der stillen Reserven nicht das volle arbeitende Kapital widerspiegelt und rechnet auf den durchschnittlichen Börsen-

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wert um, so bleiben immer noch 15,4% vor Steuern. Legt ein Investor die Unterschiede im Ergebnis der operativen Anlagepolitik von Daimler und MAH zugrunde, dann käme er zu einem Abschlag auf den Kurs von 9,5 % , wenn man einmal unterstellt, daß die MAH in ihrer operativen Anlagepolitik 7 % vor Steuern erwirtschaftet. Zu fragen ist, ob diese Differenz durch eine andere operative Anlagepolitik verringert werden könnte. Die Frage, ob dem Grundsatz der Sicherheit durch Währungstermingeschäfte ausreichend Genüge getan werden könne, hat, wie Semler feststellt, den Aufsichtsrat beschäftigt. Ex-Post-Rechnungen zeigen, daß durch Anlage der Dividende in Festgeld ausländischer Währung mit monatlicher Kündigung langfristig eine um rund zwei Prozentpunkte höhere Verzinsung sicher erreicht werden konnte. Da die Abwertungsverluste, die in den höheren Zinsen auf ausländische Festgelder mit enthalten sind, bei einer Kapitalgesellschaft steuerlich abzugsfähig sind, bleibt dieser Rentabilitätsvorteil auch nach Steuern erhalten1. Selbst wenn man die Anlage in Festgeld in ausländischer Währung als hinreichend sicher ansieht, ist die Lücke, die zwischen der Rentabilität einer Anlage innerhalb von Daimler-Benz und einer Anlage am Geldmarkt durch die MAH klafft, so groß, daß sie durch Währungsgeschäfte nicht nennenswert verkleinert werden kann. Die stockkonservative Anlagepolitik der MAH ist also richtig. Sie erklärt aber eben auch einen beträchtlichen Anteil der Kursdifferenz zwischen MAH-Aktie und der Daimler-Benz-Aktie. III. Ausschüttungspolitik Nun werden die in der operativen Anlagepolitik erwirtschafteten Einnahmen der MAH nicht zur Erhöhung der Dividende benutzt, sondern zur Deckung der eigenen Ausgaben. Dem MAH-Aktionär entgeht also die volle Verzinsung des Kapitals, das bei Daimler ein halbes Jahr arbeiten kann, und zwar auf Dauer. Legt man erneut die Eigenkapitalverzinsung von Daimler zugrunde, erhält man eine Kursdifferenz von 1 1 % , die auf die Zeitpunktverschiebung der Dividendenzahlung zurückzuführen ist. Und selbst wenn man davon ausginge, daß für jede ausgewiesene DM Kapital bei Daimler-Benz DM 1,72 angelegt werden müßten (der durchschnittliche Marktwert je DM Buchwert von Daimler), dann würden damit immer noch 7 % Kursabstand erklärt werden können. Die Ausschüttungspolitik der MAH hängt im übrigen von der Ausschüttungspolitik bei Daimler ab, da die Daimler-Dividende, die die 1 Vgl. BFH-Urteil vom 9 . 1 0 . 1 9 7 9 (BStBl. 1980 II, S. 116); BMF-Schreiben vom 2 4 . 1 . 1 9 8 5 (BStBl. 1985 I, S. 77).

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Abb. 2: Agency-Struktur Daimler-Benz und M A H

M A H erhält, an die Aktionäre „durchgeleitet" wird. Auf die Dividendenpolitik kann der Aktionär nur indirekt Einfluß nehmen. Abbildung 2 stellt die Einflußmöglichkeiten in Form eines Netzwerkes dar. Gehen wir davon aus, daß ein freier Aktionär an hohen Dividenden und hohen Kursgewinnen interessiert ist. Die Kurse hängen wiederum positiv mit der Dividendenausschüttung zusammen 2 . Er kann die Dividendenpolitik aber nur über den Aufsichtsrat beeinflussen. Im Sinne der 2 Albach, H.: Aktienrechtliche Publizität und Börsenkursentwicklung, in: Ballerstedt, K., Hefermehl, W. (Hrsg.): Festschrift für E m s t Gessler zum 65. Geburtstag, München 1971, S. 61-68.

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Principal-Agent-Theorie ist der Aktionär der Principal und der Aufsichtsrat der Agent. Es ist nicht gesichert, daß der Agent die Interessen des Principals voll verfolgt. Opportunistisches Verhalten oder Vertretung der Interessen anderer Gruppen sind nicht ausgeschlossen. Der Daimler-Benz-Aktionär hat es mit einem Agenten zu tun (1-8). Der Aktionär von MAH hat es mit zwei Agenten zu tun (2-4-8). Unterstellen wir, daß der Aktionär die Wahrscheinlichkeit, daß der Aufsichtsrat sich für seine Interessen einsetzt, mit 95 % angibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit für PM, den Principal bei MAH, 90,25 % gegenüber 95 % für PD, den Principal bei Daimler-Benz. Der „Delegationswert" einer D M Dividende ist also für PM 90 DPf gegenüber 95 DPf für PD. Unterstellt man, daß die Aktionäre die Kurse nach der PriceDividend-Ratio bilden und eine gleiche Preis-Dividend-Ratio bei Anlage in Daimler-Benz-Aktien und in MAH-Aktien ihrer Bewertung zugrunde legen, dann sind zusätzlich zu den Ertragswertabschlägen von 7 % weitere 5 % Kursdifferenz durch den „Delegationswert-Unterschied" erklärt. Nun erkennt aber PM, daß im A D A ein Agent aus AMA und ein Agent aus AMV sitzt. Setzt er die Wahrscheinlichkeit, daß AMV mit AMA stimmt, gleich 95 % und unterstellt er die im folgenden wiedergegebenen Wahrscheinlichkeiten dafür, daß ADA seine Interessen vertritt, dann erhält man einen Kursabschlag von 11,3% und einen Nettoabschlag von 6,3 % . Mit der Annahme, daß AMV mit 95 % Wahrscheinlichkeit so stimmt wie AMA, trägt der Aktionär der Tatsache Rechnung,

VERHALTEN

EINTRITTS—

EINTRITTS-

WAHRSCHEIN-

DERAGENTEN

WAHRSCHEIN-

WAHRSCHEIN-

UCHE AUSSCHÜTTUNG

LICHKEIT

LICHKEIT FORDEN I N T E R -

VERHALTENS -

ESSENTEN VON P M

SITUATION

ENTSPRECHENDE DIVIDENDENENTSCHEIDUNG DURCH A D A

0,8574

A +

V

+

0,9025

0,95

A +

V -

0,0475

0,40

0,0190

A

-

V

+

0,0025

0,30

0,0008

A

-

V -

0.0475

0,20

0.0095

1.0000

A + : Aufsichtsratsmitglied vertritt die I n t e r e s s e n d e s Kleinaktionärs. A - : Aufsichtsratsmitglied vertritt a n d e r e Interessen.

0,8867

Unfinished Business

679

daß AMA nicht nur das Ergebnis von AMV, sondern auch sein Verhalten im ADA beobachten kann und die Wiederwahl von AMV von AMA abhängt. Der Kursabschlag dafür, daß AMA nicht zwei Vertreter aus seinen eigenen Reihen zur Wahl in den ADA vorschlägt, sondern je einen Vertreter aus AMA und AMV, ist ausschließlich auf die Zwischenschaltung eines weiteren Agenten zurückzuführen, dessen Verhalten der Principal von MAH (PM) nicht vollständig kontrollieren kann. Die Principal-Agent-Theorie würde also, falls sie die empirische Relevanz hat, die ihr die heutige Finanztheorie zuweist, und falls der Kapitalmarkt tatsächlich mit den hier angenommenen Delegationswahrscheinlichkeiten arbeitet, einen Abschlag gegenüber dem Kurs der Daimler-Benz-Aktie von 5 bis 6 % erklären. IV. Unternehmenspolitik In die Bewertung einer Aktie an den deutschen Börsen gehen nicht nur die Dividenden ein, sondern auch die erzielten Gewinne. Gewinne sind das Ergebnis einer erfolgreichen Unternehmenspolitik. Die MAH betreibt keine eigene Unternehmenspolitik. Sie hat ihr Geld in DaimlerAktien angelegt. Die Frage, ob die MAH eine eigene Unternehmenspolitik betreiben, also in andere Anlagen als die in Daimler-Benz-Aktien, diversifizieren sollte, hat Vorstand und Aufsichtsrat der MAH wiederholt beschäftigt. Johannes Semler hat diese Frage auch wiederholt vor Finanzanalysten angesprochen. Als Argument wurde stets das „Inverse Gresham'sche Gesetz" verwandt: „good money drives out bad money"! Der Aufsichtsrat von MAH verfügt nicht aus eigenem Recht über Insider-Informationen über die Unternehmenspolitik von DaimlerBenz. Die Mitglieder des Aufsichtsrates und des Vorstandes, die dem Aufsichtsrat von Daimler-Benz angehören, halten sich an das Verschwiegenheitsgebot von Aufsichtsratsmitgliedern auch gegenüber dem Aufsichtsrat von MAH gebunden. Ein Aufsichtsratsmitglied, das die Interessen seines Unternehmens zu wahren hat, ist daher auf externe Analysen angewiesen. An die Diskussion, die ich hierüber mit Johannes Semler gehabt habe, erinnere ich mich mit Freude. Ich führe sie hier fort, um uns beiden eine Freude zu machen: wir haben beide Recht behalten. Eine externe Analyse der Unternehmenspolitik von Daimler-Benz kann sich, hoch aggregiert, auf - die Rentabilitäts- und Wachstumspolitik - die Risikopolitik - die Innovationspolitik beziehen. Die Ergebnisse einer solchen Analyse seien im folgenden wiedergegeben.

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Abb. 6: FuE-Input-Output-Portfolio

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Faßt man die Angaben in einem Input-Output-Portfolio zusammen, erhält man Abbildung 6. Abbildung 6 zeigt, daß BMW stärker output-orientiert ist, DaimlerBenz dagegen stärker input-orientiert. BMW erzielt mit weniger FuEInput eine höhere Rangzahl beim FuE-Output. Die Innovationspolitik von BMW erscheint also nach dieser Meßmethode effizienter als die Innovationspolitik von Daimler-Benz. In den Exzellenz- und Risikomaßen hatte sich dies aber bis 1988/89 (noch) nicht niedergeschlagen. Im Ergebnis läßt sich jedoch gleichwohl feststellen: Aus einer Analyse der Unternehmenspolitik von Daimler läßt sich schließen, daß der Kapitalmarkt allen Grund hat, die strategische Anlagepolitik der MAH zu honorieren. C. Schlußbemerkung Hier wurde der Versuch gemacht, „unfinished business" zu beenden: die Klärung der Kursdifferenz zwischen der Daimler-Aktie und der MAH-Aktie. Die Begründung wurde in der Ertragsbewertung von Renditeströmen in Verbindung mit der Bewertung von Agency-Costs in der Principal-Agent-Theorie gesucht. Mit diesen theoretischen Überlegungen wird der überwiegende Teil der Kursdifferenzen erklärt. Eine kritische Variable in dieser Argumentation ist die Wahrscheinlichkeit opportunistischen Verhaltens. Sie wurde hier durchgängig für alle Agenten mit 5 % angenommen. Aus der Theorie des GefangenenDilemmas wissen wir, daß die Lösung „persönlichkeitsbestimmt"7 ist. Abweichungen der tatsächlichen von den hier berechneten Kursdifferenzen könnten also „persönlichkeitsbestimmt" sein. Der Kapitalmarkt registriert Änderungen in der personellen Zusammensetzung von Gremien. Würde zum Beispiel ein Agent in einem fünfköpfigen Gremium von Agenten, dessen Delegationswert mit 99 % angesetzt war (also zum Beispiel ein Vertreter der Kleinaktionäre) durch ein Mitglied ersetzt, dessen Delegationswert mit 9 0 % eingeschätzt wird, dann würde sich allein daraus eine Kursdifferenz von 2 % zwischen der Daimler-Aktie und der MAH-Aktie erklären lassen. Johannes Semler ist für die MAH ein Asset. Wenn der Kapitalmarkt sein Wirken für die MAH und für Daimler richtig einschätzte, dann dürfte es überhaupt keinen Kursabschlag für die MAH-Aktie geben. Aus diesem Gedanken sind zwei Folgerungen zu ziehen. Einmal: Meine Erklärung der Kursdifferenzen ist vielleicht doch nicht richtig. Daher bleibt die Erklärung des Kursabstandes „unfinished business". Zum 7 Krelle, W., Coenen, D.: Das nichtkooperative Nichtnullsummen-Zwei-PersonenSpiel, in: Unternehmensforschung 1965.

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Horst Albach

anderen: Ich wünsche Johannes Semler, daß er noch lange zum Wohle der MAH wirken möge. Ad multos annos! Bibliographie Albach, H.: Aktienrechtliche Publizität und Börsenkursentwicklung, in: Ballerstedt, K., Hefermehl, W. (Hrsg.): Festschrift für Ernst Gessler zum 65. Geburtstag, München 1971. Albach, H.: Investitionspolitik erfolgreicher Unternehmen, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 1988, Bd. 11. Albach, H.: Die Führung eines forschenden Unternehmens. Die Erfolgsstory der Schering AG, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 1987, Bd. 11. Altman, E.I.: Financial Ratios, Discriminant Analysis, and the Prediction of Corporate Bankruptcy, in: Journal of Finance 1968. Benesh, G. A.; Peterson, P. P.: On the Relation Between Earnings, Changes of Analysts' Forecasts and Stock Price Fluctuations, Financial Analysts Journal, 1986, no. 3. Büschgen, H.-E.: Wertpapieranalyse - Die Beurteilung von Kapitalanlagen in Wertpapieren, Stuttgart 1966. Commerzbank: Research Highlights: Die deutsche Automobilindustrie - Gute Perspektiven für 1990, Frankfurt, 17.1.1990. Erhardt, ].: Kursbestimmungsfaktoren am Aktienmarkt, München 1977. Firth, M.: The Valuation of Shares and the Efficient-Markets Theory, Stirling 1985. Fischer, D.; Jordan, R.: Security Analysis and Portfolio Management, 3. Aufl., PrenticeHall 1983. Gerken, A.: Verrechnungspreise zur Optimierung des Kreditportefeuilles bei dezentraler Vergabeentscheidung, in: Albach, H. (Hrsg.): Organisation. Mikroökonomische Theorie und ihre Anwendung, Wiesbaden 1989. Graumann, M.: Die Analyse der Innovationstätigkeit deutscher Automobilhersteller auf dem Markt für Personenkraftwagen, 1975-1990, Dissertation, Bonn 1992. Gygax, F.: Die finanzanalytische Beurteilung von Aktien und Obligationen, München 1984. Hänchen, A.: Uberprüfung der Z-Funktion von Altman für die Bundesrepublik Deutschland, Diplomarbeit, Bonn 1983. Herdt, H.K.: Die Erfolgsstory der Daimler-Benz-Aktie, BÖZ, 28.1.1986. Jensen, M. C. (Hrsg.): Studies in the Theories of Capital Markets, New York 1972. Krelle, W.; Coenen, D.: Das nichtkooperative Nichtnullsummen-Zwei-Personen-Spiel, in: Unternehmensforschung 1965. Pratt, J. W.; Zeckhauser, R.J.: Principles and Agents: The Structure of Business, Harvard Business School, Boston, MA. 1985. Sharpe, W.F.: Portifolio-Theory and Capital Markets, New York 1970. Weitzel, U.: Würde ein Wirtschaftsprüfer bei der Bewertung der Mercedes-AutomobilHolding AG der Tatsache Rechnung zu tragen haben, daß die Aktie der MercedesAutomobil-Holding AG stets niedriger als die der Daimler-Benz AG notiert? Seminararbeit, Bonn, Sommersemester 1990.

Organisationsverfassung und Innovation KLAUS CHMIELEWICZ

I. Problemstellung In einer marktwirtschaftlichen Ordnung sind Innovationen überlebenswichtig für die Unternehmung, um im Wettbewerb bestehen zu können. Aus der Vielzahl möglicher Innovationen werden hier nur Innovationen durch neue oder geänderte Produkte und Produktionsverfahren betrachtet (Produkt- bzw. Verfahrensinnovationen). Auch wenn man der Unternehmungsverfassung eine marktliche Komponente (Marktverfassung der Unternehmung) und eine finanzielle Komponente (Finanzverfassung der Unternehmung) zubilligt 1 , besteht ihr Schwerpunkt in der Fachliteratur aus der organisatorischen Komponente (Organisationsverfassung der Unternehmung). Faßt man die genannten Elemente zusammen, entsteht eine Querbeziehung zwischen Unternehmungsverfassung und Innovation; dabei ergibt sich auch die Frage nach der Innovationsfähigkeit der Unternehmungs-, insbes. der Organisationsverfassung. In der Marktwirtschaft muß eine Organisationsverfassung Produkt- und Verfahrensinnovationen im Idealfall fördern, im Realfall zumindest nicht verhindern; andernfalls untergräbt die (z.B. basisdemokratische, selbstverwaltete, hierarchisch erstarrte oder mit Gremien überladene) Organisationsverfassung die Wettbewerbsfähigkeit einer Unternehmung, einer Rechtsform oder Branche oder sogar einer ganzen Volkswirtschaft. Während zum Thema Innovationsmanagement im allgemeinen in den letzten Jahren relativ viel Literatur veröffentlicht wurde, ist spezielle Literatur zum Zusammenhang von Innovation und Unternehmungsverfassung rar2. Insofern soll hier die Literatur zum Innovationsmanagement um den Aspekt der Organisationsverfassung ergänzt werden. 1 Der Zusammenhang dieser Markt- und Finanzverfassung mit der Innovation ist dargestellt in Chmielewicz, Unternehmungsverfassung und Innovation, in: Innovationsund Technologiemanagement, hrsg. v. Müller-Böling/Seibt/Winand, 1991, S. 83-101. Dieser und der vorliegende Beitrag waren als Einheit konzipiert, mußten aber wegen begrenzten Raumes getrennt werden. 2 Dieser Eindruck ergibt sich aus den einschlägigen Handwörterbuch-Artikeln, einigen neueren Buchveröffentlichungen und ca. 125 sonstigen betriebswirtschaftlichen Titeln aus dem Sektor Innovation. Für diese Durchsicht danke ich Herrn Dr. Martin Seidler und Herrn Dr. Johannes Dippel.

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Klaus Chmielewicz

Hierarchie der Unternehmung

M i t g l i e d e r der Unternehmung

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Gremien der Unternehmung

Abb. 1: Aspekte der Organisations Verfassung der Unternehmung

Von den möglichen Unterproblemen der Organisationsverfassung werden in den folgenden Kapiteln gemäß den drei Ecken von Abb. 1 nur die Hierarchie (Kapitel II), Mitglieder (Kapitel III) und Gremien (Kapitel IV) der Organisationsverfassung behandelt. Dabei handelt es sich um die Zusammenhänge dieser drei Aspekte mit der Innovation; als Voraussetzung dazu müssen in der gebotenen Kürze auch die Beziehungen der drei Aspekte untereinander angeschnitten werden (Kanten 1 bis 3 von Abb. 1). II. Hierarchie und Innovation Unternehmungen sind hierarchisch aufgebaute Systeme. Die Hierarchie weist einen pyramidenartigen Aufbau mit einer schmalen Leitungsspitze und einer breiten Ausführungsbasis auf, bei der klare Weisungsbeziehungen zwischen Spitze und Basis bestehen. Hierarchien haben wie alle menschlichen Schöpfungen potentielle Mängel und Defizite. Die Hierarchie kann soziale Defizite (Humanisierungsdefizite) haben oder ökologische Defizite begünstigen. Sie kann aber auch Ursache wirtschaftlicher Defizite bzw. Krisenlagen der Unternehmung sein. Die Hierarchie ist zur Erfüllung wohlstrukturierter und gleichartig wiederholter Aufgaben gedacht und geeignet3. Als Kehrseite neigt die Hierarchie zur Versteinerung der Strukturen und erzeugt damit die Gefahr von Innovationsdefiziten. Die Innovation führt zur Änderung der in der Hierarchie zu erfüllenden Aufgaben und wirbelt damit die Hierarchie teilweise oder sogar im ganzen durcheinander. Arbeitsaufgaben, Arbeitsplätze und Abteilungen, Zweigwerke und ganze Sparten werden durch die Innovation geändert. Trotz dieser Hemmschwelle muß aber 3 Vgl. Wild, Zeitschrift für Organisation, 42. Jg., 1973, S. 45-54, hier S. 51 sowie Bums/Stalker, The Management of Innovation, 1971, 3. Auflage, S. 120 f.

Organisationsverfassung und Innovation

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im Endeffekt die Hierarchie innovationsfähig sein. Dafür sorgen unter finanziellen Aspekten Unternehmungsziele (insbes. Gewinnziel), unter rechtlichen Aspekten die Konkursdrohung, unter organisatorischen Aspekten Führungsstrukturen 4 ( z . B . auch Produktmanager, Innovationsteams oder Profit Center). Das erwähnte Innovationsmanagement reduziert das Innovations- auf ein Hierarchieproblem; die oberen Hierarchieränge versuchen, die unteren Hierarchieränge durch Anreize und/ oder Sanktionen positiv auf Innovationen einzustellen, Innovationswiderstände zu überwinden und Budget- oder Fristüberschreitungen zu vermeiden. III. Mitglieder und Innovation 1.

Mitgliedergruppen

Die Grenze zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Unternehmung ist diffus; auf diese Problematik wird hier aber nicht eingegangen. Grundlage ist die Trennung in die Mitgliedergruppen Anteilseigner und Arbeitnehmer (oder gleichbedeutend: in die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, Zeilen von Abb. 2). Träger von Leitungsfunktionen in der Unternehmung können sowohl bei den Anteilseignern (sog. Eigentümer-Unternehmer) als auch bei den Arbeitnehmern (sog. Manager) hervorgehoben werden (Spalte 1 von Abb. 2). Damit entstehen 2 x 2 = 4 Mitgliedergruppen der Unternehmung gemäß Abb.2. Sie können nach Belieben auch Zeilen- oder spaltenweise zu zwei Mitgliedergruppen oder auch zu drei Gruppen zusammengefaßt werden (Anteilseigner, Manager, Arbeitnehmer). Diese Mitglieder unterscheiden sich in der hierarchischen, Chancenund Risikostruktur. Die Mitgliedschaft kann unter rechtlichen, finanziellen oder organisatorischen Aspekten betrachtet werden. 2.

Anteilseigner

Anteilseigner sind rechtlich die einzigen Mitglieder der Gesellschaft. Sie tragen alle finanziellen (einschl. Innovations-) Chancen und Risiken in der Unternehmung; insofern haben sie auch finanziell Mitgliederstatus. Sie können durch erfolgreiche Innovationen Millionäre oder Milliardäre werden (z.B. als Erfinder der Büroklammer oder als Komponist eines Erfolgsschlagers), aber im Mißerfolgsfall auch bis an ihr Lebensende für Konkursschulden persönlich haften. 4 Vgl. Hauschildt, Innovationsmanagement, in: Handwörterbuch der Organisation, hrsg. v. Frese, 1992, 3. Auflage, Sp. 1029-1041, hier Sp. 1032.

Klaus Chmielewicz

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