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German Pages [163] Year 2022
Wolfgang Oelsner Gerd Lehmkuhl
Familienplanung 2.0 Identität in Zeiten sich auflösender biologischer Verwandtschaftsbeziehungen
Wolfgang Oelsner/Gerd Lehmkuhl
Familienplanung 2.0 Identität in Zeiten sich auflösender biologischer Verwandtschaftsbeziehungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Art Furnace/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40802-1
Inhalt
Einleitung: Warum ein kritischer Blick, wenn doch alles in Ordnung ist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I Was treibt die Frage nach der Herkunft an? – Blutsbande, Urbedürfnis, Konstrukt? »Doing family« – Familiengründung ohne Blutsbande . . . . 14 »Weltbürger« – in einem neuen Sinne gezeugt . . . . . . . . . . . 19 Die genealogische Ordnung – ist sie noch ein Kulturgut? . . 25 Was sagt die Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Nachkommenschaft ist mehr als Biologie. Aber Biologie ist sie auch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Literarischer Exkurs 1: Eine Irritation des kleinen Goethe als typisches Beispiel kindlicher Herkunftsfantasien . . . . . . 43 Literarischer Exkurs 2: Dani Shapiros »Inheritance« – die Anstrengung einer späten Aufdeckung . . . . . . . . . . . . . . 49 Die Frage nach Herkunft als menschliche Konstante . . . . . . 54
II Die Entmachtung des Schicksals befreit von manchem, belastet aber mit manch anderem Erzwingen oder Geschehenlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Wenn das Schicksal als Narrativ entfällt . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Literarischer Exkurs 3: Saša Stanišic´ und andere über Herkunft, Identitätsstress und transgenerationale Dynamik . . . 80 Parentifizierung – ein Fallstrick in der Entwicklung . . . . . . 85
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Inhalt
III Im Dilemma der Reproduktionsmedizin spiegelt sich
das Dilemma der Gesellschaft
Ein interdisziplinäres Cross-over: Wohin geht die Reise? . . 90 »Josef-Väter« – ein Missverständnis zwischen Ärgernis und Heiligsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Literarischer Exkurs 4: Annette Mingels’ »Was alles war« . . 102 Wiederkehr der vaterlosen Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Leihmutterschaft – zwischen Altruismus und kognitiver Dissonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Literarischer Exkurs 5: Carl Zuckmayers Wutrede des Generals Harras – oder: Welcher Stammbaum ist schon echt? 131 Gelingende Beziehungen stehen am Ende eines Prozesses. Über Ziele und Wege beim Herkunftspuzzle . . . . . . . . . . . . 134
IV Sachanhang Methoden und Begriffe in der Reproduktionsmedizin sowie rechtliche Aspekte – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 142 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Einleitung: Warum ein kritischer Blick, wenn doch alles in Ordnung ist?
Leben kann in unzählig verschiedenen Konstellationen gelingen. Und Kinder können in sehr unterschiedlichen Beziehungen und Familienformen gedeihen. In Deutschland wächst heute jedes vierte Kind bei einem Elternteil auf, mit dem es biologisch nicht verwandt ist. Die Gründe dafür müssen nicht immer von allen Beteiligten gewollt und nicht für jeden schön sein. Aber leben, auch gelingend leben, lässt sich mit vielem. Dass es oft anstrengend ist, ist kein Widerspruch. In diesem Buch geht es um entkoppelte Eltern-Kind-Kon stellationen. Entkoppelt deshalb, weil bei ihnen getrennt ist, was traditionell zusammengehörig gedacht wird: biologische, genetische, soziale und rechtliche Elternschaft. Wenn elterliche Anteile auf mehr als die Zweierkonstellation einer Mutter und eines Vaters verteilt sind, wird das in der Fachliteratur unter anderem als »Familie mit multipler Elternschaft« (Bergold, Buschner, Mayer- Lewis u. Mühling, 2017) beschrieben. Einst begründeten vorwiegend Schicksalsschläge solche Entkoppelung, etwa der Tod eines Elternteils. Nach Wiederheirat entstand eine sogenannte Stieffamilie. Heute sind Trennung und neue Verpartnerung die häufigste Ursache. Zunehmend gründet die Entkoppelung auch in der gezielten Entscheidung für Methoden der Reproduktionsmedizin. Sie stehen im Fokus dieses Buches. Genauer gesagt geht es um jene Sparten der Reproduktionsmedizin, die eine Lebens- und Familienplanung jenseits biologischer Vorgaben und genealogischer Tradition ermöglichen.
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Einleitung
Dazu gehören Fremdsamenspende, Eizellspende und Leihmutterschaft. Anteile von Elternschaft spalten sich hier auf in genetische, biologische, soziale und rechtliche. Anders – und nicht Thema dieses Buches – ist die Konstellation, wenn bei Fruchtbarkeitsbehandlungen mittels In-Vitro-Fertilisation (IVF) und Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) außerhalb des Körpers in der »Petrischale« alle genetischen Anteile von einem Elternpaar stammen.1 Die vielfältigen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten finden in Gesellschaft und Rechtsprechung wachsende Akzeptanz. Wir sehen solch liberale gesellschaftliche Entwicklungen als Fortschritt. Allerdings mahnt unsere berufliche Erfahrung mit Familien in Psychotherapie und Psychiatrie, mehr im Blick zu behalten als nur die gesellschaftliche und rechtliche Dimension von Möglichkeiten. Denn die neuen Familienkonstellationen beanspruchen von den Beteiligten auch erhebliche psychische Energien. Der Blick darauf ist nach unserem Eindruck oft blauäugig oder zu kurz. Dieses Buch will ihm Raum geben. Auch unser Buch »Spenderkinder« (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016) warf einen kritischen Blick auf neue Eltern-Kind-Konstellationen. Im Fokus stand die seit Jahrzehnten praktizierte Familiengründung durch anonyme Samenspende. Wir sprachen mit jungen Erwachsenen, die einst durch Fremdsamenspende gezeugt worden waren und sich nun im Verein »Spenderkinder« organisieren. Sie sehen ihre Zeugungsmethode kritisch. Wir können das nachvollziehen, erkennen wir doch etliches aus der uns gut vertrauten Dynamik bei Adoption wieder. Die publizierte Wiedergabe und Kommentierung unserer Gespräche mit »Spenderkindern« stieß auf Widerspruch bei Befürwortern dieser Zeugungsmethode. Vermutlich werden sie, ebenso wie Verfechterinnen und Verfechter einer Legalisierung von Leihmutterschaft und Eizellspende, auch an diesem Buch 1 Diese Methoden sind heute unspektakulärer Teil der Lebenskultur. In Deutschland kamen 2020 mit ihrer Hilfe weit über 20.000 Kinder zur Welt. Das waren mehr als doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.
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Anstoß nehmen. Sein kritischer Blick wird möglicherweise als Polemik missverstanden. Die ist nicht beabsichtigt. Vielmehr halten wir der Euphorie eines »anything goes« Fragen und Nachdenklichkeit entgegen. Wem stünde es zu, den Wunsch nach Kindern und Familiengründung zu werten? Lebensplanung und Fortpflanzungsfreiheit sind unantastbare Rechtsgüter. Und dass Familienbande auch ohne genealogische Eindeutigkeit gelingen können, wird seit Jahrhunderten bewiesen. Ihr Scheitern allerdings auch. Unser kritischer Blick gilt einem »Kinderwollen um jeden Preis«. Zu kritisieren ist nicht das Wollen, sondern das Ausblenden eines Potenzials von Irritationen, Verletzungen und Zweifeln infolge der Bedingungen und Konsequenzen, unter denen die Wunscherfüllung ermöglicht wird. Zweifel sind nicht das Thema der Reproduktionsmedizin. Es ist auch nicht Aufgabe von Werbung, das eigene Produkt infrage zu stellen. Und um werbende Aspekte geht es auf den »Kinderwunschtagen«, die unter dem Etikett »Information und Aufklärung« seit 2016 in deutschen Großstädten messeähnlich veranstaltet werden. »Kinderwollen um jeden Preis« ist nicht nur im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin kritisch zu sehen. Auch in Partnerbeziehungen, die biologisch völlig unkompliziert zu Kindern kommen können, liegt im »um jeden Preis« ein Fallstrick. Manchmal kommt erst nach Jahren zur Sprache, dass vor der Schwangerschaft nicht immer Einklang über den Kinderwunsch bestand. Wenn Paare sich gegenseitig etwas »abtrotzen« oder gar nett verpackt »abtricksen«, hinterlässt das Spuren in der Beziehungsdynamik. Mitunter zeigt sie sich später im Verhalten des Kindes. In unseren Augen gerät der kritische Blick auf die Folgedynamik einer medizinisch assistierten multiplen Elternschaft zu kurz. Eva Maria Bachinger formuliert in ihrer Streitschrift »Kind auf Bestellung« krasser: »Ich frage mich, ob wir noch bereit sind zu hinterfragen, wohin sich eine Medizin entwickelt, die wie ein Supermarkt auftritt mit Angeboten für alle Kundenwünsche« (Bachinger, 2015, S. 84).
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Einleitung
Natürlich ist es kein Störungsbild, Kind einer multiplen Elternkonstellation zu sein. Weder lassen sich davon spezifische Symptome ableiten, noch begründet die Konstellation eine Indikation zur Therapie. Weder wegen der Zeugungsart eines Kindes noch »wegen der Adoption«, wurden wir als Therapeuten je konsultiert. Ohnehin wäre es unredlich und platt, bei psychischen Prozessen pauschale Kausalitäten von Ursache und Wirkung zu propagieren. Erst recht, wenn es um Identitätsfindung geht. In den Gesprächen mit jenen, die einst per anonymen Spender samen gezeugt wurden, hörten wir die Metapher vom »fehlenden Puzzlestein, der das Mosaik erst zum ganzen Bild macht«. Wir hörten von »Leerstellen«, von einem »Fremdheitsgefühl«, einer »Silhouette ohne Gesicht« oder vom »fehlenden Schlüssel für bestimmte Räume im Haus meines Lebens« (Zitate von »Spenderkindern« aus Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 237). Es gibt keinen Grund, erst recht keinen Automatismus, solche Äußerungen in einen pathologischen Kontext zu stellen. Dass sie aber von Lücken im Wissen über die eigene Herkunft zeugen, kann nicht ignoriert werden. Ob solcherart Lücken integriert und bewältigt werden oder ob sie sich in Symptomen manifestieren, hängt von vielen individuellen Einflüssen ab. Dass Kinder der Reproduktionsmedizin Wunschkinder sind, ist ein stabilisierender Faktor. In der Regel wachsen sie gut gefördert ins Leben hinein. Das erhöht ihre Resilienz. Auch Adoptivkinder sind ihren neuen Eltern willkommen. Gleichwohl ist das Konfliktpotenzial dieser Konstellation in bestimmten Lebensphasen geradezu typisch und in der Literatur hinlänglich beschrieben. Ein unerfüllter Kinderwunsch ist schwer auszuhalten. »Kinderwunschtage« nach dem Modell von Verbrauchermessen antworten auf die schmerzvolle Sehnsucht mit medizinischem Know-how. Wegen des Werbeverbots kaschieren sie Methoden, die nur im Ausland erlaubt sind (derzeit Eizellspende, Leih mutterschaft), als Information. Wunscheltern, die sich hier Tipps und Adressen holen, sind enttäuscht und empört, wenn der Staat ihnen Begrenzungen, gar Verbote setzt. Zusätzlich zu den finan-
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ziellen Belastungen sehen sie ihren psychischen Schmerz noch durch rechtliche Hürden potenziert.2 Unser Buch kann und will sich hier nicht juristisch positionieren. Aber es will zum kritischen Blick anregen, und zu einer Haltung, die in kulturell gewachsenen Bedenken und juristischen Schwellen nicht allein Eingrenzung und Bevormundung sehen will. Natürlich stört jeder Einwand beim Erreichen eines begehrten Ziels. Doch in der Verzögerung liegt auch eine Chance, dem Blick auf die oft ambivalenten Seiten einer Sehnsuchtserfüllung mehr Raum zu geben. Wir stellen den reproduktionsmedizinisch assistierten Eltern- Kind-Konstellationen das tradierte Familienmodell nicht wertend gegenüber. Ein Garant für gute Verhältnisse ist Blutsverwandtschaft3 keineswegs. »Leibliche Kinder« können unter durchaus scheußlichen Umständen gezeugt, geboren und erzogen werden. Und zu behaupten, nur eine sozial wie biologisch identische Elternschaft könne Kinder zum Lebensglück führen, wäre ignorant, gar boshaft gegenüber längst etablierten Varianten. »Patchwork« ist die geläufigste.
2 Im April 2019 sprach ein Urteil des BGH einer Wunschmutter, die ihr Kind von einer anderen Frau austragen ließ, die rechtliche Mutterrolle ab. Mutter kann nach deutschem Recht nur die Frau sein, die das Kind geboren hat. Im erwähnten Fall war dies, da Leihmutterschaft hierzulande verboten ist, die Frau im Ausland. Sie hatte sich die befruchtete Eizelle des »Besteller-Elternpaares« einpflanzen lassen und den Fötus bis zur Geburt ausgetragen. Die Frau, von der die im Labor befruchtete Eizelle stammte, war zweifelsfrei die genetische Mutter und selbstverständlich übernahm sie auch die Rolle der sozialen Mutter. Doch ihre rechtliche Mutterschaft konnte sie nur im Rahmen einer Adoption reklamieren. Mehr hierzu im Kapitel »Leihmutterschaft – zwischen Altruismus und kognitiver Dissonanz«. 3 Wir behalten hier den umgangssprachlichen Begriff »Blutsverwandtschaft« bei. Das Bürgerliche Gesetzbuch in Deutschland spricht nur von »Verwandtschaft«, meint damit aber Blutsverwandtschaft.
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Einleitung
Vielleicht propagiert eine diverse Gesellschaft eines Tages eine Rückkehr zu tradierten Eltern-Kind-Konstellationen.4 Sofern nicht autoritäre, antiliberale Motive Ursache dafür sind, sähe sich die genealogische Idee als anthropologische Konstante bestätigt. Vielleicht aber entlarvt sich das tradierte genealogische Verständnis – ähnlich, wie Sigmund Freud über die Religion befand – als eine »Illusion«. Vielleicht erweist es sich als Konstrukt einer Projektion, als ein Durchgangsstadium der Menschheitsentwicklung. Dann mag »der neue Mensch« schmunzeln über den »kritischen Blick« dieses Buches und die Grenzen seiner Zeit. Schon heute rufen viele mit einem Klick aus Datenbanken das Genogramm ihres Erbmaterials ab. Die aktuell noch beklagten »Lücken« werden sich schließen. Gesetzesanpassungen wie das seit 2018 geltende Samenspenderregistriergesetz (SaRegG) und weitere politische Initiativen werden die Anonymität zunehmend aufheben. Bleibt die Frage, wie »der neue Mensch« die Kenntnis seiner multiplen genetischen Mitgift in seine Identitätsfindung integriert. Wird die Bedeutung dessen, was wir unter Identität verstehen, dann eine andere sein? Der Philosoph Peter Sloterdijk (2014) sieht ein Verschieben der Koordinaten, wenn von Herkunft und Familie die Rede ist. Der große molekularbiologische Fortschritt berge das paradoxe Phänomen einer schleichenden Entfremdung und Identitätsdiffusion in sich. Er sieht die prekär gewordenen genealogischen Fäden immer weiter ausdünnen: »Vom Abstammen kein Wort mehr« (Sloterdijk, 2014, S. 467). Die in New York praktizierende Psychoanalytikerin Christine Anzieu-Premmereur meint, die neuen Formen der Familienstruktur werden »uns dazu zwingen, die unbewusste Bedeutung von Herkunft, Sexualität, Fortpflanzung und Abstammung in der Familiengeschichte sowie
4 Im aktuellen Diskurs um andere Lebensbereiche, Klimakrise und Impfpflicht in Pandemiezeiten stellt der Soziologe Andreas Reckwitz fest: »Die historische Phase der schrankenlosen Liberalisierung, die in den 1970erJahren ansetzte, scheint an ein Ende zu kommen« (Reckwitz, 2021, S. 6).
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ihr gesamtes symbolisches System, das von nun an zutiefst gestört ist, neu zu überdenken« (Anzieu-Premmereur, 2020, S. 59). Das Ergebnis dieses Überdenkens wird unserem Buch ein »Haltbarkeitsdatum« setzen. Noch können wir ein Verfallsdatum nicht erkennen. Noch erreichen uns in Beratung und Therapie die Irritationen, die Selbstzweifel und Identitätsfragen von Menschen, die das Puzzle ihrer Herkunft moralisch und politisch durchaus in Ordnung finden. Die auch die Entscheidung ihrer – multiplen – Eltern respektieren, deren Liebe und Förderung würdigen. Und dennoch nagt in ihnen etwas. Mal sind es Leerstellen, mal hybride Fantasievorstellungen. Noch sehen wir in der Praxis, was Peter Sloterdijk (2014, S. 268) über »Kinder, die aus anonymen Samenbanken bezogen werden«, meint: Auch die »Kinder von etwas« bleiben bis auf Weiteres »die Kinder von jemand«.
I Was treibt die Frage nach der Herkunft an? – Blutsbande, Urbedürfnis, Konstrukt?
»Doing family« – Familiengründung ohne Blutsbande Je nach reproduktionsmedizinischer Konstellation übernehmen bis zu fünf Erwachsene elterliche Teilfunktionen für ein Kind. Was vor wenigen Jahren noch utopisch klang, ist auch jetzt noch kein Massenphänomen. Doch für hiesige Familiengerichte, für Adoptionsstellen, manchmal auch Jugendämter sind solche Konstellationen seit den 2000er Jahren zunehmend Alltagsfälle, wenn Eltern-Kind-Verhältnisse in legale Bahnen gelenkt werden sollen, die mittels hierzulande unerlaubter reproduktionsmedizinischer Hilfen zustande kamen. Die Fachliteratur diskutiert die Konstellationen unter Begriffen wie »multiple«, »pluralisierte«, »fragmentierte« oder »segmentierte Elternschaft« (Bergold et al., 2017; Schwab u. Vaskovics, 2011). Verbunden mit weiteren Aspekten von Diversität finden sie vermehrt gesetzliche Verankerung. Familiengründung als Herstellungsleistung Die praktischen und rechtlichen Möglichkeiten, eine Familie zu gründen und Nachwuchs zu bekommen, sind inzwischen sehr variantenreich. Die erwähnten fünf Elternteile beispielsweise rekrutieren sich aus der Eizellspende einer bekannten oder unbekannten Frau, die nicht die Mutter sein wird, sowie der Samenspende eines bekannten oder unbekannten Mannes, der nicht der Vater sein wird. Die im Labor befruchtete Eizelle wird einer Leihmutter eingesetzt, die das Kind austrägt und es nach der Ge-
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burt den auftraggebenden Wunscheltern überlässt. Zugegeben, eine (noch) nicht sehr verbreitete und in Deutschland (noch) verbotene Konstellation. Sie ist aber durchaus Realität und wird nicht nur von Prominenten praktiziert, worüber Medien häufig berichten. Wenn möglich, sind Paare durchaus bemüht, zumindest von einem Elternteil eigene genetische Substanz (Eizelle oder Sperma) einzubringen. Ebenso wie multiple Beziehungskonstellationen zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz finden (»Ehe für alle« 2017), etabliert sich auch Elternschaft jenseits der Tradition eines (verheirateten) Paares, das mit den Geschlechtsidentitäten Mann und Frau Vater und Mutter eines ihm genetisch verwandten Kindes ist. Nachkommenschaft wird in postmodernen Gesellschaften mehr und mehr als bewusste »Herstellungsleistung von Familie« (Bergold et al., 2017) verstanden. Methoden der Reproduktionsmedizin ermöglichen eine Elternschaft durch die genetische oder biologische Mitwirkung eines Menschen, dem von vornherein keine Elternrolle zugedacht wird.5 Samen-, Eizell-, Embryonenspende und Leihmutterschaft wurden jahrzehntelang in Dunkel- und Grauzonen praktiziert. Inzwischen sind die Methoden in etlichen Ländern legalisiert. In Deutschland ist derzeit nur die Heterologe Insemination (»Samenspende«) erlaubt.6 Wahrgenommen in unbekannter Zahl wird jedoch die gesamte Palette reproduktionsmedizinischer Möglichkeiten. Auf »Kinderwunschtagen«7 wird über sie informiert. Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim sieht einen »schnell expandierenden Kinderwunsch-Tourismus, ein inter5 Wiederholt sei festgestellt, dass die homologe Insemination mit den Varianten In-Vitro-Fertilisation (IVF) und Intrazytoplasmatische Sper mieninjektion (ICSI) für unser Thema ohne Bedeutung ist. Soziale und genetische Elternschaft bleiben hier identisch. 6 Stand Frühjahr 2022. Die in Sonderfällen legale Eizellspende und Embryoadoption seien hier außer Acht gelassen. Aktuelle Gesetzesinitiativen lassen weitere Veränderungen erwarten. 7 Unter diesem Begriff finden, erstmals 2017 in Berlin, jährlich messeähnliche Veranstaltungen statt.
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nationales Geschäft mit hohen Zuwachsraten« (Beck-Gernsheim, 2014, S. 12). »Die Reproduktionsmedizin gehört zur heutigen Lebenskultur«, konstatiert der Psychoanalytiker Geert Metzger (2017, S. 262). Und Andreas Bernard, der das Standardwerk »Kinder machen« vorlegte, stellt heraus, dass der einst dominierende eugenische Gedanke völlig verschwand zugunsten der Erweiterung menschlicher Fortpflanzungsmöglichkeiten: »Die assistierte Empfängnis praktiziert heute unbeschwerte Fortpflanzungshygiene, Eugenik ohne Eugenik« (Bernard, 2014, S. 119). Weniger Adoptionen, mehr Fremdsamenspenden Die Adoption als tradierte Alternative einer Kinderwunscherfüllung ist von abnehmender Bedeutung. Laut Statistischem Bundesamt sank in den letzten dreißig Jahren die Zahl der registrierten Adoptionsbewerberinnen und -bewerber erheblich. 2019 bewarben sich nur noch 4280 Paare, 1991 waren es fünfmal so viele. Mit rund 3700 werden aktuell auch nur noch halb so viele Kinder gegenüber 1991 adoptiert, wovon zwei Drittel Stiefkindoder Verwandtenadoptionen sind. Die mit jährlich rund 1200 angegebene Zahl von Kindern aus Fremdsamenspende überholt inzwischen die Zahl von Fremdadoptionen, worunter landläufig »echte Adoptionen« verstanden werden. Rechnet man die Dunkelziffern von Kindern aus hierzulande unerlaubten Eizell-, Embryonenspenden und Leihmutterschaft hinzu, liegt die »klassische« Adoption weit hinter den Kindern aus der Reproduktionsmedizin, wenn es um Familiengründung trotz Unfruchtbarkeit geht. 2016 stellte der Deutsche Juristentag fest, dass »die klassische Ehe«, familienrechtlich zwar noch das Leitbild prägt, dieses sich aber immer weniger mit der sozialen Realität deckt (Brudermüller u. Seelmann, 2018, S. 5). In der Gesellschaft wächst die Akzeptanz medizintechnischer Möglichkeiten zur Kinderwunscherfüllung. »Fortpflanzungsfreiheit, das heißt, die Freiheit, allein oder im Verbund mit einem Partner/einer Partnerin darüber zu
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entscheiden, ob, wann und wie jemand sich fortpflanzen will, (ist) ein fundamentales Recht«, argumentierte Claudia Wiesemann bei einer Anhörung im Deutschen Ethikrat (2015, S. 22). Schwangerschaft dank Spendersamen, die donogene oder heterologe Insemination, hat eine lange Tradition. 1884 erstmals medizinisch nachweislich praktiziert, gilt die Methode in Deutschland erst seit 1970 nicht mehr als »standesunwürdig« (Taupitz u. Boscheinen, 2018, S. 14). Anonym, wie jahrzehntelang betrieben, darf der Spender seit dem Urteil des Bundesgerichtshofs von 20158 nicht mehr sein. Die Daten der jeweiligen Samenbank oder Arztpraxis müssen laut dem seit 2018 geltenden Samenspenderregistriergesetz (SaRegG; Bundesgesetzblatt, 2017) dem zentralen Register beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) gemeldet und dort 110 Jahre aufbewahrt werden. Das lebenslange Auskunftsrecht des Kindes leitet sich aus dem vorrangigen Persönlichkeitsrecht ab und kann nicht durch Widerspruch des Samenspenders verwehrt werden. Das neue Gesetz regelt viel, aber längst nicht alles.9 Vor allem findet es nur bei medizinisch assistierter Samenspende Anwendung, also wenn hiesige Praxen und Samenbanken einbezogen sind.10 Künstliche Befruchtung steht in Deutschland zwar unter Arztvorbehalt, wird jedoch außerhalb von Praxen in vielen privaten Varianten praktiziert. Geschätzt leben in Deutschland derzeit über 110.000 »Spenderkinder«, vorwiegend noch aus heterosexuellen (Ehe-)Partnerschaften. Seit neue Formen von Partnerschaften und Singleverhältnissen gesellschaftliche Akzeptanz finden, wird der Anteil
8 BGH-Urteil vom 28.1.2015, XII ZR 201/13. 9 Taupitz und Boscheinen sehen »mit Blick auf die verschiedenen gelebten Familienmodelle den Reformbedarf im Abstammungsrecht« (Taupitz u. Boscheinen, 2018, S. 38 f.). 10 In einer Studie für die Stadt Köln (2011) gaben 90 % der »Regenbogenfamilien« an, ausländische Samenbanken zwecks Kinderwunscherfüllung aufgesucht zu haben.
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der bislang auf jährlich deutlich über tausend geschätzten Neuzugänge größer. Bis Ende des vorigen Jahrhunderts galten weniger als 10 % dieser Kinder über ihre Zeugung als aufgeklärt (Golombok et al., 1996, 2002). Jüngere Befragungen weisen steigende Aufklärungsraten aus, etwa rund 40 % (Casey, Jadva, Blake u. Golombok, 2013). Absichtsbekundungen, »Spenderkinder« über die Art ihrer Zeugung früh aufzuklären, werden in jüngerer Zeit von der Deutschen Vereinigung von Familien nach Samenspende mit ca. 70 % angegeben (Brügge u. Simon, 2017, S. 16). Wie viele der Absichten tatsächlich umgesetzt werden, ist nicht bekannt. In Deutschland illegale, aber im Ausland genutzte Praktiken Nationale Begrenzungen hindern wohlhabende, mobile und global agierende Gesellschaften nicht, zu machen, was medizinisch möglich ist. Strafbar machen sich nach deutschem Recht die Behandelnden, nicht die Eltern, wenn sie einen Kinderwunsch mittels einer hierzulande verbotenen Eizell- oder Embryonenspende oder auch Leihmutterschaft erfüllen. In den zuständigen deutschen Behörden häufen sich Anträge auf Adoption von Kindern, die per Leihmutterschaft im Ausland geboren wurden.11 Hierzu zählt die eingangs geschilderte Konstellation von fünf Personen, denen genetisch, biologisch, sozial oder/und gesetzlich elterliche Teilfunktionen zukommen. Den Weg über eine »Stiefkindadoption« gehen derzeit auch noch Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, wenn sie ihre Eizelle von ihrer Lebenspartnerin austragen lassen. Denn nach deutschem Recht kann nur die Gebärende als Mutter anerkannt werden. Ein nicht zur Abstimmung gekommener Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Abstammungsrechts sah 11 »Wunsch- oder Bestellkind? – Adoption nach Leihmutterschaft und Samenspende« lauten die Titel von Fachtagungen der Landesjugendämter, beispielsweise beim Landschaftsverband Rheinland (7.11.2019) oder Thüringer Ministerium für Bildung, Sport, Jugend (15.11.2021).
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vor, dass die Frau, die mit der Mutter verheiratet ist, als MitMutter automatisch eine rechtliche Elternstellung erlangt (BMJV, 2019). Der Koalitionsvertrag jener Parteien, die seit Ende 2021 die deutsche Bundesregierung stellen, greift den politischen Willen zu einer entsprechenden familienrechtlichen Veränderung mit Erweiterungen wieder auf: »Wenn ein Kind in die Ehe zweier Frauen geboren wird, sind automatisch beide rechtliche Mütter des Kindes, sofern nichts anderes vereinbart ist. Die Ehe soll nicht ausschlaggebendes Kriterium bei der Adoption minderjähriger Kinder sein« (Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 101). »Jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe« heißt es dort, sollen unter dem Begriff »Verantwortungsgemeinschaft […] zwei oder mehr volljährige[n] Personen […] rechtlich füreinander Verantwortung […] übernehmen« (S. 101). Im Anhang skizzieren wir weitere Begriffe der Reproduktionsmedizin, rechtliche Aspekte sowie Eltern-Kind-Konstellationen von »doing family«.
»Weltbürger« – in einem neuen Sinne gezeugt Familienzugehörigkeit, Stammbaum, Herkunft – die Alltäglichkeit der Begriffe täuscht ein Selbstverständnis vor, als sei von Konstanten die Rede. Auch die damit verbundenen Vorstellungen, Gedanken, Gefühle scheint es immer schon gegeben zu haben und auch zukünftig zu geben. Tatsächlich aber lehrt schon flüchtige Kenntnis von anderen Epochen den Wandel dessen, was Menschen und Kulturen Zugehörigkeit und Herkunft bedeuten. Nicht nur die Familienverhältnisse selbst waren einst sehr viel anders als heute, sondern auch ihr Stellenwert, ihre Bedeutung für den Einzelnen und für die jeweilige Gesellschaft. Familiäre Beziehung und Eltern-Kind-Bindung wurden längst nicht immer so hoch bewertet, wie dies heute vor allem in den westlichen Industriestaaten geschieht. Das war nicht allein den noch ausstehenden Ergebnissen der Bindungsforschung geschuldet. Bei zehn und mehr Kindern im dichten Altersabstand, bei hoher Mütter- und Kindersterblichkeit und meist prekären sozialen
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Verhältnissen galt Kümmern und Sorgen in den Familien primär dem Funktionieren, dem Überleben und Durchkommen des Nachwuchses. Doch auch das Eltern-Kind-Verständnis in damaligen wohlhabenden Kreisen mutet aus heutiger Sicht befremdlich, unsensibel, mitunter brutal an. Beispielsweise wurden Babys gezielt von ihren Müttern genommen, um sie anderen Frauen zum Stillen zu überlassen. Und wenn die Kinder älter wurden, war es keineswegs üblich, sie immer in Lebensgemeinschaft mit ihren Eltern aufwachsen zu lassen. Das war nicht als Schikane gedacht, sondern galt als zeitgemäße Erziehung unter Privilegierten. Über Jahrhunderte war das »Outsourcen« von Kindererziehung Standard und Ideal bei Hofe. Ein vierjähriges Mädchen, das ohne Option auf Wiederkehr zur Fremderziehung in ein anderes Land gebracht wird, um dort schon im Kleinkindalter einem zukünftigen Ehepartner zugewiesen zu werden, riefe heute Jugendamt und Staatsanwaltschaft auf den Plan. Anfang des 13. Jahrhunderts war dies die Realität für ein Kind, das der Nachwelt als Heilige Elisabeth von Thüringen bekannt ist. Rund hundert Jahre vor dieser Elisabeth widerfuhr einem Mädchen namens Hildegard im Grundschulalter ein ähnliches Schicksal. Auch es wurde seinem familiären Bezugsfeld entrissen und – in bester Absicht – zur Fremdunterbringung bestimmt. Wir wissen von seinem Schicksal, weil es unter dem Namen Hildegard von Bingen Weltgeltung erlangte. Die Geschichte ist voll von solchen Biografien, in deren Konstellationen wir heute ein erhebliches Gefährdungspotenzial erkennen würden. Doch weder Hildegard noch Elisabeth gerieten auf die schiefe Bahn. Im Gegenteil. Vielen gelten sie als faszinierende Persönlichkeiten. Es wäre ein spekulatives Gedankenspiel, das imponierende Bildungsniveau, auch die Durchsetzungskraft und Empathie solcher historischer Figuren unter heutigen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie zu betrachten. Fragen der Resilienz stellten sich ebenso wie solche nach dem destruktiven Potenzial. Solch eine traumatische Frühentwicklung – das wäre sie nach heuti-
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gem Verständnis – kann sowohl zermürben als auch stark und erfinderisch machen. Frühe Bindungsverluste können beispielsweise per Projektion, Identifikation oder Halluzination kompensiert werden. Manche wachsen dabei über sich hinaus, andere gehen daran zugrunde. Himmel und Hölle liegen hier nahe beieinander. Es sind viele Begleitumstände, die Wegmarken setzen und Weichen stellen. Und ein Preis ist immer zu zahlen. Es ist nicht bekannt, ob der Schriftsteller Erich Kästner – um ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert zu bringen – je anzweifelte, dass sein treu sorgender, aber recht blasser Vater auch sein genetischer Vater war. Sollte zutreffen, was Kästner-Biografen schreiben, dass der Hausarzt der Mutter Erzeuger des kleinen Erichs war (Kordon, 1994, S. 14), dann mag das Familiengeheimnis ein unbewusstes Motiv gewesen sein, das Kästner zum großen Moralisten werden ließ. Und wer weiß, ob er ohne seine ihn vergötternde Helikoptermama der beliebte Kinderbuchautor geworden wäre? Schreiben war für ihn eine Möglichkeit, sich aus Mutter Ida Kästners neurotischer Umklammerung herauszuwinden, ohne sie zu verletzen. Indes wäre damit auch ein Licht auf seine spätere Bindungsproblematik als Lebenspartner geworfen (vgl. Mendt, 1995). Heimatlose oder Weltbürgerinnen und -bürger? Solche Spekulationen um die Vita einstiger Persönlichkeiten sind ein reines Gedankenspiel. Mehr wollen und können sie nicht sein. Doch haltlos sind solche Überlegungen grundsätzlich nicht. In der kinderpsychotherapeutischen Praxis werden sie in konkreten Fällen zigfach bestätigt. Gleichwohl muss man sich klar machen, dass unsere Auffassung von den – meist unbewussten – Prozessen in der tradierten genealogischen Ordnung wurzelt. Verfechter und Befürworterinnen von Familienbildung mittels Samen- oder Eizellspende bezweifeln hingegen, dass diese Ordnung anthropologisch gesetzt ist. Sie sehen familiäre Bindung und Beziehungen primär als gesellschaftliches Konstrukt. Diese Sichtweise erweitert ihre Möglichkeiten bei der Nachwuchsfrage,
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Was treibt die Frage nach der Herkunft an?
sie sehen die nicht mehr durch ein traditionelles, blutsverwandtschaftliches Verständnis von Familie begrenzt. Familiäre Beziehungen primär als gesellschaftliches Konstrukt zu sehen, vergrößert den Handlungs- und Gestaltungsspielraum. Reproduktionsmedizinische Möglichkeiten befähigen die bislang von Unfruchtbarkeit leidvoll Betroffenen nicht nur zur Fortpflanzung. Damit verbunden sind auch Impulse schöpferischen Handelns, das über ein reines »doing family« hinausgeht. Von »neuen Weltbürgern« schwärmt die Soziologin Elisabeth BeckGernsheim (2014) und meint, dass »neuartige transnationale Verwandtschaftsverhältnisse« die Vision einer »friedlicheren Weltordnung« nähren: »Ob das schwule Paar aus Oslo, das im Labor eigenes Sperma mit den Eizellen einer Ukrainerin mixen und Embryonen von einer indischen Leihmutter austragen lässt; ob die 60 Jahre alte Bankerin in New York, die nach erfolgreicher Karriere ihren Kinderwunsch entdeckt und in einschlägigen Katalogen sich einen kalifornischen Samenspender und eine russische Eispenderin aussucht – mit Hilfe der globalisierten Reproduktionsmedizin werden Weltbürger in einem ganz neuen Sinne gezeugt« (Beck-Gernsheim, 2014, S. 12). Keine neuen »Weltbürger«, sondern eine Generation von Heimatlosen sieht hingegen der Kulturjournalist Ulrich Greiner (2017) heranwachsen. Mit Blick auf die zunehmend fragmentierten Familienkonstellationen sieht er »die Macht der Vorväter« erloschen. Die Selbstachtung hänge nicht mehr von der Tradition, sondern von der Samenqualität eines – oft unbekannten – Samenspenders ab. Diese gegensätzlichen Einschätzungen der Soziologin und des Kulturjournalisten spiegeln das Spektrum des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses wider: Befürchtungen, dass durch die neuen Familienformen die eigene Herkunft und biografische Verankerung zunehmend unsicher wird, steht die Befürwortung einer Diversität von Familien und Entwicklungsmodellen mit einer größeren Offenheit und Pluralisierung gegenüber. Der letztgenannte Aspekt hat Folgen sowohl für unser Verständnis von Beziehungsdynamik als auch für die Entwicklungspsycho-
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logie. Insbesondere gerieten dadurch einige Säulen des psychoanalytischen Theoriegebäudes ins Wanken. Abschied vom Ödipuskomplex? Ein Lösen vom genealogischen Ballast mache, so die Verfechterinnen und Befürworter dieser Entwicklung, den Blick frei für die Möglichkeiten einer »ent-ödipalisierten«, abstammungsfreien Gesellschaft. In neuen, die Tradition überwindenden Familienmustern werden die Chancen gesehen, dass letztlich nicht die Form des Zusammenlebens zählt, sondern die Offenheit und Solidarität, in der die Partnerschaft gelebt werden kann (Küchenhoff, 1998, S. 181). Dafür spräche auch, dass Kinder aus Regenbogenfamilien sich in ihrer Entwicklung kaum von denen in herkömmlichen Familien unterscheiden. Auch in unseren eigenen Interviews bestätigen »Spenderkinder« die Studienergebnisse einer »normalen Entwicklung« (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016). Allerdings messen sie den Fragen nach der Herkunft einen wesentlich höheren Stellenwert bei, als es die Lobby der Reproduktionsmedizin einräumen will. Die Vorstellung, Teil eines neuen »Weltbürgertums« zu sein, hegt keine und keiner der Befragten. Vielmehr berichten sie von inneren Zweifeln und von Phasen einer konfliktreichen Dynamik in ihren Familien. Die im Verein »Spenderkinder« organisierten Erwachsenen, die einst per Fremdsamenspende gezeugt worden waren, beklagen die mangelnde Kenntnis der eigenen genetischen Herkunft. Diese Leerstelle ihrer Biografie nagt. Es sind alltäglich kleine Verunsicherungen, wenn beispielsweise anstelle von Bildern der Großeltern Fragezeichen erscheinen. Ihre Fragen nach der Identität ähneln sehr den Fragen, die uns aus einer langjährigen Arbeit mit Adoptivkindern vertraut sind: Was gibt es Unbekanntes in mir? Nicht alle fragen danach. Und selbstverständlich sind längst nicht alle »Spenderkinder« Mitglied im gleichnamigen Verein, denn der überwiegende Teil der Betroffenen weiß überhaupt nichts von seiner speziellen Art der Zeugung.
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Die Herausforderungen einer biologisch unklaren, multiplen Herkunft und die damit verbundene Orientierungssuche und Irritation betreffen nicht allein »Spenderkinder«. Allgemein werden im aktuellen Diskurs westlicher Gesellschaften Normen und tradierte Rollen – »Ehe für Alle«, drittes Geschlecht – zunehmend aufgelöst und mit Erwartungen verbunden, an die es sich erst zu gewöhnen gilt. Ihre gesetzliche Verankerung ist das eine, ihre allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz das andere. Die Koordinaten verschieben sich, wenn von Herkunft und Familie die Rede ist. Die in Israel praktizierende Kinder- und Erwachsenenpsychoanalytikerin Marganit Ofer meint, ihr Land könne »als ein riesiges Labor für soziale und psychoanalytische Forschung angesehen werden. Die Zahl der neuen Familienstrukturen, IVFBehandlungen und Kinder, die durch den Einsatz neuer Technologien geboren werden, ist weltweit einzigartig« (Ofer, 2020, S. 79 f.). In ihrer Praxis sieht sie Studienergebnisse bestätigt: »Kinder, die in LGBT-Familien aufwachsen, zeigen im Vergleich zu anderen Kindern nicht mehr geschlechtsspezifische, sexuelle oder andere Identitätsprobleme« (Ofer, 2020, S. 78). Sie stellt fest, dass einem Kind nicht nur genetisch identische Väter und Mütter als männliches oder weibliches Identifikationsobjekt zur Verfügung stehen, sondern auch eine Anzahl von Personen außerhalb der Kernfamilie, etwa dauerhafte Betreuerinnen und Betreuer, Großeltern, Paten, enge Freunde und Freundinnen. Allerdings bleibe ein qualitativ wichtiger Unterschied: Nahestehende Personen sind nicht Liebespartner bzw. -partnerin des jeweils anderen Elternteils. »Die postmoderne Familie präsentiert uns eine Geburt ohne Sexualität. […] Das durch die Spende von Sperma oder Eizelle geborene Kind ist oft das Ergebnis des elterlichen Begehrens nach einem Kind und nicht nach einander« (Ofer, 2020, S. 69). Das ist bei Alleinerziehenden noch relevanter. Die Analytikerin redet deshalb nicht der besagten »Entödipalisierung« das Wort. Doch sie relativiert sie: »Unser Bedürfnis nach verschiedengeschlechtlichen Elternteilen, einer Mutter und einem Vater, mit dem sich das Kind bei der Bildung seiner sexuellen und geschlechtlichen Identität identifizieren kann, hat
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sich also ›abgeschwächt‹. Was bleibt uns dann? Meiner Meinung nach bleibt alles Übrige. In erster Linie bleibt uns die Tatsache, dass wir eine Art Dreiecksstruktur brauchen, um Getrenntheit wahrzunehmen, erkennbar zu machen und zu entwickeln« (Ofer, 2020, S. 79). Ihr Fazit: »Mich führt dieses riesige Experiment zu dem Schluss, dass Ödipus uns geblieben ist und sich wie diese Kinder mit den neuen Strukturen weiterentwickelt und wächst. Auch die Wahrheit bleibt bestehen« (Ofer, 2020, S. 80).
Die genealogische Ordnung – ist sie noch ein Kulturgut? Familienbilder und Herkunftsfragen in Bildern und Literatur In der Diskussion um neue Formen des Zusammenlebens und der Eltern-Kind-Beziehung scheint es nur eine familiäre Gegenwart und Zukunft zu geben. Wenn der Blick zurück vermieden wird oder eher verschämt ausfällt, begreifen sich Kinder nicht mehr in der Nachfolge realer und präsenter Väter und Großväter, Mütter und Großmütter. Wohlwollende und vertraute Erwachsene sind bemüht, den Verlust dieser familiären Bezugs- und Identifikationspersonen auszugleichen. Doch im Verlauf des Heranwachsens wünschen sich Menschen ein Bild, eine Vorstellung von den ihnen nahen Verwandten. Sie wollen nicht nur wissen, wer sie sozial geprägt hat. Sie wollen auch wissen, von wem sie abstammen und wessen Gene sie in sich tragen. Die Kenntnisse tragen dazu bei, sich selbst besser verstehen und definieren zu können. Ohne diesen Hintergrund bleibt eine Leerstelle übrig. Die Betroffenen sind manchmal selbst überrascht, wer und was sie einnimmt. Wissenschaftlich harren die Phänomene noch weitgehend der Forschung. Doch Kunst, Literatur und Selbstzeugnisse geben seit jeher Antworten. Die sind natürlich nicht repräsentativ, für die Betroffenen aber nicht minder wahr. Das Bedürfnis, sich ein Bild von der Familie und seiner eigenen Herkunft zu machen, ist kultur- und epochenübergreifend
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festzustellen. Im bildnerischen und literarischen Schaffen zeigt es sich besonders eindrücklich. Familienbilder in der Malerei, später auch in der Fotografie, vermittelten ein Gefühl von Zugehörigkeit und Nähe. Das muss nicht immer angenehm sein, vielfach ist es eher belastend. Aber es dokumentiert Gemeinsamkeiten. Damit ist ein gewisser Rahmen vorgegeben. Ahnenporträts im alten China hatten einen speziellen Gedenkcharakter und wurden zu besonderen Feiertagen herausgeholt und aufgehängt, um sich den Verstorbenen früherer Generationen zu erinnern. Es ging auch darum, sowohl die äußere Ähnlichkeit als auch das persönliche Wesen zu erfassen. Sie sollten dazu beitragen, eine Verbindung mit den Nachkommen herzustellen (Cheng, 2017). Auch unsere Familienalben erfüllen eine vergleichbare Aufgabe, wenn wir uns an bestimmte Personen oder Ereignisse erinnern wollen, die für unsere Entwicklung und unser Leben von Bedeutung waren. Dieser Impuls findet sich heute in veränderter Form z. B. bei Instagram wieder: Es sei ganz »einfach, die Augenblicke der Welt festzuhalten und zu teilen. Folge Deinen Freunden und Deiner Familie bei ihren Aktivitäten«. Statistiken aus dem Jahre 2016 gehen davon aus, dass jede Minute mehr als 40.000 Fotos und Videos und damit täglich knapp 60 Millionen Beiträge hochgeladen werden (Wikipedia, o. D., Stichwort »Instagram«). Allerdings richtet sich der Blick vor allem auf das Hier und Jetzt, Aktuelles steht im Fokus, wird festgehalten, weitergeleitet und mit anderen geteilt. Wie nachhaltig diese Bilderflut letztlich ist, muss offenbleiben, denn ständig gibt es einen wachsenden Nachschub, der den Blick zurück verstellt. Dennoch bleibt die Faszination von Fotos, die von früher erzählen. Gerade auch junge Menschen finden es spannend nachzuvollziehen, wie Verwandte in ihrer Jugend aussahen. Zum Betrachten der Bilder gehört oft auch die Suche nach Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit ihnen selbst: Wie könnte diese Person ausgesehen haben, wie ist ihre Ausstrahlung, sind Eigenschaften darin zu erkennen, nehme ich Ähnlichkeiten mit mir wahr, welche? Lässt sich hier nichts ausmachen, kann das
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zu Irritationen führen. Wenn Nachfragen – sofern überhaupt gefragt wird – nichts klärt, versuchen manche, die Lücken mit Fantasien zu schließen.12 Trotz der oft beschworenen Krise der Familie und ihres bereits erfolgten Abgesangs bleibt die Familie ein wichtiger Drehund Angelpunkt im Wertemuster der heutigen Jugendlichen. Sie bietet den notwendigen Raum und Boden, um das eigene Selbst zu formen, Identität zu entwickeln und Orientierung in der Welt zu finden. Der Blick zurück auf frühere Generationen trägt dazu bei, um in einer komplexen und unübersichtlichen Gesellschaft ein inneres Gleichgewicht herzustellen. Seit 2002 – so die Autoren der Shell-Jugendstudie 2019 – fällt der Blick auf die eigene Herkunftsfamilie überaus positiv aus (Albert, Hurrelmann u. Quenzel, 2019, S. 105). Zwar sei familiäre Sozialisation durch die Vielfalt an Familienformen in Stil und Inhalt betroffen, sie fände aber nach wie vor in einer emotionalen und sozialen Intensität statt, wie es in keiner anderen Sozialisationsinstanz möglich sei (Hurrelmann u. Quenzel, 2016, S. 154). Und auch nach der methodisch anders angelegten SINUS-Jugendgruppe stellen Heimat, Tradition und Familie wichtige positive Bezugspunkte für Jugendliche dar und entsprechen ihrem inneren Grundbedürfnis, dazuzugehören (Calmbach et al., 2020, S. 37). Das Aufarbeiten der Familiengeschichte, der genealogische Strang, ist seit jeher auch ein Sujet von Literatur. Die im Buch eingestreuten »literarischen Exkurse« künden davon exemplarisch. In den ersten Dekaden des neuen Jahrtausends füllt die Thematik die Tische des Buchhandels. Neben Wiederauflagen von Klassikern wie »Mein Familienlexikon« von Nathalia Ginzburg (1963/2020) dominieren vor allem Neuerscheinungen internationaler Autorinnen und Autoren, die ihre Familiengeschichten vor dem Hintergrund von Zeitgeschichte erzählen. Nur wenige Beispiele seien hier genannt: Ljudmila Ulitzkaja mit ihrem Roman »Die Jakobsleiter« (2017), Nino Haratischwili im Familien12 Die »literarischen Exkurse« im Buch zeugen davon.
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epos »Das achte Leben« (2014), Deborah Feldman betreibt mit »Überbitten« (2017) voluminös auf siebenhundert Seiten familiäre und ethnische Wurzelsuche. Auch jüngere Kriege wie der im ehemaligen Jugoslawien gaben mit erzwungenen Heimatverlusten Impulse zu Wurzelund Spurensuche, etwa »Die unerhörte Geschichte meiner Familie« (2017) von Miljenko Jergović. Den aus Bosnien/Herzegowina stammenden Saša Stanišić spülte die Flucht als Jugendlichen nach Deutschland. In der Sprache seiner nun neuen Heimat schreibt er über seine Wurzelsuche, die zur Identitätssuche wird. »Herkunft« heißt der Roman. Gleichlautend ist auch die biografische Erzählung des eine Generation älteren deutschen Dramatikers Botho Strauß. Im Kapitel »Herkunft und Identitätsstress – eine transgenerationale Dynamik« gehen wir auf die beiden Autoren näher ein. Biografiearbeit zeigt sich Lebensalter und Grenzen überschreitend als kulturelles Grundbedürfnis. Sie ist eine anthropologische Konstante, die in der Literatur zugleich Bühne wie Instrument findet. Erinnerungsarbeit erhellt den familiären Hintergrund. Nicht als Selbstzweck, sondern um sich selbst besser zu verstehen. Auch um zu erkennen, was einen antreibt oder hemmt. In den Erzählungen, Bildern und Berichten geht es auch um das Äußere. Doch es bleibt nicht dabei stehen. Vielmehr affiziert es unser Inneres, es weckt Gefühle oder ruft Konflikte hervor. Und immer provoziert es die innerseelische Auseinandersetzung. Die ist auch ein Motiv für den Kinderwunsch. »Kinder wollen«, so meinen Bleisch und Büchler in ihrem gleichlautenden Buch, »richtet sich oft explizit darauf, sich im eigentlichen Sinn ›fortzupflanzen‹ und ein eigenes Kind zu bekommen: zu sehen, ob man sich wiedererkennt und sich auf diese Weise womöglich auch selbst noch einmal neu entdeckt« (Bleisch u. Büchler, 2020, S. 64). Der Körper sei »nicht nur Biologie, sondern auch Erinnerung, Geschichte und Kultur«. Dazu zitieren sie aus dem Buch der Philosophin Millay Hyatt »Ungestillte Sehnsucht«: »In meinem Kinderwunsch spricht auch der Wunsch meiner Eltern, Großeltern und Ururururgroßeltern, nicht ster-
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ben zu wollen. Sprechen die Eindrücke, die ich bewusst und unbewusst mein Leben lang von Eltern-Kind-Beziehungen, von Schwangerschaft, Muttersein, Fürsorglichkeit und Reproduktion mitbekommen habe, in Form von Bildern, Erzählungen, eigener Erfahrung. Es sprechen Wertvorstellungen, Sehnsüchte, elementarer Fortpflanzungsdrang. Aus diesen unzähligen Fäden wob sich mein Wunsch zusammen« (Hyatt, 2012, S. 23). Die genealogische Ordnung – ist sie noch ein Kulturgut? Zumindest ist sie sehr infrage gestellt. Die Kritik an reaktionären Familienstrukturen und insbesondere am Patriarchat infolge der Kulturumbrüche seit der 1968er Bewegung befeuerte eine antigenealogische Haltung und befreite sich von der Last des Herkunftsgedankens (Sloterdijk, 2014). Mit dem antiautoritären Ansatz geht eine Absage an die als rückständig empfundene Kleinfamilien-Dogmatik der Psychoanalyse einher. Doch die gewonnene Freiheit hat ihren Preis in einer zunehmend fragmentiert erlebten Welt. Suche und Sehnsucht nach Kontinuität und verlässlichen emotionalen Bindungen wurden im Gegenzug bedeutsamer. Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann (2017) charakterisiert die neue Gegenwart als »flüchtige Moderne« und attestiert ihr eine »epidemische Nostalgie«. Psychoanalytisch kann ein nostalgischer Rückgriff als Abwehrmechanismus verstanden werden, als eine Gegenwehr gegen beschleunigte Lebensrhythmen und historische Umwälzungen. Menschen besinnen sich der eigenen Wurzeln, nicht nur um Gegenwart und Zukunft besser zu begreifen, sondern auch um sich Zeit und Raum für eigene Gestaltungsoptionen zu verschaffen. Kinder werden heute dahingehend erzogen, dass sie möglichst autonom, selbstmotiviert, vielseitig interessiert und eigensinnig werden. Der Soziologe Andreas Reckwitz sieht in der Erziehungspraxis der »Spätmoderne« ein Singularisierungsprogramm für Kinder: »Jedes Kind, so die Überzeugung, ist anders und besonders – und soll es sein. Jedes Kind gilt nun als ein ganz einzigartiges Ensemble von Begabungen, Potenzialen und Eigenheiten, zu deren Entfaltung es ermuntert werden sollte« (Reckwitz, 2017, S. 331).
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Dieser Anspruch einer »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz, 2017) gilt nicht nur für die Entwicklung von Kindern, sondern entspricht einem breiten gesellschaftlichen Konsens, auch eine Vielfalt von Familienformen zu fördern. In vielfältigen Identitätsbewegungen findet dies ein breites kulturelles Ausdrucksspektrum. Fraglich ist, ob das neue Selbstverständnis auslöschen kann, was als »genealogische Ordnung« über Epochen hinweg von Menschen verinnerlicht wurde.13 Unsere beruflichen Erfahrungen in therapeutischer Praxis und Klinik zeigen, dass Kinder und Heranwachsende nach ihrer Herkunft fragen. Die genetisch-biologische Dimension klammern sie dabei nicht aus. Selbstzeugnisse sogenannter Spenderkinder sowie literarisch verarbeitete Lebensgeschichten werden davon berichten. Zuvor aber ein grober Überblick über die Studienlage zu Kindern in »Familien mit multipler Elternschaft«.
Was sagt die Forschung? Was über »Spenderkinder« und ihre Eltern bekannt ist Sabine Walper, Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut München, resümiert ihre Literaturübersicht so: Es ist »festzuhalten, dass sich Kinder aus Keimzellenspende und Leihmutter schaft in der Regel unauffällig entwickeln. Auch die Befunde zur Entwicklung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit unterschiedlichen Methoden der Reproduktionsmedizin gezeugt wurden, konnten in der Regel keine Nachteile dieser Jugendlichen im Vergleich zu natürlich gezeugten Jugendlichen feststellen, weder in ihrer Verhaltensentwicklung und ihrem schulischen Erfolg 13 In der Covid-19-Pandemie fragt Reckwitz, ob die Kollision von Singularitäts- und Solidaritätsanspruch »möglicherweise nur ein Trainingsfeld für Kommendes« ist. Der Paradigmenwechsel zeige sich beim Impfverhalten ebenso wie beim Klimaschutz: »Das eigene Interesse soll sich heute dem kollektiven Wohl unterordnen« (Reckwitz, 2021, S. 6).
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noch in ihrer Beziehung zu den Eltern oder in ihrem Wohlbefinden« (Walper, 2018, S. 227). Auch die Studienergebnisse des international führenden Centre for Family Research der Universität Cambridge bestätigen, dass die Eltern-Kind-Bindung bei ausschließlich sozialer Elternschaft genau so stabil ist wie bei vollständiger, also sozialer plus genetischer Elternschaft. Wie in Adoptionsverhältnissen seien die Qualität der Beziehung und das soziale Umfeld einflussreicher für die psychische Entwicklung der Kinder als die Anzahl der Eltern, deren Geschlecht, sexuelle Orientierung, Grad der genetischen Verwandtschaft oder Art der Zeugung (Golombok, 2015). »Allerdings«, so relativiert Walper, »sind die bislang verfügbaren Erkenntnisse zu späteren Entwicklungsphasen – insbesondere zum Jugend- und jungen Erwachsenenalter noch begrenzt« (Walper, 2018, S. 226 f.). Petra Heymanns fasst ihren Überblick aktueller Studien aus dem angloamerikanischen Raum über Samenspender-Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare in einem Satz zusammen: »It does no harm – es schadet nicht« (Heymanns, 2016, S. 90). Und sie warnt davor, »vorschnell Rückschlüsse zu ziehen, was als ursächlich für eine Symptomatik oder Entwicklungsblockade eines Menschen zu verstehen ist« (Heymanns, 2016, S. 98). Als Beispiel beschreibt sie den Fall einer depressiven und zwanghaften Jugendlichen. Deren Symptomatik gründete nicht in der sexuellen Orientierung ihrer Mutter, sondern in Trennungsängsten, ausgelöst, als die Mutter bei der Trennung von ihrer gleichgeschlechtlichen Partnerin psychisch dekompensierte. Heymann appelliert allerdings auch, »nicht aus der Befürchtung, als homophob zu gelten, ins andere Extrem zu fallen und alles für ›ganz normal‹ zu erklären« (Heymanns, 2016, S. 99). Die in den Studien der Reproduktionsmedizin untersuchte Klientel ist zahlenmäßig meist sehr klein und wenig repräsentativ. Naturgemäß rekrutiert sie sich aus Kindern und Jugendlichen, die Kenntnis von der besonderen Art ihrer Abstammung haben. Das sind die allerwenigsten. Jedoch ist die Studienlage – und das sei unabhängig aller kritischen Einwände festgehalten – hin-
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reichend aussagekräftig, um die mitunter monströs und magisch anmutenden Vorurteile gegen Kinder der Reproduktionsmedizin als absurd zu widerlegen. Entlarvend für diverse Fantasien in der Gesellschaft waren Äußerungen der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff (2014) während einer öffentlichen Lesung. Sie nannte Kinder, die per Samenspende gezeugt wurden, »Halbwesen«. Nach breiter medialer Empörung relativierte sie später ihre Aussage. Unbestritten – und deckungsgleich mit der Adoptionsforschung – ist in der Fachwelt die Erkenntnis, dass eine frühe Aufklärung von »Spenderkindern« über die Art ihrer Zeugung sich positiv auf die familiären Beziehungen auswirkt. Geheimhaltung hingegen erzeugt ein Klima unerklärter Spannungen und Ablehnung (Riley, 2013). Die Kinder empfinden Misstrauen, Enttäuschung und das Gefühl, hintergangen worden zu sein (Scheib, Riordan u. Rubin, 2005). Ein kritischer Blick auf die Studienlage Von Befürwortern und Vertreterinnen alternativer Zeugungsmethoden wird die Studienlage oft überstrapaziert. Vor allem wird sie unzulässig generalisiert. Die Aussage, dass »Spenderkinder« nicht anders als »natürlich« gezeugte Kinder ihr Leben bewältigen, sie teilweise sogar bessere Bildungslaufbahnen als jene vorweisen, ist nicht anzuzweifeln. Doch über deren innerseelische Befindlichkeiten und langfristige Identitätsentwicklungen ist damit nichts gesagt. Entwicklungsprozesse sind nun mal nicht statisch. Ergebnisse über Kinder im Grundschulalter – und auf dieses Alter konzentrierten sich die Untersuchungen – sagen nur etwas über den Stand im Grundschulalter aus. Aus Adoptionsverhältnissen ist bekannt, dass sich das Eltern-Kind-Verhältnis der Anfangsjahre nicht ohne Weiteres auf die späteren Jahre übertragen lässt. Wenn im Jugendalter Fragen der Identitätssuche dominieren, kann die Eltern-Kind-Beziehung qualitativ völlig abweichend aussehen (vgl. Oelsner u. Lehmkuhl, 2008).
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Angesichts der dünnen Studienlage und der meist kleinen Stichproben beeindruckt ein ausgewertetes Kollektiv von 2.412.721 Personen, die zwischen 1969 und 2006 in Dänemark geboren wurden. Svahn und Mitarbeiter (2015) erfassten sie in einer groß angelegten Untersuchung und stellten fest, dass rund 5 % von ihnen ihre Existenz einer Fertilitätsbehandlung verdanken. Deren Risiko, wegen psychischer Störungen aufzufallen (genannt werden unter anderem ADHS, affektive Störungen, Schizophrenie), sei im Mittel um 23 % größer als bei Kindern von Eltern ohne Fertilitätsprobleme. Die plakativen Zahlen lassen indes völlig offen, welchen Zusammenhang es etwa geben könnte mit der Art der durchgeführten Fertilitätsmaßnahme. Auch wurde nicht thematisiert, dass problematische Persönlichkeitsmerkmale sowohl die Fertilität als auch die Beziehung zwischen Kindern und Eltern beeinträchtigen können. Die Studie beabsichtigte aber auch gar nicht, hierüber Zusammenhänge zu erforschen. Gerade bei unkonventionellen Eltern-Kind-Verhältnissen verlocken Datenmengen zu Begründungszusammenhängen, die vorschnell plausibel erscheinen. Beispielsweise ist bekannt, dass Adoptivkinder häufiger in psychotherapeutischer Behandlung sind als nicht adoptierte Kinder (vgl. Oelsner u. Lehmkuhl, 2008, S. 123 f.). Doch wofür spricht das? Für eine erhöhte seelische Verletzbarkeit dieser Kinder? Für eine erhöhte Sensibilität von Adoptiveltern für behandlungsbedürftige Befindlichkeiten ihrer Kinder? Zeugen die Zahlen von hoher Reflektiertheit der Adoptiveltern oder offenbaren sie deren niedere Hemmschwelle beim Gang zur Psychotherapiepraxis, wenn es nicht um »das eigene Fleisch und Blut« geht? Tabitha Freeman vom Centre for Family Research der Universität Cambridge fasst die Aussage über die Entwicklung von Kindern aus Laborzeugung, Samen- oder Eizellspende oder auch Leihmutterschaft so zusammen: »Der Forschungsstand ist mittlerweile eindeutig: Die Kinder in den neuen Familienformen unterscheiden sich nicht von anderen Kindern. Sie sind psychisch stabil, entwickeln sich in der Schule normal, haben Freundschaften. Das Verhältnis zu ihren Eltern ist gut. In einigen
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Studien zeigen sie sogar leichte Vorteile gegenüber herkömmlich gezeugten Altersgenossen. Das könnte damit zusammenhängen, dass im Labor gezeugte Kinder besonders gewünscht waren« (Freeman, 2017, S. 34). Untersuchungen über die Aufklärung der Kinder sowie über die Reaktionen in den Familien decken sich mit Erkenntnissen aus der Adoptionsforschung: Eine frühe Aufklärung wirkt sich positiv auf die familiären Beziehungen aus, während Geheimhaltung ein Klima unerklärter Spannungen und Ablehnung hervorruft (Riley, 2013). Im Klima von Anspannung, Geheimhaltung und Unsicherheit vermuten manche auch einen Grund für höhere Scheidungsraten bei Eltern von »Spenderkindern« (Owen u. Golombok, 2009). Studien tragen gerade bei einem ideologisch hoch besetzten Themenkomplex zur Versachlichung und Entmystifizierung bei. Doch bei einem in der Breite noch recht jungen Phänomen ist Vorsicht vor Verallgemeinerung geboten. Joseph Salzgeber, Sachverständiger für Forensische Psychologie, zieht aus einer Studienübersicht das Fazit, dass keine besonderen Auffälligkeiten bei Kindern aus Adoption, Reproduktionsmedizin und Regenbogenfamilien festzustellen seien. Relativierend kommentiert er die Übersicht aber so: »Diese im Allgemeinen beruhigenden Ergebnisse bedeuten aber nicht, dass diese statistischen Ergebnisse ohne weiteres auf den Einzelfall übertragen werden können. Jedes Kind erlebt seine individuelle Belastung in seiner Familie. Dies gilt aber auch für Normalfamilien« (Salzgeber, 2018, S. 184). Menschen in multipler Elternschaft, die wegen konkreter Probleme unsere fachliche Hilfe suchen, nützt es wenig zu hören, dass die meisten ihrer Vergleichsgruppe diese Probleme nicht haben. Studien sind wichtig als Bezugsgröße bei der Diagnosefindung, sie sind bedeutsam für unsere Haltung, begrenzt auch für die Prognose unseres therapeutischen Vorgehens. Den Einzelfall erklären sie nicht. Wenn in unseren Seminaren mit Adoptiveltern diese offen von großen Problemen mit ihren Kindern berichten, verunsichern Feststellungen, die nur in den Raum gestellt werden. Etwa diese: »Adoptivkinder weisen in Deutschland im
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Durchschnitt nicht mehr Verhaltensprobleme oder Bindungsstörungen auf als Kinder in Normalfamilien« (Walper u. Wendt, 2011, S. 211). Solche Forschungsergebnisse können natürlich nicht verschwiegen werden. Sie müssen aber präzisiert und relativiert werden. Sind sie zu häufig zu hören, können sie zur vorschnellen Selbstbezichtigung führen »Wir machen alles falsch!« Worum es Ratsuchenden immer geht, sind Fragen der Selbstpositionierung, Fragen nach der Zukunft. Bislang bestätigt sowohl unsere Berufs- wie Lebenserfahrung das Zitat des Philosophen Odo Marquard: »Zukunft braucht Herkunft« (2000, S. 66). Verein »Familiengründung mit Spendersamen« und Verein »Spenderkinder« Emsige Verbreiterin von Studien und Aufklärungsappellen – auch im Ethikrat – ist in Deutschland eine Vereinigung von Eltern, deren Vereinsname Programm ist: »DI-Netz e. V. – Familiengründung mit Spendersamen«. Es ist nachvollziehbar, dass ihnen als Betroffene Ergebnisse bedeutsam sind, die bestätigen, dass die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung durch die besondere Art der Zeugung nicht beeinträchtigt ist (Gameiro et al., 2011; Golombok, 2015). Im (Eltern-)Verein »DI-Netz« agieren sozusagen die handelnden Subjekte einer Zeugung durch Samenspende. Auf der anderen Seite finden sich in dem Verein »Spenderkinder« die »Objekte« der medizinisch assistierten Zeugungen, viele inzwischen im Alter zwischen zwanzig bis vierzig Jahren.14 Auch sie werden vom Ethikrat gehört, auch sie betreiben Öffentlichkeitsarbeit und stellen Studien und Lebensberichte ins Internet (www.spender14 Eine Formulierung von Auhagen-Stephanos deutet den Aspekt einer Eigen-Rehabilitation solcher Vereinstätigkeit an: »Der extrakorporal erzeugte Embryo, das Objekt der Technik, muss sich seinen Subjektcharakter erobern« (Auhagen-Stephanos, 2010, S. 160). Zum Wechsel vom Objekt zum Subjekt siehe auch Schlusskapitel »Gelingende Beziehungen stehen am Ende eines Prozesses. Über Ziele und Wege beim Herkunftspuzzle«.
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kinder.de). Ihre Forderung nach vorhergehender Beratungspflicht für Kinderwunscheltern – analog zur Adoption – sieht die DI-Lobby als eine Einschränkung elterlicher Handlungsautonomie. Die Positionen beider Vereine werden an verschiedenen Stellen der weiteren Kapitel erkennbar.
Nachkommenschaft ist mehr als Biologie. Aber Biologie ist sie auch Spenderkind Maria und ihre Gedankenspiele Manchmal galoppiert die Fantasie mit Medizinstudentin Maria im Hörsaal davon. Vor allem, wenn ein bestimmter Dozent referiert. Den findet sie besonders sympathisch. Statt dem Lehrstoff zu folgen, scannt sie die Gesichtszüge des Mediziners, versucht im Klang seiner Stimme regionale Merkmale zu identifizieren, und im Kopf überschlägt sie den Altersunterschied zwischen ihm und ihr. Ja, es könnte hinkommen, dass der nette Dr. X ihr Vater ist. »Spinnerei«, sagt sie sich dann jedes Mal. Das sagt sie auch im Interview, wenn sie die Episode wiedergibt und sich vom Gedankenspiel distanziert. Doch augenzwinkernd schickt sie hinterher: »Ist aber eine schöne Spinnerei! Ab und zu brauche ich sie.«15 Maria ist ein sogenanntes Spenderkind. Sie war schon Mitte zwanzig, als sie Kenntnis bekam, dass der Mann, den sie von klein auf Papa nennt, nicht ihr genetischer Vater ist. Inmitten einer Neurologievorlesung war ihr schlagartig klar geworden, dass ein Mann mit der Behinderung ihres Vaters nicht zeugungsfähig sein kann. Ein Unfall weit vor ihrer Geburt hatte ihn nicht nur der Gehfähigkeit beraubt. Sie stellte ihre Mutter zur Rede und erfuhr von der Samenspende eines anonymen Mannes, dank derer ihre Eltern sich ihren Kinderwunsch erfüllten. Nie im Ernst war Maria der Gedanke gekommen, nicht leibliche Tochter beider Elternteile zu sein. Zwar hatten sie und ihre 15 Aus einer Fallvignette von Oelsner und Lehmkuhl (2016, S. 178 ff.).
Nachkommenschaft ist mehr als Biologie. Aber Biologie ist sie auch
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Schwester als Kinder vorm Spiegel oft und vergeblich nach Ähnlichkeitsmerkmalen mit dem Vater gesucht. Doch ihr gegenseitiges Necken, »Kind vom Postboten« zu sein, blieb ein kindlicher Spaß. Als Maria mit 24 Jahren erfuhr, dass die Idee vom »fremden Vater« so abwegig nicht war, war sie geschockt und geriet in eine schwere Krise. Sie suchte therapeutische Hilfe und konnte eine Depression abwehren. Inzwischen ist sie darüber hinweg. Sie ist nun Ärztin, verheiratet, gebar Kinder – in der Gewissheit, mit ihrem Mann zweifelsfrei das genetische Elternpaar zu sein. Marias Eltern sind nun glückliche Großeltern. Überhaupt habe sie prima Eltern. Dass ihr sozialer Vater nicht ihr genetischer Erzeuger ist, macht sie nicht mehr sprachlos. Irgendwann hatte sie sich mal in einem Brief an ihn leidenschaftlich für seine soziale Vaterrolle bedankt. Er selbst schien diese lange Zeit nie infrage gestellt zu haben. Nach diesem Brief erfuhr Maria ihrerseits eine Wertschätzung durch ihren Vater, die sie als Kind oft vermisst hatte. »Geht doch!«, können Verfechterinnen und Verfechter der Reproduktionsmedizin mit Blick auf Maria und ihre Familie sagen. Nicht die Genetik macht Verwandtschaft aus. Ihr genealogischer Stellenwert wird überhöht und erweist sich eher als ein gesellschaftliches Konstrukt. Das kann überwunden werden. Sogar recht gut, wie Marias Familie zeigt. Festlegungen und Traditionen zu hinterfragen gehört zur Dynamik des Lebens. Auch Auffassungen von Familie und Verwandtschaftsbezügen sind nicht in Stein gemeißelt. Aufgeklärte Menschen definieren sich nicht über Blutsbande. Abschied von stammesgeschichtlichem Denken und biologischer Präjudizierung gilt als Fortschritt. »Fortschritt«, wörtlich genommen, bedeutet, aus angestammten Positionen fortzuschreiten. Menschen lassen sich auf eine Wegstrecke, auf einen Prozess ein. Zwangsläufig können dessen Ergebnisse nicht am Anfang des Wegs liegen – eine banale, doch keineswegs belanglose Feststellung, wenn später von den Tücken auf der Wegstrecke zu reden sein wird.
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Nachkommenschaft ist mehr als Biologie. Aber Biologie ist sie auch. Anfangs ganz und gar. Sie ursprünglich zu denken – im Wortsinn heißt das, sie »primitiv« zu denken – ist nicht allein Kindern zugestanden. Mitnichten. Blutsverwandtschaft behält ihre Bedeutung nicht nur in der überholt erscheinenden Welt des Adels. Blut, wenn es denn »blau« ist, gilt ihm bis heute als konstituierendes Kriterium. Modernisiertes Abstammungsrecht will die biologische Bedeutung festhalten Der Deutsche Bundestag nahm im Mai 2021 überraschend die Entscheidung über die »Reform des Abstammungsrechts« von der Tagesordnung. Breite Kreise erwarten indes die Umsetzung der Reform in naher Zeit. Die Presseerklärung des Justizministeriums zum Entwurf der Reform hebt zu Beginn zwei Aspekte hervor: die Priorität der »genetisch-biologischen Verwandtschaft« sowie das Festhalten am »Zwei-Eltern-Prinzip«. Dies ist insofern bemerkenswert, weil die »Reform des Abstammungsrechts« gerade die neuen, multiplen Formen von reproduktionsmedizinisch gestützter Elternschaft akzeptiert und ihnen Rechtssicherheit geben will. So soll etwa eine Frau in gleichgeschlechtlicher Ehe als »MitMutter« automatisch Elternstellung erhalten, wenn ihre Partnerin ein Kind zur Welt bringt. Im Wortlaut heißt es (BMJV, 2019): »Die abstammungsrechtliche Zuordnung soll weiterhin in erster Linie an die genetisch-biologische Verwandtschaft anknüpfen, denn diese ist ein wichtiges Band zwischen Eltern und Kindern. Darüber hinaus stimmt diese Zuordnung weiterhin in der Mehrzahl der Fälle mit der tatsächlichen Familienkonstellation überein. Insbesondere soll die Stellung als Mutter weiterhin unanfechtbar bleiben. Außerdem halten wir am Zwei-Eltern-Prinzip fest. Einem Kind sollen also auch künftig nicht mehr als zwei Eltern zugeordnet werden können. Der Arbeitskreis Abstammungsrecht hat darauf hingewiesen, dass aus einer Vollelternschaft
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von mehr als zwei Personen zahlreiche Probleme erwachsen können, wenn diese sich nicht einig sind.« Auch im deutschen Familienrecht bleibt die genetische Abstam mung bedeutsam. Eheschließung und Lebenspartnergemeinschaft unter biologisch nahen Verwandten sind weiterhin un zulässig. Ebenso bleibt beim Erbrecht das traditionelle Verwandtschaftsverhältnis gültig. Schon manch ahnungsloser Erbe sah sich allein durch biologische Verwandtschaft unvermittelt mit einer ihm völlig unbekannten erblassenden Person verbunden. Ohne Testament zählt auch in modernen Gesellschaften nachrangige Blutsverwandtschaft bei der gesetzlichen Erbfolge mehr als eine jahrelange tiefe soziale Verbundenheit. Manche Machtpotentaten sehen gar ihr Volk im Blut verbunden. Keineswegs metaphorisch, sondern gefährlich wird es, wenn sie »reines Blut« beschwören und oppositionellen Kräften »verunreinigtes Blut« attestieren.16 Aufgeklärte Gesellschaften hingegen interpretieren »Brüderlichkeit« – etwa im Text der deutschen Nationalhymne – nicht als »Blutsbrüderschaft«. Die Überwindung biologischen Stammesdenkens gehört mit zur Aufklärung. Doch Überwinden heißt nicht Tilgen. Das, was anfangs war, verschwindet nicht automatisch mit dem erweiterten, reiferen, integrierten Blick auf die Wirklichkeit. Auch Kollektive können, ähnlich wie Individuen, auf frühere, überwunden geglaubte Positionen regredieren. Besonders in Krisen. Kindliche Gedankenspiele sind Hilfe zur Weltbewältigung Auch »Spenderkind« Maria regrediert gelegentlich zu »verrückten Gedankenspielen« wie jenen im Hörsaal. In solchen Momenten lässt sie Spekulationen um ihren genetischen Vater freien Lauf. Die Vernunft in ihr kann sich davon distanzieren. Aber Vernunft, 16 Nach dem Putschversuch in der Türkei bediente sich der dortige Staatspräsident dieser Freund-Feind-Kategorien.
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so spürt sie, reicht als Antwort nicht immer. Vor allem nicht, wenn Sehnsüchte hochkommen. Inzwischen betrachtet Maria ihr Gedankenspiel mit Augenzwinkern. Doch so harmlos war das nicht immer. Damals, nach der Offenlegung ihrer genetischen Herkunft, war es kein Spiel, sondern eine Erschütterung. Plötzlich stellten sich für sie auch andere Selbstverständlichkeiten infrage. Sie sah sich zurückgeworfen in die Zeit der Irritationen ihrer Kindertage. Damals war ihr – mal wütend, mal bange – durch den Kopf gegangen: »Hier stimmt doch was nicht!« Wie das bei allen Kindern gelegentlich vorkommt, wenn sie bei unzähligen Alltäglichkeiten prüfen, ob sie ihrer eigenen Wahrnehmung trauen können. Maria konnte dies nicht mehr so unbefangen, nachdem sie im Vorschulalter in der »Sendung mit der Maus« mal einen Beitrag über Adoption gesehen hatte. Nicht die Sendung hatte sie irritiert, sondern die verwunderlich strenge Antwort ihrer Mutter auf Marias Frage, ob sie vielleicht auch adoptiert sei. Kinder stellen solche Fragen ohne konkreten Verdacht. Als examiniere sie »der Leibhaftige«, habe die Mutter in völlig überzogenem Tonfall geantwortet: »Du bist meine Tochter!« Zu mehr war sie nicht in der Lage. Es sollte zwanzig Jahre bis zur Aufklärung über ihren Spenderkind-Status dauern, ehe Maria sich den damaligen Ausnahmezustand ihrer Mutter erklären konnte. Zwanzig Jahre lang stand Unerklärliches, Unaussprechliches zwischen Tochter und Mutter. Als Erwachsene verlangt Maria sich ab, die Irritationen der Kindheit abzulegen. Auch lässt ihre liberale Einstellung Samenspenden nicht verwerflich finden. Doch nicht immer kann sie das zermürbende Grübeln um ihren unbekannten Erzeuger ignorieren. In solchen Momenten locken Fantasieausflüge, sich fremde Männer als ihren genetischen Vater vorzustellen. Zugleich spürt sie, dass das einer intelligenten, modernen, jungen Frau nicht angemessen ist. Inzwischen weiß sie, dass solch ein Einwand ihrer Vernunft müßig ist. Solche Gedanken verschaffen sich immer Platz. Genealogische Themen verschwinden nicht dadurch, dass wir sie ideologisch für überholt halten. Existenzielle Fragen richten
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sich nicht danach, was Vernunft, Ideologie oder Zeitgeist vorgeben. Fragen nach Leben und Tod sind epochenübergreifend gültig. Und die begleitenden Affekte fragen zuvorderst nicht nach der Vernunft. Die Frage nach der eigenen Herkunft ist von existenzieller Qualität. Bei Adoptiv- und »Spenderkindern«, die ihre genetischen Erzeuger nicht kennen, können solche Fragen zu drängenden Lebensthemen werden.17 Doch auch Menschen, die sich ihrer leiblichen Eltern gewiss sein dürfen, spekulieren phasenweise über ihre genetische Herkunft, unabhängig von der Qualität der Beziehung in einer Familie und unabhängig davon, ob der Begriff »Gene« ihnen überhaupt vertraut ist. So ist es normal und nicht etwa Ausdruck einer Störung, wenn Kinder während ihrer ersten Identifikations- und Loslösungsprozesse im Vorschulalter zuweilen den Verdacht hegen, sie seien damals auf der Entbindungsstation vertauscht worden. Sigmund Freud (1909) beschreibt solche Vertauschungsfantasien im »Familienroman der Neurotiker« als normale Reaktion von Kindern, bevorzugt in Konfliktsituationen. Sie basiert auf einer vom Kind noch nicht vollzogenen Integration der »bösen« und »lieben« Anteile der Eltern. Beispielsweise »löst« es die Kränkung, etwas nicht zu bekommen, durch eine vorübergehende Spaltung. Die folgt der vermeintlichen Logik: »Meine ›echten Eltern‹ sind lieb, die wären nie so böse, mir das und dies zu verweigern.« Die Illusion eines ausschließlich lieben, 17 Donald Winnicott (1953/2000, S. 174) hat diesen Drang so beschrieben: »Man kann es von ganz verschiedenen Seiten her betrachten, aber die Tatsache bleibt, dass die Eltern, die sie gezeugt und empfangen haben, unbekannt und unerreichbar sind und dass die bestehende Beziehung zu ihren Adoptiveltern nicht an die entwicklungsgeschichtlich frühesten Schichten ihrer Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme heranreicht.« Auch bei Adoptiveltern kann die Vertauschungsfantasie des Kindes Selbstzweifel evozieren, sie hätten sich als nicht ausreichend gute Ersatzeltern erwiesen. Bei Elternschaft nach Fremdgametenspende können sich Gedanken um die »technisierte Urszene des Zeugungsakts« und die Tatsache, dass das Kind nicht das ursprünglich »imaginierte Kind« ist, aufdrängen (Lebersorger, 2018, S. 616).
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gewährenden Elternbildes wird dann aufrechtgehalten durch schroffe Äußerungen wie »Du bist gar nicht meine Mama!« oder »Der Papa soll tot sein!«. Auch wenn solch ein Affektdurchbruch vom Kind im jeweiligen Augenblick real so empfunden wird, ist die Situation nicht dramatisch. Eltern können auch gelassen darüber hinweggehen. Erst recht, insofern sie über den Durchgangscharakter dieser Entwicklung informiert sind. Die Situation trifft sie bei leiblichen Eltern-Kind-Verhältnissen anders als in solchen Fällen, in denen der »Austausch« von Eltern oder eines Elternteils einen realen Hintergrund hat, wie es bei Adoption oder Fremdsamenspende immer der Fall ist. Irritationen um die genetische Herkunft werden indes nicht nur durch solche inneren Impulse angestoßen. Auch von außen, etwa als Provokation durch andere Kinder, werden sie entfacht. Selbst wenn der kindliche Verstand die Unhaltbarkeit der zänkischen Spekulation erkennt und sich in der aktuellen Situation dagegen wehrt, kann die einmal ins Bewusstsein gebrachte Vorstellung in den Stunden danach weiter gären. Immer wieder fragt sie, ob da nicht doch was dran sein könnte. Davon zeugt das nachfolgende Beispiel aus der Literatur.
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Literarischer Exkurs 1: Eine Irritation des kleinen Goethe als typisches Beispiel kindlicher Herkunftsfantasien Charakteristisch und wegen des Zeitabstands von rund 250 Jahren geeignet, ihre Allgemeingültigkeit für kindliche Entwicklung zu zeigen, ist eine Episode aus Goethes Autobiografie »Dichtung und Wahrheit«. Goethe, der von Freuds Entdeckung des Unbewussten noch nichts wissen konnte, spricht von »wundersame[n] Betrachtungen in mir […], die denn nicht ohne Folgen bleiben konnten« (Goethe, 1962, S. 62). Die episch beschriebene Szene reduzierte sich heute womöglich auf die Wiedergabe einer Schulhofepisode, in der ein Junge beleidigt wird, ein »Hurensohn« zu sein. In Goethes autobiografischer Notiz gilt die Schmähung seiner Rolle als Enkel. Er, damals ein Junge von etwa zehn Jahren, Kind aus dem gehobenen Frankfurter Bildungsbürgertum, hatte sich mancher Streitigkeiten mit Gleichaltrigen zu erwehren. Psychologie und Dynamik der Begebenheit nähme sich heute nicht anders aus als damals zur Zeit der Perückenzöpfe: »Ein gut gesinntes, zur Liebe und Teilnahme geneigtes Kind weiß dem Hohn und dem bösen Willen wenig entgegenzusetzen. Wenn ich die Tätlichkeiten meiner Gesellen so ziemlich abzuhalten wusste, so war ich doch keineswegs ihren Sticheleien und Missreden gewachsen, … sie regten wundersame Betrachtungen in mir auf, die denn nicht ohne Folgen bleiben konnten« (Goethe, 1962, S. 62). Die »wundersamen Betrachtungen«, die den kleinen Wolfgang aufregten, waren von außen provozierte Verunsicherungen seiner genealogischen Gewissheit. Grund zum Zweifel hatte er bislang nicht gehabt. Im Gegenteil. Er war sich seiner Herkunft sicher und gefiel sich in der Rolle eines Enkels – mütterlicherseits – des Frankfurter Bürgermeisters (Schultheiß). Auf diese kindliche Eitelkeit zielten die »Sticheleien und Missreden« seiner »Gesellen«. »Als ich mir einmal nach gehaltenem Pfeifergerichte etwas darauf einzubilden schien, meinen Großvater in der Mitte des Schöffenrats, eine Stufe höher als die andern, unter dem Bilde des Kaisers gleichsam thronend gesehen zu haben, so sagte einer der
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Knaben höhnisch: ich sollte doch, wie der Pfau auf seine Füße, so auf meinen Großvater väterlicher Seite hinsehen, welcher Gastgeber zum Weidenhof gewesen und wohl an die Thronen und Kronen keinen Anspruch gemacht hätte« (Goethe, 1962, S. 62). Das Bild von den hässlichen Füßen des ansonsten prächtigen Pfaus war ein – objektiv haltloser – Verweis auf angebliche Schatten in der Vita von Wolfgangs Großvater. Der aus der väterlichen Linie war ein Gastwirt: »Ich erwiderte darauf, dass ich davon keineswegs beschämt sei, weil gerade darin das Herrliche und Erhebende unserer Vaterstadt bestehe, dass alle Bürger sich einander gleich halten dürften, und dass einem jeden seine Tätigkeit nach seiner Art förderlich und ehrenvoll sein könne. Es sei mir nur leid, dass der gute Mann schon so lange gestorben: denn ich habe mich auch ihn persönlich zu kennen öfters gesehnt, sein Bildnis vielmals betrachtet, ja sein Grab besucht und mich wenigstens bei der Inschrift an dem einfachen Denkmal seines vorübergegangenen Daseins gefreut, dem ich das meine schuldig geworden. Ein anderer Misswollender, der tückischste von allen, nahm jenen ersten bei Seite und flüsterte ihm etwas in die Ohren, wobei sie mich immer spöttisch ansahen. Schon fing die Galle mir an zu kochen, und ich forderte sie auf, laut zu reden. – ›Nun, was ist es denn weiter‹, sagte der erste, ›wenn du es wissen willst: dieser da meint, du könntest lange herumgehen und suchen, bis du deinen Großvater fändest.‹ – Ich drohte nun noch heftiger, wenn sie sich nicht deutlicher erklären würden. Sie brachten darauf ein Märchen vor, das sie ihren Eltern wollten abgelauscht haben: mein Vater sei der Sohn eines vornehmen Mannes, und jener gute Bürger habe sich willig finden lassen, äußerlich Vaterstelle zu vertreten … Aber ich versetzte ganz gelassen: auch dieses könne mir recht sein. Das Leben sei so hübsch, dass man völlig für gleichgültig achten könne, wem man es zu verdanken habe: denn es schriebe sich doch zuletzt von Gott her, vor welchem wir alle gleich wären. So ließen sie, da sie nichts ausrichten konnten, die Sache für diesmal gut sein; man spielte zusammen weiter fort, welches unter Kindern immer ein erprobtes Versöhnungsmittel bleibt« (Goethe, 1962, S. 63).
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Der Verweis auf bürgerliche Gleichheit, mit der der kleine Goethe die Bosheit der Spielkameraden parierte, dürfte jeden erfreuen, der demokratische Erziehungsziele hegt. Und der weitere Teil seiner Antwort, in der er einem kleinfamiliären Abstammungsdenken einen übergeordneten Schöpfungsgedanken entgegenhält, hätte heute Chancen, in Ratgebern abgedruckt zu werden. So wie zweieinhalb Jahrhunderte später der Kurzvortrag eines Elfjährigen, der seine Schulklasse über seine Entstehung durch Fremdsamenspende aufklärt. Seine alleinerziehende Mutter zitiert ihn in einem vom Verein DI-Netz herausgegebenen Elternratgeber so: »Er erläuterte, dass unfruchtbare Paare und Frauen ohne Männer durch Samenspende Kinder bekommen können. Es ging weiter mit Ethik, Menschenrechten und wann ein Leben beginnt.« »Das Feedback der Klasse war gut«, lässt sie noch verlauten, »sein Vortrag wurde zum interessantesten gewählt, und er bekam eine gute Note!« (DI-Netz, 2016, S. 35). »Gute Noten« waren für den im Hausunterricht groß gewordenen zehnjährigen Goethe kein Thema. Doch das Erlebte ließ etwas anderes in ihm zurück. Empörte ihn auch der familiäre Bastard-Vorwurf, so gefiel ihm doch die denkbare Konsequenz, ein Kind »von Adel« zu sein: »Mir war jedoch durch diese hämischen Worte eine Art von sittlicher Krankheit eingeimpft, die im Stillen fortschlich. Es wollte mir gar nicht missfallen, der Enkel irgend eines vornehmen Herrn zu sein, wenn es auch nicht auf die gesetzlichste Weise gewesen wäre. Meine Spürkraft ging auf dieser Fährte, meine Einbildungskraft war angeregt und mein Scharfsinn aufgefordert. Ich fing nun an, die Aufgaben jener zu untersuchen, fand und erfand neue Gründe der Wahrscheinlichkeit. Ich hatte von meinem Großvater wenig reden hören, außer dass sein Bildnis mit dem meiner Großmutter in einem Besucherzimmer des alten Hauses gehangen hatte, welche beide, nach Erbauung des neuen, in einer oberen Kammer aufbewahrt wurden. Meine Großmutter musste eine sehr schöne Frau gewesen sein, und von gleichem Alter mit ihrem Manne. Auch erinnerte ich mich, in ihrem Zimmer das Miniaturbild eines schönen Herrn, in
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Uniform mit Stern und Orden, gesehen zu haben, welches nach ihrem Tode mit vielen andern kleinen Gerätschaften, während des alles umwälzenden Hausbaues, verschwunden war« (Goethe, 1962, S. 63 f.) Idealisierung statt Leerstelle Ein »schöner Herr in Uniform mit Stern und Orden« war sozusagen des kleinen Wolfgangs Fantasie-Pendant zu Marias nettem Medizindozenten. Wolfgang und Maria reihen sich mit ihren Fantasien über die Epochen hinweg in die Schar der Kinder ein, bei denen mindestens ein Eltern- oder Großelternteil Anlass zu Spekulationen gibt. Sie wollen die »Leerstelle« mit dem Bild einer konkreten Person füllen. Und verlockend ist es, Ansehen und Rang des tatsächlich oder vermeintlich Unbekannten hoch anzusiedeln. Fehlende Kenntnis bedeutet ja auch Freiheit der Imagination. Manche Niederung in der realen Welt lässt sich damit als erträglich »wegfantasieren«. Auch im Märchen entpuppt sich so mancher Müllerbursch als Königssohn. Studentin Justine, ein »Spenderkind« aus Frankreich, erinnert sich an Fantasien ihrer Kindheit: »Ich lebte völlig in meiner Phantasie, dass ich irgendwo einen zweiten Vater hatte. […] Ich war also eine Prinzessin, und mein zweiter Vater war ein König, den ich in meinen Träumen traf. Papa (gemeint ist ihr sozialer Vater) war für mich mein Adoptivvater, aber er war nicht mein Vater« (Kermalvezen, 2009, S. 103). Anders als Medizinstudentin Maria war Justine, ebenso wie ihre zwei Geschwister, früh über ihren Zeugungsstatus aufgeklärt worden. Da alle drei Kinder von verschiedenen, unbekannten Samenspendern stammen, begaben sie sich zuweilen in einen »Phantom-Wettbewerb« um den höchstrangigen Vater. Einmal sagte sie trotzig zu ihrem Bruder: »Mein Spender ist Gott, es ist Jesus!« (Kermalvezen, 2009, S. 118). Eissler zitiert in seiner psychoanalytischen Studie über Goethe ein ähnlich klingendes Selbstzeugnis des schon hochbetagten Dichters über seine Kindheit: »Man hätte mir eine Krone auf-
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setzen können; und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst« (Eissler, 1983, S. 725). Die Aura des Auserwähltseins bietet sich gern als Antwort auf biografisch offene Fragen an. Und dafür, dass sie hochkommen, ist es unerheblich, ob es tatsächliche Leerstellen wie bei anonymen Adoptionen oder Gametenspenden gibt, ob, wie beim zehnjährigen Goethe, Neckerei und Boshaftigkeit von außen den Anstoß geben, oder ob sie allein Produkt der kindlichen Fantasie sind. Allerdings ist die biografische Wirklichkeit bedeutsam für Qualität, Wirkung und Nachhaltigkeit der Antworten, die das Kind darauf findet. Im Kapitel über »Parentifizierung« wird dies näher problematisiert. Gott hier, Herren mit Krone, Orden oder Professorentitel dort – letztlich weiß der Intellekt der Kinder um das Irreale ihrer Vorstellung.18 Doch der verführerische Sog des Irrealen zeigt reale Wirkung. Goethe resümiert: »Solche wie manche andre Dinge baute ich mir in meinem kindischen Kopfe zusammen, und übte frühzeitig genug jenes moderne Dichtertalent, welches durch eine abenteuerliche Verknüpfung der bedeutenden Zustände des menschlichen Lebens sich die Teilnahme der ganzen kultivierten Welt zu verschaffen weiß« (Goethe, 1962, S. 64). Nicht jedes Kind wird aus ähnlichen Konstellationen den Gewinn eines zukünftigen Dichters ziehen können. Schwierig wird es, wenn Kinder beim Abgleich von Realität und Fantasie nicht mehr zur Ruhe kommen, wenn sie sich in variierenden Vorstellungen verbeißen und die Irritationen so groß werden, 18 Abstammungs- und Auserwähltheitsfantasien von Kindern sind keineswegs per se pathologisch, sondern Durchgangsphasen gesunder Entwicklung. Als wolle Goethe einem psychologischen Verständnis von Kinderentwicklung hundert Jahre vorgreifen, beugt er einer Fehlinterpretation als Verrücktheit vor und lässt dem Zitat mit der Krone diesen Nachsatz folgen: »Und doch war ich gerade dadurch nur ein Mensch wie andere. Aber dass ich das über meine Kräfte Ergriffene, das über mein Verdienst Erhaltene zu verdienen suchte, dadurch unterschied ich mich bloß von einem wahrhaft Wahnsinnigen« (Goethe, 1826, S. 479).
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dass das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung verkümmert. Schließlich betreiben sie diese Gedankenspiele meist allein, in »heimlicher Betriebsamkeit«, wie Goethe rückblickend feststellt: »Da ich nun aber einen solchen Fall niemanden zu vertrauen, oder auch nur von ferne nachzufragen mich unterstand, so ließ ich es an einer heimlichen Betriebsamkeit nicht fehlen, um wo möglich der Sache etwas näher zu kommen. Ich hatte nämlich ganz bestimmt behaupten hören, dass die Söhne den Vätern oder Großvätern oft entschieden ähnlich zu sein pflegten. Mehrere unserer Freunde, besonders auch Rat Schneider, unser Hausfreund, hatten Geschäftsverbindungen mit allen Fürsten und Herren der Nachbarschaft, deren, sowohl regierender als nachgeborener, keine geringe Anzahl am Rhein und Main und in dem Raume zwischen beiden ihre Besitzungen hatten, und die aus besonderer Gunst ihre treuen Geschäftsträger zuweilen wohl mit ihren Bildnissen beehrten. Diese, die ich von Jugend auf vielmals an den Wänden gesehen, betrachtete ich nunmehr mit doppelter Aufmerksamkeit, forschend, ob ich nicht eine Ähnlichkeit mit meinem Vater oder gar mit mir entdecken könnte; welches aber zu oft gelang, als dass es mich zu einiger Gewissheit hätte führen können. Denn bald waren es die Augen von diesem, bald die Nase von jenem, die mir auf einige Verwandtschaft zu deuten schienen. So führten mich diese Kennzeichen trüglich genug hin und wider. Und ob ich gleich in der Folge diesen Vorwurf als ein durchaus leeres Märchen betrachten musste, so blieb mir doch der Eindruck, und ich konnte nicht unterlassen, die sämtlichen Herren, deren Bildnisse mir sehr deutlich in der Phantasie geblieben waren, von Zeit zu Zeit im stillen bei mir zu mustern und zu prüfen« (Goethe, 1962, S. 64). Um die »Bildnisse der Herren von Zeit zu Zeit im zu stillen prüfen« betrachten Kinder heute nicht mehr die Ahnenporträts an der Wand. Das Internet erhöht die Zahl der Vergleichsobjekte ins Unbegrenzte. Allein bleiben sie dabei meist weiterhin.
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Literarischer Exkurs 2: Dani Shapiros »Inheritance« – die Anstrengung einer späten Aufdeckung Ein Vierteljahrtausend nach der Selbsterforschung des zehnjährigen Goethe wird eine vergleichbare Szene eines ungefähr gleichaltrigen Kindes, ein Mädchen, erneut Gegenstand von Literatur. Anders als der spätere Dichter vergleicht es sich nicht mit Ahnenporträts, sondern beim Blick in den Spiegel mit sich selbst. Minuten lang verharrt es, prüft Wangen, Augen, Kinn – so lange, bis es meint, ein anderes Gesicht zu sehen. »Ein Gesicht, das mir ein wahreres Gesicht hinter meinem eigenen zu sein schien«, wird es viereinhalb Jahrzehnte später schreiben. Da ist es längst eine etablierte Autorin und als Dani Shapiro (2019) nicht nur in der amerikanischen Literaturwelt bekannt. »Inheritance« heißt ihr autobiografisch geprägtes Buch, das sie ausdrücklich als nicht fiktionale Literatur deklariert. »Vererbung« wird vermutlich eines Tages der Titel einer deutschen Ausgabe lauten. Indes halten die Nachschlagewerke für »Inheritance« weitere Übersetzungsvarianten bereit. »Erbe, Ererbtes, Beerbung, Erbmasse« wären Wortbedeutungen, die zur Mehrschichtigkeit des Sujets passten. Mehrdeutig ist eingangs schon die Widmung: »Dieses Buch ist für meinen Vater.« Aus zahlreichen Interviews mit der Autorin weiß ihre Leserschaft hingegen längst, dass zwei Männer mit Vater-Attributen im Zentrum dieser persönlichen Lebensgeschichte stehen, der soziale und der genetische Vater der Autorin. Dani Shapiro ist Mitte fünfzig, als die Rückmeldung eines Gentests im Internet – ein in den USA beliebtes Geschenk unter Erwachsenen – das Selbstverständnis ihrer bislang nie angezweifelten Abstammung völlig irritiert. Die mehr als Spiel gedachte Aktion tritt bei ihr eine Recherche los, an deren Ende sie erfährt, dass sie ihre Existenz einer Samenspende in den 1960er Jahren verdankt. Ihre Konfusion ist auch deshalb so groß, weil Zugehörigkeit und Geborgenheit im genealogischen Kontinuum für sie nie zu hinterfragen war. In der Tradition ihrer jüdischen Familie zu stehen, war identitätsstiftend.
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»Ich habe mich sehr mit meinen Wurzeln verbunden gefühlt. Nun waren sie gekappt«, sagt sie im Interview (Shapiro, 2020). Gleichlautende Äußerungen fallen oft in Gesprächen mit Menschen, die erst spät, als Jugendliche, junge Erwachsene, mitunter selbst schon Eltern, erfahren, dass ihr sozialer Vater nicht ihr genetischer Erzeuger ist.19 Fragen, Irritationen, Erschütterungen, aber auch Bewältigungs- und Aussöhnungsbemühungen dieser sogenannten Spenderkinder finden sich bei Shapiro in romanhafter Verdichtung geradezu exemplarisch wieder. Späte Offenlegungen von Familiengeheimnissen verlangen den beteiligten Menschen seelische Anstrengungen ab. Denn eine späte Enttarnung der biologischen Herkunft stellt auch vieles andere infrage. Nicht immer und nicht bei allen können hinreichende Ressourcen für eine derartige Aufgabenbewältigung als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Was eine erfahrene Autorin literarisch verarbeiten kann, kann sich bei anderen auch sehr ausagierend zeigen. »Vererbung ist mehr als das Aufdecken von Familiengeheimnissen. Es ist ein prüfender Blick darauf, was Identität zu einer Zeit bedeutet, in der jeder die Genealogie-Box der Pandora öffnen kann«, zitiert die Autorin eine Rezension der Los Angeles Times zu »Inheritance« auf ihrer Homepage.20 Außer für ethische, juristische, politische und andere Diskurse springen aus dieser »Box« viele Fragen vor allem den mit fremden Keimzellen gezeugten Kinder entgegen. »Gespaltene Elternschaft«21 bedeutet für Kinder – auch noch wenn sie erwachsen sind – seelische Anstrengung, oft auch Kon19 In unserer Publikation »Spenderkinder« zeugen davon unter anderem die Lebensskizzen von Anja, Franziska, Frank, Maria, Stina (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 71–193). 20 https://danishapiro.com/books/inheritance/ 21 Der Begriff »gespaltene Elternschaft« wird hier in Anlehnung an den Begriff »gespaltene Mutterschaft« gewählt. Mit dem begründet der Deutsche Ethikrat (2016, S. 10) die Ablehnung von Embryonenspenden. Auch Eizellspenden sind – anders als Samenspenden – in Deutschland verboten.
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flikt. Daran müssen sie nicht zerbrechen, aber sie haben daran zu arbeiten. Einen Eindruck von der Dimension solch psychischer Prozesse vermitteln Shapiros Interviews, die sie seit der Entdeckung ihrer biologischen Herkunft gibt und mit denen sie ihr Buch promotet. Ihre erste Reaktion auf den Hinweis der DNA-Analyse, die ihr statt der erwarteten 100 % nur die Hälfte jüdischer Erbanteile attestierte, ist Leugnung: »Im Labor ist wohl was durcheinandergeraten, das muss ein Fehler sein.« Ihre Verwurzelung im familiären Narrativ ließ zunächst keine andere Erklärung zu. Shapiro: »Unsere Identitäten werden ja geprägt von den Geschichten, die wir von klein auf über uns und unsere Herkunft erzählt bekommen, und meine Identität beruhte darauf, dass ich das biologische Kind meiner Eltern bin. Da gab es nie Zweifel« (Shapiro, 2020, S. 32). Doch das DNA-Ergebnis war eindeutig und sie merkt, dass in ihrer Vita neben der »offiziellen Festplatte« offenbar parallel eine zweite, verborgene beschrieben wurde: »Was ich inzwischen über Familiengeheimnisse zu wissen glaube, ist, dass wir unbewusst ständig Hinweise sammeln. Wir speichern Unterhaltungen, wenn sie mit etwas Wichtigem, Verborgenem in unserem Leben zu tun haben, auch wenn wir noch gar nicht wissen, worum es wirklich geht (Shapiro, 2020, S. 32). »Glitzerworte« nennt Christa Wolf (1976) in ihrem Roman »Kindheitsmuster« jene Signalworte, die in Familiengesprächen weitere Bedeutungsebenen eröffnen, sozusagen eine weitere Wahrheit hinter der nämlichen Wirklichkeit. Kinderohren können sie noch nicht so entschlüsseln wie die eingeweihten Erwachsenen. Doch sind sie empfänglich dafür und fahren ihre Antennen dann besonders hoch aus, so wie Christa Wolfs Romanprotagonistin Nelly. Es sind Themen wie Zeugung und Geburt, Bindung und Trennung, auch Geld und Ehre, bei denen Erwachsene solch verborgene Wahrheiten ahnen lassen. Hin und wieder »verraten« sie sich auf subtile Weise. Ihre Stimmen bekommen plötzlich ein anders Timbre, ihre Wangen röten sich, Gesten werden ausladend und Augen beginnen zu glänzen oder
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sich zu trüben. Es sind solche »verklausulierte« Unterhaltungen, die Kinder speichern. Unbewusst geschehe das, sagt Shapiro von sich. Von diesen latenten, im Nachhinein erst bewussten Wahrnehmungen erzählen auch erwachsen gewordene »Spenderkinder«.22 Manche erkennen darin rückwirkend ein konkretes Schlüsselerlebnis, das in ihnen den Verdacht aufbrachte, »Hier stimmt was nicht«. »Da war immer etwas gewesen, das mir fremd vorkam« (2020, S. 31), gesteht sich Dani Shapiro im Nachhinein ein. Akzeptanz der Wahrheit als Konflikt und Erleichterung Erschreckend und erlösend zugleich kann es sein, wenn die neue Realität sinnenhaft wahrnehmbar wird. »Das war mein Oh-meinGott-Moment«, sagt Shapiro vom Eindruck, als sie ihren biologischen Vater erstmals auf einem YouTube-Video zu Gesicht bekam. »Ich bemerkte die Art, wie er mit seinen Händen gestikulierte. Das sind meine Gesten. Ich sah das Familiäre, Vertraute in einem Fremden« (2020, S. 33). Sie erinnert sich an ihre Sitzungen vor dem Spiegel in der Kinderzeit und versteht jetzt, nach Jahrzehnten, ihr damaliges Motiv: »Nicht aus Selbstverliebtheit, sondern weil ich nach etwas suchte. Nun wusste ich, was es war« (2020, S. 33). Dieses »Wissen, was es war« gehört zu den erlösenden Momenten. Nun müssen die – inzwischen erwachsen gewordenen – Kinder nicht länger ihre eigene Wahrnehmung anzweifeln. Nagend bleibt zuweilen ein Selbstvorwurf oder auch nur die Frage zurück, warum sie so lange nichts gemerkt, beziehungsweise sich selbst nicht getraut haben. Ein Grund dafür ist – und es leuchtet ein, dass er bei empathischen Kindern, die in einem liebevollen Elternhaus aufwuchsen, besonders zutrifft –, dass die Kinder ihre Eltern schonen wollen. 22 Beispielsweise die Interviews mit Maria, Julia, Anja in Oelsner und Lehmkuhl (2016) »Spenderkinder«.
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Sie wollen den Gedankenwirrwarr ihres eigenen Erlebens »den lieben Eltern« nicht zumuten. Wenn sie mittels Fremdsamenspende gezeugt wurden, wollen sie vor allem ihren sozialen Vater nicht kränken. Er soll sich auf keinen Fall gedemütigt fühlen. Das, so denken sie, könnte passieren, müsste er erleben, dass sein Kind dem Mann gegenüber steht, der ihm an Potenz überlegen ist. Bei unseren Gesprächen mit Erwachsenen aus dem Verein »Spenderkinder« trafen wir keinen, der die biologische Potenz über die psychosoziale Präsenz der Väter gestellt hätte. Alle bekundeten ihrem sozialen Vater Respekt, meistens auch Zuneigung. Sie fürchteten dessen emotionale Überforderung, wenn sie ihm vom Interesse am genetischen Erzeuger erzählen würden. Sie selber fanden es völlig legitim, und dennoch lag darüber ein Schleier von Verrat. »Es fühlte sich wie Betrug an, meinen biologischen Vater zu treffen«, empfand Dani Shapiro. Er »hätte nicht gewollt, dass es zu dieser Begegnung kommt. Das hätte ihn erschüttert« (2020, S. 35). Gerade empathische Kinder merken ihren Vätern eine seelische Überforderung an. Zu der kommt es, wenn der unfruchtbare Mann seine Zeugungsunfähigkeit nicht hinreichend betrauert hat. Betrauern ist wichtig, um zu bewältigen. Der soziale Vater mag sich dem Samenspender intellektuell und wirtschaftlich, vielleicht auch sozial und ethisch überlegen fühlen, doch ohne eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Defizit und dessen Akzeptanz wird es für ihn schwer, dem Mann zu begegnen, dessen Potenz er das eigene Kind verdankt. Es geht dabei gar nicht um eine persönliche Begegnung der beiden Männer. Es genügt, die innere Repräsentanz »des anderen« in sich anzunehmen. Ihrem sozialen Vater wollte Dani Shapiro nicht mal posthum, dreißig Jahre nach dessen Tod die Begegnung mit ihrem biologischen Vater zumuten. »Ich habe bis heute oft das Gefühl, dass er bei mir ist, mich sieht«, sagt sie. »Als ich meinen biologischen Vater traf, wollte ich dennoch nicht, dass ich meinen Vater bei mir spüre. Ich wollte ihn nicht verletzen« (2020, S. 35).
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Die Frage nach Herkunft als menschliche Konstante Elterliche Reproduktionsfantasien Eine unklare Herkunft kann sowohl mit Chancen als auch Verlusten verbunden sein, vermutet Daniel Schreiber im erwähnten Selbstzeugnis »Zu Hause« (2018). Eine für ihn plausible Erklärung findet er in der Studie »Far from the tree« von Andrew Solomon: »Wenn der Apfel doch weit vom sprichwörtlichen Stamm fällt, […] bedeute das nicht weniger als das Scheitern der ›Reproduktionsfantasien‹, das Scheitern eines grundsätzlichen Glaubens, wonach Eltern für gewöhnlich in ihren Kindern fortleben, sich in deren Gesichtern und Verhaltensweisen wiederfinden« (Solomon, 2013, S. 64). Der tiefe Bruch und die Krise, die zwischen Eltern und Kindern entstehen können, sind Ausdruck einer enttäuschten Hoffnung, letztlich der Erwartung einer gemeinsamen Identität. Diskutierte man Solomons Fazit etwa auf dem Elternabend einer Kindertagesstätte, käme vermutlich Widerspruch auf. Warum sollten ihre Hoffnungen enttäuscht sein? Eltern würden sich dagegen verwahren, »Reproduktionsfantasien« zu hegen. Anspruch moderner Elternschaft ist doch eher, Kinder auf nicht vorgezeichneten Wegen sich frei entfalten zu lassen. Doch schon auf dem Elternabend einer Mittelstufenklasse wäre kaum ein Elternteil zu finden, der sich wirklich damit begnügte, wenn der Nachwuchs lediglich die gern propagierte Maxime »Hauptsache glücklich« erfüllte – und weiter nichts. Solomons Analyse ist ein Hinweis, die Frage nach der Herkunft nicht als Einbahnstraße zu denken. Es gibt nicht nur den Rückblick der Nachkommen auf die Vorgängergeneration. Es gibt auch eine elterliche Vorausschau, welche Werte und Eigenschaften ihrer selbst sie in ihren Kindern wiederfinden möchte. Thomas Mann äußerte anlässlich der Geburt von Tochter Erika seine »Reproduktionsfantasie«. In einem Brief an Bruder Heinrich zeigte er sich enttäuscht, dass es eine Tochter war: »Ich empfinde einen Sohn als poesievoller, mehr als Fortsetzung und Wiederbeginn meiner selbst unter neuen Bedingungen« (Mann, 1984, S. 62).
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Ignoriert man mal die – in heutigen Ohren – Gender-Anstößigkeit23 von Manns Eingeständnis, dann lässt seine Äußerung etwas erkennen, das zeitlos gültig ist: Eltern erleben beim Aufwachsen der eigenen Kinder eine zweite Chance. Im Fahrwasser des eigenen Nachwuchses können sie den zu kurz gekommenen Seiten ihrer eigenen Kindheit jenen Raum geben, den sie einst nicht haben konnten. Mit der Legitimation, etwas für Tochter oder Sohn zu arrangieren, reichen Eltern manches auch dem Kind in sich noch nach. Auch Millay Hyatt interpretiert in ihrem Buch »Ungestillte Sehnsucht« (2012, S. 23) den Kinderwunsch ihrer Vorfahren mit der Hoffnung eines unbewussten »Mehrgewinns« (siehe Kapitel »Die genealogische Ordnung – ist sie noch ein Kulturgut?«). Auch wegen dieser Dynamik in zwei Richtungen verläuft die genealogische Wegstrecke nicht immer »unfallfrei«. Eltern wie Kind sind verletzbar. Daniel Schreiber meint, die grundsätzliche Andersartigkeit des Kindes verlange ein Wissen und eine Kompetenz, über die viele Eltern nicht verfügten. Sie verlange Handlungsweisen, die sie überfordern: »Die fremden Identitäten werden in den meisten Familien als Fehler angesehen, was das jeweilige Kind, aber auch seine Eltern, in eine Identitätskrise stürzt. Mit ihnen geht eine Verletzbarkeit der betreffenden Kinder einher, die auch für die Eltern nur schwer auszuhalten ist und sie ihrerseits verletzbar macht. Sie führen zu einer alles durchdringenden Scham, die eine Dynamik von zum Scheitern verurteilten Anpassungsversuchen, von Täuschung und Selbsttäuschung in Gang setzt, eine Dynamik, die – wenn überhaupt – erst viele Jahre später wieder durchbrochen werden kann« (Schreiber, 2018, S. 65). »Herkunft erfinden« – eine Notlösung Populärer als das Bild von der Wegstrecke ist bei der Herkunftserkundung die Metapher von der Wurzelsuche. »Wurzeln schla23 Später wurde Manns Verhältnis gerade zu Tochter Erika besonders wertschätzend und dicht.
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gen« nennt der englische Journalist Allan Jenkins (2018) das Buch über seine Spurensuche als einstiges Adoptivkind. Mühselig, aufwendig und schmerzhaft war sie. Eindrucksvoll ist zu lesen, was es bedeutet, wenn Kinder kein verlässliches Bild der Eltern entwickeln können. Deren »innere Repräsentanz« fehlt dem Kind, wie es in der Fachsprache heißt. Sie ist Folge defizitärer früher Bindungserfahrungen. Als Heimkind kompensiert Jenkins die Lücke mit einer Fähigkeit, die Kindern im Vorschulalter zu eigen ist: Er imaginiert, was fehlt. Er »erfindet« sich seinen Vater: »Es gab einen Mann, der uns regelmäßig beobachtete, wenn wir auf dem Karussell im Park hinter dem Heim in Plymouth spielten. Ich habe allen erzählt, er sei man Vater […]. Meine Erinnerungen sind rudimentär und bruchstückhaft, verpixelt wie ein abgenutztes VHS-Band. Da ist Niemand, der die Lücke auffüllen könnte. Der geheimnisvolle Mann passe auf mich auf und warte, erklärte ich den anderen Kindern. Bald werde er kommen und mich holen, er müsse nur noch eine Wohnung für uns finden. Dass er nicht kam, verstand ich nicht« (Jenkins, 2018, S. 52). Was im Erwachsenenalter als Wahngedanken Symptomcharakter hätte, ist für Kinder in der sogenannten magischen Altersphase ein Schutz vor Überforderung. Bevor sie das Gefühl, allein, hilf- und schutzlos der Welt ausgeliefert zu sein, einer überbordenden Angst ausliefert, wirft ihre Fantasie einen Rettungsanker. In der konkreten Situation helfen solche Fantasien, eine unerträgliche Wirklichkeit zu überbrücken. Auf Dauer taugen sie nicht. Im Gegenteil. Nimmt kein realer Trost, keine reale Beziehung die Ängste auf und beruhigt, besteht die Gefahr, dass sich die Phantombilder auch über das magische Alter hinaus verfestigen. Dann schlägt die Person umso härter auf dem Boden der Realität auf, wenn die Illusion entlarvt wird. Jenkins verarbeitet als Erwachsener sein Bindungstrauma, indem er ein Bild aus Walter Benjamins (1972/1994) Text »Ausgraben und Erinnern«, das sich in dessen Denkbildern findet, wortwörtlich beherzigt und umsetzt. Es ist das Bild eines »Mannes, der
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gräbt«, um sich »der eigenen verschütteten Vergangenheit« anzunähern (Jenkins, 2018, S. 100 f.). Jenkins beginnt zu gärtnern. »Ein Jahr im Garten auf der Suche nach mir selbst«, heißt der Untertitel seines Buches. Er pflügt »Land und Gedächtnis um« (S. 77). Das »Graben« beruhigt Jenkins anfangs. »Doch als ich jetzt Schicht für Schicht mein sorgfältig aufgebautes Leben entblättere, die Allan-Jenkins-Zwiebel häute, das weitergereichte PäckchenKind, ist alles wieder da. Ich nehme meine verschiedenen Personae auseinander wie eine russische Puppe. Was mich jetzt antreibt ist das Bedürfnis, Bescheid zu wissen. Zumindest mehr zu wissen, und manchmal wird das Bedürfnis zu einer kaum mehr steuerbaren flüssigen Wut« (Jenkins, 2018, S. 186). Wiedergewinn der Subjektrolle im Kampf gegen die biografische Kränkung Das »Bedürfnis, Bescheid zu wissen« war auch Thema in allen unseren Interviews mit erwachsen gewordenen »Spenderkindern«. Statt Bescheid zu wissen, klaffte bei ihnen eine zentrale Lücke im Wissen über die eigene Herkunft. Sie fanden dazu bildhafte Vergleiche wie »der fehlende Schlüssel für bestimmte Räume im Haus meines Lebens« oder »das Mosaik, dem Puzzlesteine zum ganzen Bild fehlen«. »Leben in zwei Welten«, »Leerstellen«, ein »Fremdheitsgefühl« oder eine »Silhouette ohne Gesicht« waren weitere Umschreibungen (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 237). In diesen Gesprächen kamen auch Gefühle der Empörung, Traurigkeit, Unsicherheit zum Vorschein. Doch von einer »kaum mehr steuerbaren flüssigen Wut«, die Allan Jenkins empfand, war nichts zu hören. Jenkins Wut erklärt sich aus seinen desaströsen frühen Bindungserfahrungen. Die sind bei Kindern, die per Samenspende gezeugt wurden, völlig anders. Im Gegensatz zu Heimkindern sind sie Wunschkinder, in der Regel wachsen sie sicher gebunden auf. Auch ihr nicht biologischer Elternteil ist als sozialer Part von Anfang an präsent – sofern es nicht um gewollte Alleinerziehung geht. Die Entwicklungen von Kindern in Adoptions- und Pflegschaftsverhältnissen können also nicht mit denen
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von »Spenderkindern« oder »Leihmutterkindern« gleichgesetzt werden. Gemeinsam ist ihnen aber mit zunehmendem Alter das Spüren einer schmerzlichen Lücke im Wissen über ihre Herkunft. Die »Spenderkinder«, mit denen wir sprachen, setzen dem Ohnmachtsgefühl, das ihrer unklaren Herkunft geschuldet ist, aktiv etwas entgegen. Als Mitglieder im Verein »Spenderkinder« erstreiten sie Aufklärung über ihre Biografien und engagieren sich für gesellschaftspolitische Konsequenzen. Die Resonanz darauf hilft, Ohnmachtsgefühle zu kompensieren. Sie bringen sich nun als Subjekte auf einem Feld ein, das ihnen einst nur Objektstatus zuwies. Mit der Substanz ihrer überwiegend guten beruflichen Qualifizierungen – einige auch selbst schon in Elternrolle – bringen sie sich für das gemeinsame Anliegen ein. Die Mitbegründerin des Vereins »Spenderkinder«, die zum Zeitpunkt unseres Interviews 35-jährige Juristin Stina, erlebte sich unvermittelt in der Rolle eines ohnmächtigen Objekts, als sie mit 26 Jahren erfuhr, dass sie mithilfe der Samenspende eines Unbekannten gezeugt wurde. »Das Schlimmste ist, wenn man nichts über seine Wurzeln weiß«, sagt sie (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 73 ff.). Ein anderes Rätsel löste sich für sie allerdings mit ihrer Aufklärung: Sie verstand, warum sie sich in ihrer Familie oft fremd gefühlt hatte und ihre Eltern sich manchmal seltsam verhalten hatten. Stina hatte sich in der Familie häufig nicht wiedererkennen können. Nun konnte sie sich das erklären. Das erleichterte sie, wenngleich die Tatsache selbst nicht schön war. Stina kämpft im Verbund mit den Vereinsmitgliedern um Transparenz. Für sich selbst erhofft sie Einblicke in die Akten der Reproduktionsklinik und Klarheit über ihren genetischen Vater. Sie schreibt die Klinik und den Arzt ihrer Eltern an und erhält nur ausweichende Antworten. Sie will nicht glauben, dass die Daten nach zehn Jahren vernichtet worden seien. Auch irritiert sie der Gedanke, womöglich zwanzig bis dreißig Halbgeschwister zu haben, von denen sie nichts weiß. Es frustriert Menschen, wenn sie in einer zentralen Frage der eigenen Biografie keine Klarheit bekommen. Und niederschmetternd ist es für sie zu erkennen, dass dahinter kein Zufall
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oder Schicksal, sondern Vorsatz steht. Und zwar der Vorsatz von Eltern, die durchaus geachtet, gar geliebt werden. Das zu verarbeiten braucht Zeit. Stina war anfangs so tief getroffen, dass sie den Kontakt zu ihren Eltern vorübergehend abbrach. Das eigene Ohnmachtserlebnis machte Stina sensibel für Nuancen im Eltern-Kind-Verhältnis. Beispielsweise stößt sie sich an dem Begriff »Wunschkind«. Allgemein ist der ja positiv besetzt, und manch unerwünschtem Kind wäre solche Etikettierung geradezu zu gönnen. Doch in Stinas Ohren entlarvt die Formulierung die pure Elternsicht. Zu der Zeit, als sie gezeugt wurde, war die Zeugung eines »Wunschkindes« per Fremdsamenspende in der Tat fast immer gleichbedeutend mit der Anonymität des genetischen Vaters. Das Schlimmste für Stina ist die Diskrepanz zwischen der Ohnmacht aufseiten der »Spenderkinder« und der »Macht der Anderen«. Damit meint sie die Macht der Reproduktionskliniken. Die nahmen sich über Jahrzehnte das Recht heraus, Informationen zu biologischen Vätern und Halbgeschwistern den Kindern vorzuenthalten – nicht minder auch den meisten Eltern. Es ist das Verdienst unter anderem auch von Stina und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Verein »Spenderkinder«, dass die Gesetzeslage in Deutschland ab 1. Juli 2018 mit dem Samenspenderregistergesetz (SaRegG; Bundesgesetzblatt, 2017) diese Ohnmacht beendete. Die per Samenspende gezeugten Kinder haben ein Recht auf Kenntnis des genetischen Vaters. Dazu müssen die Akten zentral 110 Jahre lang aufbewahrt werden. Für Stinas Akten galt das einst noch nicht. Sie ist noch auf umschweifige Nachforschungen angewiesen. DNA-Recherchen entlarvten inzwischen einen führenden Reproduktionsmediziner als ihren genetischen Vater.24 Auch ihrer Mutter war nicht bekannt, dass es dessen eigenes Sperma war, das ihr zur Schwangerschaft verhalf. Die Wahrheit ist so verblüffend wie ungeheuerlich, so kurios wie tragisch. Denn Stina kannte diesen Mann bislang nur 24 Im Dossier »Tief in den Genen« der »Zeit« (Sußebach, 2019) machte Stina ihre Geschichte publik.
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als Widersacher, teilweise auch juristischen Gegner ihrer Aufklärungsbemühungen. Doch mit der Wahrheit endet ihr jahrzehntelanges Ohnmachtsgefühl des Nichtwissens. Die Herkunftsfrage – kein Hype, sondern menschliche Konstante Ist die aktuelle Häufung von Literatur und filmischer Dokumentation zum Thema Herkunft und Spurensuche lediglich eine Zeiterscheinung? Ist sie nicht eher kurzlebiges Produkt eines medialen Voyeurismus, der in multipler Elternschaft, vor allem jener durch Samenspende und Leihmutterschaft, spannende Sujets fürs Storytelling findet? Die Aufmachung einiger Publikationen mag das vermuten lassen. Doch die in diesem Kapitel aufgeführten Beispiele oder auch die biografische Notiz des zehnjährigen Goethe im »Literarischen Exkurs I« zeigen, dass Herkunftsfragen über Zeiten und Generationen hinweg aktuell sind. Genealogische Fragen sind zuvorderst von individuellem Interesse. Bedeutung haben sie für eine konkrete Person. Doch auch Staats- und Gesellschaftssysteme müssen sich zur genealogischen Tradition positionieren. Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurde das in der Gesetzgebung besonders evident. Bemerkenswerte Aktivitäten zu Familien- und Abstammungsfragen fanden hier ihren Niederschlag. Neue Formen von individueller Lebensgestaltung, Familienleben sowie Eltern-KindVerhältnissen erfordern Rahmenbedingen und Rechtssicherheit. In die Argumentation und Legitimation fließen immer beide Sichtweisen ein: die biologisch evidente ebenso wie die weniger mess- und objektivierbare psychosoziale Sicht. Je liberaler und pluraler die gesetzlichen Vorgaben sind, desto bedeutsamer wird die Haltung, aus der heraus Menschen sich für eine der verschiedenen Lebensformen und Möglichkeiten der Familiengründung entscheiden. Der Weg des Verschweigens, der Eltern lange Zeit von Fachleuten empfohlen wurde, ist eine Bevormundung der Kinder. So etwas wird zur Hypothek für die psychosoziale Dynamik einer Familie. Das zeigen die Beispiele aus Literatur und realem Leben.
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»Spenderkind« Stina wirbt entschieden für Aufklärung der Kinder über ihre biologischen Wurzeln. Vor allem fordert sie mehr Empathie für deren besondere Situation. Denn, das lehrt sie der Blick auf ihre eigene Biografie und auf die von anderen, ein Aufwachsen jenseits der genealogischen Tradition verlangt einen besonderen psychischen Energieaufwand der Auseinandersetzung. Sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, anzufreunden, vielleicht auch auszusöhnen, bedeutet, Zwiespältigkeiten zu akzeptieren. Es bedeutet, sich selbst das Recht zuzugestehen, den genetischen Vater, die Leihmutter und etwaige Halbgeschwister kennen zu wollen, ohne fürchten zu müssen, damit den Stellenwert der sozialen Eltern herabzusetzen. Für Stina hatte es in dieser Hinsicht auch etwas Demonstratives, nach ihrer Heirat den Familiennamen ihres sozialen Vaters beizubehalten. Es sind auch solche Entscheidungen, die sie aus der einstigen Objektrolle in einen Subjektstatus zurückfinden lassen. »Spenderkindern« hierzulande ist es inzwischen gesetzlich verbrieft, ihre genetische Abstammung zu erfahren. Das setzt allerdings voraus, dass sich ihre Eltern die Samenspende seinerzeit nicht privat oder im Ausland besorgten.25 Und für Stina sowie weitere Vorgängergenerationen sind DNA-Recherchen im Internet inzwischen erfolgversprechend geworden. Haben Menschen wie Allan Jenkins allerdings keinerlei Chancen, die fehlenden Stücke im Puzzlebild der Herkunft aufzuspüren, dann findet die individuelle Kreativität mitunter eigene, ungewöhnliche Wege zur Kompensation. Es geht dann nicht allein um eine Realitätsprüfung im Maßstab 1:1. Wichtiger ist, dass sie Menschen versöhnen lässt mit dem Unabänderlichen.
25 Laut SaRegG (Bundesgesetzblatt, 2017) müssen die Daten aus Samenbank oder Arztpraxis dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) gemeldet und dort 110 Jahre aufbewahrt werden. Das lebenslange Auskunftsrecht des Kindes leitet sich aus dem vorrangigen Persönlichkeitsrecht ab und kann nicht durch Widerspruch des Samenspenders verwehrt werden.
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Allan Jenkins fand im Gärtnern weit mehr als nur die Metapher, die Rezensenten seines Buches gern aufgreifen: »Ja, es ist die liebenswürdige, herzerwärmende Geschichte von der Rettung und Wiederherstellung eines aufgegebenen Schrebergartens, eine Geschichte vom Schutz, den jemand, der etwas von den Freuden und Tücken des Gärtnerns versteht, dem Boden angedeihen lässt. Zugleich enthalten diese Seiten aber auch eine sehr ungewöhnliche Lebensgeschichte« (Slater, 2017, S. 9). Jenkins fragt sich, ob es nur Menschen sind wie er, die sich mit der eigenen Vergangenheit derart besessen beschäftigen, wer sie sind: »Was, wann, wo und warum? Das unlösbare Rätsel: Erbanlage oder Sozialisation, Natur oder Kultur? Vielleicht bin ich eine Kombination aus Frank, Ray und Dudley, bin alle oder keiner von ihnen, eine selbst zusammengestellte Mischung. Es wird Zeit, mit dem Fragen aufzuhören« (Jenkins, 2017, S. 292).
II Die Entmachtung des Schicksals befreit von manchem, belastet aber mit manch anderem
Erzwingen oder Geschehenlassen? Die Spannung zwischen »Verfügbarkeit und Geschehenlassen« sei unaufhebbar, sagt der Soziologe Hartmut Rosa und zeigt diesen Grundkonflikt an Lebensstationen zwischen Geburt und Tod auf. Der Mensch im Zeitalter des Machbaren schwanke »zwischen dem Versuch und dem Wunsch, Dinge und Ereignisse verfügbar zu machen, sie berechenbar und beherrschbar werden zu lassen, und der Ahnung oder Sehnsucht, sie als ›das Leben‹ einfach geschehen zu lassen« (Rosa, 2019, S. 71). Dem Ich-Ideal des postmodernen Menschen widerspricht es, die Dinge »einfach geschehen zu lassen«. Er beansprucht Autonomie. Er reizt das Mögliche immer mehr aus, erweitert unablässig seine Reichweiten und stößt dabei in neue Dimensionen und verlockende, jedoch auch zwiespältige Bereiche vor. Fügen ins Schicksal empfindet er als überholtes Postulat, mitunter als kränkende Zumutung. »Demut mag für viele aus der Mode sein«, meinen Bleisch und Büchler (2020, S. 260) im Buch »Kinder wollen« und ergänzen: »[W]enn es ums Elternwerden geht, hat diese Tugend aber ihre unbedingte Berechtigung.« Eine »Depotenzierung des Schicksals« konstatierte der Philosoph Odo Marquard (1981/2000, S. 81) um die Jahrtausendwende. Die »menschliche Endlichkeitsfähigkeit« weicht absoluten Ansprüchen an den Fortschritt (Marquard, 1994, S. 107). Mit durchaus ambivalenten Folgen. Das rasante Innovationstempo steigert sowohl die Erwartungen wie das »Unbehagen an der Wandlungsbeschleunigung« (Marquard, 2000, S. 67).
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Auch die immer verfeinerten Verfahren in der Reproduktionsmedizin rufen zwiespältige Reaktionen und Gefühle hervor. Einerseits öffnen sich ungeahnte Möglichkeiten. Sie erfüllen lang gehegte Wünsche. Dies geschieht jedoch oft auf Kosten einer Kontinuitätskultur. Das technisch Machbare kollidiert mit den Bedürfnissen der Kinder, die familiäre Geschichte nachvollziehen zu können. Deren Wurzeln bleiben nicht mehr nachverfolgbar. Die »genealogische Ordnung« wankt. Betroffene, die einst per anonymer Fremdsamenspende gezeugt wurden und die sich nun im Erwachsenenalter im Verein »Spenderkinder« kritisch mit der Reproduktionsmedizin auseinandersetzen, anerkennen, dass der medizinische Fortschritt ihr Leben ermöglichte. Sie beklagen aber auch ihre nicht vollständig definierbare Herkunft. Und diese Lücke in der biografischen Identität schmerzt. »Struktureller Teddybär-Bedarf« Bei dem Versuch, das Schicksal in die Hand zu nehmen, können die Resultate die Intentionen kompromittieren (Marquard, 1981/2000, S. 81). Vielleicht ist das der Grund, warum die mit der Reproduktionsmedizin verbundenen Fragen heftig, kontrovers, mitunter gar feindselig diskutiert werden. Marquard, der Philosoph, illustriert mit einem Begriff aus der Entwicklungspsychologie unsere Bedürftigkeit, wenn er meint, Menschen brauchen bei schwankenden Sicherheiten ein »Übergangsobjekt«. Für Kinder ist je nach Situation und Belastung der Teddybär solch ein Übergangsobjekt. Er kompensiert für eine Weile das Vertrauensund Sicherheitsdefizit, wenn Bezugspersonen konkret nicht verfügbar sind. Um ungute Gefühle nicht erst aufkommen zu lassen, zeigen auch Erwachsene in der rasch sich verändernden modernen Welt einen »strukturellen Teddybär-Bedarf«, meint Marquard (2000, S. 72). Eine Illusion der Machbarkeit wird bei Eltern, die ein Kind ersehnen, häufig durch Sehnsüchte und Erfahrungen aus der eigenen Biografie gespeist. Am Beispiel von Adoptionsfamilien
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konnten wir in früheren Publikationen (Oelsner u. Lehmkuhl, 2008) zeigen, wie wichtig es für die Eltern ist, sich ihrer Motivlage bewusst zu werden. Dabei geht es nicht um eine moralische Bewertung, ob altruistische oder egoistische Gründe im Vordergrund stehen. Wichtig ist die Anerkenntnis solch unsichtbarer Mechanismen. Dass eine unbewusste seelische Kosten-NutzenRechnung durchaus Bedeutung für Sozialverhalten und Kulturaufbau haben kann, sei hier nur festgehalten. Statt zu werten, gilt es – und es ist bemerkenswert, dass dieses Kriterium von der Soziologie eingebracht wird – auf den Erhalt von Resonanzmöglichkeiten zu achten. Die drohen verloren zu gehen, sagt Hartmut Rosa, wenn die Unverfügbarkeit als eines ihrer Kernmomente nicht akzeptiert würde: »Hören und antworten ist eine andere Haltung als planen, machen und berechnen. Wenn ich ungewollt kinderlos bleibe, kann ich versuchen, darauf zu hören, ›was das Leben mir damit sagen will‹ und in meiner Lebensführung darauf antworten, wobei mich dann dieses ›Antwortgeschehen‹ sicherlich als Person verändern wird. […] Wenn es aber in meiner und der Ärzte Gewalt liegt, ob und welche Kinder ich bekomme – ändert sich dann nicht meine Beziehung zum Leben überhaupt?« (Rosa, 2019, S. 73 f.). In unserer beruflichen Praxis mit Kindern und ihren Familien haben wir erlebt, wie noch so gut gemeintes »Planen, Machen und Berechnen« erfolglos, gar kontraproduktiv sein kann, wenn »Hören und Antworten« als Haltung unterschätzt werden. Die Empfangskanäle von Kindern sind nicht primär auf Frequenzen des »Elternsenders«, auf dessen Wünsche und Logik ausgerichtet. Kinder, auch und vielleicht gerade die, deren Leben durch die reproduktionsmedizinische Kunst ermöglicht wurde, sind für familienbiografische Fragen sensibilisiert, oftmals mehr und anders, als Eltern es sich vorstellen. Unterschätzt wird auch die Bedeutung des antiquiert anmutenden Phänomens »Schicksal«. Wer es ignoriert, wird über dessen Einfluss auf Beziehungsdynamiken überrascht sein.
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Willensentscheidung statt Naturgesetz »Warum« ist wohl das häufigste Fragewort, das Eltern von ihren Kindern hören. Es dauert, bis der Nachwuchs merkt, dass Eltern nicht auf alles eine Antwort wissen, auch nicht allmächtig sind. Nach und nach setzt eine Desillusionierung ein. Die ist wichtig, um auch andere Kausalitäten wie Zeitumstände und Gesellschaft ins Blickfeld rücken zu lassen. Zuletzt bleibt für das Unerklärliche der Verweis auf »die höheren Mächte«. Im säkularen Sprachgebrauch ist es »das Schicksal«. »Warum gibt es mich überhaupt?« Gelegentlich kommt in Kindern diese Frage hoch. Nicht immer sprechen sie sie aus. Was sollten Eltern darauf auch antworten? Mehr als ihren Wunsch nach einem Kind werden sie nicht nennen können – so sie ihn gehabt haben. Denn auch ungeplant und ungewollt kommen Kinder zur Welt. »Offenbar war es wichtig, dass du geboren wurdest«, wäre dann eine freundlich formulierte Antwort. Überhaupt nicht beeinflussen können Eltern Geschlecht und Körpermerkmale, mit denen ihr Nachwuchs zur Welt kommt. Natürlich – wortwörtlich gemeint – ist das eine Begrenzung der elterlichen Kompetenz. Die kann allerdings, auch wenn das zunächst befremdlich klingt, entlastend sein. Beispielsweise entlastet sie, wenn ein Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt. Sorgenvoll und anstrengend ist das allemal. Doch psychisch sind Eltern mehr belastet, wenn sie meinen, sie hätten mit ihrem Verhalten die Behinderung vermeiden können. Der Verweis auf das Schicksal macht ihr Problem nicht kleiner, er mindert aber Selbstbezichtigung und Schuldzuschreibung.26 26 Zu beobachten war das beispielsweise in der sogenannten ConterganKatastrophe. Als Ursache für die Gliedmaßenfehlbildung der Kinder war die Wirkung des Medikaments »Contergan« in der Schwangerschaft nachgewiesen worden. Viele betroffene Mütter machten sich wegen der Medikamenteneinnahme erhebliche Vorwürfe, auch wenn sie von deren schädlichen Wirkung zum Zeitpunkt der Einnahme nichts wissen konnten. Beispielsweise warfen sie sich vor, überhaupt zu einem Medikament gegriffen, statt Schmerzen länger ausgehalten zu haben. Anders war es bei Müttern von Kindern mit schwersten cerebralen Bewegungs-
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Von einer »prekären Dialektik der Selbstermächtigung« sprechen die Philosophin Barbara Bleisch und die Rechtswissenschaftlerin Andrea Büchler in ihrem Buch »Kinder wollen«. Mit der Freiheit zu wählen und zu entscheiden »gewinnen wir zweifelsohne an Spielräumen, die wir selbstbestimmt gestalten können. Zugleich müssen wir das, was wir gestalten und entscheiden, auch verantworten. Der Mensch, der für das meiste selbst verantwortlich ist, und Leid und Schmerz nicht mehr an eine Schicksalsmacht delegieren kann, ist letztlich auch ein belasteter Mensch« (Bleisch u. Büchler, 2020, S. 259). Der Medizinethiker Giovanni Maio sieht keinen Widerspruch zum Aufklärungsanspruch einer Gesellschaft, wenn sie das Schicksal als tröstliche Dimension mitdenkt. »Eine Gesellschaft ohne Schicksal ist eine Gesellschaft ohne Gnade. Eine Gesellschaft, die kein Schicksal duldet, wäre eine unbarmherzige Gesellschaft, gerade weil sie der irrigen Annahme folgte, dass sie über alles Wissen verfügte und alle Entstehungsbedingungen vorhersehen und planen könne« (Maio, 2014, S. 24). »Das Wissen um ein Schicksal, das alle Menschen gemeinsam tragen, ist zugleich auch Trost und Beruhigung«, ist Maio überzeugt (Maio, 2014, S. 24). Diese Auffassung ist auch entwicklungspsychologisch bedeutsam. Denn die Akzeptanz von Schicksal relativiert elterliche Macht. Und als mächtig werden Eltern vom Kind anfänglich empfunden – zwangsläufig, denn das Kind ist selbst noch völlig ohnmächtig. Ohne die Fürsorge eines reiferen, sorgenden, »mächtigen« Wesens wäre kein Säugling überlebensfähig. Nach und nach weicht die Vorstellung von elterlicher Allmacht einem differenzierteren Bild. Kinder nehmen wahr, dass auch die Eltern in menschliche Hierarchien eingebunden sind. Dass menschliche Einflussnahme überhaupt begrenzt ist. Je nach störungen (»Spastik«). Auch sie waren darüber traurig und hochgradig belastet. Doch weil nicht zu erkennen war (zumindest damals nicht), was sie zur Vermeidung der Behinderung hätten beitragen können, entfielen selbstbezichtigende Schuldzuweisungen.
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Elternhaus hören sie dann die Erwachsenen von »höheren Instanzen«, vom »Gesetz der Natur«, von »Gott« oder eben vom »Schicksal« reden. Diese Relativierung ist für Kinder erleichternd und beunruhigend zugleich. Beunruhigend ist das Schwinden der Vorstellung, Eltern könnten vor sämtlichem Ungemach der Welt beschützen. Erleichternd ist die Erkenntnis, dass man den Eltern nicht in allem und auf immer ausgeliefert ist. Die in der Kleinkindzeit typischen magischen Fehldeutungen (»Weil ich zur Mama böse war, habe ich mir jetzt wehgetan«) weichen allmählich vernünftigeren Einsichten. Wenn Eltern sich zur Kinderwunscherfüllung Hilfen »von außen« holten, hat das für die Einschätzung ihrer Kompetenzen Folgen. Denn damit ermächtigen sie sich, »existentiell Bedeutsames aus dem Bereich des Unverfügbaren in den Bereich des Verfügbaren zu transferieren« (Rosa, 2019, S. 73). Sie erweitern ihre bislang begrenzte Planungs- und Steuerungskompetenz. Mittels Adoption, Zeugung per Fremdsamen- oder Eizellspende oder Delegation der Schwangerschaft an eine Leihmutter heben sie ihre ursprünglich begrenzte Verfügbarkeit auf. Befürworterinnen und Befürworter von reproduktionsmedizinischen Methoden verwahren sich meist gegen Vergleiche mit dem Adoptionswesen. Wir kennen das aus vielen Diskussionen. Deshalb betonen wir noch mal, die unterschiedlichen Zugangswege zum Kind nicht gleichzusetzen. Nicht abzustreiten ist jedoch, dass Eltern mittels Adoption ebenso wie mittels reproduktionsmedizinischer Methoden die Machbarkeit der Kinderwunscherfüllung beanspruchen können, die ihnen zuvor nicht gegeben war. Sie hebeln das Schicksal ihrer bisherigen Kinderlosigkeit aus. Bei der Adoption tun sie es mithilfe von Behörden, bei Fremdsamen-/Eizellspende oder Leihmutterschaft mithilfe der Reproduktionsmedizin.27 27 Natürlich muss Adoption nicht nur durch Kinderlosigkeit motiviert sein. Es gibt sehr wohl Familien mit gleichzeitig leiblichen wie adoptierten Kindern.
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Es geht hier nicht darum, diese Machbarkeit zu werten. (Letztlich ist jeder medizinische Eingriff ein Entgegenstemmen des Menschen gegen Unverfügbares.) Es geht um die Dynamik, die mit dem Aufheben der »grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Menschen« (Maio, 2014, S. 27) im Erleben der Kinder freigesetzt wird. Es ist ein Unterschied, ob diese Dynamik die eigene Existenz oder die Existenz eines anderen Menschen betrifft. Wenn »der Mensch darauf angewiesen ist, im Bewusstsein zu leben, dass sein Sein Schicksal und nicht Auswahl ist« (Maio, 2014, S. 27), dann ist es sowohl für adoptierte Kinder wie für »Spenderkinder« von Bedeutung, ob sie später in der Entscheidung ihrer Eltern eine Wahl oder eine Auswahl erkennen.28 In Deutschland ist die Auswahl eines Samenspenders »nach Katalog« nicht zulässig. Gleichwohl nehmen die Samenbanken selbst Profilierungen vor, nach denen sie bestimmte Spendermerkmale auf das Elternpaar ausrichten. »Der Spender wird von uns Ärzten ausgesucht, wobei man dann eine sogenannte Typ angleichung durchführt, das heißt Körperstatur, Augenfarbe und Blutgruppe sollten in etwa übereinstimmen« sagt Thomas Katzorke, Chef der Essener Kinderwunschklinik »Novum« in einem Interview (WDR, 2020). Viele Staaten, beispielsweise Dänemark und die USA, handhaben indes ein freizügiges Auswahlverfahren darüber hinaus nach Katalog. Außerhalb von registrierten Samenbanken ist ohnehin jegliche private Auswahl möglich. Auch Adoptiveltern wählen, natürlich nicht Augenfarbe, Körperbau und biologisches Geschlecht des Kindes. Doch sie konnten Ja oder Nein sagen, ob sie diesen Jungen oder dieses Mädchen wollten. Meistens bekamen sie das Kind vor der Zustimmung zur Adoption zu sehen. 28 Die Frage »Wahl« oder »Auswahl« kommt auch bei den assistierten Befruchtungsmethoden IVF und ICSI auf. Hier spielt eine wesentliche Rolle, welches Spermium ausgewählt wird, um in die Eizelle eingebracht zu werden, oder welcher Embryo ausgewählt wird, um ihn der Mutter zum Austragen einzusetzen, und welche verworfen oder weiter tiefgekühlt oder an andere Paare »gespendet« werden (Embryonenvermittlung). Hier kommt es aber nicht zum »genealogischen Bruch«.
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Noch sind den molekularbiologischen Möglichkeiten, »Design-Babys« zu erzeugen, enge ethische und technische Grenzen gesetzt. Die Zukunft wird zeigen, wie lange diese Brandmauer hält.
Wenn das Schicksal als Narrativ entfällt Manche Familien, die ein Kind adoptiert haben, feiern den Tag, an dem das Kind zu ihnen kam, als dessen »zweiten Geburtstag«. Das ist ein liebevolles, gut gemeintes Ritual – jedoch mit einem Subtext. Der kann problematisch sein, denn erinnert wird auch an den Tag, an dem die Eltern Schicksal spielen konnten, als sie entschieden: Du sollst es sein! Die Folgen dieses »Schicksalsspiels« können ganz wunderbar sein. Kritisch daran ist, dass die Eltern sich einer Entscheidungskompetenz bedienten, über die Eltern eigentlich nicht verfügen. Wenn das Potenzial solcher Nebeneffekte erkannt und bedacht wird, ist einer problematischen Spitze schon viel Schärfe genommen. Auch werden die Adoptiveltern im Laufe der Zeit manche Fantasien der Kinder auflösen können. Beispielsweise die Vorstellung, die Eltern seien im Kinderheim durch eine Reihe von Babybetten gestreift und hätten mit bestimmender Geste entschieden: Die oder den nehmen wir! Adoptiveltern tun dann gut daran, die oft gegenteilige Wirklichkeit zu schildern, in der sie sich womöglich alles andere als machtvoll vorkamen. Viele bangten eher, ob man ihnen überhaupt ein Kind zusprechen würde. Ein Pendant aus der Reproduktionsmedizin mag das angespannte Warten sein, ob eine Befruchtung mit Fremdsamenspende tatsächlich zur Schwangerschaft führt. Solch realistische Gegenbilder sind hilfreich in der späteren Eltern-Kind-Beziehung, doch sie heben nicht die Tatsache auf, dass hier von Menschen entschieden wurde, was sonst dem Schicksal vorbehalten bleibt. Je nach Beziehungsklima können Kinder, wenn sie älter werden, das als Anmaßung interpretieren. Sie sehen sich dann in der Rolle eines ausgewählten Objekts.
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Aus der kinder- und jugendtherapeutischen Praxis sind Erzählungen von Adoptivkindern bekannt, in denen sie die Verhältnisse umdrehen und sich selbst zum Akteur der Szene fantasieren. Die Erstbegegnung mit den zukünftigen Eltern umflort dann die Aura wechselseitiger Auserwählung. »An meinen großen braunen Kulleraugen konnten meine Eltern einfach nicht vorbei«, so schildert die zwanzigjährige Lilly29 den Akt ihrer Adoption in einem ausländischen Kinderheim. Oft haben ihr die Eltern von dem Moment erzählt, als es zwischen ihnen und ihr »gefunkt hatte«. Gern gibt sie die Geschichte mit Augenzwinkern so weiter, als habe sie, das Kind, ihre Eltern »adoptiert«. Erinnern kann sich Lilly nicht, denn damals war sie gerade mal zwei Jahre alt. Doch die Erzählung vom unwiderstehlichen »Aufschlag ihrer dunklen Kulleraugen« wurde sozusagen Gründungsmythos der Familie. Auch wenn sie es scherzhaft ausdrückt, gibt Lilly zu erkennen, wie wichtig ihr das Ausfantasieren ihrer eigenen Einflussnahme auf den Adoptionsakt ist. Sie erlebt sich dabei in einer Subjektrolle, die im krassen Widerspruch zu ihrem damaligen realen Status im Kinderheim steht. Damals war sie Objekt eines administrativen Akts, eine Person ohne Macht, eine Ohnmächtige. Liebe und Empathie ihrer Eltern standen außer Zweifel. Doch zu deren Kind wurde Lilly erst durch deren Unterschrift sowie Stempeln diverser Behörden. »Umkehrfantasien« durchzogen weiterhin Lillys Entwicklung. Besonders in Schwellensituationen des Jugendalters verlangte sie sich unangemessene Rollen ab. Ob Schule, Berufspraktika oder Freundschaften – sie musste »Chefin des Geschehens« sein. Die damit verbundenen Konflikte waren unter anderem Anlass für die Psychotherapie, sind hier aber nicht Thema. Es geht darum zu verstehen, welche Dynamik sich bei multipler Elternschaft im Erleben der Kinder unbewusst einstellen kann. Dazu gehört ein Blick auf die zweite Seite einer Medaille.
29 Name geändert. Eine Vignette aus der eigenen Therapiepraxis.
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Lillys »Medaille« zeigte auf der Vorderseite die Fantasie einer kindlichen Omnipotenz. Zunächst imponierte das als selbstbewusstes Verhalten, manchmal drollig, manchmal charmant. Im Jugendalter nervte es mehr und mehr. Wer Lillys kesses Verhalten sah, konnte sich nicht vorstellen, dass auf der Rückseite ihrer Medaille die Angst stand; Angst, Verfügungsmasse anderer zu sein. Bis weit ins Grundschulalter reagierte Lilly panikartig, wenn die Post Pakete ins Haus brachte. Sie fürchtete nämlich, Pakete wären dazu da, Kinder zurückzuschicken.30 Kurz vor ihrer Volljährigkeit meldete sich die Angst vor Bindungsverlust wieder verstärkt. Es war die Kehrseite ihrer Freude über die juristische Unabhängigkeit. Verbalisieren konnte sie dies nicht. Doch sie entwarf ein kunstvolles Tattoo mit den Initialen ihrer Familienmitglieder und ließ es sich zum 18. Geburtstag stechen. Es war sozusagen ihr Akt von »doing family«31 – nun als Subjekt, auf ewig eingebrannt. Ängste können sich verstellen. In der Verschiebung auf das Postpaket zeigte sich Lillys verdrängte Angst vor einem elterlichen Willkürakt. Objektiv gesehen war der selbstredend unbegründet. Doch Angst fragt nicht nach Objektivität. Lilly erfand mit dem – objektiv ebenso wenig haltbarem – Narrativ von der Wirkung ihrer »runden Kulleraugen« eine Gegenmacht. Im Vorschulalter sind solche Angstverschiebungen und ihre magischen Bewältigungsversuche altersgerecht. Erst wenn solche Lösungsmodelle weit über die magische Entwicklungsphase hinaus fixieren, sind Störungen zu fürchten. Es ist hier nicht Thema, darauf weiter einzugehen. Wichtig in unserem Kontext ist die Aufmerksamkeit für die »zweite Seite solcher Medaillen«, sie zu sehen und mitzudenken. 30 Das Bild vom »Kinder-Verschickpaket« taucht in der Kinderbuchliteratur oft auf. Beispielsweise findet der elternlose Jim Knopf in Michael Endes gleichnamigem Kinderbuchklassiker per Paketsendung seine »Übergangsmutter«, Frau Waas. Offenbar werden Pakete und Körbchen, wie jenes, in dem laut Alten Testament der kleine Moses ausgesetzt wurde, auch als Symbol eines rätselhaften, unfreiwilligen Beziehungswechsels verstanden. 31 »Doing family« ist eine soziologische Umschreibung von »Familie als Herstellungsleistung« (vgl. Bergold et al., 2017).
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Noch einmal sei betont: Der Exkurs zu Phänomenen des Adoptionswesens bedeutet keine Gleichsetzung von Adoption mit anderen Formen multipler Elternschaft. Es geht um den Hinweis, dass Kinder besondere Fantasien entwickeln können, wenn sie ihre Existenz und Familienzugehörigkeit Konstellationen verdanken, die von Menschen hergestellt wurden. Es sind Konstellationen, für die gewöhnlich »die Natur«, »das Schicksal« oder »höhere Mächte« verantwortlich gemacht werden – unabhängig davon, wie realistisch der Begriff vom »Gewöhnlichen« ist. Erweitern Eltern ihre Verfügbarkeit, kann es für Kinder eng werden Die Kompensation von Kinderlosigkeit durch Adoption,32 Leihmutterschaft (im Ausland) oder Spermienauswahl bringt ein Paradoxon hervor. Das Paar, dem in Bezug auf Kinderwunsch die gewünschte biologische Kompetenz versagt blieb, verfügt nun über eine Entscheidungsmacht, die Elternpaare bei einer üblichen Schwangerschaft nicht haben. Wenn sie das ihrem Kind später sensibel kommunizieren, muss es die Umstände seiner Zeugung nicht als anmaßend werten. Unsere persönlichen Behandlungserfahrungen reichen nicht für eine repräsentative Aussage. Aber unser Eindruck ist, dass die sehr tradierte, rechtlich fixierte und über weite Lebensphasen evaluierte Beratungsarbeit im Adoptionswesen eine hilfreiche Vorbereitung für Eltern ist, um ihre Rolle zwischen »Macht und Demut« zu reflektieren. Einige erwachsen gewordene »Spenderkinder« monieren die Entscheidung ihrer Eltern, dass der genetische Vater im Leben des Kindes keinerlei Rolle zu spielen habe. Dass Kinder einen Elternteil nie kennenlernen, ist kein ungewöhnliches Schicksal. Wenn er kurz vor oder nach ihrer Geburt verstarb, werden sie 32 Adoption versteht sich traditionell nicht in erster Linie als Maßnahme zur Erfüllung eines Kinderwunschs, sondern als Aufnahme eines bereits existierenden, versorgungsbedürftigen Kindes. Doch Aspekte elterlicher Entscheidungskompetenz sind hier ebenso gegeben wie bei der »Herstellung von Familie« per Reproduktionsmedizin.
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das auch als Erwachsene noch betrauern können. Keine Trauer, sondern Wut können sie hegen, wenn sie hinter dem Verlust kein Schicksal, sondern einen Vorsatz erkennen müssen. Die 35-jährige Claire muss mit der Ohnmacht leben, dass sie ihren genetischen Erzeuger vermutlich nie kennenlernen wird. Die bewusste Entscheidung ihrer Eltern für eine InkognitoZeugung mit Fremdsamenspende trifft sie anders, als wenn der Spender durch zwischenzeitlichen Tod unverfügbar geworden wäre. Weder Verwandte noch Fotos oder Schriftstücke können ihr ersatzweise irgendetwas vom genetischen Vater erzählen. Im Verein »Spenderkinder« äußert sie ihre Wut: »Die Voraussetzungen bei meiner Geburt wurden so geschaffen, dass der genetische Vater jemand ist, der nie nach mir fragen wird und wahrscheinlich auch kein einziges Mal an mich denken wird. Der Vorsatz dieses Konstruktes macht mich wütend« (Meier-Credner, 2019, S. 98). Das »Konstrukt«, das so wütend macht, ist die Vorgabe, wie die Beziehung zwischen dem Kind und seinem genetischen Erzeuger zu sein habe: distanziert, ja ausgelöscht. Die Existenz eines Samenspenders wurde Claire zwar nicht verschwiegen, doch nach seiner Gametenabgabe wurde er zur Unperson. Der Verein »Familiengründung durch Spendersamen« empfiehlt in seinem Ratgeberheft, den Samenspender dem Kind als eine »wunderbare, freundliche, großzügige Person« vorzustellen (DI-Netz, 2013, S. 20). Sie ermöglichte ihm die Existenz, doch Bedeutung in seinem Leben soll sie nicht haben: Der Spender »gehört auch nicht zur Familie, selbst wenn er zugestimmt hat, dass seine Identität dem Kind mitgeteilt werden kann, wenn es volljährig ist« (DI-Netz, 2013, S. 6). Trotz wertschätzender Worte bleibt der Samenspender ein Namenloser,33 entpflichtet von allem. Allerdings ist er auch von allem entrechtet, was sonst eine Erzeugerrolle ausmacht. Name, 33 Gemeint sind hier die für Samenbanken üblicherweise tätigen Samenspender. Diverse private Konstellationen, besonders Queer Families, pflegen andere Modelle von Beziehung und Kontakterhalt.
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Geschlecht oder Aufenthaltsort des mit seinem Erbgut gezeugten Kindes erfährt er nicht, die allermeisten wollen es auch nicht wissen.34 Seine eigene Familiengeschichte wird völlig ignoriert. Von den genetischen Großeltern aus seiner Linie wird das Kind nie etwas wissen. Die fielen auch aus allen Wolken, erführen sie von der Existenz der unbekannten, genetisch gleichwohl verwandten Enkelgeneration. Vielleicht liegt in dieser Enttraditionalisierung von Herkunft eine Erklärung für den Stellenwert, den Halbgeschwister bekommen können. In Gesprächen mit erwachsenen Spenderkindern fällt auf, dass sie von den über DNA-Suchportalen ausfindig gemachten genetischen Halbgeschwistern mit besonderem Interesse berichten. »Viele Spenderkinder freuen sich grundsätzlich darüber, Halbgeschwister zu haben und möchten diese auch kennenlernen« (Meier-Credner, 2019, S. 99). Die Begegnungen, die sie untereinander arrangieren, bekommen Züge von Familientreffen und kompensieren ein wenig die genealogischen Leerstellen der »Spenderkinder«. Vor allem verschaffen sie sich mit ihren Rechercheaktivitäten die Genugtuung wiedergewonnener Subjektqualität. Allerdings, so die Mitbegründerin des Vereins »Spenderkinder«, Anne Meier-Credner: »Der Gedanke daran, sehr viele Halbgeschwister zu haben, kann aber auch Gefühle der Verlorenheit und des Befremdens auslösen, wenn diese auf der ganzen Welt verstreut und kaum zu finden sind« (MeierCredner, 2019, S. 100). In Claires Wut über den »Vorsatz dieses Konstruktes« artikuliert sich eine Störung jenes Resonanzraums, mit dem der Soziologe Hartmut Rosa ein wechselseitig anregendes, mitschwingendes System von Subjekt und Objekt beschreibt. Rosa fragt nach dem Einfluss der Reproduktionsmedizin auf unseren Resonanzraum, wenn »wir die medizinische und persönliche 34 Das Samenspenderregistergesetz – SaRegG (Bundesgesetzblatt, 2017) sichert den Kindern Kenntnis ihres biologischen Vaters zu. Dieser hat seinerseits nur ein Auskunftsrecht über die von ihm hinterlegten Daten und über eine Mitteilung, ob von seiner Spende Gebrauch gemacht wurde.
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Weltreichweite vergrößern und damit ehemals Unverfügbares verfügbar machen« (Rosa, 2019, S. 73 f.). Für »Spenderkinder« wie Claire liegt das Ärgernis auch in der von ihren Eltern bestimmten Einseitigkeit. Die »vergrößerte persönliche Weltreichweite« hat Schlagseite, wenn Eltern sie für sich allein beanspruchten. Sie wollten und bekamen ein Kind. Dessen »Weltreichweite« verengten sie jedoch, indem ihm die Hälfte seiner genetischen Herkunftsinformation auf immer unzugänglich bleibt. Ringen um Wiedergewinn der Subjektrolle Es ist selbstverständlich, doch es sei noch mal betont, dass die Dynamik im Resonanzraum Objekt – Subjekt, um in der Diktion Rosas zu bleiben, nicht pathologisch konnotiert ist. Irritationen und Unwuchten sind nicht per se als Störungen einzuordnen. Unzählige Alltagsbeispiele zeugen davon, dass sie »unverdächtig« in die Lebensgestaltung zu integrieren sind. Da gibt es beispielsweise den für seine Beratung geschätzten Apotheker, dessen Kindheit von Krankenhausaufhalten und hohen Medikamentengaben geprägt war. Oder es gibt den Wissenschaftsfotografen, der in Kliniken jene Operationen fotografisch dokumentiert, denen er sich als Jugendlicher einst selbst unterziehen musste. Wer sich dem gleichen Sujet mit veränderter Kompetenz widmet, bleibt beim Thema, macht aber nicht mehr dasselbe. Die Filmdokumentation »Geboren von einer anderen« (2020), in deren Mittelpunkt die Abteilung für assistierte Reproduktion an der Brüsseler Uniklinik Saint-Pierre35 steht, beginnt mit dem Besuch des ersten dort geborenen Leihmutter-Babys an dessen zwanzigstem Geburtstag. Die junge Frau ist von der Begegnung mit dem Labor ihrer Zeugung so überwältigt, dass sie auf der Stelle beschließt, später in der Reproduktionsmedizin arbeiten zu wollen. »Es hat etwas Göttliches«, pflichtet ihre Mutter bei, die sich nach zwei Fehlgeburten damals zu dem Schritt entschlossen hatte. 35 Mehr über Leihmutterschaft und die Brüsseler Klinik im Kapitel über Leihmutterschaft.
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Eine vergleichbare Dynamik, wenn auch mit völlig anderer Reaktion, ist bei Ruana zu erkennen, einer jungen Frau, die sich nach vielen Jahren unvermittelt mit den Umständen ihrer Adoption konfrontiert sieht. Schlagartig wird ihr ihre eigene einstige armselige Ausgangslage deutlich. Im krassen Gegensatz dazu – so interpretiert sie es Jahre später – stand die Machtfülle ihrer Adoptiveltern. Nach ihrem Abitur hatten sie und ihre Adoptivmutter sich auf Spurensuche in Ruanas Herkunftsland Rumänien aufgemacht. Die im besten Einvernehmen von Mutter und Tochter gedachte Entdeckungsreise bekam jäh einen anderen Zungenschlag, als sie sich in der Erbärmlichkeit des ehemaligen Kinderheims wiederfanden. Ruana, nun eine junge Erwachsene, war vom Kontrast zwischen ihrer Herkunft und ihrem nachfolgenden Leben im Wohlstand der neuen Familie überwältigt. Ihre Spannung entlud sich in einer heftigen Tirade gegen die Adoption. Es sei »eine Sauerei«, Kinder einfach aus einem Milieu herauszuholen: »Wenn man dann in ein reiches Land kommt – und das finde ich gerade so schlimm, das sehe ich an mir, ich habe alles in den Arsch gesteckt bekommen, alles, was ich wollte – wenn man aus einem armen Land in ein reiches Land kommt, mit allem, was man möchte, dann kann man als Kind nicht damit umgehen, selbst wenn es noch so klein ist. Deswegen finde ich das gerade so schlimm, dass Kinder so mal eben verkauft werden. Ich finde, das ist ’ne Sauerei« (Koch, 2007). Bislang hatte Ruana nie Einwände gegen ihr wohlhabendes Leben und ihre Bildungschancen in Deutschland gehabt. Nun aber, als sie sich mit ihrem Herkunftsmilieu konfrontiert sieht, fühlt sie sich wie eine Abtrünnige. Zudem beschämt sie das Bewusstwerden ihres damaligen Objektstatus als Zweijährige. Als Spielball der Behörden fühlt sie sich. Anders die Rolle ihrer Adoptiveltern. Die sieht sie nachträglich mit einer Machtfülle ausgestattet, die Menschen nicht zustehen dürfe. Ruana bezichtigt sie in dieser affektgeladenen Situation, sie »losgekauft« zu haben. Damit entlastet sie auch sich selbst von einem – irrationalen – Schuldgefühl, sie habe sich ein Leben im Wohlstand gegönnt
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und als »Verräterin« ihre einstigen Schicksalsgenossen und -genossinnen schmählich im Elend ihres Herkunftslandes zurückgelassen. Die Szene zeigt das Dilemma, das sich einstellen kann, wenn ein Eltern-Kind-Verhältnis nur mithilfe Dritter zustande kommen kann, in diesem Fall durch Adoption. Ein Dilemma ist es, weil sich der Konflikt durch die Alternative nicht vermeiden lässt. Denn man stelle sich den umgekehrten Fall vor, Ruanas Eltern hätten sie seinerzeit nach »Besichtigung« des Babys nicht aus dem Elendsmilieu ihrer Herkunft zu sich holen wollen. Dann wäre es verständlich, wenn Ruana – so sie je davon erfahren hätte – das Zurückgelassenwerden als »Sauerei« empfunden hätte. Das um die Adoption bemühte Paar hätte sich also auch mit einem Nein eine Befugnis angemaßt. Menschen tun sich mit manchen Konsequenzen leichter, wenn sie vom »Schicksal« entschieden wurden. »Sei doch dankbar, dass du lebst!« Entscheidungen, die im Dilemma münden, lassen sich im Leben nicht vermeiden. Die Konsequenzen müssen nicht zwangsläufig zum Scheitern von Beziehungen und Identitätsfindung führen. Aber sie haben Konfliktpotenzial. Wird das eingestanden und thematisiert, wird es gesehen und akzeptiert, dann wird es seltener eine schädliche Eigendynamik entwickeln. Auch widersprüchliche Positionen lassen sich in gelingende Lebenskonzepte integrieren. Gelingen kann das allerdings nur, wenn die Betroffenen über Maß und Taktung dieser Prozesse selbst entscheiden, als Subjekt und nicht als – noch so liebevoll bedrängtes – Objekt. Die im Verein »Spenderkinder« organisierten Betroffenen trugen in einer Umfrage unter den Mitgliedern zusammen, welche Beschwichtigungen und Vorwürfe sie als besonders nervend empfinden (Stina, 2019): – Sei doch dankbar, dass du lebst! – Du bist doch ein absolutes Wunschkind! – Und was hast du jetzt davon, das zu wissen?
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– Wen interessiert schon ein Erzeuger, wenn ein Vater da war/ ist? Wie kann man sich so für den Spender interessieren, wenn man doch mit Liebe aufgezogen wurde? Du hast doch einen Vater! Dein genetischer Vater ist doch nicht so wichtig wie dein sozialer Vater! – Versetz’ dich doch mal in die Lage deiner Eltern. – Deine Eltern haben es doch nur gut gemeint! – Es ist undankbar deinem sozialen Vater gegenüber, wenn du nach deinem Spender suchst. – Die Ärzte haben doch nichts falsch gemacht, indem sie die Unterlagen schon vernichtet haben. Damals wurde sich eben auf Anonymität geeinigt und die Rechtslage war eben so. – Der Spender hat bewusst anonym gespendet und will nichts von dir wissen. – Warum suchst du, was willst du von dem biologischen Vater, er hat dir doch gar nichts gegeben, sondern nur seinen Samen. – Ich verstehe nicht, warum das so eine große Sache für dich ist. – Warum beschäftigst du dich mit der Vergangenheit, sieh in die Zukunft! Willst du jetzt die ewig Suchende sein? Damit du dann später frustriert und alt bist, ohne dein eigenes Leben gelebt zu haben? Die geliebten und gelebten Jahre sind viel wichtiger als die genetische Herkunft. Liebe – und das gilt nicht nur für Elternliebe – ermächtigt nicht, zu bestimmen, wie die Geliebten die Zuneigung der Liebenden aufzunehmen haben. Der geliebte Mensch ist nicht willfähriges Objekt eines liebenden Subjekts. Erst wenn das Objekt einer Sehnsucht aus eigener Subjektposition »Ja« sagt, kommt es zur Liebesbeziehung. Kinder können das ihren Eltern gegenüber erst mit fortschreitender Entwicklung tun.
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Literarischer Exkurs 3: Saša Stanišic´ und andere über Herkunft, Identitätsstress und transgenerationale Dynamik Biografische Spurensuche ist ein beliebtes Thema. Bücher und Filmbeiträge zum Thema Herkunft und Identität bringen Verkaufszahlen und Einschaltquoten. 2019 erhielt Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis für seinen autobiografischen Roman »Herkunft«. Stanišić, 1978 im ehemaligen Jugoslawien geboren, begann eine Art Familienarchiv zu erstellen, als bei seiner Großmutter der Verlust ihrer Erinnerungen einsetzte. Anfangs bereitete ihm das Skrupel: »Es erschien mir rückständig, geradezu destruktiv, über meine oder unsere Herkunft zu sprechen in einer Zeit, in der Abstammung und Geburtsort nicht als Unterscheidungsmerkmal dienten« (Stanišić, 2019, S. 62). »Herkunft« Stanišić spürt, dass sein Interesse nicht so recht zum Auftrag seiner Generation passen will. Für die heißt das Gebot der Zeit eher, fortschrittlich und global zu denken. Doch bei seiner Erinnerungsarbeit erkennt er, dass er nicht zwangsläufig in geografischen und nationalen Positionierungen stecken bleiben muss, wenn er dem Bedürfnis nach einer emotionalen, familiären Verortung Raum gibt. Gerade ein erzwungenes Unterwegssein, der Verlust früher Bezüge – im Fall seiner Familie durch Flucht, Vertreibung, Gewalt – verursacht einen Identitätsstress. Spurensuche und Erinnern helfen, den zu bewältigen. Die vermeintlich rückwärtige Erinnerungsarbeit wurde Stanišić zur Fundgrube seiner schriftstellerischen Zukunft. »Was«, so fragt er, »bleibt einem qua Abstammung oder Hervorbringung, gegeben und vergönnt?« (Stanišić, 2019, S. 69). Er erkennt die Unverfügbarkeit von Herkunft und spürt, dass ihn gerade Lücken im Erinnerungsmaterial zu Fantasien inspirieren. Zu Geschichten mit der immer wiederkehrenden Frage: »Was wäre geworden, wenn …?«
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Der Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß ist eine Generation älter als Stanišić. 2014 veröffentlichte er die gleichnamige autobiografische Erzählung »Herkunft«. Strauß ist schon siebzig, als er die schicksalhafte Unverfügbarkeit von Herkunft geradezu lakonisch an einem Gedankenspiel über seinen Vater – der steht im Zentrum seiner Erinnerungsarbeit – festmacht: »Heute hätte der Vater seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Hundert Jahre ist es nun her, dass mir dies Schicksal entstand« (Strauß, 2014, S. 14). Für die Lektüre des Siebzigjährigen wie für die des Vierzigjährigen gilt gleichermaßen, was Strauß über das »Feld der Erinnerung« schreibt: »Die Erweiterung eines Horizonts besteht nicht selten darin, dass sich einem das Gewesene eröffnet« (Strauß, 2014, S. 21). Der Philosoph Odo Marquard verdichtet diese Erkenntnis in seinem vielzitierten Satz »Zukunft braucht Herkunft« (Marquard, 2000, S. 66). Der breite kulturelle Niederschlag, den die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft findet, lässt ein tiefes Bedürfnis des Menschen erkennen. Nicht nur die Literatur – inklusive ihrer Verfilmung – spiegelt dies. In den Religionen gehört Herkunft zu den konstituierenden Elementen. Das Matthäusevangelium bemüht eine Aufzählung von dreimal 14, insgesamt 42 Generationen, um lückenlos Jesus – leibliche – Abstammung über David bis Abraham nachzuweisen (Mt 1, 1–17). Aufgeklärte Milieus akzeptieren solche dynastischen Ableitungen allenfalls in ihrer symbolhaften Absicht. Doch ein genealogisches Interesse ist grundsätzlich auch in postmodernen Gesellschaften präsent. DNA-Spuren im Internet weltweit nachzugehen, ist für etliche ein angesagtes Gesellschaftsspiel. Rudimentäre Stammbaumforschung hat einen Reiz. Sie stößt jedoch auf innere Widerstände, wenn die bislang gepflegte Familiengeschichte durch unvermutete Ergebnisse infrage gestellt wird. Familiengeheimnisse zu lüften ist ein zwiespältiges Unterfangen. Zweifelsohne ist es spannend, es kann aber auch etablierte Arrangements infrage stellen. Und deren Funktionieren im Hier und Jetzt darf nicht zu sehr gefährdet werden. Droht dies, wollen
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manche die Geheimnisse lieber geschützt sehen. Eingrenzungen nehmen sie dafür in Kauf. Transgenerationalität – eine generationenübergreifende Dynamik Die Wissenschaft widmet sich noch nicht lange den generationenübergreifenden Phänomenen. Populäre Publikationen wie »Die vergessene Generation« von Sabine Bode (2004) über psychische Nachwirkungen der Weltkriege setzten Impulse zur Erforschung des Phänomens Transgenerationalität. Inzwischen wird anerkannt, dass Traumata und Familiengeheimnisse über Generationen weiterwirken. Und jede Generation muss sich neu positionieren, wieweit sie den Altvorderen – und den tradierten Familienerzählungen – Respekt und Loyalität entgegenbringen will oder wieweit sie genau diese hinterfragen und möglichen Verdachten nachgehen will. Daniel Schreiber, ein Autor gleichen Alters wie Stanišić, schreibt in seiner Monografie »Zu Hause« zur »Theorie psychologischer Vererbung«: »Das Vergangene lebt in uns fort, als oft wiederholte Erzählung, oder als Erzählung, die gerade nicht erzählt wird und die wir unbewusst als Leerstelle wahrnehmen. Es lebt in uns fort in der Übertragung von Verhaltensweisen und Denkfiguren, in Gefühlen, die wir von den Gesichtern unserer Eltern und Großeltern ablesen. Es führt oft ein geheimes Leben in uns, beeinflusst als unterschwelliges Wissen all unserer Überzeugungen und Handlungen. Es prägt die Art und Weise, wie wir uns in der Welt bewegen« (Schreiber, 2018, S. 20). Auch Schreiber durchsucht die Dokumente seiner Vorfahren. In einer Lebensphase eigener Unsicherheit öffnen sie ihm einen Raum für Verdachtsmomente und argwöhnische Vermutungen. Ist er selbst wirklich am richtigen Ort? Stehen Türen zum Ausweichen, zur Flucht offen? Es sind Fragen, wie sie bei Heranwachsenden grundsätzlich hochkommen, auch wenn sie nicht immer gestellt werden. Der hohe Zuspruch, den Autoren wie Schreiber und Stanišić aktuell finden, zeugt von einer archetypisch anmutenden Relevanz ihrer Thematik.
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Nach der genetischen Authentizität der Ahnenkette wird in der erwähnten Literatur nicht explizit gefragt. Vielleicht wird sie als selbstverständlich vorausgesetzt, und ohnehin dominieren – selbstverständlich – die sozialen Bezüge. Im Alltagsleben ist das bei Verwandtschaft ohne Blutsbezug nicht anders. In bestimmten Situationen aber kann die Frage nach der genetischen Verwandtschaft unvermittelt durchbrechen und zeigen, dass sie nie weg war. »Spenderkind« Franziska36 erlebte das am Vorabend ihrer Hochzeit. Franziska gehört zur Generation, deren Mütter vor Jahrzehnten noch ins Ausland fuhren, um jenseits hiesiger Verbote eine anonyme Samenspende zu empfangen. Davon Kenntnis bekam sie erst, als sie selbst schon Mutter war. Spät hatten sie und ihr Mann entschieden, ihre Partnerschaft als Ehe weiterzuführen. In der Woche vor ihrer Heirat überrumpelten sie Gefühle. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr genetischer Vater nie etwas von seiner »Weiterexistenz« durch die Heirat »seines Kindes« erfahren würde. Oft hatte sie gehofft, etwas über ihn herauszufinden, und manchmal ertappte sie sich bei einer Art innerer Kontaktaufnahme mit ihm. In der Fantasie stellte sie sich dann ein Treffen vor mit einem sympathischen, schätzenswerten Mann, bei dem sie nicht nur äußere Gemeinsamkeiten, sondern auch ähnliche Schwingungen entdeckte. »Und ich habe Rührung und Nähe empfunden bei der Vorstellung, in meinem Gesicht und den Gesichtern meiner Söhne Spuren wiederzufinden, aus denen ich auf seine Züge schließen könnte.« Franziska war schon länger klar, dass es solche Treffen nie geben würde. Doch in einer Mischung aus Anspannung und Freude vor dem Festtag weinte sie ob ihrer Ohnmacht, ihren genetischen Erzeuger nicht mal durch Erzählen an ihrer Hochzeit teilhaben zu lassen. So nah wie in dieser Situation war ihr der Unbekannte nie zuvor gewesen. Eigentlich hätte er, das fühlte sie, zur Festgesellschaft dazugehört. 36 Skizze aus einem Interview in Oelsner und Lehmkuhl (2016, S. 156 ff.).
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Als eins der ersten erwachsen gewordenen Spenderkinder machte Arthur Kermalvezen (2009) öffentlich, was es heißt zu erfahren, per Fremdsamenspende gezeugt worden zu sein. Detailliert beschreibt er, was es mit ihm macht, seine Wurzeln nur bedingt zu kennen. Zu wissen, dass er ohne die Spermiengabe eines unbekannten Mannes nicht hätte entstehen können, verunsichere ihn. Er sehe sich in einer Außenseiterposition und reagiere nüchterner als andere, schreibt Arthur in seinem Buch »Ganz der Papa«. Da ist er Mitte zwanzig und bedauert: »Gerne würde ich alles von Anfang an erzählen. Aber von welchem Anfang? Meine Geschichte ist, wenn man so will, ohne Anfang, weil ich meine genetische Zukunft nicht kenne« (Kermalvezen, 2009, S. 7). Durch die Möglichkeit von Samenbanken, Sperma tiefgefroren funktionsfähig zu halten, kann beim Anfang die »Weltzeituhr« tatsächlich angehalten werden. Sperma eines Spenders kann auch noch nach dessen Tod zur Zeugung eingesetzt werden. »Es wirft so viele Fragen nach der eigenen Identität auf, dass es unmöglich ist, allen Grundbedürfnissen gerecht zu werden«, meint Arthur Kermalvezen (2009, S. 92). Seinen Eltern sei dies damals nicht klar gewesen. Sie hätten ihre damalige Entscheidung nicht über den eigenen Kinderwunsch hinaus gedacht. Der ano nyme Spender geriet nie in ihr Blickfeld. Er war ein nützlicher Zulieferer, sollte aber nie einen Platz im Familienroman bekommen: »Sie lehnten in ihrem Leben einen dritten, also einen Spender ab, der aber ja trotzdem Teil meines Lebens war« (Kermalvezen, 2009, S. 92).
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Parentifizierung – ein Fallstrick in der Entwicklung Kinder, die in hohem Maße Rücksicht auf das nehmen, was sie aus der Gefühlslage ihrer Eltern zu erspüren glauben, für sie vielleicht sogar Verantwortung übernehmen, nennt die Familientherapie »parentifiziert«. Das klingt nach fürsorglichen, netten Kindern, schließlich sind Rücksichtnahme und Verantwortungsbereitschaft in der Tat wünschenswert. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich Parentifizierung jedoch als Bleigewicht im Lebenspaket der Kinder. Es beschwert, weil es letztlich eine Rollenumkehr bedeutet: Kinder fühlen sich für das Wohl ihrer Eltern zuständig, manchmal bis zur »Bemutterung«. Parentifizierung überfordert Kinder und macht sie unfrei. Wer aus seinen Impulsen, Plänen, Aktionen erst herausfiltert, was die an Enttäuschungs- und Kränkungspotenzial für die Eltern beinhalten könnten, agiert nicht mehr unbekümmert. Die Tücke ist, dass das Kind diese Einschränkung lange Zeit nicht als solche empfinden muss. Im Gegenteil. Durch das Lob der Eltern gewinnt es zunächst Anerkennung, mitunter auch materiellen Mehrwert. Auch bekommt es mehr Einfluss, manches gar Macht. Die Option auf den »Chefsessel« lässt Kinder den Verlust an Handlungsfreiheit und eigener Bedürfnisbefriedigung vorerst nicht spüren. Der Verzicht lässt einen Gewinn erwarten, doch der wird ihre Persönlichkeit nicht bereichern. Die Parentifizierung hat mehrere Quellen. Sie kann direkt aus einer – unbewussten – Delegation durch die Eltern erfolgen. Kinder können sich aber auch selbst mandatieren. Ihre Sicht – die kann auch ein Fehlinterpretieren der Eltern sein – veranlasst sie, deren wirkliche oder vermeintliche Schwäche zu kompensieren. Mögliche Defizite der Eltern in Bildung, wirtschaftlicher Bonität oder körperlicher Verfassung (Behinderung) können bei den Kindern Ausgleichsbedürfnisse wecken. Die Rücksicht von Adoptierten auf ihre Adoptiveltern geht oft bis ins hohe Alter. Der seit 1878 bestehende »Evangelische Verein für Adoption und Pflegekinderhilfe e. V.« stellt im obligatorischen Brief an die Mitglieder zum Jahresabschluss 2021 fest:
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»Auffallend hoch waren in den vergangenen Monaten die Bedarfe von Adoptierten im Alter von 40 bis 70 Jahren.« Gemeint sind die vom Verein abgerufenen Unterstützungsangebote bei der Auseinandersetzung mit der Herkunft. Das späte Begehren nach Akteneinsicht wäre nicht nur mit etablierten Lebensstrukturen und höherer Freizeit im fortgeschrittenen Alter zu erklären, meinen die erfahrenen Damen des Vorstands. Manche getrauen sich erst nach dem Tod ihrer Adoptiveltern mit der Spurensuche zu beginnen. Zu deren Lebzeiten hätten sie gefürchtet, sie zu kränken (Evangelischer Verein für Adoption und Pflegekinderhilfe e. V., 2021, S. 3). Kinder nehmen auch verteidigende Positionen gegenüber unkonventionellen Lebensformen ihrer Eltern ein. In der Publikation »Neue Gespräche mit Töchtern und Söhnen lesbischer, schwuler und trans*Eltern« (Streib-Brzič u. Gerlach, 2015) finden sich viele Beispiele dafür. Es wäre unlauter, allen eine hochgradige Parentifizierung zu unterstellen. Allerdings wäre es nicht minder unprofessionell, ihre Äußerungen als »Überwindung heteronormativer Klischees« zu idealisieren. Fragen und Antworten der publizierten Interviews sind überwiegend auf der interpsychischen Ebene angesiedelt. Intrapsychische Prozesse der Betroffenen zu eruieren, war offenbar nicht intendiert. Kinder, die mithilfe der Reproduktionsmedizin zur Welt kommen, sind zweifelsohne heiß ersehnte Kinder. Als Wunschkinder wachsen sie zumeist unter guten Bindungsvoraussetzungen auf, liebevoll gefördert und wirtschaftlich gesichert. Studien bestätigen das (u. a. Gameiro et al., 2011; Golombok, 2015). Es wäre vermessen, zu behaupten, Kinder verhielten sich deswegen prinzipiell unkritisch gemäß dem gewünschten elterlichen Beziehungskonzept. Auf der anderen Seite wäre es fachlich unqualifiziert, die Fragen nach einer Parentifizierung gar nicht zu stellen. Identifikation mit der elterlichen Position Auf unser Buch »Spenderkinder« erhielten wir einen zornigen Brief einer 22-jährigen Studentin. Sie wuchs in einer gleich-
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geschlechtlichen Lebensgemeinschaft zweier Mütter auf und war nun empört über eine in unserem Buch zum Ausdruck kommende kritische Sicht anderer »Spenderkinder« auf die Reproduktionsmedizin. Leidenschaftlich bekundete die Briefeschreiberin ihr Einverständnis mit der damaligen Entscheidung ihrer Eltern zur Samenspende. Und teilweise abschätzig mokierte sie sich über den Wunsch anderer nach Kenntnis des Samenspenders. Die hatten geklagt, dessen Anonymität wie eine »Leerstelle« in ihrer Biografie zu empfinden. »Eine Silhouette ohne Gesicht« nannte ihn eine. Dem setzte die Studentin ihre Position entgegen: »Ja, ich habe keinen Vater. Aber ich habe zwei Mütter, die mich über alles lieben und mir das jeden Tag meines Lebens zu spüren geben. Ich weiß nicht, von wem ich meine Nase habe, aber ich weiß sehr wohl, von wem ich meine Überzeugungen und Werte habe. Mir fehlt keine Hälfte und ich habe auch keine Identitätskrise erlebt. […] Schon als ganz kleines Kind wurde mir erklärt, dass es einen ›sehr netten Mann‹ gab, der meinen Müttern geholfen hat und es wurde nie tabuisiert.« Anders also als der kleine Goethe und die zehnjährige Dani Shapiro (siehe Kapitel »Nachkommenschaft ist mehr als Biologie. Aber Biologie ist sie auch«) grübelte die junge Frau weder vor einer Ahnengalerie noch dem eigenen Spiegelbild über die Herkunft ihrer Nase. Damit blieben ihr die Gedankenqualen erspart, von denen Goethe und Shapiro aus ihrer Kindheit berichten. Doch die verbissen sich ja nicht im marternden Grübeln. Ihre im Erwachsenenalter verfassten Reflexionen künden von der Integration ihrer einstigen Selbstbeobachtung, und sie erkennen den Stellenwert, den jene Phase ihrer Kindheit dabei hatte. Unsere zornige Briefeschreiberin will auch nichts von einer »Elternschaft zu dritt« wissen, als die der Verein »Spenderkinder« die Familiengründung mittels Fremdsamenspende ansieht. Sie schreibt: »Gerade weil der Spender anonym ist und es klare Verhältnisse gibt, wer die beiden Eltern sind und weil es keine dritte Person gibt, die ab und zu dabei ist, bei der man nicht ganz weiß, welchen Platz er in der Familie einnehmen soll (Spender? Vater?
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Heiliger Geist?) ist es eine Elternschaft zu zweit! Und wenn es dann einen Spender gibt, den man manchmal sieht, ist die Rolle des sozialen Vaters – oder bei Lesben die der sozialen Mutter – womöglich nicht sicher. Ist er Ziehvater? Ersatzvater? Der zweite Vater? […] Soll man sich dann seine ganze Kindheit und Jugend eine bestimmte Person vorstellen und schon mal Abstand vom sozialen Elternteil nehmen? Dass mein Spender anonym ist, finde ich für mich und meine Familie gut. So habe ich eine klare Beziehung zu meinen Eltern, und es konnten keinerlei komische Familiendynamiken entstehen.«37 Da die junge Frau ihren Brief via Internet öffentlich machte, hegen wir keine Skrupel, hier längere Passagen zu zitieren. Was uns nicht zusteht, ist, daraus eine psychoanalytische Fallvignette zu machen. Die Studentin ist keine Patientin. Im therapeutischen Kontext wäre es hingegen angebracht zu fragen, inwieweit eine so starke Identifikation mit dem elterlichen Idealkonzept auch Ausdruck eines Abwehrmechanismus sein kann. Entwicklungspsychologisch gesehen ist es jedenfalls schwierig, sich an idealisierten Eltern abzuarbeiten, etwa in der Phase der Pubertät, wenn Heranwachsende eine Entidealisierung der Eltern betreiben. Was bei der Parentifizierung als Empathie und soziale Kompetenz imponieren mag, ist oft einer Hemmung geschuldet. Und die ist hinderlich, wenn der Autonomieprozess von Heranwachsenden es auch mal darauf anlegt, die Eltern zu depotenzieren. Tückisch ist es wegen eines Paradoxons. Denn Jugendliche wollen ihre Eltern nicht wirklich entmachtet sehen. Hinter den entwicklungstypischen Provokationen und zerstörerischen Attitüden im Jugendalter steht ja oft der Wunsch, sich der »Unzerstörbarkeit« der Eltern zu vergewissern. Es ge37 Die letzten Bemerkungen zielen auf Äußerungen der »Spenderkinder«, ihnen schössen manchmal Gedanken durch den Kopf, sie könnten mit dem in der U-Bahn gegenübersitzenden Mann oder dem Dozenten am Vorlesepult verwandt sein. Es waren mal spielerische, mal belastende »Was-wäre-wenn«-Fortsetzungen der kindlichen Vertauschungsfantasie. Im Wissen um die Zeugungsmithilfe eines Dritten gab es aber einen realen Hintergrund.
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hört zu den Widersprüchlichkeiten des Heranwachsens, dass »Jugendliche ihre Eltern brauchen, um jemand zu haben, dem sie sagen können: ›Ich brauche dich nicht‹« (Auchter, 2015, S. 119). Zu wünschen ist unserer Briefeschreiberin, dass ihre Überzeugung sie trägt. Auf Vorträgen, in Publikationen und Netzwerken ist sie mit dem Thema sehr präsent. Etliche Communitys werden sie bestätigen, erfüllt sie für manche doch geradezu die Idealvorstellung eines neuen, aufgeklärten Eltern-Kind-Verhältnisses. Zum Zeitpunkt der Korrespondenz mit ihr wussten wir noch nicht, dass ihre Mutter hierzulande zu den Pionierinnen zählt, die über Kinder in lesbischer Elternschaft forschen und publizieren. »Herkunft« wurde nun auch für die Tochter offenbar zu einem Lebensthema. »Doing family« nennt die Soziologie die »aktive Herstellungsleistung von Verwandtschaft« (Bergold et al., 2017, S. 15), die sich nicht ausschließlich bio-genetisch oder durch Heirat begründet. Kulturgeschichtlich ist dies kein Novum. Eine Dominanz der Liebesheirat gab und gibt es längst nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Die vieljährigen Erfahrungen mit Familien in gesplitteter oder sektorierter Elternschaft (Adoption, Pflegschaft, Patchwork) lehrt allerdings Zurückhaltung, wenn »doing family« heute oft mit forsch wirkender Entschiedenheit propagiert wird. Gewichtungen zwischen Blutsbanden und sozialer Bindung zeigen sich in den Familien doch als ein langwieriger, ambivalenter Reife- und Entwicklungsprozess. Und Prozesse haben nun mal die Eigenart, dass reife Positionen nicht am Anfang einer Entwicklung, sondern an deren Ende stehen. Darauf hinzuweisen ist wohl das stärkste Motiv zu diesem Buch!
III Im Dilemma der Reproduktions medizin spiegelt sich das Dilemma der Gesellschaft
Ein interdisziplinäres Cross-over: Wohin geht die Reise? Die medizinischen Möglichkeiten der Entkoppelung biologischer und sozialer Elternschaft sind Themen nicht nur in Partnerschaften oder von Einzelnen. Sie sind auch Themen von gesellschaftlicher Relevanz, zunächst für die Medizin selbst. Vom »Dilemma der Reproduktionsmedizin« berichtet das Deutsche Ärzteblatt (Richter-Kuhlmann, 2020). Beklagt wird der Gewissenskonflikt von Ärztinnen und Ärzten sowie den betroffenen Paaren, dass in Deutschland Techniken und Verfahren der Fortpflanzungsmedizin durch das Embryonenschutzgesetz verboten, andere nicht geregelt sind. Gleichwohl werden sie im Ausland vielfach praktiziert. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina plädiert für Gesetzesnovellierungen und betont in einer Stellungnahme, dass es in hohem Maße problematisch sei, »potenzielle Kinder schützen zu wollen, indem man ihnen das Leben erspart« (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V., 2019, S. 38). Der Diskurs hat längst den Weg aus Fachkreisen in eine breite Öffentlichkeit gefunden. Katrin Zinkant (2020) beklagt in der »Süddeutschen Zeitung«, die aktuellen gesetzlichen Regelungen schränkten das Grundrecht auf Fortpflanzungsfreiheit ein. Mit Blick auf nun endlich akzeptierte Formen des Zusammenlebens jenseits des traditionellen Familienbildes käme es besonders darauf an, diskriminierende Vorgaben zu verändern. Mit Nachdruck weist sie darauf hin, dass zwar der Missbrauch moderner Technik verfolgt gehöre, »nicht aber der Wunsch nach dem Kind« (Zin-
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kant, 2020, S. 4). Es gehe also nicht um eine Optimierung unserer Babys, sondern um Wege aus der ungewollten Kinderlosigkeit. Eine gegenteilige Position vertritt die österreichische Journalistin Eva Maria Bachinger. In ihrer Streitschrift »Kind auf Bestellung« fordert sie »klare Grenzen«. Die als Abwehrrecht gedachte Freiheit zur künstlichen Fortpflanzung dürfe nicht zum Anspruchsrecht mutieren. »Bei aller Empathie für die ungestillte Sehnsucht: Es gibt kein Recht auf ein Kind, auch nicht auf ein gesundes« (Bachinger, 2015, S. 10). Kommerzielle Leihmutterschaft brandmarkt sie als Verstoß gegen Kinderkonvention und Menschenwürde (Bachinger, 2015, S. 10). Die aktuelle Diskussion sollte sich nicht darin erschöpfen, ob Methoden rigoros verboten oder freizügig erlaubt werden, vielmehr sei »das wahre Problem der Diskurs darüber« (Bachinger, 2015, S. 11). Und der findet in einer aufgeheizten, teilweise diffamierenden und polarisierenden Art und Weise statt. Bachinger fragt nach dem Menschenbild: »Worauf haben wir ein Recht, und wo gibt es Grenzen?« (Bachinger, 2015, S. 12). Schon 1994 meinte der Philosoph Odo Marquard, in der Reproduktionsmedizin spiegle sich der »moderne Janus-Charakter des Fortschritts« wider (Marquard, 1994, S. 103), mit seinen tiefen Verwerfungen zwischen den jeweiligen Meinungs- und Interessenvertretern. Millay Hyatt wirft in ihrem Buch »Ungestillte Sehnsucht – Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt« (2012) einen kritischen Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit ungewollter Kinderlosigkeit und ungewollten Kinderlosen. Für viele Betroffene sei die moderne Reproduktionsmedizin Fluch und Segen zugleich: »Die Versuche scheitern, und die Menschen lassen sich darauf ein und haben trotzdem kein Kind« (Hyatt u. Schaaf, 2012, S. 41). Sobald man in diesem Prozess drinstecke, würde sich eine eigene Dynamik entwickeln: Machen oder Aufhören? »Und wenn ich aufhöre, weiß ich, es hat sich alles nicht gelohnt. Das wird unerträglich, je mehr man investiert hat« (Hyatt u. Schaaf, 2012, S. 41). Nun mag man einwenden, diese Entscheidung müsse jeder und jede für sich allein und autonom treffen. In einer Gesell-
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schaft jedoch, die ein auf »erfolgreiche Selbstverwirklichung ausgerichtetes Lebensführungsmodell« präferiert, wie der Soziologe Andreas Reckwitz (2017) meint, fällt es schwer, zurückzuschalten und sich den normativen Vorgaben zu entziehen. Beim Blick der Humanwissenschaften auf die Zukunft der »Anthropotechnik« liegen Reproduktionsmedizin und Gen technik nahe beieinander. Der Philosoph Peter Sloterdijk meint, es brauche »Regeln für den Menschenpark« und eine Kultur des intensiven Diskurses, »ob die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird – ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt, ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optimalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt« (Sloterdijk, 1999, S. 46). Anne Meier-Credner (2019, 2020) ist selbst »Spenderkind« und in dieser Thematik wissenschaftlich-publizistisch tätig. Als Psychotherapeutin blickt sie gleichermaßen empathisch wie pragmatisch auf die Entwicklung des von Sloterdijk provokant bezeichneten »Menschenparks«: »Besonders problematisch sehe ich die Klassifizierung von Embryonen in Güteklassen und die Auswahl dessen, dem die besten Entwicklungschancen unterstellt werden. Er wird der Wunschmutter eingesetzt, während die übrigen entweder in späteren Zyklen eine Chance erhalten sich zu beweisen, oder – wenn der Kinderwunsch der Wunscheltern abgeschlossen sein sollte – als ›überzählig‹ klassifiziert zur Embryonenadoption freigegeben zu werden. Sie wachsen dann mit genetisch nicht-verwandten Eltern auf. Möglicherweise lernen sie früher oder später ihre genetischen Eltern kennen. Von denen waren sie ja ohne äußere Not schlichtweg nicht mehr gewollt, anders als die genetischen Vollgeschwister, die bei den genetischen Eltern aufwachsen. Das stelle ich mir extrem spannungsreich für alle Beteiligten vor.«38 38 Persönliche Mitteilung der Autorin.
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Kritik an der Reproduktionsmedizin ruft nicht selten heftige Gegenkritik hervor. Eva Menasse parierte scharf auf Sibylle Lewitscharoffs Dresdener Rede (Lewitscharoff, 2014), in der sie die Technik der künstlichen Zeugung als »widerwärtiges Verfahren« brandmarkte: »Wer nicht anders als mit Gott begründen kann, worin der Unterschied zwischen ›normaler‹ und reproduktiver Medizin, also zwischen Infusion und Insemination, zwischen einer Blut- und einer Samenspende, zwischen einem Bypass, einem künstlichen Hüftgelenk und ärztlicher Hilfe beim Kinderwunsch bestehen soll, hat sich im 21. Jahrhundert intellektuell erledigt« (Menasse, 2015, S. 35). Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Sachliche Argumente und inhaltliche Auseinandersetzungen geraten dabei leicht aus dem Blickfeld und münden letztlich in einen nicht mehr aufzulösenden polemischen Strudel, der zur Klärung der unterschiedlichen Positionen wenig beiträgt. Odo Marquard mahnt angesichts der Entwicklung, es dürfe nicht allein um die praktischen Lebensvorteile gehen, sondern um die »Lebenseinzigkeit und die Mitmenschen« (Marquard, 1994, S. 42). Und Jürgen Habermas fragt, wie wir uns als »autonome und gleiche, an moralischen Gründen orientierte Lebewesen verstehen wollen« (Habermas, 2001, S. 115), wenn wir die Lebensgeschichten und -wirklichkeiten in ihrer Vielfalt respektieren wollen. »Werden wir uns dann noch als Person verstehen können, die sich als ungeteilte Autoren ihres Lebens verstehen und die allen anderen ausnahmslos als ebenbürtige Personen begegnen?« (Habermas, 2001, S. 124). Die genealogische Tradition im Bedeutungswandel Der technologische Fortschritt ist notwendig und unaufhaltsam, es kann nicht darum gehen, ihn einzuschränken oder zu verdammen, aber es ist notwendig, seine Auswirkung intensiv zu diskutieren. Zu klären bleibt, »wohin die Reise gehen soll. Welches Menschenbild wird forciert? Worauf haben wir ein Recht und wo gibt es Grenzen?« (Bachinger, 2015, S. 12).
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Vera King (2020) fragt: »Verstehen wir Generativität nicht nur in ihrer biologisch-körperlichen Dimension, sondern umfassender als psychische und psychosoziale Fähigkeiten? Wie werden Erklärungen, Fähigkeiten und das kulturelle Gedächtnis weitergegeben und vermittelt? Die neuen Herkunfts- und vielfältigen Familienstrukturen verändern auch den transgenerationalen Informationsfluss und -austausch. Die Basis für eine sinnstiftende Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte geht verloren, auf die eine soziale Gemeinschaft ihr kulturelles Gedächtnis aufbaut. Parallel hierzu gewinnen Optimierungsprozesse und eine gesteigerte Fokussierung auf die Gegenwart eine immer größere Bedeutung, so als ließe sich die Weltzeit in die eigene Lebenszeit pressen« (King, 2020, S. 23; Blumenberg, 1986/2001). Dies geschieht auf Kosten der »generationalen Zeit, die potenziell verbinden und mit der Endlichkeit partiell versöhnen könnte« (King, 2020, S. 23). Der offenkundige Bedeutungswandel, den die genealogische Tradition in der Postmoderne erfährt, fordert nicht zuletzt das Theoriegebäude unserer eigenen, der tiefenpsychologischen Profession heraus. Entwicklungspsychologie und analytische Kinder- und Jugendpsychotherapie werden beobachten, welche Auswirkungen die Aufspaltung von sozialer und genetischer Elternschaft für das seelische Erleben, insbesondere für die Identitätsfindung und psychische Gesundheit von Kindern haben werden. Wie die New Yorker Psychoanalytikerin Christine AnzieuPremmereur meinen auch wir, es »wird eine nächste Generation von Kindern folgen, die Teil einer neuen Welt sein wird, in der die medizinische Reproduktion eine allgemeine Realität ist« (Anzieu-Premmereur, 2020, S. 60). Das wirft Fragen auf: »Wie steht es um ihre Über-Ich-Veränderungen, Identitätsentwicklungen in der Jugend, Gruppenspannungen, Fragen zu Geschlecht und Sexualität und ihre Fähigkeiten, Partnerschaften und Beziehungen einzugehen?« (Anzieu-Premmereur, 2020, S. 60). Auch diese Feststellung Anzieu-Premmereurs teilen wir: »Es ist schwierig, etwas über die Entwicklung der Fähigkeiten und
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der Besetzungen von Sexualität und Elternschaft der nächsten Elterngeneration vorherzusagen« (Anzieu-Premmereur, 2020, S. 60). Was wir aber mit Bestimmtheit sagen können, ist, dass es bei Weitem nicht mit einem »easy go« getan sein wird, wie besagte »Kinderwunschtage« an ihren Messeständen glauben machen wollen. Darauf hinzuweisen, dass diese versteckten Risiken und Nebenwirkungen des medizinischen Fortschritts nicht auszublenden sind und eine weitgehende gesellschaftliche Dimension umfassen, ist unser Anliegen.
»Josef-Väter« – ein Missverständnis zwischen Ärgernis und Heiligsprechung »Die stummen Josef-Väter – großzügig oder willfährig?« heißt ein Kapitel in unserem Buch »Spenderkinder« (Oelsner u. Lehm kuhl, 2016, S. 129 ff.). Darin geht es um zeugungsunfähige Männer, die dank der Samenspende eines anderen Mannes zu sozialen Vätern werden. Das Kapitel wurde einigen zum Ärgernis, vor allem dem Verein »DI-Netz – Familiengründung mit Spendersamen«. »Wir sehen uns nicht als verschämte Eltern!«, schrieb Ulrich Simon als betroffener Vater im Internetforum des Vereins DI-Netz. Seine Frau, die Vereinsvorsitzende, monierte den Begriff »willfährig« (Brügge, 2017, S. 64), ohne zu erwähnen, dass er in unserer Kapitelüberschrift mit einem Fragezeichen versehen war. In der Tat klingen einige Adjektive, mit denen die von uns befragten erwachsenen »Spenderkinder« ihre sozialen Väter belegten, wenig charmant. Als »blass und auffallend still, nahezu stumm« charakterisierten sie manche. Einige sahen sie als Außenstehende, die sich zur Samenspende nicht positionieren, sie nicht kommentieren wollen. In einem Fall wurde vermutet, dass der soziale Vater sich voreilig eine Zeugungsunfähigkeit habe einreden lassen. Indes zitierten wir nicht minder auch freundliche Zuschreibungen. Denn die »Spenderkinder« schilderten ihre sozialen Väter keineswegs als unsympathisch. Die meisten erlebten sie als »gutmütig, treu und zuverlässig« (Oelsner u. Lehmkuhl,
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2016, S. 129). Die Wiedergabe dieser wertschätzenden Aspekte erwähnten unsere Kritiker nicht. Ähnlich einseitig interpretieren die Befürworter von Samenspende auch den vieldeutigen Begriff »Josef-Väter«. »Wir Väter sehen uns nicht als charakterlose ›Josef-Väter‹, wie es im Buch anklingt«, schreibt der Mitbegründer des »DI-Netzes« in seiner Rezension. Dabei ist das Wort »charakterlos« an keiner Stelle unseres Buches zu finden. Es ist ja nicht zu leugnen, dass in bestimmten Milieus beim Begriff »Josef-Väter« ein Subtext auf dem Niveau von Thekenwitzen mitschwingt. Mit dem Verweis auf den biblischen Vater Jesus wird süffisant ein asexuelles Eheverhältnis umschrieben. Allerdings ist es bemerkenswert, wenn sich differenzierte Menschen wie die sozialen Väter im Verein »DI-Netz« beim vielschichtigen Begriff »Josef-Väter« allein auf dessen spöttische Deutung kaprizieren, sie gar um den Zusatz »charakterlos« verstärken. Zu verstehen sind die Reaktionen aus ihrer Rolle als Betroffene. Als solche führen sie ihre Verletzbarkeit vor Augen – und bleiben zugleich an dem haften, was zu bekämpfen sie sich vornehmen. Der Anstoß zum Begriff »Josef-Väter« kam aus dem Buch »Ganz der Papa« des Franzosen Arthur Kermalvezen. Der Autor ist ein »Spenderkind« aus den 1980er Jahren. Im Kapitel »Vater und Sohn« (Kermalvezen, 2009 S. 61 ff.) vergleicht er die Rolle seines sozialen Vaters mit dem biblischen Vater Jesus. Überspitzt fragt er: »Könnte man es nicht so sehen, als ob Jesus durch DI [gemeint ist Samenspende] gezeugt wurde? Auf jeden Fall mochte ich Josef immer gerne – er war ›der Papa‹« (Kermalvezen, 2009, S. 69). Arthur Kermalvezen setzt sich in seinem Buch sehr kritisch mit seiner Biografie auseinander. Schon im Vorschulalter wurde er aufgeklärt, dass er sein Leben der Samenspende eines unbekannten Mannes verdanke. Das wird ihm zunehmend zum Problem. Nicht die Existenz eines dritten Elternteils als solches irritiert ihn, sondern die Ohnmacht, sich ein Bild von dem Menschen machen zu können, dessen Gene er zu 50 % in sich trägt. Seine Kritik – ebenso die seiner zwei Schwestern – gilt zuvorderst der Anonymität von Samenspende.
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Den Zorn auf die Umstände seiner Zeugung kann Kermalvezen trennen von der Wertschätzung seines sozialen Vaters: »Wer glaubt, dass ich die Aufhebung der Spenderanonymität fordere, weil ich einen Vater suche, der ist dumm und verächtlich. […] Weil ich einen Teil meiner genetischen Herkunft suche, weise ich damit ja nicht gleichzeitig meine gesetzliche und soziale Herkunft zurück. Ich liebe meine Familie, in der ich aufgewachsen bin, und ich liebe ganz besonders meinen Vater« (Kermalvezen, 2009, S. 61). Präsenz mit Lücke Aus vielen Sätzen der biografischen Selbstauskunft Kermalvezens spricht Zugewandtheit zwischen ihm und seinem sozialen Vater. Arthur schätzt es, dass die Eltern es sich nicht leicht gemacht hatten, dass sie Seelenarbeit leisteten, bevor sie sich zur Familiengründung durch Samenspende entschieden: »Zu meinem großen Glück habe ich Eltern, die dazu imstande waren, zunächst zu akzeptieren, dass sie keine ganz eigenen Kinder würden haben können, bevor sie uns bekamen, meine Schwestern und mich. So konnten sie uns wirklich annehmen. Für meinen Vater sind wir ein bisschen wie Adoptivkinder. Er ist nicht eitel, und selbst wenn er nicht gerne über seine Unfruchtbarkeit spricht, so akzeptiert er sie doch und fühlt sich deswegen nicht in seiner Männlichkeit infrage gestellt« (Kermalvezen, 2009, S. 45). Mehreres ist an dieser Aussage bemerkenswert: Die biologische Ursache für die eigene Kinderlosigkeit wird von dem Ehepaar akzeptiert – Voraussetzung, um sie zu betrauern. Zudem: Das Modell Adoption half Arthurs Vater, ein Konzept von Nachkommenschaft für sich zu entwerfen. Und: Er definiert sich in seiner Männlichkeit nicht als defizitär, wenn er sich seine Unfruchtbarkeit eingesteht. Wer in der Adoptionsberatung tätig ist, weiß, dass solche Aussagen für eine reife Persönlichkeit sprechen. Sie sind das Ergebnis einer längeren Auseinandersetzung. Anfangs stand auch bei Arthurs Vater eine Haltung des Geschehenlassens. Die Person des Spenders beschäftigte ihn gar
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nicht. Der »war für ihn ein Wesen, über das er nicht nachdachte«, stellt Arthur fest, »was zählte, war allein, den Kinderwunsch seiner Frau zu erfüllen« (Kermalvezen, 2009, S. 17). Und als die ein weiteres Kind wünschte, weil sie »die Familie unbedingt vergrößern wollte, willigte Henri [der soziale Vater] ein weiteres Mal ein, um seiner Frau einen Gefallen zu tun, was er ihr gegenüber etwas später in einem Streit zugab« (Kermalvezen, 2009, S. 19). Elemente dieser Dynamik zwischen Arthurs Eltern tauchen in nahezu allen unseren Interviews mit »Spenderkindern« auf: Ihre sozialen Väter ließen es geschehen. Treibende Kraft für den Kinderwunsch waren in allen Fällen die Mütter. Die Mutter von »Spenderkind« Maria hatte von der Erfüllung ihres Wunsches den Fortbestand der Ehe abhängig gemacht. Leas Vater folgte »brav dem Gang zur Samenbank«, Franks Vater »ließ ihn geschehen«, Julias Vater »nahm ihn kommentarlos hin«. Anjas Vater »blieb ihm fern«, Stefanies Vater »schien nicht so recht zu wissen, um was es da ging«, während Franziskas Vater bei der Insemination seiner Frau im Ausland sich in der Rolle des Sprachdolmetschers quasi neutralisierte. Leas Charakterisierung ihres sozialen Vaters klingt wie eine Zusammenfassung: »korrekt aber leidenschaftslos« (alle Zitate aus Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 129). Ute Auhagen-Stephanos, eine in der Arbeit mit heterolog inseminierten Frauen erfahrene Psychoanalytikerin, sieht den zukünftigen Vater in der technischen Maschinerie der Reproduktionsmedizin als einen »hilflosen Zuschauer«, der einem fremden Dritten die Befruchtung seiner Partnerin überlässt. »Die Begriffe ›Männlichkeit‹ und ›Sexualität‹ sind in dieser technischen Maschinerie weitgehend in den Hintergrund gedrängt, ja, werden in diesem Kontext total verleugnet« (Auhagen-Stephanos, 2017, S. 244). Der Psychiater und Familientherapeut Helmut Bonney rät »Männern, die sich entschließen, nach DI soziale Väter zu werden, sich mit möglichen Auswirkungen auf ihr Selbstkonzept und die Partnerschaft auseinanderzusetzen« (Bonney, 2002, S. 123). Vernachlässigung ihrer Kinder wäre das Letzte, was sozialen Vätern pauschal nachzusagen wäre. Sie können ihren Kin-
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dern Zuwendung und Förderung geben, wie es manch leiblicher Vater-Kind-Beziehung zu wünschen wäre. Dennoch ist aus Sicht der Kinder immer wieder von einer Lücke zu hören. Es ist keine Vaterlosigkeit im Sinne ausbleibender realer väterlicher Präsenz, sondern eine lückenhafte innere väterliche Repräsentanz. Die genealogische Dimension kann nicht besetzt werden, weil auch der soziale Vater sie ausklammert, ausklammern muss. Arthur Kermalvezen spricht von einer »Inkohärenz der Erwachsenen« und resümiert: »Schließlich waren meine Eltern bereit, die Karten offen auf den Tisch zu legen und halfen mir dadurch, den Schlussstrich unter meine Jugend zu ziehen, die eigentlich unbeschwert hätte sein sollen, aber letztlich davon geprägt war, was ich aus heutiger Sicht ganz einfach als Inkohärenz der Erwachsenen bezeichne, und zwar die meiner Eltern inbegriffen. Für sie bedeutete die DI [Fremdsamenspende] die Möglichkeit ihr Unfruchtbarkeitsproblem zu lösen, worüber ich mich für sie und alle betroffenen Paare freue. Doch für meine gesamte Entwicklung bedeutete sie, dass sich alles immer nur vor diesem Hintergrund abspielte. Als ich als Jugendlicher anfing, meinen Vater mit Fragen zu nerven, hatte er überhaupt keine Lust, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Es ging ihm einfach ›auf den Sack‹, wie er mir im Spaß sagte. Aber weil er begriff, wie sehr mein Leben von der DI beherrscht war, versuchte er mir ernsthaft zu antworten. Dabei stellte sich heraus, dass er ›überhaupt nichts zur Insemination an sich sagen konnte‹, die er aus seiner Sicht eben ›über sich ergehen ließ, wobei er sich aber an die Spielregeln hielt‹« (Kermalvezen, 2009, S. 54 f.). Josef aus der »Heiligen Familie« als Modell Es ist ein Ausdruck kultureller Entwicklung, Nachkommenschaft nicht auf die biologische Potenz zu reduzieren. Die um dieses Sujet kreisenden Thekenwitze zeugen eben nicht von einem reifen Niveau. Erreicht wird es allerdings auch nicht allein dadurch, dass die biologische Potenz ignoriert wird. Die Kultur-
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wie Individuationsleistung liegt darin, biologische und soziale, materielle und ethische Aspekte zu integrieren. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Menschen bei ihren kulturellen, sozialisierenden und individualisierenden Prozessen zu unterstützen, ist unter anderem auch die Aufgabe von Religion. Das war in Zeiten vor Ausdifferenzierung der Humanwissenschaften wesentlich ausgeprägter als heute. Im Christentum personifiziert Josef als Ziehvater Jesus das Modell für ein über die Biologie hinausgehendes Verständnis von Vaterschaft. Josefs Heiligsprechung betont seine Vorbildrolle. Papst Franziskus rief das Jahr 2021 zum »Jahr des heiligen Josefs« aus. »Als Vater wird man nicht geboren«, zitieren ihn die »Vatican News« am Vorabend des »Josef-Jahrs« (30.12.2020): »Vater wird man nicht einfach dadurch, dass man ein Kind in die Welt setzt, sondern dadurch, dass man sich verantwortungsvoll um es kümmert.« In der heutigen Gesellschaft »scheinen Kinder oft vaterlos zu sein«, weil Väter fehlen, »die das Kind an die Erfahrung des Lebens, an die Wirklichkeit heranführen«, ohne es festzuhalten, besitzen zu wollen. In diesem Sinne habe Josef auch den Beinamen »keusch«. Der drücke als Haltung das Gegenteil von »besitzergreifend« aus, sagt der Papst. Es sei dahingestellt, wieweit den Protagonisten im Verein »DINetz« die theologische Quelle dieser Auslegung genehm ist. Ihre eigene Position zu Bedeutung und Wert sozialer Vaterschaft findet sich jedenfalls zu hohen Anteilen im päpstlichen Wort wieder. Für Menschen ohne Heiligenstatus ist es allerdings nicht immer einfach, den Platz einzunehmen, den die christliche Ikonografie dem treu sorgenden sozialen Vater des göttlichen Kindes an der Krippe zuweist: die zweite Reihe. »Er verstand es, zur Seite zu treten und Maria und Jesus zur Mitte seines Lebens zu machen. […] Josefs Glück gründet sich nicht auf die Logik der Selbstaufopferung, sondern der Selbsthingabe«, erklärt Papst Franziskus (2020). In der klassischen Szene der Weihnachtskrippe könnte Arthur Kermalvezen seine jugendliche Fantasie wiederfinden, wenn er fragt, ob Jesus nicht mittels Samenspende gezeugt wurde. Der
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»soziale Vater«, Josef, steht dort meistens im Hintergrund. Und der »Samenspender«? Der taucht erst gar nicht auf. Das kann mehrdeutig interpretiert werden. Ist er ein Nobody ohne Konturen, ohne Stimme, ohne Gesicht? Oder schwebt er vielleicht als allgegenwärtiges Wesen über der Szene, unsichtbar, doch von göttlicher Omnipotenz? Was die Vernunft als absurd zurückweist, ist für die kindliche Fantasie nicht ungewöhnlich. Ein Ausruf von Arthurs Schwester Justine zeugt davon. Selbst ebenfalls ein »Spenderkind« sagt sie zu ihrem Bruder einmal trotzig: »Mein Spender ist Gott, es ist Jesus!« (Kermalvezen, 2009, S. 118, siehe auch »Literarischer Exkurs 1«). Es scheint ein Grundbedürfnis zu sein, von dem, der so wesentlich in das weitere eigene Leben eingreift, eine Vorstellung haben zu wollen. Der, dessen Mitbeteiligung das eigene Leben erst ermöglicht, der ihm die Hälfte des Erbpotenzials mitgibt, will als Person gesehen werden. Ersatzweise soll wenigstens sein Aussehen, seine Stimme bekannt sein. Zuletzt bleibt nur der Wunsch nach Kenntnis seines Namens. Immer bleibt er der mitbeteiligte Dritte. Auch bei einer anonymen Samenspende muss sich das Wunschelternpaar gegenüber dem Dritten positionieren. Auhagen-Stephanos sieht durch die Einbeziehung eines Mediziners die Dreierkonstellation schon vor dem »Zeugungsakt« gegeben. Bei der betroffenen Frau kann sich das in »einer erotischen ›Übertragungsliebe‹ zu dem sie befruchtenden, als omnipotent idealisierten und als Vaterfigur empfundenen Arzt« zeigen (AuhagenStephanos, 2017, S. 244). Dem Mann helfe dann manchmal »die Identifikation mit dem Aggressor, um das eigene Kind friedlich begrüßen zu können« (Auhagen-Stephanos, 2017, S. 244).39 Aus psychoanalytischer Sicht ist diese Möglichkeit der Interpretation einleuchtend. Offen bleibt indes die Frage nach der Dynamik, wenn eine Ärztin die Behandelnde ist.40 39 Als Gedankenspiel sei angeregt, die biblischen Szenen von Verkündigung und Geburt Jesu assoziativ mal unter diesen Aspekten zu lesen. 40 Möglicherweise problematisiert Auhagen-Stephanos diese Konstellation deshalb nicht, weil die Anthologie, in der ihr Beitrag erscheint, auf das Thema zentriert ist: »Männlichkeit, Sexualität, Aggression«.
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Literarischer Exkurs 4: Annette Mingels’ »Was alles war« Die von Arthur Kermalvezen (2009) empfundene Unklarheit kann sich als Unsicherheit und Misstrauen wie Mehltau auf Identitätsfindung und Sozialleben legen. Bei ihm kam es zu einer »unumgänglichen Distanz« zu den Eltern. Verallgemeinern lässt sich sein Empfinden und Verhalten jedoch nicht. Die Dynamik unterliegt keinem Automatismus. Die Schriftstellerin Annette Mingels, geboren 1971, erlebte nicht jenen Sog, von dem andere bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern berichten. Kurz nach ihrer Geburt adoptiert und mit zwölf Jahren darüber aufgeklärt, dachte sie nie viel über ihre Herkunft nach: »Wenn ich es tat, dann mit einer Mischung aus Neugierde und Aufregung«, so ihre Selbstauskunft in einem Beitrag für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (Mingels, 2007). Als sie dann als junge Frau ihrer leiblichen Mutter zum ersten Mal begegnete, blieb diese ihr fremd. Da musste keine Leerstelle gefüllt werden: »Ich hatte eine Mutter, ich wollte keine zweite« (Mingels, 2007). Ihre leibliche Mutter nahm in ihrer Vorstellung fortan eher die Rolle einer »entfernten Verwandten« an. Bedeutsam ist für Annette Mingels, dass ihre sozialen Eltern sich entschieden hatten, ein Kind anzunehmen, dessen genetische Disposition sie nicht kannten. Sie engten sich auch nicht mit bestimmten Erwartungen an dessen Zukunft ein. Daraus erwuchsen ihr Freiheiten. »Wir mussten abwarten, in welche Richtung du dich entwickeln würdest«, zitiert sie ihren Vater. Und die Mutter ergänzt: »Wir konnten nicht vorhersehen, welche Talente du haben würdest; konnten nichts voraussetzen.« Manchmal sei das schwierig gewesen: »Wir mussten einfach an dich glauben. Und an uns« (Mingels, 2007). Annette Mingels äußerte sich 2007 über ihre Biografie vor dem Hintergrund der Diskussion um die Rolle der leiblichen Eltern im Adoptionsverfahren. Ergebnisse der pränatalen Bindungsforschung verdeutlichten, wie nachhaltig Einflüsse aus der symbiotischen Zeit der Schwangerschaft sich im Neugeborenen abbilden. Insofern kann selbst eine schon im Kreißsaal zustande
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kommende Pflegschaft oder Adoption Trennungserlebnisse nicht verhindern. Fachkreise plädieren deshalb dafür, den Kontakt zu den leiblichen Eltern möglichst lange beizubehalten. Unter dem Begriff »offene Adoption« findet das Bestreben Niederschlag in der Rechtsprechung. »Ich glaube nicht an dieses Konzept«, urteilt Annette Mingels über die offene Adoption und sieht sich durch ihre eigene Entwicklung bestätigt: »Die Normalität, in der ich meine Kindheit verbrachte, empfinde ich als Kokon, in dem ich seelische Stabilität aufbauen, eine eigene Identität entwickeln konnte.«41 Selbstbewusst fügt sie an: »Als ich Andrea [die leibliche Mutter] dann erstmals traf, war ich selbstsicher genug, zu wissen: Was sie auch tut – es betrifft sie, nicht mich« (Mingels, 2007, Z. 2). Die Selbstsicherheit der Schriftstellerin ist nicht anzuzweifeln. Doch darf man sich vor Augen halten, dass sie sich so entschieden positioniert in einer Lebensphase, in der sie partnerschaftlich etabliert ist und nach abgeschlossenem Studium, Promotion und ersten Romanerfolgen berufliche Bestätigung findet. Dieser Hinweis relativiert nicht ihre Haltung. Vielmehr spricht er für die Ressourcen, die bei der Bewältigung von biografischen Extremsituationen hilfreich sein können. Sie schriftstellerisch zu reflektieren, zu bearbeiten, zu bewältigen, ist eine – anspruchsvolle – Möglichkeit, sich als Erwachsene dem einstigen Adoptivkind zu nähern. Das einstige Objekt nimmt nun die selbstbestimmende Position eines Subjekts ein. In ihrem Roman »Was alles war« (2017) erzählt Annette Mingels weitgehend ihre eigene Adoptionsgeschichte. In vielen Textpassagen sind autobiografische Bezüge zu erkennen. Der Name, den ihre leibliche Mutter ihr gab, bevor ihre Adoptiveltern sie Annette nannten, weicht nur um einen Buchstaben vom Ruf41 Ähnlich wird über das Adoptionsrecht diskutiert. Die leiblichen Eltern – lange Zeit ignoriert – werden heute weitgehend in die Entwicklung einbezogen (BMFSFJ, 2021). Zweifelsohne ist das ein Fortschritt. Doch in der Praxis zeigen sich auch kritische Aspekte in Interaktion und Dynamik. Manche wünschen den Kindern, erst einmal in Ruhe bei den Adoptionseltern anzukommen.
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namen ab, den die Romanmutter ihrer Tochter gibt: aus Aliana wird Alina. Auch sind Gestalt und Lebensführung der fiktiven wie realen leiblichen Mutter nahezu identisch. Und ähnlich wie das Kind im Roman ist Mingels froh, nicht bei dieser Frau aufgewachsen zu sein. Schon in ihrem Beitrag für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« skizziert sie deren Charakterzüge so, wie sie später im Roman episch dargestellt werden: als permanent selbstbespiegelnd, letztlich bindungsunfähig. Mingels und ihre Romanprotagonistin sind bei der ersten Kontaktaufnahme zur leiblichen Mutter etwa gleich alt und ähnlich etabliert. Und schon auf der zweiten Textseite im Roman lässt die Schriftstellerin ihr Alter Ego über diesen Schritt wortwörtlich das Gleiche sagen, was sie elf Jahre zuvor in der Zeitung schrieb: Sie sei von dessen relativer Geräuschlosigkeit überzeugt, er sei »einfach eine Begegnung, das Schließen einer Klammer, die bei meiner Geburt geöffnet worden war« (Mingels, 2017, S. 10). Dass Begegnungen zwischen Kind und leiblicher Mutter das Potenzial für mehr als nur das einfache »Schließen einer Klammer« haben, kommt am Romanende zum Vorschein. Da wird der erwachsenen Tochter bewusst: »Was ich an ihr nicht mag […] das ist, was ich an mir selber auch nicht mag« (Mingels, 2017, S. 261). Elf Jahre zuvor hatte Mingels unter ihrem realen Namen in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« die missliebigen Eigenschaften mit nahezu identischen Worten benannt: »Gleichzeitig entdeckte ich Züge an ihr, die ich von mir kannte. Äußerlich – in ihrer Mimik, der Art zu sprechen und zu essen. Aber auch, und das war unangenehmer, in ihrem Charakter: diese Eitelkeit kannte ich, den unverhohlenen Egoismus, den ich, so hoffte ich, hinter mir gelassen hatte, im Kosmos meiner Kindheit, in dem sich alles auf wundersame Weise um mich zu drehen schien, jedes Ding ein Zeichen, jedes Zeichen einVersprechen. Ich war inzwischen ruhig geworden: Was für ein Glück, dachte ich, dass sie mich weggeben hat« (Mingels, 2007, Z. 2). Auch die Romanprotagonistin bewertet die Adoption als Glücksfall, als »die Freiheit, die ich dadurch hatte, dass ich nicht fortwährend mit ihr [der leiblichen Mutter] konfrontiert war.
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Sondern mit meiner Mutter [gemeint ist die Adoptivmutter], die so anders ist als ich, mein Anker und mein Gegengewicht« (Mingels, 2017, S. 262). Von dieser Unterbrechung ihrer biologischen Herkunftslinie würden auch ihre eigenen Töchter profitieren: »Weder sehe ich in ihnen das gespiegelt, was ich schon bei meiner Mutter nicht mochte, noch müssen sie befürchten, jemals so zu werden wie ich. Die ganze leidige Mutter-Tochter-Kette ist durchbrochen. Hat das jemand schon mal festgestellt? Diese Freiheit, die eine Adoption mit sich bringen kann?« (Mingels, 2017, S. 262). Die Sicht der Romanfigur ist ein originelles Gedankenkon strukt. Varianten sind in der Realität nicht selten anzutreffen. Zu hören sind sie von erwachsen gewordenen Adoptivkindern – von Adoptiveltern nicht minder –, die selbstbewusst auf ihre Biografie blicken. Im Idealfall ist diese Sicht in breite Lebensbezüge integriert. Im weniger gelingenden Fall wird sie um den Preis eines Ausklammerns konflikthafter Themen aufrechterhalten. Es lohnt hinzuhören, ob aus entschieden vorgetragenen Positionierungen Selbstbewusstsein herausklingt oder eher eine trotzige Beschwörung. Beides ist möglich. Hinter manch Demons trativem versteckt sich mehr der Wunsch, es möge doch so sein. Wäre es anders, drohten Verletzungen, zumindest Konflikte. Wenn die leiblichen Eltern präsent werden, fürchten manche Adoptivkinder ein Loyalitätsdilemma.42 Manche »bewältigen« den Konflikt, indem sie den Themenbereich – vorläufig – ausklammern. Das ist zu respektieren. Allerdings sollte nicht unterschätzt werden, dass die Aufrechterhaltung der Verdrängungsdecke sehr viel Kraft und Aufmerksamkeit erfordert. Im Durchstehen von Auseinandersetzungen wären sie nachhaltiger investiert.
42 Dies ist ein kritischer Aspekt bei offenen Adoptionen, bei denen von vornherein die sozialen und biologischen Eltern dem Kind bekannt sind.
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Wiederkehr der vaterlosen Gesellschaft? Das menschliche Vorstellungsvermögen ist erst nach und nach zu Abstraktionen fähig. Anfangs ist es noch sehr auf konkret Anschauliches ausgerichtet. Dinge und Personen müssen greifbar, sichtbar, hörbar sein. Die noch unreife kindliche Vorstellungswelt ist letztlich auch die Basis, auf der die Weiterentwicklung von Individuen wie Gesellschaften ansetzt. Es sind jene Prozesse, bei denen wiederholt erinnert werden darf, dass gewünschte Ergebnisse nicht am Anfang stehen können. So auch nicht die Fähigkeit, Vorstellungen über die eigene Herkunft zu abstrahieren. Natürlich kann und muss auch bei Kindern mit Worten ein Verständnis für die unterschiedliche Einflussnahme von biologischen und sozialen Faktoren angebahnt werden. Die Integration der diversen Parameter zu einem verinnerlichten Konzept braucht aber Zeit. Auch bei den beteiligten Erwachsenen. Das Gegenteil solch einer Integration ist die Abspaltung. Was die Person des Samenspenders angeht, ist eine Abspaltung gewollt. Das gewerbemäßige Modell der heterologen Insemination setzt sie geradezu voraus, und mit dem Samenspenderregistriergesetz (SaRegG) ist sie in Deutschland seit dem 1. Juli 2018 juristisch besiegelt (Bundesgesetzblatt, 2017). Demnach bleibt der Spender nicht anonym, aber er bleibt außen vor. Paragraf 2, Absatz 7 des Gesetzes legt fest, »dass der Samenspender vor der Gewinnung des Samens über Folgendes aufgeklärt worden ist: den Ausschluss der Feststellung der rechtlichen Vaterschaft des Samenspenders« (Bundesgesetzblatt, 2017). Gesetze bringen einerseits Rechtssicherheit – andererseits kann die auch spalten Das Gesetz kräftigt die Rechtssicherheit der Spender. Die wollen verständlicherweise nicht das Risiko späterer Klagen auf »Feststellung der rechtlichen Vaterschaft« oder auf Erbansprüche eingehen. Die wurde bislang ohnehin extrem selten angestrebt, seitens der erwachsen gewordenen Kinder so gut wie nie. Den
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Kindern wiederum gibt es Sicherheit, dass auch der Samenspender keine rechtliche Vaterschaft für sich reklamieren kann, mit der etwa spätere Unterhaltsverpflichtungen des Kindes ihm gegenüber geltend gemacht werden könnten. Auch solche Fälle sind aus der Vergangenheit so gut wie unbekannt. Insgesamt ist das »Gesetz zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei heterologer Verwendung von Samen« (SaRegG) ein juristischer Meilenstein im Bemühen um Rechtsklarheit, nachdem die Entwicklung von Fremdsamenspenden viele Fragen offengelassen hatte. Der größte Gewinn liegt im nun garantierten Auskunftsanspruch der Kinder. Ihnen wird Kenntnis ihres genetischen Erzeugers zugesichert. Allerdings, das sei angemerkt, erfasst das Gesetz lediglich Vorgänge in Kinderwunschkliniken und ähnlichen Einrichtungen. Im Wortlaut ist die Rede von »Pflichten der Entnahmeeinrichtung bei der Gewinnung von Samen zur heterologen Verwendung für eine künstliche Befruchtung«. Privat durchgeführte Varianten heterologer Insemination, etwa per Bechermethode, oder diverse Konstellationen einer Queer Family, werden davon bislang nicht erfasst.43 Die juristische Diktion ist geeignet, Rechtssicherheit zu erzielen. Geht es hingegen um menschliche Beziehungen, um Gefühle und Identitäten, dann stoßen kategorisierende Sprachregelungen an Grenzen. Denn psychische Prozesse sind dynamische Prozesse, und die divergieren gerade bei den Betroffenen einer heterologen Insemination. Wunscheltern und Spender haben völlig verschiedene Intentionen. Und die späteren Kinder werden wiederum andere Bedürfnisse und auch andere Verarbeitungsmöglichkeiten haben. »Der Spender gehört nicht zur Familie, selbst wenn er zugestimmt hat, dass seine Identität dem Kind mitgeteilt werden kann, wenn es volljährig ist« (DI-Netz, 2013, S. 6). Die klare Posi43 Der Koalitionsvertrag 2021–2025 der deutschen Bundesregierung sieht hier eine Erweiterung vor: »Das Samenspenderregister wollen wir auch für bisherige Fälle, private Samenspenden und Embryonenspenden öffnen (S. 101 f.)
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tionierung im »Ratgeber für Eltern«, den der Verein »DI-Netz« herausgibt, sei an dieser Stelle noch mal wiederholt. Auch indem es zuvor heißt, »der Spender hat unbestritten eine genetisch-biologische Verbindung mit dem Kind und verdient es, mit Respekt und Dankbarkeit genannt zu werden« (DI-Netz, 2013, S. 6), ist die Abgrenzung auch eine Ausgrenzung. Für die meisten Spender ist dies völlig in Ordnung. Es deckt sich mit ihren Vorstellungen.44 Von Männern, die sich inzwischen über Medien vermehrt zu ihrer einstigen Samenspende äußern, ist als Motiv überwiegend zu hören, dass sie kinderlosen Paaren helfen wollten und/oder auch gerne die »Aufwandsentschädigung« mitnahmen. Fand die Aktion in einer Einrichtung statt, galt nach der Aktion »aus den Augen, aus dem Sinn«. Es gehört zum Konzept von Samenbanken und Kinderwunschzentren, dass sich der Spender und die empfangende Frau nebst Partner oder Partnerin nicht begegnen.45 Die Fernsehjournalistin Julia Kaulbars hat wiederholt zu dem Thema gearbeitet und machte die Erfahrung, »dass die meisten, die früher anonym gespendet haben, dieses Kapitel am liebsten aus dem Gedächtnis löschen würden«. Hier sei nur am Rande bemerkt, dass die Journalistin auch zu Eizellspenden recherchiert. In dem von ihr für das TV-Wissenschaftsmagazin »Nano« produzierten Beitrag »Der wahre Preis der Eizellenspenden in Spanien« (Kaulbars, 2021b) distanziert sich eine spanische Studentin von ihrer einstigen Eizellspende. Sie hoffe, sagt die junge Frau, dass ihr Genmaterial nie zum Einsatz, und wenn doch, nicht zur erfolgreichen Befruchtung gekommen sei. Der Gedanke, »biologische Kinder« zu haben, belaste sie. Der Bei44 Anders können die Beziehungen sein, wenn die Insemination außerhalb von Einrichtungen erfolgt, etwa in Fällen, in denen der Freund eines lesbischen Paares sich als genetischer Vater zur Verfügung stellt, den Kontakt zur Familie hält und auch dem Kind später in dieser Rolle bekannt bleibt, ohne soziale Vaterfunktion zu übernehmen. 45 Nach unserem Wissen gibt es bislang keine systematischen, aussagekräftigen Untersuchungen, wie sich Samenspender zu ihrem Tun positionieren, ob und welche Gedanken sie sich über das aus ihrer Gametenabgabe entstehende Leben machen.
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trag hinterfragt die in Spanien angeblich altruistische Einstellung, Eizellen vergleichbar wie Blutspenden abzugeben. 24.000 würden aktuell jährlich eingesetzt. 1.000 bis 1.500 Euro erhielten die »spendenden« Frauen für den Eingriff. Da das Genmaterial natürlich auch einreisenden deutschen Frauen zur Verfügung steht, kommt es zu einem paradoxen Effekt. Um das hohe Gut einer eindeutigen Mutterschaft (Eizellspenden führen zu »gespaltener Mutterschaft«) zu schützen, ist Eizellspende in Deutschland verboten. Über den Umweg einer ausländischen Kinderwunschbehandlung wird sie indes praktiziert, womit die Chance der Kinder, Kenntnis ihrer Abstammung zu erhalten, zurückfällt in Zeiten, die mit dem Samenspenderregistriergesetz überwunden werden sollten: Zeiten der Anonymität. Spanien schreibt sie bei der Eizellspende sogar vor. Zurück zu den Männern. Im Rahmen der Herkunftssuche von erwachsen gewordenen Kindern werden inzwischen einige der einst unbekannten Spender aufgefunden. Von denen, die sich zu ihrer oft Jahre zurückliegenden Samenspende öffentlich äußern, zeigen sich viele überrascht zu hören, dass sie im Leben der mit ihrer Hilfe gezeugten Kinder eine Bedeutung gehabt haben sollen. Julia Kaulbars lässt im Beitrag »Der blinde Fleck in meinem Leben« (Kaulbars, 2021a) der ZDF-Dokureihe »37 °« den inzwischen 57-jährigen Koch »Peter« zu Wort kommen. Der hatte aus den Medien erfahren, wie wichtig »Spenderkindern« die Suche nach dem genetischen Vater ist, und er beschloss daraufhin, sich dem Thema zu stellen. Plötzlich sieht er sich in einer Verantwortung, die er bislang nicht sehen konnte. Er lässt sie sich auch nicht ausreden, als sein Ehemann ihm ein Zahlenszenario von einigen Hundert potenziellen Kindern vorrechnet. Schließlich hatte Peter drei Jahrzehnte zuvor fünf Jahre lang, mitunter wöchentlich, in der größten deutschen Samenbank sein Sperma hinterlassen.46 Damals sicherte ihm das einen Teil seines Lebensunterhalts. 46 Laut ärztlichem Standesrecht sei in Deutschland eine Begrenzung von zehn »Spenderkindern« pro genetischem Vater vorgegeben. Kontrolliert worden seien diese Vorgaben laut Meier-Credner (2020, S. 333) nicht.
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Mit seinem »Outing« verbindet Peter ein Kontaktangebot an die potenziellen Kinder. Seine Idee, für alle ein Treffen in seinem Lokal zu organisieren, mutet ebenso gutmeinend wie unbeholfen an. Während der Dreharbeiten kam das indes nicht zustande. Deutlich wurde jedoch das noch unsortierte Empfinden eines Mannes, der plötzlich ahnt, dass er unbekannten Menschen, die sein Genogramm tragen, seit Jahrzehnten etwas bedeuten könnte. Diffus spürt er, dass er eine imaginäre Rolle besetzt, von deren Existenz ihm nie jemand etwas gesagt hatte. Und hätte er sie geahnt, hätte das System sie ihm als unbedeutend kleingeredet. In unseren eigenen Interviews hörten wir von intensiven Auseinandersetzungen zwischen Eltern und ihren inzwischen erwachsenen Kindern. Es ging um die weit zurückliegende Entscheidung, den Kinderwunsch mittels Fremdsamenspende zu erfüllen und wie er kommuniziert wurde. Das Konfliktpotenzial solcher Diskussionen war mitunter erheblich. Manches führte auch zum Bruch, dank der Reflektiertheit der Beteiligten aber nur zwischenzeitlich. Was oft mit 25 Jahren Zeitverzögerung an Überlegungen nachgeholt wurde, wäre den Eltern am Anfang des Prozesses zu wünschen gewesen. Und zwar durch eine von Eigeninteressen der Kinderwunschzentren abgekoppelte Beratung (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 224 ff.). Vateranteile des Spenders – wie können die aussehen? Das Interesse der »Spenderkinder« am genetischen Vater ist keine Einbahnstraße der Neugier. »Sie möchten als Person wahrgenommen werden. Es treten Fragen auf, wie er wohl reagiert, wenn er dem Kind begegnet, und ob er weiß, dass es das Kind als Person gibt«, sagt die Mitbegründerin des Vereins »Spenderkinder«, Anne Meier-Credner (2020, S. 337). Beispielhaft zitiert sie Mitglied Stina: »Was würde er von mir halten, wenn er mich sehen würde? […] Manchmal frage ich mich, ob der Spender jemals an die Kinder denkt, die mit seiner Spende entstanden sind und ob er vielleicht auch neugierig ist, wie sie sich entwickelt haben« (Meier-Credner, 2020, S. 337).
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»Unauflösbar« ist die Verbindung der an der Zeugung beteiligten Personen, betonen die »Spenderkinder«. »Dauerhaft« nennt sie Birgit Meyer-Lewis, die am Staatsinstitut für Familienforschung Bamberg ihren Schwerpunkt in der »Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz« hat: »Im Kontext einer Gametenspende werden die Lebensgeschichten der Empfängereltern, der Spenderpersonen und der so gezeugten Kinder dauerhaft miteinander verbunden« (Meyer-Lewis, 2017, S. 127). Im Kontrast zu »unauflösbar« und »dauerhaft« und den damit lebenslang verbundenen Dynamiken suggeriert die Formulierung »Assistierte Reproduktion mit Hilfe Dritter«47 die Sachlichkeit eines einmaligen Akts. Die Betroffenen im Verein »Spenderkinder« finden es zutreffender, von »Familiengründung zu dritt« zu sprechen: »Es gibt sichtbare soziale Beziehungen, und es gibt unsichtbare Beziehungen auf der genetischen Ebene. Bei der Familiengründung mit Samenzellen Dritter wird also nicht etwas isoliert für sich Stehendes weitergegeben, sondern es muss bedacht werden, dass dabei immer auch eine Beziehung zwischen dem genetischen Vater und dem Kind entsteht, auch, wenn diese neue Verbindung zunächst unsichtbar ist. Das Kind wird im Laufe seines Lebens selbst über die Bedeutung des genetischen Elternteils entscheiden. Und diese kann sich auch im Laufe des Lebens immer wieder verändern« (Meier-Credner, 2019, S. 91). An der Formel »Familiengründung zu dritt« reiben sich wiederum die Befürworter dieser Zeugungsmethode. Claudia Brügge, Vorsitzende des Vereins »DI-Netz. Familiengründung durch Spendersamen« kritisiert die Position der organisierten »Spenderkinder« und deklariert sie quasi als historisch überholt: »Vor dem Hintergrund ihres normativen Familienmodells wird ein allgemeingültiges Schema für alle postuliert, in dem die Rollen aller Beteiligten (›Positionen‹) von vornherein festzustehen scheinen. […] ›Spenderkinder‹ sind Kinder ihrer Zeit. Während die einen vor mehreren Jahrzehnten in einer ›Kultur der Geheimhaltung‹ 47 So der gleichlautende Band in Herausgeberschaft unter anderem der Vorsitzenden des »DI-Netz«: Beier, Brügge, Thorn und Wiesemann (2020).
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aufwuchsen, erfahren andere heute eine zunehmende Offenheit (Netzwerke, Spenderregister, Ratgeberliteratur, Internet, Medienberichte, DNA-Datenbanken etc.)« (Brügge, 2020, S. 324 f.). Abgesehen davon, dass die neue Offenheit erheblich von den »Spenderkindern« mitforciert wird, ist zu fragen, was daran zweifeln lassen soll, dass die unauflösbare biologische Verbindung mit dem genetischen Vater dessen innerpsychische Repräsentanz auf immer festschreibt. Abspalten davon lässt sich freilich dessen rechtliche Bedeutung. Diesbezüglich hat das SaRegG 2018 nun Fakten geschaffen. Die Forderung der »Spenderkinder«, den genetischen Vater mit einem Eintrag im Geburtsregister unauslöschlich zu dokumentieren, wurde im Gesetz nicht berücksichtigt (vgl. Meier-Credner, 2020, S. 334). Zu fragen bleibt schließlich auch, ob es tatsächlich vom Zeitgeist (»Kultur der Geheimhaltung« oder »Offenheit«) abhängig ist, wenn Menschen sich ihr Leben lang in einer Beziehung zu ihrer genetischen Herkunft sehen. Die Erfahrungen aus unseren Interviews und auch aus den epochenübergreifenden literarischen Zeugnissen lassen uns überzeugt sein, dass dies keine historisch überholten Irritationen singulärer Generationen sind. Eher zeigt sich darin eine anthropologische Konstante. Positionen der Ethik stützen diese Auffassung. Das Gut der Elternschaft sei »grundsätzlich genetizistisch begründet«, meint der Theologe Henning Theißen (2019, S. 194) in seiner umfangreichen »Ethik der Adoption«.48 »Grundsätzlich« bedeutet indes nicht starr. Theißen differenziert: »Elternschaft beruht vorrangig auf genetizistischer Selbstbeteiligung der Eltern, kann aber nachrangig auch willentlich auf andere übertragen werden« (Theißen, 2019, S. 195, Herv. i. O.). Theißens integrierende Argumentation folgt dem in der Reproduktionsethik forschenden Philosophen Oliver Hallich, wenn er 48 Bemerkenswerterweise gibt auch die Leopoldina in ihrer Stellungnahme »für eine zeitgemäße Gesetzgebung« in der Fortpflanzungsmedizin zu bedenken, inwieweit bei einer möglichen Zulassung von Leihmutterschaft »mindestens ein Elternteil mit dem Kind genetisch verwandt sein muss« (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V., 2019, S. 81).
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feststellt, dass »alle, deren Gametenmaterial an der Geburt eines Kindes beteiligt ist, […] Verantwortung für das so geborene Kind haben« (Theißen, 2019, S. 194). Doch die biologistische Vorgabe klammert die freie Willensbekundung (Voluntarismus) nicht aus. Indem sie nachrangig gesehen wird, steht sie dem Genetizismus nicht unversöhnlich gegenüber. Gleichwohl, so Hallich, sei Elternschaft aus rechtsphilosophischer Sicht am Genetizismus festzumachen. Auch durch Verträge sei diese Verbindung nicht aufzulösen.49 Reale Wirkung einer irrealen Imagination »Auch Psychoanalytikerinnen, die die Reproduktionsmedizin grundsätzlich positiv einschätzen, erkennen mittlerweile die Bedeutung des Samenspenders für die Vorstellungswelt der Mütter an. Dabei sind sie durchaus überrascht über die sehr intensiven Phantasien lesbischer Eltern über diesen Dritten, den sie nicht haben wollten und doch brauchten.« So fällt das Resümee einer kleinen Literaturübersicht von Hans-Geert Metzger (2017, S. 264 f.) aus. Aus den praxisnahen Beiträgen analytischer Psychotherapeutinnen gibt er dieses Beispiel wieder: »So berichtete die Mutter eines Kindes, das durch eine Samenspende gezeugt wurde, wie sie geradezu zwanghaft ›jeden Mann auf der Straße genauestens‹ musterte, der bestimmte körperliche Merkmale hatte, die ihrer Tochter ähnelten« (Metzger, 2017, S. 265). Die Fantasien jener Mutter erinnern an die Gedankenspiele von »Spenderkind« Maria (siehe Kapitel »Nachkommenschaft ist mehr als Biologie«), die den Dozenten im Hörsaal auf Merkmale hin »scannt«, die ihn als ihren genetischen Vater ausweisen könnten. Metzger meint, der Prozess der künstlichen Reproduktion lade geradezu ein zu unverstellten »Wünschen und Ängsten, die 49 Oliver Hallich im Vortrag auf der Fachtagung »Verantwortliche Elternschaft. Interdisziplinäre Perspektiven auf Gameten- und Embryonenspende« am Hannoveraner Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG) am 8. September 2016.
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aus inneren Bildern stammen« (Metzger, 2017, S. 265). In homosexuellen Beziehungen könne das beispielsweise zur Paradoxie führen, dass der heterosexuelle Dritte eine große Bedeutung als innere Repräsentanz bekommen kann, obwohl »doch gerade er ausgeschlossen werden sollte« (Metzger, 2017, S. 265). Dieses »innere Bild« ist keine statische »innere Fotografie« einer Person. Zu ihr kann sich eine Beziehung entwickeln und mit ihr können imaginäre Dialoge geführt werden. Die Psychoanalyse spricht deshalb nicht vom »Bild«, sondern im umfassenderen Sinne von einer »inneren Repräsentanz«. Der kann Empathie entgegengebracht werden. Sie kann sogar Einfluss auf den Lebensplan eines Menschen nehmen. Das Beispiel »Franziska« (Kapitel »Die Entmachtung des Schicksals«) zeugt von der realen Wirkung einer irrealen Vaterrepräsentanz. Es sei hier wiederholt: »Spenderkind« Franziska befällt am Vorabend ihrer Hochzeit eine Traurigkeit. Angesichts des bevorstehenden Ereignisses wird ihr bewusst, dass ihr anonymer genetischer Vater nie etwas von seiner eigenen »Weiterexistenz« durch die Familiengründung »seines Kindes« erfahren würde. Der Unbekannte ist ihr in dem Moment so nah, dass sie ihn am liebsten bei der Festgesellschaft sehen möchte. Empathisch verbunden bleibt sie ihm auch nach der Geburt ihrer Kinder: »Ich habe immer wieder Rührung und Nähe empfunden bei der Vorstellung, in meinem Gesicht und den Gesichtern meiner Söhne Spuren wiederzufinden, aus denen ich auf seine Züge schließen könnte« (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 157). Bei »Spenderkind« Steffanie führt die Identifikation mit der inneren Repräsentanz des unbekannten genetischen Erzeugers zu einer überraschenden Bildungsoffensive. Steffanie war im ländlichen Raum in einer schlichten Arbeiterfamilie groß geworden und hatte sich mit einem Realschulabschluss begnügt. Stärker als die Ermunterungen ihrer Lehrer, das Abitur zu machen, war die Blockade durch die familiäre Selbstzuschreibung: »Das passt nicht zu uns.« Steffanie war mit zehn Jahren aufgeklärt worden, dass sie ein »Spenderkind« ist. Während ihrer Ausbildung zur
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Krankenschwester erfuhr sie, dass damals unter den »Spendern« oft Medizinstudenten waren. Plötzlich erschien es ihr möglich, dass der genetische Vater ihr ein »akademisches Potenzial« habe mitgeben können. Die Vorstellung animierte sie, die Enge ihres Herkunftsmilieus zu ignorieren. Sie holte das Abitur nach und begann ein Studium (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 91 ff.). Franziska und Steffanie haben keinerlei Kenntnis von den Männern, deren Genogramme sie in sich tragen. Doch im Wissen um diese Tatsache imaginieren sie den Unbekannten als Person. Ob die sich nun hemmend oder – wie bei Steffanie – impulsgebend bemerkbar macht, hängt, wie bei jeder Verwandtschaftsbeziehung, von vielen Einflüssen ab. Wichtig ist zu akzeptieren, dass sie wirkt!50 Die Wirkung einer »Schattenidentifikation« ist aus Adoptionsverhältnissen bekannt. Besonders in Konfliktsituationen, bei Verboten oder bei befürchteten Anstrengungen lockt die Fantasie, sich vorzustellen, wie »die echten Eltern« die Situation händeln würden. Je unbekannter sie sind, desto breiter bieten sie sich als Projektionsfläche an, meistens für Idealisierungen – und zwar durchaus unabhängig davon, wie kompetent und liebevoll die Adoptiveltern sind. Nur nebenbei sei angemerkt, dass es in Adoptionsfamilien nicht darum geht, solche Konflikte zu vermeiden, sondern sie durchzuarbeiten. Das Wissen um die Bedeutung der »Schattenfamilie«, mitunter sogar deren imaginäre Einbeziehung, gehört zu den pädagogischen Kernaufträgen in der Adoptionsarbeit (vgl. Oelsner, 2008). Das kann durchaus gelingen, bleibt aber anstrengend.
50 Vom Potenzial einer zerstörerischen Selbstzuschreibung erzählt die Titelgeschichte im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, Nr. 47 (Haas, 2019, S. 8–16): Ein 14-Jähriger erfährt, dass sein unbekannter genetischer Vater, der Samenspender, kriminell und schizophren ist.
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Neue Väter statt »Vaterlosigkeit« Das Auseinanderfallen von biologischer und sozialer Elternschaft ist kein neues Phänomen. Meist waren Schicksalsschläge wie Krankheit und Krieg die Ursachen. Nicht so häufig wie heute waren Trennungsentscheidungen. Doch es gab sie ebenso wie die Herbeiführung neuer Beziehungskonstellationen. »Patchwork« klingt nur als Begriff neuzeitlich. 1963 erschien Alexander Mitscherlichs Buch »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft«. Der Titel wurde zu einer Metapher jener Zeit. Hatten die Folgen von Nazi- und Kriegszeit das traditionelle Vaterbild ohnehin schon »entmachtet«, entzogen nun technische Entwicklung, neue Produktions- und Mobilitätsprozesse ihn der Familie, mit der Folge weiterer Autoritätseinbußen. An eine gezielte Fragmentierung von biologischer und sozialer Vaterschaft dachte allerdings damals keiner, obwohl das älteste »Spenderkind«, das wir interviewen konnten, im Erscheinungsjahr von Mitscherlichs Bestseller geboren wurde. Als späte Reaktion auf Mitscherlichs Befund einer »vaterlosen Gesellschaft«51 setzte sehr allmählich ein Umdenken ein. Mit den sogenannten neuen Vätern wirkt es bis in unsere Zeit hinein. Wenn auch noch nicht in dem von jedem und jeder gewünschten Maß, sind Väter für ihre Kinder heute präsenter. Zur Work-LifeBalance zählt die Integration vieler Facetten und Ansprüche, auch das Zusammensein mit den Kindern und die Berücksichtigung von deren Bedürfnissen. Zunehmend akzeptiert und in Lebensmodelle integriert wird auch das Bedürfnis von Menschen, Kenntnis ihrer Herkunft zu haben. Das Interesse an der biologischen Abstammung wird nicht mehr als belanglos kleingeredet. Und die Auseinandersetzung damit wird auch immer weniger als Gegensatz oder gar Angriff auf das Band von Liebe und sozialer Geborgenheit missverstanden. Neue Formen des Zusammenlebens in »Familien
51 Den Begriff hatte erstmals der Psychoanalytiker Paul Federn 1919 publi ziert.
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mit multipler Elternschaft« (Bergold et al., 2017) überwinden die einstige Tabuisierung und ihre Geheimhaltungsstrategien. Beispielsweise definieren sich im Binnensystem sogenannter Queer Families52 alle vier Erwachsenen als Eltern. Rechtlich wird das Konstrukt abgesichert durch Vaterschaftsanerkennung des genetischen Vaters oder durch diverse Adoptionskonstruktionen, denen der jeweils genetisch relevante Elternteil zustimmt. Die biologischen Verhältnisse werden vor den Kindern offen kommuniziert. Nicht unüblich sind auch lesbische Ehepaare, die den genetischen Erzeuger in ihr Familienleben miteinbeziehen. Vaterrechte hat er nicht, doch bei familiären Schwellenfesten ist er dabei. Gelegentlich begleitet er die Gruppe auch bei Ausflügen und übernimmt im Notfall auch schon mal Teile der Tages betreuung. Im weiten Spektrum von Regenbogenfamilien und diversen LGBTQ-Lebensformen muss das »Herkunftspuzzle« oftmals gar nicht erst gelöst werden. Die Fakten sind bekannt, mehr jedenfalls – trotz SaRegG – als beim Prozedere in hiesigen Samenbanken und erst recht mehr als bei den nach wie vor praktizierten unzähligen privaten Varianten im In- und Ausland. Mit Blick auf die Entwicklungsprozesse der Kinder begrüßen wir die neue Offenheit. Weit entfernt sind wir indes, damit schon das Notwendige zu einer gelingenden Identitätsfindung als gegeben zu sehen. Um ein Bild der eigenen Herkunft identitätsstiftend zu gestalten, bedarf es nach tiefenpsychologischem Verständnis der Auseinandersetzung mit vielschichtigen innerpsychischen Prozessen, mit Projektionen und Introjektionen. Diese Arbeit, insbesondere die Akzeptanz der mehrfach erwähnten »inneren Repräsentanz« der anderen, meist unbekannten Person, ist noch zu leisten. Immerhin kann sie beginnen, wenn die vielfältigen Puzzlestücke erkennbar und zugänglich sind. Im Adoptionswesen werden Offenheit und Informationsanspruch mit dem Adoptionshilfegesetz von 2021 (Bundesgesetz52 Bei dieser Konstellation wird die Frau eines gleichgeschlechtlichen Paares inseminiert durch einen Mann eines homosexuellen Paares.
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blatt, 2021) bekräftigt. Ausdrücklich stärkt es auch die Rolle der Herkunftseltern. Über die Adoptionsvermittlungsstelle dürfen sie nun allgemeine Informationen über das Kind, über »ihr« Kind abfragen. Auch vor dem eigentlichen Adoptionsakt sind die Behörden bemüht, den Dialog zwischen dem Kind und seinen leiblichen Eltern aufrechtzuerhalten, mitunter länger, als es den wartenden, aufnehmenden Eltern lieb ist. Die gesetzlichen Vorgaben resultieren aus der Erkenntnis, dass eine Auseinandersetzung mit den genetischen Eltern für das Kind bedeutend ist. Natürlich ist bei genetischer Vaterschaft durch Samenspende eine andere Ausgangslage gegeben. Aber ist sie für die Herkunftsfrage der Kinder so entscheidend anders? Vielleicht klingt der Begriff »Vaterlosigkeit« zu dick aufgetragen für das, was »Spenderkinder« als Leerstelle empfinden können. Sie sind doch in der Regel gut, manche gar bestens versorgt durch Väter und Mütter. Doch wie wäre die Lücke im Herkunftspuzzle anders zu nennen? Vermisst wird ja nicht jener winzige Eiweißklumpen mit Erbinformationen. Gesucht wird eine Person. Schließlich ist man, wie Peter Sloterdijk sagt, »nicht Kind von etwas, sondern von jemand« (Sloterdijk, 2014, S. 268).
Leihmutterschaft – zwischen Altruismus und kognitiver Dissonanz Fragte man Menschen, wann sie anders handeln, als die Einsicht es ihnen gebietet, käme einiges zusammen. Allein die Aufzählung unserer Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten geriete zum Eingeständnis, dass wir uns längst nicht immer danach richten, was unser Kenntnisstand für vernünftig hält. Große Lettern und drastische Bilder auf Zigarettenpackungen (»Rauchen ist tödlich«) halten längst nicht jeden vom Nikotingenuss ab. Gerade wohlhabende Gesellschaften zeigen beides: ein hohes Maß an Wissen, was einem gesunden, sicheren Leben förderlich oder schädlich ist, und ein hohes Maß an Ignoranz, wenn es darum geht, das eigene Verhalten danach auszurichten. Ob
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im Straßenverkehr oder beim Sport, ob in der Ernährung oder Mode – kaum ein Lebensbereich ist ausgenommen. Als »kognitive Dissonanz« ist das Phänomen erforscht und bekannt.53 »Liste der Unvernunft« oder »Liste der Leidenschaften und Sehnsüchte« – was wäre die treffende Bezeichnung für solch eine Aufzählung? Leidenschaften stehen oft konträr zur Vernunft. Aber beide treiben uns an. Es ist frustrierend, wenn die Einsicht Ersehntes versagt. Manche begehren dann auf und kämpfen. Und in der Tat wäre ohne Grenzüberschreitung vieles nicht zustande gekommen, was heute für vernünftig gehalten wird. Fortschritte sind Trennungsschritte. Ob sie ins Weltall oder ins Körperinnere führen, Risikobereitschaft gehört dazu. Bequeme Lösungen gibt es in diesem Spannungsfeld nicht. Gesellschaftspolitisch zeigt es sich an vielen Stellen, etwa im Umweltschutz, in der Polarisierung von Liberalität und Moralität. Die biblische Metapher vom »willigen Geist« und »schwachen Fleisch« hätte sich nicht über Epochen hinweg gehalten, würde der Konflikt zwischen Sollen, Wollen und Können, zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht zum Menschsein gehören. Bitter und traurig wird es, wenn biologische Gegebenheiten basalen Bedürfnissen entgegenstehen, etwa dem Wunsch nach Familiengründung, der Hoffnung auf Nachkommenschaft, der Sehnsucht nach einem Kind.54 Wie froh stimmen dann Erkenntnisse der Forschung, dank derer das Handicap zu umgehen ist, die sogar ermöglichen, von der grundrechtlich geschützten Fortpflanzungsfreiheit Gebrauch zu machen. Mit großen Erwartungen werden die rasanten Fortschritte der Reproduktionsmedizin von jenen begrüßt, denen biologische Grenzen einen Kinderwunsch bislang versagten. 53 Friedrich Dürrenmatt wird das geflügelte Wort zugeschrieben: »Das rationale am Menschen sind die Einsichten, die er hat. Das Irrationale an ihm ist, dass er nicht danach handelt.« 54 »Sieben bis zehn Prozent aller Paare im reproduktiven Alter haben einen Kinderwunsch und sind nach einem Jahr mit ungeschütztem Verkehr nicht schwanger (ungewollte Kinderlosigkeit)« (Kentenich, 2019, S. 17).
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»Mutter-Embryo-Dialog« als frühe Bindungsanbahnung Fortschritte machte auch die Pränatalforschung. Was für einen guten Schwangerschaftsverlauf vernünftig ist, und was die Entwicklung des heranwachsenden Kindes fördert und was schadet, ist heute hinreichend bekannt. Bildgebende Verfahren lassen nicht nur das Wesen im Uterus der Frau heranwachsen sehen, wir haben auch ziemlich genaue Kenntnis, wie vielfältig der Fötus schon am Leben der Schwangeren teilnimmt. Beispielsweise nimmt er Entspannung und Stress der Mutter wahr. Die Eindrücke hinterlassen bei ihm Erinnerungsspuren. Die wiederum unterstützen seinen Eintritt in die Welt. Neugeborene erkennen die Stimme der Frau, in deren Bauch sie waren. Und in der ersten Muttermilch identifizieren sie Geruchsqualitäten des Fruchtwassers, das sie bislang umgab. Das gibt Sicherheit. Die Vermittlung solcher Erkenntnisse aus der prä- und postnatalen Forschung gehört heute zum Repertoire von Schwangerschaftskursen, zu denen angehende Väter selbstverständlich miteingeladen sind. »Bindung beginnt vor der Geburt« (Levend u. Janus, 2011) ist der bezeichnende Titel eines Fachbands in Mitherausgeberschaft des Mediziners und Psychoanalytikers Ludwig Janus, einem Pionier in der Pränatalforschung. Von einem »Mutter-Embryo-Dialog« spricht die auf diesem Gebiet spezialisierte Psychoanalytikerin Ute Auhagen-Stephanos (2014). Hierzulande prägen solche Erkenntnisse auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, etwa den gesetzlich verbrieften Anspruch auf Schwangerschaftsschutz. Über die Abwehr von Infektionen und physischen Gefahren hinaus trägt der auch einer psychischen Achtsamkeit Rechnung. Denn die negativen Auswirkungen von »Early Life Stress« sind inzwischen gut belegt. Unstrittig ist, dass Embryos und Föten »mit Beginn der Schwangerschaft über das endokrine System der Mutter Stressoren ausgeliefert sind« (Möhler u. Resch, 2019, S. 575). Deshalb sollte »auch und vor allem die Schwangerschaft als hochsensibler Zeitraum in Präventionsansätzen Berücksichtigung finden« (S. 576). Die Sensibilität für die Schwangere und ihr werdendes Kind gilt als kultureller Fortschritt. Der ist nicht nur ethisch, sondern
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langfristig auch ökonomisch von Bedeutung, weil »Einflüsse auf das ungeborene Kind im Mutterleib lebenslange Auswirkungen auf dessen Gesundheit haben können« (Möhler u. Resch, 2019, S. 576): »Erhöhtes pränatales Stresserleben der Mütter ist mit einer höheren Risikobereitschaft des Nachwuchses in der Adoleszenz vergesellschaftet« (Möhler u. Resch, 2019, S. 582). »Vernünftige Aspekte« – und das sind die genannten – können allerdings sehr nachrangig werden, wenn ein unerfüllter Kinderwunsch nagt. Der kann derart schmerzhaft sein, dass Menschen Bedenken ausblenden, sobald sich alternative Möglichkeiten der Wunscherfüllung auftun. Die Aussicht, ein Kind trotz fehlender biologischer Voraussetzungen zu bekommen, lässt psychische Einwände zweitrangig werden. Es womöglich aus Eizelle und Sperma der Eltern, genetisch also authentisch, entstehen zu lassen, ohne es selbst auszutragen und zu gebären, ist machbar. »Leihmutterschaft«55 heißt das Modell, bei dem das Kind seine pränatalen Beziehungserlebnisse nicht mit der Frau teilen wird, die es später Mama nennt. Menschen entscheiden sich nicht leichtsinnig für eine Kinderwunscherfüllung durch eine Leihmutter. Sie ignorieren in der Regel auch nicht plump das heutige Wissen über Prägungen in der Schwangerschaft. Sie hoffen aber, dass das Ausbleiben einer optimalen Schwangerschaftsbeziehung später mit vermehrter Zuwendung auszugleichen ist. Hauptsache, das Kind ist erst einmal da. In der geschilderten Situation entlasten sich Menschen mit allerlei Argumenten vom sperrigen Gefühl der kognitiven Dissonanz. »Rationalisieren« oder »Verleugnen« nennt das die Psychologie, »Schönreden« heißt es in der Umgangssprache. Kinderwunschzentren setzen ebenfalls ganz auf kompensierende Elternliebe, während »Volkes Stimme« kritische Einwände aus manchen Forschungsbefunden als überambitioniert empfindet.
55 Stammt die Eizelle von der späteren sozialen Mutter, wird genauer von »Gestationsleihmutterschaft« gesprochen.
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Kinder drängen auf Information, gesellschaftliche Kräfte auf Veränderung Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten. Mehrere Länder aber erlauben sie als Möglichkeit zur Kinderwunscherfüllung, und Menschen, die es sich finanziell leisten können, nutzen die unterschiedlichsten internationalen Angebote. In deutschen Landesjugendämtern sind die Zahlen von Fällen inzwischen dreistellig, in denen über einen Auslandsadoptionsantrag das Kind aus einer Leihmutterschwangerschaft im Nachhinein »legalisiert« werden soll.56 Es geht hier weder darum, medizinische oder juristische Aspekte dieser Methode zu diskutieren, noch sie zu werten, sondern Fragen nach der Herkunft zu stellen. Welche Puzzleteile haben solcherart geborene Kinder später zusammenzutragen, wenn sie sich über ihre Herkunft ein Bild machen wollen? Anfangs sind die einzelnen Puzzlestücke noch recht grob umrissen. Auf einem steht vermutlich eine typische Frage des Vorschulalters: »Mama, wie war das, als ich in deinem Bauch war?« Auf welche Erzählung werden sich die Eltern hier verständigen? Was machen sie mit Fotoalben, die mit dem Schwangerschaft-Vorspann beginnen: »So kamst du auf die Welt.« Welches Foto kommt neben die Kopie aus dem Ultraschall? Wird hier der prall gewölbte Bauch der Leihmutter zu sehen sein? Oder eine Leerstelle? Ab dem Jugendalter werden die Puzzleteile differenzierter und kleinteiliger. Dann wird der junge Mensch – so er über seine Geburt aufgeklärt ist – nach jener Frau fragen, die ihn einst austrug. Aus der Adoptionstradition ist das Interesse daran hinlänglich bekannt. Die Stellungnahme der Leopoldina »Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung« bestätigt es für das Leihmutterverhältnis: »Sehr oft bestand Interesse an einem Kontakt zur Leihmutter« (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V., 2019, S. 79). Indes räumt die Akademie ein, dass hierzu erst wenige Studien vorliegen.
56 Die Einleitung und das Kapitel »Doing family« skizzieren hierzu mehr.
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Die groß gewordenen Kinder werden sich vielleicht auch für die sozioökonomischen Verhältnisse interessieren, in denen die Frau lebte, die sie austrug. Zunehmend kritisch hinterfragen Jugendliche heute internationale Produktionsbedingungen. Das Interesse wird nicht bei der Herkunft des Billig-T-Shirts aus Asien stehen bleiben, wenn sie aus TV-Dokumentationen erfahren, um welchen Preis eine ukrainische Leihmutter für den »europäischen Markt« die Kinder anderer austrägt. Deren materielle Entlohnung mag angemessen sein. Doch welchen Preis zahlen deren eigene, noch junge Kinder, während sich ihre Mutter fernab in einer Unterkunft der Agentur quasi kasernieren lässt? Was macht diese Frau heute, wie geht es deren Familie? Wie sahen die damaligen Verträge aus?57 Zurückdrängen lassen sich solche Fragen nicht. Das einstige Wunschkind bestimmt nun selbst über Taktung und Tiefe seiner Herkunftssuche. Damals, im Kreißsaal, entschieden andere über sein Leben. Beispielsweise war denen das Bindungshormon Oxytocin unerwünscht. Beim Geburtsakt wird es freigesetzt und gilt als hochwillkommen. Bei der Leihmutter kommt es aber von der »falschen Frau«, also wurde sie vom Kind per Kaiserschnitt entbunden. Ohne den Weg über den Geburtskanal bekommen Kinder auch nicht das erwünschte »Starterkit« an Bakterien mit, das sie robuster macht gegen Infektionen und Allergien. Ihnen fehlt, wie es im Jargon heißt, die »biologische Taufe«. Natürlich sind auch bei üblichen Schwangerschaftsverläufen und Geburten nicht immer Idealbedingungen gegeben, leider. Doch dieses Bedauern macht den Unterschied. Ein angestrebtes Optimum schicksalhaft nicht zu erreichen, kann betrauert werden. Das kann dem Kind auch später vermittelt werden. Mit Lücken, die schicksalhaft oder durch natürliche Begrenzung verursacht wurden, lässt sich anders aussöhnen als mit jenen, die als Konsequenz eines Vertragsmodells in Kauf genommen wurden. 57 Aufschlussreich informiert hierüber die TV-Dokumentation »Der vermietete Bauch – ukrainische Leihmütter und deutsche Eltern« (Dann ecker, Appel, Nöbauer, Fedorova u. Winter, 2021).
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Bei Leihmutterschaft bewirkt nicht das Schicksal, sondern der Vorsatz einer Methode eine »gespaltene Mutterschaft«. Unter diesem Begriff lehnt der Deutsche Ethikrat (2016) nicht nur Leihmutterschaft, sondern auch Eizellspenden ab. Es ist fraglich, wie lange diese im Embryonenschutzgesetz von 1990 gründende Position halten wird. Gesellschaftliche Kräfte drängen auf Veränderung. 2019 legte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hierzu eine Stellungnahme vor. Die Antwort auf Zulassung oder weiterhin Verbot von Leihmutterschaft lässt sie indes ausdrücklich offen. Allerdings sollte »im Sinne des Kindeswohls für im Ausland nach dortigem Recht legalerweise von einer Leihmutter geborene, jedoch in Deutschland aufwachsende Kinder, eine rechtlich sichere Zuordnung des Kindes zu den Wunscheltern ermöglicht werden« (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V., 2019, S. 10). Auch sollten »medizinische und psychosoziale Beratung zu Problemen einer Leihmutterschaft nicht strafbar sein« (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V., 2019, S. 10). »Erlaubt die Leihmutterschaft«, fordert die Fachanwältin für Medizinrecht Katrin Helling-Plahr (2021). Als Abgeordnete der FDP macht sie sich im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags für ein »modernes Fortpflanzungsmedizingesetz« stark. Leihmutterschaft »sollte nur dann legal sein, wenn sie aus altruistischen, nicht-kommerziellen Motiven heraus stattfindet. […] Außerdem wäre ein besonderes Näheverhältnis zwischen Wunscheltern und Leihmutter sinnvoll«, argumentiert sie im Analogieschluss zum Transplantationsgesetz (2021).58 Solche Vorgaben dienen nicht nur der juristischen Absicherung. Sie spielen auch eine große Rolle, wenn das Kind sich mit den Umständen seiner Herkunft auseinandersetzt. Der Unterschied zwischen kommerziellen oder altruistischen Motiven, privaten oder gewerblichen Rahmenbedingungen macht auch einen Unterschied für dessen spätere Akzeptanz. 58 »[A]ltruistische Leihmutterschaft« steht auf der Agenda des Koalitionsvertrags 2021–2025 der Regierung der Bundesrepublik Deutschland (S. 116).
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Bestellt und nicht abgeholt – manchmal auch nicht rausgerückt Im Lockdown der ersten Covid-19-Pandemiewelle 2020 veröffentlichten mehrere Zeitungen ein Agenturfoto. Es zeigt den Saal eines noblen Hotels, in dem endlos anmutende Reihen von Babybettchen eng beieinanderstehen. »Hotel der Neugeborenen« überschrieb die »Süddeutsche Zeitung« den zugehörenden Artikel. Er beginnt so: »Mehrere Dutzend Säuglinge von Leihmüttern warten in Kiew darauf, von ihren Eltern abgeholt zu werden. Die sind Kunden eines Kinderwunsch-Unternehmens, können aber wegen der Pandemie derzeit nicht in die Ukraine einreisen« (Nienhuysen, 2021, S. 8). Assoziationen zu den in jenen Wochen kursierenden Bildern nicht abgeholter Neuwagen auf den Verladestationen der Automobilbauer lagen nahe. Frank Nienhuysen kommentierte in der »Süddeutschen Zeitung«: »Mit den Eltern wartet auch Biotexcom. Die Firma muss sich nun rund um die Uhr um die Kinder kümmern und die ausländischen Paare in Videogesprächen beruhigen. Mehr als zehn von ihnen kommen aus Deutschland. Zugleich will das Unternehmen Druck ausüben auf die Behörden, damit die Geschäfte auch abgewickelt werden können« (Nienhuysen, 2021, S. 8). Von einigen Dutzend, so wird erläutert, sei »Biotexcom« in der Ukraine die größte – wörtlich – »Leihmutterschaftsfirma«. Zu erfahren ist auch noch, dass die bestellenden Eltern mindestens 40.000 Euro »für die Dienste der Befruchtungskliniken« aufbringen müssen, und dass eine Leihmutter für ihre Entlohnung »sich dafür in der Ukraine ein kleines Haus oder eine Wohnung kaufen« könne. Aus ganz anderen Gründen »bestellt und nicht abgeholt« wurde 2014 ein Kind, das als »Baby Gammy« durch die Medien ging. Ein australisches Wunschelternpaar hatte das Kind in Thailand von einer Leihmutter austragen lassen. Es weigerte sich indes, den Jungen zu sich zu nehmen, als feststand, dass er mit einer Behinderung zur Welt gekommen war. Von »hunderten ähnlicher Fälle« wisse der betreuende Arzt in Thailand, schrieb Helene Bubrowski (2014) im Leitartikel der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«.
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Es sind nicht zuletzt solche Berichte, die ein gesellschaftliches Empörungspotenzial periodisch befeuern. Sie stoßen allerdings auch Veränderungen an. Sowohl im Land der »Besteller« als auch der »Produzenten« entfachen sie Diskussionen, denen tatsächlich juristische Neuregelungen folgen können. Restriktivere Bedingungen für Leihmutterschaft in Indien zählen zu den plakativen der letzten Jahre. Im Land haben sie, wie Ulrike Putz (2020) in der »Neuen Zürcher Zeitung« meint, das Potenzial zum »Kulturkampf«. Zu einem »Kampf« um das Kind kann es auch zwischen der beauftragenden Frau und der Leihmutter kommen. Dass eine Leihmutter das Kind nach der Geburt nicht abgeben will, kommt höchst selten vor, ist aber eine häufig geäußerte Sorge der beauftragenden Eltern. Der Film »Melodys Baby« des Belgiers Bernard Bellefroid (2014) thematisiert dieses Sujet als dramatischen Konflikt. Solche Eventualitäten vorher zu bedenken und per »notariell beurkundeter Schwangerschaftsvereinbarung« auszuschließen, rät die Bundestagsabgeordnete Helling-Plahr in ihrem Appell zu einer Gesetzesnovellierung. Sie weiß um die möglichen Bindungsprozesse während einer Schwangerschaft. In ihren Augen legitimieren die einen besonderen Vorbehalt hinsichtlich der Unumkehrbarkeit solcher Verträge: »Ich, selbst Mutter zweier Söhne, leugne nicht, dass während der Schwangerschaft eine besondere Bindung entsteht. Wenn ein nicht zu überwindender Konflikt zwischen dem Elternschaftsanspruch auf der einen Seite und der durch Schwangerschaft entstandenen Bindung zwischen der Leihmutter und dem Kind auf der anderen Seite entsteht, muss es – schon von Verfassung wegen – die Möglichkeit geben, die Elternschaftsvereinbarung binnen kürzester Frist anzufechten. Im Zweifel würde die Geburtsmutter dann doch die rechtliche Mutter« (Helling-Plahr, 2020, S. 11).
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Hoch komplex und sehr sensibel – eben kein normales Rechtsgeschäft Die Politikerin merkt ihrer Forderung nach einem »modernen Fortpflanzungsmedizingesetz« relativierend an: »Eine Leihmutterschaft ist eben kein normales Rechtsgeschäft, das muss allen klar sein« (Helling-Plahr, 2020, S. 11). Die Brüsseler Uniklinik Saint-Pierre könnte diese Aussage für ihren Aufgabenbereich variieren: Eine Leihmutterschaft ist keine normale medizinische Behandlung. Die dortige Abteilung für assistierte Reproduktion begleitet seit 1997 permanent ausschließlich unentgeltliche Leihmutterschaften, sie kommt aber gerade mal auf nur rund ein Dutzend Fallzahlen im Jahrzehnt. Sie behält sich auch vor, Behandlungswünsche von Paaren abzulehnen. Die Lifestyleund Yellow-Press-Aura beim Kinderwunsch sogenannter Promis59 ist hier kein Thema. Die Paare – in der Regel sind es Paare – bringen eine ausgeprägte, sehr lange Leidensgeschichte mit vielen vergeblichen Schwangerschaftsversuchen mit. Medizinisch ist die Ursache nachgewiesen, oft sind es Folgen einer Krebserkrankung. Die Klinik erwartet eine persönliche Beziehung der Wunscheltern zur Leihmutter; deren finanzielle Honorierung ist ausgeschlossen. Es darf keine Abhängigkeit zwischen den Frauen bestehen. Nicht selten sind es Schwestern. In der Filmdokumentation »Geboren von einer anderen« von Cathie Dambel (2020) gewährt das Team aus Gynäkologinnen, Psychologinnen, Perinatalpsychiaterin, Biologen und weiteren Fachkräften Einblicke in die Denk- und Arbeitsweise der Spezialabteilung. Aus den mitgeschnittenen Teamgesprächen wird die Haltung deutlich, mit der dem Thema Leihmutterschaft hier begegnet wird. Besonders fällt auf, mit welcher Achtsamkeit die austragende Frau gesehen wird (alle Zitate sind protokollierte O-Töne aus der Dokumentation):
59 Häufig erwähnt in den Medien werden im Zusammenhang mit Leihmutterschaft beispielsweise Tyra Banks, Elton John, Nicole Kidman, Sarah Jessica Parker, Kanye West, Robbie Williams.
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»Bei jedem Fall« – so die Anmoderation – »stellen sich Fragen wie: Welche Bindungen entwickelt eine Frau, die neun Monate lang für ihre Schwester ein Kind austrägt, zu diesem Baby? Wie fühlt es sich für die Leihmutter an, zuerst im Mittelpunkt zu stehen und dann auf einmal nicht mehr, wenn das Kind geboren ist? Wann wird die Frau, die das Kind nicht geboren hat, zur Mutter werden? Was wird man dem Kind sagen?« Auch auf mögliche Fehlversuche werden die Beteiligten vorbereitet. Könnten die zu Schuldgefühlen bei der Tragemutter führen? Nach einer erfolgreichen Geburt wird bei den Wunscheltern das Gefühl bleiben, in der Schuld der Leihmutter zu stehen: »Sie hat uns etwas gegeben, was wir alleine nicht geschafft hätten. Dieses Schuldgefühl wird immer bleiben.« Lange hören die Fachleute der Klinik den Beteiligten zu, werten nicht, weisen aber darauf hin, dass es »ein Schritt ist, mit dem bestimmte Regeln überschritten werden. Deshalb muss er gut begleitet werden.« Die Gynäkologin: »Viele Paare geben auch auf, weil ihnen nicht klar war, wie aufwühlend das sein kann, sie sind enthusiastisch und wollen, dass es schnell geht, sehen dann aber, dass es viel Zeit braucht. Einige kommen nach Monaten oder Jahren wieder, weil sie das erst verarbeiten mussten. Es ist ein langer, schwerer Weg, mit vielen Emotionen verbunden, denn es geht um ein Kind, nicht um einen Gegenstand, den man unbedingt haben möchte.« Die Perinatalpsychiaterin: »Es gibt Frauen, die bereit sind, alles für andere Frauen zu geben. Doch damit einher geht immer die Gefahr einer depressiven Reaktion, gerade bei Menschen, die ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse nicht einschätzen können. […] Ich kann von einer Leihmutter erzählen, die danach Babykleidung gekauft hat, um die Leere zu füllen, die sie danach umgab. Die Eltern bekamen Panik, weil sie dachten, sie wolle das Kind zurückhaben, aber darum ging es gar nicht. Sie konnte nur diese Leere nicht ertragen. […] Die Leihmutter hat eine Verbindung zu diesem Kind, aber
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es besteht keine Zugehörigkeit. Wir haben es hier mit unterschiedlichen Formen der Verbindung zu tun.« Die Psychologin im Team berichtet von einem anderen Fall. Da habe die Tragemutter beim Betrachten der Ultraschallaufnahmen gesagt: »Für mich ist das ganz klar mein Neffe. Ich hatte nie das Gefühl, dass es mein Kind ist.« Sie habe sich gefühlt, als hätte sie kein Kind geboren. Sie hätte bei dieser Schwangerschaft und Geburt ein ganz anders Gefühl gehabt als bei ihren drei eigenen Kindern. Die Psychologin: »Die Leihmutter hat sich immer zurückgehalten, aber die Wunschmutter wusste immer, was los war. […] Sie hat die Schwangerschaft erlebt, wenn auch nicht in ihrem eigenen Körper. Sie war immer auf dem Laufenden, sie kannte alle Details. Ihre Schwester hat sich da rausgehalten.« Die im Filmdokument so fachlich wie behutsam diskutierten Aspekte auszugsweise wiederzugeben, könnte als Werbung missverstanden werden. Das ist sie selbstverständlich nicht. Vielmehr zeigen sie, wie enorm komplex und sensibel Leihmutterschaft zu sehen ist. Das Thema polarisiert in der Öffentlichkeit. Seine mediale Darstellung erschöpft sich oft in Einzelfällen. Für die einen sind sie die skandalträchtige Spitze eines Eisbergs gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Andere erkennen darin wünschenswerte Gegenmodelle zu überholten Familienbildern. Mit Fallbeispielen wird demonstriert, wie überaus liebevoll die Kinder in diversen neuen Elternkonstellationen aufwachsen. Abgesehen davon, dass mehr auch nicht demonstriert werden kann, weil die Kinder meist noch viel zu jung sind für eigene Stellungnahmen, wird vor allem bewiesen, was keines Beweises bedarf. Denn dass die Kinder erwünscht sind, geliebt und gefördert werden, stellt niemand infrage.60 60 Exemplarisch sei die ausführliche Reportage über ein schwules Ehepaar und seine drei Kinder im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« genannt (Schmitz, 2013).
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Zu fragen ist aber, ob nicht ähnlich vielschichtig wie die Teamdiskussion in der Saint-Pierre-Klinik die Gedanken und Empfindungen der auf diese Art geborenen Kinder eines Tages sein können. Wiederholt sei gesagt: Gelingend leben lässt sich mit vielen Konstellationen. Aufgabe wird aber bleiben, die verzweigten Aspekte von Herkunft, auch die transgenerationale Dimension, zu einem Bild seiner selbst, zu einer versöhnten Identität zu integrieren. Chancen dazu sind eher gegeben, wenn die Reproduktionsmedizin ein Verständnis lebt, wie es die Auszüge aus der Filmdokumentation erkennen lassen. In der Praxis der weltweit überwiegend kommerziell ausgerichteten Kinderwunschzentren dürfte die Haltung in den wenigsten Fällen dem Brüsseler Beispiel gleichen. Der Dokumentarfilm »Future Baby« von Maria Arlamovsky (2016) gewährt Einblicke in mehrere internationale Einrichtungen. Gegen Ende des Films ist eine nachdenklich stimmende Szene zu sehen: Eine mexikanische Leihmutter wird per Kaiserschnitt entbunden. Das US-amerikanische Wunschelternpaar ist in OPKleidung dabei. Der Vater nimmt das Geschehen komplett nur durch den Sucher seiner Videokamera wahr. Keine Szene darf ihm entgehen. Die Wunschmutter wirkt ängstlich und stark beeindruckt. Das Baby wird per Kaiserschnitt geholt und vom Personal gesäubert. Mit der Leihmutter kommt es nicht mehr in Berührung. Die Wunschmutter ist überwältigt und sprachlos, als man ihr das Kind in die Arme legt. Als sie das umhüllende Tuch vom Baby etwas zurückschlägt, damit der Vater mehr von ihm fürs Foto zu sehen bekommt, lächelt ihr die Leihmutter vom OP-Tisch erschöpft zu. Zaghaft rät sie der neuen Mama, sie möge es lieber mit dem Tuch warmhalten. Mehr getraut sie sich nicht zu sagen. Mehr hat sie nicht mehr zu sagen. Sie hat ihren Job getan, sie wird bald ausgezahlt und mit ihrer eigenen fünfjährigen Tochter allein nach Hause ziehen. Vielleicht wird sie ihrer Tochter sagen, dass die Mama jetzt weniger esse. Vorher sei sie ja »vom vielen Essen so dick geworden«. Die Perinatalpsychiaterin der Brüsseler Klinik meint zu ihrer Arbeit: »Es geht um Aspekte von Zeugung und Abstammung.
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Aber all das ist eigentlich zweitrangig, denn das Baby braucht nur eins: Es muss sich aufgehoben fühlen und Urvertrauen entwickeln können.« »Zweitrangig« seien die »Aspekte von Zeugung und Abstammung«, sagt die Psychiaterin. Wenn die Aspekte wenigstens diesen Rang, wenigstens die zweite Position einnähmen, fänden die Kinder bei der späteren Identitätsfindung mehr Substanz vor, als sie vielen heute verfügbar ist. Denn beim Kinderwunsch »um jeden Preis« werden diese Aspekte oft ausgeblendet.
Literarischer Exkurs 5: Carl Zuckmayers Wutrede des Generals Harras – oder: Welcher Stammbaum ist schon echt? Die meist hobbymäßig betriebene Ahnenforschung geht bei Stammbäumen von einer epochenumspannenden biologischen Kontinuität aus. In Wirklichkeit ist die längst nicht immer gegeben. Begriffe wie »Kuckuckskind« und Redensarten wie »mit Kind und Kegel« zeugen davon. »Kegel« war im Althochdeutschen die Bezeichnung für unehelich geborene Kinder. Im Hausstand lebten sie mit ehelichen Kindern unter einem Dach. Ein Stammbaum, der ausschließlich in genetischen Verwandtschaftsverhältnissen gründet, ist eher eine idealtypische Vorstellung. Im Nachhinein ergäben DNA-Proben vermutlich Anlass zu Korrekturen in manchen Familienchroniken. In Herrscherhäusern verlangte der Dynastieerhalt biologische Authentizität. Die Geburt eines Stammhalters wurde nicht selten durch hochrangige Hofbeamte beaufsichtigt. Auf der anderen Seite wurden Bürgerliche dafür bezahlt, dass sie die Vaterschaft für ein Kind übernahmen, das in Wahrheit einem hoheitlichen Seitensprung entstammte. Gegen biologisches Abstammungsdenken wettert der Fliegergeneral Harras in Carl Zuckmayers Drama »Des Teufels General«. Er zweifelt die Authentizität familiärer Ahnentafeln an
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und rechnet mit dem völkischen Rassenwahn der Nazis ab. Bei der Uraufführung des Stücks, 1946, war der noch sehr präsent. Der Fliegerleutnant Hartmann klagt dem General zu nächtlicher Stunde, dass seine Verlobte die Verlobung auflöst, weil er nicht alle Papiere vorlegen kann, die seine arische Abstammung belegen: »Eine meiner Urgroßmütter scheint vom Ausland gekommen zu sein. Man hat das öfters in rheinischen Familien. Sie ist unbestimmbar« (Zuckmayer, 1956/1996, S. 64). Harras hat schon ausgiebig dem Wein zugesprochen und ignoriert die gebotene Selbstdisziplinierung. Was als Spott über die »Unbestimmbarkeit der Urgroßmutter« beginnt, steigert sich zur Wutrede über die Verlogenheit arischen Denkens. Der Leutnant möge doch seine Fantasie bemühen und mal ganz menschlich von seinen Vorfahren denken: »[W]as kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie: Vom Rhein – noch dazu« (Zuckmayer, 1956/1996, S. 64). Zuckmayer legt dem General das Bild vom Rheinland als »der großen Völkermühle«, der »Kelter Europas« in den Mund. Heute reklamieren rheinische Metropolen das Image eines »multikulturellen melting pots« für sich. Der angetrunkene General desillusioniert des Leutnants bigottes Bild vom Arierpass. Mit einem Husarenritt durch die Geschichte zählt er Menschen unterschiedlichster Völker auf, die sich seit Christi Geburt entlang des Rheins niedergelassen haben. Manche kamen als Besatzer, andere als Händler oder schlicht als »fahrendes Volk«. Die kolportierte Reinrassigkeit sei in Wahrheit ein großer interkultureller Schmelztiegel. Einflüsse von römischen Militärs, jüdischen Kaufleuten und griechischen Ärzten fänden sich dort ebenso wie die von »Schwarzwälder Flößern«, einfallenden »schwedischen Reitern«, napoleonischen Soldaten oder »böhmischen Musikanten«. »Das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt« (Zuckmayer, 1956/1996, S. 64). Wie naiv müsse man sein, meint der General, um zu glauben, keiner der Ahnen habe sich da mal nicht mit jemandem
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verbandelt. Letztlich seien es doch gerade solch völkerüberlappenden Verbindungen, die Menschen kreativ und lebendig sein lassen. »Natürlichen Adel« nennt er die Nachfahren jener interkulturellen Mischung und führt Beethoven und andere rheinische Größen zum Beweis an (Zuckmayer, 1946/1996, S. 64.) Die Wutrede des Harras wird heute beim Ruf nach einer bunten, integrierenden Gesellschaft wiederentdeckt. Das Bild von der »Völkermühle« am Rhein wurde unter anderem zur literarischen Vorlage für das Lied »Unser Stammbaum« der Kölner Musikgruppe Bläck Fööss. Bevorzugt auf volksfestähnlichen Zusammenkünften wird damit hymnenartig der rheinische »melting pot« besungen. Hier die ins Hochdeutsche übersetzte erste Strophe und der Refrain des Lieds (Bläck Fööss, 2000): »Ich war ein stolzer Römer, kam mit Cäsars Legion, und ich bin ein Franzose, kam mit Napoleon. Ich bin Bauer, Schreiner, Fischer, Bettler und Edelmann, Sänger und Gaukler, so fing alles an. So sind wir alle hierhin gekommen, wir sprechen heute alle dieselbe Sprache. Wir haben dadurch so viel gewonnen, wir sind, wie wir sind, wir Narren am Rhein, das ist etwas, worauf wir stolz sind.« Die Idee einer idealtypischen Völkermischung durch Zuwanderung ähnelt der Vision einer »friedlicheren Weltordnung«, die die Soziologin Beck-Gernsheim (2014) von »neuartigen transnationalen Verwandtschaftsverhältnissen« mittels Reproduktionsmedizin erhofft.61 61 Hier wiederholt aus dem Kapitel »Weltbürger – in einem neuen Sinne gezeugt«: »Ob das schwule Paar aus Oslo, das im Labor eigenes Sperma mit den Eizellen einer Ukrainerin mixen und Embryonen von einer
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Fans des »Stammbaum«-Lieds, auch dessen Urheber selbst, wissen, dass die Realität längst nicht immer der im Lied beschworenen menschenfreundlichen Umarmung Stand hält. Da müssen unter den Sängern nur einige den Schal des »falschen« Fußballklubs tragen und die Harmonie wackelt. »Stammesdenken« hat viele Gewänder. Nach »angestammten« Vertrautheiten sehnt sich auch der postmoderne Mensch. Er besingt das Ideal der großen Umarmung und lernt zugleich, dass sie mit der Akzeptanz von Verschiedenheit beginnt. Ob das erwünschte Ideal erreicht wird, wird sich im Verlauf zeigen. Zunächst gilt es, manch Gegensätzliches, gar unversöhnlich Erscheinendes wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Ziele werden erst gegen Ende eines Prozesses erreicht. Dem Gedanken gilt unser Schlusskapitel.
Gelingende Beziehungen stehen am Ende eines Prozesses. Über Ziele und Wege beim Herkunftspuzzle Im Alter sind Geschwister meistens diejenigen, die einander am längsten kennen. Ob sie einander auch am besten kennen, ist damit nicht gesagt. Im Laufe des Lebens kommen wir mit vielen Menschen zusammen, und mit einigen gehen wir eine Nähe ein wie mit keinem aus der eigenen Herkunftsfamilie. Lebensund Intimpartner kommen ohnehin immer aus »einem anderen Stall«, so sieht es hierzulande auch das Gesetz vor. Fern bleiben sich Familienmitglieder manchmal schon im übernächsten Verwandtschaftsgrad. Unter Cousins und Cousinen ist die Beziehung trotz biologischer Klammer nicht automatisch so intensiv wie die unter Freunden und Freundinnen. Umso befremdlicher erscheint
indischen Leihmutter austragen lässt; ob die 60 Jahre alte Bankerin in New York, die nach erfolgreicher Karriere ihren Kinderwunsch entdeckt und in einschlägigen Katalogen sich einen kalifornischen Samenspender und eine russische Eispenderin aussucht – mit Hilfe der globalisierten Reproduktionsmedizin werden Weltbürger in einem ganz neuen Sinne gezeugt« (Beck-Gernsheim, 2014, S. 12).
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es dann bei Erbschaftsangelegenheiten ohne Testament, welch entscheidende Bedeutung Blutsverwandtschaft bekommen kann. »Aufgeklärte Menschen definieren sich nicht über Blutsbande«, schrieben wir in Kapitel »Nachkommenschaft ist mehr als Biologie. Aber Biologie ist sie auch«. Wer sich bis ans Lebensende allein auf die biologische Verwandtschaft konzentriert, verzichtet auf Entwicklungsmöglichkeiten. Das gilt auch für die Entwicklung von Gesellschaften. Es klingt wie aus der Zeit gefallen, wenn Staatenführer Oppositionelle beschuldigen »unreinen Bluts« zu sein.62 Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wirkt solch eine Formulierung geradezu verstörend. Die Überwindung eines genetisch definierten Stammesdenkens ist ein Merkmal moderner Gesellschaften. Identitätsstiftend sind hier soziale, solidarische Bindungen. Geht es aber um den persönlichen Stammbaum, behält die genetische Abstammung Bedeutung. Wer seine Geburt einer Eizellspende, Samenspende oder einer Leihmutter verdankt, muss mindestens eine weitere Person mit Elternfunktion in dieses Herkunftspuzzle integrieren, egal ob diese Person bekannt ist oder nicht. Bei Adoptierten ist es in der Regel ein weiteres Elternpaar. Oft »stammt« es aus konträrem Milieu oder diverser Kultur als die leiblichen Eltern. Neben den sozialen Eltern kann es also noch eine »dritte«, »vierte«, bei bestimmten Leihmutterkonstellationen auch »fünfte« Person mit Elternfunktion geben. Je weniger sie unbekannt bleibt, desto mehr kann mit ihnen das Puzzlebild der Herkunft vervollständigt werden. Einfacher wird es durch mehrere Personen allerdings nicht. Bei unseren Interviews mit erwachsen gewordenen »Spenderkindern« gewannen wir bei allen den Eindruck, dass sie sich mit ihrer besonderen Zeugungsart intensiv auseinandergesetzt und weitgehend damit arrangiert hatten. Auch wenn die meisten sie kritisch sehen, manche sie gar ablehnen, konnten sie sich in ihrem Leben damit auch aussöhnen. Das große Drama, die pathe62 So der türkische Staatspräsident nach dem Putschversuch 2016.
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tische Anklage, die entgleiste Biografie – diese medial oft transportierten Dimensionen waren nicht dabei. Irritationen waren allerdings zu erkennen gewesen. Es dürfte an der besonderen Selektion der Befragten gelegen haben, die sich als Engagierte im Verein »Spenderkinder« dem Thema schon länger kenntnisreich und selbstreflektierend widmen. Auch beruflich waren die meisten etabliert, manche selbst schon Eltern. Dennoch berichteten alle von einer zwischenzeitlichen Krise. Und es war Konsens, dass die auch anders hätte ausgehen können. Die Auseinandersetzung mit einer Herkunft aus multipler Elternschaft ist anspruchsvoll und nicht ohne Risiko, aber sie kann gelingen. So allgemein lautet unser Resümee nach Begegnungen mit Betroffenen, auch nach unserer Sichtung literarischer und filmdokumentarischer Zeugnisse zum Thema. Spezifischer geht es nicht. Die Energien, die fürs Gelingen aufgebracht werden, sind groß. Sie übersteigen das, was die meisten Eltern sich vorstellen mochten, als sie sich für ein Kind unter den Bedingungen multipler Elternschaft entschieden. Allerdings: Würde ein Resümee bei konventionellen ElternKind-Verhältnissen grundsätzlich anders ausfallen? Mündet die Entscheidung für Nachwuchs nicht immer in abenteuerliche Unwägbarkeiten? Garantiert ist auch bei tradiert leiblicher Verwandtschaft nichts – allenfalls Überraschungen. Vermutlich wäre die Menschheitsgeschichte anders verlaufen, wäre Nachwuchs nicht auch mit einer gehörigen Portion Unbekümmertheit gezeugt worden. Es ist ja bezeichnend, dass mit dem – gemessen an »westlichen Werten« – Entwicklungsstand von Gesellschaften die Zahl der Kinder abnimmt. Der kritische Blick, den wir auf »Identitäten in Zeiten sich auflösender biologischer Verwandtschaftsbeziehung« werfen, will dem dialektischen Spiel von Kopf und Bauch, von Machen und Bedenken nichts von seiner Kraft und Dynamik nehmen. Beziehungen brauchen beides, so wie sich Liebe zwischen Utopie und Realität bewegt. Ohne Mut zur Utopie »funkt« es nicht, und ohne einen Blick für die Realität bleibt sie nicht lange tragfähig. Unwuchten kann es geben, wenn Liebe »blind« macht. In der
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Liebe unter erwachsenen Paaren machen gereifte Menschen die Konsequenzen unter sich aus. In der Eltern-Kind-Liebe wird das Kind später mit den Konsequenzen leben müssen. Dafür zu sensibilisieren ist das Anliegen dieses Buches. Subjekt der eigenen Biografie werden Es kann keine allgemeingültige Antwort darauf geben, was die Folgen einer bewusst herbeigeführten multiplen Elternschaft sind. Zu verschieden sind die individuellen Parameter. Auch die Studienergebnisse sind nicht so aussagekräftig, wie von der Lobby der Reproduktionsmedizin gern dargestellt. Zwangsläufig sind sie dünn und wenig repräsentativ, denn sie können nicht auf langfristige Begleitung verweisen. Die gesellschaftliche Akzeptanz überschreitet gerade erst ein Nischendasein, und längst ist noch nicht vollumfänglich erlaubt, was die medizintechnische Entwicklung inzwischen anbietet. Eltern, die hierzulande verbotene Methoden (Eizellspende, Leihmutterschaft) im Ausland praktizieren, verheimlichen meist ihr Tun, wie überhaupt die meisten Kinder, die mithilfe eines dritten, vierten Elternteils zur Welt kamen, davon keine Kenntnis haben. Unsere Interviews mit »Spenderkindern« (Oelsner u. Lehm kuhl, 2016) beanspruchten nie die Qualität einer Studie. Doch unsere jahrzehntelangen praktischen Erfahrungen machen uns nicht meinungslos. Sie motivieren uns zu einem kritischen Gegengewicht gegenüber den Werbebotschaften von »Kinderwunschmessen«. Die verstärken, natürlich, die Kinderwunschliebe potenzieller Eltern und bagatellisieren oder ignorieren deren »blind machenden« Aspekte. Auch darf die Frage nach Interessenkollision gestellt werden, wenn Beratung Teil des reproduktionsmedizinischen Geschäftsmodells ist. Eine Haltung zum Thema Leihmutterschaft, wie sie in der Dokumentation über die Brüsseler Universitätsklinik Saint Pierre zu erkennen ist (siehe Kapitel »Leihmutterschaft«), ist bei Weitem nicht Standard. Auch die professionelle Adoptionsberatung bekräftigt die Kinderwunschliebe von Adoptionsbewerbern. Es wäre auch
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töricht, deren Leidenschaft zu bremsen. Sie wird Eltern helfen, das Abenteuer Pflegschaft/Adoption zu bestehen. Je nach Vorbelastung des Kindes braucht es manchmal auch Utopien, um problematische Entwicklungen zu drehen. Doch seriöse Adoptionsverfahren thematisieren eben beides: Hoffnung und Mühsal. Auch wird bei Irritationen eine Langzeitbegleitung angeboten. Für eine gelingende Auseinandersetzung der Kinder mit ihrer Herkunft aus multipler Elternschaft gibt es keine Blaupause. Bei denen, die das gut in ihr Lebenskonzept integrieren können, die sich damit weitgehend aussöhnen, nachdem sie zunächst damit haderten, stellen wir jedoch eine Gemeinsamkeit fest. Das ist die bewusste Einnahme einer Subjektrolle. Sie lassen ihren früheren Objektstatus hinter sich, egal, ob der realistisch war oder »nur« empfunden wurde. Sie werden Chef, werden Chefin ihrer eigenen Biografie. Dieser Wechsel vom Objekt zum Subjekt kann in unterschiedlichen Altersphasen geschehen, und er kann sich an den unterschiedlichsten Konstellationen festmachen. Selber Eltern zu werden, kann ein markanter Schritt auf diesem Weg sein. Eine eigene Elternschaft in gefestigter Paarbeziehung und etablierter wirtschaftlicher Situation kann die Dynamik drehen und die Unruhe über die eigene unklare Herkunft zurückdrängen.63 Die einstigen Kinder aus Samenspende, Leihmutterschaft oder Adoption verfügen dann über etwas, was ihren sozialen Eltern nicht vergönnt war: ein vollständig leibliches Kind zu bekommen und damit ein Eltern-Kind-Verhältnis, das genetisch, biologisch, rechtlich und sozial identisch ist. Auch dass sie ihre Eltern zu Großeltern machen, kann stabilisierend wirken. Mit der Enkelgeneration dünnt der einstige »Fremdeinfluss« aus.
63 Eine eigene Elternschaft schon im Jugendalter kann allerdings auch als unreife Autonomiedemonstration instrumentalisiert werden. Diese Problematik ist uns aus der therapeutischen Arbeit bekannt, hier aber nicht Thema.
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Einige Adoptierte, die wir einst als Jugendliche intensiv begleiteten, melden sich gelegentlich noch mal im Erwachsenenalter. Es ist nicht selten zu erleben, dass sie – manche nach Jahren heftiger Opposition – ihren Adoptiveltern gegenüber milde und unterstützend werden, wenn diese im Alter Hilfe benötigen. Eine 35-jährige Adoptivtochter zeigte sich nach Jahren der Anfeindung für ihre Adoptivmutter sehr präsent, als diese im Rentnerinnenalter schwer erkrankte. In einem anderen Fall erlebten sich ein fünfzigjähriger Adoptivsohn und sein achtzigjähriger Adoptivvater erstmals in einer warmherzigen Beziehung, als der Vater zum Pflegefall wurde. Die Umkehr der Verhältnisse ermöglichte dem Sohn, sein Selbstbild abzulegen, ein »Sozialfall aus dem Heim« zu sein. Die Journalistin Nina Kunz (2019) ließ in vielen Magazinen und über etliche Rundfunkanstalten64 die Öffentlichkeit an ihrer Suche nach ihrem unbekannten Vater teilhaben. Weder Adoption noch Samenspende war die Ursache, dass sie keinerlei Vorstellung von ihm hatte. Sie ist das Ergebnis einer »spontanen Nacht«, und der Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als ihre Mutter im zweiten Monat schwanger war. Für das Mädchen bleibt er ein Phantom, das sie im Jugendalter als Projektionsfigur nutzt, um sich ihre Abstammung von einem bekannten Popstar vorzustellen. Eine, wie sie sagt, »biologische Neugierde« lässt sie mit 26 Jahren auf Spurensuche gehen. Nachdem sie den Vater über das Internet fand, kommt es nur zu einer Mailkorrespondenz. Sie finden keine gemeinsame Sprache und geben den Kontakt auf. Doch was sie in der kurzen Zeit erfuhr, genügt ihr, um die Begrenztheit ihres einst projizierten »Helden« zu erkennen. Sie schreibt Tagebuch über ihre Suche und publiziert deren Verlauf. Sie bestimmt nun die Taktung des Geschehens. In der eigentlichen Herkunftssuche kommt sie nicht wesentlich weiter. Aber was sie davon erhoffte, glaubt sie erreicht zu haben: »Ich will selbst entscheiden, inwieweit mich meine Herkunft definiert. Wenn ich 64 Unter anderem im Radiofeature auf SWR 2 »Die Leerstelle – eine junge Frau sucht ihren Vater« gesendet am 28.05.2020 (SWR2, 2020).
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davon überzeugt bin, dass ich das in der Hand habe, fühle ich mich stark und erwachsen« (Kunz, 2019, S. 21). »Spenderkinder«, die zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Unterlagen über ihren einstigen Erzeuger definitiv vernichtet sind, suchen mitunter ersatzweise die Klinik oder Praxis auf, in der ihre Mutter sich einst behandeln ließ. Der Ort ihrer Zeugung lässt sie stellvertretend wenigstens etwas Konkretes von ihrer unbekannten Herkunft wahrnehmen und als Bild festhalten. Je weniger bekannt ist, desto bedeutungsvoller können Details werden. Minimal Fassbares vermag das unbekannte Ganze zu symbolisieren. Bei Kindern, die anonym in Babyklappen abgegeben wurden, kann beispielsweise die Decke, in der sie eingewickelt aufgefunden wurden, später die »Leerstelle Mama« vertreten. Die Notstellen bewahren deshalb solche Beigaben auf. Sie wissen um den Stellenwert, den kleinste Utensilien im späteren Leben der Betroffenen erlangen können. Hauptsache, da ist nicht nichts! Sven Riesel (2020), »Spenderkind« der frühen 1980er Jahre, kehrt seine Rolle vom Objekt- zum Subjektstatus auf sehr spezielle Weise um. Unter dem Titel »Spenderkind, Sohn, Vater, Samenspender? Rollenverortungen innerhalb meiner Familie« beschreibt der Vierzigjährige, wie er aus der belastenden Position, Spenderkind eines unbekannten Mannes zu sein, herausfand. Er wird selbst Samenspender für ein Freundinnenpaar und gestaltet seine Rolle nun so, wie er sie sich von seinem unbekannten Erzeuger gewünscht hätte. Vier Jahrzehnte lang hatte ihn sein Selbstbild irritiert. Unerklärbar fremd fühlte er sich in der Familie. Doch die Eltern schwiegen beharrlich über seine Herkunft, bis er sie mit einem Test »überführte«. Die Liebe seiner Mutter und seines sozialen Vaters will er im Rückblick keineswegs geschmälert sehen. Mit dem Zwiespalt söhnt er sich aus, indem er deren damaliger Entscheidung den Stellenwert einer Pioniertat gibt. Neue Wege zur Familiengründung wurden dadurch möglich. Die von ihm angekreidete Geheimhaltung lastet er als »Nebenwirkung« dem Rat der Mediziner und der Enge des Zeitgeists an. Als genetischer Vater ist er nun seiner Tochter und deren
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gleichgeschlechtlichen Müttern sehr präsent. Bewusst benutzt er die Verwandtschaftsbegriffe: »Man(n) ist kein ›Spender‹, sondern Vater. Damit geht auch einher, dass man ein Leben lang Verantwortung für die Kinder übernimmt, zu ihnen steht, ganz gleich wo sie aufwachsen« (Riesel, 2020, S. 298). Für ihn ist es eben eine »Familiengründung zu dritt«. Für »Spenderkind« Maria, die im Medizinstudium spekulative Vaterprojektionen einem Dozenten entgegenbrachte (siehe Kapitel »Nachkommenschaft ist mehr als Biologie. Aber Biologie ist sie auch«), sind die aufwühlenden Krisen nach der Entdeckung ihrer Zeugungsgeschichte schon lange Vergangenheit. Inzwischen verheiratet, selbst zweifache Mutter und als Ärztin beruflich eta bliert, engagiert sie sich nicht mehr mit dem einstigen Eifer im Verein »Spenderkinder«. Über einen ausfindig gemachten Halbbruder kann sie sich inzwischen ein wenig mehr vom nach wie vor unbekannten genetischen Vater vorstellen. Augenblicklich genügt ihr das. Doch sobald sie an ihre Kinder denkt, bedrückt sie der Gedanke, was sie ihnen über den unbekannten biologischen Großvater einst wird erzählen können. Das Zeitfenster, ihn noch aufzufinden, wird nicht größer. »Rechnerisch haben sie immerhin ein Viertel ihrer Gene von ihm«, meint sie nachdenklich. Die Vielfalt der genetischen Mitgift will wahrgenommen werden und Raum haben, wenn die Herkunftsfrage nicht diffus und irritierend in der Biografie herumwabern soll. Raum zu geben ist allerdings anstrengend. Auch Mut erfordert es, denn es gibt keine Garantie, wie die Aspekte jeweils gesehen, gewertet, inte griert werden. In den Extremen können sie beflügeln und lähmen, und im Bereich dazwischen entwickeln sie variantenreiche Profile. Immer werden es Prozesse bleiben, die Zeit brauchen. Sie brauchen auch Größe und Geduld. Denn Ergebnisse stehen in der Regel erst am Ende eines Prozesses. Am Ende unseres Arbeitsprozesses für dieses Buch steht erneut eine vermeintliche Paradoxie: Wird die Frage der genetischen Herkunft nicht wichtig genommen, kann sie sich auf vielfältige, auch unbewusste Weise verselbstständigen und zu wichtig werden.
IV Sachanhang
Methoden und Begriffe in der Reproduktionsmedizin sowie rechtliche Aspekte – ein Überblick Methoden und Begriffe der Reproduktionsmedizin, die in den vorangegangenen Texten erwähnt wurden, werden hier grob erläutert. Rechtspositionen werden insoweit skizziert, wie sie die dynamischen Prozesse unter den betroffenen Personen betreffen. Die aktuellen Rechtslagen in den deutschsprachigen Ländern hier wiederzugeben, ist ohne zu irritieren kaum möglich. Zu virulent ist die Lage, zu labil sind die »Haltbarkeitsdaten« der derzeitigen Gesetzesvorgaben. Vielfältige gesellschaftspolitische Bewegungen drängen derzeit auf Veränderung. In den Legislativen ist mit Reformprozessen zu rechnen, die schon bald nach Erscheinen dieses Buches die Rechtssituation verändern werden. So hat in Deutschland die im Dezember 2021 aus einer »Ampel-Koalition« gebildete Bundesregierung die »Reproduktive Selbstbestimmung« auf die Agenda ihres Koalitionsvertrags gesetzt (Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP 2021–2025, S. 116). Neben einer besseren finanziellen und diskriminierungsfreien Unterstützung bei heterologer Insemination soll eine »Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin« eingesetzt werden, die unter anderem die »Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft prüfen wird« (S. 116). Zur Zeit der Vorgängerregierung, im Mai 2021, war die hinlänglich vorbereitete Entscheidung über eine Reform des Abstammungsrechts überraschend von der Tagesordnung des Deutschen Bundestags genommen worden.
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Nicht alle Methoden der Reproduktionsmedizin bedingen multiple Formen von Elternschaft. Nur von denen ist in den vorausgegangenen Kapiteln die Rede, nur sie machen die Herkunftsfrage zu einem vielteiligen Puzzle. Nicht thematisiert ist deshalb im Buch die Homologe Insemination. Bei der bleibt genetisch sozusagen alles »en famille«, es bleibt bei einer »Elternschaft zu zweit«. Die Medizin hilft hier lediglich nach, dass die Spermien des zukünftigen Vaters ihren befruchtenden Weg zur Eizelle der zukünftigen Mutter finden. Die genetischen Eltern sind also identisch mit den späteren sozialen wie rechtlichen Eltern. Daran ändert sich nichts, wenn Ei- und Samenzelle außerhalb des Körpers in der »Petrischale« zusammengeführt werden wie bei der In-Vitro-Fertilisation (IVF) oder – bei ungünstigem Spermiogramm – der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI/»Ixi-Methode«). Natürlich beeinflussen auch diese Zeugungsmethoden – vor allem die zuvor erfolglosen Versuche eines Paares und/oder deren Sorge um die Kosten – die Dynamik einer Elternschaft. Doch das ist ein anderes Thema. Thematisiert sind im Buch jene Konstellationen, bei denen genetische, biologische, soziale und rechtliche Elternschaft auf mehr als zwei Menschen verteilt ist. Hier besteht von vornherein die Absicht, die genetische Mitwirkung mindestens eines der Beteiligten nicht in eine Elternrolle münden zu lassen. Am häufigsten ist dies der Fall bei der Donogenen Insemination (auch Heterologe Insemination), umgangssprachlich als Samenspende bekannt. Sie ist eine hierzulande legale Methode. Die Befruchtung der mütterlichen Eizelle erfolgt mit Sperma (Samenspende) eines Mannes (dem genetischen Vater), der nicht sozialer und rechtlicher Vater des Kindes wird. Donogene Insemination (DI) ist technisch seit rund hundert Jahren möglich und findet in Europa seit mehr als einem halben Jahrhundert zunehmend Anwendung,65 rechtlich anfangs noch nicht abgesichert. Bis zum Urteil des Bundesgerichtshofs von 65 Das älteste »Spenderkind«, das wir seinerzeit interviewten, war Mitte der 1960er Jahre gezeugt worden (Oelsner u. Lehmkuhl, 2016, S. 156 ff.).
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201566 blieb der Samenspender meistens anonym. Fachkräfte der Reproduktionsmedizin rieten den Eltern überwiegend zur Geheimhaltung der Zeugungsmethode. In Deutschland regelt seit dem 1. Juli 2018 das Samenspenderregistergesetz (SaRegG; Bundesgesetzblatt, 2017) die Rechtsposition der Beteiligten und schreibt die Bedingungen der Registrierung vor. Die Anzahl der in den Jahren davor per Samenspende gezeugten Kinder wird in Deutschland auf rund 110.000 geschätzt. Überwiegend wuchsen sie bei Eltern in heterosexueller (Ehe-) Partnerschaft auf. Die allerwenigsten sind über ihre Zeugungsmethode aufgeklärt. Seit diverse Partnerschaften und Singleverhältnisse mehr gesellschaftliche und rechtliche Akzeptanz finden, steigt in diesen Lebensformen der Anteil unter den jährlich schätzungsweise über tausend Neuzugängen.67 Die Donogene Samenspende ist in vielen Ländern (unter anderem in den deutschsprachigen) erlaubt. Allerdings gibt es Unterschiede in der Zulassung, ob beispielsweise nur verheiratete, verschiedengeschlechtliche Paare oder auch gleichgeschlechtliche Paare oder Singles sie beanspruchen dürfen. Ein aktueller Überblick darüber, welche Konstellation in welchem Land legal und somit von den Versicherungssystemen gegebenenfalls bezuschussungsfähig ist, ist zu ersehen beispielsweise auf der Internetseite des Vereins »Spenderkinder«, dort unter »andere Länder«: https://www.spenderkinder.de. Rechtssicherheiten, wie sie das SaRegG unter anderem hinsichtlich Kenntnis des Spenders garantiert, sind nur gegeben, wenn die Insemination in einer deutschen Kinderwunschklinik, Praxis oder ähnlichen Einrichtung erfolgte. Unbenommen ist es Menschen – und wegen der eher restriktiven deutschen Gesetzeslage nutzen sie es auch –, sich im Ausland unter den dort geltenden
66 BGH-Urteil vom 28.1.2015, XII ZR 201/13. 67 Eine wenig überprüfbare Zahlenangabe, vermutlich ist sie höher.
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Rechtsbestimmungen befruchten zu lassen. Davon unbeschadet erfolgt die weitere Schwangerschaftsbehandlung in Deutschland.68 Unabhängig von den Bestimmungen, die einer Kinderwunschklinik auferlegt sind, ist derzeit die privat arrangierte und praktizierte Fremdinsemination. Am bekanntesten ist die sogenannte Bechermethode. Hierbei inseminiert sich die Frau selbst, indem sie sich das in einem Becher gesammelte Ejakulat eines Mannes selber injiziert.69 Bei Donogener Insemination wird bei einem heterosexuellen »Kinderwunsch(ehe-)paar« die Frau genetische, biologische, soziale und rechtliche Mutter, der Mann wird sozialer und rechtlicher Vater. Bei einem gleichgeschlechtlichen weiblichen Paar wird die das Kind austragende Frau in allen Belangen Mutter, ihre Partnerin kann durch Adoption soziale Mutter werden. Rechtlich muss der Samenspender, wenn bekannt, der Adoption zustimmen. Vorgesehen in einem reformierten deutschen Abstammungsrecht ist eine Mitmutterschaft der Ehefrau der austragenden Mutter. Sogenannte Queer Families treffen Arrangements, in denen beispielsweise die Frau eines gleichgeschlechtlichen Paares durch einen Mann eines homosexuellen Paares inseminiert wird. Im Binnensystem definieren sich alle vier Erwachsenen als Eltern. Rechtlich wird das Konstrukt abgesichert beispielsweise durch Vaterschaftsanerkennung des genetischen Vaters oder durch diverse Adoptionskonstruktionen, denen der jeweils genetisch relevante Elternteil zustimmt.
68 Beispielsweise wird in Europa die Eizellspende pro Jahr über 56.000 mal durchgeführt (Kentenich, 2019, S. 18). 69 Der Koalitionsvertrag 2021–2025 der deutschen Bundesregierung sieht hier eine Erweiterung des Geltungsbereichs des Samenspenderregistriergesetzes vor (S. 101 f.).
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In Deutschland illegale, aber im Ausland genutzte Praktiken70 Bei einer Eizellspende werden einer Frau, die nicht die Mutter sein wird, Eizellen durch Punktion entnommen. Voraus geht eine hormonelle Stimulation der Eizellspenderin, um mehrere Eizellen reifen zu lassen. Die entnommenen Eizellen werden per In-Vitro-Fertilisation oder per intrazytoplasmatischer Spermieninjektion mit dem Sperma des späteren Vaters oder eines anderen Mannes befruchtet. Die befruchtete Eizelle wird der Empfängerin eingesetzt, weitere werden gegebenenfalls tiefgefroren (kryokonserviert) und für eine spätere Transferierung aufgehoben. Beispiel: Bei einem lesbischen Paar spendet eine Partnerin (die genetische und spätere soziale Mutter) eine Eizelle, die mit Spendersamen eines bekannten oder unbekannten Mannes (genetischer Vater) befruchtet wird. Der per IVF gezeugte Embryo wird von der anderen Partnerin des lesbischen Paares ausgetragen. Als Tragemutter wird sie per Gesetz rechtliche Mutter sein, soziale Mutter ist sie zudem. Ihre Partnerin (genetische Mutter), von der die Eizelle stammt, kann – Stand Frühjahr 2022 – das Kind adoptieren. Der Samenspender, wenn bekannt, muss dem zustimmen. Aktuell laufen Bemühungen auf Ebene des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Zulassung von Eizellspende zu erwirken. Das bislang angeführte Argument einer »gespaltenen Mutterschaft«, die es zu vermeiden gelte, wird von Befürwortern der Eizellspende als nicht relevant angesehen. Studien hätten ergeben, dass ein Auseinanderfallen von genetischer 70 Die zugrunde liegende Differenzierung »legal – illegal« basiert auf der im Frühjahr 2022 gültigen deutschen Rechtslage. Veränderungen sind mit einer Reform des Abstammungsrechts zu erwarten. Der zuständige Arbeitskreis stellt in seinem »Abschlussbericht zur Reform des Abstammungsrechts« unter anderem fest, dass »die herkömmliche Anknüpfung des Gesetzes an die genetische Abstammung eines Kindes für seine Zuordnung zu seinen Eltern […] nicht mehr allen Fragestellungen gerecht« wird.
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Mutterschaft und Gebärender das Kindeswohl nicht gefährde.71 Im Übrigen würde ja auch ein Auseinanderfallen von genetischer und sozialer Vaterschaft bei der Donogenen Samenspende hingenommen. Hierin wird eine Ungleichbehandlung gesehen. Ebenfalls mit dem Ziel der Abwehr einer »doppelten« oder »gespaltenen Mutterschaft« ist in Deutschland Embryonenspende im Prinzip verboten. Das Gesetz gestattet sie allerdings, wenn dadurch (nur dadurch) die Weiterentwicklung eines Embryos möglich sein wird. Das Schutzargument für den Embryo führt zum Begriff »Embryoadoption«. Gezielt eine gespendete Eizelle mit einer gespendeten Samenzelle zu befruchten, um sie einem Wunschelternpaar zur Verfügung zu stellen, ist – anders als etwa in den USA oder Großbritannien – in Deutschland verboten. Eine »Embryoadoption« ist quasi ein Folgeereignis. Ähnlich wie bei einem zur Adoption freigegebenen Baby setzt sie die Existenz des Embryos voraus. Embryonen, die für eine »Adoption« verfügbar sind, entstehen als Nebeneffekt einer Kinderwunschbehandlung eines Paares. Bei der entstehen oft mehr Embryo nen, als transferiert werden können.72 Auch kann manchmal ein Transfer aus diversen Gründen wider Erwarten nicht durchgeführt werden. Wenn der Kinderwunsch bei einem Paar erfolgreich abgeschlossen wurde und dieses keine weiteren Kinder wünscht, bleiben die überzähligen Embryonen ohne Verwendung zurück. Unbekannt und sehr groß ist weltweit die Zahl von Embryonen, die eingefroren (kryokonserviert) auf eine unbestimmte Verwendung warten. Das »Netzwerk Embryonenspende« sucht einen Ausweg aus der Belastung, die es für Kinderwunschpaare bedeuten kann, dass ihr zum Embryo gereiftes überzähliges »genetisches Material« eingefroren bleibt oder vernichtet werden müsste. Ähnlich wie bei der traditionellen Adoption mit einem Kind könnte hier 71 Siehe unter anderem Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V. (2019, S. 70). 72 Der Koalitionsvertrag 2021–2025 der deutschen Bundesregierung stellt fest: »Wir stellen klar, dass Embryonenspenden im Vorkernstadium legal sind und lassen den ›elektiven Single Embryo Transfer‹ zu« (S. 116).
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mit ihrem Embryo einem zeugungsunfähigen Kinderwunschpaar (oder einem mit nachweislich genetischen Erkrankungen) geholfen werden. Diese Lösung könnte vom Dilemma und möglichen Gewissenskonflikten befreien. Bei Inanspruchnahme von hierzulande verbotenen reproduktionsmedizinischen Methoden machen sich übrigens nach deutschem Recht nicht die Mütter strafbar, sondern die Behandler. Leihmutterschaft ist die wohl älteste Form einer Kinderwunscherfüllung mittels Dritter.73 Gleichwohl polarisiert sie im Meinungsspektrum heftig. Als »Verstoß gegen Kinderkonvention und Menschenwürde« geißelt sie Eva-Maria Bachinger (2015, S. 10), jedenfalls sobald sie kommerziell ist. Hingegen argumentiert mit einem Verweis auf die Parallele zur Organspende die Bundestagsabgeordnete Helling-Plahr (2021), sie solle erlaubt sein, solange sie unentgeltlich ist, altruistisch motiviert und bevorzugt unter sich nahe stehenden Menschen praktiziert wird. Beispielsweise wenn eine Frau nach einer Krebsbehandlung unfruchtbar wird und eine ihr zuvor entnommene Eizelle von »ihrer Schwester aus Liebe ausgetragen wird«. Die historisch belegte Leihmutterschaft, auch Ersatzmutterschaft genannt, basiert auf einem Beischlaf des Wunschvaters mit der Leihmutter. Sie wurde somit auch genetische Mutter des von ihr ausgetragenen Kindes. Heute ist mit »Leihmutter« überwiegend eine Tragemutterschaft74 gemeint. Bei der ist die austragende Frau in keiner Weise mit dem Kind genetisch verwandt. Ihrem Uterus wird eine befruchtete Eizelle einer anderen Frau eingesetzt. Diese »andere Frau« kann die Wunschmutter selbst sein. Sie verfügt über befruchtungsfähige Eizellen, will oder kann aber keine Schwangerschaft austragen. Die In-Vitro-Befruchtung kann 73 Das Alte Testament erzählt davon, dass die Magd Hagar für das kinderlose Paar Sarah und Abraham den Sohn Ismael austrägt, bevor Sarah als Greisin den Stammhalter Isaak doch noch selbst zur Welt bringt. 74 Auch »gestationelle Leihmutterschaft« genannt.
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mit dem Samen ihres Partners oder einer Fremdsamenspende erfolgen. Die Wunschmutter trägt das Kind also nicht aus, ist aber dessen genetische Mutter. Rechtliche Konflikte gibt es insofern, als nach deutschem Recht stets die gebärende Frau als Mutter gilt. Ohne Implementierung der bereits ausgearbeiteten Reform des Abstammungsrechts (vgl. BMJV, 2019) ist eine Anerkennung der Mutterrolle für die genetische Mutter nur über das Adoptionsverfahren möglich. Den Landesjugendämtern liegen dafür vermehrt Anfragen vor. Die »andere Frau« kann auch eine bekannte oder unbekannte Eizellspenderin sein. Auftraggeber können Wunschmütter sein, die über keine eigenen befruchtungsfähigen Eizellen verfügen und auch nicht austragen wollen. Die Konstellation Eizellspende und Tragemutterschaft wird bevorzugt auch von homosexuellen Partnern und alleinstehenden Männern gewählt. Wenn sie zur Befruchtung ihr eigenes Sperma zur Verfügung stellen, ist das Kind genetisch mit ihnen verwandt. Beispiel 1: Ein (Ehe-)Paar lässt seinen per IVF gezeugten Embryo (genetisch also völlig von ihnen abstammend) von einer Leihmutter im Ausland austragen. Bei der Einreise nach Deutschland deklariert der Vater das Kind als Ergebnis eines »Seitensprungs« mit der ausländischen Frau und anerkennt die Vaterschaft. Seine (Ehe-)Frau (also die genetische Mutter) beantragt für das Kind die Adoption. Beispiel 2: Fünf »Eltern« sind bei dieser Konstellation beteiligt: Die Eizellspende einer bekannten oder unbekannten Frau (genetische Mutter) wird mit Sperma eines bekannten oder unbekannten Samenspenders (genetischer Vater) befruchtet (per IVF). Der Embryo wird von einer Leihmutter (leibliche Mutter) ausgetragen und nach der Geburt vom Auftrag gebenden Kinderwunsch(ehe-)paar (soziale Eltern) übernommen, gegebenenfalls adoptiert. Eine »multi-ethnische Mischung« ist bei solchen Konstellationen nicht unüblich. Ei- und Samenzelle können von Menschen verschiedener Nationen stammen. Auch
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Sachanhang
die Leihmutter wird in der Regel nicht aus dem Land des »bestellenden Elternpaares« stammen. Für die per Leihmutterschaft geborenen Kinder wird es extrem schwierig sein, ihre Herkunft zu recherchieren. In den deutschsprachigen Ländern ist sie (Stand Frühjahr 2022) verboten. Deshalb ist bei den über das Ausland zustande gekommenen Konstrukten – über die auf hiesigen »Kinderwunschtagen« vornehmlich informiert wird – keinerlei Auskunftssicherheit, analog etwa dem deutschen Samenspenderregistriergesetz (2017), gegeben. Solange die Reform des Abstammungsrechts auf sich warten lässt, ist die deutsche Rechtsprechung im Interesse des Kindeswohles bemüht, Wege zu finden, dass Kinder, die auf eine der skizzierten (hierzulande illegalen) Arten gezeugt, ausgetragen und geboren werden, möglichst bei den Wunscheltern verbleiben können. Lösungen, die mit Gesetzesanwendungen anderer Staaten zu vereinbaren sind, werden gesucht (»ordre public«). Wesentliche Aspekte aus dem Samenspenderregistriergesetz (SaRegG 2017) – »Zweck des Samenspenderregisters ist es, für Personen, die durch heterologe Verwendung von Samen bei einer ärztlich unterstützten künstlichen Befruchtung gezeugt worden sind, die Verwirklichung des Rechts auf Kenntnis ihrer Abstammung sicherzustellen.« – Der Samenspender muss darüber aufgeklärt werden, »welche Bedeutung […] die Kenntnis der Abstammung für die Entwicklung eines Menschen hat« und dass es einen Auskunftsanspruch des aus einer Samenspende hervorgegangenen Kindes über Kenntnis des Samenspenders gibt. – Dem Samenspender muss angeboten werden, sich über die Folgen einer Samenspende beraten zu lassen. – Die Entnahmeeinrichtung (Kinderwunschklinik, Praxis oder Ähnliches) ist verpflichtet, personenbezogene Daten des Spen-
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ders zu erheben und diese sowie die Spendenkennungssequenz zu übermitteln an das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation (DIMDI). – Das DIMDI speichert die Daten im Samenspenderregister für die Dauer von 110 Jahren. – Wer vermutet oder weiß, »Spenderkind« zu sein, »hat gegenüber dem DIMDI Anspruch auf Auskunft aus dem Samenspenderregister. Nach Vollendung des 16. Lebensjahres kann die Person diesen Anspruch nur selbst geltend machen.« Der Anspruch auf Auskunft ist gerichtet »auf die Mitteilung der im Samenspenderregister gespeicherten personenbezogenen Daten des Samenspenders«. (Alle Zitate aus dem Gesetzeswortlaut.) Der volle Gesetzeswortlaut ist im Internet abzurufen: »Gesetz zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei heterologer Verwendung von Samen vom 17. Juli 2017«. Hilfreich sind die FAQ zum Samenspenderregister, abzurufen unter https://www.dimdi.de/dynamic/de/weitere-fachdienste/ samenspender-register/faq-samenspender-register/. Die im Verein »Spenderkinder« organisierten Betroffenen kritisieren am SaReG vor allem, dass der Samenspender nicht ins Geburtsregister eingetragen wird. Das Standesamt könne so später nicht prüfen, ob Ehehindernisse bestehen, um Inzest auszuschließen (vgl. Meier-Credner, 2020, S. 334).
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Neuerungen Adoptionshilfe-Gesetz als Hilfe bei der Herkunftsfrage In Deutschland trat am 1. April 2021 ein neues AdoptionshilfeGesetz in Kraft. Das zuständige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) informierte darüber in einer Presseerklärung. Von den insgesamt vier Bausteinen des Adoptionshilfe-Gesetzes seien die drei mit besonderer Relevanz für die Herkunftsfragen im Wortlaut wiedergegeben: »1. Alle an einer Adoption Beteiligten vor, während und nach einer Adoption besser beraten Ein Rechtsanspruch auf eine Begleitung auch nach der Adop tion sichert die gute Beratung und Unterstützung aller an einer Adoption Beteiligten. Die unterschiedlichen Phasen der Adoption werden so als Ganzes betrachtet und begleitet. Außerdem werden die Adoptionsvermittlungsstellen in ihrer Lotsenfunktion gestärkt, damit die Familien die Hilfen bekommen, die sie brauchen. Vor einer Stiefkindadoption wird eine verpflichtende Beratung eingeführt. Sie soll dafür sorgen, dass eine Adoption tatsächlich das Beste für das Kind ist. Nicht zur Beratung verpflichtet sind lesbische Paare, deren Kind in ihre bestehende Ehe oder verfestigte Lebensgemeinschaft hineingeboren wird und bei denen die Partnerin der Geburtsmutter das Kind im Rahmen einer Stiefkindadoption adoptiert. 2. Einen offenen Umgang mit Adoption fördern Das Adoptionshilfe-Gesetz trägt zu einem offeneren Umgang mit dem Thema Adoption bei: Zum einen sollen Adoptiveltern durch die Adoptionsvermittlungsstellen ermutigt und dabei unterstützt werden, ihr Kind von Anfang an altersgerecht über die Tatsache ihrer Adoption aufzuklären. Zum anderen soll die Vermittlungsstelle vor Beginn der Adoptionspflege mit den Herkunftseltern und den Adoptionsbewerberinnen und
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-bewerbern erörtern, ob und wie ein Informationsaustausch oder Kontakt zum Wohl des Kindes gestaltet werden kann. Die Herkunftseltern werden in ihrer Rolle gestärkt, indem sie gegenüber der Adoptionsvermittlungsstelle einen Anspruch auf allgemeine Informationen über das Kind bekommen. Die Adoptivfamilie entscheidet, ob und welche Informationen sie zur Verfügung stellen möchte. 3. Adoptionsvermittlungsstellen mit einem Aufgabenkatalog und einem Kooperationsgebot stärken […] 4. Unbegleitete Auslandsadoptionen werden verboten und ein Anerkennungsverfahren eingeführt, um Kinder zu schützen Auslandsadoptionen müssen in jedem Fall durch eine Adoptionsvermittlungsstelle begleitet werden, damit die zukünftigen Eltern auf die Herausforderungen einer Auslandsadoption vorbereitet und die Interessen der Kinder ausreichend berücksichtigt werden können. International vereinbarte Schutzstandards sind nun bei allen Auslandsadoptionen einzuhalten. Auslandsadoptionen ohne Begleitung einer Vermittlungsstelle sind untersagt. Für mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gibt es ein verpflichtendes Anerkennungsverfahren für ausländische Adoptionsbeschlüsse.«75
75 BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2021). Adoptionshilfe-Gesetz. Neue Regelungen für Adoptionen in Kraft getreten. Zugriff am 20.12.2021 unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/adoptionshilfe-gesetz-bundesrat-bundestag-163414.
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