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German Pages 315 [316] Year 1983
JOHN EEKELAAR
Familienrecht und Sozialpolitik
Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit
Martin Albrow, Cardiff . Hans Bertram, München· Karl Martin Bolte, München . Lothar Bossle, Würzburg . Walter L. Bühl, München· Lars Clausen, Kiel· Roland Eckert, Trier· Friedrich Fürstenberg, Bochum . Dieter Giesen, Berlin . Alois Hahn, Trier· Robert Hettlage, Regensburg . Werner Kaltefleiter, Kiel· Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld . Janpeter Kob, Hamburg . Henrik Kreutz, Nürnberg . Heinz Laufer, München· Wolfgang Lipp, Würzburg . Thomas Luckmann, Konstanz . Kurt Lüscher, Konstanz . Rainer Mackensen, Berlin . Georg Mantzaridis, Thessaloniki . Norbert Martin, Koblenz . Julius Morel, Innsbruck . Peter Paul Müller-Sehmid, Freiburg i. Ü .. Elisabeth Noelle-Neumann, Mainz . Helge Pross, Siegen· Horst Reimann, Augsburg . Walter Rüegg, Bern . Johannes Schasching, Rom· Erwin K. Scheuch, Köln . Gerhard Sehmidtchen, Zürich . Franz-Martin Schmölz, Salzburg . Helmut Schoeek, Mainz . Dieter Schwab, Regensburg . HansPeter Schwarz, Köln· Mario Signore, Leeee . Josef Solar, Brno . Friedrich H. Tenbruek, Tübingen . Paul Trappe, Basel· Laszlo Vaskovies, Bamberg . Jef Verhoeven, Löwen· Anton C. Zijderveld, Tilburg . Valentin Zsifkovits, Graz
Herausgegeben von
Horst Jürgen Helle, München· Jan Siebert van Hessen, Utrecht Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br.. Nikolaus Lobkowicz, München
Band 10
Familienrecht und
Sozialpolitil~
Von
John Eekelaar
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Eekelaar, John: Familienrecht und Sozialpolitik I von John Eekelaar. Berlin: Duncker und Humblot, 1983. (Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft; Bd. 10) ISBN 3-428-05433-4 NE: Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft: Sozial wissenschaftliche Abhandlungen der ...
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Bedjn 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05433 4
© 1983 Duncker
Geleitwort Die vorliegende Abhandlung hat im deutschen Recht keine Entsprechung. Sie ist ein eindrucksvolles Zeugnis für den akademischen Unterricht im Familienrecht Englands und anderer Länder der CommonLaw-Tradition, sie versteht sich als Teil auch sozialwissenschajtlicher Arbeit. Man kann gegen den Ansatz, die Rechtswissenschaften überwiegend den Sozialwissenschaften zuzuordnen, aus bekannten Gründen Bedenken hegen - mir scheint, daß der Verfasser dieses Buchs manche davon zerstreuen kann. Er führt seine Studenten aus dem Elfenbeinturm eines eher praxisfernen Unterrichts heraus in die spannende Begegnung mit der sozialen Wirklichkeit, die die Unzulänglichkeit mancher Norm, manches juristischen Ansatzes erkennen läßt und Familienrecht als eine Aufgabe erweist, die ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit und ohne breite Kenntnisse sozialer Zusammenhänge nicht angemessen bewältigt werden kann. J ohn Eekelaar stammt aus Rhodesien. Er ist heute einer der angesehensten Familienrechtler der angelsächsischen Tradition. Ihr entspricht ein Werdegang, der sich von unserem traditionellen Ausbildungsgang beträchtlich unterscheidet. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität London (LL. B. 1963) gewann er mehrere Auszeichnungen an der Universität Oxford, 1963-1965 war er Rhodes Scholar, 1965 Vinerian Scholar; im zuletzt genannten Jahr erwarb er den höheren akademischen Grad eines Bachelor of Civil Law, 1967 wurde er Master of Arts der Universität Oxford. Seine zusätzliche Ausbildung als Rechtsanwalt erhielt er am Inner Temple der großen Juristenschulen Londons (Barrister seit 1968). Schon 1965 wurde er zum Sheppard Fellow of Pembroke College gewählt, seit dieser Zeit ist er auch Lecturer in Jurisprudence an der Universität Oxford. Hier war es, wo er den Vater des englischen Familienrechts, den in der Welt hochangesehenen und leider viel zu früh verstorbenen Professor Sir Otto Kahn-Freund, Q. C., kennenlernte, mit dem er fortan gerade im Familienrecht eng zusammenarbeitete: bei zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen, im Centre for Socio-Legal Studies am Wolfs on College der Universität Oxford, auf internationalen Kongressen. Eekelaar lehnte in den Folgejahren mehrere Rufe an Lehrstühle von Universitäten außerhalb Oxfords ab und verzichtete damit auf den bei uns höher geschätzten Professorentitel. Eekelaar hatte in den letzten Jahren
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Geleitwort
mehrere Gastprofessuren im Ausland inne, u. a. an den Universitäten von Melbourne und Toronto. Seit 1977 ist er Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Familienrecht. Neben verschiedenen familienrechtlichen Monographien und zahlreichen Aufsätzen hat er (zusammen mit Professor Sanford Katz, Boston) die wissenschaftliche Publikation der Beiträge besorgt, die zu den internationalen Kongressen dieser Gesellschaft erbracht worden sind (Family Violen ce. An international and interdisciplinary Study, Toronto 1978; Marriage and Cohabitation in Contemporary Societies. Areas of Legal, Social and Ethical Change, Toronto 1980; Resolution of Family Conflict: Means and Ends, Toronto 1983). Das Buch hat trotz zahlreicher Hinweise auf andere Jurisdiktionen im angloamerikanischen Bereich keinen eigentlich rechtsvergleichenden Charakter, ist von den Herausgebern der vorliegenden Reihe auch nicht als rechtsvergleichende Studie, sondern als exemplum docens für sozialwissenschaftlich fundierten familienrechtlichen Unterricht im angelsächsischen Kulturkreis hier aufgenommen worden. Wo es indessen besonders angebracht erschien, sind der deutschen Ausgabe im Einvernehmen mit dem Autor Literaturhinweise auf deutsches Schrifttum hinzugefügt worden; diese zusätzlichen Hinweise sind von meinem Assistenten, Herrn Assessor Michael Genthe, dankenswerterweise zusammengestellt und als Fußnoten in den Text dieser Ausgabe eingearbeitet worden, bleiben aber von den Fußnoten des Autors als mit Sternchen gekennzeichnete Anmerkungen unterscheidbar. Berlin-Dahlem, den 30. 6. 1983
Dieter Giesen
Vorwort Zunächst möchte ich Herrn Prof. Dr. Dieter Giesen von der Freien Universität Berlin danken; er hat nicht nur eine deutsche Ausgabe dieses Buchs angeregt, sondern mir auch während der Vorbereitungen zu dieser Ausgabe Ansporn gegeben und Hilfe zuteil werden lassen. Besonderer Dank gebührt den Herausgebern für die Aufnahme in die Schriftenreihe Sozialwissenschaftlicher Abhandlungen der Görres-Gesellschaft, vor allem ihrem Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Paul Mikat, der in sehr hilfsbereiter Weise die Kosten für die Übersetzung des Buchs aus dem Englischen übernommen und den Druck der deutschen Ausgabe überhaupt erst möglich gemacht hat. Nichts hätte indessen erreicht werden können ohne den Einsatz von Frau Dr. iur. Livia Müller-Fembeck-Haas, die die immense Aufgabe der Übertragung ins Deutsche auf sich genommen hat; während dieser Arbeiten hat sie viele wertvolle Gesichtspunkte zur Sprache gebracht, die mich häufig veranlaßten, neu zu überdenken, was ich bereits geschrieben hatte. Mehr an kritischer und konstruktiver Zusammenarbeit kann kein Autor von einem Übersetzer erwarten als sie geleistet hat. Mit der englischen Originalausgabe von 1977 war ein Beitrag zu den Bemühungen im englischen Rechtsunterricht bezweckt, die familienrechtlichen Vorschriften in den sozialen Kontext zu stellen, in den sie gehören. Der Student sollte sich stärker dessen bewußt werden, wie sich Rechtsnormen in der sozialen Wirklichkeit auswirken können. Es war deshalb erforderlich, bereits vorhandenes und für das Studium des Familienrechts relevantes empirisches Material ausgiebig mit heranzuziehen. Es war auch nötig, die breiten demographischen Entwicklungen anzudeuten, auf denen die aktuellen Aspekte familialer Lebensweisen beruhen. Eine kritische Einstellung zum geltenden Recht des eigenen Landes sollte dabei durch Einbeziehung solcher Modelle gefördert werden, wie sie in anderen Rechtsordnungen - besonders in Ländern der angelsächsischen Tradition - entwickelt worden sind. Was dabei herauskam, war das unausweichliche Ergebnis dessen, was man eine funktionalistische Schule juristischen Denkens nennen könnte. Die Hauptansatzpunkte der Kritik fanden sich bei den Wertvorstellungen, die das geltende Recht bestimmen, und bei der Frage, wie gut sich dieses Recht in der Praxis bewährt. Dieser Ansatz hat die Auswahl der in diesem Buch dargestellten Problemfelder erheblich mitbestimmt: es sind jene
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Vorwort
Gebiete, denen in einem familienrechtlichen Grundkurs das Hauptaugenmerk gilt. Obwohl ein funktionalistischer Ansatz Kritik herausfordern mag, darf aus einer praxisbezogenen Sicht wohl festgestellt werden, daß gerade er eine nützliche Methode darstellt, das geltende Recht richtig einzuschätzen und auszuwerten. Die Gefahr ist freilich, daß den Institutionen des Rechts Funktionen zugeschrieben werden könnten, die erst noch der Rechtfertigung bedürften. Aber diese Gefahr dürfte wahrscheinlich bei soziologischen Fragestellungen und Analysen größer sein als bei rechtswissenschaftlichen. Der Gesetzgebungsprozeß wird normalerweise von Auseinandersetzungen in Sachfragen begleitet, insbesondere häufig auch von politischen Wertvorstellungen und Wertvorgaben, und diese Materialien können interpretatorisch dafür herangezogen werden, daß jedenfalls nach Ansicht des Gesetzgebers Rechtsnormen nach diesen Wertvorstellungen bestimmte Aufgaben und Funktionen haben. Ich behaupte, daß die Entwicklung der Ausgleichs- und Schutzfunktion des modernen Familienrechts für jeden offenbar ist, der sich mit diesem Gebiet beschäftigt. Ich behaupte ferner, daß diese Funktionen auch Aufgaben des Rechts sind, und daß auch dies auf der Hand liegt und keiner besonderen Rechtfertigung bedarf. Das läßt die andere Frage unberührt, welche rechtlichen Instrumentarien - wenn es ihrer überhaupt bedarf - diese Aufgaben am besten erfüllen können. Die dritte wichtige Aufgabe des Familienrechts ist ihre familiale Lebensweisen unterstützende Funktion. Ich gehe davon aus, daß sie dem erklärten politischen Konzept der meisten modernen Staaten entspricht, gebe aber zu, daß sie umstrittener ist als die beiden anderen genannten Funktionen des Familienrechts. Seit dem Erscheinen der englischen Ausgabe dieses Buchs ist nichts geschehen, was eine grundlegende Änderung seiner Konzeptionen oder Ergebnisse erfordert hätte; der hier vorgelegte Text stimmt daher bis auf die wünschbare und überall vorgenommene Aktualisierung insbesondere bei den statistischen Angaben und im Anmerkungsteil im wesentlichen mit dem englischen Original von 1977 überein. Die Zahl der geschlossenen Ehen sinkt insbesondere bei der jüngeren Generation weiter ab, aber wir wissen noch nichts Genaues darüber, ob dies auf dem Wunsch, erst mit höherem Alter zu heiraten, beruht oder eine dauerhafte Abkehr von der Ehe selbst signalisiert. Die Scheidungsrate bleibt hoch, steigt jedoch nicht mehr so steil an. Bei einer hohen Wiederverheiratungsquote macht ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung persönliche Erfahrungen mit vielfältigen familialen Lebensformen. Über deren Auswirkungen auf Erwachsene wie Kinder ist nur wenig bekannt. Zwar wirkt sich die "Emanzipation" der Frau hin zur Erwerbstätigkeit weiterhin in signifikanter Form auf das Familienleben
Vorwort
9
aus, wir wissen aber noch nicht, welchen Einfluß die gegenwärtige weltweiteWirtschaftsrezession auf dieses Phänomen haben wird. Insbesondere unser Wissen über die Bedeutung von Scheidung, alleinstehender Elternschaft und Wiederheirat in bezug auf die wirtschaftlichen Konsequenzen für Erwachsene und Kinder ist unvollkommen. Eines freilich ist seit 1977 deutlicher geworden: Das Dahinschwinden staatlicher Mittel für soziale Leistungen auch an die Familie hat im Verein mit einem Wiedererstarken individualistischer Vorstellungen (besonders in den Vereinigten Staaten) Skepsis über die Wirksamkeit wohlfahrtsstaatlicher rechtlicher Kontrollen aufkommen lassen und zu einem Wiederaufleben des Glaubens an Familienautonomie und die Möglichkeiten des einzelnen geführt. Große Aufgaben liegen vor uns. In diesem Buch habe ich, wie ich hoffe, das Studium des Familienrechts aus einer Isolierung im Elfenbeinturm bloß theoretischer Befassung mit familienrechtlichen Normen und Regeln ohne ausreichenden Bezug zur sozialen Wirklichkeit gelöst. In einer in Kürze erscheinenden weiteren Arbeit versuche ich, von dem hier entwickelten funktionalistischen Ansatz aus eine theoretische Grundlage zu entwickeln, auf der Maßstäbe für das Engagement des Rechts im Bereich der Familie aufgebaut und entfaltet werden können. Dazu wird vor allem ein Konzept des Kindeswohls gehören, das die Grundlage eines großen Teils des modernen Familienrechts bilden kann. Ich hoffe, daß das hier vorliegende Buch dazu beitragen kann, die Diskussion dieser Fragen auch im internationalen Kontext zu fördern. Pembroke College, Oxford Dezember 1982
John Eekelaar
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Familie und Gesellschaft I. Familie und Ehe
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1. Bestimmung von Ehe und Familie ............................
18
2. Kritik an der modernen Familie ................. ;............
22
11. Funktionsgestörte Familien
27
1. Nichtverheiratete Eltern
27
2. Gewalt zwischen Ehegatten oder zwischen Partnern einer eheähnlichen Gemeinschaft ......................................
33
3. Kindesmißhandlung ..........................................
36
4. Kindesvernachlässigung ......................................
40
5. Deprivation ..................................................
41
6. Trennung und Scheidung ....................................
45
7. Kinder geschiedener oder getrennt lebender Eltern: ein Fall für sich? .................................................... 55 111. Rechtslage .......................................................
58
1. Funktionen des gegenwärtigen Rechts. .. . . .. ... ..... ... . .. ...
58
2. Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung ..........
60
3. Bedeutung der Ehe ..........................................
67
Zweiter Teil Schutzfunktion des Rechts IV. Ursprünge des modernen Familienrechts ........................
76 76
1. Kinder in Arbeitshäusern ....................................
77
2. Kinder in der Gemeinschaft ..................................
80
3. Kinder in der Familie ........................................
82
4. Nichteheliche Kinder: das Recht der Adoption ................
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5. Gewalt zwischen Familienmitgliedern ........................
86
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Inhaltsverzeichnis V. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (I) ..
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1. Maßnahmen bei Gewalt zwischen Familienmitgliedern.. . .. ...
90
2. Maßnahmen bei Kindesmißhandlung .......................... 97 a) Rechte der Kinder ........................................ 97 b) Meldepflicht bei Verdachtsfällen .......................... 98 c) Therapeutische Maßnahmen .. , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 101 d) Gesetzliche Regelungen .................................... 103 3. Maßnahmen bei Kindesvernachlässigung und Deprivation .... a) Strafrechtliche Verfolgung ................................ b) Die Trennung des Kindes von der Familie ................ c) Alternativen zur zwangsweisen Unterbringung des Kindes
106 106 107 114
VI. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (11) 116 1. Befugnisse der Gerichte und Försorgebehörden ................ 116
a) Das Dilemma: endgültige oder nur vorübergehende Maßnahmen? .................................................. 116 b) Die Stellung der Pflegeeltern .............................. 120 c) Adoption von Pflegekindern .............................. 122 2. Kinder in Obhut Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125 a) Private Pflegestellen ...................................... 125 b) Kindertagesstätten ........................................ 127 3. Kinder geschiedener oder getrennt lebender Eltern ............ 128 4. Gerichtliche Vormundschaft .................................. 131 Dritter Teil
Scheidung und Scheidungsfolgen VII. Scheidung
136 136
1. Materielles Scheidungsrecht .................................. 136
a) Das Verschuldensprinzip .................................. 136 b) Verbindung von Verschuldens- und Zerrüttungsprinzip .... 140 c) Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft .................. 149 2. Scheidungsverfahren
156
3. Scheidungsrecht der Zukunft ................................ 164 VIII. Vermögen und Finanzen (I)
169
1. Historische Entwicklung
169
2. Wirtschaftliche Folgen der Scheidung ........................ 176 IX. Vermögen und Finanzen (11) .................................... 181 1. Gerichtliche Befugnisse ...................................... 181
Inhaltsverzeichnis
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2. Allgemeine Grundsätze ...................................... 182 3. Gegenwärtige Entscheidungspraxis der Gerichte .............. a) Vermögens auf teilung ...................................... b) Die eheliche Wohnung .................................... c) Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Verhalten der Ehegatten während der Ehe ................ e) Vermögensauseinandersetzung ............................
188 188 190 192 194 196
4. Interdependenz von Folgeregelungen und staatlicher Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Öffentlicher Wohnungsbau ................................ b) Einkünfte ................................................ c) Die Durchsetzung des Unterhalts anspruchs ................
201 201 203 205
5. Vollstreckung von Unterhaltsurteilen ........................ 208 6. Die Rolle des magistrates' courts ............................ 210 X. Vermögen und Finanzen (lU) .................................... 212 1. Vorschläge für einen gesicherten Unterhalt .................. 212
a) Finanzierung durch versicherungsähnliche Leistungen ...... 212 b) Andere Vorschläge ........................................ 213 2. Regelung nach Ende einer eheähnlichen Gemeinschaft ........ 216 a) Vermögensrechtliche Auseinandersetzung .................. 216 b) Die gemeinsame Wohnung ................................ 217 c) Unterhaltszahlungen ...................................... 218 3. Regelung nach einem Todesfall .............................. 223 XI. Das elterliche Sorgerecht ........................................ 229 1. Einigung zwischen Eltern
229
2. Gerichtliche Maßnahmen
230
3. Veröffentlichte Gerichtsentscheidungen 232 a) Das Verhalten der Parteien ................................ 234 b) Vermutung zugunsten des Vaters eines ehelichen Kindes .... 234 c) Religiöse und moralische überlegungen .................... d) Aufrechterhaltung emotionaler Bindungen ................ e) Kindesentführung ........................................ f) Verkehrsrecht ............................................
234 236 237 239
4. Empirische Nachweise ........................................ 241 5. Kritik
242
6. Sorgerecht für Kinder aus einer eheähnlichen Gemeinschaft .. 248
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Inhaltsverzeichnis
Vierter Teil Recht und Förderung
251
XII. Förderung der Ehegatten ............... " ....................... 251 1. Wohnrecht
252
2. Schutz des übrigen Vermögens .......................... , ..... 256 3. Einkommenssicherung ........................................ 259 a) Privatrecht ................................................ 259 b) Steuervorteile ................................. ~ . . . . . . . . .. 262 c) Sozialhilfe ................................................ 263 XIII. Förderung der Familie ........................................... 266 1. Privatrechtliche Unterhaltspflicht ............................ 266
2. Öffentlich-rechtliche Leistungen .............................. 269 3. De-facto-Familien
273
4. Familie durch rechtliche Bindung: Die Adoption .............. a) Die Interessen der natürlichen Eltern ...................... b) Die Interessen der Adoptiveltern ............ , ............. c) Das Kind ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
276 279 281 283
Nachwort Rechtspolitik und Anwendungspraxis
Bibliographie Gesetze
286
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 290
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 303
FäLle ...................•.............................................. 308
Erster Teil
Familie und Gesellschaft* "Noch nie zuvor haben Männer, Frauen und Kinder in und außerhalb der Familie ein ähnliches Maß an wechselseitigem Verständnis, persönlicher Freiheit und Gleichberechtigung von seiten einer verständnisvollen Regierung erfahren." Ronald Fletcher, The Family and Marriage in Britain, 1966 "In der Vergangenheit fand der einzelne sein Leben lang bei Sippe und Nachbarn moralische Unterstützung, während die Familie heute isoliert und nach innen orientiert ist. Dadurch werden die emotionalen Spannungen zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern intensiviert, und die Belastungen sind größer, als die meisten von uns ertragen können. Die Familie ist nicht mehr die Basis einer erfolgreichen Gesellschaft, sondern sie bildet mit ihrer beengten Zurückgezogenheit und ihren billigen Geheimnissen die Quelle unserer Unzufriedenhei t. " Edmund Leach, A Runaway World, 1976
* Für das überwiegende deutsche Schrifttum ist kennzeichnend, daß die am Gesetzbuch selbst orientierten und ihm folgenden Darstellungen kaum auf die sozialen Zusammenhänge eingehen und manche Problemstellungen und Antworten schuldig bleiben, die im angelsächsischen Bereich zur sozialwissenschaftlich orientierten Darstellung des Familienrechts schlechthin dazugehören. An Lehrbüchern dieser Art seien aus dem deutschen Bereich folgende Darstellungen erwähnt: G. Beitzke, Familienrecht - Ein Studienbuch, 23. Aufl. München [Beck] 1983; J. Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl. München 1980; D. Schwab, Familienrecht, 2. Aufl. München 1983. Als ausführlichste Darstellung des deutschen Familienrechts - wenn auch zum größten Teil heute überholt - verdient das beeindruckende und auch komparatistisch ausgerichtete Werk von H. Däl!e, Familienrecht - Darstellung des deutschen Familienrechts mit rechtsvergleichenden Hinweisen, 2 Bde., Karlsruhe 1964/65, immer noch grundsätzliche Beachtung. Aus dem allgemeinen Schrifttum sei schließlich - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - auf die folgenden Beiträge hingewiesen: J. Gernhuber, Neues Familienrecht - Eine Abhandlung zum Stil des jüngeren Familienrechts, Tübingen 1977; W. Mül!er-Freienfels, Ehe und Recht, Tübingen 1962; P. H. Neuhaus, Ehe und Kindschaft in rechtsvergleichender Sicht, Tübingen 1979.
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I. Familie und Ehe
I. Familie und Ehe·· 1975 wurden in England und Wales 380.600 Ehen geschlossen. In den sechziger Jahren waren etwa 95 0J0 der Männer und 96 0J0 der Frauen der Altersgruppe 45 bis 49 Jahre wenigstens einmal verheiratet. Verglichen mit Schätzungen betreffend das 19. Jahrhundert stieg die Zahl der verheirateten Bevölkerung um fast 10 0J0 an 1 • Das Maß der Ehefreudigkeit nahm in der westlichen Welt zu, und die gegenwärtigen Heiratsquoten in Australien, Kanada, Neuseeland und den USA übertreffen die von England und Wales. Ehepaare leben zumeist - wie auch die Mehrheit der Bevölkerung in Großbritannien (Zählung von 1971) - in Einfamilienhaushalten. (Vgl. Tabelle 1 und 2.)
Tabelle 1
Eheschließungen auf 1.000 Einwohner 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 Australien Kanada Dänemark England u. Wales Frankreich Jamaika Neuseeland Schweden USA Bundesrepublik Deutschland
9.2 9.3 9.2 8.8 8.6 8.3 7.6 8.7 8.8 8.9 9.2 8.9 9.1 8.7 8.0 7.4 6.6 6.2 6.1 6.6 6.3 8.2 8.5 8.3 8.6 8.1 7.8 7.7 7.6 7.8 7.9 8.1 7.7 7.6 7.4 4.8 4.8 4.4 4.6 4.5 4.5 5.0 9.0 9.2 9.5 9.2 8.9 8.3 7.9 6.1 5.4 4.9 4.9 4.7 5.5 5.3 10.7 10.6 10.6 10.9 10.9 10.5 10.0 7.3
7.3
7.1
6.7
6.4
6.1
6.3
7.9 7.5 7.2 7.2 8.4 8.1 7.9 7.6 6.1 6.3 5.6 5.4 7.3 7.3 7.5 7.1 6.9 6.7 6.4 4.5 4.2 4.5 7.7 7.2 7.2 7.1 5.4 4.9 4.6 4.5 9.9 10.1 10.3 10.5 5.9
5.8
5.4
5.6
Fundstet!e: UN Demographie Yearbooks; New Zealand Official Yearbook, 1979; eso. Annual Abstract of Statistics; Office of Population, eensuses and Surveys, Population Trends.
** Vgl. hierzu mit weiterführenden Nachweisen D. Giesen, Ehe, Familie und Erwerbsleben - überlegungen zum Schutz von Ehe und Familie und zur Gleichberechtigung der Geschlechter im Erwerbsleben im Spannungsfeld zwischen Verfassungsanspruch und sozialer Wirklichkeit, Paderborn 1977; ders., "Sex Discrimination in Germany (W.)", in: (1978) 41 The Modern Law Review, 526 ff.; ders., "Thesen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Recht und sozialer Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland", in: FS für Ton Kak Suh, Seoul 1981, 307 ff.; W. Geiger, "Die Bewertung der Familie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der Verfassung", in: FamRZ 1973, 225 ff. Die deutsche Familie aus soziologischer Sicht beschreibt H. Sche~ sky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart - Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, 4. Aufl. Stuttgart 1960; siehe zudem den Schlußbericht der Enquetekommission Frau und Gesellschaft des Deutschen Bundestages vom 29. 8. 1980, BT-Drs. 8/4461, auch abgedruckt in: Zur Sache 1/81. 1 Finer Report, 1974, Bd. 1, Ziff.3.8.
1. Bestimmung von Ehe und Familie
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Tabelle 2
Haushaltstypen in Großbritannien (1.000)
Einfamilienhaushalte ............................................. . 45.868 Verheiratet, kinderlos ........................................... . 9.641 Verheiratet, mit Kindern ....................................... . 32.698 Ein Elternteil mit Kindern ..................................... . 3.538 Zwei- oder Mehrfamilienhaushalte ............................... . 1.418 Fundstette :
eso, Social Trends, No. 5, 1974, Tabelle 10, S. 81.
Das Zusammenleben von Eltern und Kindern in einem Einfamilienhaushalt, die sog. Kleinfamilie, ist sogar in Gesellschaften die Regel, die enge Beziehungen zur Großfamilie haben2 • Die Kernfamilie bildet damit die soziale Grundeinheit unserer Gesellschaft. Da aber das soziale Verhalten gerade in der modernen Welt fluktuiert, bedürfen Veränderungen und Trends genauer Beobachtung. Tabelle 1 zeigt, daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten westlichen Ländern, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, in Dänemark und in Schweden (bis 1979) in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. In England und Wales war der größte Rückgang zwischen 1972 und 1978 von 8.6 auf 7.5 Ehen pro tausend Einwohner zu verzeichnen. Gleichzeitig sanken die Geburtenraten (vgl. Tabelle 3), was darauf schließen läßt, daß ein Großteil der Bevölkerung dem Ehe- und Familienleben den Rücken gekehrt hat. Tabelle 3
Zahl der Geburten auf 1.000 Einwohner
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 Australien ........ Kanada ............ Dänemark ........ England u. Wales Frankreich ........ Neuseeland ........ Schweden ........ USA .............. Bundesrepublik Deutschland ......
20.5 17.5 14.4 16.1 16.7 22.0 13.6 18.2
21.6 16.8 15.2 16.0 17.1 22.5 14.1 17.3
18.4 15.4 14.1 13.0 15.2 19.5 13.4 15.0
16.9 15.8 14.2 12.3 14.1 18.2 12.6 14.8
13.3 12.7 11.4 10.2 10.1
9.7
20.4 15.9 15.2 14.8 16.9 21.6 13.8 15.6
18.8 15.5 14.3 13.7 16.4 20.4 13.5 15.0
FundsteUe: UN Demographie Yearbooks; Offleial Yearbooks; of Statistles, 1979.
16.4 15.6 12.9 11.9 13.6 17.9 12.0 14.8
16.1 15.5 12.2 11.6 14.0 17.3 11.6 15.3
15.7 15.3 12.2 12.1 13.8 16.3 11.2 15.3
15.5 15.1 11.6 13.0 14.1 16.7 11.6 15.8
9.8
9.5
9.4
9.5
eso, Annual Abstract
Die Veränderung der ökonomischen und sozialen Stellung der Frau, der Einfluß der Frauenbewegungen und in einigen Ländern auch die Auswirkungen der frühen kommunistischen Lehre, haben zu wesent2
W. J. Goode, 1963, S. 240.
2 Eekelaar
18
I.
Familie und Ehe
lichen Veränderungen im Familiensystem geführt. Wir werden darauf später eingehen. Zunächst ist es nötig, kurz die Rolle der Familie für die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu der gegenwärtigen Form zu beschreiben. 1. Bestimmung von Ehe und Familie
Man vermutet, daß die Hilflosigkeit des Kindes bei der Geburt der Grund dafür ist, daß der Beziehung von Mutter und Kind bei den Menschen eine größere Bedeutung beigemessen wird als bei anderen Primaten. Wegen seines großen Gehirns muß ein Kind geboren werden, noch ehe sein Körper zur Selbsterhaltung gereift ist3 • Zwar sieht Fox4 Mutter und Kind als grundlegende Familieneinheit an. Gleichwohl ist die Verpflichtung der Mutter, das Kind an seinem Lebensanfang zu versorgen, ein wesentlicher Grund für das Eingehen einer ehelichen Verbindung mit einem männlichen Versorger, wenigstens für die Dauer der Erziehung des Kindes, wobei Dauer und Stabilität der Verbindung in den verschiedenen Kulturen variieren. Selbstverständlich gibt es keinen zwingenden Grund, diese Aufgabe der biologischen Mutter oder Frauen überhaupt zu übertragen und nicht, wie bei den Manus auf den Admiralitäts-Inseln, Männern 5 • Gleichwohl entwickeln die meisten Gesellschaften im Hinblick auf diese Aufgaben familiale Strukturen, und Westermarck meint deshalb, daß die Ehe mehr in der Familie als die Familie in der Ehe wurzelt6 • Die Ehe diente in früheren Gesellschaftssystemen auch einem anderen Zweck, nämlich dem der Einführung von Sippenverbänden. Diese uralte und sehr vielschichtige Methode sozialer Ordnung diente dazu, Menschengruppen zu vereinigen, zu vergrößern und zu versöhnen. LeviStrauss7 weist auf die symbolische Bedeutung von Geschenken hin und insbesondere auf die Bedeutung der Frauen beim Geschenkaustausch zwischen sozialen Gruppen. In unserem eigenen Kulturkreis bezieht man noch den Ausdruck "Giving away the bride" auf die Ehe. In vorindustriellen Gesellschaften wurden politische Macht und ökonomischer Reichtum durch die Idee der Standeszugehörigkeit geregelt. Die Ehe wurde das entscheidende Merkmal, um den Stand der Ehegatten und der ehelichen Kinder zu bestimmen. Die Idee, der Ehelichkeit besonderes Gewicht beizumessen, ermöglichte es, Vermögen und politische Macht in verhältnismäßig gesetzmäßiger Form weiterzugebens. S
S. L. Washburn und L. De Vore in: S. L. Washburn (Ed.), 1962, S. 96 ff.
• R. Fox, 1967. 5 M. Mead, 1931, S. 57 ff. 6 E. Westermarck, 1926, S. 30. 7 C. Levi-Strauss, 1969.
1. Bestimmung von Ehe und Familie
19
Dieses System kann desgleichen dazu verwendet werden, Reichtum und Macht einer anerkannten Gruppe zu sichern. So half die Kombination von Eheverbindungen und erbrechtlichen Regelungen den großen landbesitzenden Familien Englands, ihre Besitztümer zu erhalten und zu vergrößern. Vor der Eheschließung wurde vertraglich vereinbart, daß das Vermögen nach dem Tode des Ehemannes ungeteilt auf den ältesten ehelichen Sohn übergeht, daß der Witwe ein Einkommen aus dem Vermögen und den jüngeren Söhnen Geldsummen gezahlt werden. Da nicht immer genügend Kapital für die Zahlungen vorhanden war, mußte Geld durch Beleihung des Bodens geborgt werden. Zwar blieb das Land weiterhin ungeteilt, es wurde aber oft hoch belastet. So waren Eheschließungen mit Töchtern vermögender Eltern wünschenswert, um dann den notwendigen Kapitalzufluß herbeizuführen. Die Familie der Frau mußte für eine Einheirat in die grundbesitzende Aristokratie beträchtliche Summen, die sog. "portions", zahlen, die meist noch den Ankauf weiteren Grundbesitzes ermöglichten. Vereinbarte Ehen waren daher häufig, und Stone merkt an, daß viele Eheleute sich an ihrem Hochzeitstag regelrecht als Fremde gegenüberstandenG. Man schätzt, daß in der Mitte des 17. Jahrhunderts etwa die Hälfte des Grundbesitzes in England Fideikommiß WarD. Das Familien- und Sippensystem verlangte die Unterordnung der Wünsche und Interessen des einzelnen unter die Anforderungen aus seiner Position. Die Eigeninteressen wurden vielleicht nicht gerade ignoriert, aber sie besaßen keine vorrangige Bedeutung. Illegitime Kinder galten als Bedrohung für das reibungslose Funktionieren des Systems und mußten insbesondere bei der Erbfolge diskriminiert werden. Man unterstellte deshalb, daß Testamente und Urkunden, die auf Kinder verwiesen, sich nur auf eheliche Kinder bezogen. Nach common law11 ist das uneheliche Kind "filius nullius" und hat keinerlei Rechte gegen seine Eltern, noch diese ihm gegenüber. Die gesellschaftliche und persönliche Diskriminierung illegitimer Kinder muß aber nicht notwendigerweise eine rechtliche Diskriminierung nach sich ziehen. Im mittelalterlichen England behielten illegitim Geborene, anders als im zeitgenössischen Europa, ihre bürgerlichen Rechte. Die rechtliche Diskriminierung beschränkte sich im wesentlichen auf das Erbrecht12 • Erst im 16. Jahrhundert wurde die Nichtehelichkeit in England zum Stigma. Man schreibt dies dem Heraufkommen des Puritanismus und der AnL. Mair, 1971, Kapitell und 2. L. Stone, 1960-1. Für umfassenden überblick vgl. L. Stone, 1977. 10 H. J. Habbakuk, 1950. 11 Anm. d. ü.: Ursprüngliches durch richterliche Entscheidungen weiterentwickeltes Gewohnheitsrecht. 12 Vgl. H. D. Krause, 1971, S. 3 ff. 8
G
2*
20
I. Familie und Ehe
wendung der Poor Laws 13 zu, auf die die illegitimen Kinder und ihre Mütter häufig angewiesen waren14 • Die historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die die Struktur und die Funktionen der Familie verändert haben, führten auch zu bedeutenden Veränderungen in der rechtlichen Behandlung illegitimer Kinder. Ob sie das Stigma aufgehoben haben, sei dahingestellt. Jedenfalls bleiben die gesellschaftlichen Schwierigkeiten, die illegitime Kinder mit nur einem Elternteil zu meistern haben, weiterhin ein Problem, da unsere Gesellschaft davon ausgeht, daß Kinder mit beiden Eltern in einer Kleinfamilie aufwachsen. Die persönlichen Erwartungen Erwachsener mußten zumeist den Forderungen des Sippensystems untergeordnet werden. Eheschließungen und auch Scheidungen, soweit sie überhaupt gestattet waren, konnten von der Zustimmung der Sippe abhängen und an strenge Bedingungen gebunden sein. Dieses System traf Frauen besonders hart, da die Mutterrolle sie - mit Ausnahme reicher Frauen - an das Haus fesselte. Sexuelles Entweichen aus einer unglücklichen Ehe, das für Männer durch ein Mätressensystem oder Prostitution institutionalisiert war, war Frauen wegen ihrer ökonomischen Abhängigkeit und wegen der strengen Gesetze, die zu einer doppelten Moral des ehelichen Verhaltens führten, verwehrt. Männer und Frauen wurden gleichermaßen vom Ehebruch des anderen Ehegatten getroffen; da aber die Untreue der Frau illegitime Kinder in die Familie bringen konnte, störte sie das reibungslose Funktionieren des Sippensystems und wurde nicht geduldet. Die Einführung der gerichtlichen Scheidung in England, im Jahre 185815, erlaubte dem Ehemann, sich von seiner Frau aufgrund ihres Ehebruchs scheiden zu lassen, während die Ehefrau gegen einen ehebrecherischen Mann nur vorgehen konnte, wenn gleichzeitig Grausamkeit oder böswilliges Verlassen vorlag. Diese unterschiedliche Behandlung wurde erst 1923 aufgegeben16 • Die Scheidung blieb jedoch wegen der hohen Kosten ein Privileg der Reichen. Frauen aus der Arbeiterklasse stand nur der Weg zu den magistrates' courts 11 offen, die seit 1878 die eheliche Lebensgemeinschaft wegen einer schweren Körperverletzung des Ehemannes aufheben konnten. Frauen blieben dennoch zur sexuellen Enthaltsamkeit verpflichtet; andernfalls verloren sie ihren Unterhaltsanspruch18 •
13 14
15 16 11
18
Anm. d. ü.: Fürsorgegesetze. I. Pinchbeck und M. Hewitt, 1969, Kapitel 8. Matrimonial Causes Act 1857. Matrimonial Causes Act 1923, Sec. 1. Anm. d. U.: entspricht etwa den Amtsgerichten. Matrimonial Causes Act 1878.
1. Bestimmung von Ehe und Familie
21
Die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert zerstörten das Sippensystem als Mechanismus zur Verteilung von Macht und Vermögen und unterminierten die gesellschaftliche Bedeutung familiärer Beziehungen. Parallel zu dieser tiefgreifenden Veränderung ging eine ebenso fundamentale Revolution vor sich, die eine andere wesentliche Funktion der Familie betraf: hier handelt es sich um den einst unangetasteten Grundsatz, daß die Mutter die Kinder versorgt. Ende des 19. Jahrhunderts waren Frauen, wie Titmuss formuliert, "auf das Rad des Gebärens geflochten"19. Eine zwanzigjährige Frau, die eine Lebenserwartung von weiteren sechsundvierzig Jahren hatte, konnte dem entgegensehen, daß sie ein Drittel ihres Lebens mit Schwangerschaft und Kindererziehung verbringen werde. 1950 hatte eine Frau derselben Altersgruppe eine neun Jahre höhere Lebenserwartung, von der lediglich 7 % auf Schwangerschaft und Kindererziehung entfielen. Die Veränderung der Rolle der Frau innerhalb der Familie hat vermutlich am meisten zur Veränderung des Familienlebens im 20. Jahrhundert beigetragen. Dies wird am Rückgang der durchschnittlichen Familiengröße in England und Wales von 6,16 (1861 bis 1869) auf 2,24 bis 2,10 (1925-1942) deutlich, wie auch an der Zahl der Frauen, die während verschiedener Stadien ihres Lebens berufstätig sind. Eine 1968 veröffentlichte Untersuchung zeigt, daß 60,3 Ufo der Frauen zwischen 20 und 24 Jahren berufstätig waren, 37,3 % der Altersgruppe 25 bis 29 Jahre, 63,5 Ufo der Altersgruppe 45 bis 49 Jahre und 54,9 Ufo der Altersgruppe 50 bis 54 Jahre20 . Mehr als die Hälfte der berufstätigen Frauen zwischen 45 und 54 Jahren arbeitete ganztags; die verheirateten Frauen dieser Gruppe hatten sich nach Schwangerschaften und Kindererziehung neuen Aufgaben zugewendet. Ist die Familie unter derart veränderten Umständen überhaupt noch notwendig? Nach Parsons und Bales21 erfüllt die heutige amerikanische Familie zwei Aufgaben: die erste Sozialisation der Kinder und die charakterliche Festigung der erwachsenen Bevölkerung. Die Familie dient damit der Erfüllung der Interessen ihrer einzelnen Mitglieder. Experten der Kindererziehung sind fast ausnahmslos der Auffassung, daß es für Kinder vorteilhafter ist, in einer Familie aufzuwachsen als in einem Heim. Eltern stehen unter dem Erfolgszwang, ihre Kinder adequat zu "sozialisieren" und finden persönliche Erfüllung in der erfolgreichen Bewältigung der traditionellen Eherollen. In Konfliktsituationen sollen Eheberatungsstellen die Ehegatten unterstützen, um die größere 19 R. M. Titmuss, 1963, S. 91. 20 A. Hunt, 1968, Bd. 1, S. 24. 1979 waren 51,3 % der verheirateten Frauen in England und Wales erwerbstätig, Equal Opportunities Commission, Fourth Annual Report (1979) 70. 21 T. Parsons und R. F. Bales, 1955, S.16; vgl. auch R. M. Maclver und C. H. Page, 1950, S. 265 ff.
22
I. Familie und Ehe
persönliche Katastrophe - den Zusammenbruch der Ehe - zu verhindern. Die Ehe wird teilweise als natürliche Lebensform angesehen und ihr Mißerfolg auf Persönlichkeitsdefekte der Ehegatten zurückgeführt22 • 2. Kritik an der modernen Familie
Wenn wir den raison d'etre des Familienlebens in dem Erfolg auf der persönlichen Ebene suchen, müssen wir uns die Frage stellen, ob die Familie als Institution wirklich am besten für die Entwicklung des einzelnen geeignet ist. Wir können nämlich nicht ignorieren, daß die Familie ihren Mitgliedern häufig Schäden zufügt. Die Kritiker der Familie lassen sich in zwei Gruppen einteilen: eine extreme Richtung, die ihren Ursprung in der existentialistischen Schule der Psychoanalyse hat, und eine gemäßigte Richtung. Die extreme Richtung sieht die Familie als Instrument, mit dessen Hilfe die ältere Generation die jüngere mit ihren eigenen Wert- und Realitätsvorstellungen indoktriniert. R. D. Laing beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: "Eltern erklären einem Kind weniger, wie es sich verhalten soll, sondern sie suggerieren ihm eine Vorstellung darüber, was es für eine Persönlichkeit habe. Man sagt ihm, es sei ein gutes oder böses Kind, statt es dazu anzuhalten, ein solches Kind zu werden23 • Laings Analyse der Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Familienstruktur verhilft uns zu wertvollen Erkenntnissen über pathologische Situationen bei einzelnen und in Familiengruppen. Ihm zufolge könnte man einen derartig extremen Standpunkt einnehmen, daß eine jede Einwirkung auf die Persönlichkeit eines neuen Mitgliedes der Gesellschaft die unrechtmäßige Verformung seiner freien Entwicklung bedeutet. Cooper 4 entwickelt diese These weiter und meint, daß der Freiheit einer Persönlichkeitsentfaltung - ohne jede Beschränkung von außen - der höchste Stellenwert einzuräumen sei. Er läßt keine Konzessionen an die Anforderungen eines sozialen Verhaltens zu. Gleichwohl bringt er kein zwingendes Argument dafür vor, daß eine Gesellschaft, die sich aus unbeherrschten Individualisten zusammensetzt, einer Gesellschaft vorzuziehen ist, die gewisse Grenzen auferlegt. Zudem wird übersehen, daß manch frühes Erlernen zu einem breiten Spektrum an Wahlmöglichkeiten im späteren Leben führen kann. Selbst wenn wir die familiale Struktur abschaffen, ist damit nicht gesagt, daß nicht 22 M. Rheinstein, 1972, S. 441, meint dazu: "Der größte Dienst, den ein Eheberater einem Ehepaar erweisen kann, ist, ihnen zur Erkenntnis zu verhelfen, daß ihre Eheprobleme durch in ihrer Person begründete Schwierigkeiten verursacht werden, die zumeist nur durch Psychotherapie oder Eheberatung behoben werden können." 23 R. D. Laing, 1971, S. 78. 24 D. Cooper, 1971.
2. Kritik an der modernen Familie
23
andere Institutionen ihre Funktionen übernehmen werden. Die extreme Richtung müßte auch das ablehnen, und Illich hat bereits den hemmenden Einfluß institutioneller Einrichtungen kritisiert25 • Damit wird nicht so sehr die Familie als solche abgelehnt, sondern vielmehr jegliche Anforderung der Gesellschaft an den einzelnen. Diese fundamental anarchische Auffassung übte zwar großen Einfluß auf die Erziehungswissenschaften aus 2G , sie wird aber in dieser Ausprägung kaum große Unterstützung finden. Vermutlich wird sie lediglich in dem Spannungsverhältnis zwischen Anforderungen der Gesellschaft und uneingeschränkter Entwicklung der persönlichen Freiheit letzterer mehr Gewicht verleihen. Die gemäßigte Richtung erkennt zwar an, daß gewisse Regeln für die Kindererziehung notwendig sind, sie hält aber die Kleinfamilie nicht unbedingt für geeignet, diese Aufgabe zu erfüllen. Die Zwänge des traditionellen Rollenverständnisses rufen möglicherweise Konfliktsituationen hervor, die sich auf Erwachsene und Kinder gleichermaßen schädlich auswirken. So tragen Spannungen und Feindseligkeiten zwischen Eltern nach neueren Forschungsergebnissen zur Jugendkriminalität bei. Ebenso rückt das Problem der Mißhandlung und Vernachlässigung von Kindern durch ihre Eltern immer mehr in den Blickpunkt. Diese Tatsachen lassen Zweifel daran' aufkommen, ob die Familie überhaupt zur Erziehung von Kindern geeignet ist. Kritiker wie Fox 27 sehen die herkömmliche Ehe nur als Möglichkeit, nicht aber als biologische Grundvoraussetzung zur Unterstützung der Mutter-Kind-Beziehung an. Die schärfsten Kritiker der Familie sind vermutlich die women's liberation movements 28 , insbesondere soweit sie feministische Argumentation mit sozialistischen Idealen verbinden28 • Wir wollen deshalb kurz auf die sozialistischen Theorien über die Familie und die Rolle der Frau eingehen. Für Engels30 entsprach die Rolle der Frau in der bürgerlichen Familie der des Proletariats im Kapitalismus. Ihre wirtschaftliche Abhängigkeit führte zur Unterdrückung und Unterwerfung durch den Ehemann. Die frühen Kommunisten hofften, daß die ökonomische Verselbständigung der Frau, die Abschaffung des Besitzdenkens des Mannes und die Errichtung von Gemeinschaftseinrichtungen für Haushaltsführung und 25 I. !llich, 1971. Gil's weitgehendes Konzept der Kindesmißhandlung tendiert in diese Richtung: vgl. dazu D. W. Gil, 1975. 26 Vgl. J. Holt, 1973. 27 R. Fox, 1970, S. 7. 28 Anm. d. ü.: Feministinnen. 28 Vgl. insbesondere K. Millett, 1969; S. Firestone, 1971, und S. Rowbotham,
1972. 30
F. Engels, 1884; S. Rowbotham, 1972, Kapitel 3.
I. Familie und Ehe
24
Kindererziehung zur Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern führen werde. Das sowjetische Gesetz über Ehe, Scheidung, Familie und Vormundschaft vom November 1926 trug diesem Verlangen Rechnung. Man führte die Scheidung auf der Basis eines einfachen Antrages eines der Ehegatten ein. Ein arbeitsunfähiger und bedürftiger Ehegatte hatte bis zu einem Jahr nach der Scheidung einen Unterhaltsanspruch gegenüber dem anderen Ehegatten. Während der Ehe erworbenes Vermögen wurde zu gleichen Teilen aufgeteilt. Da wegen der propagierten sexuellen Freiheit formelle Eheschließungen nicht mehr notwendig waren, wurden De-facto-Verbindungen hinsichtlich der vermögensrechtlichen Regelungen Ehen gleichgestellt, um Frauen vor Härten zu bewahren. Diese Maßnahmen bewirkten keine sofortige Veränderung der Situation der Frau, aber man glaubte, daß die gleichberechtigte Eingliederung in den Arbeitsprozeß und die Teilung der Haushaltspflichten zu einer Loslösung vom Hausfrauendasein führen werde. Frauen ergriffen die neuen Möglichkeiten nur zögernd und setzten sich in der Regel einer Doppelbelastung aus, da die Vorschriften über die kollektive Haushaltsführung nicht durchgesetzt werden konnten31 • Die Neuerungen wurden ab 1936 schrittweise rückgängig gemacht. Schwangerschaftsunterbrechungen waren wieder von strengen Voraussetzungen abhängig; die Strafen für säumige Unterhalts schuldner und die Gebühren für die Registrierung der Scheidung wurden erhöht. 1934 hatte man bereits die Koedukation abgeschafft. Das Familiengesetz vom Juli 1944 stellte Eheschließungen wieder unter staatliche Aufsicht und erschwerte Scheidungen außerordentlich. Wir können die Hintergründe für diese Änderungen nur vermuten, da in totalitären Staaten Politik und Information von den Notwendigkeiten der Parteiideologie und nicht von gesellschaftlichen Realitäten diktiert werden. Die geplante kollektive Haushaltsführung und die Kinderkrippen ließen sich offensichtlich nicht verwirklichen32 oder scheiterten, wie die Berichte über retardierte Kinder, die in staatlichen Heimen erzogen wurden, belegen33 • Man hörte auch Beschwerden über eine leichtfertige Einstellung gegenüber der Ehe, die vermutlich darauf zurückzuführen ist, daß es Männern schwerfiel, ihr Verhalten gegenüber Frauen innerhalb so kurzer Zeit zu ändern. Am meisten mußte aber angesichts der Bedrohung durch Hitlerdeutschland der Bevölkerungsrückgang alarmieren, der - wie man annimmt - durch die nichtveröffentlichte Volkszählung von 1936 festgestellt wurde. Um die Geburtenrate zu erhöhen, führte man 1940 eine Sondersteuer für Kinderlose ein und befreite die Väter nichtehelicher Kinder von jeglichen Verpflichtungen gegenüber ihren 31 32
33
H. Geiger, 1968, S. 55 ff. K. MilIett, 1969, S. 170. H. Geiger, 1968, S. 110.
2. Kritik an der modernen Familie
25
Kindern und deren Müttern. Erst 1968 modifizierte der sowjetische Gesetzgeber die Regelungen über nichteheliche Kinder 34 • Das sowjetische Familienleben unterscheidet sich nicht wesentlich von dem anderer Gesellschaften gleicher Entwicklungsstufe, obwohl es einige Besonderheiten aufweist: einmal den großen Anteil berufstätiger Frauen und dadurch bedingt die Bedeutung der Großmutter für die Familie sowie die rapide zunehmende Unabhängigkeit der Jugend 35 • Ähnliche Entwicklungen fanden in der Volksrepublik China statt, obwohl das Regime nicht die bürgerliche Familie, sondern die Feudalfamilie angriff36 • Die kommunistische Übergangsverfassung von 1931 enthält das Grundrecht der Befreiung der Frau und der Freiheit der Ehe. Die Eheverordnungen von 1931 waren ein weiterer Schritt, um Frauen von den Fesseln der Familie zu lösen. Dem Ehemann oblag nach der Scheidung, die auf Wunsch jedes Ehepartners erfolgen konnte, die Verpflichtung, die Kinder zu erziehen, wenn die Frau diese Aufgabe nicht erfüllen wollte. Er mußte seine geschiedene Frau, unabhängig von der Schuldfrage, bis zu ihrer Wiederverheiratung unterhalten. Im Jahr 1934 hat man die Vorschriften modifiziert. Das Ehegesetz von 1950 postuliert ein neues, demokratisches Familiensystem auf der Basis der Gleichberechtigung und der ehelichen Liebe. Das Regime versuchte zunächst, die tradierten Ehebräuche mit großer Brutalität auszumerzen und ordnete erst 1953 an, daß die neuen Ideen nicht mit Strafen, sondern mit erzieherischen Maßnahmen durchzusetzen sind. China erklärte die Ehegattenfamilie zum Eckpfeiler der sozialistischen Ideologie und idealisierte sie in ähnlicher Weise wie der Westen die Kleinfamilie. Der "Große Sprung" (1958-1959) führte zu einem vorübergehenden Aufleben der Kommunen; die Kulturrevolution (1966) versuchte von neuern, für Männer und Frauen gleiche ökonomische Bedingungen herzustellen, ohne aber zu den Extremformen des Kommunelebens wie in den späten 50er Jahren zurückzukehren37 • Die Erfahrungen in beiden Ländern beweisen keineswegs, daß die Kleinfamilie unvermeidlich oder sogar eine biologische Notwendigkeit ist, sondern sie machen vielmehr deutlich, wie schwer es selbst Diktaturen haben, tief verwurzelte gesellschaftliche Gewohnheiten durch rechtliche Maßnahmen von oben zu verändern. Wenn man die Funktion der Kleinfamilie zur Kindererziehung und die tradierten ehelichen Rollen verändern will, muß man zuallererst für die Kindererziehung akzeptable Alternativen finden und die völlige ökonomische Gleichbe34 3S 36 37
Vgl. o. M. Stone, 1969. H. Geiger, 1968, S. 324. M. J. Meijer, 1971, S. 12. Vgl. S. Rowbotham, 1972, S. 196.
26
I.
Familie und Ehe
rechtigung der Frau herstellen. Daß weder die Sowjetunion noch China dieses Ziel bisher verwirklicht haben, heißt nicht, daß es unmöglich ist. Veränderungen sind in kleineren Gemeinschaften möglicherweise einfacher durchzuführen. Ein Beispiel hierfür ist der israelische Kibbuz, in dem die Gemeinschaft die herkömmlichen Aufgaben der Familie erfüllt. Die Mitglieder leben gemeinsam, arbeiten gemeinsam und ziehen gleichen Nutzen aus dem Gewinn. Die Gemeinschaft sorgt für die körperlichen Bedürfnisse der Kinder, die alle zusammen in einem Gemeinschaftskinderhaus wohnen und als Kinder der Gemeinschaft angesehen werden. Gleichwohl werden die psychologischen Beziehungen zwischen Kind und Eltern aufrechterhalten und die emotionalen Bedürfnisse des Kindes von den Eltern erfülle8 • Diese Kinder unterscheiden sich später nicht von Kindern, die in einer "normalen" Familie aufgewachsen sind; sie neigen aber verständlicherweise dazu, sich stärker mit ihrer eigenen Altersgruppe zu identifizierensv. In der westlichen Welt wurde die Rolle der verheirateten Frau durch weniger Geburten und die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß in einer Weise verändert, die den Vorstellungen der Feministinnen und der sozialistischen Lehre nahe kommen. Was aber die Rollenverteilung zwischen den Ehegatten innerhalb der Familie anbelangt, scheint im Westen ein größeres Maß an Gleichberechtigung vorzuherrschen als in der Sowjetunion. Rowbotham40 zitiert das Ergebnis einer Untersuchung von 160 Arbeiterfamilien in Leningrad, demzufolge nur 30 % der Ehemänner im Haushalt mithelfen. Dagegen stellte Gavron41 bei ihrer Befragung englischer Arbeiter eine sehr hohe Beteiligung bei der Hausarbeit fest. Trotz fortschreitender Gleichberechtigung lassen sich Krisen nicht verhindern. Die Familie ist nicht nur die häufig zitierte Keimzelle der Gesellschaft, sondern auch die Keimzelle von Konflikten, die einzelne Familienmitglieder schweren Gefahren aussetzen und Schäden verursachen können. Die Probleme, die durch familiäre Disharmonie und mangelndes Eingliederungsvermögen entstehen, bilden den größten Teil dieses Buches. Zuvor ist es jedoch nötig aufzuzeigen, auf welche Weise die Familie ihre Funktionsfähigkeit verliert und wie besorgniserregend dieses Problem ist. 88 Vgl. G. R. Leslie, 1967, S. 142 ff. Die Entwicklung "familialer" Tendenze~ in Kibbutzim ist festgestellt worden von Elizabeth Irvine, The Family in the Kibbutz (London, Study Commission on the Familiy, Occasional Paper No. 4,
1980).
Vgl. B. Bettelheim, 1969. Ebd., S. 165. Bei grundsätzlichen Entscheidungen, die die Familie betref. . fen, scheinen die Partner weitgehend gemeinsam zu entscheiden: H. Geiger, 39
40
1968, S. 227 f. 41
H. Gavron, 1966, S. 82 f.
1. Nichtverheiratete Eltern
27
11. Funktionsgestörte Familien· Nach Auffassung unserer Gesellschaft verhilft die Familie Erwachsenen zu ihrer persönlichen Erfüllung und dient als Mechanismus zur Erziehung der Kinder. Diese Erwartungen müssen zu schweren Krisen bei den Beteiligten führen, sobald die Verbindung nicht mehr richtig funktioniert oder auseinanderbricht. Die Familie erfüllt möglicherweise ihre Funktion nicht mehr, weil sie unvollständig ist, etwa wenn eine alleinstehende Mutter ein Kind zur Welt bringt oder es nach einer Scheidung allein großzieht, oder weil die Beziehungen zwischen Ehegatten sich verschlechtern, obwohl sie nach außen intakt erscheinen. Schließlich kann die Familie an der Trennung der Ehegatten oder am Tode eines Ehegatten scheitern. Diese bereits an sich schmerzlichen Vorgänge führen bei Erwachsenen wie bei Kindern zu weiteren Problemen, die sich bei der Anpassung an die veränderte Situation stellen. Die Vorteile der Familie sind nicht zu unterschätzen, aber der Preis, den die einzelnen zahlen, die sich selbst nicht oder deren Eltern sich nicht systemgerecht verhalten haben, kann vernichtend sein. Wir wollen nunmehr untersuchen, aus welchen Gründen Familien in der heutigen Gesellschaft scheitern und wie die dabei entstehenden Probleme in verschiedenen Rechts- und Gesellschaftssystemen behandelt werden. 1. Nichtverheiratete Eltern
Eine Ein-Eltern-Familie kann dadurch entstehen, daß ein Elternteil durch Trennung oder Tod wegfällt oder die Eltern niemals zusammen gelebt haben. Im letzten Fall wird es sich meist um eine nichtverheiratete Mutter und ihre nichtehelichen Kinder handeln. Nicht alle nichtehelichen Kinder wachsen in Ein-EItern-Familien auf: Verheiratete Frauen oder in eheähnlicher Gemeinschaft lebende Personen können nichteheliche Kinder haben; oder diese können bei Adoptiv- oder Pflegeeltern aufwachsen. Die Schwankungen der Zahlen nichtehelicher Geburten in verschiedenen Kulturkreisen und innerhalb ein und des-
* Vgl. hie-rzu F. Arntzen, Elterliche Sorge und persönlicher Umgang mit Kindern aus gerichtspsychologischer Sicht, München 1980. Mit dem Problem der Gewalt in der Familie, insbesondere der Mißhandlung kleiner Kinder, beschäftigt sich ausführlich D. Giesen, Kindesmißhandlung? - Zur Kinderund Familienfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn München - Wien - Zürich 1979; ders., "Gewalttätigkeiten in der FamilieAm Beispiel Kindesmißhandlung orientierte überlegungen aus Anlaß des 2. Weltkongresses der Internationalen Gesellschaft für Familienrecht in Montreal (Juni 1977) zum Thema: "Violence in the Family", in: FS für Günther Beitzke, Berlin - New York 1979, 209 ff. sowie G. Zenz, Kindesmißhandlung und Kindesrechte - Erfahrungswissen, Normstruktur und Entscheidungsrationalität, Frankfurt/Main 1979.
11. Funktionsgestörte Familien
28
selben Kulturkreises werden als verwirrend bezeichnet42 • Obwohl man glaubte, daß die Zahl der nichtehelichen Kinder mit der Herabsetzung der Ehemündigkeit in England fallen wird, wurde das Gegenteil festgestellt. Zwei Kommentatoren, die die Tendenzen der Illegitimität in England von 1561 bis 1960 beobachtet haben, bemerken dazu: "Es gibt interessante Anzeichen für ein rhythmisches Ansteigen und Fallen der Nichtehelichenrate wie eine Wellenbewegung über einen Zeitraum von etwa 200 Jahren ... Dieses Verhaltensmuster scheint mit der langfristigen rhythmischen Veränderung in der Gesamtfruchtbarkeit, deren Existenz schon lange von Demographen vermutet wurde, in Wechselwirkung zu stehen42 ." Mit Ausnahme des Zeitraumes zwischen den beiden Weltkriegen stieg die Zahl der nichtehelichen Geburten in diesem Jahrhundert in England und Wales nur langsam (vgl. Schaubild 1). Ab 1960 ist ein starker Zuwachs zu verzeichnen, nach 1968 sank die Zahl leicht und stieg 1979 wieder auf 11 Ofo aller Lebendgeburten an. Die Erhöhung fällt in einen Zeitraum, in dem sehr jung geheiratet wurde und in dem gleichzeitig die Zahl der Scheidungen stark angestiegen war. Dieser Vorgang kann weder mit rechtlichen, noch mit administrativen Veränderungen erklärt werden. Nach Auffassung des Finer Committee gibt es keine überzeugende Erklärung43 • Hartley sieht dagegen die Ursache dafür in der Kombination von Individualismus, Wohlfahrtsstaat und einer Massengesellschaft, die permanent mit sexuellen Fragen konfrontiert wird 44 • Die nichtehelichen Geburten nahmen ebenso in Kanada (von durchschnittlichen 3,8 % aller lebend Geborenen in den Jahren 1951 bis 1955 auf 9 Ofo in den Jahren 1971, 1972 und 1973)4\ in Australien (von 4,04 Ofo zwischen 1946 und 1950 auf 11,7 Ofo im Jahre 1979)48 und insbesondere in Neuseeland (von 8,8 Ofo im Jahre 1963 auf 20,9 Ofo im Jahre 1979) zu 47 • Eine genauere Aufschlüsselung der Statistiken gibt einige Hinweise auf die Umstände, die möglicherweise zur hohen Zahl nichtehelicher Geburten in England und Wales beitragen. Tabelle 4 auf S. 30 zeigt die Geburten bei Frauen unter vierzig Jahren in England und Wales in den Jahren 1956, 1967 und 1973 auf. Spalte (a) enthält die Zahlen der nichtehelichen Geburten in jeder Altersgruppe als Prozentsatz der Gesamtzahl der Geburten dieser Altersgruppe in dem bestimmten Jahr. 1967 stieg der Prozentsatz in allen Altersgruppen gegenüber 1956 an, insbesondere aber bei den unter Zwanzigjährigen (von 16,7 Ofo auf 25,8 Ofo). 42
43 44 45 46 47
P. Laslett und K. Oosterveen, 1973. Finer Report, 1974, Bd. 1, Ziff. 3.60. S. M. Hartley, 1966. Canada Official Yearbook 1975, Tab. 4.37. Australia Official Yearbook 1974, S. 184. New Zealand Official Yearbook 1976, S. 92.
29
1. Nichtverheiratete Eltern
1973 wurde ein starker Rückgang der Gesamtzahl der Geburten verzeichnet, dennoch erhöhte sich der Prozentsatz der nichtehelichen Geburten von 8,4 Ofo auf 8,6 Ofo. Schaubild 1
Nichteheliche Geburten als Prozentsatz aller Lebendgeburten in England und Wales. 190(}-1975 9.5 f9.0 i8.5
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Annual Abstract of Statistics.
Während der Prozentsatz der nichtehelichen Geburten in den Altersgruppen 20 bis 24 Jahre und 25 bis 29 Jahre gegenüber 1967 leicht fiel, stieg er in der Altersgruppe der unter Zwanzigjährigen weiter von 25,8 Ofo auf 28,3 Ofo. Spalte (b) verdeutlicht das Ansteigen nichtehelicher Geburten bei besonders jungen Müttern. 1956 entfielen nur 18,8 Ofo aller nichtehelichen Geburten auf Mütter unter zwanzig Jahren. Dagegen entfielen 1972 35,7 Ofo aller nichtehelichen Geburten auf Mütter unter zwanzig Jahren, verglichen mit 31,2 Ofo bei Müttern zwischen 20 und 24 Jahren. Bei einer von drei nichtehelichen Geburten war die Mutter also jünger als zwanzig Jahre.
30
11. Funktionsgestörte Familien
Tabelle 4 Geburten in England und Wales in den Jahren 1956, 1967 und 1973 (a) %
Alter der Mutter bei der Geburt
1956 gesamt
ehelich
nichtehelich
Alle Altersgruppen unter 20 ............ 20-24 .............. 25-29 .............. 30-34 .............. 35-39 ..............
707.921 38.493 205.838 224.553 144.258 72.167
673.808 32.066 195.570 217.494 138.827 68.637
34.133 6.427 10.268 7.059 5.431 3.530
4,8 16,7 5,0 3,1 3,8 4,8
Alter der Mutter bei der Geburt
1967 gesamt
ehelich
nichtehelich
(a)
Alle Altersgruppen unter 20 ............ 20-24 .............. 25-29 .............. 30-34 .............. 35-39 ..............
835.433 85.221 292.766 244.225 130.422 63.584
764.977 63.341 268.720 232.318 123.542 59.459
70.456 21.880 24.046 11.907 6.880 4.125
8,4 25,8 8,2 4,9 5,3 6,5
Alter der Mutter bei der Geburt
1973 gesamt
ehelich
nichtehelich
(a)
Alle Altersgruppen unter 20 ............ 20-24 .............. 25-29 .............. 30-34 .............. 35-39 ..............
677.125 73.743 224.179 243.696 91.746 34.322
618.702 52.842 205.937 233.281 86.434 31.638
58.423 20.901 18.242 10.415 5.312 2.684
8,6 28,3 8,1 4,2 5,7 7,8
%
%
(b) % 100 18,8 30,0 20,7 15,9 10,3
(b) %
100 31,1 34,1 16,9 9,8 5,9
(b) %
100 35,7 31,2 17,8 9,0 4,6
Anm.: Spalte (a) NIchtehelIche Geburten als Prozentsatz der Gesamtzahl aller Geburten In jeder Altersgruppe. - Spalte (b) NIchteheliche Geburten der Altersgruppen als Prozentsatz aller nichtehelIchen Geburten. Fundstelle: Reglstrar-General: Statlstlcal Review ot England and Wales, 1956, 1967, 1973.
Die Statistik zeigt aber auch einen erfreulicheren Trend. Während von 1964 bis 1967 die Zahl der Lebendgeburten in England und Wales kontinuierlich um 5 % sank, erhöhten sich im gleichen Zeitraum die nichtehelichen Geburten um 10,40/0. Seit 1968 sinken auch die nichtehelichen Geburtenziffern in etwa demselben Umfang wie alle anderen Geburtenziffern. 1975 war die Gesamtzahl aller Geburten um 27,5 0J0 und die Gesamtzahl aller nichtehelichen Geburten um 21,4 % geringer als im Jahre 1967 48 • Der Rückgang der nichtehelichen Geburten ent48
Berechnet nach
eso Annual Abstract of Statistics 1976, Tab. 25.
1. Nichtverheiratete Eltern
31
spricht damit dem starken Rückgang der Gesamtgeburtenrate. In Australien, Kanada oder Neuseeland ist diese Übereinstimmung nicht festzustellen. Der in England zu vermutende Zusammenhang mit der Einführung eines liberalen Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch im Jahre 1968 wird weiter unten behandelt. Illsey und Gill49 untersuchten Entwicklungstendenzen der Illegitimität und stellten fest, daß nach dem 2. Weltkrieg nichteheliche Geburten häufiger in städtischen als in ländlichen Gegenden auftraten. Außerdem wechselte die Häufigkeit nichtehelicher Geburten innerhalb der gesellschaftlichen Klassen (von der Höchstzahl in Klasse V gleichmäßig abnehmend bis Klasse I). Sie hat nunmehr folgende Reihenfolge (beginnend mit der höchsten Zahl nichtehelicher Geburten): Klasse IV, II, III, V und I (vgl. Tabelle 9). Diese Veränderungen zeigen nach Auffassung der Autoren, daß heute das jugendliche Alter der Partner und die durch das städtische Leben bedingten freieren Verhaltensweisen entscheidende Faktoren für nichteheliche Geburten sind. Nach der National Child Development Study (1958, Cohort)~, kommen die Väter nichtehelicher Kinder aus allen Gesellschaftsklassen, während bei den Müttern die Gruppe meist mittelloser Teenager· besonders zahlreich vertreten ist51 • Wie häufig nichteheliche Kinder in Ein-EItern-Familien hineingeboren werden, ist schwer zu beurteilen. Wimperig52 stellte aufgrund einer Befragung in einer Stadt in Mittelengland fest, daß etwa 40 % der nichtehelichen Kinder in relativ stabile Verbindungen hineingeboren werden. Der Perinatal Mortality Survey5~, der der National Child Development Study~ zugrunde liegt, ergab, daß 61 Ufo der Mütter nichtehelicher Kinder nicht verheiratet waren und 86 Ufo davon alleirie lebten54 • Tatsächlich lebten also nur 17 Ufo in einer eheähnlichen Gemeinschaft. Da die nichtverheirateten Mütter meist auch die jüngsten Mütter sind und die nichtehelichen Geburten am stärksten bei den jüngsten Frauen angestiegen sind, wird eine immer größere Anzahl nichtehelicher Kinder in Ein-Eltern-Familien geboren. Diese Kinder müssen nicht notwendigerweise in Ein-EItern-Familien bleiben: Viele Mütter heiraten später oder lassen die Kinder adoptieren. Allerdings ist der Anteil nichtehelicher Kinder bei den adoptierten Kindern von 1 von 3 Kindern (in England und Wales) in den fünfziger Jahren auf 1 von 4,4 Kindern 49 R. Illsey und D. G. Gill, 1968; siehe auch Derek Gill, Illegitirnacy, Sexuality and the Status of Wornen, Oxford 1979. 50 Anrn. d. ü.: Nationale Untersuchung über die Entwicklung von Kindern. 51 E. Crellin, M. L. Kellmer Pringle und P. West, 1971, S. 38 f. 52 V. Wirnperis, 1960. 53 Anrn. d. Ü.: Untersuchung über die Kindersterblichkeit. 54 E. Crellin et alii, 1972, S. 24 und Tab. A 2.1.
32
11. Funktionsgestörte Familien
im Jahre 1971 gefallen55 • Man schätzt, daß 1971 etwa 120.000 Kinder mit nichtverheirateten Müttern lebten. Da die Zahl nichtehelicher Kinder insbesondere bei Teenagern weiterhin hoch bleibt und die Zahl der Adoptionen zurückgeht, wird die Nichtehelichkeit ein ernstes gesellschaftliches Problem bleiben. Wir werden die wirtschaftlichen Probleme der Ein-Eltern-Familien, die unvergleichlich größer sind als die finanziellen Schwierigkeiten vollständiger Familien, später behandeln. Nach der National Child Development StudySO erzielten nichteheliche Kinder im Alter von sieben Jahren schlechtere Ergebnisse in der Schule und bei Tests als eheliche und adoptierte Kinder; sie erhalten auch weniger elterliche Unterstützung. Gleiches gilt auch für Kinder, deren Eltern in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben. Diese Kinder sind bereits vor der Geburt größeren Risiken ausgesetzt und werden häufiger als andere Kinder totgeboren oder sterben innerhalb von vier Wochen nach der Geburt. Während der Kindheit treten Verletzungen, Krankheit oder Tod häufiger auf als bei anderen Kindern 56 • Dies ist einmal auf die Tatsache, daß sich alleinstehende Mütter mangelhaft auf die Geburt vorbereiten, zurückzuführen und zum anderen auf die enormen praktischen Probleme, die sich einem alleinstehenden Elternteil stellen. Mit elf Jahren57 bestand kein wesentlicher Unterschied mehr in den Schulergebnissen, im Verhalten (behaviour) oder Anpassungsvermögen (adjustment) zwischen nichtehelichen Kindern, die von ihren Müttern versorgt werden, und Kindern, die in vollständigen Familien leben, wenn man andere Umstände, wie etwa gesellschaftliche Klassen, ausschließt. Kinder aus geschiedenen oder getrennten Ehen schienen dagegen größere Schwierigkeiten zu haben58 • Man darf aber dabei nicht vergessen, daß Mütter nichtehelicher Kinder normalerweise gesellschaftlich und wirtschaftlich nach unten ab sinken und die Ergebnisse nur zeigen, daß nicht eheliche Kinder, die mit ihren Müttern leben, nicht wesentlich schlechter abschneiden, als Kinder aus vollständigen Familien in vergleichbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umständen. Bei Kindern, die allein mit ihren Vätern lebten, waren die Zahlen zu gering, um daraus Schlußfolgerungen ziehen zu können.
55 56 57 58
Finer Report, 1974, Bd. 1, Ziff. 3.62 f. E. Crellin et alii, 1972. Follow-up Study der im Jahre 1958 untersuchten Kinder. E. Ferri, 1976.
2. Gewalt zwischen Ehegatten oder Partnern eheähnlicher Gemeinschaft
33
2. Gewalt zwischen Ehegatten oder zwischen Partnern einer eheähnlichen Gemeinschaft
In unserer Gesellschaft finden die meisten Gewalttaten innerhalb der Familie statt; Frauen werden vermutlich häufiger von ihren Ehemännern tätlich angegriffen als von Fremden, und Kinder wurden seit jeher häufiger von ihren eigenen Eltern verletzt oder getötet als von anderen. Ende des 19. Jahrhunderts hat man diese nur schwer akzeptierbaren Wahrheiten zumindest teilweise anerkannt und nach den Lösungen gesucht, während man sie im 20. Jahrhundert verdrängt und sich mit den primitiven, im letzten Jahrhundert eingeführten, Rechtsbehelfen zufriedengibt. Für diese Apathie gibt es keine Entschuldigung: 1974, ein nicht untypisches Jahr, fanden 47 % aller Morde und Totschläge in England und Wales in Familien statt. Davon erfolgten 23 0/0 gegenüber Ehegatten oder Partnern einer eheähnlichen Gemeinschaft 59 • Kindesmord ist in diesen Zahlen nicht enthalten. R. I. Parnas wies 1967 darauf hin, daß in Chicago die Anrufe bei der Polizei wegen häuslicher Streitigkeiten um 40 % höher waren als alle anderen Anrufe und daß 1965 fast ein Drittel aller schweren Gewalttätigkeiten in den Vereinigten Staaten zwischen Verwandten oder Bekannten vorfielen. Fast ein Drittel aller Morde und Totschläge wurde an Verwandten verübt60 • Das öffentliche Gewissen ist durch zwei Faktoren wachgerüttelt worden. Von vermutlich größter Bedeutung war die Pionierarbeit von Erin Pizzey, die im Jahre 1971 in Chiswick das erste Woman's Aid Shelter81 in Großbritannien gegründet und dessen Geschichte 1974 publiziert hat 82 • Außerdem setzte sich die Erkenntnis durch, daß Konflikte zwischen Eltern bei Kindern emotionale Schäden auslösen können. Man erkennt heute, daß rechtliche Interventionen primär notwendig sind, um bedrohte Ehegatten zu schützen und die emotionale, und häufig die physische, Unversehrtheit von Kindern zu gewährleisten. Im Februar 1975 hat das House of Commons 63 eine Untersuchungskommission eingesetzt, um Ursachen und Ausmaß der Gewalt zwischen Familienmitgliedern und der non-accidental injuries 64 von Kindern zu untersuchen. In ihrem Bericht65 verwies die Kommission darauf, daß nur 59 Horne Office, Criminal Statistics for England and Wales 1974, Tab. 23, Homicide (HMSO). 60 R.1. Parnas, 1967, S. 914; vgl. für Statistiken neueren Datums: B. F. Steele, 1976. 61 Anm. d. ü.: Frauenhaus. 62 E. Pizzey, 1974. 63 Anm. d. ü.: Britisches Unterhaus. 84 Anm. d. ü.: nicht zufällig hervorgerufene Verletzungen. 85 Report from the Select Committee on Violence in Marriage, Vol. I, H. C. 533-i 1975. Der Ausschuß wurde später in Select Committee on Violence in the Family umbenannt.
3 Eekelaar
34
11.
Funktionsgestörte Familien
wenig über das Ausmaß des Problems bekannt sei und zitierte66 eine Schätzung des parlamentarischen Staatssekretärs im Welsh Office 67, daß in Wales pro Jahr ca. fünftausend Frauen, das sind 0,7 Ofo aller verheirateten Frauen, mißhandelt werden. Nach der überschlägigen Schätzung von Marsden und Owens (1975) kommen in etwa 10 Ofo der Ehen im Vereinigten Königreich schwere Mißhandlungen vor. Genaue Schätzungen über die Häufigkeit ehelicher Gewalttätigkeit scheitern nicht zuletzt an der Schwierigkeit, adäquate Untersuchungsmethoden und präzise Definitionen für Vorfälle, die eine Ehe oder eine De-facto-Verbindung als gewalttätig einstufen, zu entwickeln. Murray A. Straus untersuchte das Phänomen eheliche Gewalttätigkeit in den Vereinigten Staaten und stellte eine Skala der physischen Angriffe auf 68 :
K. L. M. N. O. P.
Gegenstände auf den Partner werfen; stoßen, schieben oder packen; einen Schlag geben; treten, beißen oder mit der Faust schlagen; schlagen mit einem Gegenstand oder der Versuch desselben; zusammenschlagen; Q. mit einem Messer oder Gewehr bedrohen; R. ein Messer oder Gewehr benutzen.
Seine Repräsentativerhebung von über zweitausend Paaren ergab, daß 3,8 0J0 der Befragten innerhalb des letzten Jahres einen oder mehrere Angriffe begangen hatten, die in die Kategorien L bis R fielen. Derartige Gewalttaten werden nach Straus gegenüber 1,8 Millionen Frauen in jedem Jahr in den Vereinigten Staaten begangen, und er vermutet eine ebenso hohe Dunkelziffer. Seine Untersuchung zeigt, daß Frauen fast ebenso häufig Männer angreifen, nur mit anderen Mitteln, da ihre Angriffe zumeist in die Kategorien K bis 0 fallen. Die Psychopathologie hat noch keine Erklärung für die außergewöhnliche Gewalttätigkeit innerhalb der Familie gefunden. Sicherlich tragen kulturelle Normen zu einem Ethos bei, das Gewalt zwischen Ehegatten toleriert oder bis zu einem gewissen Grad als legitim betrachtet. Wir brauchen nur uns selbst als Beispiel zu nehmen und zu überlegen, ob wir ebenso bereitwillig intervenieren oder die Polizei rufen würden, wenn ein Mann droht, seine Frau während eines Streits zu schlagen, .66 67 68
Ebd., I Ziff. 7. Anm. d. n.: Regierungsbehörde für walisische Angelegenheiten. M. A. straus, 1977.
2. Gewalt zwischen Ehegatten oder Partnern ehe ähnlicher Gemeinschaft
35
als wenn die Streitenden Fremde sind. Manche Autoren sehen eheliche Gewalttätigkeit als Reaktion auf druckende wirtschaftliche oder gesellschaftliche Bedingungen68 oder als Antwort auf gegenwärtige Praktiken der Kindererziehung 70 oder sogar als Manifestation einer gesellschaftlichen Struktur an, die Frauen in Unterordnung gegenüber Männern halten will 71 • Man darf das Ausmaß und die Natur der ehelichen Gewalttätigkeiten nicht unterschätzen; wenn man jedoch eine Kausalbeziehung unterstellt zwischen der Gewalttätigkeit und den Erfahrungen, die fast jeder macht, so könnte man ebenso die Zündholzherstellung auf Pyromanie zurückführen. Es ist wesentlich aufschlußreicher, die Faktoren zu untersuchen, die in Fällen exzessiver Gewalttätigkeit vorliegen; anormale Merkmale sind hier häufig. Einige der von Pizzey beschriebenen Fälle weisen eine hohe Inzestrate in den Familien, Gewalttätigkeit in der Familie des Mannes und ein besonders jugendliches Alter der später mißhandelten Ehefrau auf. Auch der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission stellt bei den Beteiligten jugendliches Alter und eine gewalttätige Familiengeschichte fest; hinzu kommt als weiterer Faktor übermäßiges Trinken. Marsden und Owens (1975) warnen davor, die Ursachen, die zu Gewalttaten führen, zu generalisieren, da sie bei den VOn ihnen untersuchten Fällen eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren feststellten. In den Handlungen der Frauen kann eine unbewußte Selbsterfüllung liegen. Mädchen wenden sich z. B. Männern zu, die aggressiv sind oder Alkoholprobleme haben, weil sie in ihrer Kindheit Aufgaben wahrnehmen mußten, die von unfähigen Eltern nicht ausgeführt wurden72 • Andere können durch eigenes, provokatorisches Verhalten gegenüber dem Ehemann die Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat erhöhen7&. J. J. Gayford untersuchte die Geschichte von 100 mißhandelten Frauen, die zum Großteil in Chiswick Zuflucht gesucht hatten74 • Nach Aussage der Frauen hatte nur etwa die Hälfte der Männer eine gewalttätige Familiengeschichte, aber bei 74 Ufo lag exzessiver Alkoholismus vor. Gayfords Untersuchung ist auf eine bestimmte Bevölkerungsschicht beschränkt, und seine Ergebnisse können deshalb nicht verallgemeinert werden. Es verwundert nicht, daß 65 Ufo der Männer ungelernte Arbeiter waren, soweit sie überhaupt arbeiteten, da Frauen VOn Akademikern kaum in Chiswiek Woman's Aid61 Zuflucht suchen würden. Mit derselben Vorsicht ist Faulks Befragung von 23 Männern, die ein Verfahren wegen Körperverletzung 69 R. Genes, 1972. M. H. Lystad, 1975, und M. D. A. Freeman, 1977, behandeln die verschiedenen Theorien, die zu diesem Problem vertreten werden. 70 D. Abrahamsen, 1970; M. A. Straus, 1977. 71 J. Hanmer, 1977 (zit. nach M. D. A. Freeman, 1977). 72 Vgl. E. Pizzey, S. 69 f. 73 Vgl. Marsden und Owens, 1975. 74 J. J. Gayford 1975 a, 1975 b.
3*
36
II. Funktionsgestörte Familien
ihrer Frauen erwarteten, zu betrachten75 • Nach seiner Feststellung verursachten fortgesetzte Streßsituationen oder schwere Geisteskrankheit die tätlichen Angriffe. Die Zufälligkeit, mit der diese Männer zur Straf... verfolgung ausgesucht worden waren, macht Schlußfolgerungen aufgrund seiner Ergebnisse unmöglich76 • 3. Kindesmißhandlung
Kindesmißhandlung ist ebensowenig ein Phänomen unserer heutigen Gesellschaft wie häusliche Gewalttätigkeit. Es verwundert nicht, daß die Ende des 19. Jahrhunderts gegründete National Society for the Prevention of Cruelty to Children (NSPCCr in einer Gesellschaft, die Kinderarbeit tolerierte und in der Kindestötung üblich war, als Routinearbeit Fälle extremen Leidens aufdeckte. Gertrude Truckwell führt in einem Bericht über die Arbeit der Gesellschaft im Jahre 1894 folgende Vorfälle als üblich auf: "... beißen einer Kinderfaust bis eine Wunde entsteht und dann Verbrennen der Wunde; den Ring einer Saugflasche in der Kehle eines drei Monate alten Babys hin- und herbewegen, bis sie blutet; ein Baby wochenlang in der Wiege lassen, bis aus der eigenen Fäulnis Giftpilze um das Kind wachsen; den Stumpf eines amputierten Beines schmerzhaft halten, um aufgrund des schmerzverzerrten Gesichtes des Kindes Mitleid zu erregen ... "78. Der Fortschritt in der Medizin, speziell in der Röntgenographie 78 , führte dazu, daß bei Kindern im frühen Alter Verletzungen festgestellt werden können, die anderenfalls verborgen geblieben wären80 • Kempe hat 1962 den Ausdruck battered child 81 benutzt, um die Öffentlichkeit auf dieses Problem aufmerksam zu machen82 • Heute wird der Ausdruck non-accidental injury 64 vorgezogen, da er mehr der therapeutischen Betrachtungsweise entspricht. Kindesrnißhandlung ist nicht notwendigerweise synonym mit Kindesvernachlässigung, obgleich beide zusammen vorliegen können83 • MißM. Faulk, 1974. Vgl. dazu auch M. Gregory, 1976. 77 Anm. d. ü.: Nationale Gesellschaft zur Verhinderung der Kindesmißhandlung. 78 M. Tuckwell, 1894, S. 132 f. (zit. nach I. Pinchbeck und M. Hewitt, 1973, S.628). 79 J. Caffey, 1946. 80 S. Brandon, 1976, S. 3, weist darauf hin, daß Samuel West bereits 1888 im British Medical Journal eine klassische Beschreibung des Kindesmißhandlungssyndroms veröffentlicht hat. 81 Anm. d. ü.: Das geschlagene Kind: Synonym für Kindesmißhandlung. 82 C. H. Kempe et aIii, 1962. 83 Vgl. R. E. Helfer und C. H. Kempe (Eds.), 1974. J. E. Oliver et alii, 1974, 75 78
3. Kindesmißhandlung
37
handelte Kinder sind eher die Opfer von überängstlichen (over-anxious), überbesitzergreifenden (over-possessive) Eltern84 • Wenn sie die Angriffe überleben, entwickeln sie ein charakteristisches Verhaltensmuster, das als frozen watchfulness 85 bezeichnet wird. Sie passen sich dem nicht voraussehbaren Verhalten der Eltern an und reagieren auf Stimulierung nicht mit der Stimme, sondern bleiben mit erstarrtem Blick stumm86 • Bislang sind die Versuche, festzustellen, inwieweit Mißhandlungen zu langfristigen medizinischen Folgen, wie neurologischen Störungen und geistigen Behinderungen, beitragen, weitgehend spekulativ geblieben. Wie bei anderen häuslichen Gewalttaten ist es schwierig, das Ausmaß schwerer Kindesmißhandlung genau zu schätzen. Wir kennen annähernde Zahlen, da Eltern ihre verletzten Kinder häufig zur Behandlung in Krankenhäuser bringen und Ärzte jedenfalls von dem Tod eines Kindes erfahren. Hall (1975) stellte in seiner Untersuchung bei Kindern im Preston Krankenhaus 9,6 % definitive Fälle von Kindesmißhandlung innerhalb von drei Jahren mit einer Sterblichkeitsrate von 17,6 % fest. Übertragen auf die Gesamtzahl aller Krankenhausbehandlungen kommt man zu dem Ergebnis, daß etwa viertausendvierhundert mißhandelte Kinder in jedem Jahr behandelt werden, von denen etwa siebenhundertsiebenundfünfzig sterben. Die NSPCC 77 vermutet aufgrund dieser Schätzung, daß in Großbritannien zwei Kinder pro Tag von ihren Eltern getötet werden87 • MacKeith kommt zu ähnlichen Ergebnissen, jedoch weisen die von ihm zitierten Untersuchungen große Schwankungen in den geschätzten Sterblichkeitsraten auf88 • Das Royal College of Psychiatrists 89 glaubt, daß jährlich zehn von zehntausend Kindern unter vier Jahren in England und Wales schwer verletzt werden und daß in jeder Woche sechs Kinder an diesen Verletzungen sterben90 • Vermutlich sind etwa 15 % der Kinder, die routinemäßig in Krankenhäusern untersucht werden, Opfer einer Mißhandlung 91 • S. 12, stellte fest, daß bei den untersuchten, mißhandelten Kindern in der Regel auch schwere Vernachlässigung vorlag. 84 J. Renvoize, 1975, S. 40. 85 Anm. d. ü.: Reglose Aufmerksamkeit. 88 Vgl. C. Ounsted et alii, 1975, S. 33 f. 87 Annual Report of the National Society for the Prevention of Cruelty to Children, März 1975. 88 R. MacKeith, 1975, S. 65. 89 Anm. d. ü.: Königliche Psychiaterkammer. 90 First Report from the Select Committee on Violence in the Family, Session 1976-77, H. C. 329-i, Ziff. 24. 91 Ebd., Ziff. 16.
H. Funktionsgestörte Familien
38
Obwohl Fälle vorsätzlicher Grausamkeit vorkommen, sind Mißhandlungen oft darauf zurückzuführen, daß ein Elternteil plötzlich seine Selbstkontrolle verliert. Verletzungen werden häufig durch überstarkes Schütteln, das für ein Kleinkind äußerst gefährlich sein kann, oder durch mangelhafte Versorgung verursacht. Entwicklungsstörungen sind ein übliches Symptom der Vernachlässigung. Das Kind verliert an Gewicht und ist in seiner physischen, emotionalen und intellektuellen Entwicklung retardiert. Mediziner und Sozialarbeiter haben Schwierigkeiten, den Begriff der Kindesrnißhandlung eindeutig zu definierenD!; dies erklärt teilweise die widersprüchlichen Berichte über ihre Ursachen. Die nachfolgenden Schilderungen behandeln im wesentlichen Fälle direkter Gewalttätigkeit gegenüber Kindern. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, daß Eltern, die ihre Kinder mißhandeln, häufig in ihrer eigenen Kindheit Gewalttätigkeit und Ablehnung erfahren haben93 • Steele und Pollok beschreiben den Zusammenhang zwischen gewalttätigen Kindheitserlebnissen und späterer Gewaltanwendung besonders anschaulich mit einem Traum, den eine Mutter, die ihre Kinder tätlich angegriffen hat, erzählte: "Ich war mit meiner Mutter zusammen. Es herrschte die übliche Spannung. Wir schienen in einem Hotel zu sein und in Doppelbetten zu schlafen. Ich wachte im Traum auf: Etwas Weißes, sehr Bedrohendes, stand über mir. Es war furchterregend. Ich rief nach meiner Mutter um Hilfe. Sie antwortete: ,Ich bin deine Mutter'. Und es stellte sich heraus, daß sie selbst die Gestalt in Weiß war, die mich bedrohte. Ich wachte schreiend auf." Nach Meinung der Autoren kommen in diesem Traum viele der nachfolgenden Vorstellungen der Patientin zum Ausdruck: "Ich habe eine schlechte Mutter; ich hasse meine Mutter; ich bin wie meine Mutter; ich bin schlecht zu meinem Kind; ich glaube nicht, daß ich jemals Hilfe erhalten kann 9'." Steele und Pollok analysierten sechzig Familien, in denen schwere Kindesmißhandlungen verübt wurden und die einen Querschnitt der Bevölkerungsschicht von Denver, Colorado, darstellten. Wegen der zufälligen Auswahlmethode der Familien können jedoch keine Schlüsse über die sozio-ökonomische Häufigkeit des Syndroms gezogen werden. Von größerem Interesse ist die Analyse der Autoren über die Psychopathologie der Eltern. Sie stellten ausnahmslos fest, daß die Eltern mit denselben übertriebenen und unrealistischen Anforderungen erzogen wurden, mit denen sie nunmehr ihre eigenen Kinder erzogen. Die Autoren führen dies auf fehlgeleitete mütterliche Gefühle zurück, die nicht unbedingt einen Mangel an Zuwendung, sondern ein Übermaß an Anforderungen und Kritik enthalten und die wahren 93
R. G. Gelles, 1975. Vgl. J. E. Oliver et alii, 1974, S. 12 f.; E. Baher et alii, 1976, S. 67 ff.
94
B. F. Steele und C. B. Pollock, 1974, S. 105.
G2
3. Kindesmißhandlung
39
Bedürfnisse des Kindes nicht beachten. Sobald das Kind die Erwartungen nicht erfüllt, reagieren die frustrierten Eltern mit Gewalttätigkeit. Das Battered Child Research Team 95 der NSPCC 77 ,98 hat in einem Projekt die Persönlichkeitsfaktoren in Familien, in denen Mißhandlungen vorgefallen waren, mit denen einer Kontrollgruppe verglichen und festgestellt, daß die mißhandelnden Mütter einen niedrigeren Reifegrad hatten als die Mütter der Kontrollgruppe, was möglicherweise ihrem jüngeren Alter zuzuschreiben ist. Die Väter zeigten, ob sie nun die Kinder selbst mißhandelten oder nicht, einen ungewöhnlich hohen Grad von Introvertiertheit und einen niedrigen Grad von Kommunikationsfähigkeit. Ihre Unfähigkeit, den Müttern praktische und emotionale Unterstützung zu geben, mag mit dazu beitragen, daß diese Frauen so unlogisch dies sein mag - von den Kindern emotionale Erfüllung erwarten. Intellektuelle Fähigkeiten scheinen dabei kein relevanter Faktor zu sein. Zu frühe Eheschließungen und Schwangerschaften schaffen möglicherweise die Grundlage zur Kindesmißhandlung 97 und verstärken andere verursachende Faktoren wie Unreife, finanzielle Schwierigkeiten, Wohnungsprobleme, Arbeitslosigkeit des Vaters98 und auch die Unfähigkeit, mit der Schwangerschaft fertig zu werden und ein Kind aufzuziehen. Diese ökonomischen und sozialen Faktoren können ein entscheidendes psychologisches Moment der Mutter-Kind-Beziehung beeinflussen. Margaret Lynch beobachtete an Müttern von Familien, die im Park-Krankenhaus in Oxford behandelt wurden, daß die Mütter die Schwangerschaft bei den später mißhandelten Kindern vernachlässigt hatten und daß Mutter und Kind kurz nach der Geburt getrennt wurden. Beide Umstände lagen bei den anderen nichtrnißhandelten Geschwistern nicht vor99 • Der fehlende enge Kontakt zum Kind kann die mütterlichen Gefühle dieser Frauen negativ beeinflußt und durch das ständige Kränkeln des Kindes verstärkt haben1oo • Oliver et alii (1974) stellten fest, daß schwer mißhandelte Kinder bei der Geburt häufiger abnorm waren, als die Neugeborenen der Gesamtbevölkerung, und daß ihre Geschwister häufiger körperlich behindert waren, was auf ein Konglomerat von Störungen schließen läßt. Dagegen zweifelt Martin, ob diese Ergebnisse eindeutig genug bestätigen, daß mißhandelte Kinder besonders schwer zu verAnm. d. Ü.: Forschungsgruppe für Kindesmißhandlung. E. Baher et alii, 1976. 97 Vgl. S. Smith et alii, 1975 a, S. 46. 98 Dieser Faktor trat besonders häufig auf, vgl. dazu: A. Skinner und R. Castle, 1969, S. 10; R. Castle und A. Kerr, 1972, S. 16. 99 M. A. Lynch, 1975 und 1976. Skinner und Castle, 1969, S. 5, stellten bei mißhandelten Kindern ein ungewöhnlich geringes Körpergewicht bei der Geburt fest. 100 Vgl. S. Brandon, 1976, S. 5. 95 96
40
11. Funktionsgestörte Familien
sorgen sind. Sollte dies der Fall sein, könnte die mißhandelnde Umwelt zu den Schwierigkeiten des Kindes beigetragen habenlol • Selwyn Smith et alii (1975) glauben, daß mißhandelnde Eltern zum Teil an organischen Störungen leiden, die man mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms festgestellt hat. Nach neueren Forschungsergebnissen sollen bestimmte, verschreibungspflichtige Drogen Aggressionen verstärken l02 • Widersprüchliche Untersuchungs ergebnisse brauchen sich nicht not~ wendigerweise zu entwerten, da verschiedene Faktoren Eltern dazu bringen können, ihre Kinder anzugreifen oder schwer zu vernachlässi~ gen. Die Suche nach einer einzigen Ursache wäre nicht nur fruchtlos, sondern gefährlich. Wir müssen erst die Zusammenhänge kennen, die die Gefahr der Kindesmißhandlung hervorrufen oder erhöhen, ehe wir Konzepte zur Konfliktbearbeitung entwickeln können. 4. Kindesvernachlässigung
Vernachlässigung ist häufig eine Begleiterscheinung der körperlichen Mißhandlung, die im Extremfall ebenso schwerwiegend und gefährlich sein kann wie jene; etwa, wenn Eltern dem Kind ein Mindestmaß an Fürsorge verweigern und ihm materielle Bedürfnisse wie Essen, Kleidung und ärztliche Betreuung versagen. Man kann mit Goldstein der Auffassung sein, daß elterliche Verantwortung darüber hinausgeht und daß ihre wichtigste Pflicht ist, das körperliche und seelische Wohlbefinden des Kindes zu fördern und ihm dadurch zu verhelfen, seine Möglichkeiten innerhalb der Gesellschaft wahrzunehmen lO3 • Nach Sanford N. Katz fällt in den Vereinigten Staaten bei Eltern, die ihre Kinder mißhandeln, die Armut auf, in der sie leben. Sie sind nach fast jeder ökonomischen Wertung arm, und ihr Lebensstandard ist durch unterdurchschnittliche Wohnungen, schlechte Gesundheit, Mangel an Erziehungseinrichtungen und wenig Gelegenheit für Freizeitgestaltung gekennzeichnetl04 • In Großbritannien ist die Situation ähnlich. In der National Child Development StudyW wurde die Vergangenheit von Kindern, die vor Vollendung des 7. Lebensjahres in Pflege waren (314 Kinder oder 2 0/0 der gesamten Repräsentativerhebung) analysiert und festgestellt, daß sich diese Gruppe auch von Kindern ihrer eigenen sozialen Klasse in verschiedenster Weise unterschied: Die Kinder waren häufiger nichtH. Martin, 1972, S. 96 f. und 1976, Kapitel 3. First Report from the Select Committee on Violence in the Family, Ziff.136. 103 J. Goldstein, Psychoanalysis and Jurisprudence, 1968,77 Yale Law Journal 1053, 1076 (zit. nach S. N. Katz, 1971, S. 55). 104 S. N. Katz, 1971, S. 24 f. 101
102
5. Deprivation
41
ehelich geboren, sie hatten bei der Geburt ein geringes Körpergewicht, waren jünger und von kleiner Gestalt, und die Schwangerschaft war kürzer105 • Diejenigen, die mit 7 Jahren wieder zuhause lebten, teilten überfüllte Wohnungen mit mehreren Geschwistern und wechselten Wohnung und Schule häufiger als Kinder der vergleichbaren sozialen Klasse. Eine spätere Untersuchung der Gruppe als Elf jährige bestätigte, daß Kinder, die in Pflege waren, oft in sozial und wirtschaftlich ungünstigen Verhältnissen lebten, in kinderreichen Familien mit geringem Einkommen und schlechten Unterkünften. Ihre Väter sind zumeist ungelernte oder angelernte Arbeiter, und häufig leben die Kinder mit nur einem Elternteil zusammen. Der unregelmäßige Schulbesuch der Kinder hängt möglicherweise mit anderen Faktoren und nicht mit der Pflegeunterbringung, oder zumindest nicht ausschließlich damit, zusammen106 • Einige Autoren führen unregelmäßige Schulbesuche und mangelnde Sozialisierung auf überfüllte und schlechte Unterkünfte zurück, weil diese Umstände bei den Eltern Krankheitsanfälligkeit, Depressionen und Reizbarkeit bewirken und ein Außenseitergefühl gegenüber privilegierteren Gruppen der Gesellschaft hervorrufen können107• Vernachlässigung kann deshalb eine untrennbare Komponente von nachteiligen sozialen Umständen sein, die sich vielleicht auch auf den Grad der Stimulierung und emotionalen Unterstützung, die Eltern ihren Kindern geben, auswirken. Das Ausmaß der Vernachlässigung ist nur schwer zu schätzen, weil soziale Bedingungen nicht nur Leistungen beeinflussen, sondern umgekehrt die Einschätzung der Leistung von den Maßstäben der sozialen Klasse abhängt, worauf die National Child Development StudyOO wiederholt hinweist. Deshalb ist es außerordentlich schwierig, Vernachlässigungsgrunde zusammenzustellen, die die Gerichte oder sozialen Einrichtungen zum Einschreiten berechtigen könnten. 5. Deprivation
Deprivation ist ein Merkmal der Vernachlässigung, das in diesem Zusammenhang für alle Fälle verwendet wird, in denen Kinder überhaupt keinen Kontakt mit ihren Eltern haben: entweder weil sie von ihnen verlassen wurden oder unerwünscht sind; weil die Eltern erziehungsunfähig sind oder sie von den Eltern, die sie mißhandelt oder vernachlässigt haben, getrennt wurden und keine Aussicht auf eine Wiedereingliederung in die Familie besteht. Tabelle 5 auf S. 42 gibt einen Überblick über die Grunde, die in den Jahren 1974 und 1975 in England zur Unterbringung von Kindern geführt haben. 105 106 107
E. Mapstone, 1969, S. 23 und 25. J. Essen, L. Lambert und J. Head, 1976. R. Davie, N. Butler und H. Goldstein, 1972, S. 57.
42
Ir. Funktionsgestörte Familien Tabelle 5
Gründe und Alter der Kinder, die in England zwischen dem 1.4.1974 und 31.3.1975 in Pflege genommen wurden
Insgesamt ....................................................... . a) Elternlos oder ohne Vormund .. , ..... '" ..................... , . b) Ausgesetzt oder verloren ....................................... . c) Tod der Mutter (Vater unfähig, für das Kind zu sorgen) ....... . d) Von der Mutter verlassen (Vater unfähig, für das Kind zu sorgen) e) Freiheitsstrafe ............................................... . f) Kurze Krankheit eines Elternteils (6 Monate) ................. . g) Lange Krankheit oder Invalidität ............................. . h) Nichteheliches Kind, Mutter zur Erziehung nicht in der Lage ... . i) Elternteil oder Vormund im Gefängnis oder Untersuchungshaft j) Familie ohne Unterkunft nach Zwangsräumung ............... . k) Familie ohne Unterkunft aus anderen Gründen ............... . 1) Nichtzufriedenstellende häusliche Umstände ................... . m) Andere Gründe ............................................... . n) Unterbringungsverfügung nach 1. Sec. 1. II a-e Children and Young Persons Act 1969 ......... . 2. Sec. 1. II CYP Act 1969 ..................................... . 3. Sec. 15 I CYP Act 1969 ..................................... . 4. Sec. 25 CYP Act 1969 ....................................... . 0) Sec. 43 Matrimonial Causes Act 1973 ........................... . p) Sec. 2 I e MP (Magistrates Courts) Act 1900 ................... . q) Sec. 7 II Family Law Reform Act 1969 ......................... . r) Sec. 2 II n Guardians hip Act 1973 ............................... .
49.069 333 1.165 558 3.526 2.299 12.169 714 1.689 792 372 1.131 4.646 8.240 4.701 5.421 541 115 428 160 22 45
Alter der Kinder
Insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 49.069 a) unter 2 Jahren ................................................ 8.437 b) 2. bis vollendetes 5. Lebensjahr ................................ 9.557 c) 5. bis vollendetes 16. Lebensjahr (schulpflichtig) ................ 28.910 d) 16 bis 18 Jahre ................................................ 2.165 FundsteUe: Department of Health and Social Security, Children in Care of Local Authoritles, AlF75/12.
Am 31. März 1975 waren in England 94.219 Kinder in Pflege. Gegenüber den drei vorhergehenden Jahren liegt hier ein Anstieg von 2,7 0/ 0 im ersten, von 2,8 % im zweiten und von 3,2 Ufo im Jahre 1974 vorl08 • Die Zahlen erfassen auch Kinder, bei denen Fürsorgeerziehung wegen Straftaten angeordnet wurde. Ein ausführliches Gutachten der Vereinigung der britischen Adoptionsvermittlungsstellen enthält Informationen über die Dauer und Auswirkung der Unterbringung l09 • Danach kehrten etwa 60 % der Kin108 Department of Health and Social Security; Children in Care of Local Authorities, A/F 75/12. 109 J. Rowe und L. Lambert, 1973.
5. Deprivation
43
der unter elf Jahren, die mehr als sechs Monate in Pflege waren, nicht mehr zu ihren Familien zurückl1O , und nur 19 % hatten weiterhin Kontakt mit einem Elternteil. Ein Drittel dieser Kinder brauchte ein neues Zuhause, aber verschiedene Gründe wie Rasse, Verhaltensstörungen oder das Vorhandensein anderer Geschwister standen einer Adoption entgegen. In einigen Fällen haben die Eltern von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht, was im Falle einer Trennung von Geschwistern durchaus berechtigt wäre. Bei 25 % der Kinder, bei denen eine Unterbringung notwendig war, widersetzten sich ein Elternteil oder beide Eltern der Anordnung, während dies bei Kindern, die bereits in Pflege waren, nur in 6 Ofo der Fälle zutraf. Man hat lange Zeit das natürliche Zuhause oder eine "Ersatzfamilie" der Anstaltsunterbringung vorgezogen ll1 • Heute wird dagegen die Auffassung vertreten, daß ein Heim mit hohem Niveau weder das intellektuelle Wachstum des Kindes behindertll2 noch unveränderbare, negative psychologische Auswirkungen zur Folge hat113• Wir wissen nicht, welches Alter für ein Kind in einer Anstalt am schwierigsten ist, oder welcher Betreuung es bedarf, um ein Kind zu resozialisieren. Für die Mehrzahl der Kinder ist es sicherlich vorteilhafter, in einer "guten" Familie aufzuwachsen als in einem Heim. Wenn aber eine Wiedereingliederung in die biologische Familie nicht möglich ist, müssen Adoptiv- oder Pflegeeltern gesucht werden. Rowe und Lambert untersuchten die Lebensumstände von Kindern, die nicht bei ihren biologischen Eltern lebten: 48 % der Kinder waren auswärtig untergebracht, davon 8 Ofo bei Verwandten, 33 Ofo bei Pflegeeltern, bei 7 Ofo bestanden Adoptionsaussichten114 • Obwohl Pflegekinder nur in seltenen Fällen Kontakt zu ihren Eltern haben115 , was übrigens von amerikanischen Untersuchungen bestätigt wird118, befinden sich Pflegekinder wie Pflegeeltern in einer gleichermaßen unsicheren Situation. Inwieweit der verminderte Kontakt auf mangelndem Interesse der Eltern, auf Feindseligkeiten der Pflegeeltern, der Angst, das Kind zu verunsichern, oder dem Widerstand der Sozialarbeiter117 beruht, kann nur vermutet werden. Bei langfristiger 110 Nach einer Untersuchung von etwa 50 "/0 der Pflegekinder in San Francisco bleiben etwa 62 Glo von ihnen dauernd in Pflege; vgl. dazu: R. H. Mnookin, 1975, S. 226 und 275. 111 R. Dinnage und M. L. Kellmer Pringle, 1967, vertreten diese Auffassung in ihrer Besprechung der Forschungsergebnisse bis zum Jahre 1967. 112 Vgl. B. Tizard und J. Rees, 1976. 113 Ann M. Clarke und A. D. B. Clarke (Eds.), 1976, S. 10 und 130. lU Rowe und Lambert, 1973, S.34, Tab.III.5. Vgl. auch DHSS and The Welsh Office, Children in Care in England and Wales, 1974, Cmnd. 6147, S. 4. 115 Nach Rowe und Lambert: 10~/o der Kinder; nach V. George, 1970: 140/0. 118 30°10 nach A. Gruber, 1973, S. 28 (zit. nach R. H. Mnookin, 1975, S. 226 und 275). 117 Vgl. J. Aldgate, 1976.
11. Funktionsgestörte Familien Unterbringung tendieren Pflegeeltern dazu, die Kinder als ihre eigenen zu betrachten und den Kontakt mit den biologischen Eltern möglichst einzuschränken, um sie vollständig in die Pflege familie zu integrieren118 • Zwei Kategorien von Kindern erfahren besondere Deprivation: Kinder, die in einem Heim untergebracht sind und für die man keine Ersatzfamilie findet, und Pflegekinder, die unter der Unsicherheit ihrer Beziehung zu den Pflegeeltern leiden. Beide Gruppen bringen die Sozialpolitik in ein Dilemma: Zwar werden die Mängel des Anstaltssystems zugegeben, doch sind die Vorteile der Pflegeerziehung noch nicht überzeugend nachgewiesen. Mnookin meint, bislang seien weder die Vorteile noch die Nachteile der Pflegeerziehung festgestelltlU. Holman behauptet, eine erfolgreiche Pflegeerziehung erfordere, daß die Pflegeeltern die Beziehung zwischen dem Kind und seinen biologischen Eltern aufrecht erhielten. Er nennt dies "inclusive fostering"12O. Demnach wäre die relativ niedrige Erfolgsrate der Pflegeerziehung darauf zurückzuführen, daß nur ein geringer Teil der Pflegeeltern dieser Anforderung nachkommt. Holmans Ergebnis überzeugt nicht, da es kaum möglich ist, eine repräsentative Gruppe von Pflegekindern mit einer Kontrollgruppe über den notwendigen Zeitraum hin zu beobachten und sämtliche unterschiedlichen Faktoren mit zu berücksichtigen. Seine Auffassung widerspricht im übrigen der Meinung anderer Autoren, daß der weitere Kontakt zu den biologischen Eltern Loyalitätskonflikte hervorrufen und Kinder psychisch schädigen könne121 • Gegen Holmans These sprechen auch die zunehmenden Beweise für erfolgreiche Beziehungen zwischen Adoptivkindern und Adoptiveltern. Die National Child Development Stud y 50 stellte fest, daß adoptierte Kinder im Alter von sieben Jahren wesentlich bessere Leistungen erbrachten und fröhlicher waren, als nichtadoptierte und nichteheliche Kinder12!. In den Vereinigten Staaten wurden auch bei älteren Kindern, die bis zur Adoption nur in Heimen gelebt hatten, positive Ergebnisse verzeichnet128• Dennoch zögern Fürsorgeinstitutionen in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien, bei langfristiger Unterbringung Adoptionsverfahren einzuleiten, weil sie befürchten, daß die Eltern widersprechen und eine Krise bei dem Kind hervorrufen werden, wenn sie es herausverlangen. Die Lösung dieses Problems ist das Hauptanliegen des gegenwärtigen Kindeswohlfahrtsrechts. 118 M. Shaw und K. Lebens, 1976. m R. H. Mnookin, 1975, S. 272. 120 Holman, 1975. 121 J. Goldstein, A. Freud und A. J. Solnit, 1973, S. 25. m J. Seglow, M. L. Kellmer Pringle und P. Wedge, 1972; vgl. auch E. Crellin, M. L. Kellmer Pringle und P. West, 1971. 128 Vgl. A. Kadushin, 1970.
6. Trennung und Scheidung
45
Dem Risiko der Vernachlässigung, der Deprivation oder einer Kombination von beiden sind insbesondere Kinder ausgesetzt, deren Eltern ein privates Pflegeverhältnis arrangieren. Bis zur Veröffentlichung der Publikation von Robert Holman (1973)124 wußte man wenig über den Umfang oder die Qualität privater Pflegestellen in Großbritannien, noch über die Eltern, die sie in Anspruch nehmen. 1969 wurden 10.907 Kinder in private Pflege gegeben. Die Kinder waren größtenteils unter fünf Jahren, obwohl 16 0J0 seit über fünf Jahren bei Pflegefamilien lebten. Die Eltern, zumeist westafrikanische Studenten, hatten sich vermutlich aus praktischen Gründen für diese Erziehung ihrer Kinder entschieden; kulturelle Unterschiede mögen dabei mit eine Rolle gespielt haben. Die Pflegestellen wechselten häufig, und sowohl die Pflegeeltern als auch ihre Wohnungen waren inder Regel ungeeignet. Die Kinder wurden damit Gefahren ausgesetzt, die noch dadurch vergrößert wurden, daß Fürsorgeorganisationen ihre ohnehin beschränkten Überwachungsfunktionen nur ungern ausübten. Kindertagesstätten fallen in eine ähnliche Kategorie wie private Pflegestätten. Obwohl die zuständigen Behörden verpflichtet sind, ein Verzeichnis der Gebäude, in denen Kinder unter fünf Jahren tagsüber versorgt werden, und der Aufsichtspersonen zu führen 125 , stellte der Seebom Report 1968 fest, daß die vorhandenen Kindertagesstätten nicht nur die Gesundheit und Sicherheit, sondern auch die emotionale und intellektuelle Entwicklung der Kinder gefährdeten126 • Nach einer Schätzung des Child Minding Research and Development Unit 127 wurden 1974 täglich etwa 330.000 Kinder nicht registrierten Aufsichtspersonen überlassen. Die Lösung dieses Problems stellt eine ähnliche Herausforderung an die sozialen Einrichtungen dar, wie die Eliminierung des baby farming l28 im 19. Jahrhundert. 6. Trennung und Scheidung
Zwischen 1901 und 1905 gab es in England und Wales jährlich im Durchschnitt nur 546 rechtskräftige Scheidungen, 1980 waren es bereits 148.301. Auf den ersten Blick scheint hier ein wachsender Trend zur Unbeständigkeit der Ehe vorzuliegen. Für das Auseinanderbrechen einer Familie ist die tatsächliche Trennung der Ehegatten von schwerwiegenderer Bedeutung als die rechtliche Auflösung der Ehe, da die Scheidung letztlich von so vielen verschiedenen Faktoren abhängt, die 124
R. Holman, 1973.
Nurseries and Child Minders Regulation Act 1948 geändert durch den Health Services and Public Health Act 1968, Sec. 60. 128 1968, Cmnd. 3703, Ziff. 194. 127 Anm. d. Ü.: Forschungsgruppe für die Versorgung von Kleinkindern. 128 Anm. d. ü.: Unterbringung von Neugeborenen und Kleinkindern bei Pflegemüttern. 125
46
11. Funktionsgestörte Familien
wenig oder nichts mit dem Zustand der Familie zu tun haben. Um die Jahrhundertwende war Ehebruch der einzige Scheidungsgrund und wenn die Frau sich scheiden lassen wollte, mußte sie dem Ehemann außer dem Ehebruch noch anderes ehewidriges Verhalten nachweisen. Schaubild 2 zeigt, daß die Zahl der Scheidungen zwischen 1936 und 1939 um fast 50 % angestiegen ist. Dies ist auf die Liberalisierung des Scheidungsrechts im Jahre 1938 zurückzuführen, als neben dem Ehebruch die Scheidungsgründe der Grausamkeit, des böswilligen Verlassens und der nach der Eheschließung ausgebrochenen Geisteskrankheit des Ehegatten eingeführt wurden l2O • Schaubild 2
Rechtskräftige Scheidungen in England und Wales 1901-1975 (in Tausend) ~'r---------------------------------~----------------~ 120 115 110 105 100 95 90
85 80 75
70 65 60 55 50 45
40 35 30 25 20 15 10
5 1901
193739 41 43 45 47 49 5f 53 55 57 59 61 63 6S 67 69 71 73 7S
Ende des 2. Legal Aid I Divorce Reform Act 1960 Act 1969 in Kraft Weltkrieges Matrimonial Causes Matrimonial Legal Aid and Causes Act Advice Act Act 1967 in Kraft 1937 in Kraft 1949 in Kraft Fundstelle: CSO, Annual Abstract of Statistics.
m Matrimonial Causes Act 1937.
6. Trennung und Scheidung
47
Die Zunahme der Scheidungen im Jahre 1947 spiegelt offensichtlich die gestörte soziale Situation nach dem Krieg wider. Danach sank die Zahl der Scheidungen bis zu einem weiteren starken Anstieg im Jahre 1952, der mit dem Inkrafttreten des Legal Aid and Advice Act130 1949 zusammenhängt. Während der 50er Jahre nahmen die Scheidungen wieder ab, aber seit 1960 ist eine kontinuierliche Zunahme zu beobachten. 1960 gab es 23.369 rechtskräftige Scheidungen, 1970 57.421 und nach dem Inkrafttreten des liberalen Scheidungsrechts im Januar 1971 stieg die Zahl der rechtskräftigen Scheidungen von 73.666 (1971) auf 148.301 im Jahre 1980. Die Gründe für die zunehmende Scheidungsfreudigkeit sind umstritten. Möglicherweise haben wesentliche Veränderungen im Sozialverhalten ein Ansteigen der Ehezerrüttungen verursacht. Andererseits könnten materiellrechtliche und prozessuale Änderungen dazu beigetragen haben, daß die Scheidungszahlen nunmehr mit den Zahlen der tatsächlich zerrütteten Ehen übereinstimmen. Insoweit waren die wichtigsten gesetzlichen Änderungen: die Anpassung des Armenrechts an die Inflation im Jahre 1960131 , die Begründung der Zuständigkeit der county courts 132 für einvernehmliche Scheidungen im Jahre 1968 133 sowie das neue materielle Scheidungsrecht von 1971. Seit April 1977 ergehen einvernehmliche Scheidungen ohne mündliche Verhandlung. Sicherlich haben das liberale Scheidungsrecht, der erleichterte Zugang zu den Gerichten und das Armenrecht bewirkt, daß Ehegatten nicht mehr an zerrüttete Ehen gebunden sind. 1871 waren nur 17 Ofo der Kläger, die eine Scheidungsklage erhoben hatten, Arbeiter, obwohl die Arbeiterklasse vier Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachte134 • Gibson hat nachgewiesen, daß zwischen den Kriegen mindestens 300.000 zerrüttete Ehen mangels finanzieller Mittel nicht geschieden wurden und daß die Zahl der Armenrechtsanträge nach dem 2. Weltkrieg jedesmal anstieg, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung des Armenrechts geändert wurdenl34 • Andere Commonwealth-Länder haben ähnliche Erfahrungen gemacht. In Neuseeland gab es im Jahre 1962 1.755 Scheidungen gegenüber 6.515 im Jahre 1980. Nach der Liberalisierung des Scheidungsrechts im Jahre 1968131i nahmen die Scheidungen in einem Jahr um 38 0J0 zu136 • In Kanada wurden zwi130 Anm. d. Ü.: Gesetz über die Gewährung des Armenrechts und die unentgeltliche Rechtsberatung. 131 Legal Aid Act 1960. 132 Anm. d. ü.: Entspricht etwa dem Amtsgericht. 133 Durch den Matrimonial Causes Act 1967. 134 C. Gibson, 1971. 135 Matrimonial Proceedings Act 1968. 138 New Zealand Official Yearbook, 1976, Sec. 4 D.
48
II. Funktionsgestörte Familien
schen 1966 und 1969 pro Jahr durchschnittlich 11.000 Ehen geschieden, 1973 dagegen 36.704. Auch hier spiegelt sich das reformierte Scheidungsrecht von 1968 wider137 • In Australien erhöhte sich die Scheidungsrate nur geringfügig, da das Gesetz von 1959 kaum liberale Änderungen brachte. Erst nach der tiefgreifenden Reform vom Januar 1976 stiegen die rechtskräftigen Scheidungen von 24.307 im Jahre 1975 auf 40.402 im Jahre 1976 an l38 ; danach gingen sie wieder zurück. Diese Ergebnisse lassen die Frage offen, ob heutige Ehen unbeständiger sind. Chesterm weist darauf hin, daß die steigende Scheidungsrate während der 60er Jahre nicht mit einer Liberalisierung des Scheidungsrechts zusammentraf, und schließt deshalb auf eine zunehmende Unbeständigkeit der Ehen. Er ist der Auffassung, daß die Generation, die zwischen 1935 und 1942 geboren wurde und deren Kindheit von Kriegsereignissen beeinflußt war, neue Verhaltensnormen entwickelt hat, die nicht nur das Scheidungsverhalten, sondern auch Kriminalität und Illegitimität beeinflussen. Derartige Generalisierungen müssen mit extremer Vorsicht behandelt werden, und es scheint erfolgversprechender, nach einigen spezifischen Faktoren zu suchen, die mit der Scheidung assoziiert werden und Rückschlüsse auf Scheidungstrends zulassen: so ist das Risiko einer Ehezerrüttung wesentlich größer, wenn Kinder vor der Ehe gezeugt wurden. Rowntree hat aufgrund einer Erhebung von 3.000 Männern und Frauen in Großbritannien nachgewiesen, daß sich 12,2 Ufo der Eltern eines vorehelich gezeugten Kindes später getrennt und 6,8 Ofo die Möglichkeit einer Scheidung überlegt haben. Dagegen trennten sich nur 6,4 Ufo der Ehepaare, deren Kind nach der Hochzeit gezeugt worden war, und nur 3,1 % von ihnen zogen eine Trennung in Erwägunglw. Die höhere Scheidungs rate in der ersten Gruppe könnte damit erklärt werden, daß das Stigma der Illegitimität unreife oder nicht zusammenpassende Paare zu einer Heirat drängt. Andererseits hat man dasselbe Phänomen in Dänemark festgestellt, wo vorehelicher Sexualverkehr mehr toleriert wird als in vielen anderen Ländern und wo vermutlich weniger sozialer Druck auf ein schwangeres Mädchen ausgeübt wird, zu heiratenu1 . Außer der Schwangerschaft scheinen noch andere Faktoren, wie das Alter der Ehegatten bei der Eheschließung, zur Zerrüttung beizutragen. Canada Official Yearbook, 1975, S. 157 f. und Tab. 4, S. 53. Bei der Zahl aus dem Jahre 1976 handelt es sich um Urteile des Familiengerichts von Australien. The Hon. Justice Evatt (1977) schätzt, daß Untergerichte weitere 10.000 Urteile ausgesprochen haben. 139 R. Chester, 1971; für eine neuere Darstellung der amerikanischen Entwicklungen siehe Andrew Cherlin, Marriage, Divorce, Remarriage (Harvard University Press, 1981). 140 G. Rowntree, 1964. 141 H. T. Christensen, 1960. 137 138
...
:0;-
.,.,!!. ...
rD
M
(d) (a) unter 20
1963
102.676 190.642 37.670 31,02
(a) unter 20
(d)
(b) 20-24 (c) 25-29
(d)
(b) 20-24 (c) 25-29
103.999 174.091 39.231 32,77
96.150 160.626 39.398 32,46
(a) unter 20
(d)
(b) 20-24 (c) 25-29
(b) 20-24 (c) 25-29
89.528 160.998 39.835 30,83
0,73 0,32 0,25
1,11 0,47 0,39 0,91 0,46 0,31
1,29 0,57 0,38
1963
1,31 0,63 0,43
1,37 0,62 0,46'
1964
1,95 0,83 0,52
1,38 0,65 0,41
2,35 1,1 0,92
2,04 0,96 0,71
(e)
3,26 1,58 1,2 3,64 1,84 1,36
2,42 1,22 0,93 2,18 1,22 0,81
2,94 1,54 1,12
8,76 4,6 3,29
2,57 12,23 1,4 6,15 1,07 4,67
2,3 14,27 1,23 7,0 0,97 4,96
2,65 1,40 1,01
1,82 0,95 0,65 2,0 0,99 0,74
1,73 16,24 0,98 8,28 0,67 5,76
1,56 16,52 0,85 8,16 0,61 6,03
1973
2,09 15,84 1,08 7,61 0,86 5,54
2,03 1,11 0,84
1,8 0,99 0,72
1972
2,41 1,23 0,9
1,48 0,79 0,58
1,49 0,74 0,45 1,81 0,81 0,66
1,19 0,66 0,53
1971
1,23 0,65 0,46
1970
Scheidungen vor dem 3. Ehejahr sind nicht mit-
1,63 0,85 0,55
1,95 0,94 0,6
1,7 0,86 0,59
1,64 0,71 '0,5
1,7 0,74 0,56
1,6 0,7 0,52
1,07 0,53 0,3
1,41 0,7'6 0,54
1,53 0,69 0,49
1,4 0,7 0,45
1,23 0,59 0,48 1,46 0,73 0,5
1,28 0,55 0,49
1969
1,49 0,69 0,5
1968 1,2 0,63 0,4
1967 1,21 0,64 0,41
1966
1,32 0,62 0,45'
1965
Prozentsatz der in den folgenden Jahren geschiedenen Ehen
Anm.: (d) = (a) als Prozentsatz von (a) + (b) + (C). - (e) = kumulativer Prozentsatz. einbezogen. FundsteIle : Registrar-General: Statistical Review of England and Wales.
1967
1965
(d) (a) unter 20
1961
(b) 20-24 (c) 25-29
(d) (a) unter 20
25~29
1959
(c)
77.320 164.628 41.070 27,31
73.937 165.885 46.120 25,85
(a) unter 20
1957
(b) 20-24
Zahl der Eheschließungen
Alter der Braut
Jahr der Eheschließung
Tabelle 6: Eheschließungen in England und Wales in den Jahren 1957 bis 1967 und Auflösung der Ehen in den darauffolgenden Jahren
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11. Funktionsgestörte Familien
In Tabelle 6 wird die Gesamtzahl der in England und Wales zwischen 1957 und 1967 geschlossenen Ehen von Frauen unter 29 Jahren für jedes zweite Jahr aufgeschlüsselt, um darzustellen, wie viele Frauen in drei Altersgruppen (unter 20, 20-24 und 25-29 Jahre) in jedem Jahr geheiratet haben. Außerdem enthält die Tabelle den Prozentsatz der Ehen jeder Gruppe, die in den darauffolgenden Jahren aufgelöst wurden. Scheidungen innerhalb von drei Jahren nach der Eheschließung wurden nicht berücksichtigt, da sie nur in besonderen Fällen möglich waren und deshalb keine spezifische Bedeutung haben. Der Prozentsatz der Scheidungen bleibt bei den unter Zwanzigjährigen mit außergewöhnlicher Gleichmäßigkeit doppelt so hoch wie in der Gruppe der 20- bis 24jährigen und oft dreimal so hoch wie bei den 25- bis 29jährigen. In Kanada ist die Situation fast identisch (vgl. Tabelle 7). Die Tabelle 7
Voraussichtlicher Prozentsatz der Scheidungen in Kanada, berechnet nach den Zahlen von 1971
Dauer
der Ehe
5 10 15 20 25 30
Familienstand der Frau bei Eheschließung ledig geschieden 20~24 unter 20 25-29 unter 25 25-29 3,4 11,5 18,0 22,8 27,2 30,3
1,9 5,6 8,6 11,3 13,4 14,9
1,2 3,6 5,5 7,3 8,7 9,6
8,2 21,2 31,4 39,3 44,6 49,6
4,2 13,4 20,4 25,4 29,3 32,6
Anm.: Prozentsätze sind kumulativ.
Fundste!!e: Canada Official Yearbook, 1973, Tabelle 5.58.
parallelen Ergebnisse in beiden Ländern beweisen den hohen Risikofaktor bei jugendlichen Ehen. Der Anteil schwangerer Bräute bei der Altersgruppe unter zwanzig ist höher als in jeder anderen Gruppe (vgl. Tabelle 8). 27,5 % der unter zwanzigjährigen Frauen, die 1973 heirateten, brachten während der ersten 7 Monate der Ehe ein Kind zur Welt. Bei den 20- bis 24jährigen waren es nur 11,3 0/0. Zu ähnlichen Ergebnissen führte eine Untersuchung des Legal Research Unit142 des Bedford College, London, nach der 20 % der Frauen, die 1961 geschieden wurden, bei der Eheschließung schwanger waren, während dies bei 38 % der Frauen zutraf, die vor Vollendung des 20. Lebensjahres geheiratet hatten143 • 142 143
Anm. d. Ü.: Forschungsgruppe Recht. C. Gibson, 1974.
6. Trennung und Scheidung
51
Tabelle 8 Vorehelich gezeugte Kinder in England und Wales nach Alter der Braut
1966 20
(a) (b) (c)
20-24 (a) (b) (c)
(a) 20
(b) (c)
20-24 (a) (b) (c)
1967
1968
1969
35.793 102.676 34,9 31.840 190.642 16,7
35.675 104.121 34,2 32.778 207.758 15,7
35.256 98.477 35,8 31.734 203.266 15,6
1970
1971
1972
1973
34,815 112.111 31,0 30.157 202.705 14,8
34.598 107.982 32,0 26.933 188.240 14,3
31.936 108.945 29,3 22.266 179.655 12,3
28.503 103.491 27,5 18.488 162.923 11,3
.................. ..................
36.745 111.509 .................. 33,0 .................. 28.582 179.874 15,9 •••••••••••••••
•••
0
0"
••••••••••••••
.................. .................. .................. .................. •••••••••
•••
0
0
••••••••
••••••••••••••
Anm.: (a) = Geburt Innerhalb von 7 Monaten nach Eheschließung. - (b) = Zahl der Ehen. - (c) = (a) als Prozentsatz von (b). Fundste!!e: Registrar-General, Statlstlcal Review of England and Wales.
Ob freilich die Tendenz zur Zerrüttung bei "Teenagerehen" durch affektive Spannungen und zu frühe Konfliktsituationen hervorgerufen wird oder durch voreheliche Schwangerschaft, läßt sich nicht feststellen. Offensichtlich liegen unterschiedliche beeinflussende Faktoren vor. Die meisten "Teenagerehen" werden in der Arbeiterklasse geschlossen. Etwa vier von fünf Bräuten unter zwanzig Jahren, die in den zwölf Monaten vor der Volkszählung von 1961 geheiratet haben, waren mit Arbeitern verheiratet144 • Da gerade die Ehen der unter zwanzigjährigen Frauen risikobehaftet sind, ergibt sich eine sehr hohe Scheidungsrate in der Arbeiterklasse, obwohl die Zahlen innerhalb dieser Klasse variieren (vgl. Tabelle 9). Man könnte auch argumentieren, daß die hohe Scheidungsrate bei jugendlichen Ehen nicht auf eine größere Tendenz zur Zerrüttung zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf eine größere Bereitschaft von jungen, entfremdeten Paaren, sich scheiden zu lassen, damit ein Partner oder beide eine neue Verbindung gesetzlich regeln können. Diese Hypothese scheint von Chesters Ergebnissen widerlegt zu werden, daß jugendliche Ehen bei Zerrüttungen innerhalb der ersten zwei Ehejahre besonders hoch repräsentiert sind und daß der Zeitraum zwischen Trennung und rechtlicher Auflösung bei kurzen Ehen generell länger ist (6 Jahre) als bei länger dauernden Ehen 144
C. Gibson, 1973.
II. Funktionsgestörte Familien
52
Tabelle 9 Scheidungen in England und Wales im Jahre 1961 pro 10.000 Frauen unter 55 Jahren in jeder sozialen Schicht
Soziale Schicht
III IV V InsgeII I Angestellte Arbeiter Angelernte Ungelernte samt Freie und Arbeiter Arbeiter der Berufe, Angestellte mittleren Angestellte Führungs- mit besonder derer Aushöheren ebene bildung Führungsebene, Akademiker FachEinfache Angestellte arbeiter (29) mit Fachausbildung (43)
Scheidungen
22
2S
32
25
51
30
FundsteUe: C. Gibson, The Association between Divorce and Social Class in England and Wales, 1974, 25 British Journal of Sociology, S.79.
(4 Jahre)145. Gibson sieht eine teilweise Erklärung in den finanziellen Problemen und in den Wohnungsproblemen, die junge Ehepaare aus der Arbeiterklasse mit einem neugeborenen Kind erwarten146 . Dies erklärt aber nicht die Tatsache (vgl. Tabelle 6), daß "Teenagerehen" auch mehrere Jahre nach der Eheschließung wesentlich häufiger geschieden werden als andere Ehen. Selbst wenn also die von Gibson erwähnten Probleme überwunden sind, kann ein Ehepartner, der noch nicht zwanzig war als er geheiratet hat, frustriert sein, weil er meint, seine Jugend im Haushaltsalltag vergeudet zu haben. 35 Ofo der von Gavron interviewten Frauen aus der Arbeiterklasse behaupteten, sie hätten zu jung geheiratet (gegenüber 21 Ofo der Frauen aus der Mittelschicht); sie führten dies eher auf mangelnde Einsicht und übersteigerte Erwartungen zurück als auf den Druck einer "Muß-Ehe"147. Trotz dieser Gefahren sind jugendliche Ehen populär wie nie zuvor. In England und Wales stieg der Prozentsatz der Bräute unter zwanzig Jahren von 25,85 Ofo im Jahre 1957 auf 31,9 % im Jahre 1973. In Australien betrug der Anteil 34,4 Ofo im Jahre 1972, in Kanada 31,3 Ofo (1971) und in Neuseeland 36,8 Ofo (1972)148. 1973 wurden mehr als 8 Ofo der Ehen, 145 R. Chester, 1971 und 1972. 146 C. Gibson, 1974. 147 H. Gavron, 1966, S. 65 f. Die Verbindung zwischen Scheidung und Eheschließungen in jungem Alter wird weiterhin untersucht von Richard Leete, Changing Patterns of Family Formation and Dissolution in England and Wales 1964-1976 (Office of Population, Censuses and Surveys, HMSO, 1979) 77-79. 148 Vgl. Official Yearbooks der entsprechenden Jahrgänge.
6. Trennung und Scheidung
53
die Frauen unter zwanzig Jahren im Jahre 1967 geschlossen hatten, durch Scheidung oder Annullierung aufgelöst (vgl. Tabelle 6). Der vergleichbare Prozentsatz, d. h. der Prozentsatz der Scheidungen fünf Jahre nach Eheschließung, betrug bei den im Jahre 1957 geschlossenen Ehen nur etwas über 3 Ofo. Wenn diese Zuwachsrate beibehalten wird, werden 1982 etwa 45 Ofo der 1967 geschlossenen Ehen aufgelöst werden. Die katastrophalen Auswirkungen auf das Familienleben werden sich wegen des hohen Anteils an "Teenager-Ehen" insbesondere in der Arbeiterklasse auswirken. Allerdings gibt es Anzeichen für eine Ver~ besserung. Obwohl die Frauen der Altersgruppe unter zwanzig Jahren noch immer häufiger schwanger sind als die anderer Altersgruppen, nimmt der Anteil der Schwangeren seit 1969 ab (vgl. Tabelle 4). Ebenso gehen die Eheschließungen von Teenagern zurück. Zwischen 1973 und 1975 fiel der Prozentsatz der Frauen unter dreißig Jahren, die mit weniger als einundzwanzig Jahren geheiratet hatten, von 45,03 auf 40,5 Ofo. Die Scheidungshäufigkeit nahm dagegen in allen Altersgruppen zu (vgl. Tabelle 6). Vermutlich haben die Veränderungen der Rolle der Familie und der Stellung der Frau in diesem Jahrhundert dazu geführt, daß Ehegatten nicht an einer Ehe festhalten, die keinerlei persönliche Vorteile mehr für sie bringt. Beide Partner, speziell aber Frauen, setzen enorme Erwartungen in die Ehe und messen den persönlichen Beziehungen zwischen den Ehegatten überragende Bedeutung bei 149 • O. R. McGregorl5Q meint, daß die Befreiung der Frau von fast ununterbrochenen Schwangerschaften und ihre erhöhte Lebenserwartung dazu geführt hätten, daß die Ehe im 20. Jahrhundert für eine wesentlich längere Periode dem Risiko der Zerrüttung ausgesetzt sei als in früheren Jahrhunderten. Dennoch zeigt das Ausmaß selbst nach kurzer Dauer zerrütteter Ehen, daß noch andere Faktoren mitwirken. In Großbritannien und den USA kommen Scheidungen häufiger in den unteren sozio-ökonomischen Gruppen vor. Vielleicht weil die Ehegatten jünger sind, weil sie größere finanzielle Schwierigkeiten haben, weil ihre Kinder vorehelich gezeugt werden oder weil diese Gruppen der Bevölkerung einen anderen Sittenkodex haben. Bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten scheint die Stabilität des Einkommens für den Fortbestand der Ehe wichtiger zu sein als die Höhel5l • In AustralienI52 und in den Vereinigten Staaten hat man festgestellt, daß sich finanzielle Probleme und ein unsicheres Einkommen nachteilig auf eheliche Beziehungen auswirken. So ist die Scheidungshäufigkeit in den Vereinigten 149 150 151 152
H. Gavron, 1966, S. 35 f. O. R. McGregor, 1957, S. 38, 50. W. J. Goode, 1956, S. 70. G. Goding, 1969, S. 33.
54
II. Funktionsgestörte Familien
Staaten nach Levinger umgekehrt proportional zum Hauseigentum153 • Andererseits läßt sich nicht ausschließen, daß ein Ehemann seine Familie deshalb nicht ausreichend unterstützt, weil seine Beziehungen zu seiner Frau und den Kindern gespannt sind. Einer der Hauptkonfliktgründe liegt in der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Ehefrau. Sie führt zu einem Ressentiment und gibt dem Mann aufgrund seiner wirtschaftlichen überlegenheit die Macht, die letzte Entscheidung zu treffen154 • Marsden hat die Frage aufgeworfen, ob nicht niedrige Löhne oder unser Wohlfahrtssystem die Zerrüttung mitverursachen, weil viele Männer ein so geringes Einkommen haben, daß es für manche Frauen finanziell vorteilhafter ist, ihre Ehemänner zu verlassen und von Sozialhilfe zu leben155 • Beide Argumente sind vertretbar: nämlich sowohl daß die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau zu einem Scheitern der Beziehungen führt und ebenso daß ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit die Bedeutung der Ehe relativiert. Die Scheidungshäufigkeit kann auf mehrere Ursachen zurückgeführt werden: Einmal haben materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Reformen ermöglicht, den Graben zwischen tatsächlicher Zerrüttung und rechtlicher Auflösung zu überbrücken. Zum anderen haben größere Chancen für Frauen zu höheren Erwartungen hinsichtlich der Bedeutung des Ehelebens geführt und Alternativen eröffnet, falls diese Erwartungen enttäuscht werden. Möglicherweise übersteigen die Erwartungen, die in die Ehe gesetzt werden, das, was in vielen Beziehungen zumindest während des Zeitraums, in dem die Beziehungen risiko behaftet sind, gegeben werden kann. Die meisten Menschen haben leider Illusionen über die Vorteile der Ehe. Dadurch werden viele zu einer Eheschließung bewogen, die zu jung sind, um die Ziele zu erreichen, die sie suchen. Außerdem führt die zunehmende wirtschaftliche Aktivität der Frauen zu vermehrten Kontakten mit dem anderen Geschlechtl58 , und wenn eine Ehe nicht mehr funktioniert, werden die Ehepartner nach kurzer Zeit andere Partner suchen. 1965 wurde in England und Wales nur eine von zehn Ehen von einem geschiedenen Ehegatten geschlossen; 1974 traf dies auf eine von vier Ehen zu. Der Anstieg an G. Levinger, 1965, S. 19. Morton Report, 1956, Ziff.628: Stellungnahme der Married Women's Association. 155 D. Marsden, 1973, S. 63. N. Hart, 1976, S. 144, meint, daß die hohen Schei~ dungszahlen bei ungelernten Arbeitern darauf zurückzuführen sein könnten, daß Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben, bei einer Trennung nichts zu verlieren hätten. 156 Nach Nicky Hart, 1976, S. 102, sind die Eingliederung der Frau in den Arbeitsprozeß und die zunehmenden Interventionsmöglichkeiten des Staates zur Umverteilung des Familieneinkommens nach der Ehescheidung die bei den wesentlichsten Faktoren für das Ansteigen der Scheidungsraten in den letzten Jahrzehnten. 153
154
7. Kinder geschiedener oder getrennt lebender Eltern
55
Zweitehen spiegelt damit auch die erhöhte Scheidungsrate bei Erstehen wider 57• Bei geschiedenen Frauen beträgt das Durchschnittsalter bei der Wiederverheiratung 35 Jahre. 7. Kinder geschiedener oder getrennt lebender Eltern: ein Fall für sich?
1976 waren 152.170 Kinder unter 16 Jahren von der Scheidung ihrer Eltern betroffen158 • Wir haben bereits gesehen, daß gerade Kinder aus Ein-Eltern-Familien dem Risiko der Vernachlässigung oder der Deprivation ausgesetzt sind. Das Finer Committee schätzt, daß 1971 mehr als 1.080.000 Kinder in Ein-EItern-Familien lebten: 120.000 mit ihren nichtverheirateten Müttern, 200.000 mit ihren verwitweten Müttern und die größte Gruppe (600.000 Kinder) mit geschiedenen oder von dem Ehemann getrennt lebenden Müttern15U • Die Zahlen entsprechen denen der National Child Development Study 50: 4,7 Ofo der Elf jährigen wurden ausschließlich von ihren Müttern und 0,7 Ofo ausschließlich von ihren Vätern versorgt; mehr als die Hälfte der vaterlosen Kinder war vaterlos, weil die Eltern sich getrennt hatten, ein Drittel wegen des Todes des Vaters und 9 Ofo waren nichtehelichiBO.
Obwohl man feststellte, daß nichteheliche Kinder im Alter von sieben Jahren verglichen mit der gleichen Altersgruppe ehelicher und adoptierter Kinder benachteiligt waren l61 , zeigte eine spätere Untersuchung der Kinder als Elf jährige, daß Kinder aus zerrütteten Ehen größere Schwierigkeiten haben als Kinder, die einen Elternteil durch Tod verloren haben, und daß familiäre Spannungen Schulerfolge vermutlich stärker beeinträchtigen als das Fehlen eines Elternteilsl62 • Dies mag teilweise auf den entwurzelnden Effekt, den eine Scheidung oder Trennung auf das Sicherheitsbedürfnis des Kindes ausübt, zurückzuführen sein; z. B. sind 86 Ofo der vaterlosen Kinder aus zerrütteten Ehen in eine neue Wohnung umgezogen, während dies nur bei 37 Ofo der nichtehelichen Kinder der Fall war. Eine Scheidung hat nicht unbedingt zur Folge, daß Kinder in EinEltern-Familien aufwachsen, da heide Elternteile wieder heiraten können. In welchem Ausmaß Kinder durch die Scheidung und Trennung der Eltern und die Einführung eines neuen Erwachsenen in das Familienleben Schäden erleiden, ist schwer festzustellen. Nach der Unter157
Office of Population, Censuses and Surveys, Population Trends, Nr. 3
(1976), S. 3-8. 158 159
160 161
162
Office of Population, Censuses and Surveys, Monitor FM2, August 1977. Finer Report, 1974, Bd. 1, Tab. 3.1. E. Ferri, 1976, S. 36. E. Crellin et alii, 1971. E. Ferri, 1976.
11. Funktionsgestörte Familien
56
suchung von Michael Rutter besteht ein Zusammenhang zwischen Jugendkriminalität und einem zerrütteten Elternhaus, während es kaum einen Zusammenhang zwischen Jugendkriminalität und dem Tod eines Elternteils gibt. Er folgert daraus, daß Jugendkriminalität mit Konflikten und Spannungen zwischen den Eltern zusammenhängt, völlig unabhängig davon, ob diese zur Auflösung der Familie führen oder nicht163• Stott (1977) behauptet sogar, daß Spannungen, insbesondere eheliche Konflikte während der Schwangerschaft, das Risiko schlechter Gesundheit des Kindes nach der Geburt wesentlich erhöhen. Bei Kindern können Schwierigkeiten, die durch Trennung der Eltern verursacht werden, verstärkt werden, wenn der Elternteil, mit dem sie zusammenleben, wieder heiratet164 • Andererseits stellte EIsa Ferri fest, daß sich Kinder im Alter von elf Jahren (National Child Development Stud y 50) mit ihrer familiären Situation abgefunden hatten und daß sich im Verhalten der Kinder aus Ein- und Zwei-EItern-Familien kaum Unterschiede zeigten. Sie nimmt deshalb an, daß das Fehlen eines Elternteils nicht die nachteilige Auswirkung hat, die ihm so oft zugeschrieben wird165 • Das Ergebnis dieser Untersuchung, die auch die nachhaltigen Auswirkungen von Scheidung und Todesfall auf Kinder miteinander vergleicht, stützt die Auffassung von Rutter, daß eine Störung der familiären Beziehungen auf die Entwicklung eines Kindes negativere Auswirkungen hat als ein Bruch. Eine kalifornische Untersuchung von einhunderteinunddreißig Kindern geschiedener Eltern stellte bei den Kindern zum Teil schwere Störungen fest. Die Art und das Ausmaß dieser Störungen scheint von verschiedenen variablen Faktoren, wie etwa dem Alter der Kinder, abhängig zu sein. Die jüngsten Kinder (2 1/2 bis 31/2 Jahre) reagierten generell mit regressivem Verhalten auf den Verlust eines Elternteils, so wie auch Bowlby dies bei Kindern beschrieben hat, die unter einer Trennungserfahrung litten166 • Ein Jahr später zeigte nur noch ein Drittel der Kinder (3) diese Symptome. Kinder der Altersgruppe 33/4 bis 43/4 Jahre zeigten häufiger Angstsymptome als regressive Symptome. Sieben von den elf Kindern dieser Gruppe waren nach einem Jahr in offensichtlich schlechterer klinischer Verfassung als zuvor, obwohl sie keinen familiären Spannungen ausgesetzt waren. Die 5- bis 6jährigen reagierten ebenfalls mit Angstsymptomen, aber bis auf fünf Kinder der Gruppe von vierzehn Kindern schien diese Erfahrung ihren Entwicklungsfortschritt nicht zu behindern, obwohl sie vor der Trennung extremen Spannungen ausgesetzt waren1e7• Kinder zwischen sieben 163 164 165 166
M. Rutter, 1972, S. 108. Finer Report, Bd. 2, Anhang 12 (Norman Murchison). E. Ferri, 1976, S. 130. Vgl. J. Bowlby, 1973, Kapitell.
7. Kinder geschiedener oder getrennt lebender Eltern
57
und acht Jahren scheinen auf Trennung mit intensiver Trauer und Angst zu reagieren, Nach einem Jahr war bei 50 Ofo der Kinder die psychische Entwicklung entweder verbessert oder auf demselben Niveau geblieben, lediglich 25 % waren in einer schlechteren Verfassung168 . 9- bis 10jährige können ihre Trauer besser kontrollieren und reagieren meist mit intensiver Wut. Diese Reaktion hielt bei einem Drittel der Kinder während des folgenden Jahres an, bei der Hälfte wurden Verhaltensstörungen entweder nicht gelöst, oder sogar verschlechtert. Einige hatten zu frühzeitiger sexueller Betätigung Zuflucht genommen 16V . Wut und Angst vor ihrer eigenen ehelichen Zukunft charakterisieren das Anfangsverhalten der Kinder über 13 Jahre. Die meisten konnten sich jedoch von der destruktiven Natur des Konfliktes lösen. Lediglich eine kleine Zahl, bei der die Scheidung mit einer Vergangenheit von Verhaltensschwierigkeiten zusammentraf, schien durch die Erfahrung nachhaltig geprägt17~. So interessant und anregend die kalifornische Untersuchung ist, so enthält sie doch ebensowenig wie andere Untersuchungen171 überzeugende oder genügend detaillierte Daten über die Auswirkung einer Scheidung auf Kinder. Ihre Bedeutung kann deshalb erst beurteilt werden, wenn die abschließenden Ergebnisse der begleitenden Untersuchung dieser Gruppe vorliegen. Bei dem Forschungsprojekt fehlte eine Kontrollgruppe; auch wurden andere Kausalfaktoren, wie "soziale Klasse" oder "wirtschaftliche Verhältnisse", die sich bei der National ChiZd Development Stud y 50 als so wichtig erwiesen hatten, nicht berücksichtigt. Zudem waren die einzelnen Gruppen des Gesamtprojekts zu klein, um aus den Ergebnissen allgemeingültige Schlußfolgerungen zu ziehen. So litten die Väter von sechs der sieben Kinder der Altersgruppe 33/4 bis 43/4 Jahre, deren Zustand sich in dem Jahr vor der Nachuntersuchung verschlechtert hatte, an verschiedenen psychischen Störungen, einschließlich schwerer neurotischer Erkrankungen, chronischem Alkoholismus und Psychosen. Es liegen noch keine befriedigenden Forschungsergebnisse über die Auswirkungen der Umstrukturierung der Familie nach einer Scheidung auf Kinder vor. Während einerseits nachgewiesen wird, daß ein Kind schwere Schäden erleiden kann, wenn die Verbindung mit dem abwesenden Elternteil aufrechterhalten bleibt 172, wird andererseits auf die Bedeutung des Kontaktes mit dem 167 J. S. Wallerstein und J. B. Kelly, 1975; Surviving the Breakup, London 1980. 168 J. B. Kelly und J. S. Wallerstein, 1976. 189 J. S. Wallerstein und J. B. Kelly, 1976. 170 J. S. Wallerstein und J. B. Kelly, 1974. 171 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei H. H. Irving und B. Schlesinger, 1976. 172 Goldstein, Freud und Solnit, 1973, S.38: "Ein Elternteil, der nur zu Be-
58
II!. Rechtslage
abwesenden Elternteil für das Kind hingewiesen. Der Direktor des Child Therapy173 Training Programms des Chicagoer Institutes für
Psychoanalyse meint sogar, daß der Kontakt mit dem abwesenden Elternteil auch dann aufrechtzuerhalten sei, wenn das Kind sich nicht mit ihm verstehe oder wenn dieser Elternteil "offensichtlich psychotisch oder brutal" seim. Der Frage, welche Auswirkungen eine Scheidung auf Kinder haben kann, wird große Bedeutung beigemessen, obwohl über das Ausmaß der Schädigung, die Umstände und Zusammenhänge, die sie verstärken oder vermindern, Unsicherheit besteht. Man hat das traditionelle Scheidungsverfahren seit langem kritisiert, weil es die Bedürfnisse und Erwartungen der Erwachsenen mehr berücksichtigt als das Kindeswohl, und nach verschiedenen Lösungsmöglichkeiten gesucht, wie man Gerichte auf die Bedürfnisse von Kindern aus geschiedenen Ehen aufmerksam machen könnte. Kapitel 6 und 11 setzen sich mit diesen Vorschlägen auseinander. III. Rechtslage* 1. Funktionen des gegenwärtigen Rechts
Rechtliche Maßnahmen bleiben meist ohne großen Einfluß, wo menschliches Verhalten gesellschaftlich tief verwurzelt ist. Von vielen wird dies für richtig gehalten, weil durch Rechtsnormen zur Regelung intimsten persönlichen Verhaltens oft Wertvorstellungen einer Minderheit durchgesetzt werden sollen. Andererseits werden bestehende Regelungen als Unterdrückung des Lebensstils einer Minderheit durch konventionelle Moralvorstellungen angesehen. Wenn Gesetze zu viele Auffassungen berücksichtigen wollen, werden sie deshalb nicht nur umstritten sein, sondern wirkungslos bleiben. Wir müssen uns die dem Recht inhärente Kernfunktion vergegenwärtigen: Den einzelnen zu schützen, gleichgültig, ob der Schaden physischer, emotionaler oder wirtschaftsuch kommt oder besucht wird, hat kaum eine Chance, Bezugsobjekt der Liebe, des Vertrauens und der Identifikation zu werden, da hierfür täglicher Kontakt erforderlich ist. co 173 Anm. d. Ü.: Kindertherapie. 174 Ner Littner, 1973, S. 1, 16. * Nur einige Beiträge seien stellvertretend für viele genannt: D. Giesen, "Ehe und Familie in der Ordnung des Grundgesetzes", in: JZ 1982, 817ff.; H. Lecheler, "Der Schutz der Familie - Fehlentwicklungen bei der Konkretisierung eines Grundrechts", in: FamRZ 1979, 1 ff.; P. Mikat, Möglichkeiten und Grenzen einer Leitbildfunktion des bürgerlichen Ehescheidungsrechts, Paderborn 1969; P. H. Neuhaus, "Finis familiae?", in: FamRZ 1982, 1 ff.; jeweils m. w. N. Zur besonderen Problematik der Abtreibung und der Geburtenkontrolle siehe D. Giesen, "Zur Strafwürdigkeit der Delikte gegen Familie und Sittlichkeit", in: FamRZ 1965, 248 ff.
1.
Funktionen des gegenwärtigen Rechts
59
licher Art ist. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, daß das Gesetz das einzelne Familienmitglied schützen muß, wenn ihm Schaden durch die Familie droht. Auch das Auseinanderbrechen der Familieneinheit stellt für den einzelnen eine Gefahr dar. Gesetze können zwar die Auflösung der Familie nicht verhindern, aber sie können die Anpassung an die veränderte Situation erleichtern. Teil 2 und 3 behandeln die beiden wichtigsten Funktionen des gegenwärtigen Familienrechts: Die Schutzfunktion und die Anpassungsfunktion. Gesetzgeber und Verwaltung können darüber hinaus versuchen, die Familien zu stabilisieren und durch Gesetz die Familie zu unterstützen. Diese unterstützende Funktion wird in Teil 4 behandelt. Es gibt noch eine weitere Funktion, die präventive, die aber zu allgemein und daher umstritten und vermutlich weniger effektiv ist. So soll eine bessere Kenntnis der Probleme, die das Familienleben mit sich bringt, die Mißerfolge vermindern. Rheinstein hat Programme zur "Erziehung zum Familienleben" vorgeschlagen, die von Schulen und Kirchen durchgeführt werden sollen, um die "Subkultur" der Jugendlichen zu beeinflussen, deren Ehen so häufig scheitern175 • In Kalifornien müssen Gerichte, bevor sie dem Antrag eines minderjährigen Antragstellers auf Erteilung einer Heiratserlaubnis stattgeben, beide Antragsteller verpflichten, an einer vorehelichen Beratung teilzunehmen, die von den Kirchen und den Sozialbehörden durchgeführt wird. Die Zahl der "Teenagerehen" ist deshalb nicht zurückgegangen, aber die jungen Leute werden in der Beratung auf mögliche Probleme aufmerksam gemacht, auf Wege, sie zu vermeiden, und, wenn notwendig, Hilfe zu suchen176 • Neufundland hat durch Gesetz eine Familienberatungsstelle errichtet, die unter anderem die Bevölkerung zu einer realistischen Einstellung gegenüber dem Familienleben erziehen und Verlobte entsprechend beraten soll177. Diese Maßnahmen bleiben sicher nicht ohne Einfluß auf die allgemeine Erziehungspolitik, die zugleich von sozialen Wertvorstellungen geprägt wird. Unerwünschte Eheschließungen junger Leute können sehr einfach dadurch erschwert werden, daß das Gesetz die Einwilligung der Eltern vorschreibt. Trotz der erwiesenen Risiken bei jugendlichen Ehen und trotz der ablehnenden Haltung der befragten Jugendlichen wurde in dem Latey Bericht (1967) vorgeschlagen, das Alter für die Ehemündigkeit von einundzwanzig auf achtzehn Jahre herabzusetzen. Der Gesetzesänderung vom 1. Januar 1970178 sind viele Commonwealth-Länder M. Rheinstein, 1972, S. 418. Vgl. dazu W. P. Hogoboom, 1972 und 1973, sowie die Vorschläge der Ontario Law Reform Commission, Family Law Project, Bd. 5, 1968, S. 105. 177 Newfoundland Family Guidance Association Act 1972. 178 Family Law Reform Act 1969, Sec. 1. 175 176
60
III. Rechtslage
gefolgt. In den australischen Staaten tritt die Ehemündigkeit ebenfalls mit achtzehn Jahren ein und in den kanadischen Provinzen mit achtzehn bzw. neunzehn Jahren. Personen, die nicht ehemündig aber ehefähig sind, bedürfen der elterlichen Einwilligung, die bei Verweigerung in den meisten Ländern durch das zuständige Gericht ersetzt werden kann. In England wird der Antrag auf Ersetzung der Einwilligung bei den magistrates' courts 17 gestellt. Da die Entscheidungen dieser Gerichte nicht veröffentlicht werden, sind die Voraussetzungen für die Ersetzung nicht bekannt. Nach Meinung eines australischen Richters soll die Verweigerung der Einwilligung der Eltern, wenn sie auf das jugendliche Alter des Antragstellers gestützt wird, aufrechterhalten bleiben, soweit nicht andere Faktoren hinzutreten, die die Ersetzung der Einwilligung rechtfertigen179 • Dagegen hat ein kanadisches Gericht entschieden, das Alter allein sei kein ausreichender Verweigerungsgrund 180 • Die australische Auffassung scheint eher mit der Absicht des Gesetzgebers übereinzustimmen. Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob die Herabsetzung der Ehemündigkeit vorteilhaft war. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist jedenfalls wichtiger als rechtliche Barrieren181 , und da die Zahl der "Teenagerehen" in England schon lange vor der Rechtsänderung angestiegen ist, hat sich das Gesetz, wie in anderen Bereichen des Familienrechts, nur den sozialen Veränderungen angepaßt. Präventivmaßnahmen sind für diejenigen konzipiert, die eine Eheschließung beabsichtigen; aber die bereits angesprochenen familiären Probleme treten nicht nur in diesem Zusammenhang auf. So kann eine alleinstehende Mutter davon betroffen werden, gerade weil sie nicht verheiratet ist. Andere leben zusammen und gründen Familien ohne jemals verheiratet gewesen zu sein. In diesem Kapitel werden zwei Fragenkomplexe behandelt: 1. Kann ein Familienproblem durch Schwangerschaftsabbruch verhindert werden? 2. Wie weit ist die Ehe eine notwendige Voraussetzung für rechtliche und soziale Maßnahmen? 2. Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung
Die Entscheidung über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs wirft zwei Fragen auf: Welcher Wert dem Wunsch eines Erwachsenen (Recht auf Selbstbestimmung) und welcher Wert dem lebenden Organismus (Recht auf Leben) beigemessen wird. Einige vertreten die Auffassung, das Recht der Frau sei uneingeschränkt, da der Fötus keine 178
Re an Infant (1963) 6 F. L. R. 12 (Victoria); vgl. dazu auch re Z. (1970)
A. L. R. 914.
Re Fox [1973] 11 R. F. L. 100 (Ontario). S. M. Cretney, 1976, S. 28 ff., lehnt das Erfordernis der elterlichen Einwilligung überhaupt ab. 180 181
2. Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung
61
Person sei und deshalb keine Konkurrenz zwischen Rechtsgütern vorliege. Andere sehen den Embryo als Form menschlichen Lebens, dessen Recht auf Leben dem Wunsch, individuelle Härten zu verhindern und soziale Probleme zu mildern, vorgehe. Der Supreme Court 182 der Vereinigten Staaten hat in seiner Entscheidung Roe v. Wade 183 eine deutlich unterscheidende Wertanalyse vorgenommen und entschieden, daß das Recht auf Freiheit, das durch das 14. Amendment der Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert wird, den Schutz der Intimsphäre beinhalte und damit auch das Recht zur Entscheidung, ob eine Schwangerschaft fortgesetzt werde. Der Staat muß danach die Gesundheit der Frau schützen und die Möglichkeit menschlichen Lebens gewährleisten. Der Gerichtshof sieht die Interessen des Kindes aber erst als vorrangig an, wenn es lebensfähig ist, d. h. in der Lage, außerhalb des Mutterleibes, wenn auch mit künstlicher Hilfe, zu existieren. Er begründet dies damit, daß Rechte nur lebendgeborenen Personen zustündenl84 • Vor diesem Zeitpunkt geht nach der Entscheidung des Supreme Court 182 das Selbstbestimmungsrecht der Mutter vor. Allerdings wird dieses nach etwa dreimonatiger Schwangerschaft eingeschränkt und ein Schwangerschaftsabbruch nur noch zum Schutz der Gesundheit der Mutter zugelassen. Die Begründung überzeugt nicht völlig, weil die drei Stadien der Schwangerschaft nicht genau abgrenzbar sind und das Gericht auch die Vernichtung eines lebensfähigen Fötus zulassen würde, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter in Gefahr sind. Wann eine Gefahr für die Gesundheit besteht, ist weiter Auslegung zugänglich185 • Die Entscheidung des Supreme Court 182 rückt Interessenkonflikte stärker in den Vordergrund als die Diskussion in England oder den Commonwealth-Ländern. Kanada bildet eine Ausnahme; dort wird die Auffassung vertreten, daß das bundesstaatliche Verbot des Abbruchs der Schwangerschaft, der nur aufgrund ärztlicher Diagnose bei Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter zulässig ist, im Widerspruch zur Verfassung steht. Einmal weil die Inanspruchnahme bundesstaatlicher Strafgewalt die verfassungsmäßigen Befugnisse überschreite, da keine zwingende Notwendigkeit für einen strafrechtlichen Schutz bestehe, und zum anderen weil es die kanadische Bill of Rights verletze, wenn sie wie das 14. Amendment ausgelegt würdel86 • 182 183
Anm. d. ü.: Oberstes Bundesgericht.
93 Supreme Court 703 (1973).
184 Diese Auffassung steht mit folgender australischen Entscheidung im Einklang, in der einem Kind Schadenersatz für Verletzungen, die es vor der Geburt erlitten hat, zugesprochen wurde: Watt v. Rama [1972] V. R. 353. Vgl. auch Congenital Disabilities (Civil Liability) Act 1976 (U. K.); K. M. Stanton,
1976.
185 R. M. Byrn, 1972-3, kritisiert die Entscheidung scharf. R. Wasserman, 1974, beschreibt, mit welchen Maßnahmen einzelne Staaten die Entscheidung
umgehen.
62
IH. Rechtslage
Vor 1968 konnte nach englischem Recht eine Schwangerschaft nur unterbrochen werden, wenn das Leben der Mutter in Gefahr war oder wenn sie Gefahr lief, physisch oder psychisch schwer zu erkranken187 • Der Abortion Act188 1967 verfolgte nicht die Absicht, widersprüchliche Interessen auszugleichen, sondern Härten im Einzelfall zu mildern. Danach ist ein Schwangerschaftsabbruch zulässig, wenn zwei Ärzte einer ärztlichen Allgemeinpraxis bestätigen, daß entweder die Fortsetzung der Schwangerschaft ein größeres Risiko für das Leben oder die physische oder psychische Gesundheit der Mutter oder für die übrigen Kinder der Familie darstellen würde, als die Beendigung der Schwangerschaft, oder daß eine erhebliche Gefahr besteht, daß das Kind an einer ernsthaften Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde. Bei der Entscheidung, welche Auswirkung der Schwangerschaftsabbruch auf die Gesundheit der Mutter hat, können ihre gegenwärtigen oder ihre vorhersehbaren Lebensumstände berücksichtigt werden. Der Eingriff muß in einem staatlichen Krankenhaus oder in einer hierzu autorisierten Privatklinik vorgenommen werden. Er ist nicht schon dann zulässig, wenn ein Arzt ihn für ungefährlich hält, sondern nur, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft für die Frau schädlicher ist als der Abbruch189 • Die Interessen des lebensfähigen Fötus werden durch den Infant Life Preservation Act 190 1929, den der Gesetzgeber nicht aufgehoben hat, geschützt. Danach ist es strafbar, ein lebensfähiges Kind zu töten, es sei denn, um das Leben der Mutter zu retten. Die Lebensfähigkeit wird nach sechsundzwanzigwöchiger Schwangerschaft vermutet, was nicht bedeutet, daß der Fötus nicht schon vor diesem Zeitpunkt lebensfähig sein kann. Die Auffassung, der Abortion Act 188 1967 legitimiere jeden Eingriff während der ersten achtundzwanzig Schwangerschaftswochen, beruht deshalb auf einem Mißverständnis. Der Abortion Act 188 1967 führte nach Auffassung von Hart zunächst zu einer Verminderung der nichtehelichen Geburten und der "Mußehen" 191. Allerdings stiegen die nichtehelichen Geburten in den darauffolgenden Jahren wieder auf ihre frühere Zahl. Wie bereits erwähnt, ist in England die Zahl der nichtehelichen Geburten während eines Zeitraums, in dem die Gesamtgeburtenrate sank, relativ stabil geblieben. 1975 gab es 27,5 % weniger Geburten insgesamt und 21,4 Ofo weniger 188 187 188 189 190 U1
P. C. Picher, 1974; (1973) 53 Can. B. R. 643 (K. W. Cheung). R. v. Bourne [1939] 1 K. B. 687. Anm. d. Ü.: Gesetz zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Der Lane Report, 1974, Ziff. 201, stützt diese Interpretation. Anm. d. Ü.: Gesetz zum Schutz des Lebens von Kleinkindern. H. L. A. Hart, 1971-2.
2. Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung
63
nichteheliche Geburten als 1967. Da die Zahl der nichtehelichen Geburten bis 1967 ständig angestiegen war, ist der Rückgang im Jahre 1968 offensichtlich auf das Gesetz zurückzuführen. Diese Tatsache wird nicht nur durch die zeitliche übereinstimmung zwischen dem plötzlichen Rückgang nichtehelicher Geburten und dem Inkrafttreten des Gesetzes bewiesen, sondern auch durch einen Vergleich der Statistiken aus Kanada, Neuseeland und Australien, wo (mit Ausnahme von Südaustralien) das Gesetz nicht in demselben Ausmaß liberalisiert wurde wie in England. In Kanada sind die Geburten zwischen 1967 und 1971 ungleichmäßig um 2,3 % zurückgegangen, während die nichtehelichen Geburten in demselben Zeitraum um 5,7 % angestiegen sind. In Neuseeland fiel die Geburtenrate insgesamt im Jahr 1975 um 5,6 Ofo gegenüber 1965, aber die Zahl der nichtehelichen Geburten war 1975 um 43,5 Ofo höher als 1965. In keinem der beiden Länder entsprach der Rückgang der nichtehelichen Geburten dem Rückgang der Gesamtzahl der Geburten wie in England, obwohl in Neuseeland die Zahlen von der kulturellen Tradition der polynesischen Einwanderer beeinflußt worden sein könnten. In Australien erhöhte sich die Geburtenrate insgesamt zwischen 1968 und 1971 um 14,7010, die Zahl der nichtehelichen Geburten dagegen um 33,6 0/0192 • Die umfassenden Auswirkungen des Gesetzes werden deutlich, wenn man die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bei alleinstehenden, geschiedenen, getrennt lebenden und verwitweten Frauen zur Zahl der nichtehelichen Geburten im Jahre 1973 addiert. Wenn alle Frauen, bei denen die Schwangerschaft abgebrochen wurde, nichteheliche Kinder geboren hätten, hätte der Anteil nichtehelicher Geburten im Jahre 1973 15,4010 betragen, tatsächlich betrug er aber nur 8,6010. Ob die Zahl von 8,4010 im Jahre 1967 auf 15,4010 im Jahre 1973 angestiegen wäre, ist fraglich, weil wohl nicht alle aufgrund des Abortion Act188 beendeten Schwangerschaften zu nichtehelichen Geburten geführt hätten. Die statistischen Zahlen lassen eher vermuten, daß dies vor Inkrafttreten des Gesetzes in vielen Fällen durch eine Eheschließung verhindert wurde. Die Gesamtzahl der Geburten aufgrund vorehelicher Zeugung, die bis 1968 ständig angestiegen war, sank nämlich zwischen 1968 und 1973 um 29,3 010193 • Tabelle 8 zeigt, daß der Rückgang bei Müttern unter zwanzig Jahren im Jahre 1969 einsetzt und von 35,8010 der Frauen, die in diesem Jahr mit noch nicht zwanzig Jahren geheiratet haben, auf 27,5010 im Jahre 1973 fiel. In der Altersgruppe der 20- bis 24jährigen Frauen gab es nach 1967 einen ebenso auffallenden Geburtenrückgang bei den vorehelich gezeugten Kindern. In beiden Fällen ist der Zusam192 193
Vgl. Official Yearbooks der entsprechenden Länder. Registrar-General, Statistical Review for England and Wales, 1973,
Tab. UU.
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III. Rechtslage
menhang mit der Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs offensichtlich. Möglicherweise hätten Frauen aber ohne Gesetzesänderung Eingriffe illegal vornehmen lassen. Die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche kann nicht einmal annähernd geschätzt werden. Man hat vielfach an dem Gesetz Kritik geübt und behauptet, England sei seither ein "Abtreibungsparadies" für Ausländerinnen geworden. 1973 wurden in England und Wales 56.581 von 167.149 Eingriffen an Ausländerinnen, zumeist in Privatkliniken, vorgenommen. Die Kritiker bezichtigten Ärzte und Vermittlungsstellen der Ausbeutung und warfen Ärzten vor, Eingriffe bereits mit der Begründung zu befürworten, daß nach der Statistik eine Geburt für Frauen jedenfalls gefährlicher sei als ein frühzeitiger Schwangerschaftsabbruch. Eingriffe sollen zum Widerwillen des Ärztepersonals in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft stattgefunden haben. Man kritisierte außerdem die widersprüchliche Interpretation des Gesetzes, die mangelnde Nachuntersuchung und die sinnlose Verschwendung von Krankenhauskapazitäten. Das Sane Committee überprüfte die Vorwürfe und befürwortete, das bestehende Verfahren und die Voraussetzungen für den legalisierten Schwangerschaftsabbruch beizubehalten. Ein Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch wurde aber abgelehnt. Die endgültige Entscheidung sollte weiterhin den Ärzten vorbehalten bleiben, die die Gesamtsituation der Frau zu berücksichtigen hätten. Nach Auffassung des Ausschusses sollten die Kosten nicht von dem staatlich finanzierten Gesundheitsdienst getragen werden194 • Er fand keinen praktikablen Weg, um Eingriffe an Ausländerinnen zu verhindern, schlug aber vor, einen Schwangerschaftsabbruch nach der vierundzwanzigsten Schwangerschaftswoche zu verbieten und Vermittlungsstellen der behördlichen Kontrolle zu unterstellen. Nachdem einige Abgeordnete einen Initiativantrag zur Änderung des Gesetzes vorgelegt hatten, wurde 1975 ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß eingesetzt. Die Vorschläge dieses Ausschusses führten 1977 zu einer Ergänzung der Änderungsvorlage. Danach soll ein Schwangerschaftsabbruch nach der vierundzwanzigsten Schwangerschaftswoche nur zulässig sein, wenn zwei Ärzte (aus verschiedenen Praxen) bestätigen, daß nur durch einen Eingriff das Leben der Frau gerettet oder schwere physische oder psychische Dauerschäden verhindert werden können. Für einen Abbruch zwischen der zwanzigsten und der vierundzwanzigsten Schwangerschaftswoche müßte eine ernsthafte Gefahr bestehen, daß das Kind behindert sein wird. Außerdem sollten private Kliniken und Beratungsund Vermittlungsstellen durch ein Konzessionssystem unter Aufsicht gestellt werden195 • Die Gesetzesvorlage stieß auf Widerstand, weil sie 194
Lane Report, 1974, Ziff. 190 f.
2. Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung
65
die Voraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch erschwertem, und ist nicht verabschiedet worden. Mit dem Problem des Schwangerschaftsabbruchs sind einige Folgeerscheinungen unausweichlich verbunden. Selbst wenn Eingriffe von Ausnahmefällen abgesehen unzulässig sind, wie in England vor dem Gesetz von 1967, das noch in Neuseeland 197 und Australien (Südaustralien ausgenommen)198 in Kraft ist, werden sie illegal vorgenommen, entweder privat oder unter irgendwelchen Vorwänden in staatlichen Krankenhäusernm. Bleibt dagegen die Entscheidung über die Zulässigkeit des Eingriffs den Ärzten vorbehalten, wie in Kanada und England, so werden widersprüchliche Interpretationen zu ungleicher Behandlung führen 2°O. Privatpatientinnen, die den Eingriff selbst bezahlen können, werden durch eine liberalere Interpretation der gesetzlichen Voraussetzungen begünstigt werden 2O '. Da bis zur Erteilung der ärztlichen Erlaubnis oft lange Zeit verstreicht, können die in den frühen Stadien der Schwangerschaft sicheren Eingriffsmethoden nicht angewendet werden202 • Es ist zu erwarten, daß der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch zumindest in den frühen Stadien der Schwangerschaft zulassen und den Ärzten ein Ermessen einräumen wird, den Eingriff dann zu verweigern, wenn dadurch Gesundheitsschäden bei der Frau hervorgerufen werden. Wie die Erfahrung in England zeigt, hat der Schwangerschaftsabbruch Auswirkungen auf die Zahl der nichtehelichen und vorehelich gezeugten Kinder. Deshalb sollte die Aufwendung öffentlicher Gelder für die entsprechenden Einrichtungen im Verhältnis zur Ersparnis bei den Sozialleistungen, die zumeist früher oder später bei unerwünschten Kindern anfallen, gesehen werden. Ein Ziel der Sozialpolitik sollte sein, Frauen in größerem Umfang über die Sterilisation sowie Verhütungsmittel und deren Anwendung aufzuklären, so wie dies zumindest bei verheirateten Frauen in Großbritannien bereits der Fall zu sein scheint. In England und Wales sank die Gesamtzahl der Eingriffe bei einheimischen Frauen zwischen 1973 und 1976: Bei unverheirateten Frauen um 3 0J0 und bei verheirateten Frauen um 14,8 0J0203. Das Office of Population, Censuses and Surveys204 Abortion (Amendment) Bill 1977. Vgl. 926 House of Commons Debates, cols. 1783 ff. (25. 2. 1977). 197 Crimes Act 1961, Sec. 182-187. 198 Dort wurde 1969 eine dem englischen Modell entsprechende Regelung eingeführt: der Criminal Law Consolidation Amendment Act 1969. 199 Vgl. für Neuseeland: W. A. P. Facer, 1972. 200 Vgl. für Kanada: K. D. Smith und H. S. Wineberg, 1970.· 201 Vgl. W. R. Rees und P. M. White, 1974. 202 J. Temkin in: (1974) 37 Modern Law Review 657. 203 Colin Francombe in: New Society, 3. 2.1977. 195 196
5 Eekelaar
66
III. Rechtslage
schätzt, daß bei verheirateten Frauen 16 Ofo der Schwangerschaften unerwünscht sind und 9 Ofo als verfrüht angesehen werden; die höchste Quote unerwünschter Schwangerschaften liegt bei Frauen vor, die vor Vollendung ihres zwanzigsten Lebensjahres geheiratet haben205 • Vermutlich sind in großen Familien späte Schwangerschaften wahrscheinlich ebenso unerwünscht, und auch die Mehrzahl der nichtehelichen Schwangerschaften ist wahrscheinlich unbeabsichtigt. Der Rückgang der Schwangerschaften und Geburten bei verheirateten Frauen läßt darauf schließen, daß Verhütungsmethoden und Sterilisation in größerem Umfang und erfolgreicher angewendet werden als früher. Das britische National Health Service 206 ist seit April 1974 verpflichtet, in staatlichen Krankenhäusern einen Geburtenkontrolldienst zur Verfügung zu stellen201 , der gebührenfreie Rezepte für Verhütungsmittel ausstellt208 • Seit Juli 1975 können Frauen auch in einer ärztlichen Allgemeinpraxis zur Geburtenkontrolle eingetragen werden und Verhütungsmittel kostenlos erhalten209 • Vieles spricht dafür, daß unerwünschte Kinder häufiger gesellschaftliche Versager werden oder der Unterstützung durch Sozialeinrichtungen bedürfen als erwünschte Kinder. Berechnungen aufgrund einer Kostendeckungsanalyse haben gezeigt, daß eine Bruttoaufwendung von 34 englischen Pfund für die Geburtenkontrollen in den Jahren 1971/72 in den darauffolgenden Jahren bei der Jugendwohlfahrt allein bei nichtehelichen Kindern 296 englische Pfund erspart hätte 2lo • Die Einrichtungen zur Geburtenkontrolle können auch von nichtverheirateten Frauen in Anspruch genommen werden. Allerdings stellen sich rechtliche Probleme, wenn eine Minderjährige die Einsetzung eines Empfängnisverhütungsmittels oder die Verschreibung der Pille verlangt. Bedarf es hierzu der Einwilligung der Eltern? Nach englischem Recht kann ein Minderjähriger, der das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat, rechtswirksam in eine ärztliche Behandlung einwilligen211 • Vor diesem Zeitpunkt hängt die Rechtswirksamkeit der Einwilligung davon ab, ob der Minderjährige in der Lage ist, ein vernünftiges Urteil zu fällen 212 • Bei der Verwendung von empfängnisverhütenden Mitteln 204
gen.
Anm. d. ü.: Amt für Bevölkerungsentwicklung, Statistik und Erhebun-
Lane Report, 1974, Ziff. 529. Anm. d. ü.: Staatlicher Gesundheitsdienst. 201 National Health Service (Re-organisation) Act 1973, Sec. 4. 208 Erklärung des Secretary of State in: 871 House of Commons Debates, co!. 654 (28 March 1974). 209 892 House of Commons Debates, Written Answers 115 (14 May 1975). 210 W. A. Laing, 1972. 211 Family Law Reform Act 1969, Sec. 8. 212 Vg!. P. D. G. Skegg, 1973. 205 206
3. Bedeutung der Ehe
67
ist die Situation schwieriger zu beurteilen, weil Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen, die das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, strafbar ist, es sei denn, der Mann hat das vierundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet und stichhaltigen Grund zur Annahme, das Mädchen sei bereits sechzehn Jahre alt213 • Die Abgabe von Verhütungsmitteln an eine noch nicht Sechzehnjährige stellt schon deshalb keine Anstiftung zu einer strafbaren Handlung dar, weil das Mädchen selbst keine strafbare Handlung begeht. Einige Autoren vertreten die Auffassung, daß das Mädchen nicht rechtswirksam in die Behandlung einwilligen könne und der Arzt tatbestandsmäßig eine Verletzung nach Zivilrecht, aber nicht nach Strafrecht, begehe 214 • Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers, diesen Meinungsstreit zu be enden und klarzustellen, daß eine Minderjährige rechtswirksam einwilligen kann, wenn sie notwendige Einsichtsfähigkeit hat. Die kanadische Regierung hat 1972 eine an das Department of National Health and Welfare 215 angeschlossene Family Planning Division 218 für Öffentlichkeitsarbeit zur Unterstützung der im Gesundheitsdienst und verwandten Diensten Beschäftigten eingerichtet, um Geburtenkontrollen in verstärktem Maße zugänglich zu machen. Die neuseeländische Regierung subventioniert die örtlichen Kliniken der Family Planning Association 217 • Diese Maßnahmen tragen zur Konfliktvermeidung bei, weil sie das Entstehen einer Ein-EItern-Familie verhindern oder Spannungen, die durch zusätzliche, unerwünschte Kinder aufgetreten wären, vermindern. Wir haben bereits früher gesehen, daß die Erwartungen und Möglichkeiten der Frauen durch die Kontrolle der eigenen Fruchtbarkeit vergrößert wurden. Dennoch gibt es immer noch soziale Randgruppen, in denen unerwünschte Geburten regelmäßig vorkommen und Kinder von Anfang an ungünstigere Entwicklungschancen haben. Wenn wir die Zahl dieser Geburten verringern können, werden nicht nur der Etat der Jugendwohlfahrt, sondern letztlich die Kinder selbst davon profitieren. 3. Bedeutung der Ehe
Vor der Reform des Scheidungsrechts lebten Männer und Frauen häufig in eheähnlicher Gemeinschaft, weil entweder einer von ihnen oder beide mit anderen Partnern verheiratet waren. Diese Verbindungen sollten seit der Liberalisierung der Scheidung zurückgegangen sein. 213 214
215 216 217
5*
SexualOffences Act 1956, Sec. 5 und 6; Criminal Law Act 1967, Sch. 2. Vgl. R. J. Gilborn, 1974. Anm. d. ü.: Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt. Anm. d. ü.: Abteilung für Familienplanung. Anm. d. ü.: Gesellschaft für Familienplanung.
68
III. Rechtslage
Aber der Rückgang der Eheschließungen in eInigen Ländern scheint darauf hinzudeuten, daß immer mehr Männer und Frauen ohne Eheschließung zusammenleben. In Schweden beschäftigt man sich bereits mit der Frage, welche Auswirkungen dieser Trend auf das Familienrecht haben wird 218 . Nach amerikanischen Schätzungen nahm die Zahl der in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Paare von 1960 bis 1970 um über 700 Ofo zu219 • Soziologen haben für diese Tatsache noch keine überzeugenden Erklärungen gefunden. Teilweise glaubt man, daß Paare die männlich dominierten Konventionen des traditionellen Familienrechts umgehen möchten220 . Wie wir noch sehen werden, liegen in der Tat dem Familienrecht und insbesondere dem Scheidungsrecht Vorstellungen zugrunde, die in unserer Gesellschaft mehr und mehr überholt sind. Andererseits hat sich der Gesetzgeber für die Gleichbehandlung der Geschlechter entschieden und die Überwachungsfunktion über Ehen eingeschränkt. Glendon bezeichnet diese Entwicklung als "sich der Ehe entziehen"221. Möglicherweise hängt dieser Trend mit dem Rückgang der Geburtenrate und der zunehmenden beruflichen Aktivität der Frauen zusammen, die ihre Berufsaussichten nicht durch Geburten und Kindererziehung beeinträchtigen wollen. Heute sind Kinder nicht mehr das Endziel einer sexuellen Beziehung, und deshalb hat die Eheschließung vielleicht an Bedeutung verloren. Diese neuen Entwicklungen verlangen eine sorgfältige Bewertung der Funktionen und Zwecke des modernen Familienrechts. Weitzman (1974) hat überzeugend ausgeführt, daß die Flucht vor der Ehe das Urteil der Gesellschaft zum Ausdruck bringt über ein System, das unser Leben nach generalisierenden Prinzipien lenken will. Sie meint, entgegen der Auffassung des traditionellen Familienrechts könne nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die Ehe fürs Leben geschlossen werde oder daß Kinder ein wesentlicher Teil der Ehe seien. Ebensowenig sei es möglich, die Arbeitsteilung zwischen den Ehegatten eindeutig abzugrenzen. Ein Universitätsstudent, der eine junge Lehrerin heiratet, die ihn während seines Studiums unterhält, wird andere Vorstellungen von dieser Verbindung haben als ein älteres Paar, das nach ein oder zwei vorangegangenen Ehen heiratet. Weitzman schlägt als Lösung ein Vertragssystem vor, das an Stelle der Eheschließung gewählt werden kann. Anhand von Musterverträgen soll jedes Paar nach seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen einen Vertrag gestalten 218 Vgl. dazu J. W. F. Sundberg, 1975, und 1. F. G. Baxter, 1977; siehe allgemein J. Eekelaar und S. N. Katz (Eds.), Marriage and Cohabitation in Contemporary Societies, Toronto 1980. 219 Vgl. auch M. Glendon, 1976, S. 663, 686. 220 Vgl. L. J. Weitzman, 1974; The Marriage Contract, New York 1981. 221 Vgl. M. Glendon, 1976.
3. Bedeutung der Ehe
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und sämtliche Punkte von der Einteilung des täglichen Lebens bis zu vermögensrechtlichen Regelungen, Unterhalt und Sorgerecht für den Fall einer Trennung vereinbaren können. Ein solches System, das auf dem Vorrang privatrechtlicher Verträge beruhen würde, entspräche der optimistischen Haltung gegenüber dem Laissez-faire-Prinzip im 19. Jahrhundert. Weitzman gibt zu, daß die Gerichte weiterhin bei Unzumutbarkeit entscheiden und auf diese Fälle Grundsätze des Handelsrechts anwenden sollten. Es müßte vermutlich auch in die Zuständigkeit der Gerichte fallen, bei veränderten Verhältnissen Vertragsanpassungen zu genehmigen. Diese Zugeständnisse zum Paternalismus führen zu Ergebnissen, die auch das gegenwärtige Familienrecht bereits anstrebt. Die Gerichte entscheiden heute mit großer Flexibilität und berücksichtigen die Gesamtumstände der Parteien einschließlich ihrer vergangenen Erwartungen und gegenwärtigen Bedürfnisse222 • Sie an die ursprünglich vereinbarten Vertragsbedingungen zu binden, hätte zur Folge, daß spätere wirtschaftliche Veränderungen, die Geburt oder Adoption eines Kindes, oder die Bedeutung anderer Personen in dem Leben eines Partners ignoriert würden. Es wäre sicherlich nützlich, wenn die Parteien ihre ursprünglichen Erwartungen schriftlich festhalten; verschiedene Rechtssysteme sehen diese Möglichkeit für das Güterrecht auch vor. Soweit die Verträge dagegen die Gerichte binden wollen, bei der Scheidung entsprechend der Rechtslage bei Vertragsabschluß zu entscheiden, wurden sie immer für unwirksam gehalten223 • Man kann von den Gerichten erwarten, daß sie bei ihrer Entscheidung jede Vereinbarung der Parteien für den Fall der Scheidung und auch andere Erklärungen berücksichtigen. Wenn ein Paar ohne Eheschließung oder ohne Vertrag zusammenlebt, gebietet an sich die Logik des Laissez-faire-Prinzips, von einem gerichtlichen Einschreiten abzusehen, selbst wenn ein Partner dies später verlangt, da die Parteien sich freiwillig für eine Beziehung ungehindert von gesellschaftlichen Regelungen entschieden haben. Das gegenwärtige Familienrecht tendiert jedoch in genau die entgegengesetzte Richtung. Immer häufiger werden Schutz-, Anpassungs- und Unterstützungsfunktion auf De-facto-Familien ebenso wie auf De-iure-Familien angewendet. Man hält dies für vereinbar mit dem herkömmlichen Familienrecht, weil die Familie danach sowohl als eine soziale als auch als eine rechtliche Einheit angesehen wird, die unabhängig von ihrer Rechtsform des Schutzes vor Veränderungen bedarf. Ein kanadischer Richter hat diese 222 In der Entscheidung S. v. S. [1977] 1 All E. R. 56 führte Ormrod L. J. aus, daß hinsichtlich der Folgeregelungen kurze Ehen älterer Partner anders zu behandeln seien als die üblichen Durchschnittsehen. 223 Hyman v. Hyman [1929] A. C. 601; Matrimonial Causes Act 1973, Sec. 34
(1).
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II!. Rechtslage
Realität treffend beschrieben, als er den Rechtsstreit eines Paares, das sich gegen eine Heirat entschieden hatte, um die Formalitäten und den Scheidungsrichter zu vermeiden, über Geld und HaushaItsgüter zu entscheiden hatte: "Es war ein unmöglicher Traum. Es ist heute ebenso unmöglich, das verwirrte Netz, das sie gewoben haben, zu entwirren, wie darin zu leben224 ." Man kann der Auffassung sein, daß das Familienrecht nur Anwendung finden soll, wenn einer oder beide Parteien dies erwarten, wie etwa bei Personen, die gutgläubig eine Ehe schließen, die sich später als nichtig erweist. Der gutgläubige Partner bleibt in einem solchen Fall gegenüber dem verstorbenen "Ehegatten" erbberechtigt, als ob die Ehe wirksam geschlossen wäre 225 • In einigen Fällen ist die Zuständigkeit in Ehesachen auch gegeben, wenn die Beteiligten den Nichtigkeitsgrund kannten (etwa bei verbotenem Verwandtschaftsgrad, mangelnder Ehefähigkeit oder - bei genauer Interpretation des englischen Rechts im Falle der GleichgeschlechtIichkeit der Parteien)228, weil die Gerichte nicht nur bei der Auflösung der Ehe über die vermögensrechtIiche Regelung zwischen den Parteien entscheiden, sondern auch im Verfahren auf Nichtigerklärung der Ehe 227 . Zweck dieser Regelung scheint es nicht - oder wenigstens nicht allein - zu sein, bestimmte Erwartungen der Partner zu erfüllen, sondern Lösungen für die Schwierigkeiten anzubieten, in die sie geraten sind. Die Gerichte sind zuständig, eine Ehe für nichtig zu erklären, wenn nach außen hin der formelle Akt der Eheschließung vorgenommen wurde. Das muß aber nicht immer der Fall sein, da die Zuständigkeit auch dann besteht, wenn die Ehe wegen Fehlens wesentlicher Formerfordernisse nichtig ist. Vermutlich ist eine "Embryozeremonie" notwendig228 , obwohl unklar ist, welcher Grad an Vollständigkeit erfüllt sein muß. Seit Lord Hardwick's Marriage Act229 von 1753 muß ein formeller Eheschließungsakt vorgenommen werden; das Gesetz verlangte als Voraussetzung für die Gültigkeit einer Ehe (mit Ausnahme der Ehen von Quäkern und Juden) eine Trauung nach dem Ritus der anglikaniDwyer v. Love (1976) 58 D. L. R. (3d) 735 (Prince Edward !sland). 225 Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975, Sec. 25 (4). 228 Matrimonial Causes Act 1973, Sec. 11 (c). 227 S. M. Cretney, 1976, S.48, 70 f., meint, daß Gerichte sich bei gleichgeschlechtlichen Partnern im Falle einer Nichtigkeitsklage für unzuständig erklären würden, soweit zweifelsfrei feststehe, daß es sich um Partner gleichen Geschlechts handele. Es ist nicht ganz verständlich, weshalb für die Zuständigkeit der "Zweifel" ausschlaggebend sein soll und weshalb nicht auch für diese "Ehen" die anderen Nichtigkeitsgründe Anwendung finden sollen. Die Frage hat wenig praktische Bedeutung, da eine formelle Eheschließung Homosexueller kaum zugelassen werden wird. 228 Vgl. re Estate of Lin Sinn Minn [1975] 1 Malaya L. J. 145. 229 Anm. d. ü.: Ehegesetz. 2ft
3. Bedeutung der Ehe
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schen Kirche. Heute sind Eheschließungen auch nach anderen religiösen Riten oder aufgrund einer staatlichen Trauung möglich. Der Marriage Act 229 wollte die wesentlich ältere common law marriage 230 , bei der die Beteiligten ohne behördliche Mitwirkung lediglich aufgrund eines Konsensus zusammenlebten und von ihrer Umgebung als verheiratet akzeptiert wurden und damit als verheiratet galten, aus dem englischen Recht eliminieren. Die Doktrin der common-law-marriage 230 findet noch in einigen Staaten der Vereinigten Staaten Anwendung. Sie ermöglicht es, das Familienrecht auf solche Verbindungen anzuwenden, die nach den Sitten und Gebräuchen anderer Kulturkreise geschlossen wurden, abweichend von konventionellen Eheschließungsnormen westlicher Länder231 • In Kanada erkennen Gerichte mit Hilfe der common-law-marriage-Doktrin230 die nach Stammessitten geschlossenen Ehen der Eskimos und Indianer rechtlich an232 • Auf den Karibischen Inseln werden drei unterschiedliche Arten der Sexualbeziehungen gesellschaftlich anerkannt: visiting relationships 233, common-law-Verbindungen2SO und die formelle Eheschließung. Es ist durchaus üblich, mit demselben Partner nacheinander in allen drei Stadien zu leben und Kinder zu haben. Common-law-Verbindungen gelten zwar nicht als Ehen, aber die Beteiligten leben oft mehrere Jahre in eheähnlicher Gemeinschaft in einem gemeinsamen Haushalt (häufig bei Verwandten der Frau) und heiraten nicht formell, weil sie entweder kein Geld für eine angemessene Feier haben, oder keine eigene Wohnung finden können. Da diese Verbindungen nicht rechtlich anerkannt werden, sind die Kinder nichtehelich; bei Streitigkeiten gibt es keinen Familienrechtsschutz234 • Großbritannien wird vermutlich von den westindischen Einwanderern mit ähnlichen Problemen konfrontiert werden. Gerichte erkennen möglicherweise eine Form der Polygamie an, wenn sie einem bereits verheirateten Partner neben seinen bestehenden Verpflichtungen gegenüber dem De-iure-Ehegatten noch Verpflichtungen gegenüber dem De-facto-Ehegatten auferlegen, mit dem er zusammenlebt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein Elternteil seinen Kindern aus beiden Verbindungen unterhaltspflichtig ist und daß im Falle der Auflösung der ersten Ehe und der Legalisierung der zweiten Verbindung ebenso beiden Ehegatten gegenüber rechtliche Verpflichtungen bestehen. Nach englischem Recht können Partner einer polygamen Ehe eherechtliche Rechtsbehelfe in Anspruch nehmen, wenn die 230 Anm. d. ü.: Ehe, die ohne behördliche Mitwirkung durch einfachen Konsens der Brautleute geschlossen wird. 231 W. O. Weyrauch, 1961. 232 Re Noah Estate, (1961) 36 W. W. R. 577; re Cote, (1972) 22 D. L. R. (3d) 353. 233 Anm. d. ü.: Besuchsbeziehungen. 234 w. Davenport, 1961; B. Schlesinger, 1968, und J. Blake, 1961.
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IH. Rechtslage
Ehe in dem Herkunftsland rechtswirksam geschlossen wurde235 • Deshalb kann sich ein mit zwei Frauen verheirateter Mann, der seinen ständigen Wohnsitz in England hat, von einer Frau scheiden lassen und zu Unterhaltsleistungen verurteilt werden, während er weiterhin seine Verpflichtungen gegenüber der noch mit ihm verheirateten Frau zu erfüllen hat. Nach australischem Recht können Unterhaltsurteile auch bei noch bestehenden polygamen Ehen ergehen und Gerichte sind auch für die Scheidung einer polygamen Ehe zuständig, wenn die Ehe im Ausland geschlossen wurde236 • In Neuseeland wird nur die erste Verbindung einer polygamen Ehe anerkannt237 , und auch das nur hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung, während das kanadische Recht nicht einmal eine monogame Ehe anerkennt, die aufgrund eines Gesetzes geschlossen wurde, das Polygamie zuläßt. Die Anerkennung polygamer Ehen bezweckt, Verbindungen, die außerhalb des Vereinigten Königreiches eingegangen wurden, unter den Schutz der englischen Gesetze zu stellen, wenn die Ehepartner in Großbritannien ihren ständigen Wohnsitz begründen. Meist handelt es sich um Folgeregelungen anläßlich der Scheidung. Ähnliches gilt für die Anerkennung ausländischer Scheidungsurteile, da die Partner oft im Vertrauen auf die Gültigkeit der Scheidung wieder geheiratet haben. Die Gerichte müssen bei der Zuständigkeitsprüfung im Scheidungsverfahren der zweiten Ehe zunächst feststellen, daß die frühere Ehe durch das ausländische Urteil wirksam geschieden wurde. Seltsamerweise ist die Anerkennung des ausländischen Urteils oft überflüssig, denn selbst wenn die Scheidung in Großbritannien nicht anerkannt wird, können die Gerichte im Verfahren auf Nichtigerklärung der Zweitehe die Folgeregelungen nach familienrechtlichen Grundsätzen entscheiden238 • Englische Gerichte hatten in einer Reihe von Fällen darüber zu entscheiden, ob die im Anschluß an die ausländische Scheidung geschlossene Ehe gültig ist 239 , oder ob die ausländische Scheidung die erste Ehe wirksam aufgelöst hat2~. Teilweise sollten die Verwaltungsbehörden verpflichtet werden, noch nachträglich eine staatliche Heiratserlaubnis aus235 Durch Sec. 47 des Matrimonial Causes Act 1973 wurde der Matrimonial Proceedings (Polygamous Marriages) Act 1972 erneut in Kraft gesetzt. Gern. Sec. 11 (d) dieses Gesetzes ist es einer Person mit Domizil in England und Wales untersagt, eine polygame Ehe einzugehen. Vgl. dazu auch Law Com. No. 42. 238 Familiy Law Act 1975, Sec. 6. 237 Domestic Proceedings Act 1968, Sec. 3 (N. Z.). 238 Vgl. die abweichende Meinung von Russen L. J. in Indyka V. Indyka [1967] P. 233 at 264 (C. A.). 239 Z. B. Armitage V. Attorney-General [1906] P. 135; Mansen V. Mansen [1967] P. 306.
240 Levett V. Levett [1957] P. 156; Arnold Seott V. Robinson-Scott [1958] P. 71.
V.
Arnold [1957] P. 237; Robinson-
3. Bedeutung der Ehe
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zustellen241 • Diese Versuche haben das House of Lords 242 ver anlaßt, flexiblere Grundsätze für die Anerkennung ausländischer Ehescheidungen zu fonnulieren 243 , die von Australien244 und Kanada 245 übernommen, aber nur in Australien ebenso wie im Vereinigten Königreich mit Gesetzeskraft versehen wurden246 • Die englischen Gerichte sind danach zur Auflösung der Zweitehe zuständig, sie verlieren aber durch die Anerkennung der ausländischen Scheidung jede Jurisdiktion über die Erstehe. Im Ausland geschiedene Ehegatten können deshalb in Großbritannien keine Rechtsbehelfe in Ehesachen geltend machen. Wenn ein in England ansässiger Ehegatte gegen seinen Ehepartner Scheidungsklage in dem Land erhebt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die Scheidung ausgesprochen und das Urteil anerkannt wird (was dann der Fall ist, wenn der andere Ehegatte von dem Verfahren Kenntnis besitzt), kann der oder die Beklagte keine Ansprüche nach englischem Recht stellen247 • Ebensowenig steht ein in England ansasslger Ehegatte unter dem Schutz der zuständigen Gerichte, wenn der andere Ehegatte zwar in England einen Wohnsitz hat, aber sein Domizil in einem Land beibehält, das die Rechtmäßigkeit einer informellen Scheidung anerkennt. Wenn sich also ein Einwanderer aus einem mohammedanischen Land, der die Staatsangehörigkeit des Landes beibehält, von seiner Frau durch dreimalig wiederholten Ausspruch der Scheidung trennt, wird die Scheidung nach common-law ll -Grundsätzen anerkannt und die Zuständigkeit der englischen Gerichte ausgeschlossen248 • Der Fall wird noch weiter durch section 16 (1) des Domicile and Matrimonial Proceedings Act249 1973 kompliziert, der bestimmt: "No proceedings in the United Kingdom, the Channel Islands or the Isle of Man shall be regarded as validly dissolving a marriage unless instituted in the courts of law of one of those countries. " Diese Bestimmung könnte so zu verstehen sein, daß im Vereinigten Königreich eine Ehe nur durch eine gerichtliche Scheidung aufgelöst werden kann. North meint dagegen, die Regelung könne schon deshalb nicht auf informelle Scheidungen angewendet werden, weil kein "Verfahren" im Rechtssinne vorläge 250 • Die Bestim241 R. v. Hammersmith Superintendent Registrar of Marriages, ex p. MirAnwarrudin [1917] 1 K. B. 634. 242 Anm. d. ü.: Oberstes Rechtsmittelgericht. 243 Indyka v. Indyka [1969] 1 A. C. 33. 244 Nicholson v. Nicholson (1970) 17. F. L. R. 47. 245 Kish v. Director of Vital Statistics [1973] 2 W. W. R. 678. 24ft Recognition of Divorces and Legal Separations Act 1971 (U. K.); Family Law Act 1975, Sec. 104 (Aus.). 247 Torok v. Torok [1973] 3 All E. R. 101. 248 Qureshi v. Qureshi [1972] Farn. 173. 249 Anm. d. ü.: Gesetz über das Verfahren in Ehesachen und das Domizil. 250 P. M. North, 1975, S. 36, 53.
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II!. Rechtslage
mung sollte so interpretiert werden, daß eine Ehe im Vereinigten Königreich, auf den Kanalinseln und der Insel Man nur durch ein Scheidungsurteil des dort für die Scheidung zuständigen Gerichts wirksam aufgelöst werden kann. Auch diese Auslegung ändert nichts an den Problemen, die sich bei großzügiger Anerkennung ausländischer Scheidungen ergeben. Die beste Lösung wäre, durch Gesetz eine umfassende Zuständigkeit englischer Gerichte in Ehesachen zu begründen, und zwar nicht nur wenn ein Scheidungs- oder Annullierungsurteil durch ein englisches Gericht ergeht, sondern auch dann, wenn die Ehe durch ein nach englischem Recht anerkanntes, ausländisches Urteil geschieden wurde. Der weitere Schritt, De-facto-Verbindungen anzuerkennen, hätte den Vorteil, daß die Scheidungsgerichte auch für die Kinder aus diesen Verbindungen zuständig wären. Das englische Recht hat jahrhundertelang Kindern aus nichtigen Ehen den Legitimitätsstatus verweigert. Seit der Gesetzesänderung aus dem Jahre 1959 gelten in England geborene Kinder als ehelich, wenn ein Elternteil oder beide Eltern vernünftigerweise annehmen konnten, daß ihre Ehe entweder zur Zeit der Empfängnis oder zur Zeit der Eheschließung (wenn diese später erfolgt ist) wirksam geschlossen war251 • Kanada 252 , Australien253 und Neuseeland 2S4 haben ähnliche Bestimmungen erlassen. Es verwundert, daß danach der Status des Kindes nicht nur von der Einsichtsfähigkeit, sondern auch von der "Vernunft" der Eltern abhängen soll. Diese Bestimmungen finden auf eheähnliche Gemeinschaften keine Anwendung. Aber gerade in diesen Fällen werden in verschiedenen Rechtssystemen die ersten zaghaften Schritte unternommen, das Familienrecht auch auf De-facto-Verbindungen anzuwenden. Meist handelt es sich bei diesen Maßnahmen um stückweise Ergänzungen verschiedener Rechtsgebiete, nur Südaustralien ist bereits so weit gegangen, einen gesetzlichen Status für Personen einer eheähnlichen Gemeinschaft zu begründen. Danach erwirbt ein Partner den Status eines "Putativehegatten", wenn er mit dem anderen Partner seit 5 Jahren ununterbrochen oder insgesamt 5 Jahre während der letzten 6 Jahre als De-facto-Ehegatte in eheähnlicher Gemeinschaft gelebt hat oder wenn aus der Verbindung ein Kind stammt255 • "Putativehegatten" sind erbberechtigt25s • De-facto-Verbindungen sollen nicht in jeder Hinsicht wie formelle Ehen behandelt werden. Vielmehr scheint die schwedische Auffassung Legitimacy Act 1959, Sec. 2 (1). A. L. Foote, 1972, S. 49 ff. m Marriage Act 1961, Sec. 91 (Aus.). 254 Matrimonial Proceedings Act 1963, Sec. 8 (N. Z.): Diese Bestimmung wurde durch Sec. 12 (2) Status of Children Act 1969 (N. Z.), mit der der Status der Nichtehelichkeit abgeschafft wurde, aufgehoben. 255 Family Relationships Act 1975, Sec. 11. 250 Administration and Probate Act (Amendment) Act 1975, Sec. 4. 251
252
3. Bedeutung der Ehe
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der Neutralität zwischen gesetzlichen und nicht gesetzlichen Verbindungen 257 , nach der das Fehlen einer formellen Eheschließung nicht die Schutz-, Anpassungs- oder Unterstützungsfunktion des Familienrechts ausschließt, die geeignete Lösung zu sein. Die jeweils in Betracht kommende Funktion kann dann in entsprechender Weise den verschiedenen Situationen angepaßt werden.
257
Vgl. dazu Jacob W. F. Sundberg, 1975.
Zweiter Teil
Schutzfunktion des Rechts "Unglückliche Ehen sind nach dem Hunger die Hauptursache menschlichen Unglücks." Erin Pizzey, Scream Quietly or the Neighbours Will Hear, 1974 "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir erst vor kurzer Zeit aufgewacht sind." Lloyd de Mause, The Evolution of Childhood, 1974 IV. Ursprünge des modernen Familienrechts·
Jahrhundertelang hat unsere Gesellschaft die Familie als natürliche Keimzelle der nächsten Generation angesehen. Das Gemeinwesen interessierte nicht, wie Kinder aufwuchsen. Familien benutzten deshalb Kinder zum größtmöglichsten Vorteil für sich selbst oder für die soziale Klasse, der sie angehörten. Wir haben bereits an anderer Stelle gesehen, wie die landbesitzenden Klassen Englands die Ehen ihrer Kinder arrangiert haben, um ihre wirtschaftliche Position zu festigen. Vor der Restauration war es üblich, Kinder aus der Oberschicht, und später auch Kinder aus der Mittelschicht, bei Freunden oder Verwandten, oft auch bei völlig Fremden unterzubringen, damit sie Dienste leisten und gleichzeitig in den Aufgaben unterrichtet wurden, die sie als Erwachsene ihrem Stand entsprechend erwarteten. Mädchen lernten auf diese Weise, einen großen Haushalt zu führen, eine Aufgabe, die sie im Falle einer reichen Heirat zu erfüllen hatten258 • Der Eigennutz der Erwachsenen ging weit über die wirtschaftlichen Vereinbarungen hinaus. Disziplin wurde mit extremer, brutaler Autorität aufrecht erhalten, und die
* Das englische Eherecht aus rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Sicht untersucht D. Giesen, Grundlagen und Entwicklung des englischen Eherechts in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der englischen Geschichte, Rechts- und Kirchengeschichte. Mit einem Anhang von bisher z. T. unveröffentlichten Dokumenten zur englischen Rechtsgeschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts aus den Archiven des Britischen Museums, des Public Record Office, des House of Lords Record Office zu London und aus anderen Archiven Englands, Bielefeld 1973. 258 1. Pinchbeck und M. Hewitt, 1969, Kapitel 2.
1. Kinder in Arbeitshäusern
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geringsten Zeichen von Eigenständigkeit wurden häufig grausam unterdrückt, damit die Kinder die Erwartung, die Erwachsene in sie setzten, erfüllen259 • In den ärmeren Bevölkerungsschichten wurden Kinder, insbesondere in wirtschaftlich schweren Zeiten, von ihren Eltern und anderen erbarmungslos ausgebeutet. Die vorsätzliche Verstümmelung von Kindern, um sie als Bettler mitleidserregender zu machen, oder das vorsätzliche Anlernen von Knaben zum Diebstahl und von Mädchen zur Prostitution, die die Todesstrafe bzw. eine Geschlechtskrankheit zur Folge haben konnten, dauerten bis in das 19. Jahrhundert. 1. Kinder in Arbeitshäusern
Erst die zunehmende Landstreicherei von Kindern sowie die allmähliche Erkenntnis ihres physischen und moralischen Raubbaus während der industriellen Revolution rückte das Problem des Kinderschutzes in das Bewußtsein der Öffentlichkeit. Seit Urzeiten wurden ärmere Kinder, sobald sie stark genug zum Arbeiten waren, als Lehrlinge in der Landwirtschaft oder in Herstellungsbetrieben eingesetzt, um ein mageres Familieneinkommen aufzubessern. Mit der fortschreitenden Industrialisierung in England wurden Kinder deshalb als natürliche Ergänzung des Arbeitspotentials angesehen. Die Versuche zur Zeit Elisabeths 1. und Jakobs 1., der Verelendung der Unterschicht mit ihren zahlreichen Kindern durch finanzielle Beihilfen abzuhelfen und die Kinder in Waisenhäusern oder bei Pflegeeltern unterzubringen, scheiterten an den sozialen Wirren im 17. Jahrhundert. Der aufkommende Puritanismus mit seinem Dogma, daß Arme sich und ihre Kinder selbst erhalten sollten, führte zu einer härteren und repressiveren Politik den Armen gegenüber, die im starken Gegensatz zur früheren Wohltätigkeit stand. Man propagierte die Errichtung von Arbeitshäusern für Kinder und sanktionierte damit eine zukünftige Tradition der Kinderarbeit, die nur allzu bereitwillig von den Fabrik- und Grubenbesitzern der späteren Generationen akzeptiert wurde 260 • Die grauenvollen Arbeitsbedingungen der Kinder im 19. Jahrhundert sind dokumentarisch belegt261 • Wir können an einem einzigen Beispiel den historischen Zusammenhang sehen, aus dem sich das frühe Kindeswohlfahrtsrecht entwickelt hat. Ein Mitglied einer parlamentarischen 259 Lloyd de Mause, 1974, und S. X. Radbill, 1974, stellen anhand von Beispielen den Leidensweg der Kinder dar. Allerdings sind die geschilderten Grausamkeiten weniger ungeheuerlich, wenn man die zeitgemäßen Maßstäbe gegenüber brutaler Gewalttätigkeit im allgemeinen berücksichtigt. 280 1. Pinchbeck und M. Hewitt, 1969, S. 146. 261 Vgl. Ronald Fletcher, 1966, Kapitel 2; J. Heywood, 1965, beschreibt die Entwicklung der Fürsorgedienste und die Gesetzgebung zum Schutze der Kinder.
IV. Ursprünge des modernen Familienrechts
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Untersuchung über Kinderarbeit beschrieb die Aufgabe eines elfjährigen Mädchens in einer Kohlengrube: "... Ein Mann allein reicht häufig nicht aus, um die Last auf ihren Rücken zu laden. Die Riemen werden über die Stirn geschlungen, und der Körper wird in einem Halbkreis gebeugt, um den Rücken steif zu machen. Dann werden große Kohleklumpen auf ihren Nacken gelegt, sie befestigt eine Lampe an einem Tuch, das um ihren Kopf geschlungen ist, und beginnt den Weg zum Grund der Grube. Ein Weg wird ,rake' genannt; die Distanz ist länger als die Höhe der St.-Pauls-Kathedrale. Oft reißen die Riemen und die Last fällt auf die nachfolgenden Mädchen. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber ich habe Väter gesehen, die sich von der Kohle, die sie auf den Rücken ihrer Kinder legten, einen Bruch gehoben haben262 ." Die Tatsache, daß Eltern ihre Kinder solchen Ungeheuerlichkeiten aussetzten und sich sogar dem gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit widersetzen konnten, kann nur verstanden werden, wenn man die wirtschaftlichen Umstände, in denen sie lebten, berücksichtigt. Die Arbeitsschutzgesetzgebung des 19. Jahrhunderts, die die schlimmsten Exzesse beim Mißbrauch der Kinderarbeit verhindern wollte, beraubte gleichzeitig die unteren Einkommensklassen einer wesentlichen Einkommensquelle. Man hatte zunächst versucht, das Problem der Familienarmut zu lösen, indem man in den Gemeinden Arbeitshäuser errichtete, die den Familien eine einträgliche Arbeit verschaffen sollten. Aber diese Einrichtungen konnten sich niemals selbst erhalten, und der Poor Law Amendment Act268 aus dem Jahre 1834 sah die Arbeitshäuser als Abschreckungsmittel gegen Armut vor. Nach dem Prinzip der "less eligibility"264 sollten die Bedingungen in den Arbeitshäusern immer schlechter sein als auf der untersten Stufe eines abhängigen Arbeitsverhältnisses. Nach und nach wurden Alte und Kranke in Arbeitshäusern aufgenommen, da man es für wesentlich billiger hielt, die Armen in Institutionen zu erhalten. Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb: "Jedes dieser Gebäude, die wir widersinnigerweise Arbeitshäuser nennen, ist in Wirklichkeit ein Krankenhaus, ein Armenhaus, ein Waisenhaus, eine Entbindungsstation, eine Schule, eine Irrenanstalt, eine Blindenanstalt, eine Taubstummenanstalt und ein Arbeitshaus; letzteres ist im allgemeinen ein "Locus a non lucendo", in dem auch für gesunde Arme keine Arbeitsmöglichkeiten bestehen ... Es ist wider jegliches Vernunftsprinzip und Humanitätsgefühl, diese verschiedenen Formen des Elends in einer gemeinsamen Unterkunft zusammenzupferchen und sie nicht durch Gesetz zu unterscheiden und dementsprechende Unterkünfte zu schaffen 265 ." Ein anderer Beobachter schrieb: "Der Raum, der dreihundert 262 263 264
P. P. 1842, Bd. 15, S. 91 f. (zit. v. E. R. Pike, 1966, S. 170). Anm. d. Ü.: Ergänzungsgesetz zur Fürsorgegesetzgebung. Anm. d. ü.: Prinzip des größeren Nachteils.
1.
Kinder in Arbeitshäusern
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Menschen durch die Poor Law Commissioners 268 zugewiesen wird, würde in Londoner Spitälern nicht fünfundvierzig und in Militärhospitälern nicht mehr als fünfundsechzig Menschen beherbergen267 ." 1840 befanden sich vermutlich 64.570 Kinder in englischen Arbeitshäusern288 • Ihre Lebensumstände waren kaum besser als auf den Straßen oder in Fabriken. Die normale Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünfzehn Jahren wurde zwischen 1780 und 1790 auf ein Kind von vierzig Kindern und in Arbeitshäusern auf ein Kind von acht bis vierzehn Kindern geschätzt. Nur 7 % der im Jahre 1763 in Arbeitshäusern geborenen Kinder waren 1765 noch am Leben269 • Das Britische Jugendwohlfahrtsrecht hat sich aus der Arbeitshausgesetzgebung entwickelt. Ende des 18. Jahrhunderts durften Londoner Arbeitshäuser Kinder unter sechs Jahren probeweise in Unterkünften drei Meilen außerhalb der Stadt unterbringen27o • Diese Maßnahme soll etwa 1.500 Kindern jährlich das Leben gerettet haben. Es mußte noch ein weiteres Jahrhundert vergehen, bis die Pflegeunterbringung als Möglichkeit der Jugendwohlfahrt akzeptiert wurde. Bis zum Jahre 1946 wurden Kinder noch zeitweise zusammen mit Erwachsenen untergebracht271 , obwohl section 15 des Poor Law Amendment Act 263 1834 in Arbeitshäusern eine getrennte Unterbringung vorsah. Zwar sollten Kinder nach dem Gesetz auch eine Schul ausbildung erhalten, aber die Verwirklichung stieß wegen des Prinzips der "less eligibility"284 auf Widerstand. Die Londoner Behörden griffen zu einer Hilfslösung und brachten die Kinder zur Erziehung bei Unternehmern unter, die von den Poor Law guardians 272 zu diesem Zweck bezahlt wurden und später von der Arbeit der Kinder profitierten. Den Unterkünften fehlte es zumeist an hygienischen Mindesterfordernissen, und 1849 starben in einer dieser Unterkünfte vierzehn bis zwanzig Kinder täglich an Cholera, ohne daß die Poor Law guardians 272 eingeschritten wären273 • Als Reaktion auf diesen Vorfall schlossen sich einige Fürsorgebehörden verschiedener Kirchengemeinden zusammen und gründeten eigene Schulen. Die großen kasernenähnlichen Gebäude stellten zwar einen 265 R. Pashley Q. C., Pauperism and the Poor Law, 1852, 364-5 (zit. nach S. und B. Webb, 1910, S. 132 f.). 286 Anm. d. ü.: Leiter der Fürsorgebehörde. 267 Zit. nach N. Longmate, 1974, S. 90. 268 S. und B. Webb, 1910, S. 45. 269 1. Pinchbeck und M. Hewitt, 1969, S. 196, 187. 270 Etc. 7 Geo. III, c. 39. 271 Vgl. Curtis Report, 1946, Ziff. 139-140. 272 Anm. d. ü.: Armenhausvorsteher. 273 1. Pinchbeck und M. Hewitt, 1973, S. 508.
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IV. Ursprünge des modernen Familienrechts
Fortschritt gegenüber den Schulen der Unternehmer dar, aber sie vernachlässigten die emotionalen, intellektuellen und physischen Bedürfnisse der Kinder. Der Education Act274 aus dem Jahre 1870 verpflichtete die örtlichen Schulbehörden, jedermann den Schulunterricht zu ermöglichen, aber die Pflicht zur Erziehung der Kinder in Arbeitshäusern oblag bis 1929 weiterhin den Fürsorgebehörden275 • Die fortschreitende Durchsetzung des öffentlichen Erziehungssystems führte dazu, daß sich die Aufgabe der Fürsorgebehörden mehr und mehr darauf beschränkte, Unterkünfte für die Kinder aus Arbeitshäusern bereitzustellen. Vielfach wurden statt der Kasernenheime kleinere Häuser gebaut; sie waren aber zumeist von der restlichen Gemeinde abgesondert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zog man vor, die Kinder in Häusern in der Gemeinde selbst unterzubringen, um ihnen den Schulbesuch der örtlichen Schule zu ermöglichen und sie nach Schulschluß nicht von ihren Altersgenossen zu trennen. Diese Häuser existieren noch immer und bis 1974 waren noch 9.020 Kinder in Häusern mit mehr als zwölf und 9.775 in Häusern mit weniger als zwölf Kindern untergebracht 276 • Erst 1868 durften Kinder außerhalb der Grenzen des Fürsorgebezirks in Pflege gegeben werden, wie dies in Schottland schon seit langem üblich war. Man hielt die auswärtige Pflegeunterbringung für eine Verletzung des Prinzips der "less eligibiZity"264, da den Pflegeeltern eine relativ großzügige Unterstützung gegeben werden mußte. Nichteheliche Kinder waren zunächst von jeglicher Unterstützung ausgeschlossen. Im Jahre 1906 lebten 69.288 Kinder von Fürsorgeunterstützung: 26.983 in Heimen und Schulen, 21.526 in Arbeitshäusern und 8.781 (12,6 Ofo der Gesamtzahl) in auswärtigen Pflegestellen277 • 1974 waren in England und Wales 39,9 Ofo der 95.867 in der Obhut der Behörden befindlichen Kinder bei Pflegeeltern untergebracht278 • Die Arbeitshäuser wurden zwar durch den National Assistance Actm 1948 abgeschafft, aber 1946 befanden sich in England und Wales noch immer 3.000 Kinder in Arbeitshäusern 28(). 2. Kinder in der Gemeinschaft
Im 19. Jahrhundert unterschieden sich die Lebensumstände tausender Kinder in den großen englischen Städten nicht wesentlich von denen in Anm. d. Ü.: Schulgesetz. Local Government Act 1929, Sec. 1. 276 Department of Health and Social Security, Children in Care, 1974, Cmd. 6147, Teil. I. 277 S. und B. Webb, 1910, S. 188. 278 Vgl. Anm. 276. m Anm. d. ü.: Sozialhilfegesetz. 280 Curtis Report, 1946, Ziff. 32. 274 275
2. Kinder in der Gemeinschaft
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Arbeitshäusern. Etwa 10.000 Kinder sollen Ende des 19. Jahrhunderts in den Straßen von London gebettelt haben 281 • Wenn die Eltern Armenunterstützung erhielten, wurden keine Zuschüsse für die Erziehung der Kinder bezahlt. Erst der Education of Poor Children Act282 1855 sah Erziehungsbeihilfen vor, ohne jedoch die Schulpflicht einzuführen. Der erste ernsthafte Versuch, Kinder von der Straße wegzubringen, wurde mit dem Education Act274 1870, der als Grundstein des staatlichen Erziehungssystems angesehen wurde, unternommen. 1880 wurde die allgemeine Schulpflicht bis dreizehn Jahre (1900 bis vierzehn Jahre) eingeführt. Das Schulgeld für Volksschulen wurde erst 1891 abgeschafft. Viele Kinder starben durch die Hand ihrer Eltern oder der Personen, die sie gegen Bezahlung versorgten. In erster Linie waren nichteheliche Kinder betroffen, da ihre Geburt eine Schande und ihre Zukunft ohne Hoffnung war. Ein Parlamentsabgeordneter schätzte, daß jährlich etwa 30.000 nichteheliche Kinder starben283 • Wie so oft in unserer Geschichte bedurfte es eines Skandals, um Kinder vor Personen zu schützen, die sie gegen Bezahlung aufgenommen hatten und dann sterben ließen: Margaret Waters wurde 1870 für ihre Teilnahme an einem "baby farming l28 -Unternehmen hingerichtet284 • Der Infant Life Protection Act285 1872 begründete zwar eine Registrierungspflicht für Personen, die zwei oder mehrere Kinder unter einem Jahr gegen Bezahlung mehr als vierundzwanzig Stunden aufnehmen, er schaffte aber keine Vorkehrungen, die Registrierung zwangsweise durchzusetzen. Das Gesetz stieß auf großen Widerstand, weil es das Fundamentalrecht der Eltern beeinträchtigte, mit ihren Kindern nach Belieben zu verfahren. Ein Anhänger dieser Auffassung schrieb im Jahre 1874: " ... Ich würde lieber eine höhere Kindersterblichkeitsrate sehen ... als auch nur einen Schritt weiter in die unantastbare Privatsphäre einzudringen ... 286." Nach anderer Auffassung sollten die Eltern ein Wahlrecht haben, ob sie ihre Kinder registrierten oder nicht registrierten Personen überlassen wollen. Erst die sensationelle Verhandlung im Fall Dyer im Jahre 1896, einer Frau, die Babies in Pflege nahm, ermordete und bei Wedding in die Themse warf, führte 1897 zum Erlaß eines strengeren Gesetzes287 • 281
I. Pinchbeck und M. Hewitt, 1973, S. 497.
Anm. d. ü.: Erziehungsbeihilfegesetz. House of Commons Debates, col. 1486 (6 March, 1872). 284 Vgl. hierzu L. G. Housden, 1955, S. 130 ff. 285 Anm. d. ü.: Gesetz zum Schutz von Kleinkindern. 286 Transactions of the National Association for the Promotion of Social Science, 1874, S. 574 f. (zit. nach I. Pinchbeck und M. Hewitt, 1973, S. 359). 287 Infant Life Protection Act 1897. 282
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6 Eekelaar
IV. Ursprünge des modernen Familienrechts
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3. Kinder in der Familie
In einer Zeit, in der das freie Wahlrecht der Eltern höher eingestuft wurde als das Leben der Kleinkinder, ist der Widerstand, Kinder vor ihren eigenen Eltern zu schützen, kaum verwunderlich. Als der Reformer Lord Shaftesbury um Unterstützung für eine Gesetzgebung zum Schutze von Kindern gegen Mißhandlungen seitens ihrer eigenen Eltern gebeten wurde, antwortete er: "Die Grausamkeiten, die sie beschreiben, sind ungeheuerlich und zutreffend; aber so privat und häuslicher Natur, daß sie außerhalb der Reichweite der Gesetze liegen. Deshalb würde das Parlament diese Angelegenheit niemals aufgreifen288 ." Dabei gibt es in England eine lange Tradition, Kinder getrennt von ihren Eltern aufzuziehen 289 • In der Regierungszeit der Tudors und Elisabeths 1. wurden vagabundierenden Eltern die Kinder weggenommen und entweder zur Arbeit herangezogen oder in ihre Geburtsgemeinden zurückgebracht, um Armenunterstützung zu sparen. Wir finden deshalb zum ersten Mal im Poor Law Amendment Act263 1868 Sanktionen gegen Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen; Section 37 bestimmt: "Eltern, die es vorsätzlich unterlassen, einem in ihrer Obhut befindlichen noch nicht vierzehnjährigen Kind angemessene Nahrung, Kleidung, ärztliche Versorgung oder Unterkunft zu gewähren, begehen eine strafbare Handlung, wenn das Kind dadurch einen Gesundheitsschaden erleidet oder die Gefahr eines Schadenseintritts besteht. Die Strafverfolgung obliegt den Poor Law guardians 272 , die die Kosten des Verfahrens tragen." Das Gesetz versuchte zwar, Kinder vor Vernachlässigung und zukünftigen Verletzungen zu schützen, es enthielt aber keine Vorschriften, die es ermöglicht hätten, strafbare Handlungen aufzudecken oder ein Kind aus einer gefährdenden Umgebung herauszunehmen. Da die Strafverfolgung den Poor Law Guardians 272 oblag, beschränkte sich die Zahl der aufgedeckten Fälle zwangsläufig auf Eltern, die Fürsorgeunterstützung erhielten. 1882 fand ein historisches Treffen der Liverpool Society for the Prevention of Cruelty to Animals 2g0 statt, bei dem man den Vorschlag diskutierte, eine örtliche Gesellschaft zum Schutze von Kindern zu gründen. Im darauffolgenden Jahr wurde die Liverpool Society for the Prevention of Cruelty to Children ins Leben gerufen. 1889 schlossen sich mehrere örtliche Gesellschaften zur National Society for the Prevention of Cruelty to Children77 zusammen. Auf Initiative dieser Gesellschaft wurden mehrere Gesetzesvorschläge zum Schutz von Kindern eingebracht. Der Poor Law Amendment Act263 1889 war I. Pinchbeck und M. Hewitt, 1973, S. 622. Vgl. S. 19. 290 Anm. d. Ü.: Liverpooler Gesellschaft zur Verhinderung der Tiermißhandlung. 288
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3. Kinder in der Familie
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der erste und historisch wohl wichtigste. Section 1 bestimmte: " ... wenn ein Kind von einem Elternteil verlassen wird oder der Elternteil wegen einer strafbaren Handlung dem Kind gegenüber im Gefängnis ist und das Kind von einem Po OT Law Guardian 272 unterhalten wird, kann dieser bestimmen, daß es bis zum vollendeten sechzehnten (ein Junge) oder achtzehnten Lebensjahr (ein Mädchen) unter seiner Aufsicht bleibt." Durch diese Bestimmung wurde das elterliche Sorgerecht - mit Ausnahme der religiösen Erziehung - auf den Paar Law Guardian 272 übertragen. Die Eltern konnten gegen seine Entscheidung Klage beim magistrates' court17 erheben. Das Gericht konnte die Rückgabe des Kindes in folgenden Fällen anordnen: Wenn (1) das Kind nicht unter Aufsicht eines Paar Law Guardian272 stand, (2) es nicht von dem Elternteil verlassen worden war, (3) es im Interesse des Kindes war, entweder ständig oder vorübergehend bei dem Elternteil zu bleiben oder (4) die Entscheidung des Paar Law guardian272 aus anderen Gründen aufgehoben werden sollte. Diese sogenannten Paar Law adoptions 291 enthalten bereits eine Regelung, die noch im gegenwärtigen Jugendwohlfahrtsrecht Großbritanniens beispiellos ist: Wenn ein Kind in der Obhut der zuständigen Fürsorgebehörde ist, hat sie das Recht, das elterliche Sorgerecht durch einfache administrative Entscheidung auf sich zu übertragen. Die Eltern können gegen diese Entscheidung Klage erheben. Kein anderes Land der Commonwealth-Tradition kennt eine entsprechende Regelung; sie ist gerade im gegenwärtigen Jugendwohlfahrtsrecht von entscheidender Bedeutung292 • Die Reformer versuchten gleichzeitig, den Schutz des Gesetzes auf Kinder zu erstrecken, die nicht unter Aufsicht der Paar Law guardians 272 standen. Dies wurde mit dem Prevention of Cruelty and Protection of Children Act293 1889, den man "The First Children's Charter"294 nennt, erreicht. Section 1 stellte als Vergehen unter Strafe, wenn eine Person, die das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat, ein in ihrer Obhut befindliches Kind (Jungen bis Vollendung des vierzehnten Lebensjahres und Mädchen bis Vollendung des sechzehnten Lebensjahres) vorsätzlich mißhandelt oder vernachlässigt und dem Kind dadurch unnötiges Leiden oder einen Gesundheitsschaden zufügt. Im Verdachtsfall konnte ein Polizist mit Haussuchungsbefehl die Wohnung betreten und das Kind an einen sicheren Ort bringen. Das Gericht war im Falle der Verurteilung eines Elternteils befugt, das Kind einem Verwandten oder einer anderen geeigneten Person zu übergeben, die die elterlichen Rechte und Anm. d. ü.: Fürsorgeadoption. Vgl. S. 116 ff. 293 Anm. d. ü.: Gesetz zur Verhinderung der Kindesmißhandlung und zum Schutze des Kindes. 294 Anm. d. -0-.: Kinder-Verfassung. 291
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IV. Ursprünge des modernen Familienrechts
Pflichten übernahm295 • In der Regel wurden Kinder aber in Arbeitshäuser gebracht, da die Fürsorgebehörden bis 1904 auch Strafverfolgungsbehörden waren. Durch mehrere Gesetzesänderungen296 versuchte man, den Schutz der Kinder vor ihren eigenen Eltern auszudehnen und ermöglichte es Gerichten, auch Kinder, die nicht in der Obhut der Poor Law guardians272 waren, bei anderen Personen in Pflege zu geben. 4. Nichteheliche Kinder: das Recht der Adoption
Nichteheliche Kinder waren jahrhundertelang ein gesellschaftliches Problem. Nur Mütter aus wohlhabenden Bevölkerungsschichten konnten für ihre nichtehelichen Kinder sorgen; nichteheliche Kinder aus der Unterschicht fielen der Armenfürsorge zur Last. Als Gegenmaßnahme versuchte man, den mutmaßlichen Vater zur Unterhaltung seines Kindes zu zwingen, in Extremfällen sogar durch eine Zwangsheirat mit der Mutter297 • Als sich die Auffassung durchsetzte, das Ansehen der Ehe werde dadurch beeinträchtigt und die Promiskuität gefördert, verfiel man in das andere Extrem und untersagte der Mutter aufgrund des Poor Law Amendment Act263 1834, Unterhaltsklage gegen den Vater des Kindes zu erheben. Lediglich die Poor Law guardians 272 konnten bei den Quarter Sessions 298 einen Unterhaltstitel für sich erwirken, wenn ein noch nicht siebenjähriges Kind der Armenfürsorge zur Last fiel. Die Aktualität dieser Regelung erstaunt um so mehr, als sie die im Jahre 1974 publizierten Vorschläge des Finer Committee vorweg nimmt 299 • Man hat sie zehn Jahre später geändert und einer Frau, die schwanger war oder in den letzten zwölf Monaten ein Kind geboren hatte, erlaubt, im eigenen Namen gegen den mutmaßlichen Vater Klage zu erheben30o • Gegen die Entscheidung des Gerichts stand nur dem Mann ein Rechtsmittel zu. Dieses Gesetz blieb bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts die Grundlage für Unterhaltsklagen in Großbritannien. Die Versuche, nichteheliche Kinder zu versorgen, sind im 19. Jahrhundert ebensowenig erfolgreich gewesen wie im 20. Soweit die Kinder überhaupt am Leben blieben, war ihr Schicksal das Arbeitshaus oder die Straße. Die Reformbestrebungen im 19. Jahrhundert zum Schutz von Kleinkindern und Kindern in Arbeitshäusern begünstigten hauptPrevention of Cruelty to and Protection of Children Act 1889, Sec. 5 (2). Children Act 1908; Children and Young Persons Act 1932; Children and Young Persons Act 1933. 297 I. Pinchbeck und M. Hewitt, 1969, Kapitel 8. 298 Anm. d. ü.: Für Strafsachen zuständiges Gericht. 299 Vgl. S. 211. 300 Poor Law Amendment Act 1844. Einen überblick über die historische Entwicklung dieser Regelung enthält der Finer Report, 1974, Bd.2, Anhang 5, Ziff. 52-62 (M. Finer und O. R. McGregor). 295
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4. Nichteheliche Kinder: das Recht der Adoption
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sächlich nichteheliche Kinder. Thomas Coram gründete 1739 das Foundling HospitaZ 34J1 für Kinder, die ansonsten ausgesetzt oder in Arbeitshäuser gebracht worden wären. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden durch die unermüdliche Tätigkeit Dr. Barnardos und einiger Religionsgemeinschaften private Fürsorgeorganisationen, die die Jugendwohlfahrt maßgeblich beeinflußt haben. Die Idee der Inpflegegabe begann sich durchzusetzen, und Barnardo brachte mehr Kinder in Pflegestellen unter, als die staatlichen Fürsorgebehörden, obwohl er nur ein Zehntel der Kinder in seiner Obhut hatte 34J2 • Die Inpflegegabe wurde "Adoption" genannt. Da die gesetzliche Adoption zu dieser Zeit in Großbritannien nicht anerkannt war, konnten die natürlichen Eltern ihre Kinder zurückverlangen. 1892 erwirkte eine Mutter, die ihren Sohn mittellos einem Leierkastenmann in den Straßen von Folkestone überlassen hatte, eine Entscheidung des Court of AppeaZ 303, daß ein Barnardoheim, das den Sohn mittlerweile bei "Adoptiveltern" in Kanada untergebracht hatte, die Rückkehr des Kindes zu ihr veranlassen müsse. üblicherweise ließen sich die Barnardoheime eine schriftliche Einwilligungserklärung der Eltern geben, die aber in diesem konkreten Fall nicht vorlag. Nach den Ausführungen von Lord Escher M. R. wäre selbst eine schriftliche Einwilligung der Mutter nicht rechtsverbindlich gewesen. Das House of Lords 242 bestätigte in letzter Instanz, daß die Wünsche der Mutter solange Vorrang haben, wie sie dem Kind nicht nachteilig sind 34J4 • Das Parlament machte im Jahre 1891 dieser Praxis ein Ende und stellte es in das Ermessen der Gerichte, die Rückkehr des Kindes zu verweigern, wenn Eltern ein Kind verlassen hatten oder sonst ihren elterlichen Pflichten nicht nachgekommen waren305 • Das war insbesondere der Fall, wenn sie ihr Kind außerhalb des Elternhauses aufwachsen ließen. Die Rückkehr durfte nur angeordnet werden, wenn es dem Wohl des Kindes entsprach und die Eltern zur Ausübung des elterlichen Sorgerechts fähig waren. Das Gesetz berücksichtigte zwar das Bedürfnis des Kindes, in seiner gewohnten Umgebung zu bleiben, aber nur soweit eine Veränderung sich für sein Wohlergehen als schädlich erweisen könnte. In den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts hat man in England und Wales auf dem Gesetzesweg versucht, eine der wohl umstrittensten Fragen zu lösen, nämlich wie sich Spannungen und Veränderungen im Leben eines Kindes auf seine Entwicklung auswirken. Das Gesetz von 1891 trug dem Sicherheitsbedürfnis der Kinder, für die 301 302 303 304 305
Anm. d. ü.: Findelhaus. Pinchbeck und Hewitt, 1973, S. 533. Anm. d. ü.: Entspricht etwa dem Oberlandesgericht. [1979] A. C. 264. R. v. Barnardo (Gossage's Case), [1892] A. C. 326. Custody of Children Act 1891, Sec. 1.
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IV. Ursprünge des modernen Familienrechts
private Fürsorgeorganisationen De-facto-"Adoptionen" vermittelt hatten, sicherlich keine Rechnung. Nach dem I. Weltkrieg wurde 1918 die National Children's Adoption AssociationOO6 gegründet. 1926 vermittelte diese Organisation durchschnittlich zwölf De-facto-"Adoptionen" in der Woche. Eine gesetzliche Regelung der Adoption scheiterte immer noch daran, daß sie einen zu offenkundigen Eingriff in die elterlichen Rechte bedeutete. Erst nachdem zwei ministerielle Ausschüsse Berichte vorgeiegtOO7 und sechs Initiativanträge von Abgeordneten nicht die notwendige Mehrheit gefunden hatten, wurde schließlich 1926 der Adoption of Children ActOOB verabschiedet. Danach konnte das Sorgerecht durch Adoptionsbeschluß dann auf die Adoptiveltern übertragen werden, wenn die natürlichen Eltern in die Adoption einwilligten. Die Einwilligung wurde durch das Gericht ersetzt, wenn ein Elternteil das Kind im Stich gelassen hatte, nicht auffind bar oder nicht in der Lage war, die Einwilligung abzugeben. Die Erbfolge blieb unangetastet. Das Gesetz wurde im Laufe der Jahre umfassend reformiert, und die Adoption ist heute in Großbritannien eines der wichtigsten Instrumente zum Schutze des Kindes. 5. Gewalt zwischen Familienmitgliedern
Es gibt wenig Material über das Ausmaß von Aggressionen zwischen Ehepartnern in den vergangenen Jahrhundertenoo9 • Seit dem Mittelalter bis hin in die Gegenwart enthalten Berichte über die Armut und Trostlosigkeit des Ehelebens kaum Hinweise auf individuell aggressives Verhalten gegenüber Ehepartnern (in der Regel gegenüber der Frau). Soweit Gewalttätigkeiten Erwähnung finden, werden sie als Begleiterscheinung der Unterordnung der Ehefrau akzeptiert. William Blackstone führt 1765 in seinen Commentaries on the Laws of England 310 aus, daß Ehepaare nach common law ll als eine Person behandelt wurden, damit ein Ehegatte den andern nicht auf Schadensersatz verklagen oder in einem Strafverfahren als Zeuge auftreten konnte. Nach früherem Recht stand dem Ehemann ein begrenztes Züchtigungsrecht gegenüber der Ehefrau zu. Obwohl das Züchtigungsrecht unter der Herrschaft Karl II. angezweifelt wurde und eine Ehefrau gegen den Ehemann bei Gericht ein Verbot des Züchtigungsrechts erwirken konnte, übte die noch in der Tradition des alten common law ll verhaftete UnterAnm. d. ü.: Nationale Gesellschaft für die Adoption von Kindern. Report of Child Adoption Committee (Hopkinson Committee), 1921 Cmd. 1254; First Report of the Child Adoption Committee (Tomlin Committee), 1925, Cmd. 2401. 308 Anm. d. ü.: Adoptionsgesetz. 309 Vgl. hierzu die umfassende historische Darstellung von Lawrence stone, 1977. 310 Anm. d. ü.: Ursprüngliches, durch richterliche Entscheidungen weiterentwickeltes Gewohnheitsrecht. 308
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5. Gewalt zwischen Familienmitgliedern
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schicht ihr altes Recht aus; Gerichte gestatteten bei "ungebührlichem" Verhalten sogar eine Freiheitsbeschränkung der Ehefrau. Shorter311 beschreibt einen Prozeß in Bayern aus dem Jahre 1750, in dem das Gericht es als durchaus üblich betrachtete, daß Männer ihre Frauen prügeln. Eine ähnliche Auffassung wird in einem englischen Fall aus dem Jahre 1755 vertreten312 • Erst Mitte des 19. Jahrhunderts schenkte man dem Problem der Gewalttätigkeit innerhalb der Familie AufmerksamkettS13 • 1853 wurde das Strafmaß für Körperverletzungen an Ehefrauen und Kindern erhöht314 • Obwohl Ehepartner auch nach Common Law l l - eine Ausnahme von der Regel des Zeugnisverbots zwischen Eheleuten315 - wegen eines Gewaltverbrechens an dem anderen Partner angeklagt werden konnten, gewährt das Strafrecht - heute wie damals - nur unzulänglichen Schutz gegenüber einem gewalttätigen Ehemann, wenn die Gewalttat in der ehelichen Wohnung begangen wird 316 • Die kirchlichen Gerichte schützten Ehefrauen durch den Ausspruch der Trennung von Tisch und Bett, mit dem sie die beschwerdeführende Partei von ihrer Verpflichtung, mit dem Mann zu leben, befreiten. Voraussetzung für die kirchliche Trennung war, daß das weitere Zusammenleben wegen des grausamen Verhaltens des Beschwerdegegners eine Gefahr für den Beschwerdeführer darstellte. Durch den Matrimonial Causes Act317 1857 erhielten die Zivilgerichte die Zuständigkeit, Ehen aufzulösen. Die kirchliche Trennung von Tisch und Bett wurde als gerichtliche Trennung übernommen und berechtigte die Ehefrau, von ihrem Mann getrennt zu leben, wenn er sie mißhandelt hatte. Für eine Scheidung reichte die Mißhandlung allein nicht aus, sondern der Ehemann mußte zusätzlich einen Ehebruch begangen haben. Das Gesetz bezweckte, einen Ehegatten vor dem anderen zu schützen318, und deshalb mußte der klagende Ehegatte eine tatsächliche oder befürchtete Verletzung seiner Gesundheit nachweisenm. In der Praxis stand aber nicht so sehr die Schutzfunktion, die eher unzulänglich war, im Vordergrund, sondern vielmehr die Erhaltung des Unterhaltsanspruchs der Ehefrau. Falls sie selbst Ehebruch begangen oder einen Ehebruch des Mannes verziehen hatte, verlor sie ihren Anspruch auf E. Shorter, 1976, S. 62 f. Holmes v. Holmes [1755] 2 Lee 116. 313 Vgl. O. R. McGregor, 1957. 314 16 und 17 Vic. c. 30. SI5 R. v. Lapworth [1931] 1 K. B. 117. 316 Vgl. S. 92. 317 Anm. d. ü.: Zusammenfassendes Ehegesetz, das sich besonders mit Scheidung, gerichtlicher Trennung, Unterhalt und Sorgerecht befaßt. 318 Jamieson v. Jamieson [1952] A. C. 525, 545. 319 Russell v. Russell [1897] A. C. 395. 311
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IV. Ursprünge des modernen Familienrechts
Rechtsschutz. Vier Jahre lang vertraten die Gerichte die Auffassung, daß einer Frau, die die Scheidung und nicht die gerichtliche Trennung beantragt hatte, ein niedrigerer Unterhalt gewährt werden sollte, um einen Anreiz für die Aufrechterhaltung der Ehe zu geben320 • Selbst in Fällen äußerster Gewalttätigkeit schloß das Mitverschulden der Ehefrau ein Scheidungs- und Trennungsurteil aus321 • Diese Maßnahmen gewährten einer bedrohten Frau keine unmittelbare Hilfe und blieben, da sie den höheren Gerichten vorbehalten waren, der Mehrheit der Bevölkerung verwehrt. Eine mißhandelte Frau hatte wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit und der ständigen Schwangerschaften keine andere Wahl, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Wenn ihr Mann sie verließ und sie mittellos zurückblieb, konnte der Poor Law guardian27Z seit 1868 322 gegen den Ehemann Klage auf Unterhaltszahlung erheben. Erst aufgrund des Matrimonial Causes Act317 1878, der auf die Initiative von Frances Power Cobbe323 zurückzuführen ist, wurde einer Ehefrau das Recht eingeräumt, im eigenen Namen bei Gericht die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft und Unterhaltszahlungen zu beantragen. Dieser Weg stand ihr aber nur offen, wenn der Ehemann sie nachweislich schwer verletzt hatte. Diese sogenannte Arme-LeuteScheidung, die keine wirkliche Scheidung war, war der Beginn für die Entwicklung des Verfahrens in Ehesachen vor den magistrates' courts 17• Obwohl die Anspruchsvoraussetzungen für ein Trennungs- und Unterhaltsurteil durch spätere Gesetze 32' erweitert wurden, blieb die Verknüpfung des Unterhaltsrechts mit Straftaten des Ehemannes bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts erhalten. Darüber hinaus hing der Unterhaltsanspruch von der sexuellen Enthaltsamkeit der Frau ab. Sexuelle Beziehungen zu einem anderen Mann schlossen den Unterhaltsanspruch selbst dann aus, wenn die Beziehungen nur deshalb aufgenommen wurden, weil der Ehemann keinen Unterhalt zahlte. Wenn man bedenkt, daß bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei der Eheschließung sämtliche beweglichen Sachen der Frau Eigentum des Mannes wurden, ist offensichtlich, daß die Gesetzesänderungen mißhandelten Frauen keinen wirklichen Schutz gewährt haben. Erst in den letzten Jahren hat man begonnen, geeignete Maßnahmen zum Schutze der Frauen zu entwickeln. 320 Fisher v. Fisher (1861) 2 Sw. und Tr. 410; Änderung der Rechtsprechung seit Sidney v. Sidney (1865) 4 Sw. und Tr. 178. 321 King v. King [1952] All E. R. 584. 322 Poor Law (Amendment) Act 1868. 323 Vgl. O. R. McGregor, 1957, S. 22 f. 324 Married Women (Maintenance in the Case of Desertion) Act 1886; Summary Jurisdiction (Married Women) Act 1895; Summary Jurisdiction (Separation and Maintenance) Act 1925; Matrimonial Causes Act 1937.
5. Gewalt zwischen Familienmitgliedern
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V. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (1)* In den letzten hundert Jahren kann man die Wechselwirkung zweier Prozesse feststellen als Antwort auf familiäre Situationen, die eine gesellschaftliche oder soziale Intervention verlangen. Der Zuständigkeitsbereich und die Eingriffsmöglichkeiten der Gerichte, sowohl der Strafals auch der Zivilgerichte, wurden ständig erweitert; so kann zum Beispiel eine verheiratete Frau einen Unterhaltstitel oder ein gerichtliches Trennungs- oder Scheidungsurteil beantragen. Außerdem stärkten die Gesetzesreformen die Position der Hilfsorganisationen, u. a. gegenüber Eltern, die ihre Kinder zurückforderten, insbesondere jedoch durch die Anerkennung der gesetzlichen Adoption. Die Eingriffsmöglichkeiten der Behörden wurden erweitert, wie etwa das Recht der Poor Law guardians272 , das Sorgerecht auf sich zu übertragen, zeigt oder die Verpflichtung der Fürsorgebehörden, private Pflegestellen zu registrieren und später zu überwachen. Bei familiären Problemen können gesellschaftliche Kräfte auf verschiedenen Ebenen aktiviert werden: Ehekonflikte sind möglicherweise leichter in Eheberatungsstellen zu lösen als im Gerichtssaal; eine unterstützende Organisation kann einem Kind, das durch seine häusliche Umgebung gefährdet ist, vermutlich eher helfen als Gerichtsbeschlüsse. Gerichtliche Interventionen werden deshalb nicht überflüssig, nur sollten sie nicht überstürzt erfolgen und wenn sie erfolgen, sollten sie möglichst effizient sein. Man könnte gesellschaftliche Maßnahmen zur Konfliktlösung dem gerichtlichen Verfahren vorschalten. Sander hat in anderem Zusammenhang vorgeschlagen, verschiedene Lösungsmodelle für die außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten zu erarbeiten. Gerade für Familienkonflikte wäre dieses Vorgehen besonders geeignet. Roberts (1976) hat darauf aufmerksam gemacht, daß für die außergerichtlichen Problemlösungen, die von den Juristen vernachlässigt wurden, Untersuchungsmethoden der Anthropologen und Sozialwissenschaftler heranzuziehen seien. Die nachfolgenden Kapitel zeigen, wie wenig Beachtung man diesen Methoden bislang geschenkt hat.
* Die durch die Ehe gern. §§ 1353, 1356 BGB begründeten Rechte, Pflichten und Aufgaben erörtert D. Giesen, "Allgemeine Ehewirkungen gern. §§ 1353, 1356 BGB im Spiegel der Rechtsprechung", in: JR 1983, 89 ff. m. w. N. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Staates, in den Elternprimat einzugreifen, s. etwa D. Giesen, "Familienrechtsreform zum Wohl des Kindes? Bemerkungen zum Sorgerechtsentwurf BT-Drs. 8/111 und zum neuen Ehescheidungsfolgenrecht", in: FamRZ 1977, 594 ff.; M. Hinz, Kinderschutz als Rechtsschutz und elterliches Sorgerecht, Paderborn 1976; M. Hirsch, Entzug und Beschränkung des elterlichen Sorgerechts, Berlin 1965; siehe ferner auch die Nachweise zum Kapitel XI.
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V. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (I) 1. Maßnahmen bei Gewalt zwischen Familienmitgliedern
Dieser Abschnitt behandelt familiäre Konfliktsituationen zwischen Erwachsenen. Da sich elterliche Konflikte in der Regel auf Kinder übertragen, müssen deren Interessen bei einer Intervention mit berücksichtigt werden. Das Problem der Kindesmißhandlung wird wegen der differenzierten Problemstellung erst im nächsten Abschnitt behandelt werden. Polizeidienststellen und Krankenhäuser kommen als erste mit Fällen häuslicher Gewalttätigkeit in Kontakt, obwohl auch Lehrer durch Kinder in der Schule manchmal davon erfahren. Wie häufig die Polizei in Großbritannien in Krisensituationen zu Hilfe gerufen wird, ist nicht bekannt. In Chicago gibt es nach einer Untersuchung von Parnas 40 % mehr Anzeigen wegen häuslicher Streitigkeiten als andere Anzeigen325 • Die Tatsache, daß zwei Polizisten zur Untersuchung des Falles geschickt werden, zeigt, wie gefährlich diese Situationen, zumindest in Chicago, sind. Wenn die Polizei gerufen wird, ist von entscheidender Bedeutung, wie sie sich bei ihrem Eintreffen verhält. In Chicago gibt es kein einheitliches Verhaltenskonzept, und vermutlich gibt es ein solches auch in Großbritannien nicht. Der parlamentarische Ausschuß zur Untersuchung der Gewalt zwischen Ehegatten meinte lediglich, die Polizei solle ihr Verhaltenskonzept zu diesen Fragen überprüfen, ohne dies näher zu definieren326 • Zunächst bedarf es klarer Richtlinien, in welchen Fällen andere Stellen, insbesondere bei Gefahr für Kinder, benachrichtigt werden müssen327 • Die Entscheidung, ob und mit welchen Mitteln eine Meldung verfolgt wird, kann möglicherweise nur aufgrund einer besonderen Ausbildung getroffen werden. Die Polizei befindet sich in einer schwierigen Lage, weil sie kaum andere Maßnahmen als Festnahme und Strafverfolgung durchführen kann. Beides sind hierfür indes ungeeignete Mittel: Die Festnahme, selbst wenn sie zum Schutz der Frau notwendig sein sollte, führt kaum jemals zu einer erfolgreichen Strafverfolgung, und die Strafverfolgung löst das zugrundeliegende Problem nicht328 • Der britische Parlamentsausschuß schlug deshalb vor, daß die Polizei nicht die spätere Verurteilung als Grund für ihre Intervention ansehen solle; eine vorübergehende Festnahme, um die Frau an einen Zufluchts325
R. I. Parnas, 1967.
326
First Report of the Select Committee on Violence in Marriage, Bd. 1,
H. C. 553-i (1975), Ziff. 44.
327 Erin Pizzey, 1974, S. 98 f.; vgl. auch die hervorragende Darstellung von S. Maidment, 1977, S. 411 ff. 328 Vgl. hierzu M. Dow, 1976, S. 132 f.
1. Maßnahmen bei Gewalt zwischen Familienmitgliedern
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ort zu bringen, sei auch dann gerechtfertigt, wenn der Strafantrag nicht weiter gerichtlich verfolgt würde329 • Um die Festnahme zu vermeiden, aber bereits im Vorstadium der Strafverfolgung eingreifen zu können, führte die Stadt Detroit folgendes Projekt durch: Die Polizei errichtete eine Beschwerdestelle für Vergehen330 ; vor sie wurden die Beteiligten eines Familienstreites geladen. Obwohl es sich nur um eine formlose Sitzung mit einer Gruppe von Polizisten handelte, wurde bei den Parteien der Eindruck erweckt, sie seien vor ein Gericht geladen. Das Gremium nahm zu dem Verhalten der Parteien Stellung und erlegte ihnen ein "Friedensbündnis" auf, von dem sie annahmen, es sei rechtlich verpflichtend 331 • In anderen Fällen stellte der die Meldung aufnehmende Polizist dem Täter eine "Ladung" zu, später vor Gericht zu erscheinen und zur Anklage Stellung zu nehmen. Mit diesem Verfahren konnte die Polizei die Festnahme vermeiden, die die Familie des Lebensunterhalts beraubt hätte, und trotzdem genügend abschreckende Wirkung zum Zeitpunkt der Bedrohung erzielen. Bedauerlicherweise ging die britische Regierung nicht auf die Vorschläge des parlamentarischen Ausschusses ein, sondern meinte nur, die Polizei solle ihr Verhalten in diesen Fällen überprüfen und bessere Methoden für die statistische Erfassung der Gewalttaten zwischen Familienmitgliedern entwickeln332 • Bis jetzt hat man in Großbritannien die Möglichkeit, Konfliktlösungen durch Vermittlung im Vorstadium der Strafverfolgung zu versuchen, überhaupt nicht in Betracht gezogen. Es gibt sicher eine Reihe von Fällen, in denen es vorteilhafter wäre, einen oder beide Ehegatten vor einem Sonderausschuß des magistrates' court 17 , und zwar nicht in seiner Funktion als Strafgericht, sondern als Zivilgericht, zu laden. Gerade die Unkenntnis über die Faktoren, die zu Gewalt zwischen Eheleuten beitragen, erfordert, Gerichten einen möglichst weiten Ermessensspielraum einzuräumen, damit sie einen oder beide Partner beraten oder verpflichten, professionelle Hilfe für ihre jeweiligen Probleme wie Alkoholismus, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder psychische Störungen zu suchen. Parnas (1973) geht noch weiter und schlägt für diese Aufgabe von der Nachbarschaft gewählte Laiengremien vor oder Laiengruppen mit einem Juristen, die abends in den örtlichen Freizeitheimen tagen. Parnas (1977) machte erst in jüngster Zeit wieder darauf aufmerksam, wie begrenzt doch die Möglichkeiten von Fürsorgeeinrichtungen in Fällen häuslicher Gewalttätigkeit sind, wenn die notwendigen finanVgl. Anm. 326. Misdemeanour Complaint Office. 331 R. 1. Parnas, 1967, S. 914 und 946; vgl. auch S. Maidment, 1977, S. 434 ff. 332 Anmerkungen zu dem Bericht des Select Committee on Violence in Marriage, 1976, Cmnd. 6690, Ziff. 62 f. 329
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V. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (I)
ziellen Mittel fehlen. Er ist der Auffassung, Gewalttätigkeiten zwischen Ehepartnern würden erst dann als strafbares Verhalten angesehen, wenn der Täter auch tatsächlich mit einer Bestrafung rechnen müsse. Ähnlich argumentieren die Verfechter einer Strafverfolgung für Vergewaltigung von Ehefrauen. Wenn man die Strafverfolgung von Taten gegenüber Ehepartnern durchsetzen will, muß deshalb zunächst die in vielen Ländern bestehende Straflosigkeit der Vergewaltigung von Ehefrauen beseitigt werden 333 • In Großbritannien sollte die Polizei darüber hinaus für das Delikt der Bedrohung, die nicht zu einer Körperverletzung geführt hat, ein Strafantragsrecht erhalten334 • Sollen Straftaten gegenüber Familienmitgliedern aber in jedem Fall verfolgt werden? Selbst die Befürworter einer Strafverfolgung werden zögern, sie auch für Eltern zu fordern, die eine strafbare Handlung gegenüber ihren Kindern begehen. Der Grund hierfür liegt in der Vielschichtigkeit familiärer Beziehungen. Zwar bedürfen Familienmitglieder manchmal des Schutzes vor anderen Familienmitgliedern, dennoch kann eine strafende Intervention unangemessen sein, müssen doch die Familienmitglieder weiter miteinander leben. Der Strafgedanke war ein wesentliches Element des früheren Scheidungs- und Unterhaltsrechts, und es wäre äußerst bedauerlich, wenn er über das Strafrecht wieder in das Familienrecht Eingang fände 335 • Wenn bedrohten Familienmitgliedern schon kein angemessener Schutz durch kurzfristige, vermittelnde Interventionen gewährt werden kann, so sollen für sie zumindest Zufluchtstätten zur Verfügung stehen. Die Geschichte des Chiswick's Women's Aid Shelter61 für mißhandelte Frauen und das Ansteigen der Frauenhäuser von neunundzwanzig auf einhundert zwischen 1975 und Ende 1976 zeigen, wie dringend notwendig diese Einrichtungen warenS36 • Krisenzentren werden immer gebraucht werden, aber auch sie können das Problem der langfristigen Unterbringung nicht lösen. Vermutlich ist sowohl aus der Sicht der Öffentlichkeit als auch aus der Sicht der Familie eine Rückkehr in die frühere Wohnung einer Unterbringung in einer Ersatzunterkunft vorzuziehen. Hierfür wäre aber zunächst notwendig, geeignete Verfahren zur Konfliktbearbeitung der Partner zu entwickeln. Daß dies nicht geschieht, ist eine gefährliche und letztlich kostspielige Unterlassung. Bis vor kurzem gab es, von einer Haftstrafe aufgrund einer Verurteilung abgesehen, nicht einmal eine geeignete Handhabe, eine in 333 Der Ehemann kann aber wegen eines anderen Deliktes, z. B. Körperverletzung, verfolgt werden. Nach englischem Recht besteht diese Immunität nicht mehr, wenn die Ehegatten offiziell getrennt leben: R. v. Miller [1954] 2 Q. B. 282. 334 Nicholson v. Booth (1888) 52 J. P. 602. 335 s. Maidment, 1977, S. 431 f. 336 Vgl. Anm. 332: Ebd. Ziff. 35.
1. Maßnahmen bei Gewalt zwischen Familienmitgliedern
93
ihrer Wohnung von dem Ehemann bedrohte Frau zu schützen. Sie konnte lediglich bei einem Zivilgericht eine einstweilige Verfügung gegen den Ehemann auf Unterlassung der Behelligung oder auf Ausschluß von der Weiterbenutzung der Wohnung erwirken. Wegen der Auslegungsschwierigkeiten des Tatbestandmerkmals "Behelligung" war den meisten Frauen eher damit geholfen, dem Ehemann den Zutritt zur Wohnung zu untersagen. Aber auch dieses Verfahren war langwierig und blieb aus folgenden Gründen praktisch bedeutungslos: a) Nach der damaligen Rechtsprechung durften die county courts132, 337 und der High Court S38 ,339 einstweilige Verfügungen nur im Rahmen eines anhängigen Hauptverfahrens erlassen. Das bedeutete in der Praxis, daß eine verheiratete Frau, bevor sie einen solchen Antrag stellen konnte, zunächst Scheidungsklage erheben mußte. Ausnahmsweise wurde ihre Versicherung, sie werde dies tun, als ausreichend angesehen. Eine nichtverheiratete Frau mußte andere Ansprüche, wie etwa Schadenersatz wegen Körperverletzung, geltend machen. b) Da eine Scheidung erst nach dreijähriger Ehe möglich war, war strittig, ob der Ehemann während der ersten drei Ehejahre durch eine einstweilige Verfügung aus der ehelichen Wohnung verwiesen werden konnte34o • c) Nach Rechtskraft der Scheidung untersagten die Gerichte den Zutritt nur, wenn die Ehefrau ein dingliches Recht an der früheren ehelichen Wohnung hatte, oder wenn es notwendig war, um die Kinder zu schützen3f1 • d) Die einstweilige Verfügung konnte erst vollzogen werden, wenn ein Haftantrag wegen der Zuwiderhandlung durch den Adressaten vorlag. Für den Antrag mußte ein Anwalt eingeschaltet werden. Da der Gerichtsvollzieher, der Bürostunden einhält, Vollstreckungsorgan ist, nützt eine einstweilige Verfügung einer Frau, die etwa an einem Samstagabend von ihrem gewalttätigen Mann bedroht wird, recht wenig. Der Matrimonial Homes Act M2 1967 hätte die Möglichkeit eröffnet, einen Ehemann trotz seines dinglichen Rechts an der ehelichen Woh337 De Vries v. Smallridge [1928] 1 K. B. 482; Thompson v. White [1970] 3 All E. R. 678. 338 Anm. d. ü.: Entspricht etwa dem Landgericht. 1139 Winstone v. Winstone [1960] P. 28. ~40 McGibbon v. McGibbon [1973] Farn. 170, dafür Finer J.; dagegen McLeod v. McLeod (1974) 4 Family Law 91. ~41 Brent v. Brent [1975] Farn. 1; Stewart v. Stewart [1973] Farn. 21. 342 Anm. d. Ü.: Ehewohnungsgesetz.
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V. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (I)
nung von dem unmittelbaren Besitz auszuschließen. Das House of Lords 242 hat das Gesetz aber restriktiv ausgelegt und entschieden, daß die Zuständigkeit der Gerichte, das Besitzrecht des Ehemannes zu "regeln", nicht so weit gehe, ihn vollständig - auch nicht einmal für kurze Zeit - vom Besitz auszuschließen 343 • Diese Auslegung überzeugt nicht. Das House of Lords 242 schien mehr an den drastischen Auswirkungen auf das common law ll -Eigentumsrecht des Mannes interessiert zu sein, als an den durch den Matrimonial Homes Act342 1967 neu eröffneten Möglichkeiten, das common law ll -Recht einer Frau und ihrer Kinder auf körperliche Unversehrtheit zu schützen. Allein Lord Denning hat dieses Recht uneingeschränkt anerkannt und durchgesetzt 344 • Eine gründlichere Auseinandersetzung mit dem Gesetzeszweck hätte möglicherweise dazu geführt, daß die Rechtsprechung den Vorrang des Rechts auf körperliche Unversehrtheit vor den Eigentumsrechten, wenn schon nicht generell so doch in Ausnahmefällen, anerkannt hätte. Der Domestic Violence and Matrimonial Proceedings Act345 1976 schaffte Abhilfe. Gerichte dürfen nunmehr unabhängig davon, ob ein Hauptverfahren eingeleitet worden ist, einem Ehegatten im Wege der einstweiligen Verfügung untersagen, den Antragsteller oder ein Kind der Familie zu behelligen oder die eheliche Wohnung zu betreten. Außerdem wurden die nach dem Mat1"imonial Homes Act342 1967 bestehenden Befugnisse erweitert. Gerichte können danach das Besitzrecht des Ehegatten, dem die eheliche Wohnung gehört, beschränken oder sogar ausschließen346 • Erst die Rechtsprechung und insbesondere die Meinung einzelner Richter werden zeigen, wie schwer das Zerwürfnis sein muß, damit die Gerichte von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen. In der Entscheidung Basset v. Basset347 wurde das Merkmal "Schutz" weit ausgelegt und nicht auf Schutz im physischen Sinn beschränkt. Das Gesetz eröffnet nicht nur einem Ehegatten, sondern auch dem Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft die Möglichkeit, vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen. Im Fall Davis v. Johnson348 entschied das House of Lords 303 , daß eine Frau ihrem Lebensgefährten den Zutritt zu seiner Wohnung verwehren kann, auch wenn sie keinen Rechtsanspruch auf die Wohnung hat. Dies ist ein bemerkenswertes Beispiel für die rechtliche AnTarr v. Tarr [1973] A. C. 254. Gurasz v. Gurasz [1970] P. 11, 16. 345 Anm. d. Ü.: Gesetz über die häusliche Gewalttätigkeit und das Verfahren in Ehesachen. 346 Damit wurden die in der Entscheidung Tarr v. Tarr (vgl. Anm. 343) entwickelten Grundsätze aufgehoben. 347 [1976] Farn. 76. 348 Hause of Lords: [1978] 2 W. L. R. 553. 343
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1.
Maßnahmen bei Gewalt zwischen Familienmitgliedern
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erkennung des Status einer Lebensgefährtin, Lord Scarman bezeichnet sie als nichtverheirateten Familienpartner; sie würde nämlich eigentlich zum Besitzstörer, wenn sie gegen den Willen des Mannes in der Wohnung verbleibt, und Gerichte schützen Besitzstörer nicht gegenüber Eigentümern. Bei einer verheirateten Frau stellt sich dieses Problem nicht, weil der Ehemann ihr das Besitzrecht nicht entziehen kann. Das Gesetz sieht als wichtigste Neuerung die Möglichkeit der Festnahme vor, wenn der Adressat einer einstweiligen Verfügung der Anordnung nicht nachkommt und die Festnahme in der Verfügung angedroht wurde. Die Anordnung setzt voraus, daß der Adressat gegenüber dem Antragsteller oder einem Kind der Familie bereits gewalttätig war und Wiederholungsgefahr besteht. Mit der einstweiligen Verfügung wird ihm untersagt, gegen die Frau oder das Kind Gewalt anzuwenden oder die Wohnung oder bestimmte Räume zu betreten. Jeder Polizeibeamte kann eine Festnahme ohne Haftbefehl vornehmen, wenn er begründeten Anlaß zur Annahme hat, daß jemand einer einstweiligen Verfügung zuwiderhandelt. Der Festgenommene muß innerhalb von vierundzwanzig Stunden dem Richter vorgeführt und darf nur auf richterliche Anweisung freigelassen werden. In den Commonwealth-Ländern gibt es keinen Präzedenzfall, bei dem in familienrechtlichen Streitigkeiten mit einer zivilrechtlichen einstweiligen Verfügung ein summarisches Festnahmerecht verbunden ist. Zwar hat der Court of AppeaZ3ij3 von Alberta einmal festgestellt, daß sich Festnahmeandrohungen bei Verfügungen, die Behelligungen untersagen, eingebürgert hätten, aber einer der entscheidenden Richter, Arnup J. A., bezweifelte die Rechtmäßigkeit solcher Androhungen349 • Das nunmehr gesetzlich verankerte Festnahmerecht wird insbesondere in Notfällen Bedeutung haben, vorausgesetzt, eine Abschrift der einstweiligen Verfügung wird bei der nächstgelegenen Polizeistation hinterlegt, damit die Polizei sofort feststellen kann, ob eine Zuwiderhandlung vorliegt. Allerdings darf die Festnahme in der Verfügung erst angedroht werden, wenn bereits einmal eine gewalttätige Handlung begangen wurde; die bloße Möglichkeit einer Gewalttat oder andere Gefahren reichen nicht aus. Als nachteilig könnte sich die Verpflichtung auswirken, den Festgenommenen innerhalb von vierundzwanzig Stunden dem Richter vorzuführen. Das Lord ChanceZlor's Office 350 ist gegenteiliger Auffassung 351 • Es scheint zu übersehen, daß Frauen häufig am Samstagabend bedroht werden. Da es schwierig sein Mathieson v. Mathieson (1974) 48 D. L. R. (3 d) 94. Anm. d. ü.: Entspricht etwa dem Justizministerium. 351 First Report of the Select Committee on Violence in the Family, Anhang 58. 349
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V. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (I)
dürfte, am Sonntag einen Richter anzutreffen, und der Mann in diesem Fall freigelassen werden muß, ist zu befürchten, daß die Polizei Festnahmen von vornherein unterlassen wird. Nach den Vorschlägen der Law Commission 352 soll die Zuständigkeit zum Erlaß einstweiliger Verfügungen auch auf die magistrates' courts 17 ausgedehnt werden: Und zwar sollen diese Gerichte eine personal protection order 353 erlassen können, wenn der Adressat gegenüber dem Antragsteller oder einem Kind der Familie gewalttätig war oder Gewalt angedroht hat, und eine exclusion order354 , wenn der Adressat die Voraussetzungen für den Erlaß einer personal protection order 353 erfüllt und außerdem als gewalttätig bekannt ist oder wenn eine Zuwiderhandlung gegen eine personal protection order 353 vorliegt. Die Verfügungen sollen nicht durch Androhung der Festnahme, sondern lediglich durch Geldstrafe durchgesetzt werden 35". Nach diesen Vorschlägen würden die unterschiedlichen Befugnisse beibehalten, die für gleiche Sachen bei den magistrates' courts 17 einerseits und den county courts 132 sowie dem High Court 338 andererseits bestehen, obwohl die Law Commission 352 eigentlich versucht, die unglückselige Tradition zu beenden. Diese Entwicklungen bestätigen, wie dringend wir in Fällen familiärer Gewalttätigkeit andere effektivere Methoden zur Konfliktlösung brauchen. Welche Maßnahmen soll ein Richter ergreifen, wenn ein Polizeibeamter nach den Vorschriften des Domestic Violence and Matrimonial Proceedings Act345 1976 einen gewalttätigen Ehemann festnimmt und ihn vorführt? Der Cobden Trust kommt zu folgenden Schlußfolgerungen: "Männer, die Frauen mißhandeln, brauchen Unterstützung, da viele labil und trotz des anscheinenden Widerspruchs besonders von ihren Frauen und Kindern abhängig sind. Teilweise sind sie Alkoholiker oder arbeitslos oder haben keine andere Unterkunft als das Heim der Frau, die sie mißhandeln. Man schützt zwar die Frau vorübergehend, wenn man den Mann ins Gefängnis bringt, löst aber damit weder seine Schwierigkeiten, noch ändert man seine Verhaltensweisen. Sobald die Männer aus dem Gefängnis entlassen werden, gehen sie meist sofort nach Hause, um die Frauen wieder zu mißhandeln356 ." Es wäre sinnvoller, für diese Männer Unterkünfte bereitzustellen, statt weiter Frauenhäuser einzurichten, die für den Mann, der die Schwierigkeiten schließlich verursacht, weder Rat noch Hilfe bringen. 352 Anm. d. ü.: Rechtskommission, die mit der systematischen Entwicklung und Reform des gesamten Rechts befaßt ist. ~53 Anordnung, jede Gewalttätigkeit zu unterlassen. 354 Anordnung, das Betreten der Wohnung oder bestimmter Räume zu unterlassen. 355 Law Commission (1976) Ziff. 3.18-3.36; 5.53. 356 T. Gill und A. Coote, 1975, S. 18.
2. Maßnahmen bei Kindesmißhandlung
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Unsere Gesellschaft hat dieses Problem noch nicht in seinem vollen Umfang erkannt oder überhaupt begonnen, Konzepte zu entwickeln, die langfristig Veränderungen bewirken könnten. 2. Maßnahmen bei Kindesmißhandlung
a) Rechte der Kinder: Viele Gruppen fordern einen Grundrechtskatalog zum Schutz von Kindern. In Britisch-Kolumbien formulierte die Royal Commission on FamHy and Children's Law 357 (Berger Commission) mehrere Gründe für diese Forderung35B :. Einmal werden dadurch negative Äußerungen in positive verwandelt: Die Drohung, den Eltern ein Kind bei Vernachlässigung wegzunehmen, gilt dann als Recht des Kindes, nicht vernachlässigt zu werden; außerdem werden Kinder Verfahrensbeteiligte und erhalten rechtliches Gehör. Die Kommission hat insgesamt 12 Grundrechte für Kinder aufgestellt; darunter das Recht auf eine Umgebung ohne physische Mißhandlung, Ausbeutung oder demütigende Behandlung. Darüber hinaus sollen Gerichte bei Rechtsverletzungen durch Feststellungsurteile indirekt Druck auf staatliche Organisationen ausüben können, Abhilfe zu schaffen. Foster und Freed (1972) stellten einen ähnlichen Katalog auf, der das Recht auf elterliche Liebe und Zuneigung enthält sowie das Recht, als Person behandelt zu werden. Eine gesetzliche Verankerung der Rechte von Kindern könnte staatliche Maßnahmen anregen und Voraussetzungen schaffen, die es Juristen ermöglichten, die Lebensumstände vieler Kinder erträglicher zu gestalten. Allerdings besteht die Gefahr, daß man sich zu sehr auf Gerichtssiege konzentriert statt auf die praktischen Aufgaben. Die Verfechter eines Grundrechtskatalogs wollen erreichen, daß Kinder als Personen mit eigenen Rechten anerkannt werden und nicht als Objekte der Bedürfnisse ihrer Eltern. Von diesem Standpunkt aus würden Kinder wie Erwachsene behandelt, die vorübergehend nicht in der Lage sind, selbständig Entscheidungen zu treffen. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, die Interessen jedes einzelnen Kindes während der Kindheit zu schützen, damit es seine Möglichkeiten, sobald es entscheidungsfähig ist, in vollem Umfange ausschöpfen kann. Damit wird keineswegs befürwortet, während der Kindheit sämtliche Beschränkungen aufzuheben, nur sollen die Interessen des Kindes, die möglicherweise nicht mit den Wünschen der Eltern oder anderer Erwachsener übereinstimmen, als Interessen eines künftigen Erwachsenen vorrangig Berücksichtigung 357 Anm. d. "0.: Königliche Kommission zur Untersuchung des Familien- und Kindesrechts. 358 Berger Report, 1975, Teil 3. Vgl. auch: The Rights of Children (National Council for Civil Liberties, 1972).
7 Eekelaar
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V. Gegenwärtige soziale und rechtliche Konfliktlösungsversuche (I)
finden. Der Gesellschaft obliegt zudem die weitere Aufgabe, die Rechte mißhandelter Kinder gegenüber ihren Eltern zu schützen; eine Aufgabe, die ein subtiles Wechselspiel zwischen sozialen Maßnahmen und Rechtsvorschriften verlangt. b) Meldepflicht bei Verdachtsfällen: Ärzte werden in der Regel als erste Kindesrnißhandlungen entdecken. Mehr als die Hälfte der vom NSPCC 77 Research Team 359 untersuchten Fälle wurden von Krankenhäusern und der Rest von den Gesundheitsbehörden (meist durch den Health Visitor 360 ) gemeldet, aber nicht ein einziger von einem Arzt einer hausärztlichen Allgemeinpraxis. Die Studie von Skinner und Castle (1969) enthüllte die Abneigung der Ärzteschaft, Verfahren zum Schutz von Kindern einzuleiten. Bei dem Projekt von Oliver et alii (1974) wurden nur vier der vierunddreißig Familien, bei denen man schwere Mißhandlungen diagnostiziert hatte, von dem Amtsarzt überwiesen, obwohl man gerade für dieses Projekt ein besonderes System zur Benachrichtigung des Amtsarztes entwickelt hatte. Am treffendsten hat ein praktischer Arzt die Haltung der Ärzteschaft beschrieben: "Ärzte halten es für Zeitverschwendung, bei Gericht auf ihre Zeugenaussage zu warten361 ." Diese Einstellung alarmiert aus zwei Gründen: Einmal sind Ärzte in der Lage einzuschreiten, bevor einem Kind schwere Verletzungen zugefügt werden; und zum anderen können sie durch sorgfältige Beobachtungen der schwangeren Frauen bereits latente Gefahren aufdecken. In den USA, in Kanada und in einigen australischen Staaten wurde deshalb die Verpflichtung, Verdachtsfälle von Kindesrnißhandlung zu melden, gesetzlich festgelegt. Eine gesetzliche Meldepflicht wirft verschiedene Fragen und Probleme auf. Sie kann entweder an eine bestimmte berufliche Position geknüpft sein oder jedem Bürger obliegen. Wird sie auf Hausärzte beschränkt, besteht die Gefahr, daß Eltern ihre Kinder nicht mehr zur Untersuchung bringen362 • Darüber hinaus stellen sich weitere Fragen: Welche Stelle soll von dem Verdacht benachrichtigt werden? Eine bestimmte Fürsorgebehörde363, die Polizei364 oder beide365 ? Letzteres könnte zu Unsicherheiten und unterschiedlichen Behandlungsmethoden je nach der Präferenz des Informanten führen 365a • Soll die Meldepflicht obligatorisch Anm. d. ü.: Forschungsgruppe. Anm. d. ü.: Gesundheitsfürsorgerin, die einer Mitarbeiterin der ärztlichen Allgemeinpraxis angeschlossen ist und die Familien in einem Praxisdistrikt betreut. 361 B. Gans, 1968, S. 148 f. 862 Vgl. M. G. Paulsen, 1974, S. 160. 363 Wie in Tasmanien gern. Sec. 8 des Child Protection Act 1974. 364 Wie in Südaustralien gern. Sec. 73 (1) des Community Welfare Act 1972. 365 H. Bevan, 1975, S. 133. 359
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2. Maßnahmen bei Kindesmißhandlung
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oder fakultativ sein? Gegen ersteres spricht, daß sie mit dem beruflichen Urteil des Arztes und seinem Verhältnis zum Patienten kollidiert. Fakultativen Vorschriften könnte man zur Durchsetzung verhelfen, indem man Immunität vor einer gerichtlichen oder disziplinargerichtlichen Verfolgung garantiert. Einige kanadische Provinzen haben einen Komprorniß geschlossen und eine obligatorische Meldepflicht eingeführt, aber die Unterlassung der Meldung nicht unter Strafe gestelW 66 • Welche Verletzungen sollen meldepflichtig sein? Auffallenderweise beschränken sämtliche Gesetze die Meldepflicht auf Fälle, in denen eine bereits erfolgte Mißhandlung vermutet wird. Die Möglichkeit, bei einer Gefahrensituation präventiv einzuschreiten, wird dagegen nicht in Betracht gezogen. In Großbritannien hat J ean Stark 1969 die Einführung einer gesetzlichen Meldepflicht vorgeschlagen367 , um Personen, die Behörden über Verdachtsfälle informieren, besser schützen zu können, als dies bisher möglich ist. Ein gutgläubiger Informant könnte sich dann, falls der Vorwurf der Mißhandlung nicht bestätigt wird und die Eltern ihn wegen übler Nachrede verklagen, auf die gesetzliche Meldepflicht als Rechtfertigungsgrund berufen368 • Im Jahre 1976 haben Eltern die NSPCC 77 wegen fahrlässiger Bearbeitung eines Berichtes vor dem Court of Appeal3