Fabels Reich: Zur Tradition und zum Programm romantischer Dichtungstheorie [Reprint 2019 ed.] 9783110859652, 9783110069587


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German Pages 253 [264] Year 1978

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Inhaltsverzeichnis
Einführung
Die Tradition
Das Programm
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Fabels Reich: Zur Tradition und zum Programm romantischer Dichtungstheorie [Reprint 2019 ed.]
 9783110859652, 9783110069587

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Komparatistische Studien Band 8 Fabels Reich

Komparatistische Studien Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Horst Rüdiger Band 8

w DE

G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York

1978

Fabeis Reich Zur Tradition und zum Programm romantischer Dichtungstheorie von Rüdiger von Tiedemann

w DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1978

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Tiedemann, Rüdiger von Fabeis Reich : zur Tradition u. zum Programm romant. Dichtungstheorie. - 1. Aufl. - Berlin, New York : de Gruyter, 1978. (Komparatistische Studien; Bd. 8) ISBN 3-11-006958-X

© Copyright 1978 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin 30 - Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen - auch auszugsweise - vorbehalten. Satz und Druck: Walter Pieper, Würzburg Bindearbeiten: Wübben & Co., Berlin

Zur Erinnerung an meinen Vater

Inhaltsverzeichnis Einführung

1 Die Tradition

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Hesiod: Die Begründung der Dichtungstheorie Piaton: Mythos und Logos Rom: Poeta Vates Das Mittelalter: Dichtungstheorie und Theologie Die Renaissance: Apologetische Theorien Furor Poeta alter deus

11 18 33 44 55 71 90

Das Programm 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Die Kritik an der Aufklärung Das Ende der Kunst Zeichenschrift und Kohärenz Archaische und mythische Modelle Die Sakralisierung Der Gott der Dichter und der Dichter als Gott

99 117 138 170 196 217

Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Einführung ,But the knowledge of nature is only half the task of a poet; he must be acquainted likewise with all the modes of life [. ..] He must divest himself of the prejudices of his age or country; he must consider right and wrong in their abstracted and invariable state; he must disregard present laws and opinions, and rise to general and transcendental truths, which will always be the same: he must therefore content himself with the slow progress of his name; contemn the applause of his own time, and commit his claims to the justice of posterity. He must write as the interpreter of nature, and the legislator of mankind, and consider himself as presiding over the thoughts and manners of future generations; as a being superiour to time and place' [...] Imlac now felt the enthusiastic fit, and was proceeding to aggrandize his own profession, when the prince cried out, ,Enough! Thou hast convinced me, that no human being can ever be a poet.' Samuel Johnson: (1759)

The

History

of Rasselas, Prince

of

Abissinia

Der Titel bedarf vielleicht einer kurzen Erläuterung. Er ist jener die Dichtung und ihre Macht allegorisch verkörpernden Gestalt abgewonnen, welche Novalis in ,Klingsohrs Märchen', dem poetischen Kernstück des Heinrich von Ofterdingen (1802), als Hauptfigur einsetzte. Wie der gesamte Roman, so hat auch die eingeschobene Erzählung apotheotische Funktion, nur eben in äußerst konzentrierter und verschlüsselter Form. Ziel ist die Verteidigung und Verherrlichung eines Dichter- und Dichtungsbegriiis, der auf seltsame Art sowohl extensive wie auch verinnerlichte Züge trägt, seinen Anspruch sogar noch auf das Gebiet der Geschichtsphilosophie ausdehnt und so sich zumißt, was ihm üblicherweise kaum zugestanden wird. Denn das Märchen, in welchem Fabel als Befreierin agiert, hat selbst Erlösungscharakter; am Ende findet sich ebenjene Heilswelt wiederhergestellt, die zugleich das Werk der Poesie, Fabeis Reich ist. Darin offenbart sich ein Machtanspruch, dessen Ausmaßen, Konsequenzen und geschichtlichen Ursprüngen dieses Buch nachzugehen versuchen will. Er hat sich in der Romantik keineswegs nur in märchenhafter Verhüllung geäußert: Poets are the hierophants of an unapprehended inspiration; the mirrors of the gigantic shadows which futurity casts upon the present; the words which express what they understand not; the trumpets which sing to battle, and feel not what they inspire; the influence which is moved not, but moves. Poets are the unacknowledged legislators of the world. Mit diesen hymnischen Sätzen, die trotz - oder vielleicht gerade wegen - ihres kumulierenden Pathos nicht zu verbergen vermögen, daß sie beschwören, was nicht ist oder, um mit Rasselas (alias

2

Einführung

Samuel Johnson) zu sprechen, was nicht sein kann, endet eine der berühmtesten theoretisierenden romantischen Schriften: Shelleys Defence of Poetry ( 1 8 2 1 ) S i e sind nicht minder, wenngleich in anderer Weise, utopisch als das geschichtsphilosophische Substrat romantischer Dichtung selbst - der Glaube an ein im Anbruch eines neuen Goldenen Zeitalters sich erfüllendes Ende der Geschichte; und wie es unter den Romantikern nur wenige gegeben hat, die nicht, zumindest zeitweilig, dem Traum geschichtlicher Utopie nachhingen, ihn in strahlende Bilder gefaßt haben, so findet sich kaum einer, der nicht, zumindest in Augenblicken der Begeisterung und des Stolzes, mit Shelleys Sätzen sich zu identifizieren bereit gewesen wäre. Oft sind dabei geschichtliche Verheißung und dichtungstheoretischer Wunschtraum Hand in Hand gegangen. Ihre zwar nicht notwendige, gleichwohl naheliegende Verbindung zu untersuchen, ist eines der zu behandelnden Themen. .Dichtungstheorie' - auch dieser Begriff erfordert, da er in einem sehr dezidierten Sinn verstanden werden soll, einen kurzen Kommentar. „Fragmente zu einer ,Geschichte der Dichtungstheorie'" nennt Ernst Robert Curtius eine Reihe von Exkursen, die sich mit verschiedenen Vorstellungen vom Dichter und Literavon der Dichtung befassen und die er seinem opus magnum Europäische tur und lateinisches Mittelalter mit dem Hinweis anfügte 2 : „Mit diesem Wort [d. h. Dichtungstheorie] bezeichne ich die Auffassung von Wesen und Funktion des Dichters und der Dichtung im Unterschied zur Poetik, als welche es mit der Technik des Dichtens zu tun hat." Obwohl beides de facto sich berühre und oft ineinander übergehe, decke sich die Geschichte der Dichtungstheorie „weder mit der Geschichte der Poetik noch mit der der literarischen Kritik". „Hauptthemata einer Geschichte der Dichtungstheorie" seien beispielsweise „die Selbstauffassung des Dichters" oder „die Spannung zwischen Dichtung und Wissenschaft" 3 - beide Aspekte sollen auch hier behandelt werden. Zumal als Produkt der Selbstvergewisserung, als Ausdruck dichterischen Selbstverständnisses begriffen, steht hinter ihr stets „die bohrende Frage, was der Dichter in der Welt soll" 4 . In dieser, ihm von Curtius gegebenen Bedeutung wird der Begriff ,Dichtungstheorie' im folgenden gebraucht. Ihr Gebiet scheint, jedenfalls was die historische Dimension angeht, größer zu sein als das der Poetik oder Literaturkritik. Es sieht so aus, als habe die Frage nach Wesen und Funktion des Dichters und der Dichtung, geschichtlich gesehen, noch vor jeder Poetik und Literaturkritik bestanden, als sei sie mit der Genese von Literatur identisch, ja eines von deren Grundproblemen. Sie taucht auch dort auf, wo es - wie etwa im Mittelalter - den „Begriff einer autonomen .Kultur'" nicht gab 5 , nicht minder dort, wo - wie etwa in frühgriechisdier Zeit 1 Percy Bysshe Shelley: The Compl. Works I - X , ed. by R. Ingpen, W. E. Peck, London/ New York 1965, VII 140 [zit.: Shelley: Compl. Works]. 2 Bern/München 51965 (erstmals 1948), 462 [zit.: Curtius: Europ. LH.]; gemeint sind die Exkurse V I I - X I I und XXI. 3 Ebd. * Ebd. 463, Anm. 3. 5 Ebd. 463.

Einführung

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- sich Literatur kaum schon als eigener, abgesonderter Bereich im heutigen Sinn des Worts konstituiert hatte und ihr - vergleichsweise ,naives' - Selbstverständnis noch gänzlich mit dem der sie umgebenden Zivilisation zusammenfiel. Implizit ist sie stets existent; nur ist sie nicht überall explizit gestellt worden. Sie kann sich im Objekt ihres Anlasses verbergen. Immer schon enthälr Dichtung eine Antwort auf sie, und sei es nur in der unauffälligsten und doch gewichtigsten Form, die sich denken läßt - durch ihr bloßes Vorhandensein. Das nun freilich soll nicht heißen, daß das Selbstverständnis des Dichters und der Dichtung als quasi naturgegebenes, isoliert von allen außerliterarischen Bezügen zu begreifen und zu betrachten wäre. Es hat sich vielmehr, so weit sich das auch nur einigermaßen gesichert historisch zurückverfolgen läßt, immer im Verhältnis - oft genug in einem spannungsvollen - zum jeweiligen Bild entwickelt, welches das Publikum, in größerem Rahmen die Gesellschaft sich von der Rolle des Dichters und der seiner Kunst macht. Gesellschaftliches und persönliches Rollenbild können deckungsgleich, ebensogut aber disparat sein. Dichtungstheorie kann Einlösung und Bestätigung einer von außen an ihr Objekt herangetragenen - oder durch dieses erst geweckten - Erwartung sein, genauso jedoch Verteidigung oder Sehnsucht nach einer vermeintlich oder tatsächlich bedrohten oder verlorenen Position. Gerade letzteres war nicht selten ihr Impetus, das philosophisch, psychologisch und gesellschaftlich motivierte Mißtrauen gegenüber der Mimesis, der Fiktion, seit Beginn einer ihrer Stacheln. Seit der ersten geschichtlich nachweisbaren Konfrontation mit dem wissenschaftlich-rationalen Denken, die einem naiven, noch kaum begrifflich reflektierten und dennoch ungeheuer anspruchsvollen Selbstverständnis der Dichtung ein Ende setzte, ist deren Theorie häufig genug - die Romantik beweist das eindrucksvoll - apologetisch gewesen, hat sie sich das begründete oder unbegründete Gefühl eines Verlusts nur allzu deutlich anmerken lassen. Gleichzeitig indes, so scheint es, hat diese Konfrontation nicht wenig dazu beigetragen, ihr zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen. - Auch dieses dialektische Verhältnis von musenfeindlicher Argumentation und apologetischer Affirmation gehört zu den Themen dieser Studie. Seit Piatons vom Standpunkt philosophischer Erkenntnisbesessenheit aus geführten Angriffen gegen Homer (und Homer war für ihn, aus Gründen, auf die noch eingegangen werden wird, der Dichter schlechthin) hat Dichtung sich zu verteidigen gehabt. Die dabei entworfenen Vorstellungen vom Dichter sowie von der Funktion der Dichtung zeigen sich vorzüglich in Fällen, in denen sie sich anspruchsvollsten und utopischen Inhalts bemächtigen, insgeheim als Reflex verlorenen oder mangelnden Bürgerrechts der Kunst innerhalb der Gesellschaft wie innerhalb der von dieser proklamierten geistigen und materiellen Werte, als Irritation, Produkt tiefreichender Verunsicherung, als Reaktion auf das Empfinden eigener Fremdheit, das in gesellschaftlich verzerrter Form als Befremdung vor der Kunst sich widerspiegelt. Ob allerdings das Verlangen nach Integration dort zum Erfolg führen kann, wo der Anspruch jeder Realität sich enthebt, ist mehr als zweifelhaft. Zumal an der Dichtungstheorie der Romantik ist das abzulesen. Ihr Begriff

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Einführung

vom Dichter und der Dichtung gibt sich exaltiert wie in keiner anderen Epoche. Autoren und literarische Strömungen, die ihr darin späterhin verwandt scheinen - wie beispielsweise der Symbolismus oder George - , stehen, ob sie es nun geleugnet haben oder nicht, in ihrer Schuld. Die zumeist durch keinerlei Realität mehr gedeckte (durch keine auch mehr zu deckende) Glorifizierung war das Gewand, das sich die Romantik nur allzu gern anlegte, sobald es ihr Selbstverständnis zu repräsentieren galt 6 : „Ce sentiment de supériorité est à la base de la conception du poète en général, que nous rencontrerons parmis les idées esthétiques du romantisme. Poète ou non, le romantique se considère volontiers comme un Titan déchu de la place eminente qu'il devrait occuper; à l'égoïsme il allie l'orgueil." Das stimmt summarisch gesehen sicherlich. Indes ist die Palette, aus der romantische Dichtungstheorie sich ihre Bilder schuf, größer und differenzierter, als hier anklingt. Sie reicht von den verhaltenen Valeurs einer Verinnerlichung, die dem Dichter verborgene, nur ihm offenbarte Einsichten zusprach, ohne doch daraus die Forderung nach anderer als geistiger Superiorität herzuleiten, bis zum Anspruch auf eine Herrschaft, die größer noch wäre als die im Reich des Geistes, weil sie auf irdische Verwirklichung pochte. Für das eine mag hier exemplarisch eine Eintragung in Vignys Journal d'un poète einstehen7: Comparaison poétique: L'Islande. - Dans les nuits de six mois, les longues nuits du pôle, un voyageur gravit une montagne et, de la, voit au loin le soleil et le jour, tandis que la nuit est à ses pieds: ainsi le poète voit un soleil, un monde sublime et jette des cris d'extase sur ce monde délivré, tandis que les hommes sont plongés dans la nuit. Für das andere bieten, nicht minder symptomatisch, die folgenden Verse aus einer der märchenhaften, bezeichnenderweise schon ins Legendenhafte übergehenden Erzählungen der Kaufleute über die .wunderbare Kunst' der Dichtung im Ofterdingen einen Beleg ': ,Vergiß anjetzt, was du gelitten, In kurzem schwindet deine Last, Was du umsonst gesucht in Hütten, Das wirst du finden im Palast. Du nahst dem höchsten Erdenlohne, Bald endigt der verschlungne Lauf; Der Myrtenkranz wird eine Krone, Dir setzt die treuste Hand sie auf. Ein Herz voll Einklang ist berufen Zur Glorie um einen Thron; Der Dichter steigt auf rauhen Stufen Hinan, und wird des Königs Sohn.' 6 Paul Van Tieghem: Le Romantisme dans la litt. Europ., Paris 1948 ( = L'Evolution de l'humanité 57), 255 f. 7 Aus dem Jahr 1824; s. Alfred de Vigny: Œuvres compl. I—II, éd. F. Baldensperger, Paris 1948-49, II 880. 8 Novalis: Sehr. [Die W. Friedrich von Hardenbergs], hg. v. P.Kluckhohn, R.Samuel, Stuttgart 21960 S., I 226 f.

Einführung

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Was hier der hohe Geist der Lieder 9 dem Sänger in einer Traumvision verheißt und was in der Erzählung selbst seine Einlösung findet, wäre nicht zuletzt, wenngleich freilich nicht ausschließlich, als Wunschtraum alter Dichtermadit, als Sehnsucht des Dichters nach königlichen Insignien, königsgleicher Souveränität zu deuten, über die Mittel, ihn zu verwirklichen, nicht über das Ziel, hat es unter den Romantikern unterschiedliche Anschauungen gegeben. Einer Verbrüderung des Dichters mit dem König, einer Identifizierung der Dichtung mit dem Palast anstatt mit den Hütten hätten beispielsweise Blake und Shelley keine Zustimmung erteilt 10 , Hugo nur zeitweilig; einem solcher aristokratischen Bilder entkleideten Traum haben indes auch sie nachgehangen. Dichtung und Welt, Imagination und Erkenntnis in zuweilen eigenartig solipsistischer Weise gleichsetzend, hat die Romantik nichts mehr im Sinn gehabt, als den Dichter zu deren Souverän zu erheben. Der Weg dorthin führte über prinzipielle Erörterungen. Die eminent dichtungstheoretische Frage, wer ein Dichter und was die Dichtung sei, wie diese sich zur Philosophie und zur Wissenschaft verhalte, welches ihre Rolle in der Gesellschaft und welches ihr Sinn in der Welt sei, steht im Zentrum von Wordsworth' Preface zu den Lyrical Ballads ebenso wie von Shelleys Defence, ist in beiden Fällen (ähnlich wie noch in John Stuart Mills - früheren utilitaristischen Ideen abschwörenden - Thoughts on Poetry and Its Varieties) sogar Gliederungsprinzip. Sie taucht im Titel eines der wichtigsten Essays von Leigh Hunt (What Is Poetry?) ebenso auf wie sie die Reflexion der deutschen Romantik, insbesondere der Frühromantik, unablässig beschäftigt hat. Dieser Hang zum Prinzipiellen ist überall feststellbar. Kaum eine literarische Bewegung zuvor hat sich von grundsätzlichen Problemen der Rolle der Kunst derart fasziniert und zuweilen auch gequält gezeigt. Gerade die bedeutendsten theoretischen Schriften haben die Existenz des Dichters und der Dichtung nachdrücklich thematisiert, oft noch vor allen in engerer Hinsicht poetologischen Fragen. Zwar hat die Dichtungstheorie in der Romantik die Poetik nicht verdrängt, aber doch stellenweise völlig überlagert. Das erstaunliche Phänomen, daß die Romantik bei allem Interesse für poetologische Themen kaum eine Poetik im traditionellen Sinn geliefert hat, ist nicht nur mit deren Liquidierung im Verlauf des XVIII. Jahrhunderts, mit der Überwindung des klassizistischen Gattungs-, Formen- und Regelkanons, zu erklären. Es ist auch ein Ergebnis teilweise gesellschaftlich vermittelter und provozierter, teilweise selbstgewählter Umorientierung. Seither hat sich nicht mehr - wie in der Renaissance noch so häufig - Dichtungstheorie als ein akademisch-gelehrtes, obligatorisches Anhängsel der Poetik verstanden, sondern wurde diese immer wieder zum Untertan jener. Oft sogar ist Poetik im Zuge dieser Entwicklung der Dichtungstheorie einverleibt worden, haben sich beide Bereiche unauflöslich miteinander verquickt. Wenngleich die Romantik in ästhetischer (wie in politischer) Hinsicht als » Vgl. ebd. I 226. 1° Audi Goethe nicht, dessen Ballade Der Sänger im Wilhelm Meister hier Muster gewesen und in ihrer ideologischen Haltung umgedreht worden zu sein scheint.

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Einführung

eine revolutionäre Bewegung zu bezeichnen ist (reaktionär gebärdete sie sich in den allermeisten Fällen erst mit dem Beginn nachrevolutionärer Restauration), wenngleich sie den Bruch mit den so lange für verbindlich erachteten traditionellen künstlerischen Dogmen und Normen, dem das XVIII. Jahrhundert bereits vorgearbeitet hatte, mit radikaler Konsequenz vollzog, griff sie doch in ihrer Dichtungstheorie auf eine Reihe von älteren Traditionen zurück, deren Kontinuität durch den Klassizismus unterbrochen worden war. Heines treffende Bemerkung zu literarischen Generations- und Epochenkonflikten11: Denn in der Literatur wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden werden die Väter von den Söhnen totgeschlagen, sobald sie alt und schwach geworden, schließt immerhin nicht aus, daß anstelle der Väter die Urahnen wieder zu Ehren kommen können. Hamann sah in der Poesie eine natürliche Art der Prophezeyung12 und erklärte sie zur Muttersprache des menschlichen Geschlechts13; Herder betrachtete sie als eine Nachahmung der schaffenden, nennenden Gottheit14 und nannte den Dichter Apollo's P r i e s t e r , der nicht in eignem Namen, sondern aus Kraft des ihn begeisternden Gottes den Sterblichen Lehre und Trost ans Herz legt und Wahrheit verkündigt15; Blake schrieb u: Meer Enthusiasm is the All in All-, im ,Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus' wurde die Forderung erhoben 17, daß die Poesie am Ende wieder werde, was sie am Anfang war - Lehrerin der Menschheit-, Friedrich Schlegel erblickte ihre reellste Definition darin, daß sie die Sprache der Religion und der Götter sei 18 ; Wordsworth bezeichnete sie als the breath and finer spirit of all knowledge19; Coleridge dekretierte 20 : No man was ever yet a great poet, without being at the same time a profound philosopher. For poetry is the blossom and the fragrancy of all human knowledge, human thoughts, human passions, emotions, language-, für Solger wurden die Kunst zur Aeußerung einer göttlichen Kraft in uns21, die Künstler zu Propheten und Ausleger[n] Gottes22; Carlyle 11

12 13 14 15 16 17 is 19 20

21 22

Heinrich Heine: SW [ = Kindler Taschenbuch-Ausg.] I - X I V , hg. v. H . K a u f m a n n , München 1 9 6 4 , I X 59. Johann Georg Hamann: SW I - V I , hg. v. J. Nadler, W i e n 1 9 4 9 - 5 7 , I 2 4 1 [zit.: Hamann: .SW], Ebd. II 197. Johann Gottfried Herder: SW I - X X X I I I , hg. v. B. Suphan, Hildesheim 1 9 6 7 - 6 8 (Repr. der Ausg. Berlin 1 8 7 7 - 1 9 1 3 ) , X I I 7 [zit.: Herder: SW], Ebd. X X V I I 3. William Blake: The Compl. Writings, ed. by G . K e y n e s , London/New York/Toronto 1966, 4 5 6 [zit.: Blake: Compl. Writings], Friedrich Hölderlin: SW [ = Große Stuttgarter Ausg.] I - V I I , hg. v. F. Beißner, Stuttgart 1 9 4 6 ff., I V 1, 2 9 8 [zit. Hölderlin: SW]. Lit. Notebooks 1797-1801, ed. by H. Eichner, London 1957, Nr. 1 2 6 1 . Poetical Works, ed. by Th. Hutchinson, E. de Selincourt, London/New York/Toronto 1966, 7 3 8 , Sp. 1. Samuel Taylor Coleridge: Biographia Literaria or Biogr. Sketches of My Lit. Life and Opinions, ed. by G . W a t s o n , London/New Y o r k 1 9 6 5 ( = Everyman's Libr. 11), 179. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik, hg. v. K . W . L. Heyse, Darmstadt 21962 (Repr. der Ausg. Leipzig 1829), 4. Ders.: Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst, hg. v. W . Henckmann.

Einführung

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bekräftigte 23 : We can still call him [den Dichter] a Vates and Seer\ Hugo befand 24 : le poëte est prêtre; Emerson titulierte die Dichter als inspirer s and lawgivers to their race25. - Solche Äußerungen, die um ein leichtes in beinahe beliebiger Zahl zu vermehren wären und, chronologisch gesehen, sich über rund ein Jahrhundert verteilen, von den Vorboten der Romantik bis zu ihren direkten Nachfahren reichen, enthalten - das zeigt sich bereits in derart verkürzter, kontextloser Form - nicht nur direkt oder indirekt dichtungstheoretische Positionen und Bezüge, sondern lassen überdies Vorstellungen und Bilder auferstehen, die alt, uralt sogar sind, ihren Ursprung in der Renaissance, größtenteils in weit fernerer Zeit noch, in der Antike, haben. So weit die Romantik sich in ihren poetologischen Maximen von der antiken Tradition entfernte 26 , so eng näherte sie sich in ihren dichtungstheoretischen Träumen ihr an. Es sind vor allem immer wieder die glorifizierenden Bilder von der Dichtung und dem Dichter gewesen, die Traditionen enthusiastischer Dichtungstheorie, die sie fasziniert haben. Der Dichter als Vates, als Prophet, als gottbegeisterter, inspirierter, priesterlicher Sänger, als gottgleicher Schöpfer, Dichtung als eine Art Enzyklopädie, als Keim aller Wissenschaften und Lehrerin der Menschheit, als Gottesdienst - auf alle diese hier anklingenden, dem eigenen dichterischen Selbstverständnis so liebgewordenen und unverzichtbaren Ideen kann die Romantik kein Urheberrecht beanspruchen, wohl aber darauf, sie von bloßen Versatzstücken, abgegriffenen Argumentationsklischees zu neuer Fruchtbarkeit gebracht zu haben. Beides, der traditionelle Anstrich romantischer Dichtungstheorie wie ihre darüber nicht zu vergessende durchaus originelle Rezeption überkommener Gedanken, ist des öfteren bemerkt worden. „Even though the characteristic patterns of romantic theory were new, many of its constituent parts are to be found, variously developed, in earlier writers. [ . . . ] romantic aesthetics was no less an instance of continuity than of revolution in intellectual history", schreibt Meyer Howard Abrams 27 , und dezidierter noch Victor Erlich 28 : „ [ . . . ] there are few notions of the artist or the poet, current during the last two centuries, that could not be traced back to the Renaissance if indeed not to ancient Greece. The images of the poet as priest, soothsayer or spiritual leader [ . . . ] München 1970 (Repr. der Ausg. Berlin 1907) [ = Theorie und Gesch. der Lit. und der schönen Künste. Texte und Abh. 15], 210. 23 Thomas Carlyle: The Works [ = Centenary Ed.], London 1896-99, X X V I I 377. 2 4 Victor Hugo: Œuvres compl.: Philos. II: William Shakespeare, Paris 1937, 19 [zit.: Hugo: Shakespeare]. 25 Ralph Waldo Emerson: The Compl. Essays and. Other Writings, ed. by B. Atkinson, New York 1940, 217. 26 Den poetologischen Traditionsbruch hat Cornelis De Deugd betont: From Religion to Criticism. Notes ort the Growth of the Aesthetic Consciousness in Greece, Utrecht 1964 ( = Utrechtse Publikaties voor algemene Literatuurwetenschap 6), 39 [zit.: De Deugd: Religion to Criticism]. 27 The Mirror and the Lamp: Romantic Theory and the Crit. Tradition, New York 1958 (erstmals 1953) [ = Norton Libr. Nr. 102], 70 [zit.: Abrams: Mirror]. 28 The Double Image. Concepts of the Poet in Slavic Lit., Baltimore 1964, 9.

Einführung

8

were bequeathed to the modern era by the earlier ages." Und er fährt fort: „Yet the distinctive contribution of the nineteenth century, especially of its Romantic phase, should not be underestimated. Romanticism [ . . . ] powerfully activated some of the time-honored concepts by placing them at the center of the literary sensibility of the age." — Allerdings ist es bei derartigen Bemerkungen, jedenfalls was die Tradition romantischer Dichtungstheorie angeht, meist geblieben 29 . Dem ein wenig abzuhelfen, hat sich die vorliegende Studie zu einem ihrer Ziele gesteckt. Das Interesse an der Geschichte gehorcht dabei nicht einem weitverbreiteten philologischen Bedürfnis, unter allen Umständen ab ovo zu beginnen, sondern ergibt sich in diesem Fall ganz natürlich aus der Affinität der Romantik zu einer langen Tradition. Wohl vermag der Weg, den Ideen zurückgelegt haben, diese in ihrer jeweils neuen Ausformung nicht schon zu erklären. Hoffnung darauf wäre bildungsbeflissene Naivität. Den Weg jedoch nicht zur Kenntnis zu nehmen, hieße den Ideen als historischen Größen nicht nur jede Tiefendimension zu rauben, sondern zudem eines legitimen, oft notwendigen Versuchs sich zu begeben, sie besser, wenngleich nicht allein in solchem Kontext, zu verstehen. Es soll und kann dabei keine Geschichte der Dichtungstheorie in aller Ausführlichkeit zur Debatte stehen - und das keineswegs allein, weil romantische Dichtungstheorie als ,enthusiastische' wiederum nur einen Ausschnitt eines breiten Spektrums bietet, die „Frage, was der Dichter in der Welt soll", auf spezifische, bei aller Vielfalt doch eingeschränkte Art und Weise beantwortet hat. Als Ernst Robert Curtius die Analyse dichtungstheoretischer Vorstellungen als „.Metaphysik der Poesie"' bezeichnete30 und in diesem Zusammenhang die Aufgaben „eines erst zu begründenden Forschungszweiges" erläuterte, setzte er hinzu 31 : „Für eine zusammenfassende historische Darstellung der Dichtungstheorie wissen wir heute noch zu wenig. Das Problem ist kaum gesehen worden." Daran hat sich inzwischen nicht allzu viel geändert. Das Gebiet ist so groß, daß die Zusammenarbeit zahlreicher Köpfe vonnöten wäre. Hier soll denn auch, neben einer Darstellung der romantischen Dichtungstheorie selbst, versucht werden, einen Teil des Weges, der zu ihr hinführt, nachzugehen. Das will nicht mehr als ein tour d'horizon sein, wobei die Reise da und dort einmal, an wegweisenden Stationen, etwas länger unterbrochen wird. Es mag überdies nicht uninteressant sein, die Romantik nicht nur aus der natürlichen Distanz der Gegenwart zu betrachten, sondern gleichsam von rückwärts her, aus der Perspektive der ihr vorangegangenen dichtungstheoretischen Traditionen. Diese, nicht so sehr einzelne Einflüsse, stehen im Vordergrund, selbst dann, wenn sie nur als indirekt vermittelte oder in Analogieform vorliegen. „Blake is the kind of writer, who may show startling resemblances to someone he had not read", 29

Abrams macht eine Ausnahme, beschäftigt sich aber überwiegend mit rein poetologischen Fragen. 30 Europ. Lit. 463, Anm. 3. 31 Ebd. 462. Dieser Forschungszweig sollte sich nach Curtius audi mit den „Lebensverhältnissen und Existenzsorgen" (ebd.) der Dichter beschäftigen. So gesehen wird der Hinweis auf mangelnde Kenntnisse natürlich erst recht verständlich.

Einführung

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betont Northrop Frye 3 2 , und: „In the study of Blake it is the analogue that is important, not the source". Das trifft in manchen Fällen auch auf andere Romantiker zu. Deren individuelle wechselseitige Abhängigkeiten stehen ebensowenig im Mittelpunkt, vielmehr das Ausmaß grundsätzlicher Übereinstimmung ihrer dichtungstheoretischen Positionen. Angesichts dieser Übereinstimmung erscheinen die Unterschiede wie Varianten ein und desselben Themas. Dichtungstheoretisch betrachtet, läßt sich die Einheit nicht weniger eindrucksvoll zeigen als es so oft schon aus poetologischer Perspektive getan wurde. Bei alledem gilt das besondere Augenmerk der deutschen (hier vorzüglich der Frühromantik) und der englischen Romantik. Das hat (was in komparatistischen Arbeiten nicht verschwiegen werden sollte) seinen Grund zum einen in der besseren Kenntnis ihrer Autoren, zum andern aber auch darin, daß gerade dort die dichtungstheoretische Reflexion ein ungewöhnlich hohes Niveau erreichte sowie ungewöhnlich weite Resonanz fand. Sollten sich die Ergebnisse auf größerer Basis bestätigen, wäre das ein weiterer Beleg für die so oft - genaugenommen fast immer doch nur hypothetisch - behauptete und manchmal auch geleugnete Einheit der Romantik. Und überdies: Jeder hat in der Literaturwissenschaft das Recht, sein Material dort zu ergreifen, wo er es findet - ungeachtet der akademischen Fächerteilung, um die die Literatur selbst sich nicht kümmert. Etwas anderes freilich ist es, das Disparate, scheinbar Zusammenhanglose in Beziehung zu setzen. Doch auch wo das mißlingt, mag die Schuld nicht immer an den Objekten liegen. *

Diese Arbeit, die für den Druck um das letzte Kapitel erweitert wurde, lag im März 1975 der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn als Dissertation vor. Der Anregung, dem fördernden Zuspruch und der vertrauensvollen Geduld von Herrn Professor Dr. Horst Rüdiger verdankt sie weit mehr, als sich hier in wenigen Worten sagen ließe. Es wäre daher zu wünschen, daß der Leser dieses Buch insgesamt auch als Ausdruck des Dankes und der Verpflichtung verstünde.

32 Fearful Symmetry. A St. of William Blake, Princeton 21949 (erstmals 1947), 12 [zit. Frye: Symmetry].

DIE TRADITION

1

Hesiod: Die Begründung der Dichtungstheorie Et d'ailleurs quel est le pauvre pâtre, enivré de fleurs et ébloui d'étoiles, qui ne s'est écrié, au moins une fois en sa vie, en laissant tremper ses pieds nus dans le ruisseau où boivent ses brebis: Je voudrais être empereur! Victor Hugo: Préface zu Les Rayons et les Ombres (1840)

Das Proömium zur Theogonie (v. 1 - 1 1 5 ) ist das älteste überlieferte kohärente Stück Dichtungstheorie der abendländischen Literatur. Was Hesiod hier vorbringt, enthält eine bündige Antwort auf die Fragen nach dem Ursprung und der Aufgabe der Dichtung sowie nach dem Amt des Dichters. Aber die Antwort ist weitgehend verschlüsselt - jedenfalls für den heutigen Leser. Sie verbirgt sich hinter einem Mythos: dem Mythos der Musen. Vordergründig scheinen die neun Töchter des Zeus und der Mnemosyne (Klio, Euterpe, Thalia, Melpomene, Terpsichore, Erato, Polyhymnia, Urania, Kalliope) Thema des Proömiums zu sein. Ihre Herkunft wird erzählt, ihr Gesang gerühmt, ihre Macht und ihr Amt erläutert. Sie geben die Gesetze (v. 66 s.) ^léÀJtovtai jtâvTCov TB vô|xouç xai t^eci y.EÔvà à&avotrcov xAeiouoxv [ . . . ] Sie sagen, was ist, sein wird, war (v. 38): [ . . . ] TAT' èôvta t a T5 êaaôjieva iroo X' êôvta [ . . . ] In ihrer Macht steht es, Wahres zu künden, aber auch trügenden Schein zu sagen (v. 27 s . ) 2 : LÔ[XEV ojjeiiiôea JtoXkà Ï.Éytiv ètti(xoiaiv ô[iotce ïô|j.£v 8', Etil' èfrékû|iEV, àXrT&Éa yriotiaacriku. 1

2

Immer zit. nach der Ausg.: Hésiode: Theogonie. Les Travaux et les jours. Le Bouclier, éd. P. Mazon, griech.-franz., Paris 71967; Eric A. Havelocks Übers, in: ders.: Préfacé to Plato, Oxford 1963, 62 [zit.: Havelock: Préfacé], scheint für diese Stelle die genaueste zu sein: „They [die Musen] sing the custom-laws of all and folk-ways of the immortals". Dt. nach: Hesiod: Sämtl. Gedichte: Theogonie. Erga. Frauenkataloge, übers, und erläutert v. Walter Marg, Zürich/Stuttgart 1970 ( = Bibl. der Alten Welt), 28 [zit.: Marg] : „Wir wissen trügenden Schein in Fülle zu sagen, Dem Wirklichen ähnlich, Wir wissen aber auch, wenn es uns beliebt, Wahres zu künden."

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Die Tradition

Was hier den Musen zugeschrieben, genauer: ihnen in den Mund gelegt wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine in den Mythos projizierte Selbstdarstellung des Dichters Hesiod, als Definition seiner Aufgabe und seines Berufs 3 . Die mythologische Verbildlichung dient dabei, wie so oft bei den Griechen, einem zweifachen Zweck. Sie hat aitiologische und objektivierende Funktion. Als Ursprungsgeschichte wirkt sie erklärend; als distanzierende Projektion wird sie zum Mittel einer auf anderem, begrifflichem Wege noch nicht hinlänglich faßbaren individuellen Selbstvergewisserung. Letzteres wird besonders deutlich an jener Stelle, an der Hesiod den Mythos quasi durchbricht, entschlüsselt, und die Relation zwischen bildlicher Objektivierung und persönlicher, subjektiver Erfahrung zutage tritt (v. 30 ss.) 4 : y.ai [xoi axfjjrcQov eöov öaqpvrjg £oi/9r|X£o? o^ov ÖQgi|>aaai §r)T)TÖv evehveuctciv öe [x' aoi5if]v fteamv, iva v.Xeioiiii xa. x* Eaa6|iEva jtqo x' lövta [ . . . ] Der Mythos der Musen verknüpft sich so mit dem Thema der Dichterweihe. Die Macht der Musen, ihr Gesang geht auf den Dichter über, singt er doch sozusagen in ihrem Auftrag, als ihr irdischer Stellvertreter (v. 94-97) 5: 'Ex ycto toi Mowecov xal sxrißoXou 'AitoXXcüvoc; ävÖQei; aoiöol eaaiv litt yßovo. xal xi/dapiatai, ex 8e Aiog ßaaiXf|E?' o 8' oXßio;, ov tiva Moiaai cpiAtovrar yXdxeqt) oi aitö atofiatog qeei au8r|" Vor dem Hintergrund einer derartigen Identität, die die Musen zu mythischen Repräsentantinnen des Dichters 6 , ihre Sprache zu seiner werden läßt, erweist sich eine dichtungstheoretisch angelegte Interpretation des Proömiums als durchaus legitim. Zweierlei ist dabei gerade angesichts der weiteren Entwicklung der Dichtungstheorie von Bedeutung. Zum einen erhält die Dichtung bei Hesiod gesetzgebende Funktion; sie erscheint als Kommunikationsmittel sozialer (nömoi) und privater (ethea) Verhaltensnormen 7 , der Dichter somit als Erzieher im 3

Vgl. dazu Havelock: Preface 98. * In der Ubers. Margs (28): „Und gaben mir den Stab des Sprechers, Des stark sprossenden Lorbeers Zweig, Ihn mir zu bredien, den bewunderten, Und hauchten mir Stimme ein, göttliche, Auf daß ich rühme, was sein wird Und was vorher gewesen." 5 Nach Marg (32): „Denn so ist es, aus Vollmacht der Musen Und des ferntreffenden Apollon sind sie da, Die Sänger auf Erden und Meister der Leier, Von Zeus aber die Könige. Und selig ist, wen die Musen lieben; Süß fließt die Stimme ihm vom Munde." 6 Vgl. Havelock: Preface 98. 7 Vgl. ebd. 62 f.

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weitesten Sinne, als Hüter der Ordnung und der Gesetze, auch der religiösen 8 . Zum andern umfaßt Dichtung in ihrer Rolle als Repräsentantin göttlicher wie auch menschlicher Ordnung den gesamten Bereich des Geschichtlichen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie wird zur Sachwalterin aller Dinge und Geschehnisse; ihre Zuständigkeit ist uneingeschränkt und erstreckt sich über den ganzen Kreis des Sagbaren. W o solcher Anspruch nicht nur erhoben, sondern auch, wie bei Hesiod, stärker vielleicht noch bei Homer, erfüllt wurde, gewann Dichtung zugleich einen enzyklopädischen Aspekt 9 . Fern noch aller Beschränkung auf den Bereich des Ästhetischen, besaß sie ganz unmittelbar informative und pädagogische Bedeutung. Eine Reminiszenz daran findet sich in späterer Zeit bei Aristophanes; was Aischylos in den Batrachoi (Fröschen) anläßlich des berühmten Streits mit Euripides in der Unterwelt als Ideal und Aufgabe der Dichtung definiert, reflektiert - allerdings bereits in Gestalt rückblickender Beschwörung - solch archaisches Selbstverständnis (v. 1 0 3 0 - 3 6 ) 1 0 : Taura yäg avSpag toirirag aaxelv. ExsiJjai yap an' a o / j ^ cbg ä)Cp£XL|XOl TCÖV JTOLT|TG)V ol ySVVCUOl YEyEVT]VTai. ' O J H P E V G [A8v yap TEtatäg f|(xtv y.aT8ÖEi'£;£ cpovrov T ' ÄNTYZAQAI, Movaaiog 8' S I A X S A E I G TE voawv K A I /ORIA^OIJG, 'Haioöog 8e Yrj? Eoyaaiag, xaQJträv wgaz, apoToug- o 8e dsiog "OfrriQog äjiö t o i Ti|I.r)v xal xTiog E 0 - / £ V JIWIV TOÜ8' OTI yoriat' e8i8a|ev, TaiEig, aoEtäg, oirXioEig avöowv; Das mag als Wunschtraum dichterischer Kompetenz erscheinen, entspricht indes, wie Eric. A. Havelock eindrucksvoll nachgewiesen h a t n , genau der Rolle, die Dichtung in einer vorliterarischen Zeit zu spielen vermochte. W o die Mitteilung und Überlieferung von Wissen fast ausschließlich mündlich erfolgte, konnte allein die dichterische, d. h. die bestimmten festgelegten rhythmischen, melodischen und musikalischen Regeln gehorchende Form eine unverfälschte und kontinuierliche Tradierung gewährleisten. Hesiod erhob also keineswegs einen Anspruch, der zu seiner Zeit umstritten oder unrealistisch gewesen wäre. E r formulierte nur erstmals, was auch hinter den Homerischen Epen sich verVgl. dazu Alice Sperduti: The Divine Nature of Poetry in Antiquity, in: Transactions and Proc. American Philol. Assoc. 81 (1950), 209-240, hier 231 [zit.: Sperduti: Divine Nature]. 9 Vgl. dazu Havelock: Preface passim und bes. 64-84, wo dieser Aspekt zwar nicht bei Hesiod, aber in durchaus verwandtem Sinn am Beispiel des 1. Buchs der Ilias behandelt wird. 1 0 Zit. nach: Aristophane IV, ed. V. Coulon, Paris 1928; dt. nach: Aristophanes: Sämtl. Komödien, übertragen v. Ludwig Seeger, Einl. [. . . ] v. O. Weinrich, Zürich/Stuttgart 1968, 561: „Denn Tatkraft wecken muß der Poet! Durchmustre sie alle von Anfang, Die edelsten Dichter, wie nützlich sie stets dem gemeinen Besten gewesen: Orpheus, der uns heilige Weihen gelehrt und die Scheu vor blutigen Taten; Musaios brachte die Heilkunst uns und Orakel; vom Pflügen und Säen Und Ernte berichtet Hesiodos uns; der göttliche Sänger Homeros, Was hat ihn zu höchsten Ehren gebracht, als daß er zur Lehr' uns beschrieben Die Stellung der Heere, der Helden Kraft und die Waffen der Männer?" H Vgl. Preface, bes. 36-63. 8

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birgt und keine Utopie war, sondern einfach bildlicher Ausdruck einer historischen und kulturellen Situation, in der weder bereits die Grenzen zwischen Wissensvermittlung und Dichtung noch die zwischen Religion, Dichtung und Philosophie abgesteckt waren - der Dichter mithin, ohne seine Kompetenzen selbstherrlich erweitern zu wollen, sich seiner universalen Vermittlerrolle gewiß sein konnte. Plutarch hat in den Ethika diese Situation, freilich auch den Wandel, dem sie unterliegen mußte, bildlich treffend charakterisiert (406 b-c) 1 2 : ¿[xoißrj yuQ eoixs V0(xia|iat05 f) toü Xoyov /osicr •vtal 8öxi|xov xal avtoii tö ovvr\üiq gati xai yvü){H|xov, aWr|v ev aXXoig ypövoic; iay/uv Xa^ßavovTog. rjv oiv ote Xoyov vo|iia[xaaiv gyowvto [ietooi? xal ^eXeoi VSÄ (böalg, itäaav (xev iatooiav xai cpiloaocpiav jtav 5e Jtädog d>g UTI'IMC, EiitEiv v.ai jtQÖypia aEjivoTEQag q)(ovr)5 8e6(xevov £15 jtoir|Tiy.r|v v.ai |iouaixi|v ayovTEi;. Wichtig ist gleichwohl, was die Geschichte der Dichtungstheorie angeht, nicht so sehr dieser Wandel als vielmehr die Tatsache, daß im Proömium Hesiods Vorstellungen vom Dichter entwickelt wurden, die sich übertragen ließen und, aus ihrem historischen Kontext gelöst, zu Wunschbildern geraten konnten. Daß er der eigentliche Interpret sowohl der göttlichen Gesetze als auch allen menschlichen Wissens sei, daß ihm zukomme zu bestimmen, was wahr sei und was nicht - dieser Traum einer Allmacht fand bei Hesiod noch sein reales Pendant. Unbeschadet indes fortschreitenden Wirklichkeitsverlusts eines solchen Rollenverständnisses lebte, was Hesiod formulierte, mit oder ohne ausdrücklichen Bezug auf ihn, in der Geschichte der Dichtungstheorie fort. Aus der Funktion poetischer Rede in archaischer wurde ein Wunschbild in literarischer Zeit. Wo immer die Dichtungstheorie ihrem Objekt den Schein unantastbarer Würde und Macht zu verleihen suchte, griff sie nur allzu gern auf archaische Modelle zurück. Dies gab ihr, jenseits aller jeweils aktuellen zeitgeschichtlichen Bezüge, nicht selten den Anstrich des Anachronistischen. Hesiods mythische Beschreibung einer durchaus realen Situation wandelte sich so zum geschichtslosen Mythos. In den Träumen absoluter Souveränität des Dichters und der Dichtung läßt dieser sich unschwer wiedererkennen, über die Renaissance bis hin in die Zeit der Romantik. - Beinahe wie ein direktes fernes Echo Hesiods klingt es, wenn in Hölderlins Ode An uttsre großen Dichter deren Macht mit dem Ausruf 13 : gebt die Geseze, beschworen und dasselbe in der Ode Dichterberuf, diesmal an Apollo, den Gott der Dichtkunst, gerichtet, wiederholt wird 1 4 : gieb die Geseze. 12

Zit. nach: Plutarch: Moralia V, transl. and ed. by Frank Cole Babbitt, London/Cambridge (Mass.) 1962 ( = Loeb Class. Libr.); dt. nach: Plutarch: Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung. Reltgionsgesch. Sehr., hg. und übers, v. Konrat Ziegler, Zürich/Stuttgart 1952 ( = Bibl. der Alten Welt), 97: „Der Gebrauch der Sprache gleicht nämlich dem Umlauf des Geldes: auch bei ihr ist das Gewohnte und Bekannte das Gültige, und sie bekommt zu anderen Zeiten einen andern Wert. Es gab nun eine Zeit, da man als Münzen der Sprache Verse, Lieder und Gesänge verwendete, da man alle geschichtliche und philosophische Darstellung, kurz gesagt, alles, was man erlebte und tat und was eines gehobenen Ausdrucks bedurfte, in Dichtung und Musik umsetzte." 13 Hölderlin: SW I 1, 261, v. 6. " Ebd. II 1, 46, v. 6.

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Ähnlich steht es mit der anderen Vorstellung, die im Proömium literarische Gestalt gewann. - Die Verse, in denen Hesiod seine Weihe zum Dichter durch die Musen erzählt (v. 22-34), scheinen auf den ersten Blick Dichtung allein einer göttlichen Macht anheimzugeben, den Sänger zum Medium musischer Inspiration zu machen. Eine göttliche Gabe (biere dösis [v. 93]) wird der Gesang genannt 15 . Mit dem Anruf an die Musen, der ihren Beistand erbittet, schließt das Proömium (v. 104-15). Korrespondierendes findet sich bei Homer. Mit dem Attribut ,theios' (göttlich) versehen erscheint dort der Dichter 16 . Der Mythos der Musen, so wie ihn Hesiod entwirft, erhält damit, dichtungstheoretisch betrachtet, eine zusätzliche Funktion: er dient nicht nur dazu zu erläutern, was die Aufgabe des Dichters sei, sondern verbildlicht darüber hinaus, was seither immer wieder im Zentrum poetologischer Spekulation stehen sollte - den dichterischen Schaffensprozeß. Wiederum wäre es jedoch unhistorisch, diese Art der Rückführung des dichterischen Schaffens auf eine göttliche Kraft einseitig als einen Appell an das Irrationale zu interpretieren. Vielmehr stellt der Musenanruf wie insgesamt die Berufung auf die musische Inspiration in einer auf mündliche Tradierung angewiesenen Zeit eine Art mythologische Objektivierung eines Kommunikationsprozesses dar, der von seiten des Dichters zuallererst ein ungewöhnliches, heute kaum noch nachvollziehbares Maß an Konzentrations- und Erinnerungsvermögen forderte. Daß die Musen dem Mythos zufolge Töchter Mnemosynes, d. h. der Erinnerung, sind, hat in archaischer Zeit noch durchaus seinen konkreten und rationalen Sinn. Ausdruck einer Berufung auf ein numinoses Moment wurde dieser Mythos erst später, und zwar zu der Zeit, als das mythisch-bildliche Denken ins begriffliche überzugehen begann und an die Stelle mündlicher Überlieferung des Wissens mehr und mehr seine schriftliche Fixierung trat 17 . Bei Demokrit bereits scheint der Mythos musischer Inspiration in die Sphäre des Irrationalen gerückt18: noir|tri5 ö£ äaaa (i£v ctv YQacpfl |iet' evflouaiaafioij v.ai IEQOI) itvEii^atog, xaXa xaQta eativ Piaton hat hieran angeknüpft 19 . Daß Dichtung eine göttliche Gabe, Produkt der Inspiration, Ausdruck der Begeisterung des Dichters durch die Musen sei, wurde in der Nachfolge Hesiods - freilich stets mit der Betonung artistischen Kalküls, handwerklichen Könnens, 15

Vgl. dazu auch Sperduti: Divine Nature 228 ff. Vgl. ebd. 224ff. (mit Stellenangaben); generell zur Geschichte des Attributs ,theios', das neben Dichtern auch Helden, Königen und Sehern - oftmals toposartig, ohne allzu viel Bedeutung - verliehen wurde, s. Ludwig Bieler: ©eioc; avrip. Das Bild des ,gött liehen Menschen' in Spätantike und Frühchristentum, Darmstadt 1967 (photomech. Ndr. der Ausg. Wien 1935 [I] und 1936 [II]). Zur Berufung des Dichters auf Inspiration bei Hesiod und Homer s. auch De Deugd: Religion to Criticism 18 ff. 17 S. dazu Havelock: Preface 155 f. 18 Das Fragment, abgedruckt in: Die Fragmente der Vorsokratiker I—II, hg. v. H. Diels, W.Kranz, Berlin/Zürich 101961, II 146 (B 18), stammt aus einer Schrift Peri Poiesiosj dt. nach der Übers. Diels: „Ein Dichter aber, was immer er mit Verzückung und göttlichem Anhauch schreibt, das ist gewiß schön." Vgl. auch Fragment B 21 (II 147). 19 Bes. im Ion-, s. dazu Wilhelm Kroll: St. zum Verständnis der röm. Lit., Stuttgart 1924, 24, und Havelock: Preface 162 (Anm. 28 zu S. 156), 16

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der ,téchnê' einhergehend20 - zu einer Konstante griechischer Poetik und Dichtungstheorie. Die römische Literatur übernahm sie 2 1 ; mit christlichem Gedankengut vermischt ging sie in die Renaissance ein; in ihrer ursprünglichen Gestalt nur noch rudimentär wiederzuerkennen, taucht sie im Umkreis metaphysischer Spekulation in der Romantik wieder auf. Auch in diesem Fall also malte Hesiod eine Vorstellung literarisch aus, die ihren historischen Kontext überlebte und in vielfältiger Metamorphose zu einem wichtigen, immer wieder bemühten Requisit der Dichtungstheorie wurde. Nirgendwo hat der Rekurs auf das Irrationale derart Blüten getrieben wie dort, wo anstelle des Werks die Psychologie seiner Genese das Denken beschäftigte; auf keinem anderen Gebiet kunsthistorischer Reflexion hat sich der Geist so lange und so gern in archaischen Bahnen bewegt. Wenngleich schon in griechischer Zeit nicht überall genau zu unterscheiden ist zwischen Topos und wirklichem Glauben, so fällt doch auf, daß in der Geschichte der Dichtungstheorie die Berufung auf den irrationalen Aspekt dichterischen Schaffens stets gerade dann in den Vordergrund rückte, wenn es darum ging, die Dichtung gegenüber Angriffen von philosophischer und wissenschaftlicher Seite zu verteidigen, wie es umgekehrt auch oft gerade diese Irrationalisierung und Metaphysizierung war, die rationalistische Skepsis herausforderte. Jede Argumentation, die das Gewicht auf ein nicht mehr weiter deduzierbares, nicht mehr verifizierbares Moment dichterischen Schaffens legt und dieses einer wie immer gearteten göttlichen Kraft zuschreibt, hat latent apologetische Funktion. Der allzu oft unternommene Versuch, zu verklären statt zu erklären, zu beschwören statt zu überzeugen, ist jedoch weder der Dichtungstheorie noch ihrem Objekt ohne Einbuße zustatten gekommen, hat er doch die Dichtung nicht selten aus dem Blickfeld verschwinden, ihre Theorie nicht selten zur Sektensprache, zum Code für Eingeweihte sich verengen lassen. Der angestammten Absicht aller Dichtungstheorie, ihrem Gegenstand allseits anerkanntes Bürgerrecht zu verleihen, konnte das kaum dienlich sein. Die Wendung vom Werk zu dessen scheinbarer Genese, der Rückzug in quasi-metaphysisdie, quasi-religiöse Spekulationen, der, wie beredt er sich auch geben mag, insgeheim einen Rückzug in die Sprachlosigkeit bedeutet, hat es geistreichen Gegnern wie geistlosen Banausen nur noch leichter gemacht, Dichtung und Kunst generell als das zu desavouieren, was sie nicht sind: Produkt des Irrationalen, nicht ernstzunehmende Phantasterei. Anderseits hat zuweilen die irrationale Färbung ihres theoretischen Vokabulars die Dichtung mit jenem Schein höherer Weihe ausstaffieren helfen, der sie in den Augen des Publikums der Realität auf geheimnisvolle Weise zu entheben vermochte. Beides möglicherweise hatte Valéry mit im Sinn, als er, nicht zufällig mit Blick auf Victor Hugo, bemerkte 22 : Qui est poète doit confesser la poésie, avouer son travail, parler de versification, 20 Vgl. De Deugd: Religion to Criticism 32, 40. 2 1 Die verschiedenen Vorstellungen dichterischer Begeisterung in der griechischen und römischen Literatur behandelt Kroll aaO. (Anm. 19) 24-34. 22 Œuvres I I , éd. Jean Hytier, Paris 1960, 893 f.

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- et non s'attribuer des voix mystérieuses. Une image, une rime qui se révèlent, und die Frage anschloß: Mais les hommes pourraient-ils tolérer la poésie si elle ne se donnait pour une logomancie?

2 Platon: Mythos und Logos Ces premiers Poètes n'eurent qu'à se porter pour inspirés par les Dieux, pour envoyés des Dieux, pour enfans des Dieux, on les en crut, si ce n'est peut-être que quelques esprits nés Philosophes, quoique dans un siècle barbare, se contenterent de se taire par respect. Bernard le Bouvier de Fontenelle: Sur la poésie en général (1749) But it is not good to stay too long in the theatre. Let us now pass on to the judicial place or palace of the mind, which we are to approach and view with more reverence and attention. Francis Bacon: The Advancement of Learning (1605)

Mehr noch als Hesiod, mehr als jeder andere griechische Dichter hat ein Philosoph zur Propagierung des Glaubens an eine höhere, göttliche Aura der Dichtung beigetragen - Piaton. Er schuf Bilder und Vorstellungen vom Dichter und von der dichterischen Schaffensweise, die wie kaum andere als Muster in die Geschichte eingingen und zum festen Bestand eines poetologischen Vokabulars wurden, dessen Ziel die Apologie und Apotheose der Poesie war. Das verdient genauere Betrachtung. Im Ion (533 d - 535 a) führt Sokrates den Vortrag des Rhapsoden, nach dem der Dialog benannt ist, auf eine göttliche Kraft (theia dynamis), eine göttliche Schickung (théia m dira), eine göttliche Begeisterung (,enthusiasmos') zurück. Sie gehe von den Musen bzw. dem Gott aus, von dort auf die Dichter über und ergreife in der Folge den Rhapsoden ebenso wie seine Zuhörer. In einem berühmt gewordenen und von der psychologisierenden Dichtungstheorie lange Zeit bemühten Bild wird diese Wirkung mit der eines Magneten verglichen, der den eisernen Ringen, die er anziehe, sogleich wieder die Kraft verleihe, andere anzuziehen und so fort. Wie die Rhapsoden erscheinen die Dichter so als Gottbegeisterte (éntheoi), als Besessene (katechomenoi), als Dolmetscher der Götter (hermënês tön theön) und werden daher auch mit den Korybanten auf eine Stufe gestellt. Nur kraft solcher bewußt- und vernunftlosen Begeisterung seien sie fähig zu dichten (534b) l : Koïcpov JÙQ xQrjfia Jtonyrriç èati xaî jrrr)vôv 1

Zit. nach: Plato: Ion, ed. by W. R. M. Lamb (zusammen mit The Statesman. Philebus, ed. by H. N. Fowler), griech.-engl., London/Cambridge (Mass.) 1962 ( = Loeb Class. Libr.); dt. nach: Platon: SW I-VI, übers, v. Friedrich Schleiermacher und Hieronymus Müller (Nomoi), hg. v. W.F.Otto, E. Grassi, P. Plamböck, Hamburg 1957-59 ( = Rowohlts Klassiker Lit. und Wiss.), Bd. I [zit.: Piaton: SW]: „Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt."

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xai iepov, y.ai ov KQOXEQOV olbq TE jtoieiv, Jtoiv av EVFOOG TE yEvr|tai xal exq>Q(i)V xai o vovg HTJXETI EV aiitä) evfi" Identisches oder Ähnliches lindet sich in zahlreichen anderen Dialogen; so in der Apologie ( 2 2 b - c ) , wo Sokrates die Dichtung der natürlichen Begabung (physis) und dem Enthusiasmos gleichermaßen zuschreibt und den Dichter mit den Sehern (theomänteis) und Orakelsängern (chresmodoi) vergleicht; im Menon (99 d), wo der Dichter als göttlicher Mensch ( t h e i o s atier) apostrophiert und ihm wiederum aufgrund des ihm innewohnenden Enthusiasmos Verwandtschaft mit den Wahrsagern konzediert wird; und in den Nomoi (719c), wo vom Dichter, der auf der Muse Dreifuß sitzt, die Rede ist 2 . Unverkennbar ist der Anklang an die Theogonie (v. 27 s.), wenn es an anderer Stelle der Nomoi ( 6 8 2 a ) heißt 3 : fteiov yap oiv 6r) xai TÖ J I O ^ T I X O V Ivdeaatixöv ov ysvog i)[ivft)öoi>v, itoXXwv TCÖV xat' aXr)ÖEiav yiyvonEvaiv avv Tiaiv Xagiaiv xai Moxiaai? ¿(päjtTEtai ExaaroTE. Am einflußreichsten freilich ist neben dem Ion für die irrationale Seite der Dichtungstheorie der Phaidros geworden. In seiner Rede an den Eros entwickelt dort Sokrates unter anderem den Gedanken, daß jedes Streben nach höchster Vollendung begleitet sei von einer Art göttlichem Wahnsinn (theia mania), der sich je nach seiner Herkunft und seinem Ziel als apollinischer, dionysischer, musischer oder erotischer zu erkennen gebe (244 a - 245 a). Diesen durch göttliche Gunst (theia dösis) verliehenen Wahnsinn bezeichnet er sogar als größtes Gut der Menschen. So spricht er (245 b) von den herrlichen Taten des durch die Götter erzeugten Wahnsinns und erklärt die musische Mania zur unabdingbaren Voraussetzung jeder großen dichterischen Leistung (245 a ) 4 : oc 5' äv avEu ^aviag Mouawv EJU jtoir]tixac flüpai; acpixr|Tai, nEiaÖEi; 2

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Nach Kroll (aaO. [Kap. 1, Anm. 19] 25) hat Piaton - ebenso wie Demokrit - die Idee von der göttlichen Begeisterung der Dichter „aus dem Kreise der dionysischen Religion" und den dort beheimateten Vorstellungen von der Pythia, den Sibyllen und Bakhiden entnommen. Zit. nach: Plato: Laws I—II, ed. by R. G. Bury, griech.-engl., London/Cambridge (Mass.) 1961 ( = Loeb Class. Libr.); in der Übers. Müllers (Piaton: SW V I ) : „ [ . . . ] indem nämlich göttlich also auch das Dichtergeschlecht als gottbegeistertes ist, berührt es in seinen Gesängen mit Beistand der Charitinnen und Musen oftmals vieles in Wahrheit Geschehene." Zit. nach: Plato: Eutyphro. Apology. Crito. Phaedo. Pbaedrus, ed. by H . N. Fowler, griech.-engl., London/Cambridge (Mass.) 1966 ( = Loeb Class. Libr.); in der Übers. Schleiermachers (Piaton: SW IV): „Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt." Ebenfalls im Phaidros (244 c) leitet Sokrates das Wort mantike (Wahrsagekunst, Sehergabe) von manike (manikös = begeistert, wahnsinnig) und so von mania ab, eine Etymologie, die wohl nicht ganz ernstgemeint ist, jedoch wiederum auf die Verbindung zur dionysischen Religion hinweist. Zur Mania-Vorstellung vgl. auch Paul Franz Reitze: Beiträge zur Auffassung der dichterischen Begeisterung in der Theorie der dt. Aufklärung. Mit einer Darstellung Problem- und wirkungsgesch. wichtiger Ansätze in der Antike sowie in Italien, England und Frankreich, Diss. Bonn 1969, 4 - 1 7 .

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ex TEy_vr|g i x a v o g jtoiT)trig Ecrofisvog, aTsXrig « w o g te x a i f] jtoir)aig imo tfig x(ov [xaivofievcov f| toii ocixpQovoüvTog f)cpavtadr). Das alles könnte den Schluß nahelegen, daß Piaton sich mit Vehemenz zum Anwalt der Dichtung gemacht hätte. Nie zuvor in griechischer Zeit ist diese so eindeutig in den Bereich des Göttlichen, Numinosen, Irrationalen gerückt worden. Aus solchen disiecti membra philosophi eine Apologie herauszulesen und Piatons Sätze zu Argumenten dichtungstheoretischer Systeme zu machen, läuft jedoch, wie ein näherer Blick zeigt, auf eine weitgehende Umdeutung der ihnen zugrundeliegenden Gedanken und Absichten hinaus. Denn ihrem jeweiligen Kontext zurückgegeben, zeichnen die zitierten Stellen ein anderes, für die Poesie nicht immer schmeichelhaftes Bild. Im Ion versucht Sokrates den Rhapsoden davon zu überzeugen, daß weder dessen Art, die Gesänge Homers vorzutragen noch Homers Dichtung selbst, ja generell Dichtung, auf ,Kunst' (techne) und Wissen (episteme) beruhe, d.h. auf Kenntnis des Metiers, der Kunstmittel und der dargestellten Dinge und Handlungen, sondern auf einer außerhalb menschlicher Verantwortlichkeit liegenden göttlichen Eingebung - eben dem Enthusiasmos. Und es bleibt im Verlauf der Unterredung kein Zweifel, welcher Art der Darstellung der Dinge als Ausdruck der Erkenntnis der Philosoph die größere Kompetenz einräumt, der mythisch-enthusiastischen oder der logisch-diskursiven. cbg « o a

Dasselbe Thema steht in der Apologie zur Debatte. Dort erzählt Sokrates, wie er sich auf den Spruch des Orakels in Delphi hin, daß niemand weiser sei als er (21a), aufgemacht habe, um die Wahrheit des Orakels zu überprüfen an denen, die gemeinhin für weise gelten, also auch den Dichtern. Doch ebensowenig wie andere hätten diese das Orakel widerlegen können ( 2 2 b - c ) 5 : dvaXa[ißotvcov otiv avtcöv xa Jtoirpata, a fioi eöoxei ¡iäXiöTa jt£jtQay|j.aT£'üa'öai atitoig, öit]Qü)tü)v av avtoijg, ri XEyoiEV, iv' a|ia ti xal ixav&avoiju nag' airtwv. aiaxt)vo(xai ovv i>|iiv eIjteIv, dj ävÖQEg, TaXT]flr\' o|xoag öe qt)teov. rag Eitog yag eijieIv öXiyou avTÖjv anavTEg ot Jtaoövteg av ßEXtiov eXeyov jieqi mv avitoi EJtEJtoir|X£crav. Eyvaiv oiv xai iteoi tcüv koit)tojv ev öXiytp toüto, oti ov aocpiqi jtoioiEv a jioioIev, aXXa cpiiaei tivi y.ai Evflovoiä^ovTEg, waneg oi deofxävTEig v.ai ot /gr|a|iq)8oi- xai yap oitoi Xeyouai ^iev jtoXXa xai xaXct, iaaaiv öe oiiöev wv Xsyovai. Toioitöv ti |ioi Ecpävrjaav jtäa)oc xai oi itoir|tai jtEJtov-öötEg' xai a(xa 5

In der Übers. Schleiermachers (Piaton: SW I): „Von ihren Gedichten also diejenigen vornehmend, welche sie mir am vorzüglichsten schienen ausgearbeitet zu haben, fragte ich sie aus, was sie wohl damit meinten, auf daß ich auch zugleich etwas lernte von ihnen. Schämen muß ich mich nun freilich, ihr Männer, euch die Wahrheit zu sagen: dennoch soll sie gesagt werden. Um es nämlich geradeheraus zu sagen, fast sprachen alle Anwesenden besser als sie selbst über das, was sie gedichtet hatten. Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem dieses, daß sie nicht durch Weisheit dichteten, was sie dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso nun ward mir deutlich, erging es auch den Diditern. Und zugleich merkte ich, daß sie glaubten, um ihrer Dichtung willen auch in allem übrigen sehr weise Männer zu sein, worin sie es nicht waren."

Platon: Mythos und Logos

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fjaöourjv aviTwv 8iot xriv Jtoiriaiv olofievaiv xai taXXa aoqpajTaTcov eivai avdQwjicüv, a otix rjaav. Auch hier erscheint der irrationale Aspekt der Dichtung in einem höchst dubiosen Licht. Zumal der Hinweis darauf, daß die Dichter nicht sagen könnten, was sie in ihren Versen meinten, daß sie gar nicht verstünden, was sie sagten, es nicht erklären könnten, ordnet die Poesie einem Bereich zu, der bei aller Betonung göttlicher Provenienz intellektuell doch dem der Philosophie, der Weisheit, der Erkenntnis unterlegen ist. Kontrastiert der Ion Begriffe wie ,thela molra', thela dynamis' mit ,techne' und ,episteme', so stehen in der Apologie ,physis' bzw. ,enthusiasmos' und ,sophia' einander gegenüber. Nicht anders hat im Menon die Qualifizierung des Dichters als ,theIos aner' den Hintersinn, ihn vom Wissenden zu unterscheiden. Schwieriger allerdings verhält es sich mit der oft diskutierten Frage, wie die Vorstellung der Mania mit der ansonsten doch offensichtlich von Skepsis geprägten Haltung gegenüber der Dichtung und den Dichtern in Einklang zu bringen sei 6 . In der Tat läßt sich aus dem Phaidros kaum eine negative Einstellung zur göttlichen Begeisterung herauslesen, billigt doch Sokrates gerade auch dem Philosophen die Mania als Weg zur Erkenntnis der Wahrheit zu (249 a-d). Wird nicht hier der Philosoph in seiner Liebe zur Erkenntnis als ebenso entrückt dargestellt wie der Dichter? Eine Antwort mag in keinem Fall eindeutig sein. Nirgendwo kommt die oft behauptete innere Widersprüchlichkeit der Platonischen Kunsttheorie deutlicher zum Vorschein 7 . Zu bedenken ist dabei jedoch, daß die Mania-Vorstellung im Phaidros bildlich entwickelt wird, nicht anders als die mit ihr zusammenhängende Darstellung der Seeie und der Anamnesis. Der gesamte Bildkomplex fungiert ganz bewußt als Gleichnis 8 . Es handelt sich bei der Rede an den Eros denn auch weniger um einen philosophischen Diskurs, um eine mit Abstraktionen und philosophischen Begriffen arbeitende Analyse als vielmehr um ein Stück Psychologie in mythischbildlich geformter Gestalt. Dem entspricht durchaus, daß Sokrates seine Rede am Ende (257 a) als dichterisch bezeichnet. Unter diesem Aspekt erscheint es zumindest nicht unverständlich, wenn gerade im Phaidros das trotz aller Bemühung um ein begrifflich-logisches Weltverständnis latent vorhandene irrational-mythische Element der Platonischen Philosophie so deutlich zutage tritt. Verständlich aber auch ist, daß neben dem Ion besonders dieser Dialog zum viel zitierten, unerschöpflichen Reservoir dichtungsapologetischer Argumentation wurde. Abgesehen einmal vom Phaidros, dessen Bildersprache und Rückgriff auf mythische Vorstellungen ambivalente, konträre Interpretationen zu erlauben scheint, ist die hinter der Insistenz Piatons auf dem irrationalen Moment der 6 Vgl. dazu auch Sperduti: Zur Widersprüchlichkeit auf den Phaidros näher Einführung in die antike führung] . 8 Vgl. Phaidros 246a.

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Divine Nature 238, sowie Havelock: Preface 34 (Anm. 37). der Platonischen Kunsttheorie, die Havelock, ohne allerdings einzugehen, zu bestreiten versucht, vgl. Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 72 [zit.: Fuhrmann: Ein-

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Dichtung stehende Absicht kaum zu verkennen. In einer Zeit beginnender begrifflich-rationaler Weltdeutung, in einer Zeit, in der das Denken zusehends sich neue Methoden und Formen aneignete und Erkenntnis als abstrahierende Operation sich zu konstituieren anfing, mußte jeder Hinweis auf den scheinbar irrationalen, zwar göttlich vermittelten, aber eben darum auch Vernunft- und bewußtlosen Charakter dichterischen Schaffens und dichterischer Wirkung zu einer rigorosen Grenzziehung zwischen Philosophie und Poesie, Logos und Mythos werden. Erst im Kontext dieses geschichtlich folgenreichen Wandels, der zugleich den Übergang von einer vor- oder halbliterarischen Epoche mündlicher und daher dichterischer Wissenstradierung zu einer literarischen und daher mehr und mehr zur Prosa als Kommunikations- und Informationsmittel greifenden Epoche bedeutet, erhalten die Äußerungen Piatons zur Dichtung ihren Sinn 9 . Auch in diesem Fall hat Plutarch, wiederum in den Ethika, den kulturgeschichtlichen Weg von der Poesie zur Prosa, von einem Zeitalter bildlich-mythischen zu einem Zeitalter diskursiv-logischen Denkens, dem das dichterische Vokabular, die poetische Darstellung der Dinge eben nicht mehr die allein gültige Münze zu sein vermochte, metaphorisch-präzis charakterisiert (406 e ) 1 0 : y.atgßri ¡xèv aitò tcüv ^étqcdv waitsp cr/r]^.citcüv f j latogia xal tm Jte^co ¡¿odiata toi) uv-öojSou; ccrp/oiih] xò «/.ri^Ég- qpiXoaocpia 8s tò aaqpèg xcd Öi8aa•/taXr/òv àajtaaoqiivr) jià/.Aov ì] tò EXJtXf]TTov tt]v fi là Aoyojv Ijtoierco t,i\xr\aiv

Dem überkommenen, auf archaische Verhältnisse zurückgehenden Selbstverständnis der Dichtung konnte das alles andere als gelegen kommen, verbannte es sie doch aus der von der Philosophie nun für sich beanspruchten Provinz des Geistes. Piaton hat die Dichter, gerade auch was ihre Berufung auf die musische Inspiration angeht, peinlich genau beim Wort genommen, aber nur scheinbar, um ihnen Reverenz zu erweisen; vielmehr verlor angesichts sokratischer Prüfung die mythologisierende Sprache, in die die Dichtungstheorie sich gekleidet hatte, zunehmend ihr einstmals durchaus rationales Substrat und wurde ebenso wie ihr Gegenstand, die Poesie, einseitig dem Bereich des Mythisch-Phantastischen, und sei es des Göttlich-Enthusiastischen, zugeschlagen. In der Konfrontation mit der Sprache und den Kriterien dialektisch angelegter Erkenntnis büßte sie jenen Bezug zur Wirklichkeit ein, der ihren Aussagewert gesichert hatte, nahm, wie der Ion exemplarisch zeigt, ihr Selbstbewußtsein mehr und mehr Zuflucht zur Sprachlosigkeit. Die von Piaton aus der Distanz philosophischer Skepsis heraus vorgenommene Überakzentuierung und Umdeutung tradierter Vorstellungen erst hat es zuwege gebracht, daß mythisch Formuliertes sich in trügerischen Mythos selbst verwandelte und die Dichtung zum Ausdrude des vermeintlich Irrationalen gestempelt wurde. In der Geschichte der Dich9 10

Vgl. dazu Havelock: Preface 156 und passim. Zit. nach: Plutarch: Moralia V aaO. (Kap. 1, Anm. 12); in der Übers, von Konrat Ziegler aaO. (Kap. 1, Anm. 12) 98: „ [ . . . ] die Geschichte stieg von den Versen wie von einem Wagen herunter, und durch die ungebundene Form vor allem schied sich das Wahre vom Märchenhaften, und die Philosophie zog das Klare und Belehrende dem Erschütternden vor und führte ihre Untersuchungen mit den Mitteln der Logik."

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tungstheorie hat das seine nur allzu deutlichen Spuren hinterlassen. Der Einwand, daß Poesie kein oder jedenfalls nicht in erster Linie Geschäft des Denkens sei, gehörte seit Piaton zu den Hypotheken, die zu löschen ihrer Theorie nicht immer gelang, oft nicht einmal am Herzen lag. Vielfach hat die am Ion so klar erkennbare Hilflosigkeit des poetischen Kopfs vor den bohrenden Fragen des philosophischen Kopfs sich auch späterhin eingestellt - als Unvermögen, Weigerung oder Scheu der Dichtung, über ihre Verfahrensweise wie ihre Funktion innerhalb eines begrifflich-logischen und damit allgemeinverbindlichen und -verständlichen Vokabulars Auskunft zu geben. Pia tons Zuordnung poetischer Rede, ihrer Genese wie ihrer Wirkung, zum Irrationalen hatte bei alledem einen sehr konkreten kulturgeschichtlichen Anlaß. Sie reagierte auf ein auf die Tradition Homers und Hesiods und die Rezeption ihrer Werke gestütztes Rollenverständnis, das Dichtung in ganz naivem Sinn als pädagogisches und enzyklopädisches Instrument, die Dichter als „Väter und Führer in der Weisheit" (JICCTEQE; TRIG oocpiac; [ . . . ] X A I F|YE(J.OVEG), wie es im Lysis (214 a) noch ohne Ironie heißt, auswies 11 . Vom V I . Jahrhundert an war Homer „Schulbuch" 12 . Zur selben Zeit begannen seine wie auch Hesiods Werke Gegenstand umfassender allegoretischer Ausdeutung zu werden. Anaxagoras ist einer der ersten prominenten Vertreter dieser Richtung, die die archaische Dichtung zum Vehikel verborgener Wahrheiten erklärte und ihr universale, auf ethischem, religiösem, wissenschaftlichem und philosophischem Gebiet gleichermaßen autoritative Kompetenz zuschrieb. In nachplatonischer Zeit kam die Dichtungs-Allegorese in der Stoa, vor allem durch Zenon von Kition, wieder zur Blüte, und zwar mit bereits deutlich apologetischem Akzent als Gegenposition zu Pia tons Invektiven. über zwei Jahrtausende hinweg riß diese Tradition nie vollständig ab 1 3 . In Rom lebte sie fort 1 4 , übertragen auf Vergil im Mittelalter 15 ; in den Poetiken der Renaissance bis hin zum Barock wirkte sie noch ebenso nach wie in der Homer-Rezeption des Humanismus 16 . Bis zu Piatons Zeit vermochte Dichtung eine eminent außerliterarische Rolle zu spielen, lieferten zumal die Werke Homers und Hesiods, wie Havelock (Preface 27) bemerkt, „a massive repository of useful knowledge, a sort of encyclopedia of ethics, politics, history and technology which the effective citizen was required to learn as the core of his educational equipment. Poetry represented not something we call by that name, but an indoctrination which today would be comprised in a shelf of text books and works of reference." Vgl. auch Eike Barmeyer: Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie, München 1968 ( = Humanistische Bibl., R. I, Bd. 2), 167. 1 2 Curtius: Europ. Lit. 46. 1 3 Zur Allegorese in griechischer Zeit s. Curtius: Europ. Lit. 211; Rolf Bachem: Dichtung als verborgene Theologie. Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder, Bonn (Diss.) 1955, 18 f.; 104 f.; E. E. Sikes: The Greek View of Poetry, New York/London 1969 (Repr. der Ausg. 1931), 11 ff. 14 So z. B. bei Apuleius, der Homer in der Apologia ( X X X I ) als poetam multiscium vel potius cunctarum rerum adprime peritum bezeichnet. 1 5 S. dazu Domenico Comparetti: Virgil itn MA, Leipzig 1875, 60 ff. 16 S. dazu Thomas Bleicher: Homer in der dt. Lit. (1450-1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit, Stuttgart 1972 ( = Germanistische Abh. 39), 60 ff. Nodi Opitz beruft sich im Buch von der Deutschen Poeterey (hg. v. C. Sommer, Stuttgart 1970

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Erst im XVIII. Jahrhundert wurde sie vor dem Hintergrund eines neuen, zunehmend historistischen Geschichtsverständnisses, wie es sich erstmals in Vicos Scienza Nuova artikulierte, bedeutungslos. - Eine ihrer Voraussetzungen indes, der Gedanke, daß die poetische Sprache der Mythen und Bilder fähig sei, Sachwalterin aller Erkenntnisse und Wahrheiten zu sein, sollte gegen Ende des Jahrhunderts im romantischen Entwurf einer ,neuen Mythologie' in originell verwandelter Gestalt wiederkehren. Den zu Piatons Zeit noch von der Dichtung nicht nur in Anspruch genommenen, sondern ihr auch zuerkannten Kompetenzen gegenüber nimmt sich seine Philosophie als erster systematischer Versuch einer Gewaltenteilung aus. Ihr Kriterium besteht in der Trennung zwischen begrifflich-abstraktem und bildlichintuitivem Denken. Das versetzt Dichtung in den Bereich des Irrationalen. Von deren tradierter Souveränität bleibt dabei nicht viel übrig. Anmaßung heißt der Vorwurf, den der Philosoph erhebt. In Sokrates' ironischer Bemerkung in der Apologie (22 c), die Dichter hielten sich aufgrund ihres Enthusiasmos in vielen Dingen für weise, in denen sie es nicht seien, klingt er bereits an. Der Ion macht ihn dann zum beherrschenden Thema. Die stellenweise geradezu inquisitorische Unterredung mit dem Rhapsoden stellt dessen Allwissenheit Stück um Stück in Frage. Mehr noch: Die von Sokrates mit beispielhaft dialektischem Scharfsinn vorgebrachte und erläuterte These, daß jener zwar in der Begeisterung des Vortrags von vielen Dingen und ,Künsten' (,technai') rede, ein Urteil über sie jedoch nur dem jeweils Sachverständigen (,technitesl, ,technikös', ,demiurgös') zukomme, der Rhapsode also eigentlich über Sachen spreche, die er nicht zu verstehen imstande sei, trifft implizit natürlich den Dichter, als dessen alter ego sich Ion betrachtet - Homer. Darauf weist allein schon Sokrates' Frage hin (537 a) 17 : Ov v.ai JIEQI T£-/VWV [XEVTOI Xiyei noXXa%ov "0|RR|(3o? X A I nollä; Hintergründig wird so der Dialog mit dem Rhapsoden zu einer Auseinandersetzung mit Homer. Was sich Ion nennt, könnte ebensogut ,Homeros' heißen. Rhapsode und Dichter sind, was die Grundthese angeht, austauschbar; denn was der Philosoph jenem nicht zugesteht, spricht er insgeheim auch diesem ab. Oft genug steht Homer, als Urbild des Dichters augenscheinlich fungierend, im Zentrum der von Piaton entfachten Debatte über Wert und Funktion der Dichtung. Deren zwar nicht ausschließlich, aber doch exemplarisch und nachhaltig von der Rezeption der Homerischen Epen geprägtes Rollenverständnis ist immer wieder Thema philosophischer Erörterung. Und nichts könnte am Detail besser den latent vorhandenen, noch weitgehend vor- und außerliterarischen Machtanspruch und Einfluß der frühgriechischen Dichtung belegen als die Tatsache, daß die Platonischen Dialoge selbst nur allzu gern Dichterworte, gerade auch Homerisches, anführen, um philosophische Erkenntnisse und Thesen zu veranschaulichen und zu untermauern. Auch Piaton vermochte sich offen[ = Reclams Universal-Bibl.], 15 [zit.: Opitz: Poeterey]) auf Apuleius' Diktum und führt allegoretisches Gedankengut als apologetische Argumente an. 17 In der Übers. Schleiermachers (Piaton: SW I): „Redet nidit auch Homeros von vielerlei Künsten an vielen Orten vielerlei?"

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sichtlich dem Zugriff dessen nicht gänzlich zu entziehen, was er in seiner Kompetenz doch einzuschränken beabsichtigte. Vor diesem Hintergrund erscheint verständlich, was auf den ersten Blick verwundern mag: der Mangel an Differenzierung zwischen poetischer Mimesis und Realität, zwischen Abbild und Abgebildetem, Fiktivem und Dinglichem. Stärker noch im Ion als in der Apologie zeichnet sich eine Argumentationsweise ab, die an die dichterische Darstellung der Wirklichkeit denselben Maßstab anlegt wie an deren philosophische Analyse oder auch nur praktische Erkenntnis. Das Kriterium der Wahrheit, der richtigen Erkenntnis und Kenntnis einer Sache gilt, wenn man Sokrates' Gedanken folgt, für das dichterische Abbild der Realität nicht weniger als für diese selbst. Das nimmt die Poesie wiederum beim Wort und reflektiert in aller Schärfe ihr noch archaisches, dem Dichter umfassende pädagogische und informative Funktion zumessendes Selbstverständnis. Als revolutionär geradezu und folgenschwer jedoch sollte sich die systematische epistemologische Überprüfung solchen Anspruchs erweisen. Sie mußte ihm zwangsläufig abträglich sein. Der im Ion (537 c ss.) erhobene Einwand, daß jede Kenntnis, jede Fähigkeit auf einen bestimmten Gegenstand hin gerichtet sei und nur derjenige mit Autorität von einer Sache reden könne, der den dazu erforderlichen, praktisch erworbenen Sachverstand (,techne') besitze, mag zwar heutzutage, erkenntnistheoretisch gesehen, banal, auf ästhetische Ebene transponiert, naiv erscheinen; er stellt gleichwohl nichts anderes als die Antwort auf ein noch naiveres Rollenverständnis der Dichtung dar. Gerade angesichts ihrer enzyklopädischen Souveränität konnte jeder aus derartiger Perspektive angestellte Vergleich zwischen Realität und Fiktion, technischem' Sachverstand und poetischer Mimesis nur auf Kosten der Dichtung gehen. Zugleich wird an solcher Argumentation erkenntlich, was auch anderweitig ein Charakteristikum Platonischer Philosophie ist: ihr instrumenteller Zug. Der Handwerker (,technites', ,demiurgös'), nicht etwa der Dichter, bildet bei Piaton das Modell, wenn es darum geht, erkenntnistheoretisch dem Verhältnis von Erfahrung und Einsicht, Praxis und Theorie, Ding und Begriff auf die Spur zu kommen. Beide Aspekte, der psychologische, der die Genese und Wirkung dichterischer Rede im Auge hat, und der erkenntnistheoretische, der sich mit ihrem Wahrheitscharakter befaßt, stehen auch in dem Werk im Mittelpunkt dichtungstheoretischer Erörterung, das sich eingehender noch als der Ion Fragen der Poesie widmet - in der Politeia. Obschon dieses Thema innerhalb des ersten großen utopischen Staatsentwurfs der abendländischen Literatur nur relativ bescheidenen Raum einnimmt und lediglich am Ende des zweiten Buchs, im dritten und dann wieder im zehnten direkt ins Blickfeld gerät, zeigt sich doch, was Piaton dort gegen die Dichtung vorzubringen hat, in der gedanklichen Kohärenz und in der Strenge des Urteils als Höhepunkt einer sein gesamtes Werk durchziehenden Kontroverse. Interessant in diesem Zusammenhang ist zunächst eine Passage am Ende des fünften Buchs (475 e - 480 a), in der die Poesie explizit gar nicht erwähnt, sondern die kurz zuvor (473 c-d) geforderte Inthronisation des Philosophen zum

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Herrscher im besten aller Staaten begründet wird. Nur dem Philosophen, so befindet Sokrates hier, komme die Regierungsgewalt zu, weil nur er im Besitz der Erkenntnis {dianoia), der Wahrheit (aletheia) und Weisheit ( s o p h i a ) sei und innerhalb einer Welt sich ständig verändernder sinnlicher Erscheinungen das unwandelbar Wahre und Seiende zu erkennen vermöge. Allein der Philosoph sei fähig, sich durch Einsicht {gnòme) und Wissen {episteme) über die von der Welt der Erscheinungen, der täuschenden Vielfalt abhängigen und befangenen bloßen Vorstellung und Meinung {doxa) zu erheben. Dies postuliert nicht nur mit erkenntnistheoretischem Rigorismus eine Trennung von Wesen und Erscheinung, Begriff und Vorstellung, Idee und Ding, die für die Platonische Philosophie konstitutiv ist und in den folgenden beiden Büchern weiter ausgeführt wird, sondern stellt auch eine Art Vorbereitung auf die im zehnten Buch vorgenommene abschließende Auseinandersetzung mit der Dichtung dar. Dort (595 a - 608 b) überträgt Sokrates seine erkenntnistheoretischen Maximen auf die Dichtung, auf die Kunst insgesamt, und fragt nach ihrer Stellung zur Realität, nach ihrem Erkenntniswert, ihrem Rang innerhalb der Hierarchie des Wissens. Das Ergebnis dieser Prozedur konnte nur negativ sein. Da Kunst, insbesondere Dichtung, als Mimesis im Platonischen Sinn, d. h. als beschreibende oder darstellende Nachahmung von Menschen, Dingen und Handlungen, nicht die Welt des unveränderlich Seienden, die Ideen nachahmt, sondern die empirische Realität, die Welt der Erscheinungen, die wiederum nur ein entferntes, verschwommenes Abbild der Ideen ist, bildet sie innerhalb der Hierarchie der Erkenntnis die unterste Stufe. Unfähig, die Realität als bloßen Schein {phàntasma, phainómenon) zu transzendieren und zur Erkenntnis des Begriffs {eidos), der Idee {idèa), der Wahrheit {aletheia) vorzudringen, rangiert die künstlerische Mimesis bei Piaton als Nachahmung der Nachahmung, als Abbild des Abbilds in ihrem Wahrheitswert noch unterhalb des Bereichs sinnlich-empirischer Realität. Anders ausgedrückt: den Künstler als „Nachbildner" {mimetes) der Dinge trennt vom „Werkbildner" {demiurgós), dem Verfertiger der Dinge, ebensoviel wie diesen vom „Wesensbildner" {phyturgós), dem göttlichen Schöpfer der Ideen und Formen. Kunst ist innerhalb einer sich von der Wahrheit immer weiter entfernenden Imitationskette das letzte Glied. Es ist daher nur konsequent, wenn Sokrates von der hohen Warte des Philosophen, der allein für sich die Fähigkeit höchstmöglicher Erkenntnis behauptet, den Dichtern vorwirft, daß sie nicht Wirkliches, Seiendes, sondern nur Trugbilder verfertigten (cpavtaa^axa yóo, aìX ovu ovta Jtoioüaiv [599 a]). Ein mechanistischer Mimesis-Begriff, der im Unterschied zum aristotelischen die völlige Abhängigkeit des Abbilds vom jeweiligen Vorbild voraussetzt und Kunst als Spiegel der Realität begreift, sowie ein ontologisches Denkmodell, das der Realität nur mittelbaren Erkenntniswert zugesteht, müssen notwendigerweise die Legitimation aller Kunst, sofern diese mehr als Zerstreuung, Unterhaltung zu sein beansprucht, bezweifeln1S. 18 Zu Piatons Angriff auf die Dichtung in der Politeia vgl. neben Havelocks Preface auch J. W. H. Atkins: Lit. Criticism in Antiquity. A sketch of its development I—II, Glou-

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Das zehnte Buch der Politeia rechtfertigt so philosophisch-erkenntnistheoretisch, was bereits im zweiten und dritten Buch (377 b - 392 c) unter vornehmlich pädagogisch-ethischen Gesichtspunkten an Animosität gegen die Dichtung überdeutlich zum Vorschein kommt. Dort wendet sich Sokrates gegen die poetisch tradierte Mythologie, die dichterischen Märchen und Sagen und wirft den Dichtern vor - wobei insbesondere Homer und Hesiod genannt und zitiert werden - , sowohl über die Götter als auch über die Heroen und Menschen Unwahres zu berichten und Ansichten zu vertreten, die mit den Idealen und Gesetzen des Philosophenstaats nicht zu vereinbaren seien. Den polemischen Höhepunkt bildet die Vertreibung Homers - und damit symbolisch aller Dichter — aus der Traumstadt Piatons (398 a-b). Mit diesem Versuch, der Dichtung das Bürgerrecht dadurch zu entziehen, daß ihr prominentester Vertreter der Lügenmärchen bezichtigt wird, setzt die Politeia, wenn auch mit außergewöhnlicher Entschiedenheit, bereits bestehende Tendenzen fort. Aus moralischen und philosophischen Gründen hatten sich zuvor schon Xenophanes und Heraklit gegen Homer gewandt. Sokrates scheint darauf anzuspielen, wenn er vom alten Streit zwischen der Philosophie und der Dichtkunst spricht (naXaiä ¡AEV Tig öiayoga cpdoaocpia TE y.ai jtoir)rixfi [607 b]). Nicht zuletzt als Reaktion auf diesen „Aufstand des Logos gegen den Mythos - aber auch gegen die Poesie" 19 — hatte sich die Homer-Allegorese entwickelt. Die epistemologisch motivierte Abwertung hat freilich ihr psychologisches Pendant. Gerade die Politeia setzt frühere Äußerungen zum Enthusiasmos nochmals in ein recht zweifelhaftes Licht. Denn als Nachahmung ist Dichtung für Sokrates nicht nur am weitesten von der Wahrheit entfernt, sondern appelliert auch, selbst dem Irrationalen entspringend, an einen Bereich außerhalb der Vernunft {phronesis), des Verstands, des rationalen Denkens (603 a; 604 a). Sie wird als eine Art Gemütserregungskunst kritisiert, die auf völlige Identifizierung des Zuhörers angelegt ist, emotionale statt rationale Reaktionen hervorruft und so im Menschen gegen Vernunft (lögos) und Gesetz (nomos) wirkt, ihn verführt und verdirbt (604 a-607 a) 20 . Die puritanische Verdächtigung der Kunst als Scharlatanerie und Verführung erhält in Piaton einen ihrer ersten beredten Anwälte. Das Mißtrauen gegen die emotionale Verführungskraft der Poesie beschränkt sich keineswegs auf die Politeia; es kommt im Jon (536 a-b) ebenso zur Sprache wie in dem Alterswerk Nomoi (656 c; 700 d - 701 b). Gerade dabei hat sicherlich noch etwas anderes mitgespielt: der lebenslange Streit mit den Sophisten. Die Parallelen, die sich für Piaton zwischen der These der Sophisten, nicht auf die Wahrheit oder Erkenntnis komme es an, sondern auf cester (Mass.) 1961 (erstmals 1934), I Kap. 3: „The Attack on Poetry: Plato", bes. 37-51, sowie E. E. Sikes aaO. (Anm. 13) 63 ff. 19 Curtius: Europ. Lit. 211. 20 Havelock (Preface 36-60) hat überzeugend nachgewiesen, daß diese Kritik in engem Zusammenhang mit den Kommunikationsmöglichkeiten einer vor- bzw. halbliterarischen, auf mündliche Tradierung angewiesenen Epoche steht, in der sich jeder Lern- und Rezeptionsprozeß auf dem Weg der Wiederholung und quasi automatisch-bewußtlosen Aneignung des Gehörten vollziehen mußte.

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Meinung und Überzeugung, und den Rezeptionsbedingungen einer noch weitgehend mündlich tradierten Dichtung aufdrängen mußten, liegen auf der Hand. Der Verführung verdächtigt, des Irrationalismus geziehen, der Unwahrheit und Anmaßung angeklagt, blieb für die Dichtung in Piatons Staatsentwürfen, in den Notnoi nicht anders als in der Politeia, nur ein bescheidener Platz am Rande - und auch das lediglich, sofern sie sich der Vormundschaft des Philosophen-Königs zu beugen bereit war. Als Philosoph, der die Herrschaft der Dichtung, des bildlichen, sinnlichen, intuitiven Denkens durch die Herrschaft des logischen, begrifflichen, abstrakten Denkens abzulösen sich anschickte und den Dichter vom Thron des geistigen Reichs stürzte, um sich selbst dort einzurichten, wurde Piaton zugleich zum „Erfinder der literarischen Zensur" 21 . Der Gedanke, daß Dichtung zensiert werden müsse, prägt die Politeia nicht minder als die Nomoi22. Duldung fand in beiden Fällen „einzig eine gereinigte, gesinnungsertüchtigende Zweckpoesie" 23 . Nirgendwo deutlicher als am Streit mit den Dichtern läßt sich der von Piaton „so leidenschaftlich und so schroff" verfochtene „totalitäre Anspruch, der jeder Philosophie innewohnt", ausmachen24. Hesiod hatte es noch der Souveränität der Musen, mithin des Dichters, anheimgestellt zu entscheiden, was an poetischer Rede Wahrheit (alethea), was Täuschung (pseüdea) sei, und damit auf das janusköpfige Wesen jeder Fiktion angespielt. Auch diese Befugnis und Freiheit sprach Piaton dem Dichter ab. Eingedenk all dessen, was er gegen sie ins Feld geführt hat, erscheint es beinahe als ironische, nicht allzu emstgemeinte Geste, wenn Sokrates am Ende des zehnten Buchs der Politeia mit der Jovialität philosophischen Selbstbewußtseins die Dichter herausfordert, ihre Sache zu verteidigen (607 c - 6 0 8 a). Und doch ist die Herausforderung im Laufe der Geschichte oft genug angenommen worden. Sie hat das Gesicht der Dichtungstheorie entscheidend geformt. Ohne Piatons Verdikt wäre ihre Geschichte wie ihre Argumentationsweise in wesentlichen Punkten gar nicht zu verstehen. Das verleiht ihm historisches Gewicht weit über den unmittelbaren kultur- und geistesgeschichtlich begrenzten Anlaß hinaus. Zwar nicht erstmals, erstmals indes in derart rigoroser und fundierter Form hat ebenso wie die Dichtung selbst ihre Theorie durch die Platonische Philosophie Widerspruch hinnehmen, Kritik ihres noch naiven, nur gelegentlich explizit formulierten Selbstverständnisses erfahren müssen. Seither ist Dichtungstheorie häufig Apologie gewesen - nicht Abtretung vormals ausgeübter Rechte des Dichters, sondern bewußter, reflektierter Anspruch. Anders als die Poetik hat die Dichtungstheorie sich selten, zumal dort nicht, wo sie sich apologetisch gab, mit der Beschränkung ihres Gegenstandes auf jenen Bereich des Artistisch-Ästhetischen beschieden, den ihr bei aller Kritik die Platonische Philosophie nicht verweigerte, sogar erst - in anderem Zusammenhang - ihr als 21 Fuhrmann: Einführung 84. 22 Vgl. Politeia 377b; 379a; 392c; 607a. Nomoi 656d-657c; 660a-661d; 719b; 810e ss.; 817a ss. 23 Fuhrmann: Einführung 86. 2 4 Curtius: Europ. Lit. 47.

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besonderen, legitimen einzuräumen behilflich w a r 2 5 . Denn nicht ästhetische, vielmehr epistemologische und psychologische Gründe haben die Kunstfeindschaft Piatons motiviert. W a s die Geschichte der Dichtungstheorie angeht, weist diese Kunstfeindschaf allerdings durchaus dialektische Züge auf. Einerseits hat der Verfasser der Politeia den Gegnern der Poesie lange Zeit, zumindest bis zum Ausgang der Renaissance, als Hauptbelastungszeuge gedient. Seine Einwände kehren wieder, ob man sich nun ausdrücklich auf sie beruft oder nicht; sie haben Modellcharakter. In epigrammatisch kurzer Form klingt das Mißtrauen gegen die Dichter, das auch bei späteren Verächtern der Kunst nicht selten zu entschieden bilderstürmerischer Feindschaft geriet, in den Disticha Catonis a n 2 6 : Mulla legas facito, perlectis perlege multa, nam miranda sunt, sed non credenda poetae. Beredter für die Tradierung platonisch-rigoristischer Kunstgegnerschaft in antikem Gewand spricht eine Passage aus dem ersten Buch von Boethius' De consolatione philosophiae. In allegorischer Verbrämung schildert Boethius dort, wie ihm die Philosophie erschien, um ihn von einer durch die Musen der Dichtung nur noch bestärkten Krankheit des Gemüts, der Melancholie, zu heilen und auf den rechten Pfad stoischer Tugend zurückzuführen 27 : Quae ubi poeticas Musas vidit nostro assistentes toro fletibusque meis verba dictantes, commota paulisper ac torvis infiammata luminibus: Quis, inquit, has scaenicas meretriculas ad hunc aegrum permisit accedere, quae dolores eius non modo nullis remediis foverent, verum dulcibus insuper alerent venenis? Hae sunt enim, quae infructuosis affectuum spinis uberem fructibus rationis segetem necant hominumque mentes assuefaciunt morbo, non liberant. At st quem pro25

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Zu diesem Aspekt Platonischer Philosophie vgl. De Deugd: Religion to Criticism, Kap. 3: „Plato" (52-61). Disticba Catonis, rec. et apparatu crit. instruxit M. Boas, post M. Boas [ . . . ] curavit H. J. Botschuyver, Amstelodami 1952, 175 ( I I I 18). Boethius: Trost der Philos., lat.-dt., übertragen v. Eberhard Gothein, Zürich 1949 ( = Bibl. der Alten Welt), 38-40 (I 1); dt.: „Als sie die Dichtermusen, die mein Lager umstanden und meiner Tränenflut Worte liehen, erblickte, sprach sie etwas erregt, entflammt mit finsteren Blicken: Wer hat diesen Dirnen der Bühne den Zutritt zu diesem Kranken erlaubt, ihnen, die seinen Schmerz nicht nur mit keiner Arzenei lindern, sondern ihn obendrein mit süßem Gifte nähren möchten? Sind sie es doch, die mit dem unfruchtbaren Dorngestrüpp der Leidenschaften die fruchtreiche Saat der Vernunft ersticken, die der Menschen Seelen an die Krankheit gewöhnen, nicht sie davon befreien. Wenn eure Schmeichelreden einen Uneingeweihten, wie es gemeinhin durch euch geschieht, ablenken, so würde ich das für minder lästig halten, denn bei ihm würden unsere Mühen nicht verletzt. Doch dieser, ist er nicht mit den Studien Eleas und der Akademie ernährt worden? Drum hinweg, ihr Sirenen, die ihr süß seid bis zum Verderben, überlaßt ihn meinen Musen zur Pflege, zur Heilung!" Freilich ist auch das Umgekehrte, „der Begriff der Poesie als einer medicina animi [. . . ] antik" (Karl Borinski:

Die Antike in Poetik und Kunsttheorie vom Ausgang des klassischen Altertums bis auf

Goethe und Wilhelm von Humboldt I—II, Darmstadt 1965 [ = Repr. der Ausg. Leipzig 1914 bzw. 1924], I 111 [zit.: Borinski: Antike]). Petrarca griff auf diese Vorstellung in den Invektiven zurück (vgl. Borinski: Antike I 110 ff.).

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fanum, uti vulgo solitum vobis, blanditiae vestrae detraherent, minus moleste jerendum putarem. Nihil quippe in eo nostrae operae laederentur. Hunc vero Eleaticis atque Academicis studiis innutritum? Sed abite potius, Sirenes usque in exitium dulces, meisque eum Musis curandum sanandumque relinquite. Nicht zufällig wird hier die eleatische Schule, zu deren Begründern Xenophanes gehört, ebenso erwähnt wie die von Piaton gegründete Akademie und damit auf den Ursprung philosophischer Ächtung der Dichtung hingewiesen. Philosophie als ,ratio', Dichtung als ,affectus' - das ist derselbe Gegensatz wie der zwischen Logos und Enthusiasmos. Der Vergleich der Poesie mit einem süßen, tödlichen Gift, mit dem Gesang der Sirenen faßt ein Thema Piatons, die verführerische Macht poetischer Rede, in Bilder, die Bestand gehabt haben, auch über den unmittelbaren Einflußbereich der Consolatio, das Mittelalter, hinaus. Beide Anklagepunkte Piatons, daß Dichtung verführe und lüge, waren fundamental und daher variabel genug, um auch außerhalb der direkten Tradition seiner Philosophie rezipiert werden zu können. Die christlich-theologisch motivierte Verunglimpfung der Poesie brauchte lediglich den platonischen Wahrheits- und Erkenntnisbegriff durch den religiös-göttlichen zu ersetzen, den Enthusiasmos durch teuflisch-dämonische Mächte, um zu ähnlichen Schlußfolgerungen zu gelangen. Eine strukturelle Verwandtschaft zur Platonischen Philosophie war in dieser Hinsicht ohnehin gegeben. Auch die Theologie leugnete den Erkenntniswert dichterischer Fiktionen und konfrontierte die Poesie mit einem Wahrheitsbegriff, der ihr zwangsläufig abträglich sein mußte. Von Kirchenvätern wie Tertullian, Hieronymus und Augustin begründet 28 , erreichte die kirchliche, theologisch argumentierende Abneigung in der Scholastik ihren Höhepunkt. Thomas von Aquin warf der Dichtung vor, daß sie von allen Gebieten des Wissens am wenigsten Wahrheit enthalte (minimum continet veritatis29) und erklärte sie zur infima inter omnes doctrinas30. Die Spuren sind noch weiter verfolgbar. Savonarola erneuerte die moralische und in Anlehnung an Thomas auch die theologische Ächtung der Dichtung noch einmal31, und selbst gegen Ende des Cinquecento konnte das Verdikt klerikal orientierter Kritik solche poetische Werke treffen, die nicht der Propagierung christlichen Glaubens dienten 32 . Anderseits jedoch hat gerade die von Piaton ins Werk gesetzte und von der Geschichte tradierte Verketzerung der Dichter Reaktionen gefördert, die ihrerseits als Abwehr, als Gegenposition den Dichter und die Dichtung in nicht zu 28 S. dazu J. N. Spingarn: A Hist. of Lit. Criticism in the Renaissance, New York ••1920 ( = Columbia Univ. St. Comp. Lit.), 4 ff. [zit.: Spingarn: Criticism]; zu Hieronymus s auch August Buck: Ital. Dichtungslehren vom MA bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952 ( = Beih. Zs. romanische Philol. 94), 76, Anm. 133 [zit.: Buck: Dich tungslehren]; zu Augustin s. De civitate Dei II cap. 14. 29 Zit. nach Curtius: Europ. Lit. 224. 30 Ebd. 230. 31 S. Buck: Dichtungslehren 113 f. 32 S. Bernard Weinberg: A Hist. of Lit. Criticism in the Ital. Renaissance I—II, Chicago/ Toronto/London 1961, I 297-348 (Kap. „Platonism: II. The Triumph of Christianity") [zit.: Weinberg: Hist. of Criticism].

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übertreffendem Maße aufzuwerten sich bemühten. Der rigoristischen Kunstfeindschaft opponierte nicht selten eine ebenso rigoristische Kunstverherrlichung. Manche der berühmtesten Apologien - so etwa Petrarcas Invectivarum contra medicum quendam libri IV, Boccaccios Vita di Dante und die Genealogiae deorum gentilium, Sidneys Defence of Poesie und auch, wenngleich in anderem Kontext, Shelleys Defence of Poetry - zeigen ihren polemischen Anlaß unmittelbar33. Implizit ist beinahe allen Apologien polemische Tendenz eigen. Die Attacke Piatons gegen die Dichtung hat zwar an deren Selbstbewußtsein gerührt, zugleich aber auch Reflexionen begünstigt, die zum Ziel hatten, die ehemals herrschaftliche Rolle des Dichters nun als Postulat der jeweiligen Gegenwart vorzuhalten und zum Anspruch zu erheben, was längst nicht mehr allgemein anerkannt wurde. Wichtige Requisiten dazu - das scheint eine Ironie zu sein - lieferte Piaton ungewollt selbst. Wo die Dichtungstheorie Apologie war, hat sie sich selbst gegen platonistische Einwände nur allzu gern und oft mit ebenso platonistischen Formeln, Bildern und Vorstellungen zur Wehr gesetzt. In Verkehrung ihrer ursprünglichen Funktion machte sie diese, vor allem den Enthusiasmos, die göttlich-mantische Begeisterung des Dichters, zu apologetischen Argumenten. Diese Art der Rezeption, obwohl vom Kontext der einzelnen Dialoge her nicht legitimiert, ist indes verständlich. Einmal hatte Piaton, gerade um die Dichtung von der Philosophie abzugrenzen, den irrationalen Aspekt dichterischen Schaffens hervorgehoben und dabei als Kontrapunkt logischen Denkens Bilder vom Dichter entwickelt, die bestechend genug waren, als daß sie sich nicht, aus ihrem Rahmen gelöst und verselbständigt, hätten dazu eignen können, dem Anspruch des Dichters neuen Auftrieb zu geben. Den irrationalen, inspirativen, göttlichen Charakter der Dichtung herausstreichend, vermochten sie diese in völliger Umkehr früherer Absicht dem Zugriff eines kunstfremden Denkens zu entziehen, das sich befugt sah, auch die Fiktion, den schönen Schein der Kunst seinen Begriffen von Wahrheit, Sinn und Nützlichkeit zu unterwerfen. An die Stelle der irdischen Legitimation setzten die solchermaßen umfunktionierten platonischen Bilder die göttliche. Hinzu kommt, daß Piatons Kunsttheorie, da sie kein geschlossenes System bildet und ihre einzelnen Elemente sich beinahe über das ganze Werk verstreuen, in ständig wechselndem Kontext erscheinen, zu einer Herauslösung einzelner Passagen geradezu einlädt 34 . Das alles kommt für das seltsame, geistesgeschichtlich ungeheuer einflußreiche Phänomen auf, daß Piaton, der philosophische und moralische Verächter der Kunst, immer wieder zum Kronzeugen für die Würde der Dichtung angeführt worden ist - und nicht Aristoteles, der doch mit seiner Poetik für die Selbstbesinnung der Poesie, für ihr Bürgerrecht im Reich des Geistes weitaus mehr beigetragen hat. Dessen induktive, das Objekt erstmals genau beobachtende Poetik scheint, obwohl sie nachhaltiger als die Platonische Philosophie sich um die Anerkennung und philosophische Begründung der Dichtung als Fiktion bemühte, für apologetische Höhenflüge wenig hergeben zu 33 34

Zu Petrarca und Boccaccio in diesem Zusammenhang vgl. Bude: Dichtungslehren Vgl. dazu Fuhrmann: Einführung 12,

76 ff.

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können. Anstelle platonischer Mythisierung der Dichtung hat sie deren literarisch-ästhetische Struktur im Auge. Wo Piaton die Poesie dem Bereich des Göttlichen und Irrationalen zuschlägt, gibt sie sich bewußt rationalistisch. Begriffe wie Enthusiasmos und Mania spielen hier keine Rolle. Anthropologisch, nicht mythisch, als Ausdruck einer dem Menschen angeborenen Freude an der Nachahmung (mimësis) und nicht als Derivat göttlicher Begeisterung wird hier die Dichtung erklärt. Das alles erscheint zu spöde, zu trocken, um in den Dienst apologetischer Träume sich stellen zu lassen35. Stets ist die Dichtungstheorie denn auch Produkt platonischer, nicht aristotelischer Tradition gewesen, jedenfalls dort, wo sie ihren Gegenstand in die Aura höchster Würde einzusetzen unternahm. Auf diesem Wege wurde Piaton zum Ahnvater malgré lui jener hochfliegenden Dichtungstheorie, die ihrem Objekt gerade die Rechte wieder einräumen wollte, welche er ihr abgesprochen hatte. Requisiten dorther zu nehmen, wo immer man sie findet, ohne viel Federlesens um ihren ursprünglichen Zweck, ist ohnehin ein legitimes, weil fruchtbares Verfahren der Literatur. Skrupel sind nicht ihr Geschäft, wohl aber das ihres zuweilen schlechten Gewissens, der Philologie.

35 Zum Verhältnis der Platonischen zur Aristotelischen Kunsttheorie s. ebd. 72-90.

3 Rom: Poeta Vates est deus in nobis, agitante calescimus illo: impetus hic sacrae semina mentis habet, fas mihi praecipue vultus vidisse deorum, vel quia sum vates, vel quia sacra cano. Publius Ovidius Naso: Fasti VI 5 - 8

Eine erste und geschichtlich einflußreiche Renaissance und Rezeption platonischer Vorstellungen vom Dichter und vom dichterischen Schaffensprozeß brachte die römische Literatur. Initiatoren waren Varro und Cicero. Varro hatte mit seinem Sinn für phantasievolle geschichtliche Konstruktionen, für die Schaffung und Nutzbarmachung von Traditionen das Wort,vates' als ursprünglichen, den griechischen Begriffen ,mäntis' und ,rhapsödös' entsprechenden Terminus für die alten römischen Dichter bezeichnet1 und ihm mit dieser abenteuerlichen, historisch nicht belegbaren Ehrenrettung seine negative Bedeutung genommen. In republikanischer Zeit, von Ennius bis zu Lukrez, hatte ,vates' gemeinhin und meistens im abschätzigen Sinne den Wahrsager gemeint 2 . Varros Interpretation gab dem Wort eine vorher nicht vorhandene literarische Komponente, machte es als Bezeichnung für den Dichter verfügbar und vermittelte der nachfolgenden Dichtergeneration damit zugleich auch in römischer Prägung die von Piaton bereits betonte Verwandtschaft von Sänger und Seher. Cicero griff die Enthusiasmos- und Mania-Vorstellung auf und trug damit entscheidend dazu bei, das Bild vom göttlich inspirierten Dichter in der römischen Literatur heimisch zu machen. In der Verteidigungsrede für den Dichter Archias (Pro A. Licinio Archia poeta [ 1 8 ] ) hob er hervor, daß allein die Begabung (natura) den Dichter ausmache und dieser durch die Kraft der Leidenschaft erregt (mentis viribus excitari) und gewissermaßen durch einen göttlichen Anhauch begeistert werde (quasi divino quodam spiritu inflari)3. An anderer Stelle verweist Cicero ausdrücklich auf Demokrit und Piaton; in De oratore (2, 194) heißt es: Saepe enim audivi poetam bonum neminem (id quod a Demo1 Vgl. Hellfried Dahlmann: Vates, in: Philologus - Zs. für das klass. Altertum 97 (1948), 3 3 7 - 3 5 3 ; demnach liegt dieser Umdeutung bei Varro sowohl eine falsche Interpretation eines Ennius-Verses als auch eine falsche Etymologisierung zugrunde (s. bes. 339 f. und 3 4 5 f.). 2 Vgl. ebd. 344; Sperduti: Divine Nature 218 ff.; J. K. Newman: The Concept of Vates in Augustan Poetry, Bruxelles 1967 ( = Coli. Latomus 89), 14 ff. 3 Zur durchaus positiven Bewertung dieses irrationalen Moments hat sicherlich nicht wenig das Fehlen jeglichen erkenntnistheoretischen Rigorismus bei Cicero wie insgesamt in der römischen Philosophie beigetragen.

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crito et Platone in scriptis relictum esse dicunt) sine infiammatane animorum existere posse et sine quodam adflatu quasi furoris; und in De divinatione (1, 80) : Negai enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod item dicit Plato. Daß der Dichter nicht ohne einen göttlichen Antrieb des Geistes (sine caelesti aliquo mentis instinctu, wie Cicero in den Tusculanae disputationes schreibt [ 1 , 6 4 ] ) schaffen könne, gilt freilich für den Musiker, den Astronomen, den Redner ebenso; es gilt nach Cicero für den schöpferisch tätigen Menschen schlechthin, für das gesamte Gebiet der ,freien Künste'. Genutzt worden aber ist diese Adaption des Enthusiasmos und der Mania bezeichnenderweise vor allem von der Dichtungstheorie. Beides - Ciceros Rezeption der Platonischen Enthusiasmos-Lehre wie auch Varros Umdeutung des Wortes ,vates' - hat bei den Dichtern der Augusteischen Zeit, von Vergil und Horaz bis zu Ovid, ein vernehmliches Echo gefunden und mitgeholfen, der Epoche ihre auch literarisch äußerst selbstbewußte Physiognomie zu verleihen 4 . Das Terrain für eine fruchtbare Aufnahme war ohnehin gegeben, koinzidierten Ciceros und Varros Anregungen doch mit dem gerade bei den Vätern der Augusteischen Dichtung, Vergil und Horaz, ausgeprägten Selbstbewußtsein, den großen griechischen Vorbildern ebenbürtig zu sein, den Wettstreit mit ihnen erfolgreich bestanden und der Dichtung endlich den ihr gebührenden Platz in Rom erobert zu haben. So sieht sich Vergil in der Rolle dessen, der als erster die Musen nach Italien führen wird {Georg. III 10 s.) 5 : primus ego in patriam mecum, modo vita Aonio rediens deducam vertice Musas;

supersit,

stärker noch kommt der aus schöpferischer Konfrontation mit der griechischen Dichtung erwachsene Anspruch an anderer Stelle der Geórgica zum Vorschein (II 173-76) 6 : salve, magna parens frugum, Saturnia tellus, magna virum: tibi res antiquae laudis et artis ingredior, sanctos ausus recludere fontis, Ascraeumque cano Romana per oppida carmen. Hinter der Anspielung auf den in Askra geborenen Verfasser der Èrga kai hemérai, in deren Tradition die Geórgica stehen, und dem Lob Italiens, der Saturnia tellus, ist deutlich der Stolz auszumachen, den Gesang wieder in seine So sieht Newman (aaO. [ A n m . 2 ] , „Introduction" 7—12) in der besonderen Verwendung und Bedeutung des W o r t e s ,vates' von Vergil bis zu Ovid sogar ein wesentliches Kriterium f ü r den literaturgeschichtlichen Sinn des Begriffs ,Augusteische Zeit'. 5 A l l e Vergil-Zitate außer Aeneis nach: Vergil: Landleben - Bucolica. Geórgica. Catalepton, hg. v. J. Götte, lat.-dt., München 1 9 4 9 ( = Tusculum-Bücherei); dt.: „Ich will als Erster mit mir ins Vaterland, reicht nur mein Leben, V o m aonischen Gipfel hinab geleiten die Musen". 6 Dt.: „Heil dir, hehre Mutter der Frucht, saturnische Erde, Mutter der Helden! Ich wandle v o r dir und wage des alten Ruhmes, der alten Kunst geheiligten Quell zu erschließen, Und askräischer Sang tönt neu durch römische Lande."

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alte heilige Würde eingesetzt zu haben. Ähnliches Pathos des Erneuerers schlägt sich in Horaz' Oden nieder. Carmina non prius / Audita (Carm. I I I 1,2 s.) nennt er sie und beansprucht für sich, als erster die Tradition Sapphos und Alkaios' in Rom fortgeführt zu haben (Carm. I I I 30,13 s.) 7 . Dieser Gewißheit einer Renaissance dichterischen Wortes und dichterischer Geltung konnten die Furor-Vorstellung Ciceros und der Vates-Begriff Varros nur zustatten kommen. Sie boten, nicht selten verstärkt durch unmittelbaren Rückgriff auf griechische Modelle, willkommenes Material, um ein Selbstbewußtsein zu formulieren, das gegenüber der nicht gerade hohen Wertschätzung des Dichters in republikanischer Zeit neu ist. Es ist kein Zufall, daß Vergil, mit dem in Rom „das entschiedene Sprechen des Dichters von seiner hohen Berufung, seiner Aufgabe und seiner Anerkennung" beginnt 8 , als erster auch das Wort ,vates' in der ihm von Varro gegebenen Bedeutung aufgegriffen 9 und in der Aeneis sogar auf sich selbst gemünzt hat 1 0 . Damit erhielt der Begriff einen bei Varro noch nicht vorhandenen aktuellen Bezug. Zugleich kündigt sich darin ein Wiederaufleben alter priesterlicher und prophetischer Funktion des Dichters an, blieb doch die vormals religiöskultische Bedeutung des Wortes bei aller Modernisierung und Umdeutung stets - zumindest rudimentär - erhalten. Bezeichnenderweise gebraucht Vergil das Wort in der Aeneis gerade auch dort, wo er von den legendären Sängern Orpheus (Threicius [.. ,]sacerdos [VI 645]) und Musaios (VI 662) spricht und auf ihre priesterliche Rolle als pii vates et Phoebo digna locuti (VI 662) hinweist. Ein weiteres Indiz für den mit Vergil einsetzenden Versuch, dem Dichter wieder eine quasi religiöse Weihe und Aura zu verleihen, ergibt sich daraus, daß er als erster - hierin nicht nur von Hesiod, sondern überdies wohl ebenso wie Horaz besonders von Pindar beeinflußt 11 - Dichten als „priesterliches Tun" 12 verstanden und sich in vollem Bewußtsein des damit verbundenen Anspruchs als Priester der Musen apostrophiert hat (Georg. II 475 s.). Beides kehrt bei Horaz wieder. Ausdrücklich als Musarum sacerdos tritt dieser in der berühmten und zumal aufgrund ihres Selbstbewußtseins oft kopierten ersten Ode des dritten Buchs (Carm. I I I 1,3) mit herrischer Geste vor das Volk, gebietet ihm zu schweigen und sich zu entfernen. Hier ist der bei Vergil noch eher zurückhaltend und oft versteckt erhobene priesterliche Anspruch zum selbstsicher vorgebrachten Gestus geworden. Weitaus häufiger als Vergil auch verwendet Horaz ,vates' anstelle von ,poeta'. Vor allem in den Oden erweist 7

Vgl. auch Carm. I I I 25, 7 s. (Dicam insigne, recens, adhuc/lndictum ore alio [...]) und Carm. I V 9, 3 s. (Non ante volgatas per artis / Verba loquor [ . . . ] ) . Alle HorazZitate nach: Horaz: SW, hg. v. H. Färber und W. Schöne, lat.-dt., München 1970 ( = Tusculum-Bücherei). 8 Vinzenz Buchheit: Der Anspruch des Dichters in Vergils Georgika. Dichtertum und Heilsweg, Darmstadt 1972, 184. 9 Vgl. Buc. V I I 28; Aeneis V I 662. 10 Vgl. Aeneis V I I 41. 11 S. dazu Buchheit aaO. (Anm. 8) 69, 151, 157. 12 Ebd. 68.

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es sich als das gebräuchliche Wort 1 3 . Die Vorstellung vom Dichter als ,vates' und ,sacerdos' lebt bei Properz, Tibull und Ovid fort 1 3 a . Während jedoch für die jüngere Generation die Inanspruchnahme solcher Begriffe und die damit einhergehende Aufwertung dichterischen Selbstverständnisses schon Tradition ist - wenn auch noch junge - und daher des öfteren nicht leicht entschieden werden kann, ob sich dahinter mehr als eingebürgerte Formeln, Topoi, verbergen, handelt es sich bei Vergil und Horaz um eine bewußte Wahl. Entscheidendes dazu trug die soziale und politische Situation bei. Die Erfahrung der Bürgerkriege und der inneren Zerrüttung Roms, die bei Vergil und Horaz so deutlich spürbar ist, verband sich mit Endzeiterwartungen und Hoffnungen auf eine säkulare Wiedergeburt der res publica 14 . Bei keinem mehr als Vergil schlägt sich die der Zeit innewohnende revolutionäre und apokalyptische Stimmung literarisch nieder. Aus ihr nicht zuletzt erwächst ihm sein im dichterischen Selbstverständnis sich ausdrückendes Sendungsbewußtsein. In der vierten Ekloge erscheint er, die spielerische Maske bukolischer Dichtung abstreifend, als prophetischer Interpret sibyllinischer Weissagungen einer ,ultima aetas', eines anbrechenden Saturnischen Zeitalters des Friedens, des Glücks, der Gerechtigkeit (Buc. IV 4 - 7 ) und verschmilzt in dem Bild einer paradiesischen Welt, einer Aussöhnung von Natur und Mensch, antike mit orientalisch-hellenistischen Vorstellungen {Buc. IV 21-25). Erstmals in der Antike erhält hier die Idee der ,aurea aetas', des Goldenen Zeitalters, durch die Verheißung einer Wiederkehr eschatologische Züge 15 . - Die prophetische Rolle Vergils blieb auch den nachfolgenden Generationen bewußt. Davon legt der sich in den ,Sortes Virgilianae' äußernde Vergilkult der Kaiserzeit 16 ebenso beredtes Zeugnis ab wie etwa Senecas Titulierung des Mantuaners als maximus vates et velut divino ore instinctus17. Ähnliche Erwartungen kehren, geschichtlich konkretisiert in der Person des Caesar Octavianus, späteren Imperators Augustus, in den Georgica und der Aeneis wieder. Beidemal (Georg. I I I 1 - 4 8 ; Aeneis VI 792 ss.) verbindet Vergil mit der Person Octavians bzw. Augustus' den Gedanken an eine Wiederkehr des Saturnischen Zeitalters und verleiht dadurch, vor allem in der Aeneis, der 13 Vgl. Carm. I 1, 35; I 31, 2 ; I I 20, 3 (auf sich selbst bezogen); I I I 19, 15; I V 3, 15; IV 6, 44 (auch hier auf sich selbst bezogen); IV 8, 2 7 ; I V 9, 28; Epod. 16, 66 (auf sich selbst bezogen); Epist. I I 1, 119, 133, 2 4 9 ; I I 2, 94, 102 (hier allerdings nicht ohne ironischen Unterton); A. p. 24, 400. 13a S. z . B . Properz I I I 1, 3; I I 10, 19; I V 6, 1, 10; Tibull I I 5, 114; Ovid: Am. I I I 8, 2 3 ; Trist. I I I 2, 3 s.; Fasti 6, 8 u. ö. Zum toposartigen Gebrauch des Worts ,vates' bei den Nachfolgern Vergils und Horaz' s. Newman aaO. (Anm. 2) 115 ff. 14 Vgl. ebd. 23. 1 5 Zur Verschmelzung antiker mit orientalisch-hellenistischen Vorstellungen und zum eschatologischen Aspekt in der vierten Ekloge s. Hans-Joadhim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. St. zur Wesensbestimmung der frübromantischen Utopie und zu ihren ideengesch. Voraussetzungen, Heidelberg 1965 ( = Probleme der Dichtung, St. zur dt. Lit.gesch. 7), 6 9 ff. [zit.: Mähl: Goldenes Zeitalter]. 16 S. dazu Comparetti aaO. (Kap. 2, Anm. 15) 4 5 ff. 17 Bei Dahlmann aaO. (Anm. 1) 353 (De brevitate vitae I X 2).

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römischen Geschichte einen mythisch-heilsgeschichtlichen überbau 18 . Die aus der Zeit erwachsene Sehnsucht nach einer Erfüllung der Geschichte und ihre utopische Vorwegnahme in der dichterischen Phantasie leisten einem Selbstverständnis des Dichters Vorschub, das anspruchsvoller, herrschaftlicher nicht sein könnte. In der Aeneis macht er sich zum Verkünder der Sendung Roms; im Proömium zum dritten Buch der Georgica tritt er selbstbewußt als Sieger im Gesang neben Octavian, den Sieger der Schlachten. Diese Parallelisierung von Dichter und Herrscher19, die in der griechischen Antike bei Hesiod und Pindar vorgebildet ist und in der Geschichte der Dichtungstheorie als Traum dichterischer Macht sich oft niedergeschlagen hat, drückt mehr als nur den Wunsch aus, am Ruhm des Caesars durch dessen Verherrlichung zu partizipieren. Ebenso wie an dessen Gestalt die Hoffnung auf eine geschichtliche Realisierung der Heilswelt ihren politischen Bezugspunkt findet, erhält sie durch die Person des Dichters ihren poetischen. Das Goldene Zeitalter ist bei Vergil immer auch Inbegriff einer „paradiesischen und musischen Friedenswelt" 20. Dichtung als fiktive Projektion einer solchen Welt setzt den Dichter in eine dem Herrscher durchaus gleichwertige Rolle. Wo letzterer der politische Stifter ist, ist ersterer der geistige. Deutlicher noch als in den Georgica äußert sich die Verbindung von Heilswelt und musischer Welt in den Eklogen. Vergils Arkadien ist als Land des Friedens, des idyllischen Glücks nicht nur Ausdruck einer Beschwörung Goldener Zeit, Ausdruck einer - mit Ausnahme der vierten Ekloge — rückwärts gewandten zeitlosen Utopie, sondern als Land Pans und der Hirten-Sänger zugleich auch das Reich des Gesangs. Dergestalt wird es zum Symbol der Vereinigung von Goldener Zeit und dichterischer Zeit. Das ungeschichtliche Utopia Arkadien und das Bild einer vom Gesang beherrschten Welt werden als zwei Aspekte ein- und derselben Idee ineinandergeträumt. Wie eng geschichtliche Heils- und Endzeiterwartung und dichterischer Anspruch sich verquicken, zeigt die vierte Ekloge, in der die Flucht in das imaginäre Arkadien vom Gedanken einer Wiederkehr Goldener Zeit abgelöst wird (Buc. IV 5 3 - 5 9 ) 2 1 : o mihi tum longae maneat pars ultima vitae, spiritus et quantum sat erit tua dicere fata: non me carminibus vincat nec Thracius Orpheus, nec Linus, huic mater quamvis atque huic pater adsit, 18 S. dazu Mähl: Goldenes Zeitalter 84 ff. 19 Vgl. Buchheit aaO. (Anm. 8) 19 f., 99 ff. 20 Ebd. 111; s. auch 110. 21 In dt. Übers, nach der Ausg. Götte: „O, mir dauere dann noch zuletzt so lange das Leben Und mein Odem, als es genügt, deine Taten zu preisen! Weder der thrakische Orpheus noch Linus siege im Sange Dann über mich, mag jenem die Mutter auch, diesem der Vater Helfen: Kalliope Orpheus, dem Linus der schöne Apollo. Pan sogar, fällte den Spruch auch Arkadien, stritte mit mir er, Pan sogar, fällte den Spruch auch Arkadien, gäbe besiegt sich."

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Orphei Calliopea, Lino formosus Apollo. Pan etiam, Arcadia mecum si iudice certet, Pan etiam Arcadia dicat se iudice victum. Hier geht die erhoffte Einlösung der Utopie, die sich an die Geburt und die Taten des (göttlichen) Kindes und späteren Heilsbringers knüpft, Hand in Hand mit dem stolzen Vorgefühl kommenden Dichterruhms, der den der mythischen Sänger Orpheus, Linos und Pan sogar noch übertreffen soll. Dem Bild der .Saturnia regna' gesellt sich das absoluter dichterischer Macht zu. Daß mit der Herrschaft Saturns, mit der Goldenen Zeit auch die Herrschaft der Dichtung auf Erden anbreche - diese bei Vergil sich erstmals andeutende Idee sollte in der Romantik, vor geschichtlich wiederum ungeheuer stimulierendem Hintergrund, neu aufleben und mit neuem Gehalt gefüllt werden. Wiederkehren sollte dort ebenfalls die Verbindung von eschatologischer Geschichtsauffassung und einem Sendungsbewußtsein, dem das dichterische Wort zur Verheißung einer besseren Welt gerät. In direkter Nachfolge Vergils findet sich das Thema - wenn auch weniger ausgeprägt - bei Horaz. In der sechzehnten Epode greift er angesichts des andauernden Bürgerkrieges und des drohenden Zerfalls des Staats, offensichtlich aber auch unter dem Eindruck der vierten Ekloge22, auf die Vorstellung eines friedlichen, glücklichen Lebens auf den seligen Gefilden und Inseln (arva divites et Ínsulas [v. 42]) zurück. Im Unterschied zu Vergil bleibt das von Horaz der elenden Realität als Rettung und Fluchtpunkt entgegengehaltene Bild Goldener Zeit (tempus aureum [v. 64]) zwar ohne geschichtliche Konkretisation 23 , erhält aber gerade dadurch einen transzendenten, religiös-visionären Charakter. Nicht zufällig erscheint hier der Dichter am Ende als vates (v. 66). Mit dieser Verwendung des Wortes an derart exponierter, bedeutsamer Stelle macht sich Horaz nicht nur bewußt dessen alte religiöse Bedeutung zunutze, sondern bringt darüber hinaus das bei Vergil eher implizit dem Kontext übertragene Selbstverständnis des Dichters als Prophet, als Sänger und Seher zugleich, auf die sich anbietende denkbar kürzeste Formel. Die in der Verwendung des Wortes in Augusteischer Zeit sich exemplarisch abzeichnende Auffassung von der Rolle des Dichters und der Dichtung tritt nirgendwo klarer zutage als bei Horaz. Der Zusammenhang auch einiger anderer Stellen macht dabei deutlich, wie sehr der Begriff ,vates' dazu angetan war, mehr als bloßes Synonym für ,poeta' zu sein, wie sehr er sich dazu eignete, den gesamten mit dem Anspruch des Dichters auf göttliche Legitimation einhergehenden Vorstellungskatalog in sich zu fassen (A. p. 3 9 1 - 4 0 7 ) 2 4 : 22 Vgl. Eduard Fraenkel: Horaz, Darmstadt 21967, 60 ff. 23 Vgl. Mähl: Goldenes Zeitalter 81 f. 24 S. dazu auch Dahlmann aaO. (Anm. 1) 346. In der übers. Wilhelm Schönes (in Anlehnung an Friedrich Schulteß): „Als die Menschen noch in Wäldern hausten, hat Orpheus als priesterlicher Künder des göttlichen Willens sie erzogen, daß sie sich abwandten von Bluttaten und gräßlicher Speise: weshalb auch die Sage meldet, er habe Tiger zur Sanftmut bekehrt und tollwütige Löwen. Sie meldet auch von Thebens Erbauer Amphion, Steine habe er durch Lautenklang bewegt und durch des Lieds ein-

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silvestris homines sacer interpresque deorum caedibus et victu foedo deterruit Orpheus, dictus ob hoc lenire tigres rabidosque leones; dictus et Amphion, Thebanae conditor urbis, saxa movere sono testudinis et prece blanda ducere quo vellet. fuit haec sapientia quondam, publica privatis secernere, sacra profanis, concubitu prohibere vago, dare iura maritis, oppida moliri, leges incidere ligno. sie honor et nomen divinis vatibus atque carminibus venit. post hos insignis Homerus Tyrtaeusque mares animos in Martia bella versibus exaeuit; dictae per carmim sortes et vitae monstrata via est et gratia regum Pieriis temptata modis ludusque repertus et longorum operum finis: ne forte pudori sit tibi Musa lyrae sollers et cantor Apollo. Unüberhörbar in dieser Passage der Ars poetica ist der apologetische Grundton. Die Zeilen versammeln beinahe alles, was in der Antike zum Ruhm der Dichtung vorgebracht worden ist. Horaz greift die alten Ansichten von den Dichtern als prophetischen Dolmetschern göttlichen Willens, als ersten Lehrmeistern und Gesetzgebern der Menschheit ebenso auf wie die in den Orpheusund Amphion-Mythen verborgene Symbolik dichterischer Macht und verwandelt so äußerst geschickt und wirkungsvoll kulturgeschichtliche Thesen zu dichtungsapologetischen Argumenten. Unter Hinweis auf ihre zivilisatorische Funktion wird die Dichtung zur ursprünglichen Instanz der Menschheitsgeschichte und der Dichter in der legendär-urbildlichen Gestalt Orpheus' und Amphions gewissermaßen zu deren Stifter. Die ausdrückliche Bezeichnung des Dichters als ,vates* in diesem Kontext spricht für sich. Zumindest annäherungsweise, als mehr oder weniger starker Reflex eines solchermaßen archetypischen Bilds, sind die hier mit dem Begriff ,vates' verbundenen Vorstellungen von der Funktion des Dichters in die Augusteische Zeit eingegangen. Die in einer Epoche auftauchenden und von ihr bevorzugten Idealvorstellungen dichterischer Existenz enthalten, zumal dann, wenn sie wie von Horaz in eine mythische oder archaische Vorzeit projiziert und so scheinbar direkter gegenwärtiger Bezüge enthoben sind, oft einen zwar getarnten, aber nichtsdestoschmeichelnde Gewalt geführt, wohin er wollte. Dies war die uranfängliche Sprache der Weisheit: sie lehrte Volksbesitz vom Sondergut, Heiliges vom Weltlichen scheiden; sie wehrte schweifender Lust und schuf des Ehbunds Satzungen; sie gründete Städte und grub Gesetzes Schrift auf Tafeln. So ward Ruhm und Ehre den göttlichen Sängern und der Dichtung. Nach diesen beiden ragt die hehre Gestalt Homers. Tyrtäus hat Mannesseelen durch Lieder zum blutigen Kampf gestählt; Gottessprüche hat der Vers verkündet und wegweisenden Lebensrat. Musischer Klang warb um Königshuld; er schuf auch das festliche Bühnenspiel als Abschluß langer Arbeitszeiten. Führwahr, nicht schämen darfst du dich, wenn die Muse lyrischer Kunst dir wert ist und der Spielmann Apollo."

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weniger für verbindlich gehaltenen Anspruch. Die Geschichte der Dichtungstheorie zeigt, wie verfehlt es wäre, solche Bilder als lediglich beiläufige historische Reminiszenzen abzutun und ihren programmatischen Sinn zu leugnen. Allemal hat die Berufung selbst auf eine nur entfernte Nachkommenschaft Orpheus' und Amphions doch auch etwas von deren Ruhm und Glanz aufkommen lassen. Horaz' Verse haben denn auch in späteren Zeiten, vornehmlich dann, wenn es um die Apologie der Dichtung und das Selbstverständnis des Dichters ging, eine starke Wirkung ausgeübt. Von den Autoren der Renaissance wurden sie immer und immer wieder angeführt. Die jedoch bereits bei Horaz, trotz aller Gunst des geschichtlichen Augenblicks auszumachende Kluft zwischen einer auf Legenden und mythischen Konstruktionen aufbauenden Apotheose der Dichtung und deren tatsächlicher gegenwärtiger Funktion wurde dort freilich nicht kleiner. Schließen ließ sie sich auch nicht in der Romantik, die unter dem Eindruck geschichtlicher Umwälzung dem Traum von der orphischen Macht des Dichters selbstbewußter als jede Epoche zuvor reale Züge zu verleihen suchte. Bezeichnend für das von Horaz vertretene Selbstverständnis des Dichters sind zwei weitere Stellen, an denen er das Wort ,vates' für sich in Anspruch nimmt. Eine kaum zu überbietende Selbstapotheose und stolze Verkündung kommenden Ruhms enthält die zwanzigste Ode des zweiten Buchs mit ihrem Bild vom Dichter als singendem Schwan (canorus ales [v. 15 s.]), der sich über die Erde erhebt, um seinen Gesang allen Völkern und Ländern kundzutun. In der sechsten Ode des vierten Buchs, einer Art Vorgesang zum Carmen saeculare, verbindet Horaz das Lob Apolls als Rache- und Schutzgott Trojas - und damit, gestützt auf die Aeneas-Sage, auch Roms - mit dem Lob des Dichtergotts. Das Selbstbewußtsein des Dichters, der seinem Gesang unter Berufung auf göttliche Macht sakrale Würde verleiht, und das Geschichtsbewußtsein des Römers, der mit der Aeneas-Sage zugleich auch an den ihr seit Vergil impliziten Gedanken der Weltsendung Roms rührt, ergänzen sich hier. Die Ode ist noch in anderer Hinsicht interessant (v. 29 s.): Spiritum Vhoebus mihi, Phoebus artem Carminis nomenque dedit poetae: Das formuliert aufs neue und erstmals in der römischen Literatur in derart persönlicher Form die alte griechische, von Cicero vermittelte Doktrin von der Dichtung als göttlicher Gabe. In verwandter Gestalt, als dionysischer Enthusiasmos, klingt das Motiv der ,theia mania' auch an anderen Stellen der Oden an 2 5 . Die in den Oden beanspruchte Rolle erscheint wie die persönliche Einlösung einer zuvor bereits in den Satiren gegebenen Definition des Dichters (Serm. I 4, 43 s.) 26 : Ingenium cui sit, cui mens divinior atque os magna sonaturum, des nominis huius honorem. 25 So in Carm. II 19 und III 25, in denen sich Horaz als dionysisch-begeisterter Sänger präsentiert. 26 In der Ubers. Schönes: „Nur wer von schöpferischer Phantasie erfüllt, von göttlicher Be-

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Dies ist der Kernpunkt einer Passage (Serm. 1 4 , 39-62), in der Horaz, aristotelische und platonische Gedanken gleichermaßen weiterführend, den Dichter (poeta) kategorisch vom bloßen Verfasser von Versen, vom Verseschmied, und Dichtung als geniale Schöpfung von mechanischer Wortdrechselei trennt. Solche Unterscheidung lebt als ein bevorzugtes Thema, als Standardargument für die Glorifizierung des Dichters in der apologetischen Literatur fort. Es mag auf den ersten Blick erstaunen, daß Horaz die Definition benutzt, um sich selbst das Recht, ,poeta' tituliert zu werden, abzusprechen (v. 39 s.) 2 7 : primum ego me illorum, dederim quibus esse excerpam numero [...]

poetis,

Doch gerade diese Bescheidenheit unterstreicht die der Vorstellung hier beigemessene Bedeutung, beweist, wie weit Horaz noch von jeder sie zum Klischee stempelnden Verwendung entfernt ist. Sein Verzicht gilt dem Autor der Satiren, die weder als Gattung noch im Stil - der ja, wie die lateinische Bezeichnung sermones andeutet, alltäglicher Rede bewußt nachkommen will — das angesprochene hohe Ideal des Dichters erfüllen können 271 . Ein Widerspruch zu den Oden erwächst daher daraus nicht. Dort herrscht ein anderer Ton, herrschen andere Themen, mithin auch ein anderer Anspruch. Der Rekurs auf alte Bilder göttlicher Weihe des Dichters hat indes Horaz nicht davon abgehalten, sich in der Ars poetica im Kontext dichtungstheoretischer und poetologischer Erwägungen über diejenigen seiner Zeitgenossen zu mokieren, die, Demokrit für sich in Beschlag nehmend, einem kunst- und geistlosen Primitivismus und einem falsch verstandenen Geniebegriff huldigten {A.p. 295-301) 28 : Ingenium misera quia fortunatius arte credit et excludit sanos Helicone poetas Democritus, bona pars non unguis ponere curat, non barbam, secreta petit loca, balnea vitat. nanciscetur enim pretium nomenque poetae, si tribus Anticyris caput insanabile numquam tonsori Licino conmiserit. geisterung einen Hauch verspürt und in erhabenen Tönen singt, nur dem magst du die Ehre dieses Namens gönnen." Hier macht sich nicht nur die platonische Tradition bemerkbar; mit anderer Begründung hatte auch Aristoteles in der Poetik darauf hingewiesen, daß das Versmaß noch nicht den Dichter mache. 27 In der Ubers. Schönes: „Vor allem dies: zur Zahl der Dichter, denen ich mit Recht den Ehrennamen gönne, möchte ich mich selbst nicht rechnen". 27a Vgl. dazu auch Reitze aaO. (Kap. 2, Anm. 4) 20 ff. 28 In der übers. Schönes: „Genie ist glückverheißender als der mühselige Kunstfleiß: so meint Demokrit und will vernünftige Dichter vom Helikon verweisen. Die Folge ist: manch einer mag Nägel und Bart nicht stutzen lassen; er sucht die Einsamkeit und meidet die Bäderhallen. Sein Wert und Name als Dichter ist ja gesichert, wenn er seinen Kopf in der völligen, durch dreifache Nieswurzzufuhr nicht heilbaren Verrücktheit erhält und niemals ihn dem Bartscherer Licinus in Pflege gibt."

42

Die Tradition

Wenn er jedoch solchem Banausentum entgegenhält (v. 3 0 9 ) 2 9 :

scribendi recte sapere est et principium et fons und wenig später die Frage, ob Talent (natura) oder technisches Können (ars), Genie (ingenium) oder Fleiß (Studium) den Dichter mache, als hinfällig abtut, da beides unerläßlich sei (v. 4 0 8 - 1 8 ) , spricht daraus ebenfalls keine Zurücknahme eigenen Anspruchs, sondern die ironisch-distanzierte Haltung des erfahrenen, Urbanen, über sein Metier souverän herrschenden Autors gegenüber hochstaplerischem literarischem Dilettantismus 30 . Der freilich trotzdem nicht zu leugnende Kontrast zwischen der andernorts vielfach betonten göttlichen Provenienz des Dichters und des Dichtens und der eher profan-nüchternen Behandlung prinzipieller poetologischer Fragen in der Ars poetica läßt sich nicht allein durch die thematische, stilistische und pathetische Differenz zwischen den Oden und den Episteln erklären; vielmehr beweist gerade das Beispiel von Horaz, wie schwer es ist, die beiden bereits seit der griechischen Antike parallel existierenden und schon im Ansatz konträren Grundmodelle in Einklang zu bringen: die „technische" mit der „hochfliegenden", „begeisterten" Poetik 3 1 . Elemente beider Modelle - in verkürzender, typologisch simplifizierender Umschreibung: des platonischen und des aristotelischen — finden sich bei Horaz. Und besonders die Epistula ad Pisones belegt, daß sich kaum gleichzeitig über göttliche Berufung und literarisch-technische Probleme reden läßt. Zu unterschiedlich sind die Argumentationsebenen, zu unterschiedlich die jeweiligen Absichten. Spätestens seit Horaz gehört diese Diskrepanz von realistischer Poetik einerseits und utopischer Dichtungstheorie anderseits zur problematischen Mitgift vieler apologetischer Versuche. Besonders deutlich tritt das in der Renaissance zutage. Auch die Romantik hat sich dem, obwohl sie Vorstellungen vom intuitiven, inspirierten Schaffen stärker als je zuvor in den Vordergrund rückte, nicht gänzlich entziehen können. Sie hat das Problem nur zu verdecken versucht, dichtungstheoretische Wunschvorstellungen proklamiert und im stillen Poetik betrieben, artistische Arbeit geleistet. Zwar hat gegen Ende der Augusteischen Zeit Ovid auf das von Vergil und Horaz formulierte Selbstverständnis des Dichters zurückgegriffen und - augenscheinlich bereits mit dem Synkretismus des Nachgeborenen - die seiner Generation geläufigen und liebgewordenen Bilder und Motive dichterischer Herrlichkeit versammelt, doch sollten sie in der späteren römischen Literatur nurmehr gelegentlich ihren Platz finden. Es sieht so aus, als habe der Verlust eines historisch wie literarisch gleichermaßen günstigen Augenblicks ihnen einen In der Übers. Schönes: „Dichtung rechter Art hat in gesunder Klarheit ihren Grund und Ursprung." 3 0 Horst Rüdiger weist im Kommentar zu v. 4 0 8 ss. in seiner zweisprachigen Ausgabe der Ars poetica (Zürich 1961, 64) darauf hin, daß es sich bei dieser Frage bereits um einen rhetorischen Topos gehandelt habe, und betont die artifiziell-technische Tendenz bei Horaz, die hohe Einschätzung der ars gegenüber der natura. Das freilich gilt für die Poetik, nicht für die Dichtungstheorie. 31 Vgl. dazu Kroll aaO. (Kap. 1, Anm. 19) 34. 29

Rom: Poeta Vates

43

Großteil ihrer Strahlkraft und Verbindlichkeit genommen. Hinzu kommt, daß die Poetik als autonome Disziplin nach Horaz für rund ein Jahrtausend aus dem Blickfeld geriet und durch die Schulfächer des Triviums, vor allem Grammatik und Rhetorik, ersetzt wurde 32 . Sie ließen einer enthusiastischen Diditungstheorie keinen Spielraum. Unterschwellig allerdings haben die alten Vorstellungen fortgelebt. So blieb neben der vom Dichter als ,vates' zumal die vom ,furor poeticus', vom musischen Enthusiasmos, dem Mittelalter vertraut " . Während dieser Zeit, die das griechische Erbe kaum und nur fragmentarisch aus eigener Lektüre kannte, wurde die römische Literatur zur vermittelnden Instanz, nicht zuletzt in dichtungstheoretischer Hinsicht.

Vgl. Curtius: Europ. Lit. 157. « Vgl. ebd. 468, sowie Bude: Dichtungslehren

88.

4 Das Mittelalter: Dichtungstheorie und Theologie ]'ai toujours pensé que la poésie était surtout la langue des prières, la langue parlée et la révélation de la langue intérieure. Quand l'homme parle au suprême interlocuteur, il doit nécessairement employer la forme la plus complète et la plus parfaite de ce langage que Dieu a mis en lui. Cette forme relativement parfaite et complète, c'est évidemment la forme poétique [...] Depuis les temps les plus reculés les hommes l'ont senti par instinct; et tous les cultes ont eu pour langue la poésie, pour premier prophète ou pour premier pontife les poètes. Alphonse de Lamartine: Méditations poétiques (1849) [...] what is more conceivable than that ail poetry may have heen providentially bestowed on man as the first elements, the préludé, so to speak, of genuine piety? John Keble: Lectures on Poetry (1832-41)

Ähnlich hochfliegende Begriffe von der Würde und Geltung des Dichters und der Dichtung, wie sie die Antike hervorbrachte, ließ das Mittelalter zunächst kaum aufkommen. Zu groß war die religiös, erkenntnistheoretisch und psychologisch motivierte Skepsis gegenüber der Poesie, in der christlichen Spätantike nicht anders als im frühen Mittelalter und in der Scholastik. Vor allem die antike Mythologie und Dichtung geriet neuerlich unter den Verdacht der Lügnerei und Verführung 1 . Dem totalitären Herrschaftsanspruch der Theologie und der Kirche mußte jede Literatur, die nicht wenigstens mittelbar der Affirmation christlichen Glaubens diente, suspekt sein. Die der Poesie zugeschlagenen Enthusiasmos- und Furor-Vorstellungen verletzten die kirchliche Inspirationslehre ebenso wie jede vom Heidentum formulierte Rolle des Dichters als authentischem Vermittler von Wissen und Erkenntnis dem christlichen Offenbarungsbegriff zuwiderlief. Dennoch formten sich aus dieser Opposition heraus Gedanken, die einer Neuprägung dichterischen Anspruchs indirekt Vorschub leisteten. Am wenigsten den Gebildeten unter ihren christlichen Verächtern konnte das stilistisch-ästhetische Gefälle zwischen den kanonisierten großen Dichtungen der Antike und dem an diesen Mustern gemessen kunstlos, beinahe unbedarft wirkenden sprachlichen Gewand der Bibel verborgen bleiben; gleichfalls nicht gleichgültig bleiben konnten sie gegenüber „den Angriffen des gelehrten Hei1

Vgl. dazu Curtius: Europ. Lit. 459, und Horst Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus, Hildesheim 21966 (Repr. der Ausg. Hamburg 1937), 69 [zit.: Rüdiger: Humanismus] .

Das Mittelalter: Dichtungstheorie und Theologie

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dentums auf die einfache, unkünstlerische Sprache der Heiligen Schrift" 2 . Aus dem verständlichen Bemühen heraus, einerseits solchen Angriffen zu begegnen 3 , und anderseits ihr eigenes, an antiken Vorbildern und antikem Geschmack geschultes, oft hoch entwickeltes Stilempfinden mit der scheinbar kunstlosen Form der Bibel zu versöhnen, begannen die Kirchenväter, allen voran Ambrosius, Hieronymus und Augustin, die Sprache der Heiligen Schrift auch literarisch-ästhetisch zu analysieren und zu verteidigen. Ergebnis solcher Rechtfertigungsversuche war eine erstmalige künstlerische Würdigung der Bibel, und zwar mittels Kriterien, die der klassischen antiken Poetik entstammten. So belegten die Patres „rhetorische Stilvorschriften mit Bibelzitaten" 4 und wiesen antike Metren und Tropen in der Bibelsprache nach. Für Hieronymus beispielsweise, den versierten Kenner des dichterischen Erbes der gentilitas, war die Bibel nicht mehr nur einseitig „Heilsurkunde", sondern auch „literarisches Corpus" 5 . Wenngleich solche Nachbarschaft zur antiken Literatur konstruiert ist und die literarische Verteidigung der Bibel unter den Normen der tradierten griechischen und römischen Poetik der stilistischen und ästhetischen Eigenart und Fremdheit des Objekts kaum gerecht wird, setzte sie eine Literarisierung der Bibel ins Werk, die der Dichtungsapologie neue wertvolle Impulse zu liefern imstande war 6 . Denn jeder Hinweis auf die Poetizität der Bibel, jede qualitative Gleichstellung ihres künstlerischen Werts mit dem der heidnischen Literatur erweiterte nicht nur implizit den Poesiebegriff, sondern war darüber hinaus dazu angetan, die Poesie generell aufzuwerten. Die Argumente ließen sich in ihrer Intention ohne Schwierigkeiten verkehren, obgleich dies nicht im Sinne ihrer Urheber lag: wenn die Bibel - jedenfalls einige ihrer Bücher poetische Gestalt besaßen, die Heilige Schrift sich der Poesie bediente, konnte diese an sich schwerlich etwas Unnützes, Schlechtes sein. Im Zuge solcher Überlegungen, die gegen Ende des Mittelalters mehr und mehr an Boden gewannen, vermochte die literarische Apologie der Bibel zur Verteidigung der Dichtung auf christlich-religiöser Grundlage zu werden. Ein weiteres Moment kam hinzu: die Allegorese. Ihre Tradition war lebendig. Das hellenisierte Judentum hatte die Methoden der Homer-Interpretation auf das Alte Testament übertragen und weiterentwickelt. Von der Patristik, namentlich von Origines und Augustin, wurde die Allegorese auf das Neue Testament ausgedehnt 7 . Zugleich erfuhr die antike Tradition durch Macrobius' 2

3 t 5 6

7

Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Dt. Barockpoetik und rhetorische Tradition, Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1966 ( = Ars Poetica. Texte und Beiträge zur Dichtungslehre und Dichtkunst 1), 23 [zit.: Dyck: Ticht-Kunst]. Vgl. ebd. Ebd. Curtius: Europ. Lit. 83. Zu den patriotischen und mittelalterlichen Ursprüngen dieser Literarisierung der Heiligen Schrift s. Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jh., Bonn (Diss.) 1972, 25-35, sowie Dyck: Ticht-Kunst 136 ff. Zur Allegorese bei Augustin vgl. Curtius: Europ. Lit. 83 f,

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Die Tradition

allegoretische Vergil- und Cicero-Deutung neuen Auftrieb 8 . Wie zuvor bereits das Homers wurde bei Macrobius Vergils Werk zum Inbegriff enzyklopädischen Wissens 9 . Die interpretatio christiana der vierten Ekloge brachte Vergil im Laufe des Mittelalters sogar in den Ruf eines Propheten 10 . Ob es sich nun um figurative Interpretation biblischer oder um Ausdeutung antiker Texte handelte - das allegoretische Denken prägte das Literaturverständnis des Mittelalters entscheidend11 und wirkte auch noch während der Renaissance nach. Die für die dichtungstheoretische Argumentation so wichtige Verbindung zwischen christlicher Bibel- und heidnisch-antiker Dichtungs-Allegorese ließ sich dabei um so leichter bewerkstelligen, als die vom hellenisierten Judentum geschaffene „Theorie vom Primat Israels in der Kulturentwicklung und von Griechenland als dem Schüler der biblischen Weisheit" 12 in die frühchristliche Apologetik Eingang fand 13 , von der Patristik weitergeführt und vom Mittelalter rezipiert wurde. Aufgrund dieses ,Altersbeweises', der die Kultur der Antike als zeitlich verspätete Spiegelung biblischen Altertums begriff 14 , war es möglich, das literarische Erbe der gentilitas, jedenfalls teilweise, in die mittelalterliche Vorstellungswelt einzubringen und gewissermaßen zu christianisieren 15 . Die - von kirchlicher Seite allerdings oft bekämpfte - Parallelisierung von Bibel und Antike erlaubte es, „antike Philosophen und Dichter zu Zeugen der Offenbarung" zu machen16 - wie bei Hieronymus 17 - oder ein umfängliches Konkordanz- und Entsprechungssystem zwischen biblischer und antikheidnischer Weisheit zu entwickeln - wie in Isidors Etymologiae18; sie machte die heidnische Literatur christlich-allegoretischer Deutung zugänglich. Unter Hinweis auf die mittelbare Abhängigkeit der antiken Kultur von der hebräischen und durch allegoretische Auslegung ließ sich ein zumindest relativer, mittelbarer Wahrheits- und Erkenntniswert der antiken Dichtung, vor allem ihrer Mythologie behaupten. Auf dieser Basis wurde die Allegorese das „große allgemeine Hilfsmittel christlicher Interpretation" antiker Mythen und Fabeln I9 . Neben der literarischen Apologie der Bibel und der Allegorese tradierte die Patristik dem Mittelalter noch einen anderen Gedanken, der der Verteidigung der Dichtung zustatten kommen konnte: die Vorstellung einer archaischen Identität von Mythologie und Poesie, Priester und Dichter. Ihr Ursprung reicht auf 8

Zur Überschneidung der verschiedenen Traditionen allegoretischen Denkens im Mittelalter vgl. ebd. 211 f. 9 Zu Macrobius s. ebd. 441 ff., und Comparetti aaO. (Kap. 2, Anm. 15) 60 ff. 10 S. dazu Comparetti aaO. (Kap. 2, Anm. 15) 90-97; Mähl: Goldenes Zeitalter 104. 11 Zur mittelalterlichen Allegorese s. auch Spingarn: Criticism 7 ff. 12 Curtius: Europ. Lit. 451. 13 So z. B. bei Clemens von Alexandrien und bei Origines (vgl. Curtius: Europ. Lit. 218 f.; 226 f.). « S. dazu ebd. 226; 443. 15 Zu dieser Art von ,Christianisierung' der Antike vgl. Borinski: Antike I 9 f. 16 Curtius: Europ. Lit. 219, Anm. 1. 17 Vgl. ebd. 83, und Borinski: Antike I 9. 18 Vgl. Curtius: Europ. Lit. 447 ff. 19 Borinski: Antike I 21; vgl. auch 22 f.

Das Mittelalter: Dichtungstheorie und Theologie

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Aristoteles zurück. In der Metaphysik hatte er sowohl die alten Dichter, wie beispielsweise Hesiod, als auch die Vertreter einer archaischen Naturlehre als theologoi bezeichnet20 und damit auf ein noch mythisches Weltverständnis hingewiesen, dem er freilich das logisch-rationale als höhere Stufe kontrastierend entgegensetzte. Die Bezeichnung theologoi erscheint dabei um so verständlicher, als die Griechen „keine religiösen Urkunden, keine Priesterkaste, keine ,heiligen Bücher'" besaßen und „ihre Theologie von Dichtern geformt" war 21 . Das legte den Gedanken an eine vor allem in archaischer Zeit auch theologische Funktion der Dichtung nahe. Varro, Cicero und die Grammatiker der späten Kaiserzeit übernahmen den Begriff des Dichtertheologen (,poeta theologus'); dorther rezipierte ihn die Patristik, wenn auch wie im Fall Augustins22 oft mit deutlicher Skepsis gegenüber jedem sich dahinter verbergenden Anspruch der Dichtung auf göttliche Wahrheit; Isidor vermittelte ihn dem Mittelalter23. Mit der Bibelpoetik, der Allegorese und der Vorstellung vom poeta theologus hatten die Patristik und das frühe Mittelalter Ideen geschaffen bzw. tradiert, die sich miteinander verbinden und zu dichtungstheoretischen Argumenten modifizieren ließen. Wurde die Bibel als Werk der Poesie verstanden, so verlor diese das Odium des Spielerisch-Nutzlosen, Verderblichen, zumal dann, wenn die Allegorese es erlaubte, sie vom Vorwurf der Lügnerei zu befreien; die Allegorese vermochte, zu dichtungstheoretischen Zwecken benutzt, die Fiktion als poetische Hülle der Wahrheit und Erkenntnis zu erweisen und die Poesie zu einer Art versteckten Philosophie zu machen; und die Auffassung vom religiösen Ursprung der Poesie konnte diese zu einer Art ,Theologie' erklären24. Das Resultat solcher Umfunktionierung war eine .theologische Poetik' 25 , die nicht selten unter Berufung auf kirchliche Autoritäten und vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung christlichen Denkens mit der Antike patristische Anregungen sich zunutze machte und in den Dienst der Verteidigung der Poesie gegen den Absolutheitsanspruch scholastischer Theologie und Philosophie stellte. Geleistet hat dies vor allem die Dichtungstheorie des Trecento. Mussato führte in seinen apologetischen Episteln den göttlichen Ursprung der Dichter ins Feld 26 , ihre vormals religiöse und enzyklopädisch-wissenschaftliche Funktion als altera [... ] Theologia und altera [... ] philosophia27 und griff auch das alte Wort ,vates' wieder auf, wobei er sich auf dessen phantasievolle Herleitung von ,vas dei' stützte28. Der Hinweis auf die frühere Einheit 20 S. Metaphysik 1000a; dazu Sperduti: Divine Nature 231, und Curtius: Europ. Lit. 224 f. 21 Curtius: Europ. Lit. 211, vgl. auch 46. 22 S. De civitate Bei V I 5. 2 3 Zur Genealogie der Vorstellung vom poeta theologus s. Curtius: Europ. Lit. 224 ff. 2 4 Zu diesem „phantasievollen Spielen mit altersgrauen Traditionen" (ebd. 473) vgl. ebenfalls bei Curtius Kap. 11: „Poesie und Philosophie" (210-20), sowie Kap. 12: „Poesie und Theologie" (221-34). 25 Zum Begriff vgl. Buck: Dichtungslebren, Kap. „Die Verteidigung der Poesie" (67-87). 26 In Epist. I V (s. Buck: Dichtungslehren 70). 27 S. Epist. IV und Epist. VII, dazu Buck: Dichtungslehren 71, auch 67 ff., und Curtius: Europ. Lit. 222 f. 28 S. Curtius: Europ. Lit. 223.

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Die Tradition

von Dichter und priesterlichem Künder Gottes - Mussato exemplifizierte sie an Moses, Hiob, David und Salomo - diente dabei ebenso zur Apologie der Poesie wie die Betonung der hinter dem poetischen Gewand verborgenen Wahrheit antiker Mythen. Ähnliches findet sich bei Petrarca29. Ungewöhnliche Aktualisierung und Adaption erfuhr die theologische Poetik bei Dante. Er rechtfertigte auf ihrer Grundlage nicht nur die Dichtung schlechthin als quasi divinum quoddam munus30, sondern übertrug die daraus hergeleitete „Vorstellung vom Dichter als dem von Gott erwählten Künder der Wahrheit" 31 erstmals uneingeschränkt auf die eigene Person. Aus diesem Selbstbewußtsein heraus bezeichnete er die Commedia als poema sacroi2, als sacrato poema33 und machte, sogar Kaiser und Päpste in sein Inferno verbannend, das Wort des Dichters zur gottgesandten richterlichen Instanz 34 . Ein ,opus doctrinale', ein Werk der Wissenschaft und Philosophie35, nannte er zudem, unbeschadet ihrer poetischen Gestalt, die Commedia, und nahm so „die Erkenntnisfunktion in Anspruch, welche die Scholastik der Dichtung bestritt" 36 . Doch nicht nur das: ähnlich wie sein großes Vorbild und spiritus rector Vergil verlieh er der Dichtung erneut einen - nun freilich christlich bestimmten - heilsgeschichtlichprophetischen Zug. Mehr noch vielleicht als aus der mittelalterlichen Christianisierung Vergils erklärt sich Dantes Vorliebe für den Römer aus dieser Affinität dichterischen Sendungsbewußtseins. Was für Vergil die vierte Ekloge und die Aeneis waren, wurde für ihn die Commedia mit ihrer dem göttlichen Heilsplan folgenden Einteilung in Inferno, Purgatorio und Paradiso. Ausführlicher und systematischer als seine Vorgänger Mussato, Dante und Petrarca hat sich Boccaccio mit der theologisch und allegoretisch motivierten Verteidigung der Dichtung befaßt. Der Wert seiner Ausführungen steckt allerdings weniger in der Originalität der Argumente, auch nicht wie bei Dante in ihrer Anverwandlung zu ganz persönlichem Anspruch, sondern in der geschickten Zusammenfassung dessen, was zuvor bereits vorgebracht worden war. Unter den Apologeten im Trecento ist Boccaccio der große Kompilator. Das geht nicht nur aus dem vierzehnten und fünfzehnten Buch der Genealogiae deorum gentilium hervor, wo er die Vorwürfe gegen die Poesie Punkt für Punkt zurückweist 37 ; auch die Vita di Dante, ein rhetorisches Meisterwerk, hat Rekapitu29 Zur theologischen Poetik bei Petrarca s. Francisci Petrarcbae Operum T. II, Basileae 1554, 1203 (Repr. Ridgewood, New Jersey, 1965); dazu auch Buck: Dichtungslehren 75; Curtius: Europ.Lit. 233; generell zu dieser Entwicklung Borinski: Antike I 26 f. 30 Epist. X I I I 47. 3 1 Buck: Dichtungslehren 50. 32 Par. X X V 1. 33 Ebd. X X I I I 62. 34 Vgl. Buck: Dichtungslehren 52. 35 s. Epist. X I I I 18; Buck: Dichtungslehren 43. 36 Curtius: Europ. Lit. 232; zur negativen Haltung der Scholastik gegenüber der Poesie vgl. ebd. 473-78. 37 Zur Apologie der Dichtung in den Genealogiae s. Borinski: Antike I 112 bis 17, sowie Buck: Dichtungslehren 77ff.; dabei taucht u.a. die alte, aus dem ,Altersbeweis' des hellenisierten Judentums herrührende Gleichung Moses = Musaios (vgl. dazu Curtius: Europ. Lit. 218) wieder auf (s. Borinski: Antike I 116 f.).

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lationscharakter38, namentlich dort, wo Boccaccio den Rahmen einer biographisch-literarischen Skizze der Person und des Werks Dantes durchbricht, um grundsätzliche Fragen zu behandeln. Gerade das aber macht eine kurze Erörterung dieser Schrift lohnend; an ihr läßt sich exemplarisch die besondere Argumentationsweise der theologischen Poetik verdeutlichen. Schon die Stellung der aus vier Kapiteln bestehenden Apologie innerhalb der Vita ist interessant. Nur vordergründig scheint es sich um eine Abschweifung (transgressione) zu handeln, wenn Boccaccio am Ende des zwanzigsten Kapitels das Thema Dante verläßt und unter anderem erläutert, che cosa sia la poes't e che il poeta, e donde sia questo nome venuto39. Genauer betrachtet, erweist sich die damit in Angriff genommene Verteidigung der Poesie als sehr überlegt placiertes funktionales Element der Vita. Die Difesa dient, zwischen die Biographie Dantes und die Besprechung seines Werks eingeschoben, als Bindeglied und stellt, bezogen auf die literarische Würdigung seines großen Zeitgenossen, eine Art grundsätzlich angelegte Präambel zum konkreten Fall dar. Auch in anderer Hinsicht erscheint die prinzipielle Erörterung dichtungstheoretischer Themen innerhalb der Vita di Dante alles andere als unmotiviert. Nicht nur, daß Boccaccio seiner Biographie einen zuweilen apologetischen Zug ins LegendenhaftSakrale verleiht, wie vor allem die Namenserklärung (Dante = der Gebende) und die ausführliche Erzählung eines Traums der Mutter Dantes sowie die umständliche allegorische Deutung dieses Traums zeigen40. Boccaccio feiert Dante überdies mit deutlichen Reminiszenzen an das vergilische und horazische Erneuererpathos als Begründer einer großen volkssprachlichen Literatur im fiorentino idioma41: Er habe die verstorbene Poesie (la morta poesi) wieder zum Leben erweckt und den von Italien verbannten Musen den Weg geöffnet. Aus dieser Perspektive heraus bot sich willkommener Anlaß, zu Fragen nach dem Wesen und Wert der Dichtung prinzipiell Stellung zu nehmen und zugleich das beginnende humanistische Selbstbewußtsein zu dokumentieren. Wo konnte eine Apologie günstigeren Platz finden als hier? Den Ausgangspunkt der Difesa bilden einige Bemerkungen zum Ursprung der Dichtung. Boccaccio führt ihn auf die aus einer Art Naturreligion sich entwickelnde Verehrung einer Gottheit, einer göttlichen Macht zurück, der man anders als nur mit Gesten und wortlosem Kultus habe gegenübertreten wollen42: S. dazu auch Curtius: Europ. Lit. 234, Anm. 1. Giovanni Boccaccio: Vita di Dante e difesa della poesia, a cura di C. Muscetta, Roma 1963, 33 [zit.: Boccaccio: Vita], 4° S. ebd. 7 ; 52 s. 41 S. ebd. 7. 42 Ebd. 34; dt. nach: Giovanni Boccaccio: Das Leben Dantes, übers, v. Otto Frh. von Taube, Leipzig 1909, 4 2 f . [zit.: Taube]: „Und um dieser Macht keine schweigende oder beinahe stumme Ehrung darzubringen, dünkte es ihnen, daß man sie mit tönenden Worten herabziehen und den eigenen Notdürften geneigt machen sollte. Und ebenso, wie sie meinten, daß jene jedes andere Ding an Adel überträfe, wollten sie auch, daß, weit verschieden von jeder volksüblichen oder öffentlichen Art zu reden, Worte sich fänden, wert, vor der Gottheit gesprochen zu werden, in denen man ihr darbiete heilige Schmeicheleien. Dazu verfügten sie, damit diese Worte mehr Wirksamkeit hätten, daß sie 38

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E, accioché a questa cotale potenzia tacito onore o quasi mutolo non si facesse, parve loro che con parole d'alto suono essa fosse da umiliare e alle loro necessità rendere propizia. E cosi come essi estimavano questa eccedere ciascuna altra cosa di noblilità, cosi vollono che, di lungi da ogni plebeio o publico stilo di parlare, si trovassero parole degne di ragionare dinanzi alla divinità, nelle quali le si porgessero sacrate lusinghe. E oltre a questo, accioché queste parole paressero aver più d'efficacia, vollero che fossero sotto legge di certi numeri composte, per li quali alcuna dolcezza si sentisse, e cacciassesi il rincrescimento e la noia. E certo, questo non in volgar forma o usitata, ma con artificiosa ed esquisita e nuova convenne che si facesse. Diese religionsgeschichtlich-anthropologische Ursprungsgeschichte, deren Gedanken in direkter Tradition bis zu Isidor zurück verfolgbar sind 4 3 , ist aus zweierlei Gründen beachtenswert: zum einen hat der Hinweis auf die ursprünglich religiöse Funktion der Dichtung bereits implizit apologetischen Charakter, beinhaltet er doch eine, wenngleich noch versteckte, Kritik an jeder Diffamierung der Poesie als eitlen Machwerks, als sinn- und nutzloser Spielerei; zum andern bereitet er die weitere Argumentation auf der Grundlage der theologischen Poetik vor 4 4 : E percioché molti non intendenti credono la poesia niuna altra cosa essere che solamente un fabuloso parlare, oltre al promesso mi piace brievemente quella essere teologia dimostrare [...] Um das zu beweisen, führt Boccaccio beinahe alles an, was dem Trecento zur Rechtfertigung der Poesie zu Gebot gestanden hat: Allegorese, Bibelpoetik und poeta-theologus-Vorstellung. Der Tradition allegoretischer Auslegung folgend, verteidigt er den Wahrheitsgehalt antiker Dichtung 45 : Se noi vorremo por giù gli animi e con ragion riguardare, io mi credo che assai leggiermente potremo vedere gli antichi poeti avere imitate, tanto quanto a lo 'ngegno umano è possibile, le vestigie dello Spirito santo; il quale, si come noi nella divina Scrittura veggiamo, per la bocca di molti, i suoi altissimi secreti revelò a' futuri, facendo loro sotto velame parlare ciò che a debito tempo per opera, senza alcuno velo, intendeva di dimostrare. Diese Stelle macht deutlich, wie sich die auf die Patristik zurückgehende Christianisierung der Antike zu dichtungsapologetinach dem Gesetze bestimmter Zahlen zu bilden wären, durch die ein angenehmes Klingen vernommen, Verdruß und Leidwesen aber vertrieben werden mochten. Und sicher ziemte es sich, daß dergleichen nicht in gemeiner oder gebräuchlicher Gestalt, sondern in kunstvoller, auserlesener und noch nie vernommener gebildet werden sollte." 4 3 S. Curtius: Europ. Lit. 449. 4 4 Boccaccio: Vita 35; in der übers. Taubes (44): „Und sintemalen viele Unverständige glauben, die Poesie sei nichts anderes als nur ein fabelndes Gerede, so beliebt es mir, abgesehen von dem Vorgeschickten [d. h. was Boccaccio über den religiösen Ursprung der Poesie gesagt hat], noch darzutun, daß sie Theologie ist." 4 5 Vita 36; dt. (Taube 4 4 f . ) : „Wollten wir die Vorurteile aufgeben und mit Vernunft zusehen, so glaube ich, könnten wir leicht gewahr werden, daß die Dichter des Altertums (soweit das dem menschlichen Geiste möglich ist) die Spuren des Heiligen Geistes befolgt haben, der, wie wir es aus der Heiligen Schrift wissen, durch den Mund vieler seine höchsten Geheimnisse der Zukunft offenbarte, indem er sie in einer Hülle das sagen ließ, was er zu seiner Zeit durch das Werk ohne jede Hülle zu offenbaren willens war."

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sehen Zwecken umformen und der christliche Wahrheitsbegriff sich mit der heidnischen Literatur vereinbaren ließ. Zwar ist deren Wahrheit im Unterschied zu der des Alten und Neuen Testaments für Boccaccio eher ethischer und mittelbarer denn religiöser und geoffenbarter Natur, aber das hindert nicht, auch der antiken Poesie einen verborgenen göttlichen Einfluß zuzuschreiben. Wahrheit bedeutet stets, wie gebrochen und vermittelt sie auch immer sei, Teilhabe an der göttlichen Wahrheit - auch darin steht Boccaccio in der christlichen Tradition. Ohne diese fundamentale These ist die besondere Beweisführung zur Verteidigung der Poesie weder im Trecento noch in der Renaissance recht erklärlich. Vorab galt es, die Fiktion als Hülle der Erkenntnis zu rechtfertigen und eine Beziehung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem, Sinn und Form, Gehalt und Ausdruck herzustellen. Diese freilich keineswegs schon dialektisch, sondern figurativ, allegorisch gedachte Beziehung wurde zu einem wesentlichen Kriterium literarischer Wertung, und Dichtung um so höher eingeschätzt, je mehr, je geschickter die Wahrheit, der Sinn sich hinter der poetischen Darstellung verbarg 46 . Ein beredtes Beispiel dafür ist nicht nur Dantes Commedia selbst, sondern gerade auch ihre - leider Fragment gebliebene - Interpretation durch Boccaccio. Obwohl sich bereits bei Boccaccio - allerdings weniger in der Vita als in den Genealogiae - in Ansätzen das Gefühl einer gewissen Eigengesetzlichkeit und Selbständigkeit der Dichtung abzeichnet47, hat sich die Ansicht, daß die dichterische Aussage, die bildliche, metaphorische Redeweise einen durchaus eigenen, nicht auf eine abstrakte, allgemeine Wahrheit reduzierbaren Erkenntniswert besitze, zwischen Form und Inhalt eine nicht vollständig auflösbare dialektische Beziehung bestehe, erst sehr viel später durchgesetzt. Die Mitte des X V I . Jahrhunderts beginnende Rezeption der Aristotelischen Poetik stellt zwar einen wichtigen Schritt auf diesem Weg dar, doch ist die eigentliche Unabhängigkeitserklärung des Poetischen das Produkt einer souveränen Ästhetik und eines poetologisch selbständigen Symbolbegriffs, wie sie das ausgehende X V I I I . Jahrhundert, besonders die Romantik brachte. Das - und nicht nur die Verunglimpfung der Poesie, die oft den unmittelbaren Anlaß gab - erklärt auch den defensiven Charakter, den die Dichtungstheorie im Trecento und weitgehend noch in der Renaissance aufweist. Solange die Poesie weder als selbständiger Bereich menschlicher Aussagen ausgewiesen war noch sich poetologisch und ästhetisch quasi aus sich selbst heraus rechtfertigen ließ, mußte sie zu ihrer Verteidigung wohl oder übel fremde Begriffs- und Bezugssysteme bemühen. Allerdings vermochte diese Argumentationsweise, so unangemessen und naiv sie heute erscheinen mag, zu verhindern, daß das Sprechen über Kunst zu einem Arkanum für Eingeweihte wurde wie stellenweise in der Romantik. So ist es nur konsequent, wenn Boccaccio in der Folge unter Berufung auf Papst Gregors Äußerungen über die besondere Gestaltungsweise der Heiligen Vgl. dazu Boccaccio: Vita 39. w Vgl. Buck: Dichtungslehren 83 ff. 46

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Die Tradition

Schrift und ihre verschiedenen Bedeutungsebenen versucht, ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen Hülle und Gehalt, Form und Sinn in der antiken Dichtung nachzuweisen48, und zu diesem Zweck Bibel und griechische Mythologie anhand einiger Beispiele miteinander vergleicht. Methode und Intention eines solchen Vergleichs sind offenkundig: Bibeldeutung und Bibelpoetik werden in apologetischer Absicht auf die Dichtung generell bezogen. Das Ergebnis, zu dem Boccaccio kommt, beruht auf Analogisierung: nicht anders als die Bibel verbirgt die mythologisierende Dichtung der Heiden Wahrheit - wenngleich nicht göttliche - hinter der poetischen Form; nicht anders als die Dichtung bedient sich auch die Bibel poetischer Techniken, bildlicher und metaphorischer Darstellung. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand 49 : E certo, se più non se ne dicesse che quello ch'è detto, assai si dovrebbe comprendere la teologia e la poesia convenirsi quanto nella forma dell'operare [ . . . ] So verwundert es nicht, daß Boccaccio denen, die den Dichtern vorwerfen, sie hätten Lügenmärchen verfaßt, rät, einen Blick auf die Bibel zu werfen 50 : Guardino adunque questi cotali le visioni di Daniello, quelle d'Isaia, quelle d'Ezechiel e degli altri del Vecchio Testamento con divina penna discritte, e da Colui mostrate al quale non fu principio né sarà fine. Guardinsi ancora nel Nuovo le visioni dell'evangelista, piene agl'intendenti di mirabile verità; e, se niuna poetica favola si truova tardo di lungi dal vero o dal verisimile, quanto nella corteccia appaiono queste in molte parti, concedasi che solamente i poeti abbiano dette favole da non potere dare diletto né frutto. Mehr noch: wer die Dichter tadele, weil sie ihre Lehren in Fabeln verborgen haben, der lästere damit indirekt auch „jenen Geist [ . . . ] der nichts anderes ist als Weg, Wahrheit und Leben" (quello Spirito, il quale nulla altra cosa è che via, vita e verità)51. Die Gegner der Poesie in die Nähe der Gotteslästerer zu rücken, bezeichnet sicherlich einen polemischen Höhepunkt nicht nur der Difesa, sondern insgesamt des Streits um die Dichtung im Trecento. Boccaccios Apologie gipfelt in einer Apotheose der Poesie, in der diese beinahe gleichwertig neben die .Theologie' (Bibel) gestellt, teilweise sogar mit ihr « S. Vita 36. 49

Ebd. 38; dt. nach Taube (47): „Sicher auch, wäre mehr darüber gesagt worden, als gesagt worden ist, müßte man gut begreifen, daß die Theologie und die Poesie einander entsprechen, soweit es die Gestalt ihres Wirkens anlangt." ,Teologia' wird hier noch in der Bedeutung von ,BibeP gebraucht (s. dazu auch Curtius: Europ. Lit. 458); so spricht Boccaccio an anderer Stelle von der Heiligen Schrift, die wir Theologie nennen {la divina Scrittura la qual noi teologia appetiamo [Vita 36]).

50 Vita 38; dt. nach Taube (48): „Mögen sich also derartige Leute die Gesichte Daniels besehen, die von Jesaias, die von Ezechiel und die anderen des Alten Testamentes, die da von göttlicher Feder geschrieben sind und von Dem dargelegt, der keinen Anbeginn gehabt und des kein Ende sein wird. Man besehe dazu im Neuen die Gesichte des Evangelisten, die für die, so begreifen, voll wunderbarer Wahrheit sind. Und wenn sich eine poetische Fabel finden ließe, die sich also vom Wahren oder Wahrscheinlichen entferne, als diese es an der Schale in vieler Hinsicht zu tun scheinen, dann sei es zugegeben, daß einzig die Poeten Fabeln gesagt hätten, die weder Freude noch Frommen brächten." 51 Ebd. 38 s. (Taube 48).

Das Mittelalter: Dichtungstheorie und Theologie

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gleichgesetzt wird 52 : Dico che la teologia e la poesia quasi una cosa si possono dire, dove uno medesimo sia il suggetto; anzi dico più, che la teologia niun'altra cosa è che una poesia di Dio. E ch'altra cosa è che poetica fizione, nella Scrittura, dire Cristo essere ora leone e ora agnello e ora vermine, e quando drago e quando pietra, e in altre maniere molte, le quali voler tutte raccontare sarebbe lunghissimo? che altro suonano le parole del Salvatore nello Evangelio, se non uno sermone da' sensi alieno, il quale parlare noi con più usato vocabolo chiamiamo ,allegoria'? Dunque bene appare, non solamente la poes't essere teologia, ma ancora la teologia essere poesia. Gemeint ist zwar offensichtlich eine Poesie, deren Gegenstand die göttliche Wahrheit {la divina verità53) ist, die Poesie der Bibel vorzugsweise, doch nach allem, was der Autor der Vita zuvor über den Wahrheitscharakter der antiken Dichtung, über ihre verborgene Frucht (frutto nascoso), ihren tiefen Sinn (profondissimo sentimento) gesagt hat 54 , ist es wohl kaum zu gewagt, diese Zeilen als Apotheose der Poesie schlechthin zu verstehen. Darauf deutet auch die Berufung auf Aristoteles hin, il quale afferma sé aver trovato li poeti essere stati li primi teologizzanti55. Nicht zuletzt freilich versteckt sich dahinter die Glorifizierung Dantes, dessen Commedia ja gerade durch Boccaccio - keinesfalls unbedacht - das Epitheton .Divina' verliehen worden ist. Nicht minder apotheotisches Gepräge zeigen die Bemerkungen zum Dichterruhm, mit denen die Difesa schließt. Wenn Boccaccio den Dichter als Träger des Lorbeers zum Bruder des Imperators macht56, spiegelt sich darin mehr als das wiedererwachende, auch auf äußere Kundgebung bedachte literarische Selbstbewußtsein der Epoche, der Ehrgeiz Dantes oder der Stolz Mussatos und Petrarcas, mit den Insignien dichterischer Würde ausgestattet zu werden; es klingt der alte Machtanspruch der Dichtung, wie er zuerst von Hesiod erhoben, von Pindar dann aufgegriffen und von Vergil erneuert wurde, wieder an. Die Entdeckung der poetischen Form biblischer Sprache, wiewohl im Trecento noch kaum von einer ihr angemessenen literarisch-ästhetischen Methode begleitet, ist geistesgeschichtlich, literaturgeschichtlich und dichtungstheoretisch gleichermaßen bedeutsam. Sie legte das Fundament für jene Literarisierung der Ebd. 39; dt. nach Taube (48 f.): „Ich sage, daß die Theologie und die Poesie beinahe ein nämliches genannt werden dürfen, wo ein und dasselbe ihr Gegenstand ist. Überdies sage ich, daß die Theologie weiter nichts ist als eine Poesie Gottes. Und was ist es anderes als Poesie, wenn in der Heiligen Schrift gesagt wird, Christus sei bald ein Löwe, bald ein Lamm, bald ein Wurm und dann ein Drache und dann ein Stein und noch anderes, welch alles aufzählen zu wollen, zu lang wäre? Was denn anderes lassen die Worte des Erlösers im Evangelium hören, wenn nicht eine Rede mit verdecktem Sinn, welche Redeweise wir mit dem gebräuchlichen Ausdruck Allegorie benennen? So zeigt es sich denn gut, nicht allein, daß die Poesie Theologie ist, sondern auch die Theologie Poesie." 53 Vita 38. 54 Ebd. 39. 55 Ebd.; dt. nach Taube (49): „der fest gefunden zu haben versichert, daß die Poeten die ersten gewesen, die Theologie getrieben hätten." 56 S. Vita 40 s.

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Die Tradition

Bibel, die vom Humanismus auf textkritischem und philologischem Terrain fortgeführt und im XVIII. Jahrhundert, gefördert durch die aufklärerische Säkularisierung ebenso wie durch pietistische und dem Pietismus verwandte Strömungen, vollendet wurde. Dieser Vorgang hat nicht nur ganz allgemein die Einstellung zur Bibel verändert; er erst ermöglichte es, sie auch als literarisches Werk, das Buch der Bücher als Buch unter Büchern zu rezipieren. Biblische Wendungen, Metaphern, Topoi, Stilelemente haben die Dichtung im Laufe dieses Prozesses zunehmend geprägt, keineswegs allein dort, wo sie im engeren Sinn religiösen Charakter besaß. Die Erkenntnis, daß es sich bei Teilen der Bibel um Poesie allerhöchsten Ranges handelt, gab überdies dem Selbstbewußtsein der Dichtungstheorie, zumal in Zeiten, in denen der Hinweis auf antike Traditionen allein nicht mehr ausreichte oder abgenutzt war, neuen Auftrieb. Als Versatzstück apologetischer Argumentation ist in der Nachfolge der italienischen Dichtungstheorie des Trecento das Postulat einer ursprünglichen Identität von Religion und Poesie, Priester und Dichter in beinahe allen Dichtungslehren der Renaissance anzutreffen. Zu den als Archetypen dichterischer Macht und dichterischen Anspruchs begriffenen mythischen Sängern wie Orpheus, Amphion, Musaios, Linos und den zu Paradigmen der Poesie erhobenen antiken Werken gesellten sich die Propheten des Alten Testaments sowie einzelne Bücher der Bibel, der Psalter, das Hohelied, die Apokalypse. Wo solcher Verweis mehr darstellte als ein historisch-theoretisierend angelegtes, in legendäre Vorzeit zurückschweifendes Klischee, konnte das dem Rollenverständnis des Dichters auch in unmittelbar christlichem Sinn sakrale Züge verleihen. Dante, nach ihm Tasso bieten Beispiele dafür, ganz besonders jedoch Milton. An ihm sollte die ,Hebraisierung' der Dichtungstheorie einen ihrer entschiedensten und anspruchsvollsten Vertreter finden. Unter den Romantikern steht namentlich Blake in dieser Tradition. Aber auch seine Zeitgenossen beschäftigten sich erneut intensiv mit dem Verhältnis von Religion und Dichtung. Die Akzente verschoben sich dabei. Angesichts eines individualistisch gefärbten, verinnerlichten und zugleich säkularisierten Religionsbegriffs vermochte aus der Literarisierung der Bibel die Sakralisierung der Literatur zu werden.

5 Die Renaissance: Apologetische Theorien Ovxovv ôiy.aia Ècixlv

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7f

78 Compl. Works V I I 135. 79 Ebd. 134.

Das Ende der Kunst

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nen 8 0 . Sie zeigen zum andern, wie verfehlt es wäre, deren Ort allein im Rahmen rein poetologischer Reflexion zu bestimmen. Aus der Konfrontation mit einem Denken, das in der Euphorie fortschreitender Naturbeherrschung aufklärerische Vernunft mehr und mehr in instrumenteile verwandelte, wurde gerade Shelleys Theorie der Dichtung zu einem kulturkritischen Gegenentwurf. Wo vormals der Glaube an die Integrationskraft der Vernunft gestanden hatte, richtete sich angesichts wachsender Entfremdung der Glaube an die Integrationskraft der Imagination ein, jener creative and inventive faculty81, die Shelley in typisch romantischer Manier dem rein rational verfahrenden, abstrahierenden und analysierenden Verstand entgegensetzte, überordnete und zu einer Grundanlage des menschlichen Geistes erklärte. An der Defence, einem der letzten großen Manifeste romantischer Dichtungstheorie und Kulturkritik, ist deutlicher als anderswo ablesbar, worauf der Kunstbegriff der Epoche, je schärfer sich die Konturen der Industrialisierung und der damit verbundenen Verdinglichung abzuzeichnen begannen, reagierte. Wo die Romantik auf dem absoluten Erkenntnis- und Wahrheitswert nicht nur des Kunstwerks, sondern auch des ihm als Substrat zugrundeliegenden imaginativen Denkens beharrte, implizierte ihre Kunsttheorie nicht selten, wie Raymond Williams schreibt 82 , „an emphasis on the embodiment in art of certain human values, capacities, energies, which the development of society towards an industrial civilization was felt to be threatening or even destroying". Auch wo dieser Hintergrund nicht so offenkundig ist, erhielt die Kunsttheorie existentiellen Anstrich. Friedrich Schlegel hielt die Kunst für den Kern der Menschheit83 ; Wordsworth bezeichnete die Dichtung als a necessary part of our unalienable inheritance, als the first and last of all knowledge [...] as immortal as the heart of man84; Hölderlin nannte sie eine Panacee, durch die die Bildung der Menschheit erst abgeschlossen werde 85 ; August Wilhelm Schle gel bat seine Zuhörer zu Beginn der Vorlesungen über die Geschichte der klassischen Literatur (1802/03), als Axiom überall vorauszusetzen, daß die ,schöne Kunst' aus einer ursprünglichen Hauptanlage des menschlichen Gemüts her80 S. dazu Raymond Williams: Culture and Society 1780-1950, London 1958, 40. si Compi. Works V I I 109. 82 Culture and Society aaO. (Anm. 80) 36. Das freilich brachte sie zwangsläufig in Opposition zu herrschenden Strömungen der Zeit; s. dazu Albert Gérard: L'Idée romantique de la poésie en Angleterre. Ét. sur la théorie de la poésie chez Coleridge, Wordsworth, Keats et Shelley, Paris 1955, 3 6 0 : „Entre les valeurs dont les romantiques proclamaient la nécessité, et celles auxquelles leur temps apportait un assentiment toujours plus complet, il y avait une incompatibilité fondamentale [ . . . ] " [zit.: Gérard: L'Idée romantique], vgl. ebd. 361. - ü b e r die Debatte zwischen Naturwissenschaft und Dichtung, wissenschaftlicher und dichterischer Erkenntnis und Wahrheit, die sich in England bereits im X V I I I . Jahrhundert abzuzeichnen beginnt, in der Romantik einen Höhepunkt erreicht und in der Viktorianischen Epoche weiterwirkt, s. Abrams: Mirror 2 9 8 - 3 3 5 , sowie Wimsatt / Brooks aaO. (Kap. 8, Anm. 78) 4 1 2 - 3 1 . 83 KFSA I I 3 6 6 (über die UnVerständlichkeit [ 1 8 0 0 ] ) ; zu einer ähnlichen Formulierung s. auch Prosaische Jugendschriften I—II, hg. v. J. Minor, Wien 1882, I I 326. 84 Poetical Works 7 3 8 Sp. 1 f. (Preface zu den Lyrical Ballads). 85 SW V I 1, 306 (Brief an den Bruder 1 . 1 . 1 7 9 9 ) .

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Das Programm

fließe; daß sie folglich (namentlich die Poesie, denn bei den anderen Künsten mußten gewisse Erfindungen vorangehen) zugleich mit dem Menschengeschlecht entstanden und auch nicht anders als mit ihm gänzlich aussterben könne; daß sich unter ihrem schönen Spiel ein heiliger Ernst verberge; daß sie das geschickteste Organ sei, um das Göttliche und Höchste im menschlichen Geist zu offenbaren; daß sie folglich auch einen unendlichen, nach keinem bedingten Zweck abzumessenden Wert habeib. Äußerungen wie diese haben, so hochfliegend-unpräzise sie klingen mögen, für den Poesiebegriii der Romantik gleichwohl paradigmatischen Charakter. Der Versuch, den Wert der Kunst affirmativ zum höchsten zu erklären und diese nach dem Modell naturrechtlicher Theorien als unveräußerlich der condition humaine zuzuschlagen, steht in bewußtem Widerspruch zu allen Anschauungen, die ihr keine beherrschende oder auch nur eine ephemere Rolle einräumten, sie „zum belanglosen Zeitvertreib, zur zweitrangigen Dekoration" degradierten87. Dazu war sie nicht nur bereits aufgrund der Ursprungstheorie, sondern auch im Zuge des Rokoko zuweilen gemacht worden. So klagte Wackenroder darüber, daß unser Zeitalter [...] die Kunst so bloß als leichtsinniges Spielwerk der Sinne übt . . . 8 8 ; Wordsworth wandte sich gegen diejenigen, who talk of Poetry as of a matter of amusement and idle pleasure; who will converse with us as gravely about a taste for Poetry, as they express it, as if it were a thing as indifferent as a taste for rope-dancing, or Frontiniac or Sherry89; Hölderlin schrieb an seinen Bruder90: [ . . . ] es wäre zu wünschen, daß der gränzenlose Misverstand einmal aufhörte, womit die Kunst, und besonders die Poesie, bei denen, die sie treiben und denen, die sie genießen wollen, herabgewürdigt wird. Unschwer ist schon an den emphatischen Formulierungen, mit denen sie sich des Werts der Kunst zu versichern suchte, zu erkennen, wie die Romantik allem vermeintlichen oder tatsächlichen Rollenverlust begegnete: als Apologie. Apologetisch motiviert ist keineswegs allein etwa Shelleys Defence; ein Großteil romantischer Reflexion und Spekulation über die Kunst und Dichtung ist als deren Verteidigung angelegt. In vielen Fällen weist überdies romantische Dichtung selbst noch apologetische Züge auf, nicht nur wie je schon Dichtung: implizit durch ihr Gelingen, sondern explizit in ihrer Thematik. An Blakes Werken ist das genauso abzulesen wie an Wordsworth' Prelude oder an Novalis' Ofterdingen, der in einer Apotheose der Poesie 91 enden und damit einen romantischen Gegenentwurf zum Wilhelm Meister darstellen sollte. Bezeichnenderweise war es bei aller Bewunderung für die artistische Gestaltung des Meister gerade der Weg des Helden von der Kunst ins bürgerliche Leben, der 86 Sehr. III 19. 87 Mainusch: Romantische Ästhetik 37. 88 Sämtl. Sehr. 49 (Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders). 89 Poetical Works 737 Sp. 2 ( P r e f a c e zu den Lyrical Ballads). 90 SW VI 1, 305. 91 Novalis (ed. Wasmuth) IV 532 (Brief an Tieck 23.2.1800); vgl. dazu auch Mähl. Goldenes Zeitalter 397 fi., 413 f., 418.

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Novalis' Kritik erregte92 : eine Satyre auf die Poésie nannte er Goethes Roman, einen Candide, gegen die Poesie gerichtet, bei dem am Schluß nur noch die Oeconomische Natur als Wahre übrigbleibe. - In keiner Epoche der Literatur, auch nicht in der Renaissance, ist die Apologie der Kunst so sehr ins Zentrum sowohl poetologischer Reflexion als auch ästhetischer Gestaltung gerückt worden. Romantische Dichtung enthält in vielen Fällen ausdrücklich auch ihre eigene Rechtfertigung.

«2 Novalis: Sehr. III 646; s. auch ebd. 638 f.

10 Zeichenschrift und Kohärenz [...] Jentehr ist eins Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes. Friedrich Hölderlin: [Entwurf] Was ist Gott?

...

Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen! Ihre Wünsche, ihre Mühe, ihr Geld jagen rastlos, und wonach? nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß der Welt, nach dem Mitgefühl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795)

Daß die Dinge nicht so seien, wie sie gemeinhin erscheinen, gerade auch nicht so, wie der rational vorgehende, allzu oft als ,prosaisch' verschriene analytische Verstand sie begreife, gehört, gegen alle als Sakrileg am Geist der Kunst empfundene, als Bedrohung denunzierte Entzauberung und Entmythologisierung gewandt, zu den fundamentalen Glaubensartikeln romantischer Dichtungstheorie. Diese machte aus der Welt ein Zeichensystem, dessen Grammatik und Semantik zu erkennen allein dem imaginativen, bildlich-symbolischen Denken vorbehalten sein sollte. Hamann, gerade auch hierin einer der großen Anreger, hatte in den Brocken (1758) notiert 1 : Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichter, Räthsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyjfern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nöthig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist. Was er hier noch im theologischen Kontext eines neuen Bibelverständnisses, als Protest gegen die rationalisierende Bibelexegese der Aufklärung2, freilich auch bereits im Vorfeld seiner späteren, für die erste Generation der deutschen Romantiker so einflußreichen Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie formulierte, die den Begriff des .Zeichens' zum zentralen machte3, findet sich vierzig Jahre später in ähnlicher Gestalt bei Novalis als 1 SW I 308. Denn mit dem Schlüssel ist weder die traditionelle Bibelallegorese noch die aufklärerische Rationalisierung gemeint, sondern die göttliche Weisheit, der Geist Gottes als Offenbarung (s. auch über die Auslegung der Heiligen Schrift [ebd. I 5] und die Aesthetica in nuce, wo der Autor [d. h. Gott als Schöpfer der Welt] als der beste Ausleger seiner Worte bezeichnet wird [ebd. I I 203 f.]). 3 S. dazu Josef Simon in der Einleitung zu Hamanns Sehr, zur Sprache, Frankfurt a. M. 1967, 22 ff., 30 f., sowie Rudolf Unger: Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgesch. Stellung des Magus in Norden, München 1905, 147. 2

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Kernstelle romantischer Ästhetik wieder. Weniger der religiöse Hintergrund jedoch als vielmehr die dichtungstheoretische Implikation ist hier entscheidend4: Alles, was wir erfahren ist eine Mittheilung. So ist die Welt in der Tbat eine Mittheilung - Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verlohren gegangen. Wir sind heym Buchstaben stehn geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verlohren. Formularwesen. Und an anderer Stelle heißt es 5 : Ehemals war alles Geistererscheinung. Jezt sehn wir nichts, als todte Wiederholung, die wir nicht verstehn. Die Bedeutung der Hieroglyfe fehlt. Wir leben noch von der Frucht besserer Zeiten. Das verbirgt auch anderweitig seine Verwandtschaft mit Hamann, die Anleihen beim ,Magus in Norden' nicht. Ob der Geist nichts als ein Kammerdiener des todten [...] Buchstabens seyn solle, hatte dieser in der Aesthetica in nuce (1762) gefragt6 und sich damit im Namen einer Natur, Geschichte, Bibel, Kunst und Dichtung gleichermaßen als Inbegriff einer göttlichen, symbolischen Zeichensprache betrachtenden Philosophie7 gegen jede ,schriftgelehrte', auf Eindeutigkeit ausgerichtete, abstrakt-begriffliche Festschreibung und mithin Zerstörung dieser Symbolschrift gewandt. Die Klage, daß das Erscheinende über der Erscheinung verloren sei, der Buchstabe über den Sinn triumphiere, die Bedeutung der Hieroglyfe, d. h. die geistige Sensibilität für den symbolischen Charakter der Dinge fehle, stellt nichts anderes als eine dichtungstheoretische Anverwandlung und Wiederholung Hamannscher Positionen dar, freilich wie bei diesem zugleich auch eine Reminiszenz an die Mahnung des Apostels Paulus an die Korinther (2. Kor. 3,6), zu Dienern [...] nicht des Buchstabens, sondern des Geistes zu werden: Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. — Wodurch sollen wir aber die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken?, hatte Hamann, ebenfalls in der Aesthetica8, ge fragt und an anderem Ort, im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Herders Preisschrift über den Ursprung der Sprache (1772), das Urbild seiner Sprach- und Zeichentheorie, den biblischen Logos-Begriff, nur allzu deutlich werden lassen9: Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, - das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigem Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort. Audi das erhält in Novalis' Sätzen seine Entsprechung. Was Hamann zu Beginn der Menschheitsgeschichte, in der durch das Wort seines [d.h. Gottes] Mundes fertigen Welt des Paradieses verwirklicht sah 10 , die Einheit von Bild * Sehr. II 594. 5 Ebd. II 545. 6 SW II 203. 7 Vgl. ebd. I I 140 (Die Magi aus dem Morgenlande [1760]). 8 Ebd. II 211. 9 Ebd. III 32 (Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache [1772]). JOEbd.

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und Wort, Zeichen und Bezeichnetem, Erscheinung und Erscheinendem, kehrt bei Novalis wieder als Erinnerung besserer Zeiten, in denen der Geist Gottes verständlich war. Und die Frage, wodurch denn die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder zu erwecken sei, sollte bei Novalis wie nicht minder bei anderen Romantikern eine Antwort finden, die Hamann bereits angedeutet, wenngleich noch nicht derartig selbstsicher gegeben hatte: durch die Poesie. Von Hamann - darin nicht mit Herder divergierend — zur Muttersprache des menschlichen Geschlechts erklärt n , versuchte ihr die Romantik die angesichts solchen Urbilds zwangsläufig als verloren betrachteten ehemaligen Redite und Ehren wiederzugeben. Poesie, proklamierte Friedrich Schlegel12, ist der ursprüngliche Zustand des Menschen und auch der letzte. Den nicht zuletzt auch geschichtsimmanent, gleichwohl nicht als Ziel der Geschichte, sondern als eine Art Sündenfall und Erblindung des Geistes gedeuteten Weg vom Bild zum Begriff, vom Sinn zum Buchstaben, vom Mythos zum Logos wieder umzukehren, wurde zur raison d'être des romantischen Poesiebegriffs. Er pochte auf die jeglicher abstrahierenden Begriffsbildung sich sperrende prinzipielle Multivalenz der Objekte, den Symbol- und Zeichencharakter eines Universums, das so nicht als Maschine — wie in manchen radikalen aufklärerischen Träumen absoluter rationaler Herrschaft des Menschen über die Welt -, vielmehr als Organismus, als Inbegriff einer geheimen, unendlichen Kohärenz, als verschlüsselter Text auch, sich darstellte. Hamann hatte nach der Muse gerufen, die es wagen werde, den natürlichen Gebrauch der Sinne von dem unnatürlichen Gebrauch der Abstractionen zu läutern, wodurch unsere Begriffe von den Dingen eben so sehr verstümmelt werden, als der Name des Schöpfers unterdrückt und gelästert wird13. Die romantische Dichtungstheorie wie die romantische Dichtung selbst nehmen sich wie eine Einlösung solcher Forderung aus. Der religiöse Hintergrund verschwand dabei keinesfalls, sondern ging in säkularisierter Form in die ästhetische Theorie ein. Zumal dort, wo es sich an der anthropologisch dem Kindheitsstadium menschlicher Geschichte und Sprache zugeschriebenen Einheit von sinnlicher Anschauung und begrifflicher Vorstellung orientierte, und erst recht dort, wo ihm theologisch die Offenbarung Gottes durch die Schöpfung, die paradiesische Kongruenz von göttlichem Logos und menschlicher Welt Modell stand, vermochte das Programm einer Rückkehr zum mythischen, zum bildlichen Denken geschichtsphilosophisch geprägte, ja heilsgeschichtliche Züge anzunehmen und zum Plan einer Wiederherstellung des Goldenen Zeitalters oder des Paradieses sich zu gestalten. Auf diese Weise schlägt Hamanns Theologisierung der Sprachtheorie bei Novalis sich nieder. Hatte jener den biblischen Urzustand des Menschen zum Archetypen poetischer Welterfahrung erhoben, die Sprache der Schöpfung wie die Sprache Adams als poetische kat' exochen interpretiert, so verknüpfte sich diesem das romantische Projekt einer umfassenden Poetisierung H Ebd. II 197 {Aesthetica in nuce). 12 Friedrich Schlegel: Lit. Notebooks aaO. (Einführung, Anm. 18) 178 (Nr. 1786). » SW II 207 {Aesthetica in nuce).

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der Sprache und der Vorstellungen mit der Idee paradiesischer, Goldener Zeit 14 : Das wird die goldne Zeit seyn, wenn alle Worte - Figurenworte — Mythen - und alle Figuren - Sprachfiguren - Hieroglyfen seyn werden [ . . . ] In einem Gedicht aus den Notizen zur Fortsetzung des Ofterdingen kehrt dieser Gedanke wieder15: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die so singen, oder küssen Mehr als die Tiefgelehrten wissen Wenn sich die Welt ins freie Leben, Und in die Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit wieder gatten Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt von Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. In komprimierter, poetisch verkürzter und verbildlichter Form enthalten diese Verse ein gut Teil dessen, worauf die romantische Dichtungstheorie baute sowohl die Verheißung eines neuen Goldenen Zeitalters, das dem ,ganzen verkehrten Wesen' ein Ende setzen werde, als auch den Glauben an die Überlegenheit der imaginativen über die rein rationale, mit Abstraktionen (Zahlen und Figuren) statt mit Symbolen operierende Erkenntnis, sowohl die Forderung nach einer Wiedereinsetzung poetischer Rede zur universalen Instanz als auch die Hoffnung auf die wirklichkeitsverwandelnde, revolutionäre Macht der Dichtung. Gewiß, an dem Wert der Bilder, vom ornamentalen und spielerischen über den pädagogischen und belehrenden bis hin zum epistemologischen und sinngebenden, festzuhalten und sich auf die Vieldeutigkeit und jenseits aller objektivierend-begrifflichen Interpretation angesiedelte imaginative Deutbarkeit der Welt zu berufen, war stets Legitimation der Kunst. Ohne dieses - zumindest stillschweigend vorausgesetzte - Axiom wäre Kunst nicht denkbar, es sei denn - wie bei Piaton - als Trug, aller Rechtfertigung beraubt. Nirgendwo zuvor indes haben sich Dichtungstheorie und Dichtung dessen so apologetisch-affirmativ versichert, auf der symbolischen, zeichenhaften, nur dem poetischen Geist vollends zugänglichen Gestalt der Dinge so insistiert. Darauf zuallererst basiert das Selbstbewußtsein des Dichters in der Romantik. Wiederum in säkularisierter Gestalt, dichtungstheoretischen und poetologiSehr. III 123 f.; zu den Begriffen ,Figurenwort' und ,Sprachfigur' s. ebd. 122 f. 15 Sehr. I 344 f. Ganz ähnlich wie Novalis einer von Zahlen und Figuren beherrschten Welt opponierte, wandte sich August Wilhelm Schlegel gegen die Reduktion der Sprache auf eine Sammlung logischer Ziffern, tauglich die Rechnungen des Verstandes damit abzumachen {Sehr. II 83), und verkündete das Programm einer neuen Poetisierung der Sprache.

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sehen Belangen dienstbar gemacht, zuweilen nur noch rudimentär wiederzuerkennen, zuweilen auch ohne daß ihre Tradition oder gar ursprüngliche Intention bewußt reflektiert worden wäre, stellten sich dabei alte, aus der Bibel und der Theologie stammende Vorstellungen von der Offenbarung Gottes in der Schöpfung und von der Natur als Buch Gottes als Modelle ein. Auch das findet in Hamann einen wichtigen Vorläufer und Anreger. Er hatte in der Aesthetica vom Text der Natur gesprochen 16 , vom Buch der Schöpfung, das Exempel allgemeiner Begriffe enthalte, die GOTT der Kreatur durch die Kreatur habe offenbaren wollen 17 ; eine sinnliche Offenbarung und Rede an die Kreatur durch die Kreatur hatte er die Schöpfung genannt 18 : denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme. Offenkundig ist das dem Paulinischen Diktum (Rom. 1,20): Denn Gottes unsichtbares Wesen [...] wird ersehen seit der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Werken, ebenso nachempfunden wie dessen alttestamentarlichem Pendant im neunzehnten Psalm (2-5) nachformuliert: Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Ein Tag sagt's dem andern, und eine Nacht tut's kund der andern. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre. Ihre Schnur geht aus in alle Lande und ihre Rede an der Welt Ende. Unter den Romantikern fanden diese Vorstellungen ein vielfaches Echo, oft wie schon bei Hamann im Zusammenhang dichtungstheoretischer Spekulationen und Thesen. So bemerkte Blake in den ,Annotations to Lavater' (1788) 19: For let it be remember'd that création is God descending according to the weakness of man, for our Lord is the word of God & every thing on earth is the word nf God & in its essence is God. Wackenroder bezeichnete die Natur als eine Sprache Gottes zu den Menschen, welche der Höchste selber von Ewigkeit zu Ewigkeit fortredet20, und verglich sie mit abgebrochenen Orakelsprüchen aus dem Munde der Gottheit21. Für Words worth wurde sie zum Atem, für Lamartine zum Tempel Gottes 22 , und Victor Hugo schrieb 23 : Dieu se manifeste i nous au premier degré à travers la vie de l'univers [...] Nicht allein vermochte, wo sie als in den Dingen verborgenes Wort, als be16 SW II 207. 17 Ebd. II 204. is Ebd. II 198. 19 Compl. Writings 87 (Bemerkung zu Aphorismus Nr. 630). 20 Särntl. Sehr. 57 (Rerzensergießungen). 21 Ebd. 58. 22 Vgl. Tbe Prelude (1805) V 222, und Alphonse-Marie-Louis de Lamartine: poétiques, éd. M.-F. Guyard, Paris 1963, 17. 23 Shakespeare 19.

Œuvres

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deutungsvoller Text, als Symbolsprache begriffen wurde, die Schöpfung dem ohnehin mit Vorliebe in ästhetischen Kategorien sich bewegenden Sprach- und Weltverständnis der Romantik zum großen Analogon der Poesie zu werden 24, ebenso wie sich aufgrund derselben säkularisierenden Adaption eines theologischen Denkmodells Gott zu einer Art Dichter, die Dichtung zu einer Art Gottesdienst machen ließen; umgekehrt konnten aus dieser Analogie heraus auch die ihrem Wesen nach als symbolisch und uneigentlich bezeichnete poetische Rede, das seinem Wesen nach als bildlich und imaginativ bezeichnete poetische Denken zu den in letzter Instanz maßgeblichen Instrumentarien der Erkenntnis erklärt werden. Das Universum als gleichsam poetisches Werk betrachtet, verbürgte die Semantik der Dinge, die Poesie als nächstverwandte Entsprechung ihr tiefstes Verständnis. ,Chiffre' und .Hieroglyphe' sind Vokabeln, mit denen bei Novalis das geheimnisvolle, verborgene Wesen der Dinge bezeichnet wird 25 ; von jener großen Chiffernschrift der Natur ist in den Lehrlingen zu Sais die Rede 26 . August Wilhelm Schlegel forderte 27 : Die Natur soll uns aber wieder magisch werden, d. h. wir sollen in allen körperlichen Dingen nur Zeichen, Ziffern geistiger Intentionen erblicken, alle Naturwirkungen müssen uns wie durch höheres Geisterwort, durch geheimnisvolle Zaubersprüche hervorgerufen erscheinen, nur so werden wir in die Mysterien eingeweiht, soweit unsere Beschränktheit es erlaubt, und lernen die unaufhörlich sich erneuernde Schöpfung des Universums aus Nichts wenigstens ahnen. In fremden Zeichen ist die Pergamentrolle geschrieben, die Anseimus im Goldnen Topf zu kopieren hat und die sich ihm als Geschichte von der Vertreibung aus dem .Wunderland' Atlantis und als Verheißung einer Rüdekehr dorthin enthüllt 28 . Tieck nannte die Natur eine Hieroglyphe29. Zur Hieroglyphe (cet hieroglyphe énorme30) wurde auch bei Victor Hugo das Universum; stets bei ihm ist die Natur Geheimnis (mystère), kodierter, zu entschlüsselnder Text gewissermaßen, Sprache (tout est une voix - tout parle31). Zumal durch seine Insistenz auf der hinter oder in aller äußeren Auf die romantische Analogisierung und auf die Rolle, die das Paulus-Zitat dabei gespielt hat, weist Abrams: Mirror 239 f. (im Zusammenhang mit Friedridi Schlegel) und ebd. 257 f. (im Zusammenhang mit der Homer-Deutung John Kebles) hin; die Patenschaft des neunzehnten Psalms scheint er allerdings übersehen zu haben. August Wilhelm Schlegels Definition (Sehr. II 81 f.): Dichten (im weitesten Sinne für das Poetische allen Künsten zum Grunde liegende genommen) ist nichts anderes als ein ewiges Symbolisieren, zeigt diese Analogie noch implizit. 25 Zum Begriff der Hieroglyphe im Zusammenhang der Sprachtheorie Friedrich Sdilegels s. Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962 ( = Germanistische Bibl. 3. R., Unters, und Einzeldarstellungen), 80 f. 24 Sehr. I 79. 27 Sehr. III 59. 28 Vgl. E. T. A. Hoffmann: Dichtungen III 74. 29 Franz Sternhaids Wanderungen (1798), in: Dt. Nat.-Litt., hist.-krit. Ausg. Bd. 145: Tieck und Wackenroder, hg. v. J. Minor, Berlin/Stuttgart o. J., 294. 30 Victor Hugo: Œuvres poétiques I - I I , éd. P. Albouy, Paris 1964-67, II 676 [zit.: Hugo: Œuvres poétiques']. Ebd. II 802. 24

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Erscheinung verborgenen ,wahren' Natur der Dinge, auf der symbolischen Gestalt einer Welt, die ihm zur Chiffre göttlichen Sinns wurde, erweist sich Carlyle als Erbe romantischer Mystifizierung, auch wenn er sich mit seinen stereotyp vorgebrachten Formeln (the sacred mystery of the Universe32, the ,open secret'13, the true Unseen World34 usw.) auf Fichtes Philosophie und Goethes Symbolbegriff berief. Pate gestanden hat dabei, neben theologischem Gedankengut, in erster Linie die deutsche Romantik, zu deren frühesten Vermittlern in England er zählte. Nicht immer so dezidiert begrifflich formuliert zwar, als Implikation ihrer dichtungstheoretischen Anschauungen wie ihrer Dichtung indes nicht zu übersehen, findet sich Vergleichbares in der englischen Romantik. Auch hier wurde Dichtung zur Deutung eines verborgenen Sinns, von der mimetischen Darstellung und Beschreibung der Dinge - the sordid drudgery of facsimile representations of merely mortal and perishing substances, wie es bei Blake abfällig heißt 35 - zu einem imaginativen Entschlüsselungsprozeß, der ihnen Zeichencharakter abzugewinnen suchte. Die christliche Vorstellung von der Offenbarung Gottes in der Welt mit dem Höhlen-Gleichnis Piatons aus der Politeia verknüpfend, schrieb Coleridge 36 : For all that meets the bodily sense I deem Symbolical, one mighty alphabet For infant minds; and we in this low world Placed with our backs to bright Reality, That we may learn with young unwounded ken The substance from its shadow. Wie sehr das - wie so oft in der Romantik - sich als Kontrast zum Deismus und zu mechanistischen und materialistischen Richtungen aufklärerischer Naturphilosophie empfand, geht aus den wenig später folgenden Zeilen hervor 37 : But some there are who deem themselves most free When they within this gross and visible sphere Chain down the winged thought, s c o f f i n g ascent, Proud in their meanness: and themselves they cheat With noisy emptiness of learned phrase, Their subtle fluids, impacts, essences, Self-working tools, uncaused e f f e c t s , and all Those blind Omniscients, those Almighty Slaves, Untenanting creation of its God. 52 Thomas Carlyle: On Heroes and Hero-Worship and the Heroic in Hist., London 1968, 105 [zit.: Carlyle: Hero-Worship]. 33 Ebd. 106 u. ö. m Ebd. 126 u. ö. 35 Compl. Writings 576. 36 Samuel Taylor Coleridge: The Poems [ = Oxford Ed.], ed. by E.Hartley Coleridge, London usw. 1921, 132 (The Destiny of Nations. A Vision [1796] v. 18-23) [zit.: Coleridge: Poems], 37 Ebd. v. 27-35.

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Als in Tönen und Bildern sich mitteilende Sprache verstand Wordsworth die Natur 3 8 : [...] my mind hath look'd Upon the speaking face of earth and heaven As her prime Teacher, intercourse with man Establish'd by the sovereign Intellect, Who through that bodily Image hath diffus'd A soul divine which we participate, A deathless spirit. Seine von ihm selbst als history of a Poet's mind39 bezeichnete dichterische Autobiographie The Prelude (1805) ist audi und nicht zuletzt eine Entwicklungsgeschichte solchen Verständnisses: von der kindlichen, noch emotionalen und unreflektierten Wahrnehmung der Grammatik und Semantik dieser Sprache über den zeitweiligen - bezeichnenderweise als geistige und schöpferische Krise gewerteten - Zweifel an ihrer kommunikativen Fähigkeit bis zu ihrer poetischimaginativen, freilich auch immer religiösen Interpretation. In der dichterischen Deutung wurde sie zur Offenbarung, ersetzte die Zeichenschrift der Objekte den Text der Bibel'' 0 : [...] The immeasurable height Of woods decaying, never to be decay'd, The stationary blasts of water-falls, And every where along the hollow rent Winds thwarting winds, bewilder'd and forlorn, The torrents shooting from the clear blue sky, The rocks that mutter'd close upon our ears, Black drizzling crags that spake by the way-side As if a voice were in them, the sick sight And giddy prospect of the raving stream, The unfetter'd clouds, and region of the Heavens, Tumult and peace, the darkness and the light The Prelude or Growth of a Poet's Mind (1805), ed. by E. de Selincourt London / New York / Toronto 2 1966, 67 (V 11—17); es wird im Folgenden immer nach dem Text von 1805 zitiert [Wordsworth: Prelude]; im Druck erschien das Prelude erst 1850, vom Autor vielfach revidiert. Zu einer Parallelstelle s. Lines Composed a Few Miles Above Tintern Abbey (1798), v. 88-102 (Poetical Works 164 Sp. 2). Abrams hat in diesem Zusammenhang auf - freilich nicht durch direkten Einfluß zu erklärende Übereinstimmungen mit Hamann aufmerksam gemacht (s. Meyer Howard Abrams: Natural Supernaturalism. Tradition and Revolution in Romantic Lit., New York 1971, 402 ff. [zit.: Abrams: Supernaturalism']. 3» Prelude 240 (XIII 408). 4° Prelude 100 (VI 556-572); s. dazu auch Abrams: Supernaturalism 107, zur Tradition religiöser Landschaftsdeutung, vor allem zum Einfluß von Thomas Burnets (1635-17151 Telluris theoria sacra (1684), in englischer Übersetzung: Sacred Theory of the Earth (1684—89), auf Wordsworth s. ebd. 99 ff. Auch Coleridge hat Burnets Theoria, die zudem als eine Art Theodizee der Erde dem romantischen Naturbegriff sich manchenteils verwandt zeigt, gekannt und geschätzt (s. ebd. 99 und Anm. 48 [495]).

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Were all like workings of one mind, the features Of the same face, blossoms upon one tree, Characters of the great Apocalypse, The types and symbols of Eternity, Of first and last, and midst, and without end. Auffällig verwandt mit diesen Zeilen und nicht minder symptomatisch für die den Dingen zugeschriebene Zeichensprache erscheint eines der berühmtesten Gedichte Shelleys, Mont Blanc - Lines Written in the Vale of Chamouni (1817). Wie bei Wordsworth wird auch hier die Natur - beide Male ist es nicht zufällig die wilde, unberührte der Alpen 41 - zur Chiffre, nimmt deren imaginative Übersetzung apokalyptische Gestalt an 4 2 : [... ] I look an high; Has some unknown omnipotence unfurled The veil of life and death? An der Frage zeichnet sidh ab, worauf romantische Dichtung gerade audi dort, wo ihr Sujet die Natur war, so oft abzielte: den Verlust des .Erscheinenden' über der ,Erscheinung' rückgängig zu machen, diese durch jenes zwar nicht abzulösen, aber in den höheren Rang der Repräsentanz zu erheben. Steht hinter Wordsworth' detailgenauer Wiedergabe natürlicher Szenerie stets doch the invisible world43 als transzendentes Pendant, so vermittelt nicht anders für Shelley der Anblick des Bergmassivs gleams of a remoter world44. Als verstandene verwandelt sich auch hier die sinnliche Sprache der Objekte in die geistige Sprache einer Erkenntnis und erhält, wenngleich nicht in so entschieden religiösem Sinn wie bei Wordsworth, Offenbarungsfunktion45: The wilderness has a mysterious tongue Which teaches awful doubt, or faith so mild, so solemn, so serene, that man may be, But for such faith, with nature reconciled; Thou hast a voice, great Mountain, to repeal Large codes of fraud and woe; not understood By all, but which the wise, and great, and good Interpret, or make felt, or deeply feel. Deutlicher indes noch als bei Shelley zeigt sich im Falle Wordsworth' der dichtungstheoretische Hintersinn solcher ,Semantisierung'. Das Prelude schließt Abrams (ebd. 101 f.) hat darauf aufmerksam gemacht, daß im Zuge religiöser Landschaftsdeutung gerade immer wieder Meer, Himmel und Berge als eindrucksvollste äußerlich sichtbare Zeichen der Macht und Größe Gottes interpretiert worden sind und, auf ästhetische Ebene transponiert, dem mit Longin so vertrauten X V I I I . Jahrhundert zu einem Beispiel für das ,Erhabene' wurden. Ästhetische und religiöse Momente haben sich dabei oft durchdrungen. 42 Poetical Works 533 (v. 52 ff.). « Wordsworth: Prelude 232 ( X I I I 105). 44 Poetical Works 533 (v. 49). 45 Ebd. v. 76-83. 41

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mit der Selbstvergewisserung des Dichters; am Ende liefert das Verständnis für die Sprache der Objekte den Ausweis dichterischer Berufung. Aus dem emphatischen Aufruf an sich selbst und an den Freund, Coleridge, dem das Prelude gewidmet ist, läßt sich heraushören, was als dichtungstheoretisches Programm kaum anspruchsvoller hätte formuliert werden können46: Then, though, too weak to tread the ways of truth, This Age fall back to old idolatry, Though men return to servitude as fast As the tide ebbs, to ignominy and shame By Nations sink together, we shall still Find solace in the knowledge which we have, Bless'd with true happiness if we may be United helpers forward of a day Of firmer trust, joint-labourers in a work (Should Providence such grace to us vouchsafe) Of their redemption, surely yet to come. Prophets of Nature, we to them will speak A lasting inspiration, sanctified By reason and by truth [...] Das Wort,redemption' wie überhaupt die religiöse Aura der letzten Verse steht alles andere als unbewußt oder zufällig im Dienst dichterischen Selbstbewußtseins. Zwar greift dieses angesichts verlorener Hoffnung auf die durch die Französische Revolution geweckte säkulare Verheißung, anders als bei Blake und Shelley oder auch Novalis und Hölderlin, nicht mehr zum ungeduldigen messianischen Pathos, doch relativiert das den Anspruch keineswegs. Aus der Offenbarungssprache der Natur ist die des Dichters geworden, aus der bei Wordsworth stets mit religiösen Attributen versehenen Natur die Dichtung als quasi sakrale Instanz. Sowohl die hier anklingende Auffassung vom Dichter wie in höherem Maße noch das ihr zugrundeliegende Axiom einer dem abstrahierenden, begrifflich verfahrenden Intellekt unzugänglichen geheimen Kohärenz und semantischen Struktur der Dinge laufen parallel mit einer Aufwertung des imaginativen Moments der Kunst. Das läßt sich auch dort feststellen, wo etwa - wie in der deutschen Romantik - der Begriff ,Imagination' selbst nur sporadisch auftaucht und durch eine Reihe von oft synonym gebrauchten Wörtern (,Gemüt',,Poesie', ,Phantasie', Einbildungskraft' usw.) ersetzt wird. Es kann hier zwar weder der Ort sein, diese Aufwertung, die bereits teilweise im frühen X V I I I . Jahrhun dert, im Umkreis des Klassizismus, sich bemerkbar zu machen begann, dann von der vorromantischen Ästhetik weitergeführt wurde, historisch zu verfolgen, noch ist es möglich, den äußerst vielfältigen Bedeutungen, die das Wort .Imagination' und verwandte Begriffe innerhalb der romantischen Poetik erhielten, im einzelnen nachzugehen. Beides würde ein eigenes Buch verlangen und hat ts Prelude 241 ( X I I I 431-44).

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auch schon Bücher gefüllt. Dennoch sei hier auf einige Aspekte verwiesen, die im Zusammenhang romantischer Dichtungstheorie von besonderem Belang sind. Als Coleridge, der sich von allen Romantikern wohl am intensivsten um eine theoretisch-begriffliche Klärung dessen, was die Imagination sei, bemüht hat, sie im vierzehnten Kapitel der Biographia Literaria (1817) als synthetic and magical power bezeichnete und erläuternd hinzufügte47: This power, first put in action by the will and understanding and retained under their irremissive, though gentle and unnoticed, controul [...] reveals itself in the balance or reconciliation of opposite or discordant qualities: of sameness, with difference; of the general, with the concrete; the idea, with the image; the individual, with the representative; the sense of novelty and freshness, with old and familiar objects; a more than usual state of emotion, with more than usual order; judgement ever awake and steady self-possession, with enthusiasm and feeling profound or vehement, beschrieb er, ganz im Rahmen poetologischer Reflexion, ein ästhetisches Prinzip, freilich auch ein künstlerisches Ideal. Daß ein Kunstwerk nach dem Vorbild organischer Einheit gestaltet sei und die Imagination als deren spiritus rector das scheinbar Disparate zusammenfüge48, gehört sicherlich zu den einflußreichsten wie auch am ehesten nachvollziehbaren und anhand künstlerischer Praxis verifizierbaren Prämissen romantischer Ästhetik 4 9 . Was Produkt ästhetischer Erfahrung und Theorie war, wurde indes häufig, keineswegs allein bei Coleridge, in religiöse, geschichtsphilosophische, erkenntnistheoretische, sogar wissenschaftliche Bereiche transponiert. Dadurch erlangten der Begriff .Imagination' ebenso wie seine Synonyme - und ganz ähnlich wie der Poesiebegriff selbst - eine Bedeutungserweiterung und Vielschichtigkeit, die den Rahmen poetologischer Theorie sprengte. Wordsworth, der, zumal im Prelude, selbst nicht wenig zu einer solchen Verwirrung beigetragen hat, scheint sich dessen späterhin - gewiß nicht zuletzt mit Blick auch auf Coleridge - durchaus bewußt gewesen zu sein 50 : The word, Imagination, has been overstrained, from impulses honourable to mankind, to meet the demands of the faculty which is perhaps the noblest of our nature. In der Tat gerieten infolge dieser Überbeanspruchung des Begriffs ein künstlerisches Gestaltungsprinzip, eine Art und Weise, Gegensätzliches im Schein der Kunst als Zusammengehöriges, als Versöhntes wahrzunehmen, zum Analogon völlig fremder, außerkünstlerischer Spekulationen. Die symbolische Repräsentanz des Allgemeinen w Samuel Taylor Coleridge: Biographia Literaria or Biogr. Sketches of My Lit. Life and

Opinions, ed. by G. Watson, London / New York 1965 (= Everyman's Libr. 11), 174.

•»8 Vgl. ebd.: [ . . . ] imagination [...] forms all into one graceful and intelligent whole-, u n d : the Spirit of Romantic Poetry, is modification, or the blending of the Heterogeneous into an Whole by the Unity of the Effect (Inquiring Spirit, a new representation of

Coleridge from his publ. and unpubl. prose writings, ed. by K. Coburn, London 1951, 152 [Nr. 119]). 49 Zu Coleridges Definition der Imagination s. auch Ivor Armstrong Richards: Principles of Lit. Criticism, London 1949 (erstmals 1924), 242 ff. so Poetical Works 750 Sp. 1 (Essay, Supplementary to the Preface [1815]).

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im Konkreten, des Geistigen im Bild konnte als Modell religiöser Erfahrung, der Offenbarung Gottes in der Welt, fungieren; die Versöhnung der Gegensätze als Modell der in der Idee eines kommenden Goldenen Zeitalters oder Neuen Jerusalem verheißenen Aussöhnung von Natur und Mensch bzw. irdischer Schöpfung und göttlichem Heilsplan; die Verbindung von subjektiver Erfahrung und objektiver Erkenntnis als Modell transzendentalphilosophischer Epistemologie; die ästhetisch erreichte Kohärenz und organische Einheit als Modell einer verborgenen Verwandtschaft und Bedeutung aller Dinge. Auf die Dichtungstheorie hatte das den allergrößten Einfluß. Zumal wo die Welt zum Zeichen und den Dingen ein geheimer Sinn und Zusammenhang zugeschrieben wurde, erhielt die Imagination die Funktion eines Schlüssels zu ihnen, verwandelte sich die ästhetische Erfahrung künstlerischer Harmonie in die Forderung, den verlorenen und vergessenen Einklang von Geist und Natur wieder herzustellen. Die Verwandtschaft und Nachbarschaft, in die das bildliche, metaphorische Denken der Kunst das einander Fremde zu versetzen und so als nur scheinbar Getrenntes darzustellen vermag — Tieck sprach in diesem Zusammenhang vom allmächtigen Zauberstabe der Kunst51, August Wilhelm Schlegel vom Zauberreich ewiger Verwandlungen, worin nichts isoliert besteht52 —, wurde zum Prinzip jeglicher Erkenntnis gemacht. Auf diesem Wege konnten die Poesie und die poetische Sprache zum Symbol und Inbegriff höchster Erkenntnis und Wahrheit werden 53 : Die gegenseitige Verkettung aller Dinge durch ein ununterbrochenes Symbolisieren, worauf die erste Bildung der Sprache sich gründet, soll ja in der Wiederschöpfung der Sprache, der Poesie, hergestellt werden; und sie ist nicht ein bloßer Notbehelf unseres noch kindischen Geistes, sie wäre seine höchste Anschauung, wenn er je vollständig zu ihr gelangen könnte [...] In jenen schrankenlosen Übertragungen [d.h. in der symbolischen, metaphorischen Redeweise des poetischen Stils] liegt also, der Ahnung und Anforderung nach, die große Wahrheit, daß eins alles und alles eins ist. Diese Schlußfolgerung August Wilhelm Schlegels ist bezeichnend für jene analogierende Angleichung von Poetik, Sprachtheorie und Ontologie, die es erlaubte, die Arbeitsweise der Imagination - oder des ,Gemüts', wie es in der Diktion der deutschen Romantiker oft heißt - zum Maßstab der Erkenntnis schlechthin zu erheben. In unserm Gemüth, schrieb Novalis 54 , ist alles auf die eigenste, gefälligste und lebendigste Weise verknüpft. Die fremdesten Dinge kommen durch Einen Ort, Eine Zeit, Eine seltsame Aehnlichkeit, einen Irrthum, irgend einen Zufall zusammen. So entstehn wunderliche Einheiten und eigenthümliche Verknüpfungen — und Eins erinnert an alles - wird das Zeichen Vieler und wird selbst von 51 Wackenroder: Sämtl. Sehr. 181 (Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst); das betreffende Stück, Unmusikalische Toleranz, stammt von Tieck. 52 Sehr. I I 83. 53 Ebd. 54 Sehr. I I I 650. Vgl. dazu Shelley (Compl. Works V I I 117): It [die Dichtung] atvakens and enlarges the mind itself by rendering it the receptacle of a thousand unapprehended combinations of thought.

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vielen bezeichnet und herbeygerufen. Das ist ähnlich wie Coleridges Definition der Imagination als einer .synthetischen und magischen Macht' offensichtlich der Organisation des Kunstwerks wie der Methode künstlerischer Produktion abgewonnen und konnte doch auch, gerade so allgemein formuliert, die Basis für metaphysische Spekulationen hergeben. In der für die romantische Philosophie insgesamt und für Novalis' Enzyklopädistik-Projekt insbesondere charakteristischen These, daß alle Ideen [... ] verwandt seien und man das Air de Familie [...] Analogie nenne55, findet sich der Gedanke, ganz dem angestammten, ästhetischen Bereich enthoben, wieder. Geradezu wie ein Losungswort romantischen Denkens erscheint es, wenn Novalis in Die Christenheit oder Europa dazu auffordert, den Zauberstab der Analogie zu gebrauchen56. Auf ähnlicher Grundlage postulierte Shelley eine Verwandtschaft aller Dinge (the permanent analogy of things57). Und weder bei ihm noch bei Novalis blieb dabei verborgen, welches das geschickteste Organ, der Zauberstab sei, um sie zu entdecken: die Imagination, das Gemüt oder auch, wie es in den Hymnen an die Nacht heißt 58 , die allverwandelnde, allverschwisternde Himmelsgenossin, die Phantasie. Nirgendwo hat die Verbindung von poetologischen Maximen mit erkenntnistheoretischen und metaphysischen Axiomen zu derart radikalen Schlußfolgerungen geführt wie in der deutschen Frühromantik. Nirgendwo ist das - freilich auch andernorts zu beobachtende - Ziel romantischer Theorie, alles Denken wie alle Erfahrung unter den Primat ästhetischer Kategorien zu stellen, so apodiktisch formuliert, sind Poetik, Dichtungs- und Kunsttheorie unter seltsamer Auswucherung ihres Begriffs so rigoros zum Unterpfand von Geschichtsphilosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie gemacht worden. Daß die Welt, die Natur ebenso wie der Geist, zu ,poetisieren', zu Romantisieren' sei, stellt eine der kühnsten und anspruchsvollsten Forderungen des frühromantischen Programms dar. Hinter ihr steckt jenes Bild universaler Harmonie, dem die Idee romantischer Poesie zum Vorbild wurde. Mit Ästhetizismus hat das noch wenig zu tun, so sehr dieses Programm auch ästhetische Couleur aufweist. Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den wrrpr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualitative] Votenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche — dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt — Es bekommt einen geläufigen Ausdruck59. Diese Sätze machen nicht nur verständlich, warum No55 Novalis: Sehr. II 540. 56 Ebd. III 518. 57 Compl. Works VII 115. 58 Novalis: Sehr. I 145. 59 Ebd. II 545.

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valis das Märchen - die Gattung, in der das Heterogene, Widersprüchliche naturgemäß sich am innigsten verbindet - zum Canon der Poesie erhob und erklärte 60: alles poetische muß mäbrchenhaft seyn\ sie beschreiben überdies genau die Methode, der er in den Fragmenten, im Plan, eine scientifische Bibel zu schreiben61, folgte. Ihre Prinzipien sind - was die Lektüre der Fragmente nicht eben erleichtert - allerorten die Analogisierung, der Ersatz des einen durch das andere, die Herstellung verborgener Bezüge. Hatten die enzyklopädischen Unternehmungen der Aufklärer auf die alles durchdringende und in Relation bringende Kraft analytischer Vernunft, analytischen Verstands gebaut, so setzte Novalis an deren Stelle im Programm zu einer neuen Enzyklopädie das imaginative, von ihm wie von Friedrich Schlegel auch oft als ,divinatorisch' bezeichnete Denken. Die Absicht, die Wissenschaften zu poetisieren62, ihre nur aus Mangel an Genie und Scharfsinn erfolgte Trennung aufzuheben 63 und sie unter eine romantisch-poetische Ansicht zu stellen64, verlieh diesem Denken unein geschränkte Kompetenzen, gab der Poesie damit Vollmacht über alle Bereiche des Geistes und versetzte die Poetik, als Theorie solcher Synthese verstanden, in den Rang einer ,höheren Wissenschaftslehre'65. Aus dieser Perspektive erhalten auch die Ansicht, daß der poetische Kopf die Natur besser verstehe als der wissenschaftliche, wie überhaupt die eigenartig verstiegen anmutenden Ansprüche romantischen Denkens auf wissenschaftliches Gebiet ihre Erklärung. Als organische Einheit und Struktur, als Inbegriff einer vielfältigen und geheimen Verwandtschaft, als Symbol auch der unsichtbaren Welt66 verstanden, wurde die Natur selbst dort, wo es um ihre wissenschaftliche Erforschung ging, poetisch betrachtet, der Theorie poetologischer Methoden unterworfen. Das äußerte sich in der Opposition gegen einen Großteil zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Theorie und Praxis, gegen die Registratoren der Natur67, in der Polemik gegen diejenigen, die nach Ansicht der Romantik die Natur engherzig zu scheiden und zu klassifizieren unternahmen 6S, und leistete einem Wissenschaftsbegriff Vorschub, der eher in den Bereich religiöser, metaphysischer und ästhetischer Spekulation als in den naturwissenschaftlicher Analyse fällt. Zum Experimentiren, notierte Novalis69, gehört Naturgenie, d. ist, wunderartige Fähigkeit den Sinn der Natur zu treffen - und in ihrem Geiste zu handeln. Der ächte Beobachter ist Künstler - er ahndet das Bedeutende und weiß aus dem seltsamen, vorüberstreichenden Gemisch von Er60 Ebd. III 449. Ebd. III 363. 62 Vgl. dazu Novalis' Brief an August Wilhelm Schlegel (24. 2.1798), ed. Wasmuth IV 385. « Ebd. II 13. 64 Ebd. II 18. 65 Vgl. Sehr. III 363 (Nr. 557). 66 Novalis (ed. Wasmuth) IV 438 (Brief an Karoline Schlegel [20.1.1799]); vgl. auch den Brief an Friedrich Sdilegel vom 20. 7. 1798 (ebd. IV 390). 67 August Wilhelm Schlegel: Sehr. III 55. 68 E. T. A. Hoffmann: Dichtungen XIII 21. 6» Sehr. III 179.

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scheinungen die Wichtigen herauszufühlen. Worauf das abzielt, machen die Lehrlinge zu Sais deutlich 70 : Wie seltsam, daß gerade die heiligsten und reizend sten Erscheinungen der Natur in den Händen so toter Menschen sind, als die Scheidekünstler [Chemiker] zu sein pflegen! sie, die den schöpferischen Sinn der Natur mit Macht erwecken, nur ein Geheimnis der Liebenden, Mysterien der höhern Menschheit sein sollten, werden mit Schamlosigkeit und sinnlos von rohen Geistern hervorgerufen, die nie wissen werden, welche Wunder ihre Gläser umschließen. Nur Dichter sollten mit dem Flüssigen umgehn [ . . . ] So gesehen kann es kaum überraschen, daß ein Dichter und - wenn auch im besten Sinne des Wortes - Dilettant auf naturwissenschaftlichem Feld, Goethe, sich bei Novalis, der doch in diesen Dingen keineswegs unbewandert war, als der erste Physiker seiner Zeit bezeichnet 71 , ja sogar als zukünftiger Liturg der Physik apostrophiert und darin in eine seltsame Reihe mit Piaton, Plotin, Spinoza, Leibniz, Hemsterhuis und Fichte gestellt findet72. Wie in anderen Fällen hat auch hier Friedrich Schlegel die romantische Position am radikalsten formuliert 73 : Willst du ins Innere der Physik dringen, so laß dich einweihen in die Mysterien der Poesie. Diese symbolische Ansicht der Natur74 und der an ihr sich manifestierende Traum einer universalen Poetisierung gewannen nicht zuletzt geschichtsphilosophische Dimensionen innerhalb eines Denkens, das hinter der Erscheinung der Dinge ihren verborgenen Sinn, hinter ihrer äußeren Verschiedenheit ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit wahrzunehmen vermeinte und darin nicht anders als in der harmonischen Organisation der Kunst das Versprechen einer 70 Ebd. I 105. 71 Ebd. II 640. 7 2 Vgl. ebd. III 469 (Nr. 1096), und den damit stellenweise gleichlautenden Brief an Karoline Schlegel vom 20.1.1799 (ed. Wasmuth IV 438 f.). 73 KFSA II 226 (in den Ideen [1800] Nr. 99); typisch für diese Naturauffassung und den Anspruch ästhetischen Denkens auf das Gebiet der Wissenschaften sind auch Idee 97 (ebd.): Günstiges Zeichen, daß ein Physiker sogar - der tiefsinnige Baader - aus der Mitte der Physik sich erhoben hat, die Poesie zu ahnden, die Elemente als organische Individuen zu verehren, und auf das Göttliche im Zentrum der Materie zu deuten!, und das -i4/Ae»ä«iw-Fragment 381 (ebd. 236): Viele der ersten Stifter der modernen Physik müssen gar nicht als Philosophen, sondern als Künstler betrachtet werden. Kritisch hat sich u. a. Hoxie Neale Fairchild (Religious Trends in English Poetry aaO. [Kap. 9, Anm. 76] 299 f.) mit dem Wissenschaftsbegriff der Romantik - zwar der englischen, aber diese zeigt sich in ihren Grundpositionen auch hier der deutschen durchaus verwandt und allen Versuchen, ihn zu aktualisieren, auseinandergesetzt: „ [ . . . ] of recent years Coleridge and his fellows, especially Wordsworth and Shelley, have been credited with furthering a more modern conception of science than the crudely materialistic and mechanistic one which dominated their own day. Such praise is not undeserved, but it should perhaps be tempered by doubts as to whether romantic transcendentalism is consistent with any tenable conception of science, however ,vitalistic* or ,organic'. [ . . . ] A thoroughly romanticized science becomes merely one more means of flattering that lust for independent spiritual power which genuine science inevitably denies. Rather than regard these poets as harbingers of the atomic bomb I prefer to think of them as extremely unscientific men despite their eagerness to transform science into the stuff of romantic illusion." 74 August Wilhelm Schlegel: Sehr. III 55.

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neuen Einheit von Mensch, Natur und Gott erblickte, säkular vorgestellt als Rückkehr des Goldenen Zeitalters, des Arturischen oder Saturnischen Reichs, als Heimkehr nach Atlantis oder religiös verbildlicht als Neues Jerusalem, als Anbruch des Tausendjährigen Reichs, als Wiederherstellung des Paradieses. Als mystisch-metaphysische Naturphilosophie verkleidet erscheint dieses geschichtsphilosophische Gedankengut in den Lehrlingen zu Sais75: Die Lehrlinge umarmten sich und gingen fort. Die weiten hallenden Säle standen leer und hell da, und das wunderbare Gespräch in zahllosen Sprachen unter den tausendfaltigen Naturen, die in diesen Sälen zusammengebracht und in mannigfaltigen Ordnungen aufgestellt waren, dauerte fort. Ihre innern Kräfte spielten gegen einander. Sie strebten in ihre Freiheit, in ihre alten Verhältnisse zurück. Wenige standen auf ihrem eigentlichen Platze, und sahen in Ruhe dem mannigfaltigen Treiben um sich her zu. Die übrigen klagten über entsetzliche Qualen und Schmerzen, und bejammerten das alte, herrliche Leben im Schöße der Natur, wo sie eine gemeinschaftliche Freiheit vereinigte, und jedes von selbst erhielt, was es bedurfte. ,0! daß der Mensch', sagten sie, ,die innre Musik der Natur verstände und einen Sinn für äußere Harmonie hätte. Aber er weiß ja kaum, daß wir zusammen gehören, und keins ohne das andere bestehen kann. Er kann nichts liegen lassen, tyrannisch trennt er uns und greift in lauter Dissonanzen herum. Wie glücklich könnte er sein, wenn er mit uns freundlich umginge, und auch in unsern großen Bund träte, wie ehemals in der goldnen Zeit, wie er sie mit Recht nennt. In jener Zeit verstand er uns, wie wir ihn verstanden. [...] durch das Gefühl würde die alte, ersehnte Zeit zurückkommen; das Element des Gefühls ist ein inneres Licht, was sich in schönern, kräftigern Farben bricht. Dann gingen die Gestirne in ihm auf, er lernte die ganze Welt fühlen, klärer und mannigfaltiger, als ihm das Auge jetzt Grenzen und Flächen zeigt. Er würde Meister eines unendlichen Spiels und vergäße alle törichten Bestrebungen in einem ewigen, sich selbst nährenden und immer wachsenden Genüsse. Das Denken ist nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Fühlen, ein blaßgraues, schwaches Leben.' Die Anklänge dieser Zeilen an das Gedicht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren ... sind unüberhörbar. In beiden Fällen handelt es sich um Variationen ein und desselben Themas. Die Beschwörung einer Welt, die dem Menschen klärer und mannigfaltiger, als ihm das Auge jetzt Grenzen und Flächen zeigt, sich darbieten wird, wiederholt sich dort als Verheißung einer Welt, in der sich Licht und Schatten / Zu echter Klarheit wieder gatten-, der Glaube an eine jeder rein rationalen Erkenntnis überlegene Einsicht des Gefühls kehrt wieder als Hoffnung auf eine Zeit, in der die Herrschaft der Zahlen und Figuren durch Gesang und Liebe abgelöst ist. In beiden Fällen ist es das poetische Denken, die Imagination, dem allein die Fähigkeit zuerkannt wird, den Anbruch der neuen Zeit zu befördern, diese im Abglanz der Kunst vorwegzunehmen und die verdeckte Kohärenz der Natur wiederherzustellen, den großen Bund, in dem keins ohne das andere bestehen kann, in dem ebenso wie in der Poesie und ihrer symbolischen Sprache eins alles und alles eins ist und 75 Sehr. 1351

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deren Ahnung sich verwirklicht. Auf diesem Wege vermochte bei Novalis Naturphilosophie in Poetik, Poetik in Naturphilosophie überzugehen. Poetisierte Naturphilosophie, eine Anschauung der Natur, die an ihr die zur Dissonanz gemachte und vergessene Harmonie imaginativ zu entdecken unternahm, konnte so zur Ahnung und Erinnerung an paradiesische Zeit werden. Märchenhafte Illustration hat dies bei E. T. A. Hoffmann, im Goldnen Topf, erhalten. Nur dem poetischen Gemüt - das für Hoffmann genau wie etwa für Novalis oder Wordsworth im kindlichen immer wieder einen Bezugspunkt fand - erschließt sich dort die dem entarteten Geschlecht der Menschen nicht mehr verständliche Sprache der Natur76, das Innerste der Natur77; dem poetischen Gemüt bleibt es vorbehalten, in der dürftigen armseligen Zeit der innern Verstocktheit das .ferne wundervolle Land' 78 , ,das geheimnisvolle wunderbare Reich', die Heimat - ein Schlüsselwort auch im Ofterdingen —, Atlantis, wiederzuentdecken79 und dorthin zurückzukehren. Wo dieses Atlantis, das Bild eines Einklangs der Natur und des Menschen mit der Natur, nicht lediglich in eine Märchenwelt entrückt wurde, vermochte die poetisierte Naturphilosophie überdies geschichtsphilosophischen, ja heilsgeschichtlichen Anstrich zu bekommen, in letzter Konsequenz auf eine Regeneration des Paradieses hinauszulaufen, wie es Novalis forderte80: Das Paradies ist gleichsam üb[er] d[ie] ganze Erde verstreut und daher so unkenntlich etc. geworden - Seine zerstreuten Züge sollen vereinigt - sein Skelett soll ausgefüllt werden. Wieder scheint hier Hamann Pate gestanden zu haben, scheinen seine Gedanken weitergesponnen und auf eine andere Ebene übertragen worden zu sein. Im Zusammenhang seiner Sprach- und Zeichentheorie, die die Schöpfung ganz im Sinn der Genesis und zugleich doch mit revolutionärem ästhetischem Hintersinn als Wort Gottes betrachtete und das Paradies als Ort und Zeit vollkommenen Verständnisses göttlicher Sprache interpretierte, hatte Hamann davon gesprochen, daß wir liege die Schuld nun außer oder in uns - an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig hätten, und gefolgert81: Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen — oder noch kühner! — sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil. In solchem Licht erscheint es folgerichtig, daß Novalis sein EnzyklopädistikProjekt als Bibellehre82, die darin zu entwickelnde Harmonisierung aller Wissenschaften als scientifische Bibel verstanden wissen wollte und darüber hinaus eine Bibel als die höchste Aufgabe der Schriftstellerey bezeichnete83. Ähnlich 76 Dichtungen I I I 78. 77 Ebd. I I I 117. 78 Ebd. I I I 79. 79 Vgl. ebd. I I I 111. so Sehr. I I I 447. 81 SW I I 198 f. (Aesthetica in nuce). 82 Vgl. Sehr. I I I 365. 83 Ebd. I I I 321. An nichts Geringerem als der Bibel hat die Frühromantik des öfteren ihr literarisches, ästhetisches und geistiges Ideal gemessen. So teilt Friedrich Sdilegel am 20. 10.1798 Novalis mit, sein Ziel sei es, eine neue Bibel zu schreiben und auf

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wie die Bibel, die herrlich mit dem Paradiese, dem Symbol der Jugend anfange und mit dem ewigen Reiche - mit der heiligen Stadt ende 84 , sollte sein Unternehmen als Versuch einer großen Synopse und analogisierenden Angleichung der Wissenschaften in der Theorie zum Spiegelbild jener Idee einer Einheit, in der eins alles und alles eins ist, werden, die, zur Vorstellung paradiesischen Lebens gemacht, dem Projekt zugleich den Charakter biblischer Verheißung zu geben geeignet war. Enzyklopädie, Poesie und Natur stellen lediglich drei verschiedene Aspekte desselben Gedankens dar. Die Rückführung der getrennten Wissenschaften, der beziehungslosen Vielfalt des Wissens in die verlorene Kohärenz bedeutet nichts anderes als die wissenschaftstheoretische Adaption jenes Bilds einer umfassenden Harmonie, das der gesamten Epoche zum Faszinosum geriet und sich in zahllosen Verwandlungen und Metaphern in ihr ausgedrückt hat. Als Lehre von der gemeinschaftlichen Natur der Dinge verstanden, übernahm die Enzyklopädistik die Rolle geschichtsphilosophischer Propädeutik, wurde ihre Konstruktion ähnlich wie die Poesie zum Vorgriff auf den geschichtlich einzulösenden, unverzichtbaren Anbruch eines neuen und letzten Zeitalters der Aussöhnung, der Wiederherstellung der Natur in ihre paradiesische Ursprünglichkeit. Zu den zahlreichen identischen oder verwandten Bildern, die solches beschwören, gehören die folgenden Zeilen aus dem Astralis-Ge&sht, mit dem der zweite Teil des Ofterdingen beginnt 85 : Es bricht die neue Welt herein Und verdunkelt den hellsten Sonnenschein, Man sieht nun aus bemoosten Trümmern Eine ivunderseltsame Zukunft schimmern, Und was vordem alltäglich war, Scheint jetzo fremd und wunderbar. (Eins in allem und alles im Einen Gottes Bild auf Kräutern und Steinen Gottes Geist in Menschen und Tieren, Dies muß man sich zu Gemüte führen. Keine Ordnung mehr nach Raum und Zeit Hier Zukunft in der Vergangenheit.) Muhameds und Luthers Spuren zu wandeln (Novalis [ed. Wasmuth] IV 403); Novalis antwortet (Brief vom 7 . 1 1 . 1 7 9 8 ) , er sei bei seinem Studium der Wissenschaft überhaupt und ihres Körpers, des Buchs - ebenfalls auf die Idee der Bibel geraten - der Bibel als des Ideals jedweden Buchs. [...] Die Theorie der Bibel, entwickelt, gibt die Theorie der Schriftstellerei oder der Wortbildnerei überhaupt - die zugleich die symbolische, indirekte Konstruktionslehre des schaffenden Geistes abgibt. Dabei bringt er sein eigenes Bibel-Projekt wiederum mit dem der Enzyklopädistik in Verbindung (ed. Wasmuth IV 404 f.). Dieser Gebrauch des Worts ,Bibel' zeigt am Detail bereits exemplarisch einerseits den Einfluß der Säkularisierung auf die Romantik, anderseits den sakralen Habitus, den die Literatur vor dem Hintergrund solcher Säkularisierung anzunehmen vermochte. 84 Novalis: Sehr. I I I 321. 85 Ebd. I 318 f.

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Der Liebe Reich ist auf getan, Die Fabel fängt zu spinnen an. Die diesen Versen mitgegebene Verheißung einer neuen Welt, in der die Sprache der Natur wieder als unverfälschtes und unmittelbares Wort Gottes vernehmlich und die symbolische Repräsentanz jedes in jedem erreicht sein wird, liest sich wie eine romantische Variation und Ergänzung zu Hamann. Sie formuliert, was zu den idees fixes der Romantik gehört: den Traum von einer gemeinschaftlichen Sprache aller Dinge. In ihm mitgeträumt worden ist freilich stets auch etwas anderes: die Vorstellung einer universalen Herrschaft dei Poesie. Die neue Welt, in der der Geist Gottes wieder verständlich und alles wieder Mittheilung ist, ist zugleich auch ihr Reich, das Reich der Fabel, und steht unter dem Zepter jener Macht, die der Romantik zum Inbegriff einer Coincidentia oppositorum, der Aufhebung und Verwandlung alles Gegensätzlichen, wurde: der Imagination, des Gemüts. Da die Erfüllung der Geschichte, das Goldene Zeitalter auch das der Poesie ist und diese wiederum nichts anderes als Darstellung des Gemüths bedeutet86, erscheint es in der Tat höchstbegreiflich, warum am Ende alles Poesie wird — Wird nicht die Welt am Ende, Gemüth? 87 Damit lebte in romantischer Metamorphose die alte, von Vergil erstmals formulierte Idee der Identität von Saturnischer und poetischer Zeit wieder auf, konnte der Dichter sich abermals in die Rolle eines prophetischen Künders goldener Zukunft versetzen. Es mag dabei ein Zufall der Literaturgeschichte oder auch ein bedeutungsvolles Zeichen sein, daß Novalis bereits in einer Jugendarbeit die vierte Ekloge übersetzte88. Nicht allein bei ihm nimmt sich romantische Dichtungstheorie wie eine einzige große Applikation und Fortsetzung des Hamannschen Satzes von der zerstückelten Sprache der Natur aus. Was Hamann offengelassen hatte, die Frage nach der Schuld an dem als Reduktion des Sprachverständnisses wie der Sprache selbst gedeuteten Verlust des Paradieses, blieb dabei weiterhin in der Schwebe. Daß sie außer uns liege, war die Antwort, die die romantische Geschichtsphilosophie gab, indem sie die Entwicklung der Menschheit als geschichtlich notwendigen Abschied vom Goldenen Zeitalter interpretierte; daß sie in uns liege, war die Antwort, die die romantische ,Anthropologie' gab, indem sie die Entwicklung des menschlichen Geistes, menschheits- wie menschengeschichtlich, als dessen Sündenfall, als Hybris der Reflexion, des abstrahierenden und rationalisierenden Bewußtseins auslegte; darin jedoch, daß sie abgegolten werden könne, die Reihe der Zeitalter mit dem Goldenen wieder enden, die Zukunft als Rückerstattung der Vergangenheit sich erweisen und der Weg des Geistes in einer neuen Einheit von Denken und Fühlen, Begriff und Bild sein Ziel finden werde, bestand das Novum romantischen Denkens. Dessen Antwort hob, wo sie aus der Gewißheit geschichtsphilosophischer Verheißung heraus erfolgte, die Frage zugleich auch immer wieder auf. 87 Ebd. I I I 654. «6 Ebd. I I I 650. 88 Die Übersetzung wurde erstmals vollständig abgedruckt bei Mähl: Goldenes Zeitalter 430fi.; entstanden ist sie wahrscheinlich 1790 (s. ebd. 429).

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Zum bevorzugten Ort dieser Verheißung wurde die Dichtung, zu ihrem Anwalt die Dichtungstheorie. Was Hamann angedeutet hatte, daß die Turbatverse der Natur durch den Dichter nicht nur nachzuahmen, sondern in Geschick zu bringen, d. h. zu ordnen, zu alter Harmonie zu fügen seien, ging in das Selbstverständnis romantischer Poetik und Dichtungstheorie ein, prägte ganz allgemein den Kunstbegrifi der Epoche. Hatte Hamann bereits geschichtsphilosophische Probleme als ästhetische behandelt, so verschmolzen in der Romantik vollends Ästhetik und Utopie, Dichtungstheorie und Geschichtstheorie. Nicht willens, den schönen Schein der Kunst lediglich als Trost zu empfangen, an ihm lediglich als Fiktion wahrzunehmen, was die Wirklichkeit vorenthielt, waren nicht wenige Romantiker kühn genug, ihm die Verwirklichung abzufordern, ihn zum Garanten eines geschichtlichen Versprechens zu machen. Exemplarisch hat Hölderlin das in der Vorrede zur vorletzten Fassung (1795) des Hyperion zur Sprache gebracht89: Die seelige Einigkeit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Ev xai Tlav der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst. Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jezt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. [...] Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all' unseres Strebens, wir mögen uns darüber verstehen oder nicht.

[...]

Wir hätten [...] keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Worts, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu vereinigen, wir dächten und wir handelten nicht, es wäre überhaupt gar nichts, (für uns) wir wären selbst nichts, (für uns) wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden - als Schönheit; es wartet, um mit Hyperion zu reden, ein neues Reich auf uns, wo die Schönheit Königin ist. — Ähnlich wie bei Novalis eine mystisch und theosophisch gefärbte, poetisierte Naturphilosophie, ähnlich auch wie bei Wordsworth ein ungleich sensualistischerer, gleichwohl nicht minder poetisch bestimmter Naturbegriff, ist hier die Schönheit, mithin die der Kunst, zum Unterpfand eines von der Zukunft noch einzulösenden Versprechens geworden. Abermals tauchen dabei die für das romantische Denken so kennzeichnenden Einheitsvorstellungen auf. Was August Wilhelm Schlegel in der Poesie symbolisch zur Anschauung gebracht sah, die große Wahrheit, daß eins alles und alles eins ist, was Novalis mit deutlich religiösem Akzent im Bild einer erlösten Welt, in der Eins in allem und alles im Einen sei, entwarf und Wordsworth als the unity of all90 bezeichnete, erscheint bei Hölderlin im Gewand SW I I I 236 f. 90 Prelude 26 (II 226). 8»

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Das Programm

antiker, Heraklitischer Formeln, in der Vorrede als En kai Van, in der endgültigen Fassung des Romans selbst - und deutlicher noch mit Blick auf die griechische Kultur — als ev öiacpspov gavrcp (das Eine in sich selber unterschiedene) 91. Das freilich stellt mehr als eine Reminiszenz an Heraklit dar, ist vor allem auch als Huldigung an das Symposion zu verstehen, das letzteres Diktum des Vorsokratikers überliefert und, wiewohl nur mittelbar, in den Zusammenhang des Platonischen Eros- wie Schönheitsbegriffs eingefügt hat 92 . So zielt schon der emphatische Schlußsatz der Vorrede93: Ich glaube, wir werden am Ende alle sagen: heiliger Plato, vergieb! man hat schwer an dir gesündigt, unausgesprochen in erster Linie wohl auf das Symposion ab, und unmißverständlich erweist daneben natürlich besonders der Name, den Hölderlin für seine weibliche Hauptfigur wählte, Diotima, dem Gastmahl Reverenz. Dessen Philosophie der Schönheit und der Liebe und nicht zuletzt die am Androgynen-Mythos, wie ihn dort Aristophanes erzählt94, versinnbildlichte ursprüngliche Einheit des Menschen sowie die daraus hergeleitete Erklärung der Liebe als Sehnsucht, in die alte Totalität zurückzukehren, haben sich im Hyperion niedergeschlagen. Nicht nur ruft der Roman an zwei Stellen - eher unterschwellig in den Schlußsätzen95, eindeutig jedoch in einer Passage im zweiten Buch des ersten Bands96 - die Erinnerung an den Mythos wach; Hölderlin scheint zudem, was im Symposion durchaus nicht in verwandtem Kontext sich befindet, miteinander verbunden zu haben: das vermeintliche Heraklit-Zitat, den ins Bild des Androgynen gebannten Gedanken an eine frühere Identität des jetzt Gegensätzlichen und die von Sokrates unter Berufung auf Diotima entwickelte Idee der Schönheit. Alles zusammen unterliegt dem Begriff, wenn Hyperion sagt 97 : O ihr, die ihr das Höchste und Beste sucht, in der Tiefe des Wissens, im Getümmel des Handelns, im Dunkel der Vergangenheit, im Labyrinthe der Zukunft, in den Gräbern oder über den Sternen', wißt ihr seinen Nahmen? den Nahmen deß, das Eins ist und Alles? Sein Nähme ist Schönheit. 91 w 94 95

SW I I I 81; vgl. auch ebd. I I I 83. 92 Vgl. Symposion 187a. SW I I I 237. Vgl. Symposion 189d - 193d. SW I I I 160: Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sieb wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles. 96 Ebd. I I I 54: Wir [Hyperion und Diotima] nannten die Erde eine der Blumen des Himmels, und den Himmel nannten wir den unendlichen Garten des Lebens. Wie die Roten sich mit goldnen Stäubchen erfreuen, sagten wir, so erfreue das heldenmüthige Sonnenlicht mit seinen Strahlen die Erde; sie sey ein herrlich lebend Wesen, sagten wir, gleich göttlich, wenn ihr zürnend Feuer oder mildes klares Wasser aus dem Herzen quille, immer glüklich, wenn sie von Thautropfen sich nähre, oder von Gewitterwolken, die tie sich zum Genüsse bereite mit Hülfe des Himmels, die immer treuer liebende Hälfte des Sonnengotts, ursprünglich vieleicht inniger mit ihm vereint, dann aber durch ein allwaltend Schiksaal geschieden von ihm, damit sie ihn suche, sich nähere, sich entferne und unter Lust und Trauer zur höchsten Schönheit reife. - Auch der hier offenkundig kosmologische Aspekt des Mythos ist im Symposion (vgl. 190b) vorgeprägt. 97 Ebd. I I I 52 f.

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Wußtet ihr, was ihr wolltet? Noch weiß ich es nicht, doch ahn' ich es, der neuen Gottheit neues Reich, und eil' ihm zu und ergreife die andern und führe sie mit mir, wie der Strom die Ströme in den Ocean. Mit dieser Adaption, die wie so oft im XVIII. Jahrhundert, sobald die Formel vom Einen und Allen gebraucht wird, sicherlich spinozistisch beeinflußt ist und sich trotz mancher Affinität zum ästhetischen Ideal der Klassik, besonders Schillers, durch den ihr nachdrücklich übertragenen Glauben an ein in der Schönheit sich ankündigendes und auf Erden zu verwirklichendes neues Reich der Vereinigung von Selbst und Welt, Ich und Natur zu Einem unendlichen Ganzen als romantisch erweist, erhielt die Philosophie des Symposion eine neue, ihr eigentlich fremde, geschichtsphilosophische Wendung - und überdies, wie in der Renaissance, obschon unter anderen Aspekten, eine ästhetische. Zwar spricht weder die Vorrede noch die zitierte Stelle des Romans ausdrücklich von der Schönheit der Kunst - wird sie doch gerade in letzterem Fall an Diotima, der Geliebten, personifiziert erfahren (Und du, du hast mir den Weg gewiesen! Mit dir begann ich98) —, indes kommt das ästhetische Moment andernorts zur Geltung, in den Betrachtungen Hyperions zur athenischen Kultur: Das erste Kind [. .. ] der göttlichen Schönheit nennt er dort die K u n s t u n d zumal von der Dichtung ist dabei die Rede 10°. Inwieweit das gerade auch auf den schönen Schein der Kunst übertragen wird, geht klarer noch aus einem Brief an Niethammer hervor101, in dem Hölderlin den ästhetischen Sinn als das Prinzip bezeichnet, das vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, und zugleich den Plan mitteilt, ,Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen' zu schreiben. Es blieb indes beim Plan. Daß dieses Vorhaben, wäre es je verwirklicht worden, die in Schillers Briefen soeben erst formulierte These einer Vermittlung von ,sinnlichem Trieb' und ,Formtrieb' im ,Spieltrieb' zumindest auch um das erweitert hätte, worauf dort bewußt verzichtet wird, um die Dimension geschichtlicher Erwartung, konkreter Utopie, läßt sich gleichwohl vermuten. Schönheit zum Inbegriff deß, das Eins ist und Alles, gemacht und als aufgehobene Entfremdung von Ich und Natur, als abgegoltene, in die Einheit zurückverwandelte Trennung aller Gegensätze in symbolischer und vorläufiger Gestalt der Kunst überantwortet, hat nicht nur dieser beinahe überall in der Romantik einen eminent utopischen Charakter verliehen, sondern ebenso einhellig ihre Theorie und Definition bestimmt. Poetry, befand Shelley 102 - und es gibt wohl keinen Romantiker, der ihm darin nicht zugestimmt hätte - , is a mirror which makes beautiful that which is distorted. übereinstimmend damit 98 Ebd. III 53. w Ebd. III 79. 100 Vgl. ebd. III 81. 101 Ebd. VI 1, 203 (Brief vom 24. 2. 1796); vgl. auch den Brief vom 4. 9. 1795 an Schiller (ebd. VI 1, 181). 102 Compl. Works VII 115.

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Das Programm

heißt es an anderer Stelle der Defence103: it subdues to union under its light yoke, all irreconcilable things-, und 104 : It makes us the inhabitants of a world to which the familiar world is a chaos. In poetisch-phantasmagorischer Metamorphose haben sich diese Gedanken - und nichts könnte vielleicht ihre Verbindlichkeit für die Romantik insgeheim besser beweisen - sich selbst noch in einem Gedicht niedergeschlagen, das frei von allem theoretisierenden und philosophischen Ballast ist - Shelleys The Witch of Atlas (1820). Was zunächst wie das unverbindliche Produkt einer dichterischen Mußestunde, wie ein allen ernsten Anspruchs entbundenes, verspieltes Werk freischweifender Phantasie erscheint - und sicherlich in mancher Hinsicht als solches auch konzipiert ist - , läßt doch den Blick noch frei für das, was ihm trotz aller Freizügigkeit des Einfalls zugrunde liegt, und entpuppt sich als Tagtraum romantischer Poetik, Dichtungstheorie und Schönheitsphilosophie. Die Geschichte von der ,Witch of Atlas', der mit magischen Kräften begabten, schönen Tochter Apolls ( [ . . . ] her beauty made / The bright world dim, and everything beside / Seemed like the fleeting image of a shade105), die in einer Höhle lebt, mit ihrer Stimme und Gestalt alle Kreatur bezähmt (The magic circle of her voice and eyes / All savage natures did imparadise106) und als Geisterwesen alles durchdringt, die Natur ebenso bezaubert wie die Menschen, denen sie im Traum, als Ahnung einer besseren Welt, erscheint, liest sich in nicht wenigen Passagen wie eine Metapher all der Hoffnungen, die die Romantik in die Imagination, die Dichtung und die Schönheit setzte. Nicht allzu lange vor der Zeit, aus der dieses Gedicht stammt, hatte Shelley das Symposion übersetzt (1818). Die dort in den Reden über den Eros anklingende Vorstellung einer Versöhnung des Gegensätzlichen ist hier zu einem eindrucksvollen Bild geworden107: Then by strange art she kneaded fire and snow Together, tempering the repugnant mass With liquid love - all things together grow Through which the harmony of love can pass; daß das Produkt solch magischer - von der Romantik auch immer der Dichtung und Imagination zugeschriebenen - Verbindung des scheinbar nicht zu Verbindenden ein Hermaphrodit ist 108 , scheint deutlicher sogar auf den Platonischen 1 0 4 Ebd. 103 Ebd. V I I 137. 105 Shelley: Poetical Works 374 (v. 137 ff. [Str. 12]). 106 Ebd. 373 (v. 103 f. [Str. 7]). i° 7 Ebd. 379 (v. 321-24 [Str. 35]). los Vgl. ebd. v. 329-336 (Str. 36): A sexless thing it was, and in its growth It seemed to have developed no defect Of either sex, yet all the grace of both, In gentleness and strength its limbs were decked; The bosom swelled lightly with its full youth, The countenance was such as might select Some artist that his skill should never die, Imaging forth such perfect purity. Vgl. auch v. 388 (Str. 43).

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D i a l o g zu verweisen. I s t schon in d i e s e m F a l l der B e z u g zur P o e t i k d e r E p o c h e unschwer herzustellen, s o noch leichter an anderer Stelle der zur Dichtungstheorie. D i e f o l g e n d e n V e r s e enthalten ein L e i t m o t i v d e r R o m a n t i k - die stets in E r w a r t u n g sich v e r w a n d e l n d e E r i n n e r u n g a n d a s G o l d e n e Z e i t a l t e r 1 0 9 : Her cave was stored with scrolls of strange device, The works of some Saturnian Archimage, Which taught the expiations at whose price Men from the Gods might win that happy age Too lightly lost, redeeming native vice; And which might quench the Earth-consuming rage Of gold and blood — till men should live and move Harmonious as the sacred stars above; And how all things that seem untameable, Not to be checked and not to be confined, Obey the spells of Wisdom's wizard skill; Time, earth, and fire - the ocean and the wind, And all their shapes - and man's imperial will; And other scrolls whose writings did unbind The inmost lore of Love — let the profane Tremble to ask what secrets they contain. Scrolls of strange device - d a s w ä r e eine F o r m e l , d i e d e n C h a r a k t e r romantischer Dichtung, ihr S e l b s t v e r s t ä n d n i s nicht schlecht t r ä f e . A l s P a l i m p s e s t sozu109 Ebd. 376 (v. 185-200 [Str. 18, 19]). Nochmals gegen Schluß kommt endzeitliches Versprechen zu Wort, dringt in die Schilderung der von der ,Witch of Atlas' den Menschen bescherten Träume ein - diesmal biblisches - Echo der Friedenswelt ein (ebd. 387, v. 641-45 [Str. 75]): The soldiers dreamed that they were blacksmiths, and Walked out of quarters in somnambulism; Round the red anvils you might see them stand Like Cyclopses in Vulcan's sooty abysm, Beating their swords to ploughshares [...] In Jesaja 2, 4, findet sich das, worauf diese Verse anspielen, als Verkündigung und Vision des Neuen Jerusalem wieder, einer Zeit, in der die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen. - Insgesamt enthalten die Schlußstrophen (Str. 69-77) mit ihrer in Traumform entworfenen Zeichnung einer Welt, in der es besser wäre und in der die von den Romantikern so oft als Herrschaft des Menschen über den Menschen angeklagten Gesetze der Religion, des Staates und der Moral aufgehoben erscheinen, eines der wichtigsten Themen von Shelleys Dichtung. Es läßt sich von Queen Mab (1813) über The Revolt of Islam (1818) bis zu Hellas (1822) verfolgen und hat immer wieder zum anspruchsvollen Selbstverständnis des Dichters als Künders eines neuen Reichs beigetragen. Der unterschwellige Zusammenhang zwischen The Witch of Atlas und der Dichtungstheorie und Poetik Shelleys, der es in mancher Hinsicht nahelegt, im Gedicht nicht zuletzt eine metaphorisch-spielerische Variation des romantischen Poesiebegriffs zu sehen, wird zumal dann schlaglichtartig deutlich, wenn man in Mont Blanc auf das Bild trifft (Poetical Works 533, v. 44): In the still cave of the witch Poesy.

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Das Programm

sagen, als verschlüsselter, nicht jedem zugänglicher Text, in dem sich, ähnlich wie in der so häufig als Zeichenschrift begriffenen Natur und Welt, eine Heilsbotschaft verbirgt, hat sie sich oft genug verstanden wissen wollen 110 . Verheißung ist eines ihrer zentralen Themen. Beides, was in Shelleys visionary rhyme111 von der ,Witch of Atlas' noch jenseits aller anderweitig so offenen Proklamation eingegangen ist, die Beschwörung des Goldenen Zeitalters und der damit immer verknüpften Vorstellung der Kongruenz und Kohärenz des äußerlich Widersprüchlichen, zeichnet sich ähnlich fern programmatischer Formulierung in einem Gedicht ab, das zu den kryptischsten der an Verschlüsselungen reichen romantischen Literatur zählt, in Coleridges Vision in a Dream - Kuhla Khan (1798). Coleridges Opiumtraum von Xanadu ist auch zugleich der Traum von einer Welt, in der das Gegensätzliche in seltsamer Eintracht nebeneinander besteht 112 Ii was a miracle of rare device, A sunny pleasure-dome with caves of ice! - , ein Traum romantischer Imagination, der nicht nur zahlreiche Reminiszenzen an die Darstellung des Gartens Eden im Paradise Lost enthält 113 , sondern überdies in der Idee einer Zurückgewinnung dieses Paradieses durch das dichterische Wort endet, in einen Wunschtraum romantischer Dichtungstheorie schlechthin übergeht m : 110

Das Motiv der in alten Schriften verborgenen Kunde von einer besseren Welt - das zugleich auch auf das so eigenartig die Vergangenheit mit der Zukunft kontaminierende Geschichtsbild romantischen Denkens verweist - ist bei Shelley bereits in T h e Revolt of Islam anzutreffen (s. Poetical Works 72 ff. [v. 1439 f., 1477 ff., 1 5 1 3 - 2 1 ] ) ; bei E. T. A. Hoffmann taucht es in Gestalt der .Pergamentrolle' im Goldnett Topf auf, bei Novalis in dem Gedicht An Tieck: Ein altes Buch mit Gold verschlossen, / Und nie ge hörte Worte drin, bildet dort den Unterpfand der Verheißung: In diesem Buche bricht der Morgen / Gewaltig in die Zeit hinein {Sehr. I 411 f.; das spielt auf Jakob Böhmes Aurora an; s. dazu sowie zu den in dieses Gedicht eingegangenen Vorstellungen aus der Apokalypse, der Gnosis und Mystik Wolfgang Speyer: Das entdeckte heilige Buch in Novalis' Gedicht ,An Tieck', in: arcadia 9 [ 1 9 7 4 ] , 3 9 - 4 7 ) ; deutlicher noch vermitteln die Das Gedicht betitelten Verse das von heilsgeschichtlichen Gedanken geprägte Selbstverständnis romantischer Literatur (Sehr. I 410): Unter hohen festen Bogen, Nur von Lampenlicht erhellt, Liegt, seitdem der Geist entflogen, Nun das Heiligste der Welt. Leise kündet beßre Tage Ein verlornes Blatt uns an, Und wir sehn der alten Sage Mächtige Augen auf getan.

in H2 113 in

So wird das Gedicht in der Widmung To Mary bezeichnet (Poetical Works 371, v. 8). Poems 2 9 8 (v. 35 f.). Vgl. die Beschreibung Xanadus mit Paradise Lost I V 2 2 3 - 8 7 . Poems 298 (v. 3 7 - 5 4 ) ; auch an Abyssinian maid [.. .] Singing of Mount Abora scheint auf Milton zurückzugehen: im Paradise Lost I V 2 8 0 ff. ist vom Berg Amara, where Abassin kings their issue guard, / [...] by some supposed / True Paradise, die Rede.

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A damsel with a dulcimer In a vision once I saw: It was an Abyssinian maid, And on her dulcimer she played, Singing of Mount Abora. Could I revive within me Her symphony and song, To such a deep delight 'twould win me, That with music loud and long, I would build that dome in air, That sunny dome! those caves of ice! And all who heard should see them there, And all should cry, Beware! Beware! His flashing eyes, his floating hair! Weave a circle round him thrice, And close your eyes with holy dread, For he on honey-dew hath fed, And drunk the milk of Paradise. Novalis sprach davon115, daß die höhern Mächte in uns, die einst als Genien unsern Willen vollbringen werden, [... ] jezt Musen seien, die uns auf dieser mühseligen Laufbahn mit süßen Erinnerungen erquicken; Blake nannte die Dichtung, die Malerei und die Musik the three Powers in Man of conversing with Paradise, which the flood did not Sweep away 116 ; der Künstler sei in Eden zu Hause 117 . Sowohl Shelleys Witch of Atlas als auch besonders Coleridges Kuhla Khan lesen sich wie Illustrationen dazu. Sie spiegeln noch als spielerische bzw. somnambule Produkte jenen Gedanken an eine Wiederherstellung des Paradieses, den die Romantik nicht müde wurde, poetisch, theoretisch und geschichtsphilosophisch zu umreißen, zu erläutern und programmatisch zu verkünden. Was das utopische Denken in zwar unterschiedlich ausgemalten, im Sujet indes stets identischen Bildern umfassender Versöhnung vorstellte, hat seine erkenntnistheoretische Entsprechung; der geschichtsphilosophische Plan einer wieder zu erlangenden großen Harmonie kehrt in verkürzter und verwandelter Form als Postulat wechselseitiger Abhängigkeit, ja Einheit von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis wieder - intimate coalition oder the coincidence of the thought with the thing, of the representation with the object represented Die Nachbarschaft, in die Milton den abgelegenen Ort, an dem die abessinischen Königskinder aufwachsen (in Samuel Johnsons Rasselas findet er sich später ausführlich beschrieben), als irdische Entsprechung zum Garten Eden versetzt, erklärt in Coleridges Gedicht den assoziativen Übergang vom Gesang der Abyssinian maid zum paradiesischen Gesang vom pleasure-dome Kubla Khans. 115 Sehr. I I 564. 116 Compl. Writings 117 Vgl. ebd. 578.

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nannte es Coleridge I18 . Shelley brachte es in geläufige, an Berkeley erinnernde Form, als er schrieb ,19 : All things exist as they are perceived; at least in relation to the percipient, Blake auf eine apodiktische Kurzformel 120 : As the Eye, Such the Object. An dieser Identität von Erfahrung und Realität, von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, wie sie Hölderlin dem ästhetischen Sinn' zuerkannte, ohne sie doch damit dem Schein der Kunst schon als letztlich erfüllte zuzuschreiben, hat die romantische Theorie fast durchgängig festgehalten. Aus ihr erklärt sich - wenn auch nicht ausschließlich - zum einen die Absage an den normativen klassizistischen Mimesis-Begriff, zum andern die zuweilen affirmative Insistenz, mit der dem zum Produkt individueller Erfahrung geratenden Kunstwerk der Anschein absoluter Gültigkeit erteilt wurde. Der Rückzug der Kunst hinter den Horizont des Subjekts ging keinesfalls mit dem Verzicht auf ihre objektive Aussagekraft einher. Eher wurde die Relativität der Erkenntnis dort zurückgenommen, wo letztere als künstlerische, imaginative, visionäre sich formulierte. Kein Romantiker hat das deutlicher zum Ausdruck gebracht als gerade derjenige, der am entschiedensten sein Werk, die Malerei ebenso wie die Dichtung, der eigenen Vision anheimgab - Blake 121 : And I know that This World Is a World of imagination & Vision. I see Every thing I paint In This World, but Every body does not see alike. To the Eyes of a Miser a Guinea is more beautiful than the Sun, & a bag worn with the use of Money has more beautiful proportions than a Vine filled with Grapes. The tree which moves some to tears of joy is in the Eyes of others only a Green thing that stands in the way. Some See Nature all Ridicule & Deformity, & by these I shall not regulate my proportions; & Some Scarce see Nature at all. But to the Eyes of the Man of Imagination, Nature is Imagination itself. As a man is, So he Sees. As the Eye is formed, such are its Powers. You certainly Mistake, when you say that the Visions of Fancy are not to be found in This World. To Me This World is all One continued Vision of Fancy or Imagination [...]. Durch die postulierte Identität von Subjekt und Objekt erhält überdies die so oft anzutreffende Anthropomorphisierung der Natur eine Rechtfertigung, bei Wordsworth ebenso wie bei Hölderlin, Shelley, Lamartine, Hugo oder in den Lehrlingen zu Sais122: Drückt nicht die ganze Natur so gut, wie das Gesicht, und die Gebärden, der Puls und die Farben, den Zustand eines jeden der höheren, wunderbaren Wesen aus, die wir Menschen nennen? Wird nicht der Fels ein eigentümliches Du, eben wenn ich ihn anrede? Und was bin ich anders als der Strom, wenn ich wehmütig in seine Wellen hinabschaue, und die Gedanken in seinem Gleiten verliere? Fast überall in der Romantik richteten sich solche us Biographia Literaria aaO. (Anm. 47) 114 f.; vgl. auch: The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, Vol. I: 1794-1804, ed. by K. Coburn, London 1957, Nr. 921. Compl. Works VII 137 (A Defence of Poetry). 120 Compl. Writings 456 (,Annotations to Reynolds'). 121 Ebd. 793 (Brief vom 2 3 . 8 . 1799 an Dr. Trusler); ähnlich findet es sich in den gnomischen Sentenzen von The Marriage of Heaven and Hell (ebd. 151): A fool sees not the same tree that a wise man sees. Zum erkenntnistheoretischen Aspekt der Imagination bei Blake s. Frye: Symmetry 19, 27 ff. 122 Novalis: Sehr. I 100.

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Gedanken ausgesprochen oder unausgesprochen gegen vermeintlich oder tatsächlich mechanistische und materialistische Denkmodelle, die die Natur zum bloßen fremden Objekt zu machen versucht waren 123 , sind sie Ergebnis einer Ahnung oder audi bereits Erfahrung ständig zunehmender ausbeuterischer Herrschaft des Menschen über die Natur. Die dem entgegengesetzte Idee aufgehobener Entfremdung verkürzte sich indes auf ästhetischer Ebene nur allzu häufig zu einer Projizierung des Ichs in die Natur, ließ deren Sprache zum Echo der dichterischen, ihre als vertraut und verwandt beschworene Physiognomie zum Spiegelbild des Dichters werden. Daß die immer neu in Bildern und Metaphern evozierte Verwandtschaft, das seltsame Verhältnisspei der Dinge124 untereinander und mit dem Menschen, im Subjekt allein ihren Ort fand, blieb nicht immer verborgen. Shelleys Schlußzeilen des Gedichts Mont Blanc deuten den projektiven Charakter romantischer Dichtung zwar nur an, lassen jedoch klar erkennen, inwieweit die den Objekten so gern verliehene Sprache eben die Sprache poetischer Einbildungskraft gewesen ist 125 : And what were thou, and earth, and stars, and sea, If to the human mind's imaginings Silence and solitude were vacancy? Eine Art Antwort hatte bereits geraume Zeit zuvor Coleridge in der Ode Dejection (1802) gegeben. Sie markiert jenen Punkt, an dem der Traum einer Identität von Subjekt und Objekt, einer Kohärenz von Natur und Mensdi, einer Semantik der Dinge am Bewußtsein der Verinnerlichung sein Ende fand 126 : I may not hope from outward forms to win The passion and the life, whose fountains are within. O Lady! we receive but what we give, And in our life alone does Nature live: Ours is her wedding garment, ours her shroud! And would we aught behold, of higher worth, Than that inanimate cold world allowed To the poor loveless ever-anxious crowd, Ah! from the soul itself must issue forth A light, a glory, a fair luminous cloud Enveloping the Earth And from the soul itself must there be sent A sweet and potent voice, of its own birth, Of all sweet sounds the life and element! Verweisen Shelleys Verse zumindest implizit darauf, woran, zwar nicht in artistischer Hinsicht, jedoch dem selbstgesteckten Ziel nach, romantische DichS. dazu auch Abrams: Mirror 64 f. 12t Novalis: Sehr. II 672 (Monolog [1798]). 125 Poetical Works 535 (v. 142 ff.). 126 Poems 365 (v. 45-58). 123

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tung 2u scheitern drohte, so liefert Coleridges Ode das offenkundig persönliche, gleichwohl symptomatische Dokument dazu. Sie beklagt den Verlust dessen, was nicht nur ihm als einzige Beglaubigung dichterischer Fähigkeit galt - der Imagination127, jener von der Romantik stets als schöpferisch und erkennend beschriebenen, Subjekt und Objekt, Geist und Natur verbindenden und versöhnenden Kraft. Daß indes aus dieser Krisenstimmung heraus eines der berühmtesten Gedidhte der englischen Romantik entstand - eine Art Pendant dazu bildet Wordsworth' Ode Intimations of Immortality (1807) scheint der eigenen Theorie in manchem Abbruch zu tun. Dennoch hat die Romantik auf ihr allenthalben bestanden. Wordsworth' Prelude erzählt bezeichnenderweise neben der Entwicklungsgeschichte des Autors und zugleich verschmolzen mit ihr die Entwicklungsgeschichte dichterischer Imagination128, kreist dabei wieder und wieder um die Kongruenz und wechselseitige Abhängigkeit von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt 129 . In ihr äußert sich, wie Abrams betont hat 13°, nicht allein eine grundlegende, für die Poetik, Literaturkritik und Dichtungstheorie bis in die Gegenwait hinein folgenreiche Umwertung traditioneller poetologischer Prinzipien, sondern auch eine Neuorientierung philosophischer, insbesondere erkenntnistheoretischer Modellvorstellungen. Wohl hat die Romantik dem Begriff der Mimesis als einer unabdingbaren Kategorie jeglicher künstlerischen Darstellung niemals gänzlich abgeschworen; aber sie hat, anders als die aristotelische und horazische Poetik in allen ihren Derivaten und Adaptionen noch, das Gewicht unmißverständlich auf das im eminenten Maß als kreativ begriffene Subjekt künstlerischer Tätigkeit gelegt. Daß das Werk nicht in erster Linie das wie immer veränderte, selektive, verschönerte Abbild der Wirklichkeit, vielmehr 127

Zeugnis davon legen vor allem die folgenden Zeilen ab (Poems 366 [v. 7 6 - 8 6 ] ) : There was a time when, though my path was rough, This joy within me dallied with distress, And all misfortunes were hut as the stuff Whence Fancy made me dreams of happiness: For hope grew round me, like the twining vine, And fruits, and foliage, not my own, seemed mine. But now afflictions bow me down to earth: Nor care I that they rob me of my mirth; But oh! each visitation Suspends what nature gave me at my birth, My shaping spirit of Imagination.

Wordsworth bezeichnete die Imagination im Prelude (237 [ X I I I 289]) als the main essential Power; Blake befand in den .Annotations to Wordsworth' (1826 [Compl. Writings 782]) rigoros: One Power alone makes a Poet: Imagination, setzte diese freilich zugleich - als ,Spiritualist' gegen Wordsworth' .Naturalismus' polemisierend - mit the Divine Vision in eins. Die Unterschiede zwischen dem .Visionär' Blake und dem .Realisten' Wordsworth sind gleichwohl so groß nicht: audi dieser berief sich wiederholt auf das visionäre Moment imaginativer Erkenntnis. 128 S. dazu Prelude 233 ( X I I I 171-88), sowie 237 ( X I I I 289 ff.). 129 Vgl. ebd. 27 (II 267-75), 213 (XI 252-57), 229 ( X I I 368-79). 130 S. dazu bes. Minor 47-69, 84 ff.; insgesamt ist das Buch solcher Umwertung gewidmet.

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Resultat einer mit der Wirklichkeit erst auf imaginativem Wege in Beziehung tretenden, sie in gewissem Sinne erst konstituierenden Anschauung sei, das Ergebnis einer schöpferischen Vision eher als einer passiven Wahrnehmung, haben die Romantiker immer wieder hervorgehoben 131 . Wordsworth' Zeilen aus dem Prelude, die als Zuversicht und Bestätigung des erkennenden Subjekts formulieren, was Coleridge zum Anlaß völliger Desillusion wurde, sprechen das deutlich aus 132: [...] but this I feel, That from thyself it is that thou must give, Else never canst receive. Dahinter steht geistesgeschichtlich einmal ein Rekurs auf neuplatonische erkenntnistheoretische Positionen, insbesondere auf Plotin 133 . Aber auch Prämissen der idealistischen Philosophie haben hier in vielen Fällen, zunächst vornehmlich in der deutschen Romantik, ihre ästhetische Adaption erfahren, nicht zu Ungunsten der Dichtungstheorie. Ein Begriff der Imagination, der poetischen Einbildungskraft, der ihr nicht lediglich - wie etwa die Kunsttheorie des Klassizismus - ornamental-ausschmückende Funktion übertrug, sondern sie dem begrifflich-abstrakten Denken, dem Verstand überordnete und in ihr als der inventive and creative faculty134 das Movens jeglicher Erkenntnis, the basis of all knotvledge, wie es bei Shelley heißt , 3 5 , the living power and prime agent of all human perception, wie Coleridge formulierte 136 , erblickte, vermochte der mit ihr als reinstem Ausdruck stets identifizierten Dichtung einen in der Geschichte zuvor niemals so ausgeprägt vorhandenen epistemologischen Anstrich zu verleihen. Das machte aus der ästhetischen Theorie zuweilen einen Appendix der Erkenntnistheorie; in radikaler Umkehr der Verhältnisse konnte sogar aus der Philosophie ein Anhängsel der Dichtung werden. In einem von Schleiermacher stammenden Fragment aus dem Athenäum erscheint denn auch die solipsistische Tendenz resoluten Idealismus' für dichtungstheoretische Belange eingespannt 137 : Keine Poesie, keine Wirklichkeit. So wie es trotz aller Sinne ohne Fantasie keine Außenwelt gibt, so auch mit allem Sinn ohne Gemüt keine Geisterwelt. Wer nur Sinn hat, sieht keinen Menschen, sondern bloß Menschliches: dem Zauberstabe des Gemüts allein tut sich alles auf. Nicht minder stark schlägt die Um kehr der Valeurs in einem Fragment aus der Feder August Wilhelm Schlegels durch 138 : Der Dichter kann wenig vom Philosophen, dieser aber viel von ihm 131 S. dazu auch Wilhelm Dilthey: Ges. Sehr. VI, Stuttgatt/Göttingen 31958, 116. »2 215 (XI 332 ff.). 133 Vgl. dazu Abrams: Minor 58 ff., der auch auf eine Reihe von identischen Bildern, mit denen bei Plotin und in der Romantik der Geist als erkennendes Subjekt vorgestellt wird, hinweist. 134 Compl. Works VII 134. 135 Ebd. 136 Biographta Literaria aaO. (Anm. 47) 167. 137 KFSA II 227. 138 Ebd. II 186.

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lernen. Es ist sogar zu befürchten, daß die Nachtlampe des Weisen den irre führen möchte, der gewohnt ist im Licht der Offenbarung zu wandeln. Stets wurde die Imagination als eine auch in ganz außerkünstlerischem Sinn Wahrheit vermittelnde Kraft betrachtet, ja als das vornehmste Organ der Erkenntnis, bei Hölderlin139 nicht anders als bei Shelley 140 oder Wordsworth 141 , um nur diese hier stellvertretend zu nennen. Angesichts einer ästhetischen Theorie, die über einen kaum noch von metaphysischen Spekulationen sich abhebenden Begriff der Imagination künstlerische Erfahrung zum Maßstab der Erkenntnis erhob 142 und damit der Dichtung erstmals wieder uneingeschränkt und mit vorher nicht gekanntem Anspruch zubilligte, was Piaton ihr abgesprochen hatte, konnte der Dichter die Rolle des einzig autorisierten Interpreten der Dinge übernehmen, Dichtung zu einer Art Offenbarung und ihre Theorie zur ,Offenbarungsdoktrin' 143 werden. Bei Tieck fungierte der Dichter als jemand, der gesandt wurde, den verschlossenen Sinnen alle die Erscheinungen der Natur und der Geschichte auszudeuten 144; Novalis notierte 145 : Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Er ist der Sinn für das Eigentümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnisvolle, zu O f f e n b a r e n d e , das Notwendig-Zufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare usw. Und selbst Wordsworth, der sicherlich auch in dieser Hinsicht nicht zu den radikalsten seiner Zeitgenossen zählt, äußerte im Prelude, an Coleridge gewandt 146 : [...] Dearest Friend, Forgive me if I say that I, who long Had harbour'd reverentially a thought That Poets, even as Prophets, each with each Connected in a mighty scheme of truth, Have each for his peculiar dower, a sense By which he is enabled to perceive Something unseen before; forgive me, Friend, S. dazu Lawrence Ryan: Hölderlins Dichtungsbegriff, in: Hölderlin-Jb. 12 (1961-62), 20-41. ho Vgl. Compi. Works V I I 136 f., auch 112; s. auch das Gedicht Epipsychidion ÇPoetical Works 4 1 5 [v. 163-69]). m Vgl. Prelude 207 (XI 45), 233 (XIII 166-70). 142 Auf den erkenntnistheoretischen Aspekt romantischer Ästhetik ist oft hingewiesen worden, s. z. B. Gérard: L'Idée romantique 78 f., 348; A . E . P o w e l l (Mrs. E. R. Dodds): The Romantic Theory of Poetry. An Examination in the Light of Croce's Aesthetic, New York 1962, 14, 149; Cecil Maurice Bowra: The Romantic Imagination aaO. (Kap. 8, Anm. 5) 7, 10. H3 Der Begriff stammt von I. A. Richards, der in den Principles of Lit. Criticism (aaO. [Anm. 49], bes. 254-87) damit eben die seit der Romantik manifeste Vermengung von ästhetischer Theorie und Erkenntnistheorie meint, die der Dichtung wie ihrer Kritik abträgliche Vermischung unterschiedlicher (wissenschaflicher und emotionaler) Sprachund Bewußtseinsebenen. 144 Sehr. I - X X V I I I , Berlin 1828-54, X V I I I 121 (Dichterleben 1826). 145 Novalis (ed. Wasmuth) III 43. 146 226 (XII 298—312). Es ist vor dem Hintergrund dieses Zitats, aber auch anderer Passagen

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If I, the meanest of this Band, had hope That unto me had also been vouchsafed An influx, that in some sort I possess'd A privilege, and that a work of mine, Proceeding from the depth of untaught things, Enduring and creative, might become A power like one of Nature's [...] Wie aus dem Kontext hervorgeht, bezieht sich das auf Wordsworth' Gedanken im Jahr 1793: der Schluß des Prelude indes macht deutlich, daß dies mehr darstellt als eine historische Reminiszenz, von der der Autor sich distanzieren wollte. Am Ende dieser Entwicklung stand, um nur ein Beispiel anzuführen, Carlyles affirmatives Diktum 147 : The true Poet is ever, as of old, the Seer; whose eye has been gifted to discern the godlike Mystery of God's Universe, and decipher some new lines of its celestial writing; we can still call him a Vates and Seer; for he sees into this greatest of secrets, ,the open secret'; hidden things become clear; how the Future (both resting on Eternity) is but another phasis of the Present: thereby are his words in the very truth prophetic; what he has spoken shall be done.

aus Wordsworth' Werk nicht ganz verständlich, wenn Abrams, sich gegen Bowras Auffassung in The Romantic Imagination, aaO. (Kap. 8, Anm. 5), wendend, schreibt (.Mirror 313): „ [ . . . ] it is, I think, ultimately misleading to put Blake and Shelley, instead of Wordsworth and Coleridge, at the intellectual center of English romanticism, and consequently to make the keystone of romantic aesthetics the doctrine that the poetic imagination is the organ of intuition beyond experience, and that poetry is a mode of discourse which reveals the eternal verities." Zwischen Wordsworth und Coleridge auf der einen und Blake und Shelley auf der anderen Seite scheinen doch, gerade was den Begriff der Imagination angeht, eher nur graduelle, nicht prinzipielle Unterschiede zu bestehen, Unterschiede der Diktion, nicht so sehr des Inhalts. 147 The Works [ = Centenary Ed.], London 1896-99, X X V I I 377.

11 Archaische und mythische Modelle [. ..] wir gewöhnten uns, einen größeren Maßstab für die Poesie anzulegen; wir fingen an einzusehen, daß der Sinn für die eigentliche Dichtkunst, die, einst ein wesentlicher Moment des Daseins, Kunst, Wissenschaft und Staat durchdrungen hatte, verloren gc gangen war, und wieder belebt werden mußte. Henrik Steffens: Was ich erlebte (1841) Das graue Altertum wird wieder lebendig werden, und die fernste Zukunft der Bildung sich schon in Vorbedeutungen melden. Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie (1800)

Nirgendwo mehr als in der Romantik hat sich eines der Charakteristika enthusiastischer Dichtungstheorie geltend gemacht: ihre Affinität zu Modellen, die aus archaischer Zeit stammen oder dieser zumindest zugerechnet wurden, oft sogar in die Region mythischer Vorstellungen zurückreichen. Nirgendwo zuvor auch ist die von dichtungstheoretischer Spekulation so oft angetretene Reise in die Vergangenheit derart einhellig und unvermittelt als Erkundung und Vermessung wieder in Anspruch zu nehmenden Terrains verstanden worden. Im Unterschied etwa zur Dichtungstheorie der Renaissance, die alle stolzen Hinweise auf die vormalige Funktion des Dichters und der Dichtung zwar zu deren Ruhm und Apologie schlechthin anführte, selten indes solche Reminiszenzen auch schon unumwunden zum immer noch gültigen und aktuellen Bezugspunkt des Selbstverständnisses machte, verwandelte sich der Romantik der so gern und keineswegs lediglich aus allgemein apologetischem oder historischem Interesse auf die Rolle der Kunst in geschichtlich ferner Zeit geworfene Blick nur allzu leicht in eine Projektion dessen, was herbeizuführen eines ihrer sehnlichsten Ziele war: Dichter und Dichtung wieder in ihre vermeintlich ursprüngliche, angestammte Stellung einzusetzen. Auch darin schlägt sich ein Geschichtsverständnis nieder, dem Vergangenheit und Zukunft, Vorzeit und Utopie wie die einander entsprechenden Seiten ein und derselben Münze erschienen. Niemand unter den zahlreichen Autoren, die sich im XVIII. Jahrhundert, vor der Romantik noch, teilweise im Umkreis primitivistischer Theorien, mit den Fragen nach dem Ursprung der Dichtung, ihrer kulturhistorischen Funktion, ihrer Rolle und Physiognomie im ,Kindheitsstadium' der Menschheit beschäftigten, hatte das poetische Denken so konsequent zum Substrat frühgeschichtlichen Bewußtseins, zur Initiative aller Zivilisation erklärt wie Vico. Im Rahmen einer neuartigen, geschichtsphilosophisch fundierten Deutung der Mythen, vorzugsweise der griechischen, die in ihnen den Ausdruck einer notwendiger-

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weise in Bildern statt in Begriffen, in poetischer statt in .rationaler' Rede sich manifestierenden Welterfahrung erkannte, hatte er - darin jedenfalls durchaus noch in Anknüpfung an traditionsreiche, uralte Vorstellungen - von den Dichtertheologen (i poeti teologi) als den ersten Weisen der griechischen Welt (i primi sappienti del mondo greco), von der dieser Zeit zuzurechnenden poetischen Vorform aller Wissenschaften, der poetischen Weisheit (sapienza poeticä) und poetischen Metaphysik ( m e t a f i s i c a poeticä) gesprochen1. Trotz der in der Scienza Nuova entwickelten zyklisch angelegten Geschichtstheorie unterlag dem gleichwohl an keiner Stelle der Gedanke, die frühere Macht des poetischen Denkens für die jüngere Vergangenheit oder gar die Gegenwart und Zukunft zu reklamieren2. Im Gegenteil, als gleichsam endgültiger, weil geschichtstheoretisch begründeter Abschied vom Zeitalter mythischen Denkens und damit auch vom Zeitalter größtmöglicher Geltung der Poesie lesen sich Vicos Ausführungen „über die gemeinschaftliche Natur der Völker". Aus der Rationalität aufklärerischen Bewußtseins, aus der Distanz und Klarheit historischen Interesses, nicht aus eingestandener oder versteckter Fixierung an dem, was einstmals war, sind sie geschrieben. Die Erinnerung an die Bedeutung der Poesie in archaischer Zeit zum Maßstab ihrer zeitgenössischen Geltung, zur Forderung nach neuer Herrschaft zu erheben, blieb seinen direkten oder - in den meisten Fällen - indirekten Erben gegen Ende des XVIII. und zu Beginn des XIX. Jahrhunderts vorbehalten. Unter den Wegbereitern der Romantik kündigt sich das bei Herder am deutlichsten an. So sehr seine Geschichts- und Sprachtheorie in manchen Zügen der Vicos ähnelt, ohne doch diesem wohl, zumindest zum Zeitpunkt ihres Entstehens, ihrer ersten Formulierung, unmittelbar verpflichtet zu sein, so weit weicht sie doch in ihren dichtungstheoretischen Implikationen ab und erteilt der Idee eines auf einer frühen Stufe der Menschheitsgeschichte angesiedelten poetischen (bei Vico ,heroischen') Zeitalters wiederum neue, durchaus gegenwärtige Geltung. Vico scheint darin nüchterner, geschichtsbewußter gedacht zu haben. Fast immer, wenn Herder über die Funktion der Literatur, insbesondere der Dichtung, innerhalb der Gesellschaft schrieb, schweifte er in seinen Spekulationen weit zurück, zuweilen bis in vorliterarische Zeiten. Zu spüren ist das bereits an einer seiner ersten bedeutenden literaturkritischen Schriften, den Fragmenten Ueber die neuere Deutsche Litteratur (1766/ 67). Griechenland vor allem, die antike griechische Kultur, die mutmaßlich hervorragende Stellung griechischer Autoren im geistigen und gesellschaftlichen 1 Vgl. Tutte le Opere aaO. (Kap. 9, Anm. 12) 96, 143, 153 ff. Bezeichnenderweise finden sich Ansätze zu einer analogisierenden Übertragung des vornehmlich an der antiken Welt exemplifizierten dreiteiligen Geschichtsverlaufs auf die nachantike, christliche Epoche lediglich in staats- und rechtsphilosophischer, kaum in literarhistorischer Hinsicht. Letzteres läßt sich nur einmal ahnen - dann, wenn Dante als il toscano Omero (ebd. 402; s. auch 4 1 5 [„der toskanische Homer"]) bezeichnet wird. Insgesamt bleibt in der Scienza Nuova jedoch die Verbindlichkeit des zyklischen Geschichtsmodells für den ganzen Umkreis der Geschichte weitgehend unklar, im Stadium des Postulats.

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Leben ihrer Zeit erscheinen als Paradigmata3: Gemeiniglich waren die große sten Schriftsteller zugleich die größesten Nationalautoren. Den Geist ihrer Zeit, die Denkart ihres Volks, die Natur ihrer Sprache, wüsten sie, bis auf Schwächen und Eigenheiten, wißentlich oder durch den Einhauch des Genie's so zu nutzen, daß sie, nach der Hand ihres Jahrhunderts gebildet, Züglinge ihrer Nation, auch im vorzüglichen Verstände Schriftsteller derselben werden konnten, die den Genius ihres Volks, wie Sokrates seinen Dämon, zu Käthe zogen, und für Zeit und Vaterland schrieben. Griechische, Römische, Orientalische und Bardische Dichter des Alterthums - wie wurden sie von dem Geist ihrer Nation, Zeit und Sprache belebt! wie viel nahmen sie daher, daß sie als Nationaldichter sangen! Die Griechen insonderheit! Dichter, Geschichtschreiber, Philosophen, wie stark ist ihre National- und Sekular Denkart! Beinahe jeder in dem Grad vortreflich, und über das Gemeine hinaus, als er aus seiner Zeit, Nation und Sprache schöpfend, sich seine Welt nahm, aus welcher und für welche er schrieb! Beinahe jeder in dem Maaße der Liebling seines Volks, und der Gott seiner Zeit

[...]

Hinter diesen Sätzen lassen sich, zumal angesichts des weiteren Kontexts, in dem sie sich befinden, unschwer aktuelle Bezüge entdecken: die an anderen Stellen - auch später noch, so von Goethe und Schiller beispielsweise — wiederholte 4 Klage über die mangelnde gesellschaftliche Wirkung der deutschen Literatur, über ihren beschränkten Gehalt an Stoffen und Themen von umfassendem, ,nationalem' Interesse ebenso wie die Hoffnung auf ihre Entwicklung hin zu einer Nationalliteratur. Das Wort ,Nationalautor' allein schon weist in die Richtung. Daß Herder bei der Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Literatur zu geschichtlich entlegenen Vorbildern griff, neben der klassischen Antike auf die (orientalische) Welt des Alten Testaments, auf die Propheten, auf David und Salomon und auf die erst jüngst dem Vergessen scheinbar entrissene Welt gälischer Barden vom Schlage Ossians zurückverwies, ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend. Einmal dokumentiert das den Mangel an einer eigenen großen, für beispielhaft erachteten Tradition deutscher Literatur 5 , das Fehlen eigener epochaler Vorbilder, eines eigenen als ,klassisch' zu bezeichnenden Zeitalters, zum andern ein kulturgeschichtlich und enzyklopädisch, philologisch und literaturkritisch begründetes Interesse an archaischen 3 SW II 160. Gerade Goethes bekannte Selbstcharakterisierung seiner Werke im siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit als Bruchstücke einer großen Konfession (vgl. W., Briefe und Gespräche [ = Gedenkausg.] I - X X I V , hg. v. E. Beutler, Ziiridi 1948-54, X 312 [zit.: Goethe: W~\) erfolgt ja, was zuweilen übersehen wird, im Anschluß an eine gedrängte Darstellung der deutschen Literatur von Gottsched bis Lessing, die das Fehlen ,nationeller' Gegenstände, ,nationellen' Gehalts hervorhebt (vgl. ebd. X 292); sie ist zwar nicht allein, aber doch nicht ohne Blick auf die auch von der Klassik nicht überwundene .deutsche Misere' zu verstehen, als Zeichen eines unumgänglichen Rüdezugs ins ,Innere'. 5 Auf diesen - literarisch allerdings äußerst fruchtbaren - Traditionsmangel hat aus anderer Blickrichtung W. H. Bruford aufmerksam gemacht in: Germany in the Eighteenth Century: The Social Background of the hit. Revival, Cambridge 4 1959, bes. 302 f.

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Formen der Poesie. Beides hat sich bei Herder verbunden; das eine wie das andere ließ ihn immer wieder wie gebannt längst vergangenen Zeiten sich zuwenden und sie zu Mustern erklären. Aufschlußreich darüber hinaus ist das dichtungstheoretische Wunschbild, das hier sichtbar wird: der der Geschichte abgewonnene, zu einem nicht geringen Teil allerdings auch in sie hineinprojizierte Begriff einer Harmonie von Kultur und Gesellschaft, Bildung, Religion und Künsten, in welcher der Dichtung ein Vorzugsplatz, dem Dichter die Rolle eines praeceptor patriae zukäme. An den zu archetypischen Dichtergestalten stilisierten alttestamentlichen Propheten, am Geist der Ebräischen Poesie so der Titel der einflußreichen Schrift von 1782 - , an schottischen und irischen Barden, endlich an der griechischen Dichtung der frühen und klassischen Zeit, an Homer, Pindar, den Tragikern, fand dieser Traum vollendeter Gestalt und größtmöglichen Einflusses der Dichtung sein vermeintlich reales Gegenstück. Zumal mit seinen Hinweisen auf die griechische Kultur trat Herder in die Spuren jenes Mannes, der wie kein anderer dazu beigetragen hatte, eine vergangene Epoche nicht nur zu neuem Leben zu erwecken, sondern sie der Gegenwart als wieder zu verwirklichendes Ideal, als einzulösende Utopie vorzuhalten - Winckelmann. Er hatte die Umrisse dieses Traums anhand der griechischen Kunst skizziert, an ihr die schöpferische Harmonie zwischen äußeren Bedingungen und innerer Notwendigkeit nachzuweisen versucht. Herders Ruf nach einem zweiten, Deutsche^n] 'Winckelmann, der, was jener in Rom in Absicht auf die Kunst getan, in Deutschland in Absicht der Dichter tun könne und uns den Tempel der Griechischen Weisheit und Dichtkunst so eröfne, als e r den Künstlern das Geheimniß der Griechen von ferne gezeigt6 - aus derselben Zeit wie die oben zitierten Sätze stammend - , bringt die Verpflichtung gegenüber seinem um eine Generation älteren berühmten Zeitgenossen, gleichfalls die Hoffnung, dessen Anregungen und Gedanken auf literarisches Gebiet übertragen zu sehen, deudich genug zum Ausdruck. Kein Zweifel, daß es Herders Absichten nicht fernlag, ein solcher Winckelmann der Literatur zu werden. Was für diesen und für seinen literarisch orientierten Nachfolger — später auch beispielsweise für Schiller, nachhaltiger noch für Hölderlin - die griechische Kunst und Dichtung zum großen geschichtlichen Vorwurf werden ließ, das waren nicht zuletzt die an ihr bewunderte souveräne Stellung innerhalb der Kultur ihrer Zeit, der ihr zugebilligte repräsentative, Bildung und Wissen einer ganzen Epoche umfassende und ästhetisch widerspiegelnde Charakter, schließlich die ihr übertragene Idee einer Unterwerfung aller Dinge unter das künstlerische Bewußtsein. - Als Nietzsche gut hundert Jahre nach Herder Cultur als Herrschaft der Kunst über das Leben definierte 7 , hat er gerade diesem Gedanken, der auch die romantische Dichtungstheorie entscheidend prägen sollte, nochmals stattgegeben, nicht ohne ihm allerdings eine Wendung ins Ästhetizistische zu geben und zugleich mit schärferem Blick als seine Vorgänger an solchem s SW I 293 f. 7 Friedrich Nietzsche: Ges. W. [ = Musarionausg.] I-XXI, München 1922-28, VII 227. Diese und die folgende Notiz stammen aus dem Jahr 1873.

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Das Programm

Ideal den schönen Schein zu diagnostizieren8: Wo einmal der intuitive [d. h. künstlerische] Mensch, etwa wie im älteren Griechenland seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt als sein Wider spiel [d.h. der in Abstraktionen und Begriffen denkende Mensch], kann sich günstigen Falls eine Cultur gestalten und die Herrschaft der Kunst über das Lehen sich gründen: jene Verstellung, jenes Verleugnen der Bedürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung begleitet alle Aeusserungen eines solchen Lebens. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand: es scheint so, als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. Daß diese von ihm selbst so oft beschworene Herrschaft der Kunst über das Leben in - wenn auch schöner - Verstellung und Täuschung bestehe, hätte Herder freilich kaum eingeräumt; anders denn als glänzende, spielerische Hülle der Nothdurft, in weit anspruchsvollerem, dabei realitätsfernerem Sinn als von Nietzsche angedeutet, schwebte sie ihm, wie ähnlich dann der Romantik, vor. In späteren Versuchen, dem, was Dichtung und welches ihre Funktion sei, auf die Spur zu kommen, so besonders in der Preisschrift von 1778, Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, sowie in den Beiträgen zu seiner Zeitschrift Adrastea (1801 ff.) meldet sich die Faszination archaischer und mythischer Modelle vernehmlicher noch zu Wort. Ein um das andere Mal findet sich der vermeintliche ,Ursprung' der Dichtung sprachgeschichtlich aus der Priorität des emotionalen, sinnlichen, bildlichen Ausdrucks vor dem abstrakt-begrifflichen, kulturgeschichtlich aus der anfänglichen Einheit alles Wissens, religionsgeschichtlich aus der vormaligen Identität von sakraler und dichterischer Sprache hergeleitet - , ihre sozusagen ,antediluvianische' Gestalt gegen alle historische Metamorphose und Entwicklung ins Feld geführt. Dabei bediente sich Herder großzügig aus dem überlieferten Arsenal dichtungstheoretischer Wunschträume. Am Anfang, so heißt es in der Preisschrift unter Hinweis auf Orpheus, Linos, Musaios und die alttestamentlichen Propheten, seien die Dichter Gesetzgeber, Richter der Geheimnisse und innigsten Gottesdienste gewesen 9 , erst später Dichtung zum Machwerk, zur Erdichtung, Fabelei, zur Fiktion geworden10. - Das von der enthusiastischen Dichtungstheorie so oft beanspruchte mantisdh-prophetische Element, auch Hesiods Bestimmung des Gesangs als Kunde dessen, was war, ist und sein wird, zeichnen sich ab, wenn man in der Adrastea liest 11 : In einem höheren Sinn leuchtet Pindar allen lyrischen Dichtern vor, als Bote der Götter, Bildner der Jugend, Ausleger der Geschichte und Sagen. Ohne Dichtkunst liegen diese wie todte Steine Deukalions und der Pyrrha da; der lyrische Dichter erhebt sie, wirft sie, und siehe, sie leben. Ein Odenmacher, der in den engen Kreis der s Ebd. VI 91. 9 SW VIII 366. 10 Vgl. ebd. VIII 375 f. 11 Ebd. XXIV 338 (6. Bd. 1804).

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Gegenwart eingeschloßen, blos lobt, tadelt, oder zum Genuß reizet, bleibt ein Dichter des Moments, wird von der fortrückenden Zeit bald vergeßen oder bestehet vor ihr mit Schande. Der lyrische Dichter, der rückwärts und vor sich hinausblickt, der die Vergangenheit und Zukunft in seinem Herzen traget, gesandt vom Himmel, erhebt er das menschliche Gemüth und wird ein Ausleger, ja ein Schöpfer der Zeiten. [... ] Sende uns, nachdem der thebanische Sänger sanft im Tempel entschlief, die Muse solche Exegeten der Geschichte und die müßiggewordne lyrische Poesie wird wieder geheiligt. — Bilder und Vorstellungen aus dem Phaidros und Ion taudien, wiederum in der Preisschrift, als Beglaubigung dichterischer Berufung und dichterischen Amts auf 1 2 : Ein Dichter ist Schöpfer eines Volkes um sich: er gibt ihnen eine Welt zu sehen und hat ihre Seelen in seiner Hand, sie dahin zu führen. So solls seyn: so wars ehemals: immer aber und überall kann nur ein Gott solche Dichter geben. Was Menschenwerk ist, folgt auch menschlichen Sitten um sich her; es ist von der Erde und spricht indisch: der Sänger, der vom Olymp kömmt, ist über alle, und eben der Stab seiner W ürkun g ist das Kreditiv seines Berufs. Wie der Magnet das Eisen, kann er Herzen an sich ziehen und wie der elektrische Tunke allgegenwärtig durchdringt, allmächtig fortwandelt: so trifft auch sein Blitz, wo er will, die Seele. Er wird weder Weichling seyn, noch Kitzler, noch Sittenverderber, nicht aus Gesetzen von aussen, sondern weil er edleres Feuer, höhern Beruf in sich fühlet. - Hamannsche und auch eigene, früher formulierte sprachgeschichtliche Thesen klingen an, wenn der Dichter in seiner ursprünglichen und reinsten Gestalt ein Dollmetscher der Natur, ein Bote der Schöpfung13 genannt und seine Sprache als die der Bilder bezeichnet wird, die ausdrücke, was sich durch mutternackte Abstraktionen nimmer oder äusserst matt und elend sagen läßtu. Selbst die Erinnerung an die alte theologische Poetik wird wieder wach, wenn Herder in Hinblick auf die Poesie der Bibel und den Einfluß der als Dichter begriffenen Propheten auf das Volk Israel schreibt 15 : Und welches war, mit Einem Worte, diese Würkung? Sie war Göttlich, th e ur gi s ch. Was alle Dichter rühmen, oder in Lügen formein und in Formeln lügen, das war hier Wahrheit: Eingebung der heilige Quell ihrer Dichtkunst und die Absicht ihrer Würkung nichts Unreiners und Geringers als Sitten, das ganze Herz des Volkes im innigsten Verstände. Es sollte ein Priesterthum Gottes, ein königliches Volk seyn; nicht5 anders und zu nichts anderm war die Dichtkunst. Sie ist also in allem was sie war und nicht war, was sie erreichen sollte und nicht erreicht hat, das merkwürdigste, lehrendste Muster: ,wie Dichtkunst auf Sitten einesVolkes würken sollte, und was sie o f t nicht würke!' Der Dichter als Gesetzgeber, als Sittenverwandler16, als ,Exeget der Geschichte', als Bote der Götter, prophetischer, göttlich inspirierter Sänger 12 Ebd. VIII 433 f. 13 Ebd. VIII 340. H Ebd. VIII 360. is Ebd. VIII 364 f. 16 Vgl. ebd. VIII 434.

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diese durch Tradition geheiligten, natürlich durch sie auch abgeschliffenen und im X V I I I . Jahrhundert, im Zuge der Aufklärung und Säkularisierung beinahe völlig außer Kurs geratenen, von Herder jedoch gerade deshalb wohl bewußt und provozierend gebrauchten Formeln geben eine Antwort auf die dichtungstheoretische Kernfrage nach der Funktion der Dichtung und dem Sinn des Dichters in der Welt, wie sie exaltierter und anspruchsvoller nicht sein könnte. Denn keinesfalls um nur zu rekapitulieren, welchen Rang diese vorzeiten und unter unvergleichlich anderen Bedingungen einmal eingenommen hätten, sind derartige Beispiele hier aufgeführt; vielmehr dazu, der Gegenwart eine als vorbildlich betrachtete, oft bereits schon im Mythos sich verlierende Vergangenheit als Spiegel vorzuhalten. Das geht aus dem Ruf nach einem neuen Pindar, aus der Forderung, daß es wieder so sein solle, wie es ehemals war, überhaupt aus dem Tenor der zitierten (und unschwer zu vermehrenden) Äußerungen eindeutig hervor. Mit solchen Mustern in seltsam ungeschichtlicher Negierung aller historischen und kritischen Distanz konfrontiert, konnte die zeitgenössische - kann jede Literatur, nüchtern besehen - schwerlich anders denn als Karikatur erscheinen. In diesem Zusammenhang vermag auch die sarkastische und rhetorische Frage nicht zu erstaunen17: Ihr Dichter der Vorwelt, Ossian und Orpheus, erscheint wieder, werdet ihr eure Mitbrüder erkennen? werdet ihr für die Presse singen, und jetzt in Deutschland ge druckt e, r e censirte, gelobte, elend nachgeahmte Dichter werden? Zu einer Zeit, in der, bedingt sowohl durch die rapide Ausweitung des Buchhandels seit etwa der Mitte des X V I I I . Jahrhunderts wie auch durch das wachsende Selbstbewußtsein bürgerlicher Intelligenz, Schriftstellerei vom mobile officium' zu einem Beruf zu werden, an die Stelle des Mäzenatentums mehr und mehr der Markt zu rücken begann und die Schriftsteller sich als eigener Be rufsstand zu begreifen und zu etablieren anfingen18 - eine Entwicklung, die in Frankreich und England bereits früher eingesetzt hatte und weiter gediehen war —, muten Herders Positionen eigenartig anachronistisch an. Sie evozieren mit ihrer kompromißlosen Kritik an jeder Art von Literaturbetrieb, an der Kommerzialisierung der Literatur 19 , an einer Dichtkunst, die Meßgut ist und Karmen an den Geburtstagen der Grossen20, d. h. marktabhängige Ware oder mäzenatenhörige Enkomiastik, nicht zuletzt mit dem an die Dichtung angelegten ganz außerliterarischen Wahrheits- und Geltungsanspruch Vorstellungen, 17 Ebd. V I I I 430. 18 Diese Entwicklung haben nachgezeichnet und analysiert Hans H. Borcherdt: Das Schriftstellertum von der Mitte des 18. Jh.s bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Sehr, des Vereins für Sozialpolitik 152 (1922), 1-55, und Hans Jürgen Haferkorn: Der freie Schriftsteller. Eine lit.-soziologische St. über seine Entstehung und Lage in Deutschland zwischen 1750 und 1800, in: Archiv für Gesch. des Buchwesens 5 (1964), 523-711. 19 S. dazu auch Herder: SW V I I I 411 f. 2 0 Ebd. VIII 434; gerade indes die Oden des von ihm so bewunderten Pindar haben, was Herder hier zu übersehen scheint, eine ihrer Quellen in der Enkomiastik, sind Karmen an den Geburtstagen der Grossen gewesen; wie überhaupt die von Herder beanspruchte Souveränität des Dichters, auch was die antike Dichtung angeht, eher ein Wunschbild ist.

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die in ihrer Unbedingtheit jenseits aller im eigentlichen Sinne literarischen Kultur angesiedelt sind und deren Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen zugunsten unerfüllbarer Wunsch- und Traumbilder verleugnen. Kein Wunder, daß dabei - anders als in den Frühschriften - der Begriff .Literatur' selbst ebenso in Mißkredit gerät wie das ihn doch zu einem wesentlichen Teil konstituierende vergnügliche und fiktive Element 21 : Uns bilden Gesetze, Gesellschaften, Moden, Stände, Sorgen der Nahrung: unsre Musen sind das Vergnügen, und der Apollo derselben die liebe Noth. — Die Poesie ist Litteratur: ein Paradies voll schöner Blumen und lachender Früchte; nur zeugt die schöne Farbe nicht von Güte derselben, noch weniger der süsse Geschmack. Beides, die Denunziation des Vergnügens an der Literatur wie ihrer Kommunikationsmittel im Zeitalter des Buchdrucks, des literarischen Markts, sollte in der deutschen Literaturgeschichte seine Spuren hinterlassen, zunächst in der Romantik. Eine ähnlich weit rückwärts in vorliterarische Zeiten gewandte Verunglimpfung spricht aus August Wilhelm Schlegels Vorwurf, die Buchdruckerei habe den ungeheuersten Mißbrauch der Schrift möglich gemacht und veranlaßt [...]. Der einzige wesentliche Dienst, den sie der Welt geleistet haben mag, sei wohl gleich zu Anfange die Verbreitung der klassischen Autoren gewesen. Nachdem sie dies bewirkt, hätte sie nur wieder untergehen mögen [ . . . ] . Denn nicht nur den Sinn für den Zauber des lebendigen Vortrags habe sie um ein großes vermindert, sondern auch den Zauber der Schrift selbst [...] großenteils aufgehoben. Während vormals ein einziges [Buch] schon ein kostbares Besitztum gewesen sei, eine romantische Armut geherrscht habe, seien die Menschen jetzt durch die Leichtigkeit des Besitzes gegen das Vortrefflichste so gleichgültig geworden, daß sie meistens gar nicht mehr mit Andacht, sondern bloß zu gedankenloser Zerstreuung lesen; und mit der unnützen Leserei habe die unnütze Schreiberei in gleichem Maße zugenommen, sei sie zu dem geworden, was sie ehedem nicht habe sein können: Gewerbe21. Nicht alles an dieser Kritik mag von der Hand zu weisen sein, aber es sind die Schlußfolgerungen, die dem Selbstverständnis der Literatur gefährlich zu werden vermochten. Auch wenn Schlegel sich beeilt zu versichern, es sei hier von einer ursprünglich anderen Wendung die Rede, welche die neuere Kultur ohne diese Erfindung hätte nehmen können, und seine Äußerungen seien keineswegs so zu verstehen, als ob nicht fetzt, da das Bedürfnis gedruckter Bücher habituell geworden, die Abschaffung das größte Unheil verursachen würde, ja, selbst ein furchtbares Mittel in der Hand des Despotismus werden könnte23, ist alledem doch der Bann durch einen Literaturbegriff anzumerken, der historisch zwar kaum belegbare, dafür aber um so mehr den eigenen Wünschen zugerichtete Bilder früherer Verhältnisse sich als Muster und Anspruch zuschlug. Derartige Ansichten haben für die deutsche Literatur bis ins XX. Jahrhundert hinein Konsequenzen gehabt. Zum einen hat die aus ihnen resultierende AniEbd. VIII 22 Sehr. 23 Ebd. 21

VIII 415; zur Denunzierung des Fiktiven wie des Vergnüglichen s. auch ebd. 408 und 436. I I I 74 ff. I I I 76.

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Das Programm

mosität gegen eine in der Ära des Buchs als Produkt für den Markt, des Autors als Produzenten unverzichtbare Voraussetzung jeder literarischen Kultur, nicht minder jeder Nationalliteratur, dazu beigetragen, deren Entwicklung zu retardieren und so das selbstgesteckte Ziel zu hintertreiben. Sie nicht zuletzt hat verhindert, Literatur zu einem „atmenden Organismus" zu machen, „der von den simplen Gelegenheitsprodukten obskurer Schreiber bis zu den erlesensten Werken der Meister alle Stufen des Schrifttums umfaßt und in allen seinen Äußerungen von den Impulsen einer Gesellschaft, einer Nation belebt wird" 24 . Das Scheitern wurde dabei zuweilen sogar als Erfolg ausgelegt, so etwa als Thomas Mann mehr als ein Säkulum später (in den Betrachtungen eines Unpolitischen) Deutschland das unliterarische Land nannte 25 und einen gewissen Stolz in diese Feststellung setzte. Auch aus Hofmannsthals Charakterisierung der deutschen Literatur in der programmatischen Rede Das Schrifttum als geistiger Kaum der Nation (1927) ist weniger Resignation als Bewunderung herauszuhören26: Wir haben eine Literatur im uneigentlichen Sinne, die aufzählbar, aber nicht wahrhaft repräsentativ noch traditionsbildend ist. Und wir haben neben ihr, außer ihr, unter ihr, über ihr eine geistige Regsamkeit, die in dem Begriff Literatur nicht einbegriffen sein will, aber alle Ansprüche, das geistige Leben der Nation zu bestimmen, in sich faßt, die sich weder an die Gegenwart als die verantwortliche Geselligkeit der Lebenden, noch an die verantwortliche Geselligkeit der Nation zu binden, die überhaupt nichts zu verantworten begehrt und doch nach den tiefsten, ja nach kosmischen Bindungen und den schwersten, ja religiösen Verantwortungen für die Gesamtheit begierig, durchaus nur in der einzelnen Persönlichkeit wirksam sein will. Daß er, an dieser Stelle wohl vor allem an George und dessen Kreis denkend, die Keime zu einer erst zu stiftenden Nationalliteratur und literarischen Kultur in solcher Isolierung, in solchem Anspruch noch zu erkennen vermochte, zeugt davon, wie sehr auch bei ihm der Begriff der Literatur von jenem utopisch-prätentiösen Inhalt geprägt ist, der sich einer Umsetzung in die Realität zwangsläufig sperren mußte. Zum andern sind in der bei Herder wie bei Schlegel schon vorgezeichneten Abgrenzung zwischen ,profaner', weil mit den verhaßten ökonomischen Prinzipien' sich einlassender, und .geheiligter', ,reiner', weil ihnen scheinbar enthobener Literatur sowie in der bei Herder deutlicher noch als bei Schlegel zum Ausdruck kommenden Verachtung jeder Kunst, die statt Verkündigung und Deutung Spiel, Vergnügen, Unterhaltung sein will, einige der Gründe zu suchen für die bis in die jüngste Vergangenheit hineinreichende wertende Unterscheidung zwischen .Dichter' und Schriftsteller'. Im George-Kreis sollten die Desavouierung des Schriftstellers' ebenso wie die zur Schau gestellte Verweigerung vor jeder Teilnahme am literarischen Leben, vor jeder ökonomischen 24 Walter Muschg: St. zur tragischen Lit.gesch., Bern/München 1965, 117. 25 Politische Sehr, und Reden I, hg. v. H. Bürgin, Frankfurt a. M. 1968 ( = Fischer Taschenbuch-Ausg.), 27. Allerdings hat Thomas Mann die in den Betrachtungen eingenommene Position sehr bald schon verlassen, wie etwa die Rede über Lessing (1929) und Goethes Laufbahn ah Schriftsteller (1932) zeigen. 26 Ges. W. in Einzelausg.:

Prosa IV, Frankfurt a. M. 1955, 397.

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Bedingung, vor jeder ,Profanisierung' der Literatur und komplementär dazu deren Heiligung und Inthronisation in quasi archaischer Würde ihre eindrucksvollsten Blüten treiben - wobei allerdings, wie Gert Mattenklott unlängst nachgewiesen hat 2 7 , ,Meister' und Jünger' in der Opposition noch die Mechanismen des Marktes, der Warenproduktion und der Reklamesprache für die eigenen Belange zu adaptieren verstanden. W o seit Herder die ,Poesie' gegen die .Literatur' ausgespielt wurde - und das zieht sich über die Romantik, ohne je ganz abzubrechen, bis zu den verschiedenen ästhetizistischen und kulturkonservativen Strömungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, ist sogar noch in der Literaturwissenschaft nachweisbar 28 - , läßt sich oft genug schemenhaft oder in deutlichen Konturen das Phantasma archaischer Bilder erkennen, galt der ,Dichter' immer wieder als legitimer Erbe orphischer oder - ins Sakrale gewendet - prophetischer Tradition und Macht, während dem ,Schriftsteller' lediglich der kompromittierende Rang eines degenerierten Abkömmlings blieb. Die daran sich manifestierenden dichterischen Großmachtsträume sind freilich, insbesondere was ihre Genese betrifft, allein geistesgeschichtlich nicht zureichend zu erklären. An ihnen haben, so scheint es, zumindest anfänglich, die nicht zu übersehenden (und gerade von Herder auch nicht übersehenen) gesellschaftlichen und politischen Hemmnisse - die langanhaltende Kleinstaaterei, der Provinzialismus, das Fehlen einer Metropole, die mangelnde Teilhabe bürgerlicher Intelligenz am politischen Leben 2 9 - eine Art Kompensation erfahren. Beides, dichtungstheoretisches Utopia und ihm entgegengesetzte gesellschaftliche Realität, steht in wechselseitiger Abhängigkeit. Die Verbindung von Dichtungstheorie und Kultur- wie Gesellschaftskritik bei Herder, die vielfachen, bei Winckelmann bereits anzutreffenden Hinweise, daß eine Kunst und Literatur, die

Sitten

s c h a f f e ,

die

Sitten

bilde,

a n d e r e r als d e r b e s t e h e n d e n

Sitten bedürfe 3 0 , deuten darauf hin. Beides aber auch, äußere Bedingungen, die so ganz anders waren als die Träume sie herbeisehnten, und als Antwort darauf wiederum Ansprüche, Entwürfe, Ideale, die an den Träumen nur um so entschiedener festhielten, vermag dafür verantwortlich zu zeichnen, daß man, 27 Bilderdienst. 247 f., 295. 28

Ästhetische

Opposition

bei Beardsley

und George,

München 1970, 119 ff.,

So etwa, um neben dem George-Schüler Friedrich Gundolf nur zwei weitere gewichtige Beispiele zu nennen, bei Fritz Strich (Dichtung und Zivilisation, München 1928) und in neuerer Zeit noch bei Walter Musdig (Tragische Lit.gesch., Bern 1948; 2 1 9 5 3 ) . Ein historischer Abriß hätte spätestens bei Dilthey zu beginnen. Vgl. zu dieser Entwicklung auch den von Horst Rüdiger herausgegebenen Sammelbd. Lit. und Dichtung - Versuch einer Begriffsbestimmung, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973, passim, bes. die Aufsätze von Karl Otto Conrady: Gegen die Mystifikation von Dichtung und Lit., 6 4 - 7 8 , und Werner Ross: „Dichtung" und „Literatur" - Versuch einer terminologischen Verunsicherung, 7 9 - 9 2 , sowie Klaus Schröter: Der Dichter, der Schriftsteller - Eine dt. Genealogie, in: Akzente 20 (1973), 1 6 8 - 8 8 .

S. zu diesem Punkt gerade auch im Zusammenhang mit einem höchst anspruchsvollen Kunst- und Kulturbegriff das ausgezeichnete erste Kapitel von Norbert Elias' Untersuchung über den Prozeß der Zivilisation. Sozialgenetische und psychogenetische Unters. I - I I , Basel 1939, I 1 - 6 4 . 30 Vgl. z. B. Herder: SW V I I I 434. 29

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Das Programm

wie Adam Müller 1806 hellsichtig formulierte31, keiner Literatur [...] ein Mißverhältnis zwischen ihren Ansprüchen und ihrem wirklichen Erfolge mit so vielen Belegen aus ihrer eigenen Geschichte zum Vorwurfe machen könnte als der deutschen. - Die Diskrepanz wurde offensichtlich, das sei hier nur angedeutet, auch in der nachfolgenden Zeit nicht aufgelöst. Sie genauer zu untersuchen, würde hier zu weit führen, zumal es sich dort, wo sie sich in der Abwertung der ,Literatur' gegenüber der ,Dichtung', des .Schriftstellers' gegenüber dem .Dichter' geäußert hat, um ein zwar nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich deutsches Phänomen handelt, das in der Geistesgeschichte anderer Länder, etwa Englands oder Frankreichs, nur sporadisch Entsprechungen hat. Die mit der Forderung nach herrschaftlicher Rolle des Dichters und mit dem Eingeständnis, daß ihr nicht entsprochen werde, so oft verknüpfte, von Herder erneut dichtungstheoretisch aktualisierte Erinnerung an die ehemalige Funktion der Dichtung und das ehemalige Ansehen des Dichters hat in der Romantik wie noch in deren weiterem Umkreis allerorten Wirkung gezeigt. Sie spricht aus Wilhelm Meisters hymnischem Lob des Dichters32: Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend träumen, und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Nicht weniger spricht sie aus der Vermutung des jungen Ofterdingen33, in alten Zeiten hätte die Sänger göttliche Gunst hoch geehrt, so daß sie, begeistert durch unsichtbaren Umgang, himmlische Weisheit auf Erden in lieblichen Tönen [hätten] verkündigen können. - Während aber die Worte, die Goethe seinem jugendlichen Helden in den Mund legt, zugleich Wilhelms Abschied von der Poesie, wenigstens vom Gedanken an eine Dichterkarriere, einleiten und den Beginn einer Entwicklung markieren, an deren Ende nicht die Literatur, sondern das tätige Leben stehen wird, kündigt sich in Heinrichs ahnungsvoller Vorstellung vom Dichter nicht nur seine eigene spätere Erfüllung an, die in dem so benannten zweiten Teil des Romans hätte dargestellt werden sollen, sondern überdies, in bewußt archaisierender Form, einiges vom dichterischen Sendungsbewußtsein des Autors. Hinter aller Übereinstimmung der Worte und der Bilder vermag daran exemplarisch deutlich zu werden, was die beiden Romane wie ihre Autoren voneinander trennt und insgesamt die dichtungstheoretischen Auffassungen Goethes von denen der Romantiker unterscheidet. Diesen geriet der Blick in die Vorzeit immer schon zum Anspruch auf die 31 Krit., ästhetische und philos. Sehr. I-II, krit. Ausg., hg. v. W. Sdhroeder, W. Siebert, Neuwied/Berlin 1967, I 36 ( V o r l e s u n g e n über die deutsche Wissenschaft und Literatur). 32 Goethe: W. VII 88 f.; auf den Bezug dieser Charakterisierung des Diditers zu ältesten Vorstellungen der Dichtungstheorie hat Ernst Robert Curtius aufmerksam gemacht, vgl. Europ. Lit. 210. 33 Novalis: Sehr. I 209.

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Gegenwart wie zur Vorwegnahme der Zukunft. Selbst in der von Ironie nicht ganz freien Perspektive, die einen - allerdings sehr menschlichen und nachdenklichen - Hund (Berganza lautet sein cervantesischer Name) zum Sprachrohr der Erinnerung an die Rolle der Dichtung in einer herrlichen alten Zeit unter dem südlichen Himmel macht, scheint bei E. T. A. Hoffmann noch genügend von der Sehnsucht durch, die bei anderen Romantikern ohne Umschweife zur Forderung zu werden vermochte34 : Damals glühte noch in der Brust der Berufenen das innige, heilige Bestreben, das im Innersten Empfundene in herrlichen Worten auszusprechen, und selbst die, welche nicht berufen waren, hatten Glauben und Andacht; sie ehrten die Dichter wie Propheten, die von einer herrlichen unbekannten Welt voll glänzenden Reichtums weissagten, und wähnten nicht, auch unberufen selbst in das Heiligtum treten zu dürfen, von dem ihnen die Poesie die ferne Kunde gab. Nun ist aber alles anders geworden. Ohne alle Ironie und Distanz, mit durchaus gegenwärtigem programmatischem Anspruch verbunden, tauchen ähnlich alte Vorstellungen bei August Wilhelm Schlegel auf, wenn er die Poesie als den Gipfel der Wissenschaft bezeichnet35, als die Deuterin, Dolmetscherin jener himmlischen Offenbarung, wie die Alten sie mit Recht genannt haben, eine Sprache der Götter. Blakes Selbstverständnis als Dichter griff zunächst auf das Vorbild der Barden36, später dann auf das der biblisdien Propheten zurück. In deren Gewand hüllte sich ein halbes Jahrhundert danach auch Victor Hugo; seine Selbstermahnung in den Châtiments (1853) sei hier nur als eines unter vielen Beispielen, die sich bei ihm finden lassen, erwähnt37 : Compris ou dédaigné des hommes, tu dois être Pâtre pour les garder et pour les bénir prêtre. Unter den direkten Erben der Romantik hat nach Hugo, teilweise auch parallel zu ihm und sicherlich beeinflußt von Emersons Glorifizierung der Dichter als inspirer s and lawgivers to their race38, vor allem Whitman derartigen Vorbildern gehuldigt. Deutlich genug geht das aus der in Anschluß an eine Betrachtung der Bibel und der alten indischen Epen gestellten Frage hervor 39 : Could there be any more opportune suggestion, to the current populär writer and reader of verse, what the office of the poet was in primeval times - and is yet capable of being, anew, adjusted entirely to the modern? Dichtungen X I I I 25 f. (Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza [1814]). 35 Sehr. II 227. 36 S. dazu David Erdman: Blake - Prophet Against Empire. A Poet's Interpretation of the Hist. of His Own Times, Princeton 1954, 31. 3 7 In dem Gedicht Ce que le poëte se disait en 1848 (Œuvres poétiques II 96). Die Propheten-Pose war freilich nur eine, wenngleich eine bevorzugte, der vielen Masken, mir denen Hugo als Dichter auftrat; s. dazu Maurice Z. Shroder: Icarus - The Image of the Artist in French Romanticism, Cambridge (Mass.) 1961 ( = Harvard St. in Romance Languages 27), 60-92. 38 The Compl. Essays aaO. (Einführung, Anm. 25) 217. 39 Walt Whitman: Compl. Writings [ = Camden Ed.] I - X , ed. by R. M. Bücke, Th. B Hamed, H. L. Träubel, New York 1902, VI 104 [zit.: Whitman: Writings~\.

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Das Programm

Kaum ein Romantiker ist derartigen Begriffen vom Dichter so systematisch nachgegangen wie Shelley in seiner Apologie der Dichtung. Im Anschluß an Reflexionen über den Ursprung der Poesie, der bezeichnenderweise anthropologisch und geschichtlich mit dem der Menschheit in eins gesetzt wird 40 , und über die Rolle des Dichters in archaischer Zeit entwirft die Defence ein Kolossalgemälde von der Macht und vom Einfluß der Dichtung, das von Griechenland über Rom und Italien nach England, von Homer über Dante bis zu Milton reicht. Wie seine ihm unbekannten und in vielem doch so verwandten Vorgänger Winckelmann und Herder stand Shelley im weiteren Sinne kunstsoziologischen Fragestellungen durchaus nicht fremd gegenüber. Die von ihm gezogenen Parallelen zwischen der athenischen Zivilisation und dem klassischen Drama, zwischen dem politischen und sozialen Leben der römischen Republik und der römischen Dichtung oder auch zwischen der christlichen Lehre sowie der Kultur und der Literatur des Mittelalters41 haben dabei allemal dasselbe Ziel: Sie sollen jene Harmonie, ja Identität von künstlerischer Blüte und geschichtlich großen Epochen, the connexion of poetry and social good42, exemplifizieren, die ihn unter seltsamer, aber typisch romantischer Ausweitung des Begriffs ,Poesie' dazu geführt hat, etwa von der ,Poesie' der römischen Sitten und Gesetze oder von der ,Poesie' der Lehre Jesu zu sprechen 43 und im ,poetischen Prinzip' (poetical principle), in der als poetical faculty bezeichneten ,Imagination' eine Grundkategorie der Menschheitsgeschichte überhaupt zu erkennen. Auf solcher Grundlage erscheint hier Weltgeschichte in rigoros idealistischer, ästhetisierender Manier als Geschichte der .Poesie' behandelt, werden geschichtlich bedeutende oder unbedeutende Epochen, Blütezeiten oder Zeiten des Verfalls als Ausdruck vorhandenen oder mangelnden ,poetischen Geistes' interpretiert. Und wenngleich Shelley es in der Theorie immerhin offen gelassen hat, wie der Zusammenhang zwischen beidem beschaffen sei, und einräumte44: We know no more of cause and effect than a constant conjunction of events: Poetry is ever found to coexist with whatever other arts contribute to the happiness and perfection of man, so macht doch eine Passage wie die folgende nur allzu deutlich, wo die Akzente gesetzt wurden45: [ . . . ] it exceeds all imagination to conceive what would have been the moral condition of the world if neither Dante, Petrarch, Boccaccio, Chaucer, Shakespeare, Calderon, Lord Bacon, nor Milton, hat ever existed; if Raphael and Michael Angelo had never been born; Vgl. Compl. Works V I I 109: [ . . . ] poetry is connate with the origin of man. 41 Vgl. ebd. V I I 118 ff.

40

« Ebd. V I I 122. The true poetry of Rome lived in its institutions; for whatever of beautiful, true, and majestic, they contained, could have sprung only from the faculty which creates the order in which they consist (ebd. V I I 125), und ebd. 126: The poetry in the doctrines of ]esus Christ [...].

43

44

Ebd. V I I 119. Das Wort ,art' (other arts) ist hier nicht so sehr im engeren Sinne von ,Kunst', sondern vielmehr im umfassenden Sinn produktiver menschlicher Tätigkeit gebraucht.

« Ebd. V I I 133 f.

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if the Hebrew poetry had never been translated; if a revival of the study of Greek literature had never taken place; if no monuments of antient sculpture had been handed down to us; and if the poetry of the religion of the antient world had been extinguished together with its belief. The human mind could never, except by the intervention of these excitements, have been awakened to the invention of the grosser sciences, and that application of analytical reasoning to the aberrations of society, which it is now attempted to exalt over the direct expression of the inventive and creative faculty itself. Der aus diesen Zeilen hervorgehende Anspruch einer Herrschaft des imaginativen Denkens über das .prosaische', der Kunst über das Leben, des (poetischen) Geists über die Welt wiederholte sich im Laufe des Jahrhunderts noch oft und wandelte sich dabei von einer idée fixe romantischer Dichtungstheorie zu einer idée reçue nachromantischen Idealismus. Zuvor hatte ihn in gewohnt apodiktischer Form bereits Blake erhoben, als er im Vorwort zu Jerusalem schrieb46: Nations are Destroy'd or Flourish in proportion as Their Poetry, Painting and Music are Destroy'd or Flourish!, und in den Annotations to Reynolds' bemerkte 47 : The Foundation of Empire is Art & Science. Remove them or Degrade them, & the Empire is No More. Empire follows Art & Not Vice Versa as Englishmen suppose. In rhetorisch-beschwörender Gestalt kehrt solches dann, dem Genie-Begrifï des XIX. Jahrhunderts anverwandelt, bei Carlyle wieder, der mit seinem Heroen-Kult gerade auch dem Dichter in archetypischer Gestalt die Physiognomie des Helden zu verleihen suchte und darauf beharrte, daß nicht das Empire, nicht die politischen, sozialen und ökonomischen Fakten, sondern Shakespeare für die Einheit der Nation einstehe48; nicht minder in Victor Hugos gleichfalls rhetorisch überreich bestücktem Enkomion auf die literarischen .Genies', William Shakespeare (1864), das die Dichter von Homer, Hiob, Jesaja und Hezekiel bis zu Dante, Rabelais, Cervantes, Shakespeare (und, wiewohl unausgesprochen, Hugo selbst 49 ) als die geheimen Gesetzgeber der Welt feiert und in dem sich der bezeichnende Satz findet50: Newton est l'appendice de Bacon; Danton dérive de Diderot; Milton confirme Cromwell; Byron appuie Botzaris; Eschyle, avant-lui, a aidé Miltiade. Dieselben Positionen sollten auch in Whitmans dichtungstheoretischen Entwürfen wiederkehren und deren Suche nach dem great imaginative literatus 51 , der seinem Land wie einst Homer, die alten Propheten und Barden Geist und 46 Compi. Writings 621. 47 Ebd. 445; zu ähnlichen Äußerungen s. ebd. 587, 597. 48 Vgl. Hero-Worship 148 f. Die Ahnenreihe, die außer den Genannten noch Lukrez, Juvenal, Tacitus, den Evangelisten Johannes und Paulus umfaßt, ist seltsam genug und zeigt allein schon, welch zugleich anspruchsvoller und ausgedehnter Dichtungsbegriii hier zugrunde liegt. Die Selbstbespiegelung in diesem Enkomion hat der berühmte Ausspruch eines zeitgenössischen Kritikers: „ce livre pourrait s'intituler Moi" {Shakespeare 439), genau und bündig getroffen. so Hugo: Shakespeare 98. 51 Writings V I I 9.

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Das Programm

Stimme verleihe 52 , als Maßstab dienen 53 : In short, as, though it may not be realized, it is strictly true, that a few first-class poets, philosophs, and authors, have substantially settled and given status to the entire religion, education, law, sociology, &c., of the hitherto civilized world, by tinging and often creating the atmospheres out of which they have arisen, such also must stamp, and more than ever stamp, the interior and real democratic construction of this American continent, to-day, and days to come. Daß Whitman hierbei, wie vor ihm Hugo, an sich selbst zuerst dachte, läßt sich zwischen den Zeilen solcher Formulierungen unschwer heraushören, am Pathos der Leaves of Grass sogar in aller Deutlichkeit ablesen. Das alles kann, beinahe unnötig zu sagen, geschichtlicher Überprüfung natürlich nicht standhalten, resultiert aus einer Affirmation imaginativen Denkens, des Geistes schlechthin, die, dichtungstheoretischen Zwecken nutzbar gemacht, zum Glauben an die Suprematie der Poesie wurde. Die Motive mögen, was die Romantik angeht, in der Opposition gegen eine des Materialismus verdächtigte Aufklärung zu suchen sein, später dann, an den Viktorianern wird das deutlich, in der Konfrontation mit dem weit robusteren Materialismus des X I X . Jahrhunderts; die Vorstellungen vom Dichter und der Dichtung, die dabei zum Vorschein kommen, weisen indes alte Tradition auf. Nicht nur ließen sich etwa Blakes Bemerkungen zum Verhältnis von ,Art' und ,Empire', im Wortlaut zwar eher als dem Kontext und Sinn nach, neben die Ansicht Thomas Lodges in der Defence of Poetry (1579) stellen, that the framing of common welthes, and defence thereof, proceedeth from poets54; hier wie dort, in der Dichtungs theorie der Romantik wie in den Apologien der Renaissance steht dahinter der (spätestens) seit Horaz nie gänzlich vergessene Gedanke des Ursprungs der Zivilisation aus der Dichtung. Ihm gewann die Romantik, weit davon entfernt, lediglich einen apologetischen Topos daraus zu machen, neue Verheißung ab. Gerade Shelleys Defence bietet dafür ein Beispiel. An ihrem Aufbau, ihrer Argumentation macht sich noch einiges, so scheint es, von jenem zyklischen Denken bemerkbar, das für die Geschichtsphilosophie der Epoche charakteristisch ist. Am Beginn findet sich, wie in Modulation Horazischer Verse, wie in Anklang auch an das Proömium der Theogonie und an die Vorstellung vom Dichter als vates, die Erinnerung an den Ursprung der Dichtung, an ihr zivilisationsstiftendes Moment 55 : [ . . . ] poets [...] are not only the authors of language and of music, of the dance and architecture, and statuary, and painting; they are the institutors of laws, and the founders of civil society, and the inventors of the arts of life, and the teachers, who draw into a certain propinquity with the beautiful and the true, that partial apprehension of the agencies of the invisible world which is called religion. Hence all original religions are allegorical, or susceptible of allegory, and, like Janus, have a double face of false and true. Poets, according to the circumstances of the age and nation in which they 52 Vgl. ebd. IX 31. 53 Ebd. V 56 f. (Democratic Vistas [1871]). 54 Elizabethan Crit. Essays I 77. 55 Com pi. Works VII 112.

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appeared, were called, in the earlier epochs of the world, legislators, or prophets: a poet essentially comprises and unites both these characters. For he not only beholds intensely the present as it is, and discovers those laws according to which present things ought to be ordered, but he beholds the future in the present, and his thoughts are the germs of the flower and the fruit of latest time. Am Ende hätte, was zu Beginn schon bezeichnenderweise keineswegs allein der Vergangenheit anheimgegeben wird, seine Einlösung an der Gegenwart erfahren sollen, hätte der Versuch stehen sollen, an ihr nicht weniger als an der frühesten Zeit die Herrschaft poetischer Imagination als möglich und notwendig zu erweisen 56 . Dazu ist es nicht mehr gekommen. Dennoch lassen Sätze wie die folgenden hinter aller rhapsodischen Diktion erahnen, welche Gestalt dieser Plan angenommen hätte 57 : Poetry is indeed something divine. It is at once the centre and circumference of knowledge; it is that which comprehends all science, and that to which all science must be referred. It is at the same time the root and blossom of all other systems of thought; it is that from which all spring, and that which adorns all; and that which, if blighted, denies the fruit and the seed, and withholds from the barren world the nourishment and the succession of the scions of the tree of l i f e . In alledem zeigt sich Shelleys Defence freilich nicht zuletzt auch als Antwort auf Peacocks Four Ages of Poetry. Denn gerade dort war fast alles, worauf Shelley mit apologetischem Eifer verweist, die ursprünglich kulturstiftende Funktion der Dichtung, ihre vormalige und erneut beanspruchte Stellung, satirisch demontiert worden. So sei ihre religiöse Rolle nur aus dem Aberglauben, der Unwissenheit und Furcht einer primitiven Zeit zu erklären 58 . Als Inbegriff aller Wissenschaften habe eine Dichtung, die rather a crude congeries of traditional phantasies than a collection of useful truths gewesen sei 59 , ebenfalls nur in einer Epoche mangelnder Reflexion, noch unentwickelter rationaler, philosophischer und historischer Erkenntnis gelten können. Allein in einem frühen Stadium menschlicher Geschichte, in the uncultivated lands of semi-civilized men60, sei es den Dichtern möglich gewesen, als Geschichtsschreiber, Priester, Philosophen und Gesetzgeber aufzutreten. Und selbst dabei sei allzu bereitwillig für bare Münze genommen worden, was den Anstrich von Scharlatanerie besessen habe. Die Allianz von Herrscher und Dichter, politischer Macht und deren poetischer Verklärung wird von Peacock als eine beiden Seiten zugute kommende Kumpanei zwischen weltlicher und geistiger Herrschaft interpretiert 61 ; der Anspruch der Dichter auf umfassendes Wissen als Betrug 62 : A skillful display of the little knowledge they have gains them credit for the possession of much more which they have not-, nicht minder die Bess Vgl. ebd. VII 140. 57 Ebd. VII 135. 58 Vgl. Four Ages 4 f.

59 Ebd. 5. «0 Ebd. 15. « Vgl. ebd. 4; 6 f. « Ebd. 5.

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Das Programm

rufung auf göttliche Inspiration63: Their familiarity with the secret history of gods and genii obtains for them, without much difficulty, the reputation of inspiration; thus they are not only historians but theologians, moralists, and legislators: delivering their oracles ex cathedra, and being indeed often themselves (as Orpheus and Amphion) regarded as portions and emanations of divinity: building cities with a song, and leading brutes with a symphony; which are only metaphors for the faculty of leading multitudes by the nose. Aus dieser eindeutig parodistischen Darstellung der Genese der Dichtung und ihrer Rolle in mythischer und Homerischer Zeit, aus der travestierenden Behandlung alter apologetischer Topoi und Argumente geht sowohl hervor, wie fundamental Peacocks Attacke ist als auch wie sehr sich seine Ansichten von denen seiner ebenfalls kritischen und skeptischen Zeitgenossen wie Hegel oder Macaulay unterscheiden. Diese haben bei allem Gespür für die Probleme, mit denen Dichtung im Zeichen fortschreitender Aufklärung sich konfrontiert sieht, gerade doch am alten Gedanken der Identität von goldenem Zeitalter der Dichtung und kindlichem Zeitalter der Menschheit als einem - wenn auch historisch überwundenen und nicht mehr zu verwirklichenden - Ideal- und Urbild festgehalten. Zwar ist auch für Peacock die Epoche Homers die goldene der Dichtung 64 , doch relativiert alles, was er über sie zu sagen hat, den Begriff ,golden age' in einer Weise, die kaum dazu angetan ist, wenigstens dem geschichtlichen Kulminationspunkt Reverenz zu erweisen. Die überlegene Distanz, die Peacock selbst jener Epoche gegenüber zur Schau stellt, mit der er zudem der als Wiedeiholung dieser goldenen Zeit in der Moderne begriffenen Dichtung des Elisabethanischen Zeitalters oder generell der Renaissance begegnet65, deutet darauf hin, daß sein Pamphlet die Dichtung insgesamt im Auge hat, zumindest dort, wo ihr Rollenverständnis auf mehr denn einen nicht allzu ernst zu nehmenden Zeitvertreib zielt. Zumal in einem Augenblick, in dem der Rückgriff auf die alten Topoi und Modelle durch die Vorromantik und Romantik wieder zu neuem Ansehen gekommen war, neue Bedeutung erhalten hatte, mußten seine sarkastischen Bemerkungen, jedenfalls aus romantischer Perspektive, einen geradezu profanen Akt der Entmythisierung darstellen. Gegen romantische Ansprüche ist denn auch seine Polemik in erster Linie gerichtet. Deren scheinbarer Umweg über die Vorzeit entspricht bei näherem Hinsehen genau dem Weg zurück, den romantische Dichtungstheorie auf ihrer Suche nach geschichtlichen Vorbildern einschlug. An ihm erkannte Peacock bei aller satirischen Überzeichnung durchaus zutreffend den Versuch, wiederum für sich zu usurpieren, was im Laufe der Geschichte anderen Instanzen zugesprochen worden war, das Unterfangen, Dichter und Dichtung wieder in den Rang erheben zu wollen, den sie vorzeiten einmal eingenommen hatten 66 : [ . . . ] as if it [die Dichtung] were still what it was in the Homeric age, the all-in-all of intellectual progression, and as if there were no such things in existence as « Ebd. 5 f. M Vgl. ebd. 7. « Vgl. ebd. 12. 66 Ebd. 19.

Archaische und mythische Modelle mathematicians,

historians, politicians, and political economists,

187 who have

built

into the Upper air of intelligence a pyramid, from the summit of which they see the modern Parnassus far beneath them [ . . . ] . Was Shelley (und nicht nur ihm) als konkrete Utopie sich darstellte, erschien Peacock als anachronistisches Wolkenkuckucksheim. Noch schärfer konturiert als bei Shelley, gerade in geschichtsphilosophischer Hinsicht, hat sich die Absicht, die ursprünglichen Befugnisse zu erneuern, bei Novalis niedergeschlagen. Während Shelley seine Muster immerhin noch der Geschichte entnahm, bezog Novalis sie aus dem Mythos. An Orpheus, dem mythischen Archetyp des Dichters, an der Macht orphischen Gesangs hat bei ihm die Auffassung von der Rolle der Dichtung eines ihrer prägenden Vorbilder gefunden. Im Rahmen einer Naturphilosophie, die im Gedanken vorzeitlicher und verlorener, nurmehr in Chiffernschrift erkennbarer und zurückzugewinnender Harmonie in messianische Geschichtsphilosophie umschlug, tauchen Reminiszenzen an den Orpheus- und Amphion-Mythos in den Lehrlingen zu Sais auf 67 : Man beschuldigt die Dichter der Übertreibung, und hält ihnen ihre bildliche uneigentliche Sprache gleichsam nur zu gute, ja man begnügt sich ohne tiefere Untersuchung, ihrer Phantasie jene wunderliche Natur zuzuschreiben, die manches sieht und hört, was andere nicht hören und sehen, und die in einem lieblichen Wahnsinn mit der wirklichen Welt nach ihrem Belieben schaltet und waltet; aber mir scheinen die Dichter noch bei weitem nicht genug zu übertreiben, nur dunkel den Zauber jener Sprache zu ahnden und mit der Phantasie nur so zu spielen, wie ein Kind mit dem Zauberstabe seines Vaters spielt. Sie wissen nicht, welche Kräfte ihnen Untertan sind, welche Welten ihnen gehorchen müssen. Ist es denn nicht wahr, daß Steine und Wälder der Musik gehorchen und, von ihr gezähmt, sich jedem Willen wie Haustiere fügen? Die in den legendären Dichtergestalten von jeher als personifiziert und in den um sie sich rankenden Mythen als verbildlicht begriffene Macht des Gesangs vermochte so, in romantischer Metamorphose und Deutung, zu einer Art Abschlag auf jenen Traum von der Herrschaft des ,Gemüts', der ,Phantasie' zu werden, der zugleich auch, geschichtsphilosophisch modifiziert, bei Novalis nicht anders als etwa bei Blake oder Shelley der vom neuen Goldenen Zeitalter war. Auf diese für die Dichtungstheorie der Romantik zentrale, von ihr überhaupt erst derart nachdrücklich hergestellte Verbindung zwischen dem Orpheus-Mythos und dem des Goldenen Zeitalters oder anders, weniger auf Novalis zugeschnitten ausgedrückt, zwischen der ursprünglichen Souveränität der Poesie und dem ursprünglichen (paradiesischen) Zustand der Welt, deutet vor allem die im Kontext der zitierten Stelle geäußerte Ansicht hin, daß nur die Dichter [...] es gefühlt hätten, was die Natur den Menschen sein kann, und sie im Umgang mit ihr alle Seligkeiten der goldnen Zeit nicht umsonst suchen würden68. Sie formuliert nicht nur ein weiteres Mal, was Novalis an anderer Stelle als Maxime aufstellte: daß der Poet die Natur besser verstehe «7 Sehr. I 100. 68 S. ebd. I 99.

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als der wissenschaftliche Kopf, sondern verleiht überdies der dem Dichter zugesprochenen besseren Erkenntnis heilsgeschichtliches Gewicht. Wo (wie in den Lehrlingen) Naturgeschichte als verschlüsselte Form menschheitsgeschichtlicher Entelechie verstanden, das Gemüt, die dichterische Imagination, als das geschickteste Organ für das Verständnis der Natur gehalten wurden und dieses dichterische Naturverständnis wiederum im Mythos orphischen Gesangs seine Vorlage erblickte, erhielt jeder Versuch der Dichtungstheorie, zu den mythischen Ursprüngen der Poesie zurückzukehren und an ihnen das eigene Selbstverständnis zu entdecken, beinahe zwangsläufig messianischen Charakter. Audi in dieser Hinsicht also geriet Dichtungstheorie in der Romantik zum Komplement der Geschichtsphilosophie. Mit dem Ofterdingen sollten diese Zusammenhänge ihre große poetische Versinnbildlichung erfahren. Heinrichs erste, durch die Erzählungen der Kaufleute während der Reise nach Augsburg vermittelte Bekanntschaft mit der Dichtung läßt nicht zufällig deren früheste, mythische Gestalt und Macht, die Arion-Legende69, vor allem aber die Sagen von Orpheus und Amphion anklingen70: In alten Zeiten muß die ganze Natur lebendiger und sinnvoller gewesen sein als heutzutage. Wirkungen, die jetzt kaum noch die Tiere zu bemerken scheinen, und die Menschen eigentlich allein noch empfinden und genießen, bewegten damals leblose Körper; und so war es möglich, daß kunstreiche Menschen allein Dinge möglich machten und Erscheinungen hervorbrachten, die uns jetzt völlig unglaublich und fabelhaft dünken. So sollen vor uralten Zeiten in den Ländern des jetzigen Griechischen Kaisertums [...] Dichter gewesen sein, die durch den seltsamen Klang wunderbarer Werkzeuge das geheime Leben der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geister aufgeweckt, in wüsten, verödeten Gegenden den toten Pflanzensamen erregt, und blühende Gärten hervorgerufen, grausame Tiere gezähmt und verwilderte Menschen zu Ordnung und Sitte gewöhnt, sanfte Neigungen und Künste des Friedens in ihnen rege gemacht, reißende Flüsse in milde Gewässer verwandelt, und selbst die totesten Steine in regelmäßige tanzende Bewegungen hingerissen haben. Sie sollen zugleich Wahrsager und Priester, Gesetzgeber und Ärzte gewesen sein, indem selbst die höhern Wesen durch ihre zauberische Kunst herabgezogen worden sind, und sie in den Geheimnissen der Zukunft unterrichtet, das Ebenmaß und die natürliche Einrichtung aller Dinge, auch die innern Tugenden und Heilkräfte der Zahlen, Gewächse und aller Kreaturen, ihnen offenbart. Seitdem sollen, wie die Sage lautet, erst die mannigfaltigen Töne und die sonderbaren S. ebd. I 211 f. Gerade auch die (bei Herodot berichtete) Geschichte Arions, der, von Seeräubern überfallen und zum Tod durch Ertrinken verurteilt, sich als letzten Wunsch erbittet, ein Lied singen zu dürfen, und mit seinem zauberhaften Gesang die Tiere des Meeres so fesselt, daß er von einem Delphin an Land getragen und gerettet wird, vermochte - ähnlich wie der Orpheus-Mythos - romantischer Dichtungstheorie zu einer Parabel auf jene bezähmende und gebieterische Macht des Gesangs, jenen Einklang von Poesie und Natur zu werden, die zu erneuern sie dem Dichter zum Ziel setzte. Vor diesem Hintergrund erscheint der Stoff auch in Wackenroders/Tiecks Phantasiert über die Kunst (vgl. Wackenroder: Sämtl.Schr. 118 ff.). 70 Ebd. I 210 f.

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Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen sein, indem vorher alles wild, unordentlich und feindselig gewesen ist. Seltsam ist nur hiebei, daß zwar diese schönen Spuren, zum Andenken der Gegenwart jener wohltätigen Menschen, geblieben sind, aber entweder ihre Kunst, oder jene zarte Gefühligkett der Natur verloren gegangen ist. Hieran macht sich nicht nur abermals die Rezeption antiker Vorstellungen bemerkbar, spiegelt sich auch nicht allein ein weiteres Mal in der Romantik die Faszination, die die archetypischen Bilder vom Dichter auf einen Kreis von Autoren ausübten, die nur in ihnen das Pendant ihrer eigenen kühnen dichtungstheoretischen Entwürfe überhaupt finden konnten. Verwoben mit der Struktur des Romans und seinen ihm zugrundeliegenden geschichts-, naturphilosophischen und dichtungstheoretischen Ideen, Teil eines Denkens, das aus der Evozierung des längst Vergangenen die Zukunft als dessen Wiedergeburt sich einlösen zu können vermeinte, gewinnen die Erzählungen der Kaufleute überdies - wie alles, was dem Helden begegnet und was er erfährt - vorwegweisende Bedeutung. Ebenso wie sich in der Erinnerung an eine Natur, die lebendiger und sinnvoller gewesen sein muß als heutzutage, das Bild eines neuen Goldenen Zeitalters aufgehoben findet, kündigt sich in der Erinnerung an die vorzeitliche Macht des Dichters Heinrichs eigene Bestimmung an. Aus den Notizen zur Fortsetzung des Ofterdingen und aus Tiecks Bericht geht hervor, daß am Ende die Brücke geschlagen werden sollte zwischen Vergangenheit und Gegenwart wie auch zwischen orphischem Gesang und Goldenem Zeitalter; als Schluß war eine Verklärung geplant, in der sowohl die neue goldne Zeit als Wiederauferstehung der Urwelt als auch Heinrich als wiederauferstandener Orpheus gefeiert worden wäre 71 . Hier hätten das dichtungstheoretische und das geschichtsphilosophische Programm der Romantik ihre wohl kaum noch zu überbietende poetische Glorifizierung erfahren, wäre die Koinzidenz von Dichtungstheorie und Geschichtsphilosophie sinnfällig geworden. Zu diesem Programm gehört, stets als Produkt derselben Fixierung an uralten Mustern, nicht selten auch als Ausdruck derselben Koinzidenz, der Gedanke an eine neue Mythologie. Verkündet hat ihn erstmals mit avantgardistischem und eschatologischem Pathos jenes nur fragmentarisch in der Handschrift Hegels überlieferte, von Schelling (wohl 1796) formulierte und sicherlich unter maßgeblicher Mitwirkung Hölderlins entstandene Dokument, das unter der Bezeichnung .Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus* bekannt geworden ist und zu den imposantesten Zeugnissen der Dichtungstheorie und Geschichtsphilosophie im Umkreis der Romantik zählt. Apostrophiert als Idee, die [...] noch in keines Menschen Sinn gekommen ist, heißt es dort 7 2 : wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste 71

72

Vgl. ebd. I 344 f. Zum Orpheus-Thema bei Novalis s. auch Walther Rehm: Orpheus Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult hei Novalis, Hölderlin, Rilke, Düsseldorf 1950, 57-66. Hölderlin: SW IV 1, 299 (da das .Systemprogramm', obwohl von Schelling verfaßt, in vielem den geistigen Duktus Hölderlins verrät, ist es nicht ohne Berechtigung dessen Werken eingegliedert worden).

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der Ideen stehen, sie mus eine Mythologie der Vernunft werden. Wenige Jahre später haben sowohl Friedrich Schlegel als auch Schelling diese Forderung wiederholt, der eine im Gespräch über die Poesie (1800), der andere im System des transzendentalen Idealismus (1800), in der Philosophie der Kunst (1802), nochmals dann im System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804). Allenthalben hat sich dabei der Ruf nach dem Neuen mit dem Echo des Alten vermischt, nicht so zwar, daß er zu dessen stereotyper Wiederholung geworden wäre, aber doch derart, daß ihm die Erinnerung an die ehemalige Funktion der Mythologie unverkennbar zum Vorbild wurde - und das in vielfacher Hinsicht. Die Mythologie, so stellt Ludoviko zu Beginn seiner im Gespräch über die Poesie vorgetragenen Rede fest 73 , habe der Dichtung des Altertums das geboten, woran es der zeitgenössischen fehle, einen Mittelpunkt, einen festen Halt, einen mütterlichen Boden und Himmel. Sie habe darüber hinaus bewirkt, daß alle Gedichte des Altertums [...] sich eines an das andre anschlössen, bis sich aus immer größeren Massen und Gliedern das Ganze bilde; alles greife hier in einander, und überall sei ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt, so daß man, bildlich zu sprechen, die alte Poesie [... ] ein einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht nennen könne. Und warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere? - Ist die Frage symptomatisch für das Geschichtsverständnis der Romantik schlechthin, so das sich in ihr abzeichnende Ideal einer organischen Einheit aller Literatur für den Dichtungsbegriff des Schlegel-Kreises. Gerade die an der antiken Mythologie - sicherlich zutreffend beobachtete Universalität und Integrationskraft konnte einer Dichtung als Vorbild dienen, die wie die romantische einerseits als progressive Universalpoesie sich verstand, mithin auch alles sich zu unterwerfen und zu poetisieren und nichts weniger als ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters zu werden beabsichtigte, anderseits aber noch nach der Form suchte, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken74. Die Gründe für den Plan einer neuen Mythologie, die nach Ludovikos Worten freilich nicht wie die alte ehemalige [...], sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt, zu uns kommen könne, sondern im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden müsse75, sind indes noch anderweitig zu suchen. Sie ergeben sich aus einer neuen Interpretation der alten Mythologie ebenso wie aus den ästhetischen, sprachphilosophischen, dichtungstheoretischen und geschiditsphilosophischen Ansichten der Romantik ganz allgemein - und zwar so zwanglos und konsequent, daß man das Projekt einer neuen Mythologie als eine Art Modell bezeichnen könnte, in dem sich die poetologischen und dichtungstheoretischen Positionen der Epoche in Verkürzung und Konzentration wiederfinden. 73 Vgl. KFSA I I 312 f.; vgl. dazu auch Athenäum-Idee 265). 74 So im 116. Athenäum-Yta%mer\t (KFSA I I 182). 75 Ebd. I I 312 (Gespräch über die Poesie).

85 (ebd. I I 264) und 95 (ebd.

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Einer Ästhetik, die wie die romantische, idealistische Thesen adaptierend und den eigenen Zielen anverwandelnd, in der Kunst, in der poetischen Anschauung den geeignetsten Weg sah, um das Unendliche im Endlichen zur Erscheinung kommen zu lassen76, und in der Harmonie des Ideellen und Reellen77, in der Darstellung des Absoluten im Besonderen78 die Definition der Kunst erblickte, mußte die Mythologie mehr sein als ein Reservoir poetischer Klischees, traditioneller und abgegriffener Bilder. Desgleichen vermochte eine Sprachtheorie, welche die Sprache nicht nur analog dazu als Darstellung eines .Inneren' durch ein ,Äußeres', als Vermittlerin des Bewußtseins, als das, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, begriff und ihr damit prinzipiell poetischen Charakter zubilligte79, sondern überdies aus der historischen Priorität der Bilder vor den Abstraktionen, der Poesie vor der Prosa, auf eine Superiorität des poetischen Ausdrucks schloß, in der Mythologie weit mehr zu erkennen als das Produkt einer überwundenen Kultur- und Bewußtseinsstufe, in der poetischen weit mehr als eine Vorform logisch-diskursiver Sprache. In Bildern, hatte Hamann geschrieben80, besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit. Die Romantik ist ihm darin gefolgt. Jede dieser Perspektiven ermöglichte es, in der Mythologie ,der Alten' jenseits aller - auch eingestandenen - Distanz, über die Zeiten hinweg das verkleinerte Konterfei des eigenen Ideals zu erblicken. An ihr nahm die Ästhetik dieselbe Einheit von Bild und Idee, Wesen und Erscheinungen, dieselbe Darstellung des Absoluten in Begrenzung ohne Aufhebung des Absoluten81, wenngleich in unreflektierter und unbewußter Gestaltung wahr, die ihrem eigenen Symbolbegriff als Hypothese diente und die auf höherer, reflektierter Ebene zu verwirklichen sie jedem Kunstwerk abverlangte. An ihr auch war die Sprachphilosophie imstande, jene gegenseitige Verkettung aller Dinge durch ein ununterbrochenes Symbolisieren82 in noch ganz natürlicher Weise exemplifiziert zu finden, die sie der Sprache per definitionem zuschrieb. Auf solchem Weg wurde den Romantikern der Blick zurück auf die alte Mythologie zum Ausblick auf das eigene Programm. Dort vermochten sie in Umrissen wiederzuerkennen, was ihnen selbst als Ziel vorschwebte: eine symbolische Anschauung der Natur83, eine dichterische Weltansicht [...] worin die Vhantasie herrscht84, eine Symbolsprache, in der, was sonst das Bewußtsein ewig flieht [...] sinnlich geistig zu schauen und festgehalten ist 85 ; denn in 76 Vgl. A. W. Schlegel: Sehr. II 81. 77 Vgl. F. Schlegel: KFSA II 315 (Gespräch über die Poesie). 78 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: W. I - X I I , hg. v. M. Schröter, München 192759, Ergänzungs-Bd. I I I 290 (Philosophie der Kunst) [zit.: Schelling: W.]. 79 Wie A. W. Schlegel: Sehr. II 225 f. so SW II 197 (Aesthetica in nuce). 81 Schelling: W. I I I 425 (Philosophie der Kunst). 82 Vgl. A. W. Schlegel: Sehr. II 83. 83 Vgl. Schelling: W., Ergänzungs-Bd. II 502. 8t Vgl. A. W. Schlegel: Sehr. II 226. 85 F. Schlegel: KFSA I I 318.

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ihrem Gewebe sei das Höchste wirklich gebildet, sei alles [...] Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden ehen ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode86. Eben das aber war auch die Methode, die unter dem Begriff des ,Romantisierens' und ,Poetisierens' in die romantische Theorie einging. Forderte diese, daß alles poetisiert werden soll87, so erschien ihr die Mythologie als eines der unerläßlichen Instrumentarien dazu; die alte als gleichsam historischer Beleg, die neue als deren Wiederholung in anspruchsvollerem Gewand. Jene stand dabei für dieselbe Einheit von Poesie und Religion, Poesie und Philosophie, Poesie und Wissenschaft, für dieselbe Kompetenz und Herrschaft der symbolischen Anschauung, der Imagination und Phantasie ein, die neuerlich und in reflektierter Form zu konstituieren diese sich zum Ziel setzte 8 8 . Nicht zuletzt auch hier wieder das Produkt eines Denkens, das historisch und anthropologisch Poesie (im weiteren Sinne) als Teil der condition humaine, als identisch mit der ersten Regung des menschlichen Daseins verstand 8 9 , zum unsichtbaren Geist jeder 86

Ebd. Bei dieser Ansicht scheinen Ovids Metamorphosen Pate gestanden zu haben. 87 Vgl. i4f£e»ä«/»-Fragment 239 (KFSA II 205). 88

Dem romantischen Gedanken an eine Identität von Religion und Poesie hatte bereits Schleiermacher in über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), vorgearbeitet. In den Athenäum-Ideen griff F. Schlegel Schleiermachers Anregungen auf und stellte sie ins Zentrum seiner Überlegungen (worüber im folgenden Kapitel [,Die Sakralisierung'] noch zu sprechen sein wird). In den Jenenser Vorlesungen über die Transzendentalphilosophie (1800/01) wird dann die Mythologie als das Mittelglied bezeichnet, durch das Religion und Moral in der Poesie verbunden würden (vgl. KFSA XVIII 62); auf die ehemalige Verbindung von Poesie, Religion und Philosophie durch die Mythologie weist noch eine erstmals von Karl Konrad Polheim mitgeteilte Notiz F.Schlegels aus dem Jahr 1811 hin (vgl. Der Poesiebegriff der dt. Romantik, hg. v. K.K. Polheim, Paderborn 1972 [ = Uni-Taschenbuch 60/61], 118). Ähnlich wie sein Bruder sah A. W. Schlegel in der durch die Mythologie erreichbaren sinnbildlichen Darstellungen des Ideellen den Berührungspunkt zwischen Religion und Poesie (vgl. Sehr. I I I 70). - Was sich tun läßt, so lange die Philosophie und Poesie getrennt sind, ist getan und vollendet. Also ist die Zeit nun da, beide zu vereinigen, schrieb F. Schlegel in den Athenäum-Ideen (KFSA II 267 [Nr. 108]); daß auch hierbei wiederum an die Mythologie als das Mittlere von Poesie und Philosophie gedacht war, zeigt neben einer Notiz aus demselben Jahr (vgl. KFSA XVIII 255 [Nr. 739]) vor allem die ,Rede über die Mythologie' selbst, die im großen Phänomen des Zeitalters, im Idealismus (KFSA I I 313) und in Spinoza (s. ebd. 316 f., 321) die Spuren einer kommenden neuen Einheit von Poesie und Philosophie in mythologischer Form zu erkennen vermeint, überhaupt hat die Idee einer Harmonisierung von Philosophie und Poesie (wobei der Poesie freilich zumeist die Rolle der ,prima inter pares' eingeräumt wurde) die Theorie der Frühromantik beschäftigt (s. z.B. F.Schlegel: Lit. Notebooks aaO. [Einführung, Anm. 18] Nr. 92, 99, 1809; Prosaische Jugendschr. aaO. [Kap. 9, Anm. 83] I I 328; Novalis: Sehr. II 590 f. [Nr. 280]; III 396 [Nr. 684] und 406 [Nr. 717]). - Zum Gedanken der alten bzw. wiederherzustellenden Verwandtschaft von Naturphilosophie und Poesie, einer poetisierten Physik, im Zusammenhang mit dem Plan zu einer neuen Mythologie s. bes. KFSA I I (Gespräch über die Poesie) 314, 320 (Variante 1 der Ausgabe von 1823), 321 f. (sowie Variante i auf S. 321), 324ff. (sowie Variante' auf S. 326). Gerade hierin erweist sich die neue Mythologie als ein Pendant zum Enzyklopädistik-Projekt.

89 A. W. Schlegel: Sehr. II 231.

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Kunst und Wissenschaft erklärte90 und in Variation alter kulturphilosophischer und neuerer sprachphilosophischer Hypothesen die alte Mythologie als den Ausgangspunkt für alle spätere Entwicklung der einzelnen Wissenschaften interpretierte, geriet der Entwurf zu einer neuen Mythologie stets zu einem Versuch, jene geistige Gewaltenteilung wieder rüdegängig zu machen, die seit den Angriffen Piatons, seit der Differenzierung zwischen Mythos und Logos, Bild und Begriff von dichterischer Seite her oft genug als Verlust angesehen worden ist. Denn wie die Poesie das Ursprünglichste ist, die Ur- und Mutterkunst aller übrigen, heißt es bei August Wilhelm Schlegel91, so ist sie auch die letzte Vollendung der Menschheit, der Ozean, in den alles wieder zurückfließt, wie sehr es sich auch in mancherlei Gestalten von ihm entfernt haben mag. Was hier wissenschaftstheoretisch gemeint ist, erhielt an anderer Stelle, ausdrücklich verbunden mit dem Gedanken an eine neue Mythologie, geschichtsphilosophischen Akzent. Das Bild, das Jahrhunderte zuvor bereits beispielsweise Minturno bemüht hatte 92 , blieb dabei dasselbe. Es sei zu erwarten, schrieb Schelling93, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebenso viel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie seyn werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existirt hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist. Wie aber eine neue Mythologie, tuelche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen, nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts seyn kann, selbst entstehen könne, dieß ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist. Ähnlich bei Friedrich 90 F. Schlegel: KFSA I I 3 0 4 ; zumal im Gespräch über die Poesie hat die seltsame Hypertrophie des romantischen Poesiebegriffs sich sehr deutlich niedergeschlagen. Angesichts einer Auffassung von Poesie, die diese als Bestandteil [...] aller Künste und aller Wissenschaften (KFSA I I 324), ja sogar als deren höchsten Gipfel bezeichnet, erscheint die folgende Frage durchaus berechtigt (ebd. 304): Wenn das so fortgeht, wird sich uns, ehe wirs uns versehen, eins nach dem andern in Poesie verwandeln. Ist denn alles Poesie? Alles zur Poesie zu erklären, ist eines der Ziele des Gesprächs; und in der Forderung nach einer neuen Mythologie hat das wiederum seinen prägnantesten Ausdruck erhalten. 91 A. W . Schlegel: Sehr. I I 227. 92 Vgl. oben S. 68. 93 W. I I 629 {System des transzendentalen Idealismus) -, s. zu diesem geschichtsphilosophi sehen Aspekt auch ebd. ErgänzungSrBd. I I 502, wo davon die Rede ist, daß die Mythologie nicht Sache des Individuums oder eines Geschlechts sei, das zerstreut wirke, sondern nur eines Geschlechts, das von Einem Kunsttrieb ergriffen und beseelt sei. Die Möglichkeit einer Mythologie weise daher selbst auf etwas Höheres hinaus, auf das Wiedereinswerden der Menschheit, es sey im Ganzen oder im Einzelnen. Zu Schellings Idee einer neuen Mythologie s. auch Fritz Strich: Die Mythologie in der dt. Lit. von Klopstock bis Wagner I - I I , Halle 1910, I 3 6 8 - 8 7 , I I 2 9 - 3 9 .

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Das Programm

Schlegel 94 : In einem idealischen Zustande der Menschheit würde es nur Poesie gehen, denn von da sei alles ausgegangen, und dahin müsse alles zurückfließen. Wie mühelos sich dabei die Brücke schlagen ließ zwischen dichtungstheoretischem Programm und geschichtlicher Erwartung, geht aus den Sätzen hervor, mit denen Ludoviko seine ,Rede über die Mythologie' beschließt 95 : Und so laßt uns denn, beim Licht und Leben! nicht länger zögern, sondern jeder nach seinem Sinn die große Entwickelung beschleunigen, zu der wir berufen sind. Seid der Größe des Zeitalters würdig, und der Nebel wird von Euren Augen sinken; es wird helle vor Euch werden. Alles Denken ist ein Divinieren, aber der Mensch fängt erst eben an, sich seiner divinatorischen Kraft bewußt zu werden. Welche unermäßliche Erweiterungen wird sie noch erfahren; und eben jetzt. Mich däucht wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der goldnen Zeit die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne. Dieses ist es, was ich mit der neuen Mythologie meine. Nirgendwo allerdings zeigt sich die Forderung nach einer neuen Mythologie so eng mit den geschichtlichen Hoffnungen der Zeit verquickt und so entschieden zum Gegenstand geschichtsphilosophisch-utopischen Denkens gemacht wie im ,Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus'. Nirgendwo auch ist, angesichts einer Philosophie, die den ästhetischen Sinn, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sinne genommen, zur Bestimmung der Menschheit und ihrer Geschichte erhob, der Glaube, daß die Poesie am Ende wieder das [sein werde], was sie am Anfang war — Lehrerin der Menschheit, und von allen Wissenschaften und Künsten nurmehr die Dichtkunst übrigbleibe 96 , derart mit der Verheißung eines Reichs der Freiheit, der Versöhnung, des ewigen Friedens kontaminiert worden. Macht sich, wie es scheint, Hölderlins Handschrift schon in der Berufung auf Piaton, in der ästhetischen Umdeutung der Platonischen Schönheitsidee bemerkbar, so noch deutlicher in der Zeichnung einer zukünftigen Epoche, in welcher die Philosophie und die Religion in mythologischer Gestalt Kinder der Schönheit, des .ästhetischen Sinns' sein werden. Sie evoziert genau das Ideal sinnbildlichen und ästhetischen Denkens, einer aus der Idee der Schönheit geborenen Kultur, das, zeitlich ungefähr parallel zum Systemprogramm', im Hyperion entwickelt wurde. Was der Roman als Wunschtraum aus der Vergangenheit bezieht und am antiken Griechenland, an Athen vor allem immer wieder zu belegen ver94 KFSA II 324. 95 Ebd. II 322. Zur ,Rede über die Mythologie' s. auch Franz Norbert Mennemeier: Friedrich Schlegels Poesiebegriff dargestellt anhand der lit.-krit. Sehr. Die romantische Konzeption einer objektiven Poesie, München 1971, 328 ff., sowie Fritz Strich: Die Mythologie in der dt. Lit. aaO. (Anm. 93) II 39-61. 96 Hölderlin: SW IV 1, 298.

Archaische und mythische Modelle

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sucht97 - die Harmonie von Vernunft und Anschauung, Religion und Schönheit, das Bild vollendeter Menschennatur98 - erscheint im .Systemprogramm' als utopischer Entwurf in die Zukunft projiziert und einer neuen Mythologie als Ziel überantwortet 99 : Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrükt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! - Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte, gröste Werk der Menschheit seyn. Dieser eschatologische Ausblick wäre freilich als Reflex, als messianisch gefärbte Erinnerung athenischer Geistesschönheit nur unzulänglich erklärt. Denn hinter dem, was er vor dem Hintergrund einer neuen Mythologie beschwört - die ewige Einheit unter uns, die allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister - , verbirgt sich nichts weniger als die Losung, unter der die Französische Revolution angetreten war: .Liberté', ,Egalité', .Fraternité'. Zugleich läßt sich jedoch hier bereits, an einem Detail, erkennen, in welchem Maße das konkrete geschichtliche Programm der Aufklärung und der Revolution, der Gedanke an eine Herrschaft der Vernunft und der Menschenrechte, in romantischer Perspektive ins Chiliastische und Ästhetische, in geschichtsphilosophische und dichtungstheoretische Utopie sich zu wandeln vermochte. Daß das Reich der Freiheit auch das der Poesie zu sein habe, das neue Goldene Zeitalter nur als poetisches vorstellbar sei und der Weg dorthin über eine neue Mythologie, mit anderen Worten: eine Herrschaft der Imagination, führen müsse, stellt eine der typisch romantischen Antworten und Reaktionen auf die Revolution dar.

So insbesondere in Hyperions enthusiastischer Deduktion der athenischen Kultur aus der Idee der Schönheit (vgl. ebd. III 77 ff.). 98 Ebd. III 80. 99 Ebd. IV 1, 299.

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12 Die Sakralisierung Wer keinen Sinn für Religion hätte - müßte doch an ihrer Stelle etwas haben, was für ihn das wäre, was andern die Religion ist, und daraus mögen wohl viel Streite enstehn - da beyde Gegenstände und Sinne Ähnlichkeit haben müssen und jeder dieselben Worte für das Seinige braucht, und doch beyde ganz verschieden sind - so muß daraus manche Confusion entspringen. Novalis (1799) Romanticism then, and this is the best definition I can give it, is spilt religion. Thomas Ernest Hulme: Romanticism and Classicism (postum 1924)

Die Verheißung einer neuen, durch eine neue Mythologie oder, was dasselbe ist, durch die Poesie zu stiftenden Religion, mit der das Systemprogramm' endet, berührt, was zu den interessantesten und, geistesgeschichtlich gesehen, auch zu den wirkungsvollsten Beiträgen romantischer Dichtungstheorie zu rechnen ist: die Anverwandlung religiöser Vorstellungen und Begriffe in der Ästhetik und Poetik, in der Literatur und in deren Selbstverständnis. Sie führte zu einer Sakralisierung der Dichtung und des Dichters, die jener die Aura religiöser Offenbarung zu verleihen, diesem die Rolle des Priesters und Propheten zu übertragen vermochte, ja sogar - das ist das Neue - unter Umkehrung des traditionellen Verhältnisses Dichtung vom bloßen Vehikel religiöser Ansichten und Lehren zur selbständigen, von jeder Vorherrschaft dogmatischen Glaubens freien quasi-sakralen Instanz zu erheben angetan war. Denn nicht etwa im engeren Sinn religiöse Thematik, konfessionell und theologisch fest umrissene Glaubensinhalte kennzeichnen die romantische Dichtung, wie überhaupt die Epoche religiöse Dichtung traditioneller Art nur selten hervorgebracht hat 1 . Weder Wordsworth noch Coleridge noch Shelley noch Blake noch die Brüder Schlegel noch Hölderlin oder Hugo zeigen sich als Gläubige im orthodoxen Sinn. Nicht wenige von ihnen standen dem kirchlich institutioi S. dazu u. a. Fairchild aaO. (Kap. 9, Anm. 76) 510 f. und passim, sowie Bowra: Romantic Imagination aaO. (Kap. 8, Anm. 5) 282 f.; beide schreiben das vor allem - sicherlich mit Recht, wenngleich darin nicht der einzige Grund zu suchen ist - dem romantischen ,Egotismus' bzw. Imaginations-Begriff zu, dem Ich und Welt, Subjekt und Objekt und so in letzter Konsequenz auch Ich und Gott - zu identischen Kategorien im Sinn eines seltsam übersteigerten Idealismus zu werden vermochten. Gerade Fairchilds äußerst kritische Analyse der romantischen .Religion' scheint indes allzu sehr von orthodoxen Glaubensvorstellungen beeinflußt zu sein.

Die Sakralisierung

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nalisierten Glauben äußerst kritisch, ja feindlich gegenüber. Religiöse Freigeister waren sie alle. Gerade das aber hat die romantische Sakralisierung der Literatur entscheidend geprägt, mehr noch: sogar erst ermöglicht. Für Klopstock beispielsweise, dessen sakraler Habitus dem romantischen, oberflächlich gesehen, verwandt zu sein scheint, besaß die Dichtung noch keinerlei Eigenständigkeit gegenüber der Religion, stand sie noch ganz unter deren „Szepter" und der „damit verbundenen Morallehre" 2. Die Romantiker sollten hier völlig anders denken. Was Novalis in einer Notiz aus dem Jahr 1797 forderte' Bey den Alten war die Religion schon gewissermaaßen das, was sie bey uns werden soll - practische Poesie — und was er wenige Jahre später, in auffälliger Verwandtschaft zu Gedanken des Systemprogramms' und des Hyperion, an der griechischen Mythologie und Kunst genauer noch diagnostizierte - den Vorrang vor der Religion, die Souveränität über die Religion, schwebte vielen Romantikern als neuerlich zu erreichendes Ziel vor 4 : Sonderbar genug ist es, daß die griechische Mythologie] so unabhängig von der Religion war. Es scheint, daß die Kunstbildung in Griechenland] vor der i?e/[igion] und ein unendlich erhabner Idealism der Religion den Griechen Instinkt war. Die Religion] war wesentlich Gegenstand der menschlichen Kunst. Die Kunst schien göttlich oder die Rel[igion] künstlich, und menschlich. Der Kunstsinn war der Rel[igions]Erzeugungssinn. Die Gottheit offenbarte sich durch die Kunst. - Wo sie solches zu wiederholen sich anschickten, und zwar mit Hilfe der Literatur, erhielt Goethes Begriff von der Dichtung als einem ,weltlichen Evangelium' 5 einen zugleich neuen und anspruchsvolleren Sinn. Die von Goethe gar nicht gemeinte und intendierte Ablösung der Religion durch die Dichtung unter romantischen Auspizien hatte denn auch Henrik Steffens wohl nicht zuletzt im Auge, als er nicht ohne Kritik und treffend bemerkte 6 : [ . . . ] man hat sich in unsern Tagen in eine wahre Vergötterung der Poesie immer mehr hineingeredet. Mit dieser Umdeutung des Verhältnisses von Religion und Dichtung und der daraus resultierenden Sakralisierung hat die enthusiastische Dichtungstheorie ihren geschichtlichen Höhepunkt, zumindest in der Moderne, erreicht. Die 2

Gerhard Kaiser: Klopstock - Religion und Dichtung, Gütersloh 1963 ( = St. zur Religion, Gesch. und Geisteswiss. 1), 339; bei Klopstock sei „die ästhetische Anschauungsform noch nicht per se zu einer Form eigenen Rechts [ . . . ] geworden" (334), die Dichtung stets „Mittel zum Zweck", wenn auch „höchstes Mittel zum höchsten Zweck" (346); dennoch hat, wie Kaiser betont (346), gerade Klopstocks Religion, die, vom Pietismus geprägt, mehr eine Religion der Seele, „mehr Frömmigkeit als Theologie" war und „im dichterisch erregten Wort und Gefühl ihren angemessensten Ausdrude" fand, jener romantischen (und auch klassischen) Kunstreligion und Sakralisierung der Dichtung den Weg bereiten helfen, die ihm selbst noch fern lag. Zur Adaption prophetischen Gestus, der Rolle des vates bei Klopstock vor diesem Hintergrund s. ebd. 135 f., 151. 3 Sehr. II 537. 4 Ebd. III 686. s Vgl. Dichtung und Wahrheit, 13. Buch (W. X 634). 6 In: Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland (1817); zit. nach: Der Poesiebegriff der dt. Romantik aaO. (Kap. 11, Anm. 88) 468.

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Das Programm

Skala der Vorstellungen vom Dichter und von der Dichtung, die dabei bemüht wurden, ist - das mag vorab schon ein kleiner Überblick zeigen - außerordentlich groß, umfaßt antike ebenso wie traditionsreiche christlich-religiöse und auch durchaus neue Konzeptionen. Sie reicht von der Ansicht Baaders, dass alle Kunst religiösen Ursprungs ist und somit auch religiösen Zweck hat oder haben soll7, bis zur selbstbewußten Umkehrung bei Hölderlin, daß alle Religion dem Wesen nach poetisch sei 8 . Die antiken Bilder vom göttlich inspirierten, enthusiastischen Dichter kamen nicht minder wieder zu Ehren wie ihre christianisierten, auf biblische Vorlagen zurückgehenden Gegenstücke. Neuen Glanz erhielt auch der Vergleich des Dichters mit dem Schöpfer, dem göttlichen Demiurgen, der Dichtung mit der Schöpfung; gleichfalls wurde der alte Begriff vom poeta theologus wieder in Anspruch genommen, wie etwa bei Herder 9 Dichtkunst, sie ist ursprünglich Theologie gewesen, und die edelste, höchste Dichtkunst wird wie die Tonkunst ihrem Wesen nach immer Theologie bleiben — oder Novalis 10 : Dichter und Priester waren im Anfang Eins und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben - und sollte die Zukunft nicht den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen? Friedrich Schlegel befand 1 1 : Die Poesie ist Theosophie; keiner ist ein Dichter als der Prophet. Hugo fragte 12 : Pourquoi donc faites-vous des prêtres / Quand vous en avez parmi vous?, und ließ dabei keine Unklarheit darüber aufkommen, wer hier gemeint war. Wackenroder verglich den Genuß der edleren Kunstwerke dem Gebet13; E. T. A. Hoffmann schrieb14: Es gibt keinen höheren Zweck der Kunst, als in dem Menschen diejenige Lust zu entzünden, welche sein ganzes Wesen von aller irdischen Qual, von allem niederbeugenden Druck des Alltagslebens wie von unsaubern Schlacken befreit und ihn s o erhebt, daß er, sein Haupt stolz und froh emporrichtend, das Göttliche schaut, ja mit ihm in Berührung kommt; und Lamartine gestand 15 : [ . . . ] la poésie n'a été pour moi que ce qu'est la prière. Solger betrachtete die Schönheit der Kunst als die Erscheinung Gottes selbst, als eine Offenbarung Gottes in der wesentlichen Erschei7 Franz Xaver von Baader: SW I - X V I , hg. v. F. Hoffmann, J. Hamberger, Aalen 1963 ( = Repr. der Ausg. Leipzig 1851-60), I 121. s SW I V 1, 281 (in dem Aufsatz-Entwurf Reflexion). 9 SW V I I 3 0 0 (An Prediger. Fünfzehn Provinzialblätter

[1774]).

1° Sehr. II 444/46 (in der ersten Fassung von Blüthenstaub); ganz ähnlich F. Schlegel (KFSA X V I I I 30) 1797: Überall sind Priester die Anfänger und Lehrer ¿ [ e r ] f « i [ e n ] Bildung im Ganzen wie im Einzelnen, im Classisch[en] wie im Progr. fängt muß auch endigten]. -