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German Pages 300 [301] Year 1975
Werner Mittenzwei
Brechts Verhältnis zur Tradition
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Werner Mittenzwei
Brechts Verhältnis zur Tradition
Akademie-Verlag • Berlin
1974
3. Auflage Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1972 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/275/74 Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4317 Bestellnummer: 752105 7 • (2150/4) • LSV 8016 Printed in GDR EVP 9,50
Inhalt
Vorbemerkung
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Revolution und Tradition oder Welcher Weg führt vom Neuen zum Alten?
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Der Tabula-rasa-Standpunkt und die Tradition . . . Die Materialwert-Theorie Neue Sicht auf alte Werke oder Was würde ein Marxist mit dem Wallenstein machen? Die Stellung zum Erbe als politische Frage. — Volksfrontpolitik und Literatur Auseinandersetzung um das Erbe. Brecht—Adorno— Marcuse—Lukäcs • Der Einfluß des historischen Materialismus auf Brechts Erbekonzeption
9 22
39 39 55 76
Wir müssen auf Vorbilder bedacht sein oder Welche Traditionslinie bestimmt das Brechtsche Werk? . . . .
93
Das subjektive Moment im Verhältnis zum Erbe . Die Traditionslinie des Brechtschen Werkes . . . . Brecht und die deutsche Klassik
93 115 151
Respekt vor den Klassikern — aber keine Einschüchterung durch Klassizität oder Theorie und Praxis der Brechtschen Erbeauffassung in der Deutschen Demokratischen Republik
186
Neue gesellschaftliche Bedingungen — neue Überlegungen zur Erbeauffassung
186
5
Worin besteht das eigenwillige Verhältnis des Theaters zum Erbe? Die großen Bearbeitungen
208 218
Anmerkungen
249
Auswahlbibliographie
265
Personenregister
293
Vorbemerkung
Mit dem vorliegenden Band, 1971 geschrieben, setze ich meine früheren Arbeiten über Brecht fort. Zugleich ist dieses Buch als ein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über Probleme der Traditionsbewältigung und Erbeaneignung gedacht, mit denen sich das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften seit mehreren Jahren beschäftigt. Die Literatur über Brecht ist im letzten Jahrzehnt in einem kaum übersehbaren Maße angeschwollen. Besonders zahlreich sind die Titel, die Brecht mit anderen Dichtern der Weltliteratur vergleichen. Relativ wenig Analysen gibt es jedoch, die Brechts Verhältnis zur Tradition, zur Weltliteratur insgesamt zu bestimmen versuchen. Noch immer dominiert in der Brecht-Forschung die Meinung, der Dichter habe in seinem Verhältnis zur Tradition eine Außenseiterposition innegehabt. Die vorliegende Arbeit will die falschen Extreme in der Darstellung von Brechts Position zum weltliterarischen Erbe überwinden helfen. Brecht war nicht der Vertreter einer ausgesprochen „plebejischen Tradition", der die Traditionslinie von Goethe, Hegel, Heine zu Marx durch eine andere Traditionsmarkierung zu Marx hin zu ersetzen suchte. Für Brecht war das literarische Erbe aber auch nicht etwas Selbstverständliches, zu dem sich die Menschen bekennen, weil es ihnen zufällt, weil es schließlich durch Größe legitimiert ist. Mehr als das Bekenntnis zur Tradition stellte Brecht die Widersprüche im bürgerlichen humanistischen Erbe heraus wie auch die Schwierigkeiten der Aneignung dieses Erbes. Empfänglich für „große Vorbilder", warnte er jedoch vor jeder Einschüchterung durch Größe, deshalb sann er auf Mittel 7
und Methoden, um Größe auf ihre Brauchbarkeit für neue gesellschaftliche Zwecke zu überprüfen. Auf diese Weise entstanden theoretische Überlegungen und methodische Verfahren, mit denen die marxistisch-leninistische Erbetheorie ausgebaut und weiterentwickelt werden konnte. In dieser Arbeit ging es darum, die einzelnen, oftmals sehr subjektiv anmutenden Bemerkungen und Arbeitsnotizen Brechts in historische und theoretische Zusammenhänge zu stellen. Dabei mußte auf Fragestellungen und Lösungswege eingegangen werden, die über den konkreten Anlaß und Bezug der einzelnen Notizen hinausgehen. Andererseits war es nicht möglich, alle Seiten des Brechtschen Verhältnisses zur Weltliteratur in diesem Buch darzulegen. Wenn sich auch die Untersuchung vorwiegend auf die dramatischen und kunsttheoretischen Arbeiten Brechts erstreckt, so sind doch die wesentlichen Probleme erfaßt, die die Traditionsauffassung Brechts bestimmen. Es war nicht meine Absicht, ein Kompendium über die weltliterarischen Einflüsse auf das Gesamtwerk Brechts zu schreiben. Selbst da, wo ich versuchte, eine Traditionslinie des Brechtschen Schaffens abzustecken, konnte nicht mit der Fülle von Bezügen und Hinweisen aufgewartet werden, die bei monographischen Arbeiten mit dem Thema „Brecht und . . ." möglich sind. Wichtig hingegen war mir zu zeigen, daß Brecht ein entschiedener Gegner jener Auffassung war, die das Erbe als „affirmativ" verteufelte, daß er aber auch eine Haltung ablehnte, die das Erbe, in dem Bemühen, es zu bewahren, nur pontifikal gebrauchte. Brecht sah den Sinn einer produktiven kritischen Erbeaneignung darin, daß die fortgeschrittenste Klasse — wie Lenin sagte — mit dem Erbe „arbeitet". Berlin, Sommer 1971
Werner Mittenzwei
Revolution und Tradition oder Welcher Weg führt vom Neuen zum Alten?
Der Tabula-rasa-Standpunkt und die Tradition Um Brechts Verhältnis zum weltliterarischen Erbe richtig zu verstehen, muß man einige Gemeinplätze über diesen Dichter aufgeben. Brechts Traditionsverständigung vollzog sich in einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung. Von der viel strapazierten „unterkühlten" Diktion des Dichters kann hier keine Rede sein. Brecht stellte zum Problem des Erbes, der Tradition eine weitgespannte Konzeption zur Diskussion, kühn im Entwurf, befestigt durch eine ganze Reihe methodologischer Verfahren und Vorschläge. Zugleich waren diese Überlegungen nicht frei von hitziger Subjektivität und auch von Rivalität. In der Tradition sah Brecht weder eine erdrückende, fremde Macht noch etwas, was dem Menschen ganz selbstverständlich zufällt und zu dem man sich ebenso selbstverständlich bekennt. Er trat ihr eher wie einer lebendigen Versammlung gegenüber, von der er allerdings annahm, daß sie Grund habe, ihm nicht besonders wohlgesonnen zu sein. Mehr als die literarische Gegenwartsproduktion, die er in den zwanziger Jahren für sehr schwächlich hielt, war für ihn die Tradition das Polemikfeld, auf dem er sich durchzusetzen suchte. Sowenig Pietät er auch der Vergangenheit entgegenbrachte, so groß war doch sein Interesse, seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber. Seine Urteile waren alles andere als ausgewogen und abgeklärt, dienten sie ihm doch zur Formierung, zur Parteibildung innerhalb des literarischen Erbes. Auf diese Weise schloß er Bündnisse, trug er seine Kämpfe aus. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß Brechts Haltung zu den Großen der Weltliteratur verschiedene Phasen durch9
lief. Änderte er doch nicht nur seine Meinung zu einzelnen Dichtern, auch sein Verhältnis zur Gesamtheit des humanistischen literarischen Erbes wandelte sich im Laufe seines Lebens. Das ist nur zu verständlich bei einem Dichter, dem die Auseinandersetzung mit dem weltliterarischen Erbe keine rein literarische Angelegenheit war, sondern Teil des politischen Kampfes, der Verständigung über den Charakter der Gesellschaft und den Sinn menschlichen Daseins. Über seine Haltung zur Literatur der Vergangenheit hat sich Brecht in jeder Phase seines Lebens Rechenschaft gegeben. Dabei war er kein Essay-Schreiber, der, wie zum Beispiel Thomas Mann, in Reden und Aufsätzen sein Verhältnis zu den Großen der Weltliteratur darlegte. Auch an literarischen Auseinandersetzungen in Zeitungen und Zeitschriften beteiligte er sich höchst selten, und wenn schon, dann mehr in eigener Sache. Aber Brecht notierte gelegentlich seine Leseeindrücke, vor allem im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit für eine neue Literatur, für ein neues Theater. Am zahlreichsten und vielfältigsten sind seine Stellungnahmen in der ersten Phase seiner schriftstellerischen Entwicklung. Das ist sicher nicht nur dem Umstand zu danken, daß er sich in seiner Augsburger Zeit als Theaterkritiker betätigte, sondern seiner angestrengten Suche nach einer Position, von der aus er der Literatur seiner Zeit und der Vergangenheit gegenübertreten konnte. Brechts Ansichten über Literatur waren zu dieser Zeit noch nicht genau festgelegt. Er befand sich noch auf der Suche und war zu vielem geneigt, so daß seine Urteile noch keine bestimmte Position erkennen lassen. Der frühe Brecht zeigte sich relativ weitherzig in seinen Kunsturteilen. Er akzeptierte die verschiedensten Richtungen und Stile. So aggressiv, ja grob auch der Ton seiner Augsburger Theaterkritiken war, die polemische Schärfe gegen ganz bestimmte Kunsttraditionen und Kunstrichtungen, die für ihn schon wenige Jahre später kennzeichnend war, fehlte hier noch. Bei aller Originalität war sein Urteil noch nicht frei von konventionellen Ansichten. 1 * In seinen Beschreibungen be* Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die sowohl auf Literatur- oder Quellennachweise hindeuten als auch auf Sachanmerkungen, durch einen Stern gekennzeichnet.
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diente et sich der üblichen Maßstäbe einer bürgerlichen, vorwiegend impressionistisch getönten Kunstkritik. Er gebrauchte noch Wendungen und Kriterien, die er kurze Zeit später verdammte und verhöhnte. Selbst über einen solchen Dichter wie Hebbel, von dem er sich bald verächtlich abwandte, der für ihn geradezu zum Sinnbild für Gips und Stuck in der Literatur wurde, schrieb er: „Wie tief die Empfindung und wie rein und kühn der poetische Wille. Es ist drin viel Deutsches . . ." 2 Für Gides Batbseba fand er Worte, die aus der Sicht des späteren Brecht ironisch, parodistisch anmuten, die aber ernst gemeint waren: „Unerhört schön . . . eine zarte Elfenbeinmalerei mit bestürzend tiefer seelischer Fundierung. Hier ergeben Kultur, Dichtung, Gewissen eine wundervoll reine harmonische Einheit..." Georg Kaiser charakterisierte er folgendermaßen: „Hier ist ein Dichter . . . noch in der schweren Elefantiasis des Gewissens . . ." 3 Im Gegensatz zu Hebbel und Gide war die Wertschätzung Brechts gegenüber Georg Kaiser von größerer Dauer, aber was ihn später beeindruckte, war nicht mehr die „Elefantiasis des Gewissens", sondern dessen dramaturgische Technik, die epische Anlage der Kaiserschen Stücke. Interessant ist auch, daß er zu dieser Zeit die Stücke Gerhart Hauptmanns liebte, die er später als wenig aktivierende Mitleidsdramatik verwarf und zu einem bevorzugten Gegenstand seiner Polemik machte. Der Augsburger Theaterkritiker Brecht sah selbst in Rose Bernd ein revolutionäres Werk, das die Arbeiterklasse angeht. Er schrieb: „ . . . aber wir müssen hineingehen, es ist unsere Sache, die in dem Stück verhandelt wird, unser Elend, das gezeigt wird. Es ist ein revolutionäres Stück."4 Hauptmann war ein Dichter, den Brecht schon als Schüler über alles liebte. Die Veränderung im Verhältnis zu Hauptmann, die später eintrat, war ein wichtiges Anzeichen dafür, daß sich bei Brecht eine neue Vorstellung vom Drama herausbildete, die alte Vorbilder auslöschte, bisherige Wertschätzung aufkündigte. In die Augsburger Zeit fällt auch die bekannte Äußerung Brechts zu Schillers Don Carlos: „Ich habe den ,Don Carlos', weiß Gott, je und je geliebt. Aber in diesen Tagen lese ich in Sinclairs ,Sumpf' die Geschichte eines Arbeiters, der in den Schlachthöfen Chicagos zu Tod gehungert wird. Es handelt 11
sich um einfachen Hunger, Kälte, Krankheit, die einen Mann unterkriegen, so sicher, als ob sie von Gott eingesetzt seien. Dieser Mann hat einmal eine kleine Vision von Freiheit, wird dann mit Gummiknüppel niedergeschlagen. Seine Freiheit hat mit Carlos' Freiheit nicht das mindeste zu tun, ich weiß es: aber ich kann Carlos' Knechtschaft nicht mehr recht ernst nehmen."5 In dieser Bemerkung wird vielfach der Beginn von Brechts Radikalisierung gegen die Klassiker gesehen. Dieser Lektüreeindruck sollte jedoch nicht überschätzt werden. Denn die eigentliche Periode der Auseinandersetzung mit den Klassikern begann erst von jenem Zeitpunkt an, als sich Brecht über die Ursachen dessen klarzuwerden versuchte, was man in den zwanziger Jahren den „Klassikertod" nannte. Mit ihr kündigte Brecht, wie er selbst einmal formulierte, seine „nachlässige Kampfstellung" gegenüber der Literatur seiner Zeit wie der Vergangenheit auf.6 Brechts Wendung „Ich habe den ,Don Carlos', weiß Gott, je und je geliebt" weckt zudem die Vorstellung, als schlage eine bislang vorbehaltlose Liebe zu Schiller plötzlich in Kritik um. Neuere Forschungen weisen jedoch nach, daß Brecht bereits in seiner Gymnasialzeit gegen Schiller Einwände vorbrachte, die in einem Fall sogar dazu führten, daß die Lehrer erwogen, ihn von der Schule zu verweisen.7 Die zunehmende Radikalisierung gegenüber den Klassikern bedarf hinsichtlich ihrer Ursachen einer näheren Erläuterung. (Zumal die Don-Carlos-Bemerkung darüber nur ungenau Auskunft gibt.) Die kritische Sicht, in die Schiller bei Brecht geriet, erinnert an ähnliche Stellungnahmen sozialistischer Schriftsteller in den frühen Phasen ihrer Entwicklung. Nahe liegt ein Vergleich mit Friedrich Wolfs Aufsatz Kunst ist Waffe, in dem dieser ausführte: „Bitte, sich nicht vor Ekel abzuwenden und zur .Iphigenie' oder zur Erhabenheit gotischer Dome zu flüchten 1 Es wohnen durchschnittlich in einem Haus in London 8 Personen, in Paris 38 Personen, in Berlin 76 Personen 1 Was soll uns da der .Wilhelm Teil'?! Was geht uns der Parricida und Geßler an? . . . Gebt den Jungens Arbeit, Brot, Atemraum und ein eigenes Bett! Aber laßt sie mit der Iphigenie und dem Wilhelm Teil in Ruhe, die h e u t e für den Jungarbeiter nichts anderes sind als Dunst, Opium 12
und Phrase! Zustimmung Arno Holz: , . . . Dem Elend dünkt ein Stückchen Butter/Erhabener als der ganze Faust."' 8 Eine solche Haltung zu den deutschen Klassikern findet man auch bei Johannes R. Becher, Egon Erwin Kisch, Oskar Kanehl, Rudolf Braune und vielen anderen. Sie war in den zwanziger Jahren in den verschiedenen proletarischen Kulturorganisationen weit verbreitet. Wolfs Haltung war durchaus kein Einzelfall; sie war vielmehr Ausdruck einer Zeitstimmung. Über diese Zeit zwischen 1918—1933 schrieb Friedrich Albrecht, der sich mit dem Verhältnis von sozialistischer Literaturbewegung und deutscher Klassik befaßte, daß sie dem klassischen Erbe keine solche Aufmerksamkeit gewidmet habe wie die deutschen Linken in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Zwar seien Anfang der zwanziger Jahre noch Ansätze zur Weiterführung der Mehringschen Tradition vorhanden gewesen, aber zwischen 1924 und 1929 seien in der kommunistischen Presse viel sporadischer als vorher Beiträge erschienen, die sich intensiver mit der klassischen Literatur beschäftigten. Erst ab 1929/30 ändere sich dann das Bild allmählich.9 Die Gründe dafür sind sicher vielfältig. Albrecht nannte einen wichtigen Grund: „Sehr oft nämlich stellt es sich bei näherer Betrachtung heraus, daß die Ursache für oppositionelle Stimmungen gegenüber der Klassik in der Ablehnung jener Seiten ihres Weltbildes liegen, die ohne kritische Korrektur nicht übernommen werden konnten . . . " 1 0 Becher sprach von dem „dumpfen, sich selbst verzehrenden Haß" auf die Tradition einer Klasse, die ihr progressives Erbe zum Verschmieren der Klassenwidersprüche, zum „frommen Betrug" gebrauchte.11 Hier war die Negation der Klassik ein Moment des Übergangs fortschrittlicher bürgerlicher Intellektueller auf die Position der Arbeiterklasse. Diese Intellektuellen empfanden die Tradition als eine Last, als einen Alpdruck, von dem sie sich auf radikale Weise zu befreien suchten. Für Friedrich Wolf und die proletarischen Schriftsteller war die Haltung zur Klassik Ausdruck des Protestes, der Opposition. Solange Not und Elend herrschten, sollte nicht von Schönheit gesprochen werden, sollte nicht der Kunstwert, sondern der Kampfwert einer Dichtung im Mittelpunkt stehen. Die proletarische Opposition gegenüber der deutschen 13
Klassik unterschied sich in ihren Motiven wie in ihren Äußerungen von modernistischen Antiklassikpositionen, wie zum Beispiel der der Berliner Dadaisten. Die Dadaisten verulkten Goethe unter der Devise „Kunst ist Scheiße".12* Dieser Antiklassik-Position lag aber mehr eine Bilderstürmerhaltung als eine sozial motivierte Einstellung zugrunde. Brecht läßt sich in keine dieser Oppositionsbewegungen richtig einreihen. Seine Beweggründe sind andere. Er wandte sich weder vom Standpunkt der materiellen Not und des Elends der arbeitenden Klasse wie Friedrich Wolf noch im Namen einer neuen Ästhetik wie die Berliner Dadaisten gegen die Klassik. Die Motive, die Brecht veranlaßten, sich gegen die Klassik zu wenden — Klassik hier im weitesten Sinne des Wortes —, sind außerordentlich aufschlußreich im Hinblick auf die neue weltanschauliche und ästhetische Position, zu der sich Brecht hinentwickelte. Zunächst war er in seiner Argumentation weit weniger edel und sozialdenkend als Friedrich Wolf, aber auch weit weniger ästhetisch argumentierend als die Dadaisten. Brecht brachte im Prinzip gegen die Klassik wie überhaupt gegen den größten Teil des literarischen Erbes die gleichen Argumente ins Spiel wie gegen zeitgenössische bürgerliche Literatur: Sie diene keinem großen gesellschaftlichen Interesse und spiegele hauptsächlich den „Glauben an die Persönlichkeit" wider. Vorerst soll hier nicht untersucht werden, inwieweit Brecht einem Irrtum unterlag. Vielmehr geht es darum, wie seine Gründe zu verstehen sind. Da Brecht gerade in dieser Zeit sprunghaft in seinem Denken war, sich verschiedenen Möglichkeiten verschrieb und sich nicht selten auch widersprach, sind diese Gründe nicht leicht zu erkennen. Die vergangenen Kunstperioden überblickend, stellte Brecht in bezug auf das Theater 1927 fest, daß es „irgendwann ein Theater gegeben hat, das mit dem Leben in einem ganz anderen Kontakt stand". 13 Ein solches Theater war für ihn das Theater Shakespeares. Diesem Dramatiker war er immer bereit, einen „gewissen Kredit" einzuräumen. Bei den deutschen Klassikern, so fand Brecht, war dieser Kontakt zum gesellschaftlichen Leben bereits nicht mehr vorhanden. Die Klassiker, so vermerkte Brecht, „können weit eher auf philosophische 14
Vorbildung hinweisen als auf einen philosophischen Gehalt ihrer Stücke". Hierin sah er geradezu das Elend der deutschen dramatischen Literatur. Eine solche „unglückliche Tradition" habe dazu geführt (hier zitiert Brecht Alfred Döblin), daß man aus einem Drama niemals das Leben, sondern nur den Geisteszustand des Dramatikers erfahren könne. Insbesondere die Entwicklung von Friedrich Schiller zu Friedrich Hebbel zeige, daß, wo die deutschen Dramenschreiber zu denken anfingen, sie auch zu konstruieren begännen. „Shakespeare", hob er dagegen hervor, „hat das Denken nicht nötig." 1 4 Unstimmig, zu leeren Konstruktionen erstarrt, empfand Brecht den größten Teil der bürgerlichen Dramatik schon deshalb, weil er in ihr die Persönlichkeit, den menschlichen Charakter als eigentliche Triebfeder aller historischen Vorgänge beschrieben sah. Daß etwas in dieser Welt durch außergewöhnliche Charaktere und große Persönlichkeiten verändert oder bewerkstelligt werden könne, hielt Brecht angesichts der E r fahrungen des ersten Weltkrieges und der großen Klassenschlachten der Nachkriegsjahre schlechthin für Aberglauben. Die historischen Vorgänge hatten ihn belehrt, in welcher Weise das Individuum noch eine Rolle zu spielen vermochte: als Teil der Masse. Die Demonstration durch den historischen Prozeß empfand Brecht so überzeugend, daß er die individuumsbetonte Erzählweise der alten Literatur für ein Hindernis auf dem Wege zu einer neuen Kunst hielt. Dabei war die Zerstörung der Legende von der alles bewirkenden Kraft der „großen Individuen" freilich auch mit dem Verlust dialektischer Einsicht in die echten Möglichkeiten des Menschen verbunden. Zunächst aber war Brecht fasziniert von der neuen Erkenntnis: „Der einzelne als solcher erreichte eingreifende Wirkungen nur als Repräsentant vieler. Aber sein Eingreifen in die großen ökonomisch-politischen Prozesse beschränkte sich auf ihre Ausbeutung. Die .Masse der Individuen* aber verlor ihre Unteilbarkeit durch ihre Zuteilbarkeit. Der einzelne wurde immerfort zugeteilt, und was dann begann, war ein Prozeß, der es keineswegs auf ihn abgesehen hatte, der durch sein Eingreifen nicht beeinflußt und der durch sein Ende nicht beendet wurde." 15 15
Mit solchen Auffassungen stand Brecht nicht allein. Nach dem ersten Weltkrieg, insbesondere unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Erschütterungen und der großen Klassenschlachten, entwickelten bürgerliche Ideologen verschiedene Persönlichkeitskonzeptionen, die sich auf den Abbau der alles bewirkenden Macht der großen Persönlichkeiten richteten. Diese Konzeptionen stellten vor allem das „versachlichte", abstrakte Individuum heraus, das seiner eigentlichen menschlichen Wesenskräfte beraubt sei. Der Mensch empfände sich nur mehr als winziges Teilchen innerhalb eines riesigen, aber völlig sinnlosen Mechanismus. Ernst Schumacher charakterisierte diese Auffassung sehr treffend mit dem Satz: „Das .Menschenmaterial' des Weltkriegs begann die Materialität der Welt als eigenes Wesen zu empfinden." 16 Zwar zeugten diese Konzeptionen von einem schärferen Blick für die Wirklichkeit, aber sie erfaßten dennoch nur die Oberfläche menschlicher Entfremdung, nicht die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen. Die Abrüstung des Individuums, der Persönlichkeit geschah mit dem Hinweis auf die Abhängigkeit des Menschen von „übermächtigen", „blindwirkenden" Kräften. „An die Stelle des Glaubens an ein persönliches, mit der Wesenheit des Menschen in geheimer Kongruenz stehendes Schicksal tritt das Bewußtsein einer starken Bedingtheit durch sinnlose und zufällige äußere Faktoren." 17 Von diesen irrationalistischen Auffassungen muß man die Persönlichkeitskonzeption des jungen Brecht abtrennen. Selbst zu einer Zeit, als Brecht die wirklichen Zusammenhänge noch nicht zu durchschauen vermochte, war er weit davon entfernt, die Abhängigkeit des Menschen in „übermächtigen" oder „zufälligen" Faktoren zu suchen. Die Abhängigkeit des Individuums interessierte ihn nur im Zusammenhang mit den Einflußmöglichkeiten der Massen. Von den ersten Überlegungen zu diesem Problem bis zu den gründlichen Studien über die Dialektik von Individuum und Masse in den dreißiger Jahren ging er stets von einer gesellschaftlichen Fragestellung aus und unterschied sich auf diese Weise sehr deutlich von den bürgerlichen Persönlichkeitskonzeptionen, die nur die Oberfläche der kapitalistischen Entfremdung berührten. 16
Die neue Erkenntnis war für Brecht so wesentlich und wichtig, daß sie für ihn zum beherrschenden Maßstab wurde. Er wandte sie auf eine Art und Weise an, daß selbst die großen Werke der Vergangenheit vor seinem Urteil keinen Bestand hatten. Dabei übersah er allerdings den urwüchsigen Materialismus vieler großer literarischer Werke der Vergangenheit und leitete aus der individuumsgebundenen ästhetischen Struktur der Werke eine geschichtsidealistische Haltung ab, einen Glauben an die Macht des Individuums. Eine solche Tendenz war aber weniger im Stoff selbst als mehr in der Erzählweise der Fabel oder einfach in der Tatsache zu suchen, daß eine dramatische Geschichte vom Helden her erzählt wurde. Hier vermischte sich seine Kritik am literarischen Erbe mit den Prinzipien einer neuen, prozeßorientierten Erzählweise, die ihm damals vorschwebte und die er zu etablieren suchte. Er kritisierte somit die Kunst der Vergangenheit von der Position einer Kunst, die er erst durchzusetzen beabsichtigte. Auf diese Weise stellte er aber das literarische Erbe nicht nur in eine kritische Sicht, vor der es nicht bestehen konnte, er machte es auch mehr oder weniger zum direkten Gegenpol der neu zu schaffenden Kunst. Das hatte zur Folge, daß er den alten Werken oftmals mehr Schwächen anlastete, als sie entwicklungsbedingt aufwiesen. Über die konträren Gesichtspunkte einer Literatur, die von der Rolle der Persönlichkeit ausgeht, und einer Literatur, die ihren Stoff vom historischen Prozeß her organisiert, entwickelt Brecht seine Vorstellung von der epischen Erzählstruktur. Die undifferenzierte, pauschale Kritik an der alten Literatur war somit eine Art Selbstverständigungsprozeß über die Eigenschaften einer neuen, im Entstehen begriffenen Literatur. Bei einem solchen Verfahren, das dem Historiker verwehrt, dem Künstler aber erlaubt ist, war eine differenzierte Wertung des klassischen Erbes nicht möglich. Brecht ging es letzten Endes jedoch auch nicht um eine solche historische Analyse. Er versuchte, neue gesellschaftliche Erfahrungen für seine Kunst dienstbar zu machen, indem er zunächst die positiven Merkmale dieser neuen Kunst durch Kritik an den alten Werken herauskristallisierte, indem er sich Klarheit über die Vorzüge der einen durch die Erhellung — und auch Entstellung — der anderen verschaffte. 2 Mittenzwei
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Aus diesem Gedanken wird deutlich: Noch bevor Brecht seine Vorstellung vom epischen Theater realisierte, trat er als Kritiker des bisherigen Theaters, der bisherigen Kunst auf. Er kritisierte die alte Kunst von den gesellschaftlichen Unstimmigkeiten her, die ihm zunächst noch unklar, noch nicht in allen Ursachen und Zusammenhängen bewußt waren. E r konfrontierte seine aus Krieg und Klassenkämpfen gewonnenen gesellschaftlichen Erfahrungen mit den Werken des klassischen Erbes und fand es nur folgerichtig, daß diese Kunst ihr Publikum verlor. Bei der weiteren Ausarbeitung seiner Vorstellung vom epischen Theater ging Brecht immer mehr dazu über, das literarische Erbe wie die gesamte bisherige Kunstentwicklung aus der Sicht seiner neuen Kunstvorstellungen zu kritisieren. Das führte zu weiteren Widersprüchen. Sie zeigten sich insbesondere in der Haltung zu Shakespeare. Einerseits gewährte er Shakespeare weiterhin „Kredit". Er gab ihn als Vorbild nicht preis. Hin und wieder spielte er ihn positiv gegen die deutsche Klassik und die schwächliche modernistische Gegenwartsproduktion aus. Andererseits aber fand Brecht gerade in den Stücken des großen Briten den „Glauben an die Persönlichkeit", die Amokläufe der „großen Individuen" gestaltet. Jedoch erwies Brecht im Verhältnis zu Shakespeare mehr historischen Sinn als gegenüber den deutschen Klassikern. „Das elisabethanische Drama", schrieb Brecht, „hat eine mächtige Freiheit des Individuums etabliert und es großzügig seinen Leidenschaften überlassen . . . Diese Freiheiten mögen unsere Schauspieler ihr Publikum weiterhin auskosten lassen. Aber zugleich, in ein und derselben Gestaltung, werden sie nunmehr auch die Freiheit der Gesellschaft etablieren, das Individuum zu ändern und produktiv zu machen." 18 In dieser Erklärung versuchte Brecht, die Eigenart des elisabethanischen Theaters mit jenem Fortschritt zu verbinden, den er mit dem neuen epischen Theater zu erbringen suchte. Brecht zeigte den Fortschritt des einen Zeitalters, um auf den Fortschritt hinzulenken, der von seinem Zeitalter erwartet wurde. Ansonsten sind die meisten der frühen ShakespeareEinschätzungen jedoch kritisch gegen die „großen Charaktere" gerichtet. „Wir finden im alten Theater eine ausgebildete 18
Technik vor", schrieb Brecht auch über Shakespeare, „die es gestattet, den passiven Menschen zu beschreiben. Sein Charakter wird aufgebaut, indem gezeigt wird, wie er seelisch auf das reagiert, was ihm geschieht.. . Die Menschen handeln zwangsmäßig, ihrem .Charakter' entsprechend, ihr Charakter ist ,ewig', unbeeinflußbar, er kann sich nur zeigen, er hat keine den Menschen erreichbare Ursache. Es findet eine Meisterung des Schicksals statt, aber es ist die der Anpassung; die ,Unbill' wird ertragen, das ist die Meisterung. Die Menschen strecken sich nach der Decke, es wird nicht die Decke gestreckt." 19 In diesen Fragen gab Brecht Shakespeare keinen Kredit. Vom Standpunkt einer Dramatik, die an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert ist, lehnte er die Tragik der Rose Bernd ebenso ab wie die des König Lear. Das wird deutlich, wenn man seine Einwände gegen Hauptmanns Rose 'Bernd und Ibsens Gespenster mit der Kritik an Shakespeare König Ijear vergleicht. „Nehmen wir an, ich sehe im Theater ,Rose Bernd' oder die .Gespenster'. . . warum empfinde ich nichts dabei? . . . weil ich hier etwas tragisch finden soll, was man ohne weiteres oder mit weiterem durch einige zivilisatorische Maßnahmen oder auch ein wenig Aufklärung . . . aus der Welt schaffen kann." 20 Und zu Shakespeares Stück bemerkt er: „Nehmen wir noch einmal den Lear, führen wir ihn vor Verhaltensforschern auf. Meint man, die tragische Wirkung tritt ein, wenn der Zuschauer sich fragt, ob denn das Essen, das Lear von seiner Tochter für 100 Höflinge verlangt, da ist, woher es gegebenenfalls zu schaffen wäre?" 21 In der Polemik mit unzeitgemäßen, unstimmigen Darstellungsverfahren der alten Kunst wie der bürgerlichen Gegenwartskunst, in seinem Bemühen, neuen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnissen Eingang in die Literatur zu verschaffen, verfiel Brecht selbst einer unhistorischen Betrachtungsweise. Brecht täuschte sich, wenn er meinte, daß die tragische Wirkung einer Situation aus der Vergangenheit durch den entsprechenden Fortschritt in der Gegenwart aufgehoben werde. Die Einsicht des heutigen Menschen wie seine „zivilisatorischen" Möglichkeiten heben nicht die tragische Wirkung auf, die aus der Darstellung von Situationen entsteht, in denen diese Einsichten und Hilfen nicht zur Verfügung 2»
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stehen konnten. Im Kunstgenuß vollzieht der Mensch nämlich das historische Feld der Möglichkeiten mit, wenn der entsprechende Vorgang vom Dichter als ein gesellschaftlicher, historisch gegebener dargestellt wird. Der Stoß, den Brecht gegen alle bisherige Kunstentwicklung führte, sollte frontal sein, sie als Ganzes treffen. Es ging ihm nicht um den Einzelfall, nicht um diese und jene Schwäche im Werk des einen oder anderen Dichters. Die Schwäche aller bisherigen Kunst aber sah Brecht darin, daß sich die Vielzahl ihrer Gestaltungsmittel und Darstellungsverfahren auf den einzelnen richteten und wiederum Wirkungen beim einzelnen, vor allem im Bereich des Seelischen, auszulösen versuchten. Die bisherige Kunst habe sich nur imstande gesehen, das Leben des einzelnen zu gestalten. Der „Charakter" mit all seinen mächtigen Leidenschaften und seinen feinen Stimmungen sei zur zentralen Kategorie der Literatur geworden. Und ihren Endzweck sehe diese Literatur wiederum in der Auslösung von Stimmungen und seelischer Beruhigung. Durch die „Charaktergestaltung", durch die Kultivierung von Darstellungsverfahren, mit denen Leidenschaften vorgeführt werden konnten, sei die Kunst ruiniert worden. Die bürgerliche Klasse habe die Literatur und Kunst, so fand Brecht, auf die Stufe von „Charaktergemälden" heruntergewirtschaftet. Die gesamte Entwicklung sah er in einer Sackgasse. Aber gerade eine solche Situation könne zu ganz neuen Wegen veranlassen, wenn man sich bewußt werde, daß man sich in einer Sackgasse befinde. Aus diesem Grund hielt er jeden Versuch, dem menschlichen Charakter noch eine neue seelische Nuance, noch eine psychische Besonderheit, noch eine nicht bekannte Leidenschaft abzugewinnen, nur für geeignet, sich weiter in der Sackgasse zu verrennen. Deshalb war seine Losung: Weg mit dem „Charakter"! — Her mit den gesellschaftlichen Prozessen I Nicht das Individuum, sondern das Kollektiv sei der Ausgangspunkt der Kunst. „Kunst ist nicht Individuelles. Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches." 2 2 Die Situation, in der sich Brecht damals befand, wie auch der eigentliche Sinn der ganzen Auseinandersetzung wird nicht verständlich, wenn man Brechts Kunstbetrachtungen nur am 20
Sinn für historische Gerechtigkeit mißt. Das würde nur zu Kopfschütteln darüber führen, wie ungerecht und historisch unsachgemäß viele Große der Vergangenheit von Brecht behandelt wurden. Brecht unterlag bei seinen Betrachtungen einer doppelten Optik. Er ging von dem zeitgenössischen Zustand, der von der spätbürgerlichen Ästhetik beherrscht wurde, aus. Diese Ästhetik hatte aber tatsächlich alle Wirklichkeit-Kunst-Beziehungen psychologisiert, hatte den „Charakter", das „Seelische" zum Drehpunkt der Kunst gemacht. Aus der Kunst und Literatur waren mehr oder weniger alle Elemente des wirklichen Lebens, alles, was die Entwicklung der Gesellschaft tatsächlich beeinflußt, ausgeschlossen. Den von hier aus gewonnenen polemischen Standpunkt übertrug Brecht auch auf die Literatur weiter zurückliegender Phasen und Epochen, ohne sich allzu eingehend mit den konkreten historischen Bedingungen zu befassen. Die Auseinandersetzung mit den „schwächlichen" Produkten der bürgerlichen Gegenwartsliteratur hielt Brecht für keinen seinem Anliegen angemessenen Gegenstand. Große Veränderungen wollte er nicht an kleinen, wenig aussagekräftigen Vorgängen demonstrieren. Deshalb richtete sich seine Aufmerksamkeit mehr auf die Literatur vergangener Epochen als auf die zeitgenössische. Die Übertragung der aus dem Zustand der spätbürgerlichen Ästhetik abgeleiteten Polemik auf das breite Feld des weltliterarischen Erbes führte dann zu einer Radikalität, die mit der bisherigen Literaturentwicklung fast tabula-rasa machte. Diese Tabula-rasa-Haltung kam vor allem zum Ausdruck, als er Mitte der zwanziger Jahre auf die Rundfrage „Was halten Sie für Kitsch?" schrieb, man möge da ruhig den ganzen Kürschner abdrucken. Die paar Namen, die er gestrichen haben wolle, könne er in einem Drei-MinutenGespräch telefonisch durchsagen.23 Wenn man bei der Analyse der Brechtschen Haltung auch den vorbedachten ironischen, provokanten Ton in Rechnung stellen muß, so sollte man sich aber nicht darüber täuschen, daß es Brecht mit seiner Meinung ernst war. Von der „nachlässigen Kampfstellung" erfolgte der Umschlag in eine Haltung gegen alles, was nicht wenigen Menschen seiner Zeit lieb und teuer war. In einer späteren Tagebuch-Notiz wies Brecht 21
einmal darauf hin, daß man die Tabula-rasa-Situation, das Beginner-Gefühl brauche, wenn man etwas Neues schaffen wolle. Diese Bemerkung ist bei Brecht nicht im Sinne der Liquidation, des Verwerfens alles Bisherigen zu verstehen. Aber die tatsächliche, die dialektisch verstandene Aufhebung führt immer über das Momfent der Negation hinaus. Innerhalb des historischen Prozesses, im Leben des einzelnen wie in der Gesamtheit der Gesellschaft, tritt dieses Moment in vielfältiger Gestalt, in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Wie widerspruchsvoll dieser Prozeß im Leben Brechts verlief, geht schon daraus hervor, daß er unmittelbar zu dem Zeitpunkt, als er von der „nachlässigen Kampfstellung" zu der Tabula-rasa-Haltung überwechselte, nach Tradition verlangte. Bei aller Radikalität war er nicht bereit, auf Tradition zu pfeifen. „Handelt es sich jedoch um wirkliche, revolutionäre Fortführung", vermerkte er, „so ist Tradition nötig." 24 Tabula-rasa machen und auf Tradition bestehen, das ist ein schwer erklärbarer Widerspruch. Aber Widersprüche dieser Art sind es, die große Entwicklungen auslösen. Im Zusammenhang mit seiner radikalen Kritik an der bisherigen Kunstentwicklung begann Brecht, eine Traditionslinie aufzubauen, die nicht schlechthin von Werken markiert wurde, die er besonders schätzte, sondern die den Versuch darstellte, eine Ahnenreihe des epischen Theaters ausfindig zu machen. Sie war weit gespannt. Sie reichte vom „asiatischen" Vorbild über Shakespeare bis zu Georg Kaiser, der für Brecht „am Ende dieser Tradition" stand.25
Die Materialwert-Theorie Im Messingkauf spricht der Philosoph davon, daß man dem Dichter nur soweit folgen solle, wie er der Wahrheit und den öffentlichen Interessen diene, sonst aber, schlägt der Philosoph vor, wäre der Dichter zu verbessern. Darauf antwortet der Dramaturg: „Ich frage mich, ob du wie ein kultivierter Mensch sprichst."26 Wenn man die literaturtheoretische Entwicklung der letzten Jahrzehnte übersieht, so ist die Antwort des Dramaturgen eigentlich noch heute die Antwort derLitera22
turwissenschaft auf Brechts Materialwert-Theorie. Die marxistische Germanistik, lange Zeit ausgerichtet nach den Theorien Georg Lukäcs', hat es sich mit Brecht stets schwer gemacht und sich nur schrittweise zu seinen Theorien und methodologischen Verfahren bekannt. Gegenüber der MaterialwertTheorie ist sie bis heute abweisend geblieben. Sie bildete sozusagen die äußerste Grenze, an die man mit Brecht zu gehen bereit war. Weitaus mehr Widerhall fand diese Theorie dafür in der künstlerischen Praxis, insbesondere im Theater. Die Art und Weise, wie dort gelegentlich von ihr Gebrauch gemacht wurde, hat aber das Ansehen dieser Theorie nicht gehoben. Die Widersprüche traten eher noch schärfer hervor. Der gegenwärtige Stand der Brecht-Forschung drängt die Frage auf: Muß man die Materialwert-Theorie Brechts nicht einfach als einen Irrtum des jungen Brecht bezeichnen, der von ihm selbst überwunden wurde? Wozu dann einen toten Hund ausgraben? Wer die theoretischen Schriften Brechts kennt, ist sich klar darüber, daß es in dieser Frage eine Entwicklung gegeben hat. Aber eine historische Wertung im Sinne des historischen Materialismus kann sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß ein Standpunkt durch einen besseren, nützlicheren überwunden wurde. Der tatsächliche Vorgang ist komplizierter. Zunächst ist zu klären, welche Gründe Brecht zu dieser Theorie veranlaßten und in welcher Situation sie entstand. Auf die Materialwert-Theorie kam Brecht in einer Zeit, in der die Darstellungsform der Klassik auf dem Theater in eine Krise geraten war. Nach dem ersten Weltkrieg trat ein großer Teil des Publikums seinen Klassikern, wenn auch nicht immer mit Mißtrauen, so doch mit einer veränderten Einstellung gegenüber. Diese Veränderung der Zuschauergewohnheit, des Publikumsgeschmacks war alles andere als rein literarisch, sie erwies sich als ein Resultat historischer Vorgänge. Selbst dem apolitischen Zuschauer blieb die große gesellschaftliche Krise nicht verborgen. Auch er machte seine gesellschaftlichen Erfahrungen. Die Krise der Klassikerdarstellung stand im direkten Zusammenhang mit der Gesellschaftskrise. Der Theaterkritiker Herbert Jhering formulierte damals aus seiner Sicht: „Die Bewegung gegen die Klassiker ist international. Die Zer23
trümmerung traditioneller Werte hat in Rußland begonnen wie in Deutschland. Wenn England, Frankreich und Amerika noch zurückbleiben, so nur deshalb, weil Amerika keine Tradition hat, weil England und Frankreich konservative Theaterländer sind, langsamer in Bewegung geraten und kaum bei Reinhardt stehn." 27 Brecht, dessen radikale Position schon beschrieben wurde, faßte die Frage weit globaler. Seine Kritik richtete sich nicht nur gegen die gegenwärtige Darstellungsform der klassischen Stücke, sondern auch gegen die Klassiker selbst. (Nur im Dialog mit Jhering suchte Brecht seine Auffassung hinsichtlich der Kritik an der Darstellungsweise der klassischen Stücke und an den Klassikern zu differenzieren.) Um das ganze Problem noch auf die Spitze zu treiben, umgab Brecht seine Materialwert-Theorie selbst mit dem Fluidum der Anrüchigkeit, indem er sie ganz offen mit den Praktiken der Vandalen verglich, die von der Kunst ihrer Vorgänger nur den Materialwert schätzten. Denn dafür wußten sie noch eine Verwendung, während der inhaltlich-ideologische Aussagewert ihnen nutzlos erschien, weil er sich nicht mit ihren gesellschaftlichen Interessen deckte. Sie hielten sich an die Nützlichkeit des Materials. Brechts Formulierungen waren sehr bewußt auf Provokation und zugleich als Bekenntnis zu den Anführern des „Vandalentums auf dem Theater", nämlich zu Jessner und Piscator, angelegt. Die Krisis der klassischen Darstellungsform war allgemein. Sie war beredter Ausdruck für die Unstimmigkeiten, für das Mißverhältnis zwischen bürgerlicher Kunstausübung und dem tatsächlichen gesellschafdichen Leben. Der Verfall der klassischen Darstellungsform ging einher mit dem Verfall der bürgerlichen Literaturwissenschaft. Die Ausführungen von Jessner und Piscator waren in dieser Situation nicht Ausdruck des Verfalls einer großen Literaturtradition, sie waren nur die kritische Reaktion auf diesen Verfall. Sie stellten den aussichtslosen Versuch dar, der Krise durch radikale Regielösungen beizukommen. In der Sicht des verkehrten Bewußtseins erschienen aber gerade die als Verderber, die die Verderbnis erkannt hatten. Als verkommen galten die, die die Verkommenheit des bürgerlichen Traditionsbewußtseins aufzudecken versuchten. 24
Obwohl das spätbürgerliche Theater der zwanziger Jahre im starken Maße wissenschaftsfeindlich war, war es mit der Entwicklung der Literaturwissenschaft, insbesondere der Germanistik, oftmals eng verbunden. In einem ausgesprochenen Bildungstheater, wie es das deutsche war, spiegelte sich die Tendenz dieser Wissenschaft ganz unmittelbar wider. Wenn es auf dem spätbürgerlichen Theater zu einer immer breiteren Privatisierung und immer stärkeren Psychologisierung aller großen gesellschaftlichen Vorgänge kam, so war die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Scherer zu Dilthey und seinem populären literaturtheoretischen Vertreter Gundolf daran nicht schuldlos. Durch diese Entwicklung wurde ein großer Teil des theoretischen Arsenals zur Privatisierung der Klassiker bereitgestellt. 1916 erschien Friedrich Gundolfs Goethe-Buch, das, wie Paul Rilla schrieb, in kurzer Zeit zum „Hausbuch der gebildeten Familie" werden sollte: „Denn die bürgerliche Bildung hatte Fortschritte gemacht. Nicht einmal mit biographischen Intimitäten konnte man ihr mehr imponieren, sie waren zu realistisch. Womit man ihr imponieren konnte, war ein Pathos, das weder gedanklich noch stofflich zu kontrollieren, sondern nur vermittels irrationaler Zündungen zu erspüren war . . . Goethe als Kraft (ohne Stoff), Goethe als Wirkung (ohne Ursache), Goethe als Ereignis (ohne Folge) — es lief immer auf dasselbe hinaus: Goethe als Mythos ohne Geschichte. Denn Geschichte, Entwicklung, Fortschritt sollte es nicht mehr geben . . . Aus dem luftleeren Raum des bloß noch zu seiner eigenen Unwirklichkeit entschlossenen Zeitgeistes erschuf Gundolf das Goethe-Bild, in dem ein Bildungsbürgertum, das längst von seiner eigenen Tradition abgefallen war und keine Geschichte mehr hatte, sich noch einmal als ästhetische Instanz bestätigt fühlen konnte." 28 Der Positivismus mit seiner fatalen gedanklichen Bindung der Klassiker an die Geschichte und das Vorbild der Hohenzollern wurde abgelöst durch den Irrationalismus Gundolfs. Die methodologische Basis der Scherer-Schule mit ihrem „Drei-Schritt-Schema" vom „Ererbten, Erlernten, Erlebten" wurde durch das „Urerlebnis" der Gundolf-Schule ersetzt. An die Stelle von Biographie und Einflußtheorie rückte das Bewegungsgesetz der Erschütterung durch die „innere 25
Struktur" des Menschen. Dieser Verinnerlichungskult führte auf dem Theater zu noch einer größeren Verschmutzung der Klassiker als durch den Positivismus und die BiographieManier der Scherer-Schule. Durch die Aushöhlung der gesellschaftlichen Grundlagen der klassischen Literatur wurde diese Dichtung handhabbar für die Lebenshaltung einer parasitären Bourgeoisie und eines verängstigten, apolitischen Kleinbürgertums. Aus Tradition wurde, wie Jhering sich ausdrückte, einfach nur „Verbrauch". Jhering beschrieb diesen Einbruch in die klassische Tradition folgendermaßen: „Die Schule entzog den Klassikern das Leben, indem sie jede Wechselwirkung ausschaltete. Die Schule enteignete die Klassiker, in dem sie den Nationalbesitz als Privatbesitz behandelte und als P r i v a t s t o l z gegen Dichter anderer Nationen ausspielte... Die Germanisten schwatzten von Goethes Liebschaften, von Goethes Lebenshaltung, spreizten sich mit unwichtigen, auch im Komplex Goethe unwichtigen Einzelheiten, und draußen bereiteten sich Ereignisse vor, vor denen jedes persönliche Schicksal wesenlos, jede Betonung des Privaten lächerlich wurde . . . Diese Zuschauer, soweit sie sich scheinbar jeder zusammenschließenden Begeisterung öffneten, wurden in ihren P r i v a t g e f ü h l e n bestärkt. Sie wurden durch das Theater erst recht Privatpersonen, gesteigerte Privatpersonen, die sich vor anderen mit ihrem künstlerischen Erlebnis wichtig machten." 2 9 Diese Ausführungen zeigen, daß die Tendenzen der Literaturwissenschaften auch auf dem Theater zu finden waren. Hier gewannen sie in ihrer enttheorisierten Form sogar erst ihre breitere Wirkung. So abweisend sich das Theater auch gegenüber der Wissenschaft verhielt, die Bühne sog den ideologischen Extrakt der spätbürgerlichen Wissenschaftsentwicklung auf und trug wesentlich dazu bei, daß er vom Publikum als „Lebensgefühl" wahrgenommen wurde. Die sogenannten naiven, „blutvollen" Theaterleute, wie etwa Max Reinhardt, kamen als Gegengewicht gar nicht in Betracht. Indem sie sich, wie Reinhardt, auf das bloße Spiel der Phantasie, auf Farbe, Form und ästhetische Reize orientierten, trugen sie nur auf andere Weise zur Deformierung des klassischen Erbes bei. Max Reinhardts Inszenierungsstil förderte sogar die Privatisierung der Klassiker. Über die künstlerische Eigenart 26
dieses Regisseurs schrieb Herbert Jhering: „Er sah die Rollen, die Szenen. Er sah die Farbe, die Stimmung, die Atmosphäre. Er berauschte sich am Klang, an der Nuance, am ästhetischen Reiz. Es war keine Zeit der kritischen Untersuchung, keine Epoche der Wesensüberprüfung. Es war eine Zeit der gläubigen Hinnahme — zum letztenmal."30 Auf die Zerstörung der „gläubigen Hinnahme" zielten die Experimente Jessners und Piscators. Allerdings beabsichtigten diese weniger die Aufhellung des gesellschaftlichen Inhalts der klassischen Stücke als mehr die Aktualisierung bestimmter Vorgänge und einzelner Figuren durch provokative Änderungen. So baute zum Beispiel Piscator in seiner Räuber-lasze.nierung Karl Moor als Helden ab und dafür Spiegelberg als bewußten Revolutionär auf. Eine neue, nicht auf Pietät beruhende Einstellung zur Klassik sollte dadurch erreicht •werden, daß man zeigte, wie fremd den heutigen Menschen die Vorgänge in den klassischen Stücken geworden sind. Mit den provozierenden Änderungen wollte man den Abstand unterstreichen. Nach Brecht, und eine ähnliche Bemerkung steht in Piscators Buch Das politische Theater, soll Piscator über •seine R«»¿er-Inszenierung gesagt haben, er habe erreichen wollen, daß die Leute im Theater merkten, daß 150 Jahre keine Kleinigkeit seien.31 Das war der Zustand, in dem Brecht das klassische Repertoire vorfand. Im Jahre 1928 führte Brecht mit Herbert Jhering ein Gespräch über die Klassik. Ihm ging es darum, was sie für die Menschen der zwanziger Jahre bedeutet, welchen Platz sie in der Gesellschaft einnimmt und einnehmen könnte. Das Gespräch ist nicht nur deshalb aufschlußreich, weil es Übereinstimmung und Unterschiede in der Haltung Brechts und Jherings aufzeigt, sondern weil es eine allgemeine Zeitstimmung, insbesondere unter der progressiven Intelligenz •wiedergibt. Es ist ein Zeitdokument über die Wirkung des klassischen Erbes in einer genau bestimmbaren gesellschaftlichen Situation. An diesem Gespräch fällt zunächst auf, daß Brecht mehr verwarf, schärfer argumentierte als Jhering. Aber Brecht zeigte auch deutlichere Lösungswege. Er suchte die Fragestellung zu radikalisieren, sie unter einen ganz bestimmten 27
Aspekt zu stellen, als er auf Jherings Broschüre einging: „Als ich Ihre Broschüre dann las, sah ich, daß Sie nicht mordeten, sondern lediglich feststellten, daß die Klassiker schon gestorben sind. Wenn sie nun gestorben sind, wann sind sie gestorben? Die Wahrheit ist: sie sind im Kriege gestorben. Sie gehören unter unsere Kriegsopfer . . ." 32 Nun nannte Jhering allerdings seine Broschüre Reinhardt, Jessner, Piscator oder Klassikertod aber in ihr selbst ist eigentlich weniger vom „Klassikertod" als vom „Klassikerschlaf" die Rede — wie ein anderer bekannter Kritiker der Zeit, Bernhard Diebold, die Situation charakterisierte. Für Jhering waren nicht die Klassiker, sondern ihre bisherige Darstellungsform tot. Er analysierte im wesentlichen die Krise der Darstellungsweise.33 Brecht ging zwar im Laufe des Gesprächs auf Jherings Argumentation ein, indem er bekannte: „Ich will gleich zugeben, daß nicht die Klassiker daran schuld zu sein brauchen, wenn ihre Wirkung aufhört..." Er forderte dann aber Jhering sofort auf „ . . . mehr von den Klassikern [zu] reden, also auch von der Schuld, die die Klassiker am Aufhören ihrer Wirkung haben".34 Dieser Vorstoß offenbart die unterschiedliche Position Jherings und Brechts in der Frage nach den Ursachen der Krise. Jhering sah die Ursachen hauptsächlich in der Schule, im gesamten gesellschaftlichen Erziehungssystem, das eine falsche Vorstellung von den Klassikern geschaffen habe. Durch die Privatisierung der Klassiker sei eine große Literatur zum Verbrauch für den Spießer präpariert worden; die Literaturwissenschaft habe die Klassik unter falschen Gesichtspunkten vorgestellt. Brecht akzeptierte diese Gründe. Vor allem stimmte er Jhering darin zu, daß die Klassiker durch falsche Ehrerbietung ramponiert worden seien. Geradezu befriedigt stellte er fest, daß sich diese ehrerbietige Haltung an den Klassikern gerächt habe. Allerdings interessierte Brecht der Einfluß der Literaturwissenschaft von der Scherer-Schule bis zur Gundolf-Schule auf die Klassikerdarstellung — von Jhering nicht zu Unrecht sehr wichtig genommen — überhaupt nicht. Im Unterschied zu Jhering stellte er die Klassiker vor allem „als Kriegsopfer" dar. Nach den Erfahrungen des letzten Krieges und der großen Klassenschlachten, so meinte Brecht, hätten die Klassiker dem Theaterzuschauer nichts mehr zu sagen. Wie schon 28
dargelegt, argumentierte Brecht damit, daß in ihren Stücken wie in ihrem Weltbild alles auf den „großen Ein2elnen", auf das Individuum hinauslaufe, während durch Krieg und Klassenkämpfe gerade deutlich geworden sei, daß der einzelne, das Individuum, nur als Masse etwas zu bewirken vermöge. Dabei betonte er, daß die Klassiker nicht die Welt zeigten, sondern sich selber. „Persönlichkeiten für den Schaukasten. Worte in der Art von Schmuckgegenständen. Kleiner Horizont, bürgerlich. Alles mit Maß und nach Maß." 3 5 Das Gespräch blieb Fragment. Vielleicht kam deshalb der Haupteinwand Brechts, die Ausrichtung der Klassiker auf die Rolle der Persönlichkeit, nicht so zentral zur Sprache, obwohl er für ihn der Kern der Sache war. Wenn man die schonungslose Argumentation Brechts liest, muß man sich immer vor Augen führen, daß die Polemik, ja die Ablehnung der Klassik in der revolutionären Bewegung der zwanziger Jahre keine Seltenheit war. Unterschiede gab es in den Gründen wie in den Schlußfolgerungen. Über die unterschiedlichen Motive der Ablehnung wurden hier schon Angaben gemacht. Aber auch die Schlußfolgerungen waren verschieden. Während sich zum Beispiel Friedrich Wolf in den zwanziger Jahren für die Klassiker, insbesondere die deutschen Klassiker in engerem Sinne, kaum interessierte, war Brecht nicht bereit, die Klassiker „rechts" liegenzulassen, oder überhaupt kein Interesse an ihnen zu bekunden. Es wäre eine eklatante Fehleinschätzung, würde man seine vernichtende Kritik an den Klassikern als Desinteresse deuten, als eine ausschließliche Orientierung auf das Gegenwartsdrama, wie das bei Friedrich Wolf der Fall war. Selbst in der Phase, als er im Gespräch mit Jhering die Klassiker für tot erklärte, waren sie ihm wichtig. Die Gründe freilich, mit denen er sein Interesse bekundete, klangen sehr pragmatisch. Brecht argumentierte in erster Linie als Praktiker des Theaters: „Wie soll man denn ein Repertoire aufbauen können, wenn man diese Sachen (die klassischen Stücke — W. M.) durch Argumente zerstört und als Ganzes ablehnt?" 36 Für die Möglichkeiten einer nützlichen Hinwendung und Anwendung der Klassiker führte Brecht zwei große Gesichtspunkte ins Feld. Zwei Verfahren empfahl er auszuprobieren. 29
Das erste Verfahren bestand darin, einen Bearbeitungsund Inszenierungsstil zu entwickeln, der, wie Jhering formulierte, das alte Drama „näherbringt, indem man es entf e r n t " ^ Die Art und Weise eines solchen Stils erläuterte Jhering anhand der Marlowe-Bearbeitung von 'Eduard II. durch Brecht und Feuchtwanger. Im Vordergrund stand dabei jener Gedanke, auf den Brecht bereits bei der Piscator-Inszenierung von Schillers Räuber aufmerksam gemacht hatte: Der Zugang zu einem Stück sollte durch die Fremdheit des vorgeführten Geschehens freigelegt werden. Indem man die Fremdheit ihrer Stoffe zur heutigen Wirklichkeit hervorhob, hoffte man die Klassiker verständlicher und aussagekräftiger zu machen. Diesen Gesichtspunkt baute zunächst Jhering theoretisch aus. In Brechts eigenen Überlegungen spielte er nicht die zentrale Rolle, obwohl er mit seiner Bearbeitungspraxis dazu den Anlaß gegeben hatte. Erst später entwickelte er aus seinen praktischen Einsichten das methodologische Prinzip des Historisierens. Für Brecht bedeutete dieses Verfahren zunächst einen Ausweg; denn er ermöglichte nicht nur die Polemik gegen die traditionelle Klassikdarstellung, sondern hatte außerdem noch den Vorzug, daß man mit ihm aktuelle Wirkungen ohne äußerliche Aktualisierung erreichen konnte. Jhering jedoch entwickelte diesen bei Brecht aus der praktischen Arbeit resultierenden Gesichtspunkt in eine ganz andere Richtung. Er sprach vom „Auskälten" 3 7 alter Stoffe und rückte Brechts Marlowe-Bearbeitung in die Nähe von Strawinskys ödipus Rex. Dieses „Auskälten" oder „Auf-EisLegen" ist aber etwas ganz anderes als jene Methode der Distanzierung, an der Brecht damals noch laborierte und die er dann in der Emigration zur Methode der Historisierung weiterentwickelte. Hanns Eisler hat den Unterschied später bei einer anderen Gelegenheit einmal klargestellt, indem er betonte: „ E r (Brecht — W. M.) ist aber nicht in dieselbe Mode einzurechnen — wie zum Beispiel nach dem ersten Weltkrieg die Periode in der französischen Musik —, die gewissermaßen die Musik auf Eis legen wollte. Sie (der Gesprächspartner Dr. Bunge — W. M.) erinnern sich an die gewissen Perioden bei Strawinsky." 3 8 Der zweite Hauptvorschlag Brechts, sich mit Nutzen der 30
Klassiker zu bedienen, lief darauf hinaus, sich an den Materialwert der großen Stücke zu halten. Seine Vorstellung über den Materialwert alter Stücke entwickelte Brecht anläßlich einer Rundfrage zu dem Thema „Stirbt das Drama?", welche die Vossische Zeitung am 4. April 1926 veranstaltet hatte.39 Diese Rundfrage war jedoch mehr der äußerliche Anlaß. Beschäftigt hat sich Brecht mit dieser Frage in seiner gesamten frühen Phase. Man ist sehr schnell geneigt, aus allen Bemerkungen Brechts über die Klassiker eine gewisse Schnoddrigkeit, ja Barbarei herauszulesen. Analysiert man aber seine Haltung genauer, so wird man finden, daß er sich zwischen Bewunderung und Verwerfung hin- und hergerissen fühlte. Mit diesem Moment wäre vorerst nur die psychologische Begründung für die Entwicklung gegeben, die zur Materialwert-Theorie führte. Die großen Stücke wie Wallenstein und Faust, erklärte Brecht unverfroren, enthielten neben ihrer Brauchbarkeit „für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialw e r t . . ."40 Was verstand er nun unter Materialwert? Zunächst den stofflichen Vorgang, die Geschichte. Was Brecht schätzte, waren die großen Fabeln der alten Stücke. Dabei liebte er vor allem die Fabel pur, das heißt, so wie sie mit wenigen Worten erzählt werden konnte. Diese Eigenschaft spielte später in seiner Fabeltheorie eine bedeutende Rolle. Aber gerade die Fabel pur wurde im spätbürgerlichen Kunstbetrieb, wo alles auf die Nuance, die Farbe, die Stimmung, die Atmosphäre abgestellt war, wenig geschätzt. In dem Maße, wie in der bürgerlichen Kunst die Orientierung auf den Inhalt verlorenging, ging auch der Sinn für die Fabel pur verloren. Den Materialwert in der Fabel zu sehen war also so barbarisch nicht. Denn hier kam die Wertschätzung gegenüber der unverlierbaren Substanz eines Kunstwerkes zum Ausdruck. Für Brecht waren die alten großen Fabeln über Faust, Don Juan, Falstaff usw. etwas, was über den einzelnen Erzähler und Bearbeiter hinauswies, weil es „Material" der Volksphantasie war. In dieser Hinsicht war er einer Meinung mit Maxim Gorki. Unter dem Stichwort Materialwert denkt man zunächst an das Ausschlachten einzelner Teile. Die Fabel ist nun zwar nur ein Element des gesamten Werkes, aber doch eigentlich der orga31
nisierende Teil des Ganzen. Von ihm hängt oftmals die Einheit und Harmonie des Kunstwerks ab. Außerdem war der Zugriff zur Fabel ein in der Geschichte der Literatur legitimes Verfahren. Von der Antike bis zur Gegenwart wurden immer •wieder alte Fabeln neu geformt. Gerade die Größten in der Literaturgeschichte benötigten diesen Materialwert für ihre Werke. Materialwert erblickte Brecht auch in der Methode, in der Technik, in der die alten Fabeln überliefert wurden. Hier sah •er wesentliche Fingerzeige für die zeitgenössische Produktion. In diesem Gesichtspunkt unterschied sich Brecht von den sogenannten Avantgardisten, die wenig Sinn für alte Schreibweisen, für Techniken vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte hatten, weil sie etwas ganz und gar „Neues" wollten. Brecht mokierte sich über das „Herumneuern" der bürgerlichen Avantgardisten. „Ich weiß nicht", schrieb er, „warum die Jüngsten so krampfhaft an ihrem Material herumneuern und mit der Reform bei der Sprache anfangen. Das sind Bemühungen eines kleinen Geschlechts." Dagegen betonte er den Vorteil, den es hat, wenn man sich im alten Material auskennt, wenn man „Material" zu verwenden versteht. „Wozu neue Steine wählen, wo die Architektur so unendlich viel Platz für neue Ideen hat I" 41 Diese Bemerkung ist deshalb •wichtig, weil sie aus dem Anfang der zwanziger Jahre stammt, als sich Brechts Haltung zu den Klassikern noch nicht so zugespitzt hatte. Sie ist nicht im Sinne jenes barbarischen Aktes zu verstehen, nach dem ein altes Gemälde mit dem Materialwert der Leinwand die Grundlage für ein neues bildet. Das "Wesentliche sah Brecht darin, daß die Vertrautheit mit den alten Methoden und Techniken die Möglichkeit bot, zeitgenössischen Vorgängern die richtige historische Dimension zu geben. Hier berührten sich seine Überlegungen mit dem später •entstandenen, aber schon erwähnten Verfahren des Historisierens. Die Vorstellung, daß sich der zeitgenössische Dichter, will er seinem Werk Größe verleihen, im historischen „Material", in den großen Mustern und Techniken auskennen müsse, sprach eigentlich mehr für Brechts Vertrautheit mit der Tradition als gegen sie. Tatsächlich hatte Brecht damals ein viel engeres und vertrauteres Verhältnis zu den Klassikern als 32
mancher andere aus der jüngeren Dichtergeneration. Sieht man von der Art und Weise des ästhetischen Zugriffs ab, von dem noch zu sprechen sein wird, so war es mehr der auf Barbarei und Provokation abgestimmte Ton, der ihm den Ruf eines Bilderstürmers eintrug. Freilich erschien in einer Zeit der mystifizierenden Kunstbetrachtung, des spätbürgerlichen Geniekults ein Verfahren, das sich auf die technische Seite der alten Kunstwerke richtete, als etwas Barbarisches, Zerstörerisches. Aber Brecht sah in den alten Techniken und Kunstmitteln etwas, was er für unzerstörbar und nicht abnutzbar durch die Zeit hielt, das wert war, außerordentlich hoch geschätzt zu werden, weil es die Kunsterfahrungen vergangener Zeiten enthielt. Hier war für ihn etwas zu lernen. Dennoch ist es nicht ganz verständlich, warum die Materialwert-Theorie Brechts so lange als eine künstlerisch wie wissenschaftlich unseriöse Sache behandelt wurde, als unvereinbar mit der Leninschen Theorie vom kulturellen Erbe. Offenbar gab es lange Zeit Mißverständnisse. Die Materialwert-Theorie wurde als Steinbruch-Theorie gekennzeichnet. Man verglich Brechts Auffassung vom Kunsterbe mit einer Art Steinbruch, aus dem sich jeder den entsprechenden Brocken herausbrechen konnte. Seine theoretischen Überlegungen verstand man als Aufforderung, sich nur zu bedienen, es lohne sich noch immer. Diesem Mißverständnis unterlagen gerade jene Kunstfreunde, die wenig gewohnt waren, die technische Seite eines Kunstwerkes und die ihr eigene Größe und Schönheit zu beurteilen. Der Einwand gegen die Materialwert-Theorie liegt ja nicht darin, daß wichtige Grundelemente der klassischen Literatur als „Materialwert" bezeichnet wurden. Wesentlich wird die Kritik erst, wenn man den Gebrauch untersucht, den Brecht vom Materialwert machte. Die Klassikerdarstellung, die Brecht vorfand, orientierte sich nicht am Inhalt, sondern war auf eine allgemeine „klassische Haltung" abgerichtet. Es gab bestimmte darstellerische Muster von Ausbrüchen, von Verzweiflung und Überschwang, die kaum noch etwas mit dem eigentlichen inhaltlichen, gesellschaftlichen Vorgang zu tun hatten, die schlechthin nur „Größe" auswiesen, „wilhelminische Größe". Jhering beschrieb die positiven Seiten dieses Darstellungsstils, zu denen 3
Mittenzwei
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es immerhin noch kam, wenn große Schauspieler auf der Bühne standen: „Wenn Matkowsky den Ferdinand oder den Teil, den Marc A n t o n oder den G ö t z spielte, so lag in der pompösen Geste, im rollenden Pathos, im Werfen des Hauptes, im Blitzen der Augen allerdings etwas von der Romantik einer sich übernehmenden, dekorativen, prunkenden Z e i t . " 4 2 Diese festgefahrenen Vorstellungen v o m klassischen Helden mit seinen Ausbrüchen, seinen Temperamentstürzen, seinen Leidenschaften ohne genügende Berücksichtigung des gesellschaftlichen Inhalts suchte Brecht zu erschüttern. E r begann damit, daß er die großen klassischen Helden „ g e g e n den Strich bürstete". E r bastelte sich über die großen Figuren des weltliterarischen Erbes eine Vorstellung zusammen, die der erwarteten nicht nur nicht entsprach, sondern ihr geradezu ins Gesicht schlug. Dabei hielt er sich oft an den „Materialwert", das heißt an die Fabel. Als Beispiel sei hier die Figur des Posa aus Schillers Don Carlos angeführt. Brecht beschreibt seinen Versuch, den Posa gegen den Strich zu bürsten, folgendermaßen: „Versuchen, einen neuen Charakter für die Mission des Posa im ,Don Carlos' zu erfinden 1 E t w a einen unheilbaren Magister, breit, bucklig, schwerfällig, mit bleichem, gedunsenem Gesicht, der vor dem Spiegel steht und, wie eine Spinne Fäden, idealistische Gebilde aus seiner Brust hervorzieht. Voll tiefer Verachtung für die Menschen, nicht ohne Diplomatie, feig im Physischen, kühn im Geistigen, schwerfällig, aber in längerer Rede entzündbar, mit einer N e i g u n g zu schönen Worten und Paradoxen, verführerisch für die J u g e n d , etwas unmännlich und mit wunden Stellen (auch zwischen den Beinen eine solche!). Großer Wahrnehmungen fähig, der Lehrer großer Männer! Objektivierte große Empfindungen, die nicht eigene sind, Posen, die er nie selbst ausführen könnte infolge der Unzulänglichkeit seiner Gliedmaßen (da die Herrschaft sich leider nicht bis auf die Extremitäten durchgesetzt h a t . . . Die Extremitäten machen den E r f o l g , Liebe!). Deshalb auch hat er ein philosophisches System zur V e r f ü g u n g , das ihm gestattet, seine Schüler zu verachten, und Schüler sind f ü r ihn alle jene, die das tun, was er je gedacht hat oder je hätte denken k ö n n e n ! " 4 3 Solche Beispiele ließen sich fortsetzen v o n dem „leicht verfetteten Hamlet" bis zu dem alternden Eulen34
Spiegel. Um bei diesem letzten Beispiel zu bleiben. Die Methode der unterschiedlichen „Lesart" einer Figur, einer Fabel, wie Brecht den Vorgang der Umdeutung nannte, behielt er auch in den späteren Schaffensjahren bei. Der alternde Eulenspiegel war zum Beispiel ein Vorhaben, das Brecht nach seiner Abreise aus dem amerikanischen Exil zu verwirklichen suchte. Der alternde Eulenspiegel, versetzt in die Zeit des Bauernkrieges, führte seine Späße auf, aber sie „ziehen" nicht mehr. Der Spaß ist verbraucht. Dieser Entwurf war für einen Film gedacht, dessen Manuskript von Brecht jedoch nicht fertiggestellt wurde. 44 Wir wissen also nicht, wie er diese alte Volksfigur neu gestaltet hätte. Aber man braucht nur an die fertiggestellten Bearbeitungen wie den Hofmeister, den Coriolan, den Don Juan zu denken, um eine Vorstellung von der Art und Weise der Umarbeitung zu bekommen. Über diese Versuche aus seinen letzten Lebensjahren wird in einem späteren Kapitel noch die Rede sein. Nur so viel soll hier gesagt werden, daß nicht schlechthin der Vorgang der Umdeutung, der verschiedenen Lesart zur Diskussion, zur Kritik steht, sondern die Art und Weise der Umdeutung. Sie aber ist bei Brecht unterschiedlich. Sie ist in der frühen Phase eine andere als in den letzten Lebensjahren. Diese Lesarten der Fabel, wie sie der frühe Brecht vorstellte, entbehrten nicht der Provokation. Sie waren aber nicht Provokation um der Provokation willen. Und schon gar nicht waren sie eine Provokation gegen das weltliterarische Erbe. Ihre Funktion sah Brecht vor allem in der Zerstörung eines bestimmten Heldenklischees. Er benutzte die alten Stücke und Figuren nicht, um ihre historische Bedeutung für den gegenwärtigen politischen Kampf aufzuhellen, sondern nutzte sie zur Ideologiekritik. All diese Lesarten, die Brecht über die klassischen Werke vortrug, müssen als Ideologiekritik verstanden werden. Es ging ihm um die Zerstörung bürgerlicher Mythen, nationalistischer Leitbilder und falscher Ideale. Insbesondere sollte die idealistische Weltanschauung der bürgerlichen Klasse getroffen werden. Er war darum bemüht, zu verhindern, daß die bürgerliche Klasse das weltliterarische Erbe zur Festigung ihrer Herrschaft benutzte. Die Harmonie der klassischen Werke sollte nicht mit den Wider3*
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Sprüchen und Widerwärtigkeiten des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens versöhnen; die Sehnsucht der Klassiker nach einer besseren Welt sollte nicht als Trost über Not und Elend mißbraucht werden; das Scheitern der klassischen Helden sollte nicht suggerieren, daß aller Kampf letzten Endes vergeblich ist. Brecht kam es damals nicht darauf an, zu zeigen, was die Klassiker eigentlich gewollt haben, sondern was die Herrschenden nicht aus den Klassikern machen durften. Seine Lesarten strebten von vornherein die Widerlegung an, und es war deshalb nur natürlich, daß in seiner Klassikerinterpretation alles auf den Gegensatz, auf das Nichterwartete, auf das Provokative hinauslief. Es läßt sich darüber streiten, ob das der richtige Weg war, sich mit der bürgerlichen Traditionsverfälschung und Traditionsverschmutzung auseinanderzusetzen. Eine Sicht, die auf die tatsächlichen historischen Bedingungen der klassischen Stücke gerichtet ist und daraus die Position gegen die spätbürgerliche Ideologie ableitet, hat nicht nur einen ganz bestimmten politischen Erkenntnisstand des Künstlers, sondern auch verschiedene gesellschaftliche Faktoren und politische Entwicklungsbedingungen zur Voraussetzung, die zu jener Zeit nicht gegeben waren. Das war die eine Seite. Die andere Seite dieser Brechtschen Lesarten bestand darin, den Klassikern neue Gesichtspunkte abzugewinnen. Der Zuschauer sollte die vertrauten Vorgänge neu sehen und zum Denken angeregt werden. Die auf dem bloßen Geniekult beruhende Ehrerbietung gegenüber den Klassikern hatte den Inhalt der klassischen Stücke vergessen lassen. Die Darstellung von Größe und Leidenschaften ohne Bezug zum Inhalt hatte die Lust am Denken, „sogar am Mitdenken" 45 verkümmern lassen oder ganz ausgeschaltet. Wenn man Brechts Lesarten als konkrete Anwendung seiner Materialwert-Theorie beurteilt, muß man zunächst feststellen, daß er eine Belebung der Klassik nicht von der formalen Seite, auch nicht durch farbige szenische Effekte versuchte. Modernistisches Umfrisieren alter Figuren, wie Tartüffe im Straßenanzug, Hamlet im Frack, waren ihm zuwider. Mit solchen Äußerlichkeiten phantasieloser Regisseure dürfen Brechts Experimente und Vorstellungen nicht verglichen werden. Dennoch blieb seine Hinwendung zum Inhaltlichen trotz allen 36
politischen Engagements auf halbem Wege stecken. Inkonsequent mußte sein Vorstoß zum gesellschaftlichen Anliegen der Stücke deshalb bleiben, weil Brecht damals noch nicht über die Methode des historischen Materialismus und der materialistischen Dialektik verfügte. Berücksichtigung verdient auch der Umstand, daß es in den zwanziger Jahren noch keine entwickelte marxistische Literatur- und Theaterwissenschaft gab, die ihm hätte praktische und theoretische Anregungen bieten können. Auch waren Brecht damals literaturtheoretische Arbeiten von Marxisten, wie zum Beispiel die von Mehring, Lunatscharski und anderen, noch weitgehend unbekannt. Wenn Brecht von der inhaltlichen Seite sprach, so verstand er darunter vor allem, daß aus einem Stück gesellschaftliche Interessen ablesbar sein müßten. Der Bezugspunkt zur Gegenwart sollte nicht durch private Gefühle, sondern durch große gesellschaftliche Interessen hervorgerufen werden. Was ihm dabei aber damals noch nicht gelang, war, der wirklichen Dialektik von Historizität und Aktualität gerecht zu werden. Das gesellschaftlich-historische Anliegen der alten Stücke herauszuarbeiten hielt Brecht angesichts des Zustands, in dem sich das bürgerliche Theater befand, gar nicht für möglich. So liebte er Jessners Regieexperimente, weil dieser durch wohlüberlegte Amputationen und effektvolle Kombinationen mehrerer Szenen den klassischen Werken oder wenigstens ihren Teilen, deren alten Sinn das Theater nicht mehr herausbringe, einen neuen Sinn gegeben habe. 46 Überhaupt kann man beim jungen Brecht ab und an Bemerkungen der Art finden, daß der tatsächliche historische Vorgang der alten Stücke dem heutigen Menschen sowieso dunkel bleibe. Bei aller Wissenschaftsfreundlichkeit hatte er wenig Vertrauen in die Aufhellung weit zurückliegender historischer Vorgänge. Brechts Versuche blieben in der einfachen Negation stecken. Die Methode des Historisierens, die er in der Emigration auf der Grundlage des historischen und dialektischen Materialismus entwickelte, war noch nicht gefunden. Die Haltung, die Brecht in den zwanziger Jahren zum weltliterarischen Erbe einnahm, läßt sich auch an seiner Meinung zur R««for-Inszenierung Erwin Piscators ablesen. In dieser Inszenierung, die so viel Staub aufwirbelte, hob Piscator 37
Spiegelberg als den konsequenten, bewußten Revolutionär hervor. Der klassische Held Karl wurde entthront und an den Rand gedrängt. Spiegelberg wie Karl waren von Piscator „gegen den Strich gebürstet". Wenn es auch nicht sicher ist, ob Brecht mit Schillers Stück so weit gegangen wäre wie Piscator, so entsprach doch dessen Verfahren der Brechtschen Materialwert-Theorie. In der Emigration, nachdem Brecht seine Methode des Historisierens entwickelt hatte, sah er das Experiment Piscators anders: „Das Theater fand, daß Schiller einen der Räuber, Spiegelberg, als Radikalisten für das Publikum ungerechterweise unsympathisch gemacht habe. Er wurde also sympathisch gespielt, und das Stück fiel buchstäblich um. Denn weder Handlung noch Dialog gaben Anhaltspunkte für Spiegelbergs Benehmen, die es als ein sympathisches erscheinen ließen. Das Stück wirkte reaktionär (was es nicht ist, historisch gesehen), und Spiegelbergs Tiraden wirkten nicht revolutionär. Nur durch sehr große Änderungen, die mit historischem Gefühl und viel Kunst hätten vorgenommen werden müssen, hätte man eine kleine Aussicht gehabt, Spiegelbergs Ansichten, die radikaler sind als die der Hauptpersonen, als die fortgeschritteneren- zu zeigen." 47 Wie man auch die „kleine Aussicht" Brechts beurteilen mag, die andere Sicht der Dinge auf Grund der neuen Methode ist unverkennbar. Wenn auch die Materialwert-Theorie Brechts noch keine Lösung im Sinne des historischen Materialismus, des Marxismus, war, so war sie doch alles andere als Barbarei gegenüber dem weltliterarischen Erbe. Sie war eine Reaktion auf die Barbarei, in die der spätbürgerliche Kunstbetrieb die Klassikerdarstellung und -interpretation geführt hatte.
Neue Sicht auf alte Werke oder Was würde ein Marxist mit dem Wallenstein machen?
Die Stellung %um Erbe als politische Frage — Volksfrontpolitik und Literatur In der Emigration entstanden Brechts große dramatische Werke, vollzog sich der Ausbau seiner theoretischen Vorstellungen vom epischen Theater. In der Emigration veränderte sich aber auch sein Verhältnis zum weltliterarischen Erbe. Diese Veränderungen, die nicht weniger tiefgreifend sind, treten jedoch bei weitem nicht so auffällig, so komplex in Erscheinung wie die seiner Theaterkonzeption. In Hinsicht auf das weltliterarische Erbe gibt es bei Brecht keinen direkten Widerruf seiner Auffassungen, wie das zum Beispiel im Kleinen Organon zum Problem des ästhetischen Vergnügens geschah. Das steht ohne Zweifel irp Zusammenhang damit, daß Brecht trotz radikaler Fragestellung nie in einen irgendwie gearteten „Widerruf" des klassischen Erbes einstimmte. In keiner Phase seines Lebens gab es für ihn ein Desinteresse am literarischen Erbe. So gab es folglich auch keinen Anlaß, den „Widerruf" zu widerrufen. Wie tiefgreifend die Entwicklung jedoch gerade auf diesem Gebiet war, wird deutlich, wenn man die Äußerungen Brechts zu Shakespeare, zu Goethe, zu Schiller, zu Hauptmann und anderen aus den zwanziger Jahren mit den späteren Einschätzungen vergleicht. Brecht korrigierte bestimmte Auffassungen über weltliterarische Erscheinungen im Zusammenhang mit den großen politischen Kämpfen in den dreißiger und vierziger Jahren. In den Jahren des Exils wurde das Erbe zu einer hochgradig politischen, im bestimmten Sinne sogar weltpolitischen Frage. Bei der Behandlung dieses Problemkomplexes mußte man sich 39
von jedem Rest einer akademischen Vorstellung frei machen. Es ging hierbei nicht nur um Bekenntnisse zu bestimmten literarischen Vorbildern der Vergangenheit. Die Auseinandersetzung um das weltliterarische Erbe war in erster Linie eine Frage nach der richtigen Politik, nach der Revolution, nach der Art und Weise, wie neue Formen menschlichen Zusammenlebens aussehen und praktisch verwirklicht werden müssen. Deshalb kann sich eine wissenschaftliche Untersuchung auch nicht auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge beschränken. Vielmehr müssen die großen gesellschaftspolitischen Fragen zur Sprache kommen, die den eigentlichen Ausgangs- und Zielpunkt des Erbestreites bilden. In dieser Hinsicht ist das Arbeitsjournal (Tagebücher) Brechts ein ausgezeichnetes Studienobjekt. Dort stehen Eintragungen über das literarische Erbe neben der besorgten Frage nach dem Ausgang der Schlacht von Smolensk. Gerade dieser unvermittelte Umschlag von Eintragungen über Erbeproblematik, gegenwärtige literarische Produktion und Weltpolitik macht den Zusammenhang, die objektive Dialektik dieser Probleme deutlich. Hier liegt Material für eine minutiöse Studie, in der die Haltung Brechts zum Erbe in direkter Konfrontation mit den historischen Ereignissen und den weltpolitischen Grundfragen jener Zeit dargestellt werden könnte. Auf diese Weise ließe sich nicht nur der eminent politische Charakter des ganzen Erbeproblems deutlich machen, sondern auch jener Zusammenhang, den Brecht in einer Arbeitsjournal-EÄnitigang vom 5.4.1942 in dem knappen Satz zusammenfaßt: „die schlacht um smolensk geht auch um die lyrik." 48 Im Kampf gegen den Faschismus wurde auch die Stellung zum humanistischen Erbe einer der entscheidenden Gesichtspunkte. Sie war Teil der in der Komintern kollektiv erarbeiteten neuen Strategie und Taktik der Kommunistischen Parteien, die unter dem Namen Volksfrontpolitik in die Geschichte einging. Nicht nur, weil der Faschismus das literarische Erbe schamlos verfälschte, schenkten die Kommunisten diesem Problem Aufmerksamkeit, sondern auch deshalb, weil viele Menschen den Weg zu den Idealen einer neuen menschlichen Gesellschaft oftmals über die besten Ideale und Sehnsüchte der Vergangenheit fanden. Es war nicht selten, daß die Menschen 40
anhand der Vergangenheit ihre eigene Geschichte begriffen, die Lösung ihrer gegenwärtigen Konflikte in Angriff nahmen. In der Stellung zum Erbe der Vergangenheit lag unausweichlich die Entscheidung zu den gesellschaftlichen Prozessen und Alternativen der Gegenwart. Die neue Politik basierte auf der Erkenntnis, daß die Beschäftigung mit dem künstlerischen Erbe ein Moment der Revolutionierung gegen das bestehende kapitalistische Gesellschaftssystem, gegen die faschistische Diktatur sein kann. Deshalb formulierte Wilhelm Pieck auf der Brüsseler Parteikonferenz der KPD: „Wir Kommunisten wollen in der antifaschistischen Volksfront alle Kräfte der deutschen Nation vereinigen, die der K u l t u r r e a k t i o n des H i t l e r f a s c h i s m u s feindlich gegenüberstehen. Wir Kommunisten wollen den kulturellen und geistigen Schatz des deutschen Volkes, seine Sprache, seine Literatur, seine Kunst und Wissenschaft vor den faschistischen Barbaren retten und für eine höhere Entwicklung der Kulturgüter kämpfen." 49 Im humanistischen Erbe war jener Schatz von menschlichen Erfahrungen, menschlicher Produktivität geronnen, auf den Gesellschaftsveränderer, die die menschliche Existenz erleichtern wollten, nicht verzichten konnten. Wie wichtig der Zusammenhang von Volksfrontpolitik und Literatur für die weitere Entwicklung der humanistischen Literatur und Erbekonzeption ist, geht auch daraus hervor, daß er im Falle Brechts von bürgerlichen Literaturhistorikern immer sofort in Frage gestellt wird. In seinem Buch 'Bertolt Brecht und die Tradition verwahrt sich Hans Mayer dagegen, daß Brecht etwas mit der Volksfrontpolitik zu tun gehabt haben soll. Brecht habe vielmehr als Marxist die Gegenposition zur Volksfrontpolitik bezogen. Hans Mayer schreibt: „Für den Marxisten und Emigranten Brecht gibt es nur die volle Wahrheit oder gar keine. Taktisches Verschweigen richtiger Erkenntnisse, wie es die Veranstalter der Tagung offenbar beabsichtigt hatten, ist für Brecht unerträglich. .Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur' war der Titel. Brecht antwortet: ,Reden wir nicht nur für die Kultur!' und: ,Die Kultur ist gerettet, wenn die Menschen gerettet sind.' Die aber seien nicht durch Verurteilung von Rohheit, durch Erziehung zur Güte, durch Appelle im Namen der 41
Kultur zu retten, sondern bloß, wenn man die Ursachen der Unkultur, Ungüte und Rohheit beseitigt habe . . . Die Folgerung: ,Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen 1' E s war unvermeidlich, daß Brechts Rede dem Sinn dieser Tagung zuwiderlaufen, den Gegensatz zwischen Marxisten und Nicht-Marxisten, bürgerlichen und proletarischen Positionen innerhalb des deutschen Antifaschismus verschärfen werde, daß hier ein Mann, der aus Dänemark nach Paris gekommen war, den politischen Absichten der Kongreßleitung entgegen handelte. Dies alles war vorauszusehen, und Brecht hatte es vorausgesehen. Er bewies damit, daß seine Auffassung vom Marxismus und von seiner Verwirklichung nicht ohne weiteres mit derjenigen etwa der damaligen Kommunistischen Partei Deutschlands gleichgesetzt werden konnte." 5 0 Allein schon die Formulierung „nur die volle Wahrheit oder gar keine" gehört wohl in das Vokabular von Hans Mayer, paßt jedoch so gar nicht für den Dialektiker Brecht, der zu solchen Forderungen wie „alles oder nichts" an anderer Stelle meinte, darauf antworte die Welt gerne mit: nichts. 51 Hans Mayer beging in seinen Darlegungen eine zweifache Entstellung. Er gab nicht nur Brechts Haltung, sondern auch die Volksfrontpolitik undifferenziert und damit auch unrichtig wieder. Gerade sie wird von Mayer in einer Art und Weise primitiviert, daß sie als politischer Roßtäuschertrick erscheint. Wenn die Kommunistische Partei im Kampf gegen den Faschismus das Gemeinsame und nicht das Trennende aller Hitlergegner hervorhob, so heißt das doch nicht, daß sie ihr revolutionäres Grundanliegen verschwieg oder ihre Bündnispartner in dieser Frage zu täuschen suchte. Wilhelm Pieck hob auf der Brüsseler Konferenz gerade hervor, daß die Volksfrontpolitik nicht den Verzicht auf das revolutionäre Endziel bedeute, sondern die Hinwendung auf ein Teilziel: den Sturz der faschistischen Diktatur. 52 Wie abwegig Hans Mayers Argumentation ist, wird auch deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß die Kommunistische Partei ihre Volksfrontpolitik als politische Plattform im unmittelbaren Zusammenhang mit der Aufhellung der ökonomischen Wurzeln des Faschismus vortrug. In derselben Weise verfuhr Brecht auf dem Pariser Schriftstellertreffen. Seine Rede war durchaus keine Entgleisung, wie 42
Mayer meint, sie stand im Einklang mit dem Ziel und der Praxis der Volksfrontpolitik. Sie richtete sich gegen einige weitverbreitete Irrtümer einiger Intellektueller, die glaubten, daß der Faschismus nur Ausdruck einer allgemeinen Verrohung und Brutalisierung der Gesellschaft sei und nichts mit der Eigentumsfrage an Produktionsmitteln unter imperialistischen Bedingungen zu tun habe. Es war keineswegs gegen den Sinn der Volksfront, wenn die Marxisten herausstellten, daß die Barbarei nicht von der Barbarei komme und die Kultur nur gerettet werden könne, wenn menschliche Verhältnisse erkämpft werden. Daß die konsequente Bekämpfung des Faschismus die Bekämpfung der kapitalistischen Produktionsweise einschloß, weil, wie Brecht formulierte, der Faschismus die „allerdreckigste Erscheinungsform" des Kapitalismus ist, eines Kapitalismus, der sich „auch der letzten Hemmungen entledigt und alle seine eigenen Begriffe, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Persönlichkeit, selbst Konkurrenz", einen nach dem anderen über Bord geworfen hat 53 , war allerdings eine marxistische Argumentation, die nicht von allen Hitlergegnern geteilt wurde. Aber auch innerhalb der Volksfront wurde um die Hegemonie gerungen, mußte dem besten Argument zum Siege verholfen werden. Brecht kam dieser Aufgabe in hervorragender Weise nach. Davon zeugt noch heute die Lebendigkeit und Überzeugungskraft seiner Pariser Rede, die zu den klassischen Dokumenten der Volksfrontpolitik gehört. Die tagtägliche Praxis der Volksfrontpolitik war allerdings ein sehr komplizierter Prozeß, der sich nicht ohne Irrtümer, Fehler und Rückschläge vollzog. In den Reden von Pieck, Dimitroff und Togliatti aus jener Zeit ist zu lesen, vor welch schwierigen Aufgaben vor allem die in der Illegalität kämpfenden Kommunisten standen. Da gab es auch Fehlentscheidungen und Sektierertum bis in zentrale Parteiorgane hinein. Eine neue Politik setzt sich in der Praxis nicht in ihrer reinsten Erscheinungsform durch. Deshalb ist es auch naiv zu glauben, daß Brecht die Volksfrontpolitik in dieser Form verkörpert habe. Auch bei Brecht gab es Fragen und Irrtümer sowie Situationen, in denen er durch die Isolierung im Exil nicht genügend Informationen zur politisch richtigen Entscheidung besaß. So berichtet zum Beispiel Hanns Eisler, daß er die fran43
zösische Volksfrontbewegung, die Bedingungen ihres Zustandekommens wie ihren Charakter nicht verstand, daß er sie für „Rabitz" hielt. 54 Das lag mit daran, daß er, im Gegensatz zu Hanns Eisler, die politische Situation in Frankreich nicht kannte, nicht die revolutionäre Haltung der Massen. Andererseits gab es bei Brecht jedoch auch politische Analysen zur Volksfrontsituation, die sich wie Kommentare zu den Beschlüssen von Brüssel und Bern lesen. 1935 hatte zum Beispiel Wilhelm Pieck in seiner Rede darauf hingewiesen, daß die Kommunisten den Kampf der Katholiken gegen die Hitlerdiktatur unterstützen müssen. Er kritisierte dabei einen Artikel in der Internationale, der durch die Forderung, die Partei müsse in der Volksfrontbewegung stets der Hegemon sein, die Bündnisfrage erschwerte. Unabhängig davon gab Brecht folgende Analyse der Situation: „In den deutschen Religionskämpfen müssen wir Kommunisten an der Seite der fortschrittlicheren Religion kämpfen, genauso wie wir in dem neuen Weltkrieg, in dem wir gegenwärtig stehen, an der Seite der Demokratien, der fortschrittlicheren Staatswesen, stehen müssen. Das eine liquidiert und unterbricht nicht unsern Kampf um eine materialistische Weltanschauung, und das andere liquidiert und unterbricht nicht unsern Kampf um eine sozialistische Gesellschaftsordnung."55 Bei der Formierung der Volksfrontpolitik wie überhaupt im antifaschistischen Kampf des Exils spielte eine Frage immer wieder eine Rolle: Warum wenden sich die deutschen Arbeiter nicht stärker gegen Hitler? Und gegen Ende des Krieges: Warum kämpfen die Arbeiter noch für Hitler? Darüber wurde im Exil viel diskutiert. Es waren vor allem fortschrittliche Intellektuelle, die diese Frage stellten. Auch Brecht, obwohl er darauf immer wieder eine Antwort zu geben wußte, ist von dieser Frage nie losgekommen. In ihr verbargen sich Hoffnung und Furcht über die realen Chancen einer Volksfrontpolitik. Diese scheinbar rein politische Frage erstreckte sich auch auf die Erbekonzeption. Ging es doch darum, wie und in welchem Maße sich die objektiv stärkste Kraft des deutschen Volkes, die Arbeiterklasse, von der faschistischen Diktatur befreien konnte. Wie weit waren die Arbeiter zu revolutionären Aktionen bereit? Von der Antwort hing auch die Art und Weise 44
einer revolutionären Erbetheorie ab. A m 1 2 . 9 . 1 9 4 4 notierte Brecht in sein Arbeitsjournal: „die ungeduld der linken mit den deutschen arbeitern ist begreiflich, dabei sollten marxisten wissen, was eine revolutionäre Situation a u s m a c h t . . . und im deutschen fall handelte es sich u m ein durch illusionen und Wirtschaftskrisen geschwächtes proletariat." 5 6 Mit der Miene des nüchternen, kühlen Analytikers der gesellschaftlichen Situation wandte sich Brecht gegen die Illusionen der Intellektuellen. E r warf ihnen, die gewohnt waren, alles nur v o m Ideologischen, v o m Ethischen her zu behandeln, vor, das A u s maß der Unterdrückung, die Macht des Unterdrückungsapparats der herrschenden Klasse zu unterschätzen. Welchen ernsthaften Gegner Hitler in der Arbeiterklasse immer noch sah, bewies Brecht ihnen dadurch, daß er auf die Divisionen aufmerksam machte, die Hitler für die Situation im Innern des Reiches benötigte. Als ihm einmal ein Sozialdemokrat antwortete, er habe noch nichts von einer deutschen „resistancemouvement" gehört, sagte Brecht nur, er habe auch noch nicht gehört, daß eine deutsche „resistancemouvement" liquidiert worden sei. 5 7 So analysesicher sich Brecht in der Diskussion mit den linksbürgerlichen Intellektuellen des Exils auch gab, er selbst stellte sich die Frage nach der revolutionären K r a f t der Arbeiter immer wieder. D a s war auch verständlich, wurde das Ausmaß des Widerstandes ja erst nach Kriegsende bekannt. V o r allem gegen Kriegsende hoffte Brecht auf revolutionäre Aktionen der deutschen Arbeiterklasse. Zwischen Problemen über E r b e , Realismus, Dekadenz und Determinismus steht in seinem Arbeitsjournal die mit Hoffnung verbundene Frage, die er am 2 8 . 1 . 1 9 4 5 eintrug: „immer noch nichts aus oberschlesien über die haltung der arbeiter." 5 8 U n d wieder am 10. 3. 1945: „zwischen dem L E H R G E D I C H T und den schrecklichen Zeitungsberichten aus deutschland. ruinen und kein lebenszeichen von den arbeitern." 5 9 Immer wieder zählte er die Gründe auf, warum mit einer breiten revolutionären Bewegung der deutschen Arbeiterklasse nicht gerechnet werden konnte, machte er sich die objektiven Faktoren für das Ausbleiben solcher Aktionen bewußt und hoffte dennoch. Diese Hoffnungen dürfen nicht unerwähnt bleiben, wenn es um Brechts Erbekonzeption geht, 45
denn sie erklären deutlicher als manche anderen Fakten die vorgetriebene Position seiner Erbeauffassung, die vorrangige Rolle der d i r e k t revolutionären Literatur der Vergangenheit für die Erbekonzeption, die herablassende Haltung gegenüber der nur allgemein humanistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, der Lukäcs' besondere Wertschätzung galt, das Unverständnis, ja Achselzucken gegenüber der „allgemeinen" Fortschrittlichkeit eines Schriftstellers wie Thomas Mann. Im Gegensatz zu Lukäcs, der die Volksfrontpolitik im Sinne seiner Auffassung von der „revolutionären Demokratie" interpretierte und sich auf eine lange Übergangsperiode einrichtete, in der die sozialistische Revolution nicht auf der Tagesordnung stand, hoffte Brecht gerade auf diese Revolution. Die völlig unterschiedlichen Auffassungen über die Möglichkeiten des historischen Verlaufs zwischen Brecht und Lukäcs prägten auch einen unterschiedlichen Typus von Literatur, eine unterschiedliche Erbekonzeption. Im amerikanischen Exil konnten sich die Ideen der Volksfrontbewegung wenig entfalten, obwohl es auch hier gegen Ende des Krieges zu einem stärkeren Zusammenwirken aller Hitlergegner kam. Bereits im August 1943 hatten Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Feuchtwanger, Bruno Frank, Ludwig Marcuse und der Physiker Reichenbach eine Erklärung ausgearbeitet, in der sie die Kundgebung deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion begrüßten, in der das deutsche Volk aufgerufen wurde, seine Bedrücker zur bedingungslosen Kapitulation zu zwingen. Man müsse, so hieß es in der Erklärung, unterscheiden zwischen Hitler, den mit ihm verbundenen Schichten und dem deutschen Volk. Um diese Erklärung hatte es vorher mit Thomas Mann heftigen Streit gegeben. Er drohte, seine Unterschrift zurückzuziehen, weil sie, wie Brecht in sein Arbeitsjournal eintrug, „eine .patriotische erklärung' (sei), mit der man den alliierten ,in den rücken falle* und er könne es nicht unbillig finden, wenn ,die alliierten deutschland zehn oder zwanzig jähre lang züchtigen'". 58 Diesen Standpunkt attackierte Brecht schonungslos. Die Schärfe seiner Polemik erinnert an den Ton des jungen Brecht gegenüber Thomas Mann. Jetzt aber waren seine Argumente vorwiegend politisch: „die entschlossene jämmerlichkeit dieser 46
Kulturträger' lähmte selbst mich wieder für einen augenblick. der modergeruch des frankfurter parlaments betäubt einen heute noch, mit goebbels' behauptung, hitler und deutschland sei eins, stimmen sie überein, wenn hearst sie übernimmt, ist dem deutschen volk, sagen sie, nicht zumindest knechtseligkeit vorzuwerfen, wenn es sich goebbels so unterwarf, wie sie sich hearst unterwerfen? und waren die deutschen nicht schon vor hitler militaristisch? th. mann erinnert sich, wie er selber 1914 den einfall der kaiserlichen armeen in belgien zusammen mit 91 andern intellektuellen gut befunden hat. solch ein volk muß gezüchtigt werden 1 wie gesagt, für einen augenblick erwog sogar ich, wie ,das deutsche volk' sich rechtfertigen könnte, daß es nicht nur die untaten des hitlerregimes, sondern auch die romane des herrn mann geduldet hat, die letzteren ohne 20—30 SS-divisionen über sich." 60 Im August/September 1943 wählten dann deutsche Emigranten ein Initiativkomitee zur Bildung einer Bewegung „Freies Deutschland" in Amerika. Thomas Mann wurde die Präsidentschaft angetragen, er lehnte jedoch ab, weil ihm das State Department auf seine Anfrage hin abriet. In seiner BrechtChronik schrieb Klaus Völker über diese Situation: „Den Vorsitz übernimmt dann der protestantische Theologe Paul Tillich. — ,Man muß nur Tillich mit Thomas Mann vergleichen', kommentiert Brecht diese Vorgänge — ,es gibt so etwas wie religiösen Sozialismus, der sich dem Klerikofaschismus entgegenstemmt.' — Als Ruth Berlau die Erklärung vom 1. August als zu wenig entschieden kritisiert, meint Brecht am 16. August: ,das ganze ist mulmig und quatschig, aber sogar so will niemand ran, die Feigheit ist ungeheuer.' Hermann Budzislawski, der Sekretär des Initiativkomitees und Mitarbeiter Dorothy Thompsons, formuliert schließlich die Erklärung vom 1. August um, während Paul Tillich überhaupt von ihr abrät." 61 Die ungemein harte Kontroverse, die Brecht in seinem Arheitsjournal mit Thomas Mann führte, ist ein Stück Literaturgeschichte, vor allem deshalb, weil hier die unterschiedliche weltanschauliche Basis und alle sich daraus ergebenden Konsequenzen deutlich werden. In solche Diskussionen stieg Brecht meist hart ein, dabei war die Art und Weise seiner Ar47
gumentation nicht immer im Sinne der Volksfrontpolitik. Denn diese erforderte nicht nur weltanschauliche Konsequenz, sondern auch Geduld und Verständnis für die Unklarheiten und ideologischen Barrieren des Partners. In Thomas Mann sah Brecht stets den Prototyp des inkonsequenten deutschen Intellektuellen, sah er den Tui, der selbst bei fortschrittlichem Wollen die Mühlen der anderen, des Klassengegners, trieb. Unklarheiten und Unverständnis in Fragen, die mit der Volksfrontpolitik im Zusammenhang standen, gab es bei Brecht hinsichtlich der nationalen Frage, des nationalen Charakters der Literatur. Mit diesem Problem des Nationalen, das mit seiner Erbekonzeption aufs engste verknüpft war, hat sich Brecht wiederholt auseinandergesetzt. Er reagierte auch hier außerordentlich heftig, leidenschaftlich, schritt alle Widersprüche aus, verwarf, verwechselte, korrigierte und verstand. Wie bei vielen Intellektuellen, so war auch bei ihm die Haltung zu diesem Problem mit der historischen Entwicklung in Deutschland unmittelbar verbunden. Auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 hatte Dimitroff erklärt: „Wir Kommunisten s i n d u n v e r s ö h n l i c h e g r u n d s ä t z l i c h e Gegner des bürgerlichen Nationalismus in allen Spielarten. Aber wir sind n i c h t A n h ä n g e r d e s n a t i o n a l e n N i h i l i s m u s und dürfen niemals als solche auftreten." 62 Eine in ihrer Logik und politischen Praktikabilität bestechende Erklärung. Wie schwer es aber für viele Intellektuelle — und nicht nur für sie — war, das wirklich Nationale zu erkennen und zu begreifen, nachdem sie sich eben erst von allen nationalistischen Vorurteilen frei gemacht hatten, beschreibt der Freund Bertolt Brechts, Hanns Eisler, höchst eindruckvoll: „ . . . als ich aus dem ersten Weltkrieg zurückkam, 1919, hätte ich ein Gedicht wie zum Beispiel ,An eine Stadt' nie komponieren können, weil mir der Patriotismus zum Halse heraushing. Es mußte erst die Schärfe der Emigration kommen und das Zurückblicken, die Kunst der Erinnerung. Wissen Sie, das ist eine ganz große Kunst, sich zu e r i n n e r n . . . Wenn man aber mal vierzehn Jahre in der Emigration ist und sich erinnert an dieses verdammte Deutschland, dann sieht man die Sache auch anders . . . Brecht hat auch einiges Wunderbare darüber geschrieben." 63 Die Hin-
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wendung zu diesem Problem des Nationalen, die auch eine veränderte Sicht zu Goethe, zu Hölderlin bewirkte, vollzog sich bei Brecht langsam, geradezu widerstrebend. Johannes R. Becher, der zwar auch erst in der Emigration, aber doch relativ früh das nationale Element in seiner Dichtung und in seinen publizistischen Arbeiten betonte, wurde von Brecht deswegen regelrecht beschimpft. Bechers Artikel Deutsche
Lehre, der 1943 in der Internationalen Literatur erschien, empfand Brecht als einen „entsetzlichen opportunistischen quark", als „reformismus des nationalismus". Mit der politischen Stoßrichtung des Artikels, daß man den drastischen „nationalistischen zerstücklungs- und ,deindustriealisierungs'-tendenzen" Widerstand entgegensetzen müsse, stimmte er voll und ganz überein; denn solche Tendenzen gegenüber Deutschland kannte er von der amerikanischen Seite. Auf diese Weise aber geriet Brecht in merkwürdige Widersprüche: Einerseits beschimpfte er Becher wegen seines angeblichen Nationalismus, wegen seines Patriotismus, andererseits mußte er sich von Thomas Mann seine eigenen „patriotischen Erklärungen" vorhalten lassen. Wenn Brecht auch bereit war, die gesellschaftlichen Grundgedanken in Bechers Artikel zu teilen, so fragte er doch, warum man dann aber so einen „gigantischen spießerüberbau" errichten müsse. Allein schon das „Nationalistische" bei Schiller, Goethe und Hölderlin sei, so meinte Brecht, für den heutigen Menschen schwer erträglich. Davon war Brecht so angewidert, daß er in seinem Arbeitsjournal nach des Nachbarn „Speikübel" verlangte. 64 Dieselbe Situation wiederholte sich noch einmal, als sein Freund Hanns Eisler ihm ein soeben komponiertes Lied nach den Versen von Hölderlin
O heilig Herz der Völker, o Vaterland\ / Allduldend, gleich der
schweigenden Mutter Erd' und allverkannt vortrug. Brecht war darüber nicht weniger entsetzt. Eisler erinnert sich: „Als ich Brecht das vorspielte — Sie werden das im Tagebuch von Brecht finden —, war er entsetzt, über meinen Nationalismus . . . Brecht wurde blaß und sagte: ,Wie kannst du sowas komponieren 1* Das war ungefähr um die Zeit von Stalingrad." Kurze Zeit später griff Brecht den Ton Hölderlins in einem seiner Gedichte auf. Über die Entstehung dieses BrechtTextes heißt es an gleicher Stelle bei Hanns Eisler: „Ja, den hat 4
Mittenzwei
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er danach geschrieben. Also das ist wirklich keine Verleumdung meines Freundes Brecht. Als der Brecht mich den Hölderlin komponieren sah — das hier ist ja nicht das einzige Gedicht; ich habe einige von Hölderlin komponiert —, sagte er, schlürfend vor Begeisterung: , . . . wo deine Sonne milde dem Künstler zum Ernst leuchtet.' da war Brecht ganz hingerissen. Er hatte das Gedicht noch nie gelesen. Brecht war hingerissen, obwohl er sagte: .Hanns, bist du nationalistisch.'" 65 Der Vorstoß zum nationalen Charakter der Literatur, zur Verwendung des nationalen Moments im Sinne des Fortschritts, des Sozialismus vollzog sich im dichterischen und theoretischen Werk Brechts langsam, aber mit zunehmender Intensität, wenn auch nicht ohne Widersprüche und Rückschläge. Von der Verdammung bestimmter Erkenntnisse über das Nationale in Bechers Artikel Deutsche 'Lehre bis zur Verwendung eben dieser Erkenntnisse in seinem eigenen Schaffen oder gar bis zur Interpretation des Becherschen Deutschland-Gedichts durchlief Brecht eine Entwicklung, in der das Nationale und das Sozialistische immer näher aneinanderrückten. Obwohl er bereits Anfang der vierziger Jahre durch das Studium der englischen Literatur erfahren hatte, was eine nationale Literatur ist, trugen diese Gedanken nicht zu einem größeren Verständnis für die Rolle des Nationalen in der deutschen Literatur bei. Damals schrieb er: „was eine nationale literatur und hiermit eine literatur schlechthin ist, ging mir eigentlich erst diesen sommer auf, als ich mehr englisch las. diese große aufeinanderfolge von geschlechtern in der literarischen weit, diese kämpfe und kommunikationen, diese neuerungen, welche korrekturen sind, diese tradition, welche den fortschritt erleichtert, statt ihn zu hemmen!" 66 Brecht sah hier nur das Gegenbild zur deutschen Entwicklung. Erst als ihm bewußt wurde, daß die sozialistischen Dichter und Künstler mit dem Nationalen einen völlig anderen Gehalt, eine gänzlich andere Qualität des Denkens und Fühlens auszudrücken vermochten, daß ihre bedeutendsten Werke ja für eine sozialistische Nation geschrieben waren, verlor sich für Brecht das Destruktive, das er bisher immer mit dem Nationalen verbunden hatte. Die Entwicklung der sozialistischen deutschen Nationalliteratur vollzog sich in der Emigration in einem außerordentlich kompli50
zierten Prozeß. Die neue Qualität des Nationalen wurde unter anderem schon dadurch sichtbar, daß die großen Werke der sozialistischen Dramatiker, die in der Emigration entstanden, nach einer neuen Gesellschaftsordnung verlangten, um richtig aufgeführt zu werden. Als Werke der sozialistischen deutschen Nationalliteratur bargen sie den neuen Anspruch an eine Gesellschaft in sich. Hier sei noch einmal Hanns Eisler zitiert, der das von seinen eigenen wie auch von den Werken Brechts berichtet: „ . . . Bertolt Brecht hat ja auch ein Stück geschrieben wie den ,Kreidekreis', das man überhaupt nur aufführen kann, wenn die Proletarier die Macht haben. Mit einem Wort, wir haben geschrieben für die Diktatur des Proletariats in der Form, die wir heute nennen: Deutsche Demokratische Republik. Aber können wir uns deswegen rühmen? Nein! Ich werde Ihnen sagen: wir hatten keine andere Chance. Wir können nur zur Bourgeoisie übergehen oder zu unserer Arbeiterklasse, die uns aufgezogen hat. Sie erinnern sich an das berühmte Gedicht von Brecht: ,. . . will ich gern wieder in die Lehre g e h e n . . Wir sind Schüler der Arbeiterklasse. Wir konnten doch gar nicht anders. Das ist kein Verdienst, auch keine Tugend, auch keine Tapferkeit — es ist nichts. Schüler folgen dem Meister. Das ist alles, was ich zu sagen habe." 6 7 Wer Brechts Haltung zur Volksfront in Frage stellen möchte, findet innerhalb seiner politischen Reaktionen und seiner theoretischen Schriften wohl Schwierigkeiten, Kritik und Polemik, aber keine Ablehnung; ging es doch bei der Realisierung der Volksfrontpolitik um überaus komplizierte, schwierige Probleme und Konflikte. Hier war, wie Brecht sagte, die „Fülle der Kämpfe". Einer solchen Zeit ist literaturhistorisch nicht mit der abstrakten Losung „. . . die volle Wahrheit oder gar keine" (H. Mayer) beizukommen. 68 Im Zusammenhang mit der Volksfrontbewegung und teilweise als direkter Ausdruck ihrer Aktionen und ihrer Politik gab es in den dreißiger und vierziger Jahren einige große Debatten um das literarische Erbe. Allein schon ihr Bezug zur Volksfrontpolitik, zum antifaschistischen Kampf zeigt, daß es in ihnen nicht um akademische Fragestellungen, nicht um vergangene Zeiten, sondern um die unmittelbare Gegenwart, ja mehr noch, um jene Zeitphase ging, die der Zerschlagung des 4*
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Faschismus folgte. Das große Arsenal der Weltliteratur, ihre Dichter, Gestalten und Ideale wurden kritisch durchleuchtet, analysiert und gewertet, um auf diese Weise Vorstellungen und Wege in eine neue Gesellschaft sichtbar zu machen. War das Traditionsproblem für viele Dichter bisher nur eine Frage des subjektiven Bekenntnisses zu literarischen Vorbildern gewesen, so wurde es jetzt zur angewandten Revolutionsstrategie, beziehungsweise zu einem Instrumentarium für die Klärung der Frage, wie nah oder wie weit entfernt man sich von der revolutionären Gesellschaftsumwälzung glaubte. Lukacs' Orientierung auf Balzac—Tolstoi war nicht nur ein mechanisches Abziehen formaler Muster — hierin täuschte sich Brecht: Sein ästhetisches Credo war aufs engste verknüpft mit seiner Vorstellung von der „revolutionären Demokratie" als langwirkender Übergangsphase. Brechts Orientierung auf die Schriftsteller der direkt revolutionären Phasen, insbesondere der bürgerlichen Aufstiegsphase, wiederum entsprach seiner Vorstellung von der Möglichkeit revolutionärer Umwälzungen. Dagegen waren die Theorien von Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno über den „affirmativen Charakter der Kultur" die Gegenposition zur Volksfrontbewegung mit einem nicht zu übersehenden konterrevolutionären Akzent. So kam es, daß sich in den dreißiger und vierziger Jahren die Stellung zum Erbe im starken Maße politisierte und zu einem direkten Mittel der großen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung wurde. Ein wichtiger Markierungspunkt für die Diskussion um das Erbe war Thomas Manns noch im faschistischen Deutschland erschienene Aufsatzsammlung Leiden und Größe der Meister (1935), die Lukäcs zum Anlaß für einen grundlegenden Artikel nahm. In der Essay-Sammlung griff Thomas Mann das Problem des Kampfes für den Humanismus, gegen die Barbarei auf, wobei er sich noch nicht von seiner Verehrung gegenüber Nietzsche frei machen konnte. Wesentlich waren auch die Aufsätze von Heinrich Mann über das Erbe (Das geistige Erbe, Die Macht des Wortes), weil sie als direkter Teil der von ihm aktiv vertretenen Volksfrontpolitik verstanden werden müssen. Den stärksten Impuls bekam die Diskussion über das Erbe 1937 durch die Debatte über den Expressionismus, die 52
von der in Moskau erscheinenden Zeitschrift Das Wort veranstaltet wurde. Diese Debatte über das Problem, inwieweit der Expressionismus als Erbe für den antifaschistischen Schriftsteller in Frage komme, brachte zwar keine Klärung über den Expressionismus, jedoch gebührte ihr das Verdienst, die Fragen über die Erbeaneignung als eine Form des antifaschistischen Kampfes in den Mittelpunkt der politisch-literarischen Diskussion gerückt zu haben. Brecht beteiligte sich nicht direkt an dieser Debatte, weil er durch sie eine zu starke Frontenbildung und Gruppierung innerhalb der fortschrittlichen Kräfte fürchtete, die er der gemeinsamen Sache für abträglich hielt. Eine solche Gruppierung bildete sich aber zwangsläufig heraus und keineswegs nur durch die ExpressionismusDebatte. Innerhalb des antifaschistischen Lagers der Emigration ließen sich im Streit um das Erbe, grob verallgemeinert, drei Richtungen erkennen. Da war zunächst die Gruppe der progressiven bürgerlich-humanistischen Schriftsteller, die von dem mit der Volksfrontpolitik so eng verbundenen Heinrich Mann über Lion Feuchtwanger bis zu Thomas Mann reichte. Der von ihr geleistete Beitrag war ganz wesentlich, allein schon deshalb, weil er zeigte, in welch starkem Maße sich solche Persönlichkeiten wie Heinrich Mann unter dem Einfluß der Volksfrontbewegung dem Marxismus wie dem real existierenden Sozialismus näherten. Andererseits ist dieser Beitrag, wie im Falle Thomas Manns, auch in seinem Vorstoß zu neuen Ufern überschätzt worden. Das geschah nicht zuletzt durch die Interpretationen Georg Lukacs'. Hier wird die politische Auseinandersetzung zwischen Brecht und Thomas Mann im amerikanischen Exil sicherlich neue Einblicke geben, wenngleich man sich hüten muß, Brechts erbitterte Ausfälle und Anklagen unbesehen zu übernehmen. Im marxistischen Lager wurde die Erbekonzeption vor allem von Johannes R. Becher, Georg Lukäcs und Bertolt Brecht bestimmt. Brechts Auffassung zum Erbe wurde allerdings in dieser Zeit noch kaum wirksam. Das lag zu einem großen Teil daran, daß er seine Meinung selten publizierte. Wie intensiv er sich jedoch mit diesen Fragen beschäftigte, darüber geben sein Nachlaß und die Berichte seiner Diskussionspartner 53
sehr ausführlich Auskunft. Mit Brechts Auffassung fühlten sich vor allem Walter Benjamin und Hanns Eisler verbunden. Ihre Vorstellungen über das Erbe sind jedoch mit denen Brechts keinesfalls „deckungsgleich". Beide haben ihren spezifischen Beitrag zu den Fragen des Erbes, der literarischen Tradition geleistet. Außerordentlich aufschlußreich sind dabei Hanns Eislers Gedanken, die er später in Gesprächen mit Hans Bunge äußerte. Eine marxistische Erbetheorie kann an ihnen nicht vorbeigehen. Eislers Stellung zum Erbe war lange Zeit durch den gemeinsam mit Ernst Bloch geschriebenen Artikel (in der Neuen Weltbühne) zur Expressionismus-Diskussion vorgeprägt. Seine Rückerinnerungen zeigen eine tiefe und differenzierte Erbeauffassung, die der We/lbühnen-Artikel auch nicht im entferntesten anzudeuten vermochte. Insbesondere hat es Eisler in seinen Gesprächen verstanden, das dialektische Moment der Erbebewältigung herauszuarbeiten. Neben Georg Lukäcs entwickelte die umfassendste Konzeption über das literarische Erbe wohl Johannes R. Becher, der immer von dem Bestreben ausging, dem Klassengegner keinen Gedanken und keinen Klang humanistischer Literatur zu überlassen. Auch Becher unterscheidet sich jedoch trotz der großen Wertschätzung und manchen direkten Bezugspunktes in seiner Erbeauffassung von Lukäcs. 69 Keinen Bezugspunkt zur Volksfrontpolitik hatten die Erbetheorien von Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno. Ihre Auffassungen waren — bewußt oder unbewußt — eher die Gegenkonzeption zur Literaturpolitik der Volksfront. Dabei erwiesen sich einige Elemente ihrer Theorie allerdings geeignet, Illusionen zu zerstören. So korrigierte Marcuse zum Beispiel die Auffassung, daß es zwischen klassischer bürgerlicher Kultur und Faschismus nur ein diskontinuierliches Verhältnis gebe, so daß der Faschismus als „ein rätselhafter Betriebsunfall der Geschichte" erschien. Dagegen wies Marcuse nach, wie der Liberalismus in den Faschismus hinüberwuchs. 70 Als Ganzes blockierten aber ihre Theorien jeden Zugang zu wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen. Bevor auf Brechts Erbeauffassung näher eingegangen wird und insbesondere die Veränderungen zur Sprache kommen, die sich in der Emigration vollzogen, muß zunächst einmal die 54
Auseinandersetzung Brechts mit den Erbetheorien seiner Zeitgenossen beleuchtet werden. Dabei kann Brecht jedoch nicht mit der ganzen Breite der Erbeauffassungen konfrontiert werden, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren herausbildeten, sondern nur mit den Vorstellungen, die ihn zur Polemik und Stellungnahme veranlaßten.
Auseinandersetzung um das Erbe Brecht—Adorno—Marcuse—hukäcs Obwohl Brecht und sein Werk mit den verschiedenartigsten und unterschiedlichsten Persönlichkeiten der Literatur und Philosophie verglichen wurde, gibt es merkwürdigerweise kaum Darstellungen über das Verhältnis von Brecht zu Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse. Das mag teilweise darauf zurückzuführen sein, daß die Äußerungen Brechts über diese beiden Wissenschaftler aus seinem Arbeitsjournal erst sehr spät veröffentlicht worden sind. Insbesondere zu Herbert Marcuse, der erst in den sechziger Jahren international bekannt und zu einem populären Mann der „Neuen Linken" wurde, vermutete man kaum Beziehungen. Brecht traf im amerikanischen Exil, in Hollywood, mit Adorno und Marcuse (auch mit Ludwig Marcuse) zusammen. Die Abende waren lang, wie einmal Hanns Eisler bemerkte, sie führten auch Menschen unterschiedlicher Gesinnung und verschiedenartigen Temperaments zusammen. In seinem Arbeitsjournal vermerkte Brecht im Jahre 1942 und 1943 wiederholt „wiesengrund adorno hier", 71 „mit eisler bei horkheimer zum lunch." 72 , „bei adorno diskutieren horkheimer, pollok, adorno, marcuse, eisler, stern, reichenbach . . ."73, „eisler spielt winge und h. marcuse die elegien und einige der finnischen epigramme vor . . . 7 4 " Es war vor allem Hanns Eisler, durch den Brecht mit Adorno und Marcuse bekannt wurde; denn Eisler und Adorno gingen thematisch benachbarten Forschungen nach. Trotz politischer Meinungsverschiedenheiten arbeiteten sie gemeinsam an dem Projekt Kompositionen für den Vilm.75 Die Haltung Brechts zu Adorno und Marcuse ist unkompliziert und eindeutig, nämlich eindeutig polemisch und ablehnend. Wie Brecht, so ging 55
auch Hanns Eislet in seinen Gesprächen auf die Diskussions abende ein, die das emigrierte Frankfurter Institut für Sozialforschung veranstaltete. Dazu wurde Hanns Eisler eingeladen. Die Einladung an ein Mitglied der KPD diente demAdornoMarcuse-Horkheimer-Kreis, wie Eisler selbst sagte, als Alibi. In einer Zeit, in der die ganze Welt mit Bewunderung auf den Kampf der sowjetischen Armeen gegen den Faschismus blickte, wollten sie ihre „loyale" Haltung zur Arbeiterbewegung vorweisen. „Brecht wurde", erzählte Eisler über diese Diskussionsabende, „nicht eingeladen. Weil man hat Angst vor ihm gehabt. Und das Geschwätz, das teilweise dort hochkam, hätte man in Anwesenheit Brechts nicht über die Lippen gebracht."^ Dennoch war Brecht über diese Diskussionsabende genau informiert und nahm in seinem Arbeitsjournal dazu Stellung. Außerdem wurde die Diskussion in den privaten Zusammenkünften weitergeführt. Brechts Polemik ist hierbei von der gleichen Schärfe wie gegenüber Georg Lukäcs, und doch fällt sofort ein Unterschied auf. Während Brecht die damals viel schwieriger zu erreichenden Werke Georg Lukäcs' sehr aufmerksam verfolgte, bemühte er sich kaum um die Kenntnis der wissenschaftlichen Werke von Adorno, Marcuse und Horkheimer. Gegenüber Lukäcs war Brecht oft außerordentlich allergisch und manchmal geradezu boshaft, aber er betrachtete ihn immer als einen Marxisten und Kommunisten — wenn auch als einen, der enge, unproduktive Theorien in die Welt setzte. Aber selbst wenn er Lukäcs als „Murxisten" beschimpfte, war seine Auseinandersetzung mit ihm eine Auseinandersetzung innerhalb des marxistischen Lagers, innerhalb der Gemeinschaft, der sich Brecht zugehörig fühlte. Ganz anders verhielt es sich im Fall Adorno und Marcuse. Was Brecht bei Adorno immer zuerst notierte, ist die abwertende, Marx-feindliche Einstellung. So arbeitete gegen Ende des Krieges das Frankfurter Institut an einem soziologischen Projekt zur Erforschung des Antisemitismus. Im Gespräch mit Adorno lenkte Brecht die Aufmerksamkeit auf die Schrift von Karl Marx zur Judenfrage. In einem Brief an seinen Sohn schrieb Brecht, daß er von Adorno wieder einmal erfuhr, daß dieses Werk von Marx überholt sei, daß es überhaupt 56
vom jungen Marx stamme und daß Marx, wie Brecht ironisch vermerkte, auf die Goebbelssche Unterscheidung zwischen dem schaffenden und dem raffenden Kapital hereingefallen sei. 77 Nach einem anderen Gespräch zitierte Brecht Adorno: „,marx ist nicht interessiert an den dingen, nur an den Beziehungen zwischen den menschen, die in den dingen verdinglicht sind'", und er machte sich lustig über diese „uneigennützigen bewunderer der idee des materialismus"78, die keine Chance ausließen, um den Materialismus anthropologisch und psychologisch aufzulösen. Es war vor allem der heuchlerische Umgang mit bestimmten Grundthesen des Marxismus bei völligem Desinteresse an echten Veränderungen und einem eklatanten Mangel an wirklicher materialistischer Erkenntnis, was Brecht zur Polemik veranlaßte. Immer wieder wies er nach, wie wenig die „Frankfurtisten" in ihren Darlegungen historisch vorgehen, wie sie alle Fragen der Kunst von den sozialen und gesellschaftlichen Beweggründen wegrücken und immer nur nach „Verdrängungen, Komplexen, Hemmungen" stöbern. Es sei, vermerkte Brecht, die alte Routine, mit der auch Lukacs, Bloch, Stern u. a. nur die alte Psychoanalyse verdrängten. 79 Eine treffende Charakteristik des Adorno-MarcuseKreises, wie er im amerikanischen Exil auf Brecht wirkte, hat Hanns Eisler in seinen Gesprächen gegeben: „Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieses Instituts in Frankfurt, daß sie alle Auflösungstendenzen mit einer Art Halbmarxismus als progressiv sehen . . . Fehlt aber die echte Polemik und der echte Kampf — sowohl der theoretische als der praktische Kampf gegen das Bürgertum . . ." 80 Für den genau beobachtenden Brecht waren aber solche Männer wie Adorno und Marcuse trotz ihrer wenig ergiebigen Ansichten nicht uninteressant, stellten sie doch ein willkommenes Studienobjekt dar. Marcuse und Adorno gaben für Brecht das literarische Vorbild für den Tui ab, den Intellektuellen in der Zeit der Märkte und Waren, der seinen Intellekt vermietet, um die wahren Gründe des menschlichen Elends unauffindbar zu machen. Unterm 10. 10. 1943 schreibt Brecht in sein Arbeitsjournal: „ADORNO hier, dieses frankfurter institut ist eine fundgrube für den TUIROMAN. das gegenstück zu den .freunden des bewaffneten aufstands'.. ."81 Die Geschichte des 57
emigrierten Frankfurter Instituts und seiner Gelehrten inspirierten Brecht zu seinem Tuiromanfi2 Es erwies sich hier zunächst einmal als notwendig, die allgemeine weltanschauliche Haltung Brechts gegenüber Adorno und Marcuse darzulegen, weil sie die Voraussetzung für die Auseinandersetzung um das literarische Erbe ist. Zumal auch Brecht, anders als im Fall Lukäcs, die Kunsttheorien Marcuses und Adornos und ihre Konzeption über das künstlerische Erbe kaum direkt aufgriff. Er attackierte vielmehr die politischen und philosophischen Prämissen dieser Kunsttheorien. Die Negation, die Adorno gegen das künstlerische Erbe ins Feld führte, ging davon aus, daß die traditionelle Kunst „sozial" sei. Durch das ästhetische Stilisationsprinzip, durch den Abbild- und Realitätsbezug entrichte das große künstlerische Erbe der Vergangenheit wie auch jene Kunst, die dieser Tradition folge, ihren „Zoll an die verruchte Affirmation".83 So vollziehe sich die Anpassung an den Markt und an eine Gesellschaft, in der dann die großen traditionellen Kunstwerte im bürgerlichen Alltag einfach verschlissen würden. Den Ausweg aus dieser Situation sah Adorno in der kritischen Selbstaufhebung der Kunst; sie war für ihn im total individualisierten Kunstwerk vollzogen, das keinen Zugang zur empirischen Realität und keinen gesellschaftlichen Anspruch mehr kennt. Nicht das gesellschaftskritische, auf Veränderung zielende Kunstwerk, sondern das individualistische, autonome Kunstwerk liefere die richtige „Anweisung auf die Praxis", „auf die Herstellung richtigen Lebens".84 Deshalb seine Losung: „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen."85 Es war nur zu verständlich, daß Brecht in Adorno keinen Partner für eine fruchtbare Diskussion sah. In der undialektischen Negation der Tradition hatte Brecht schon in den zwanziger Jahren, als seine Kunstauffassung von radikalistischen Tendenzen nicht frei war, keinen rechten Sinn gesehen. Ihm ging es nicht darum, die Kunst der Vergangenheit als affirmativ zu verteufeln, sondern sie ihres affirmativen Gebrauchs zu entreißen. Eine solche Aufgabe war ganz im Sinne der Volksfrontpolitik. Diese kämpferische Einstellung aber ließ die Theorie Adornos völlig vermissen. Sie beruhte nicht nur auf der Negation, sondern auch auf der Kapitulation. Wenn 58
Brecht mit Adorno darin übereinstimmte, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Kulturgüter dieselbe Funktion bekamen wie alle anderen Güter, nämlich zu Waren wurden, so zog Brecht daraus aber die Schlußfolgerung, daß die Kultur ihren „Gütercharakter" verliere und erst Kultur werde, wenn das Proletariat die gesamte Produktion, und damit auch die künstlerische, von den Fesseln befreie. Brecht sah den Sinn der Kunst darin, daß sie den Menschen hilft, ihre Existenz, ihr Schicksal zu meistern. Dieses Kriterium bezog er auch auf das Erbe, wenn er über eine Erbediskussion mit den Frankfurtisten in sein Arbeitsjournal notierte: „natürlich werden nur die künste gerettet, die an der rettung der menschheit sich beteiligen."86 Im krassen Widerspruch zu diesen Auffassungen formulierte Adorno zwanzig Jahre später seinen unverändert gebliebenen Standpunkt, der auch jetzt direkt auf Brecht zielte: „Literatur, die wie die engagierte, aber auch wie die ethischen Philister es wollen, für den Menschen da ist, verrät ihn, indem sie die Sache verrät, die ihm helfen könnte, nur, wenn sie nicht sich gebärdet, als ob sie ihm hülfe . . . An der Zeit sind nicht die politischen Kunstwerke, aber in die autonomen ist die Politik eingewandert, und dort am weitesten, wo sie politisch tot sich stellen, so wie Kafkas Gleichnis von den Kindergewehren, in dem die Idee der Gewaltlosigkeit mit dem dämmernden Bewußtsein von der heraufziehenden Lähmung der Politik fusioniert ist." 87 Während sich Brecht in seinem Arbeitsjournal hin und wieder ironisch mit den Tui-Konzeptionen Adornos auseinandersetzte, fiel der Name Herbert Marcuses eigentlich nur immer im Zusammenhang mit dem gesamten Kreis des Frankfurter Instituts. Marcuse wurde von Brecht mit Adorno mehr oder weniger in einen Topf geworfen. Das war insofern nicht unrichtig, da sich Marcuse in Kunstfragen immer stark an Adorno anlehnte. Sieht man einmal davon ab, daß sich Brecht von dem tuistischen Geschwätz der Frankfurtisten abgestoßen fühlte und kein Verlangen spürte, sich mit ihnen über ihre theoretischen Arbeiten zu unterhalten, so ist dennoch die Abstinenz gegenüber Herbert Marcuse auffällig. Zu der Zeit, als Brecht mit Marcuse zusammentraf, war gerade dessen zweites HegelBuch erschienen. Bei der Gier Brechts nach Unterhaltungen 59
über Hegel und Marx verwundert es, darüber im Arbeitsjournal keinen Hinweis zu finden. Keinen Hinweis gibt es auch auf Marcuses 1937 in der Zeitschrift des Frankfurter Instituts, Zeitschrift für Soyialforscbung, erschienenen großen Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur, der Marcuses Erbekonzeption pur enthält. In den vierziger Jahren war Marcuse für Brecht kein eigenständiger Denker. In Marcuse sah Brecht den „Frankfurtisten", einen Hersteller von Cliquen-Ideologie liberalen Zuschnitts. Sich mit ihm auseinanderzusetzen hielt Brecht gar nicht für notwendig. Damit wäre die Frage nicht unberechtigt: Warum dann hier diese Auseinandersetzung? Marcuses radikale Einstellung zum Erbe, einige seiner theoretischen Fragestellungen fordern unbedingt zu einem Vergleich mit den Vorstellungen Brechts, insbesondere des jungen Brecht heraus. Die Untersuchung der radikalen Fragestellungen von Brecht und Marcuse zum Erbe wird aber auch zeigen, daß es sich um Antipoden handelt, die sich in der Art ihrer radikalen Fragen extrem unterscheiden. Herbert Marcuse befand sich damals an einem entscheidenden Wendepunkt seines Lebens. Robert Steigerwald bezeichnet ihn in seinem Marcuse-Buch als den Übergang von der zweiten zur dritten Entwicklungsperiode. Während in der zweiten Entwicklungsperiode, in der Marcuse den Essay Über den affirmativen Cbarakier der Kultur schrieb, „die größte Annäherung an den Marxismus" festzustellen ist, 88 vollzog sich danach eine Abschwächung der Linksentwicklung und eine stärkere Orientierung auf einen Antimarxismus mit direkter Frontstellung gegen den realen Sozialismus. Als sich Hanns Eisler 1958 an die Hollywooder Gespräche erinnerte, hatte er den Herbert Marcuse der zweiten Entwicklungsperiode vor Augen. Er sprach noch von ihm wie von einem völlig unbekannten Mann. Der große Auftritt Marcuses, der zu Beginn der sechziger Jahre erfolgte, hatte noch nicht stattgefunden. „Dann gibt es noch einen anderen Marcuse, der heißt Herbert Marcuse. Das ist ein sehr anständiger Mann, der eine vernünftige Hegelstudie geschrieben hat." 89 Herbert Marcuses Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur entstand in einer Zeit, als Brecht im dänischen Exil seine Theorie und Methode des epischen Theaters weiterent60
wickelte und zu neuen Einsichten über das Erbe kam. Aber ein Vergleich der Auffassungen von Brecht und Marcuse bietet sich nicht nur durch die gleiche Entstehungszeit an, sondern vielmehr durch die gleiche Fragestellung im Werk der beiden Männer. Anhand ihrer Ansichten kann das Kampffeld besichtigt und untersucht werden, auf dem damals der Streit um das Erbe ausgetragen wurde. Erst auf diese Weise werden auch die unterschiedlichen Lösungswege, ja der völlige Gegensatz in der Haltung zum Erbe deutlich. Dabei muß man freilich den Marcuse der zweiten Phase vor Augen haben. Wenn man auch Robert Steigerwald zustimmen kann, daß Marcuse in dieser Phase die weiteste Annäherung an den Marxismus vollzog und die Arbeiten in dieser Phase von beachtlicher Qualität sind, so muß man andererseits aber auch feststellen, daß sich Marcuse in seinem Essay über die affirmative Kultur kaum des theoretischen Arsenals des Marxismus und schon gar nicht einer marxistischen Terminologie bediente. 90 Was die Qualität dieses Aufsatzes ausmacht, was vom Geist des Marxismus zeugt, ist die analytische Kraft dieser Arbeit. Wovon ging Marcuse in seinen Überlegungen aus? Die klassische bürgerliche Kunst habe ihre Idealgestalten so weit von dem alltäglichen Geschehen entfernt, daß der Rezipierende diese Gestalten nur durch einen Sprung in eine total andere Welt wiederfinden könne. In der Einheit der Kunst, in der Glut der großen und schönen Worte werde das Gegenbild der tatsächlichen Wirklichkeit überwunden. Diese große Kunst der bürgerlichen Gesellschaft sei sozusagen zum Trainingsgelände für das vereinsamte Individuum der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Dieses Individuum, schrieb Marcuse, „auf sich selbst zurückgeworfen, lernt seine Isolierung ertragen und in gewisser Weise lieben. Die faktische Einsamkeit wird zur metaphysischen Einsamkeit gesteigert und erhält als solche die ganze Weihe und Seeligkeit der inneren Fülle bei äußerer A r m u t . . . Erst in dieser Kultur gewinnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände ihre hoch über den Alltag emporgesteigerte Würde: ihre Rezeption wird zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung." 9 1 Das durch die bürgerliche Gesellschaft verratene und ramponierte kulturelle Erbe war der Gegenstand, dem sich Mar61
cuse wie Brecht zuwandten. Aber während selbst der Brecht der zwanziger Jahre im Gespräch mit Herbert Jhering davon ausging, daß sich die allzu ehrerbietige Haltung an den Klassikern gerächt habe, daß sie durch Ehrerbietung ramponiert worden seien, 92 ging Marcuse davon aus, daß das Affirmative in der Kultur, in der Kunst selbst liege. Marcuse stellte in seinem Essay zwei Grundkategorien heraus, die er kritisch untersuchte: das Affirmative und das Seelische. Im Ergebnis dieser Untersuchung verwarf er beide. In der Beschreibung ihrer Funktion erinnert vieles daran, was Brecht das Aristotelische und die Katharsis nannte. Das Affirmative war für Marcuse jene zu einem selbständigen „Wertreich" gewordene geistig-seelische Welt der Kunst. Von diesem „Wertreich" gehe die destruktive Gewalt aus, die darin bestehe, daß sie die Menschen mit einer unmenschlichen Wirklichkeit versöhne. Auf die Not des isolierten Individuums antwortete die affirmative Kultur mit allgemeiner Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Diese Kultur helfe die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums zu verdecken. Als den Kristallisationspunkt des Affirmativen markierte Marcuse die Seele, die Rolle des Seelischen in der Kunst der Vergangenheit. Die Idee von der Seele habe zuerst in der Literatur der Renaissance ihren Ausdruck gefunden, aber mindestens seit Herder seien seelische Werke konstitutiv für den affirmativen Kulturbegriff. „Seelische Bildung und seelische Größe einigt die Ungleichheit und Unfreiheit der alltäglichen Konkurrenz im Reich der Kultur, darin die Individuen als freie und gleiche Wesen eingehen. Wer auf die Seele sieht, sieht durch die ökonomischen Verhältnisse hindurch die Menschen selbst. W o die Seele spricht, da wird die zufällige Stellung und Wertung der Menschen im Gesellschaftsprozeß transzendiert. Liebe durchbricht die Schranken zwischen reich und arm, hoch und n i e d r i g . . . So hat die affirmative Kultur in ihrem klassischen Zeitalter immer wieder die Seele gedichtet." 93 Inwieweit hier eine Verkennung, eine vereinfachte und mechanische Auffassung von einem Zentralbegriff der klassi62
sehen Literatur vorliegt, soll vorerst nicht weiter erörtert werden. Zunächst fordert die Formulierung Marcuses zu einem Vergleich mit der Katharsisbestimmung Brechts heraus, die ja auch die Funktion hat, zu versöhnen, auf das Allgemeinmenschliche zu lenken. Brecht sah in ihr die große „Waschung", durch die all das abgewaschen werden sollte, was sich objektiv nicht abwaschen ließ: die Klassengegensätze, die gesellschaftlichen Widersprüche. Marcuses Definition des Seelischen als Kristallisationspunkt des Affirmativen wie Brechts Definition der Katharsis als Kernstück des Aristotelischen lenkten auf jene Tendenz der Verinnerlichung einer widerspruchsvollen Wirklichkeit. Der Mechanismus dieser Kategorien lief zu sehr auf das „Erkenne dich selbst" hinaus, nicht aber auf die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge. So verwarf Brecht den aristotelischen Roman, weil die Kunstform dieses Romans und der mit ihr verbundene W i r kungsmechanismus den Satz „Die Justiz ist ungerecht" zu der Aussage filtrierte: „Ein Richter ist ungerecht". 94 Marcuse schrieb: „Die affirmative Kultur hatte die gesellschaftlichen Antagonismen in einer abstrakten inneren Allgemeinheit aufgehoben: als Personen, in ihrer seelischen Freiheit und Würde, haben alle Menschen den gleichen Wert; hoch über den faktischen Gegensätzen liegt das Reich der kulturellen Solidarität." 95 Weiter arbeitete Marcuse heraus, daß in der affirmativen Kunst, wie er sie für die Kunstentwicklung seit der Renaissance formulierte, der Seelenbegriff in einen immer schärferen Gegensatz zum Geistesbegriff trete. In ihrer Eigenschaft universaler Einfühlung entwerte die Seele die Unterscheidung des Richtigen und Falschen, Guten und Schlechten, Vernünftigen und Unvernünftigen, welche durch die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegeben werden könnte. Im Zusammenhang mit der Seele charakterisierte auch Marcuse die Einfühlung als einen hemmenden Faktor bei der Aufhellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Kunst. Wenn man sich der unterschiedlichen weltanschaulichen Zielsetzungen von Brecht und Marcuse bewußt ist, wenn man weiß, wie wenig Berührungspunkte es in Kunstfragen zwischen beiden gab, mag man die Ähnlichkeit in ihrem Verhalten zum Erbe zunächst erstaunt oder verwirrt feststellen. 63
Sie ist aber im Grunde nichts anderes als die kritische Reaktion auf die Verwahrlosung des kulturellen Erbes in der spätbürgerlichen Gesellschaft. Diese große Dichtkunst empfand er so ramponiert, daß sie nicht einfach angeeignet und bloß fortgeführt werden konnte. Jeder Versuch progressiver Kräfte, die literarische Tradition in diesem Zustand einfach anzueignen und fortzuführen, wäre wenn nicht ganz unmöglich, so doch ein opportunistisches Unterfangen. Dieses von der Bourgeoisie ruinierte Erbe verlangte eine dialektische Aufhebung. Das war das Problem, um das es in diesem Streit ging. Denn nur durch die dialektische Aufhebung wurde das Erbe zur politischen Kraft im antifaschistischen Kampf. Das Ausmaß der Zerstörung mußte jedoch voll analytisch ausgeschritten werden. Jedes Hinwegsehen über den Mißbrauch, über destruktive Umfunktionierung, über die falsche ästhetische Kanalisierung politischer Inhalte war nur geeignet, eine wirklich dialektische Aufhebung des Erbes abzuschwächen. Bei solchen analytischen Versuchen zeigte es sich aber auch, wo die analytische Kraft nur zur formallogischen Negation, nicht aber zur dialektischen Negation ausreichte. E s wird daher zu untersuchen sein, wie weit die analytische Kraft eines Marcuse und wie weit die eines Brecht reichte. Die Gegenposition zu Brecht zeichnete sich schon ab, als Marcuse in seinem Aufsatz auf das Historische zu sprechen kam. Nicht nur, daß er die affirmative Kultur fast geschichtslos darstellte, ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen historischen Qualität, der verschiedenen Etappen, er konstruierte einen direkten Zusammenhang zwischen dem Historischen und dem Seelischen. „Die Seele", schrieb er, „hat eine starke Affinität zum Historismus." 9 6 Das blieb aber völlig unbewiesen. Hier verließ ihn seine analytische Kraft. Die Affinität zum Historischen wurde einfach mit einem aus dem Zusammenhang herausgerissenen Zitat von Herder über die Einfühlung zusammengekittet. Auch übertrug Marcuse hier Momente, die wohl für den spätbürgerlichen Historismus, nicht aber für die wirkliche historische Entwicklung zutrafen, die er gar nicht zu erfassen verstand, weil er von den konkreten Klassenkämpfen wegabstrahierte. Während Marcuse auf diese Weise das Historische negierte und sich jeder histo64
rischen Einsicht verschloß, machte Brecht in den Jahren der Emigration die Erkenntnisse des historischen Materialismus zum Hebel neuer theoretischer und methodologischer Vorstellungen. So überwand er den starren Gegensatz von Einfühlung und Distanz, indem er die Einfühlung historisch wertete und nachwies, wo sie ein Fortschritt war und neue Zusammenhänge erschloß. Bei Marcuse wurde das Seelische, Affirmative unbeeinflußbar und erschien nur in einer fernen klassenlosen Gesellschaft aufhebbar. Indem Brecht von der historischen Entwicklung ausging, sah er auch die unterschiedliche Funktion der Katharsis. Sie war in den Königsdramen Shakespeares eine andere als in den Königsdramen Strindbergs. Lessing gebrauchte sie anders als Ibsen. Brechts Angriff richtete sich in erster Linie gegen die spätbürgerliche Katharsisbestimmung, gegen die Art und Weise, wie die Entgegennahme des Kunstwerkes seitens des Publikums durch die strukturellen Mittel „organisiert" wurde. Dadurch war er in der Lage, seinen Begriff des Aristotelischen historisch genau zu bestimmen, der so — wenn auch über Mißverständnisse hinweg — zu einem wirksamen Element innerhalb der Auseinandersetzung um das Erbe, zu einer methodologischen Basis bei der Bestimmung von Tradition und Neuerertum wurde. Ganz anders bei Marcuse: Indem er das Historische eliminierte, diente sein Begriff der Affirmation, des Affirmativen zur Verteuflung einer großen Tradition, wurde er zur Parole der großen Verschwörung gegen das kulturelle Erbe. Diese Tendenz wurde auch nicht aufgehoben oder abgeschwächt, als Marcuse Jahrzehnte später erklärte, seine Thesen stellten keine Verdammung dar. 97 Noch plastischer trat der Gegensatz zwischen Marcuse und Brecht bei der Aneignung und Aufhebung des Erbes durch die Arbeiterklasse hervor. Für Marcuse war die Aufhebung der affirmativen Kultur im Rahmen der bestehenden Klassengesellschaft nicht möglich. Mit Hohn wandte er sich gegen alle „utilitaristischen" Versuche, Kunst und Kultur als notwendige „Diät und Erholung" zu betrachten. 98 Der Utilitarismus war für ihn nur die Kehrseite der affirmativen Kultur. Nicht weniger zynisch war seine Ablehnung der richtigen, wenn auch mit falschen Voraussetzungen begründeten These 5
Mittenzwei
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Kautskys, daß die Arbeiterklasse die gesamte Kultur für sich erobern muß. „Solche Ansichten verfehlen das Entscheidende", warf Marcuse ein, „die Aufhebung der Kultur." 9 9 Für Marcuse war das „unausrottbare Klischee vom .Schlaraffenland'", von einer Gesellschaft, die keine Klassen mehr kennt, die im Glück ist - er bezieht sich hier nicht auf Marx, sondern auf Nietzsche —, immer noch besser als die Vorstellung von einer „riesigen Volksbildungsanstalt". Hier spitzte sich der Gegensatz zu Brecht vor allem zu. Während die Überlegungen Brechts von dem Grundgedanken ausgingen, wie mit dem Erbe in den Prozeß der gesellschaftlichen Veränderungen eingegriffen werden kann, verwarf Marcuse das Erbe — hierin einig mit Adorno — als Mittel des politischen Kampfes. Das „Klischee vom .Schlaraffenland'" sagte ihm immer noch mehr zu als der Gebrauch des kulturellen Erbes im Klassenkampf. In seiner Theorie fehlte, wie schon Hanns Eisler richtig feststellte, jede echte Polemik, jeder echte Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft. Die Theorie Marcuses mobilisierte nicht, sie steckte kein neues Kampffeld ab, sie überlieferte den ausgebeuteten Menschen kein brauchbares Instrumentarium, um sich zur Wehr zu setzen. Sie ist als undialektische Negation politisch eine Kapitulation. So scharfsinnig Marcuse in seiner Analyse der bloßen Erscheinung war, so ehrlich auch seine antifaschistische Haltung sein mochte, seine Theorie von der affirmativen Kultur war kein Beitrag zur Volksfrontpolitik, sie war vielmehr eine Gegenkonzeption zu der Kulturpolitik der Volksfront. Marcuse lähmte, wo Brecht zu aktivieren versuchte. So paradox es klingt, Marcuse verwarf die Kultur als affirmativ, weil es ihm — zumindest damals — nur um Kultur ging, Brecht eignete sich das Erbe an, nutzte es für den Klassenkampf, weil es ihm um eine bessere Gesellschaftsordnung ging. Hier ist nicht der Ort, auf die spätere Entwicklung von Brecht und Marcuse einzugehen. Nur soviel muß noch gesagt werden: Der Gegensatz verschärfte sich. Allein wenn man an die Kategorie der Produktivität denkt, die Brecht aus den neuen Formen menschlichen Zusammenlebens in der sozialistischen Gesellschaft entwickelte, und sie mit den Vorstellungen Marcuses über das Lustprinzip und die Revolutio66
nierung der Triebstruktur vergleicht, wird diese Verschärfung des Gegensatzes deutlich. Selbst dort, wo gleiche Begriffe und Kategorien zur Sprache kommen, wie zum Beispiel das Problem des Genusses, das Brecht früher kaum stellte, liegen ihnen nicht mehr gleiche oder ähnliche Fragestellungen zugrunde, sondern grundverschiedene Welten. Für Brecht waren die beiden Theoretiker Herbert Marcuse und Theodor Adorno nur Diskussionspartner im amerikanischen Exil, später ist es ihm nie mehr eingefallen, diese Namen auch nur zu erwähnen. Sie waren mit dem amerikanischen Exil vergessen. Der Kampf um das Erbe ging weiter, aber mit anderen Polemikpartnern. Die Auseinandersetzungen mit Lukäcs zogen sich dagegen durch sein ganzes Leben. Gegen Lukäcs' Gedankengebäude richtete sich Brechts Polemik, auch wenn dessen Name gar nicht fiel. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Ton zwischen beiden konzilianter, aber in der Sache nicht abgeschwächt. Mehr noch als für Stanislawski war für Brecht Lukäcs der große Antipode, der Schirmherr des Aristotelischen. Er hat diesem Mann mit seinem universalen Wissen und seinen Einsichten nie vergeben können, daß er auf dem Gebiet der Ästhetik nur einen Weg wußte, den der Einfühlung. Die Kontroverse mit Lukäcs erreichte Ende der dreißiger Jahre ihren Höhepunkt, aber sie begann viel früher. Hanns Eisler wies darauf hin, daß es zwischen Brecht und Lukäcs schon in den zwanziger Jahren zu persönlichen Begegnungen und heftigen Polemiken kam. „Ich war selbst dabei", sagt Eisler in seinen Gesprächen, „es gab Diskussionen zwischen Brecht und Lukäcs in der Weimarer Republik, die waren wirklich nicht von Pappe. Ich habe mich manchmal auch für Brecht geniert, weil Brecht von einer solchen Grobheit war. Er haßte diesen kleinen, intelligenten, nervösen und doch so hochbedeutenden Mann Lukäcs wirklich aus voller Seele." 100 Lukäcs' Erbekonzeption war Teil seiner politischen Vorstellung von der „revolutionären Demokratie", mit der er sich in die Volksfrontbewegung einreihte und von der aus er den Gedanken der Volksfront propagierte. Aber in ihrem eigentlichen Wesenszug wich diese Vorstellung von der politischen Strategie, wie sie die kommunistischen Parteien er5*
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arbeitet hatten, ab. Im Gegensatz zu Adorno und Marcuse suchte Lukäcs aber das literarische Erbe in den Dienst des Klassenkampfes, der Befreiung der Menschen vom Faschismus zu stellen. „Der Kampf um das Erbe", schrieb er 1936, „ist eine der wichtigsten ideologischen Aufgaben des Antifaschismus in Deutschland. Der Nationalsozialismus benutzte die staatliche Macht, die Monopolstellung der legalen Publikation dazu, die ganze politische und kulturelle Vergangenheit Deutschlands in der rücksichtslosesten Weise umzufäls c h e n . . . Diese Literatur rechnet darauf, daß die breiten Massen die großen Gestalten der Vergangenheit nicht kennen und so der offiziellen faschistischen Propaganda unbesehen Folge leisten werden." 101 Inwieweit bei dieser im allgemeinen richtigen Orientierung auch Boden preisgegeben wurde, wird später noch zu vermerken sein. In allen seinen Darlegungen war jedoch das Bemühen zu spüren, das literarische wie auch das philosophische Erbe der faschistischen Verfälschung zu entreißen. Er kämpfte um Dichter der Vergangenheit, die — wie im Falle Friedrich Hölderlin — besonders stark der faschistischen Vergewaltigung ausgesetzt waren, um die Wiedergewinnung ihres revolutionären und progressiven Wesens. Insbesondere aber dehnte er seine Erbekonzeption auf die nicht direkt revolutionären Schriftsteller aus, die Lukacs in Anlehnung an eine Bemerkung Engels' über Balzac „Realisten wider Willen" und Brecht polemisch gern „Restaurationsschriftsteller" nannte. Ohne Zweifel war es ein Verdienst Lukäcs', daß er die Erbetheorie auch auf Schriftsteller ausdehnte, die zwar humanistische Gesellschaftskritiker waren, zur gewaltsamen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft aber eine ablehnende Haltung einnahmen. Hierin folgte Lukacs konsequent dem Weg, den Lenin in seinen Tolstoi-Analysen gezeigt hatte. Lenin ließ sich von den Lehren Tolstois, die er als „unbedingt utopisch", „reaktionär in der wahrsten und tiefsten Bedeutung" 102 kennzeichnete, nicht abhalten, den fruchtbaren Bezug der Werke Tolstois zum revolutionären Proletariat herauszuarbeiten. In diesem Sinne hat Lukacs viel für die Weiterentwicklung einer revolutionären, umfassenden Erbekonzeption geleistet. Dieses Verdienst, das im Klassenkampf nicht nur von ästhetischer, sondern vor allem 68
von politischer Relevanz war, muß auch deshalb herausgestellt werden, weil Brecht es gar nicht sah. In seinem polemischen Eifer, in seiner Grobheit schob er Lukäcs' Punkte beiseite, die ihm ästhetisch wie politisch unbedingt zugezählt werden müssen. Diese Vorzüge nicht zu sehen hieße die Rolle Lukäcs in der Ästhetik und im Befreiungskampf der Menschheit schmälern. Gerade wenn man nicht nur die Kontroverse Brecht — Lukäcs, sondern die Auseinandersetzung im Gesamtstreit um das Erbe, mit Adorno und Marcuse, betrachtet, ist eine solche Feststellung wichtig. Die Sache wurde erst dort beeinträchtigt, wo Lukäcs seine Analysen zum System ausbaute, wo er begann, eine Erbelinie zu ziehen, die von der soeben gewonnenen Bereicherung zur Verarmung führte. Betrachtet man den Kampf um das Erbe in jenen Jahren aus der Situation Brechts, so ergab sich eine merkwürdige Konstellation. Er sah Traditionsvorstellungen aufgebaut, die ihm unannehmbar schienen, weil sie seinem dichterischen Schaffen gar keinen produktiven Zugang ermöglichten. Die Negation des Erbes — die Marcuse und Adorno propagierten — war für ihn kein kämpferischer Standpunkt; eine solche Konsequenz hatte er schon in den zwanziger Jahren verworfen. Aus seinen politischen Erfahrungen heraus konnte er aber auch nicht Lukäcs' Position teilen. Adorno und Marcuse verwarfen das Erbe, Lukäcs hypertrophierte es. Für die einen war es affirmativ und politisch nicht zu gebrauchen, für den anderen stellte es eine nicht mehr einholbare Größe dar. Da bei Lukäcs das Erbe immer mit dem Realismusproblem verbunden war, interpretierte er die großen Werke der Vergangenheit immer von seiner Realismusauffassung her. Dabei wurden die wirklichen Probleme, die sich bei der Entwicklung eines neuen, des sozialistischen Realismus herausbildeten, von der Gipfelhöhe des bürgerlichen Realismus, die Lukäcs theoretisch aufrichtete, einfach überschattet. Mit völligem Recht wandte hier Brecht ein, daß Lukäcs gar keinen Unterschied zwischen bürgerlichem und sozialistischem Realismus machte. Der von Hegel entlehnte Totalitätsbegriff, mit dem er das alte Epos analysierte, wurde für Lukäcs zum eigentlichen Kriterium. Ein Kriterium, das im wahrsten Sinne des Wortes nicht von dieser Welt war, um 69
die es Brecht ging. Wie wenig Brecht für ein solches Kriterium Verständnis aufbrachte, zeigen einige Zitate aus Lukäcs' Darlegungen über den Goetheschen Roman, die Brecht in sein Arbeitsjournal eintrug, „.breiter reichtum des lebens' und der roman erweckt ,die illusion der gestaltung des ganzen lebens in seiner vollständig entfalteten breite'." Verbittert vermerkt Brecht: „nachmachen! nur, daß sich jetzt nichts mehr entfaltet und kein leben mehr breit wirdl der rat wäre höchstens, man solle es breit treten, ein solches breittreten besorgt der kapitalismus übrigens, die berühmte eiserne ferse, wir haben tatsächlich lauter umwege, abwege, hindernisse, bremsvorrichtungen, bremsschäden usw. zu beschreiben, aber mit der zunehmenden quantität ist da der Umschlag eingetreten. LUKACS, der geneigt ist, alles aus der weit ins bewußtsein zu verlegen, beobachtet ihn (indigniert) nur in der Sphäre des bewußtseins." Man muß verstehen, daß der Streit um das Erbe für Brecht keine akademische Frage war, sondern ein Arbeitsproblem. Die Traditionslinie, die Lukäcs herauskristallisiert hatte, verwarf er nicht nur aus politischen und ästhetischen Gründen, er sah in ihr einen weltfremden, vom Kampf wegführenden Anspruch erhoben, mit dem man, wie er in sein Arbeit sjournal schrieb, den fortschrittlichen Schriftstellern den Strick drehte. 103 Das Verdienst Lukäcs', daß er einen großen Kreis nicht direkt revolutionärer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts in seine Erbetheorie einbezog, schwächte er aber dadurch ab, daß er — und wiederum mit dem Totalitätsbegriff — die Werke dieser Schriftsteller in einer Weise interpretierte, die den eigentlichen Kampf gar nicht mehr erkennen ließ. Alles lief auf Vermittlungen hinaus. Wichtig wurden vor allem die indirekten Zusammenhänge. Der Klassenkampf vergeistigte sich, wurde zu einer Frage der hochgestochenen intellektuellen literarischen Analyse. Brecht ärgerte es maßlos, wie sich in der Erbekonzeption Lukäcs' der Klassenkampf verflüchtigte. Verbittert trug er in sein Arbeitsjournal ein: „aber, natürlich, den (Klassenkampf — W. M.) können wir uns ja dazudenken, .schließlich' ist alles klassenkampf! dieser Stumpfsinn ist gigantisch." 104 Diese Methode bekam aber bei Lukäcs noch insofern einen 70
fatalen Zug, da er die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts weit wichtiger nahm als die der bürgerlichen Aufstiegsphase. Zwar fehlt es im Gesamtwerk Lukacs' nicht an Lob auch für die Schriftsteller der revolutionären bürgerlichen Ästhetik, wie zum Beispiel für Diderot. Aber dieses Lob blieb abstrakt. Aus ihren Werken leitete er keine methodologischen Schlußfolgerungen ab. Im Gegenteil 1 Lukacs ließ es sich nicht entgehen, zum Beispiel die Überlegenheit von Balzacs Erzählkunst gegenüber Diderots Rameaus N e f f e herauszuheben. Das verkehrte Bewußtsein siegte gegenüber dem illusionären Guten; das eine erkannte Zusammenhänge, das andere verlor sich in isolierten Einzelheiten. Die eigentliche Abwertung der bürgerlichen Aufstiegsphase bei abstraktem Lob geschah aber dadurch, daß Lukacs die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts als die eigentlichen Muster hervorhob. In seinen großartigen Analysen über Shakespeare, Cervantes, Fielding, Goethe und Schiller trug Lukacs viel Neues und Interessantes zur Erhellung dieser Dichter bei, aber nicht diese Dichter waren es, sondern vorwiegend die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, aus denen Lukacs seine „Dichtungsmuster" und Erzählstrukturen ableitete. In der Losung „Schreibt wie Balzac, wie Tolstoi" sah Brecht eine Fehlorientierung. Aber gerade diese großen Namen wurden von Lukacs als nacheifernswert immer wieder herausgestellt. Dagegen verwarf der Adorno-MarcuseKreis das Erbe der bürgerlichen Aufstiegsphase wie auch den kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts als affirmativ, um in der Hinterhand Baudelaire, George, Nietzsche und Kafka als die großen Leitbilder aufzustellen. War die Losung Lukacs* unannehmbar, die andere war es noch weit mehr. Sie war für Brecht schon wegen ihres reaktionären Charakters, der völligen Abstinenz gegenüber allen Formen des Klassenkampfes nicht diskutabel. So wandte sich Brecht polemisch gegen die eine wie gegen die andere Linie, obwohl er Balzac nicht völlig ablehnte („Davon ist mir schon allerhand in Fleisch und Blut übergegangen, wenn man mir diesen Ausdruck genehmigen will." 105 ) und andererseits manches an Kafka schätzte. Innerhalb dieser komplizierten Konstellation baute Brecht seine Vorstellung vom Erbe aus. Die polemische Situation zwang ihn, der in seiner eigenen literarischen Praxis 71
immer sehr weitgespannten Vorstellungen nachging, die kaum auf eine dünne Schnur bloßer Verallgemeinerung zu bringen waren, zu einer Gegenkonzeption. Als polemischer Entwurf war sie gleichfalls nicht frei von Einseitigkeit, denn Brecht stützte sich vornehmlich auf die Schriftsteller der revolutionären bürgerlichen Aufstiegsphase wie Cervantes, Voltaire, Diderot, Swift, Beaumarchais, Lenz. Auch den schon früh, 1937, gefaßten Plan der G r ü n d u n g einer Diderot-Gesellschaft muß man bei aller Berücksichtigung in Hinsicht auf das Sammeln neuer theaterpraktischer Erfahrungen als ein Moment betrachten, um, wenn nicht eine Traditionslinie, so doch einen Traditionsbezug zu markieren, der die Differenz zu L u k ä c s deutlich machte. Die Diskussion u m das Erbe, wird sie nicht als sterile akademische Debatte geführt, berührt immer die F r a g e : Wie muß man heute schreiben. Für Brecht wie für Lukäcs g i n g es u m diese Frage. So war die Auseinandersetzung mit Problemen des Erbes zugleich eine Diskussion um Fragen des Realismus wie auch der Dekadenz. 1 0 6 Dabei bleibt eines der merkwürdigsten Phänomene der Literaturgeschichte, daß Lukäcs den K a m p f gegen die Dekadenz im Grunde weder im Namen der revolutionären bürgerlichen Literatur noch im Namen der revolutionären sozialistischen Literatur führte, sondern mit Namen und Werken der nachrevolutionären und spätbürgerlichen Literaturentwicklung. War das schon allein ein Gesichtspunkt, der Brecht in Harnisch brachte, so k a m noch ein persönliches Moment hinzu. Wenn Lukäcs in seinen Arbeiten Brechts Namen auch kaum erwähnte, so fehlte es doch nicht an Anzeichen, wo er Brecht eingruppierte. In seinem Arbeitsjournal vermerkte Brecht: „ich erfahre, dass zur dekadenz auch ich gehöre, das interessiert mich natürlich s e h r . " 1 0 7 Obwohl sich Brecht in seinem Arbeitsjournal selten wiederholte, solche bitteren Klagen, daß man ihn zur Dekadenz zähle, tauchen immer wieder auf. Einen Mann wie Brecht, der sein ganzes Werk in den Dienst des politischen K a m p f e s gestellt hatte, traf dieser Vorwurf von politischen Gesinnungsgenossen hart. E r vermochte diesen Vorwurf u m so weniger zu überwinden, als die Emigration und die politische Situation keine direkte Diskussion und Auseinandersetzung zuließen. 72
Deshalb sein Zorn gegen den in Moskau sitzenden Lukäcs. Da er sich in den Kreis der Dekadenz einbezogen sah, obwohl er selbst die spätbürgerliche Dekadenz verabscheute, gestaltete sich sein Verhältnis zu diesem Begriff — wie ihn Lukäcs etabliert hatte — außerordentlich kompliziert. E r konnte sich nicht mit dem passiven, auch politisch passiven Gebrauch des Begriffs abfinden. Die bürgerliche Ideologie und Literatur waren für ihn nicht einfach etwas, was zerfiel, sondern etwas, was als parasitäre Erscheinung äußerst aggressiv auftrat, das, wie er einmal bemerkte, als SS-Verbände Europa zerstampfte. Mit dieser Seite seiner Argumentation wandte er sich sowohl gegen Lukacs als auch gegen Adorno. 1 0 8 Lukäcs' Dekadenzbegriff schien ihm unbrauchbar, weil hier ein Fäulnisprozeß in der Art eines Naturvorgangs dargestellt war. Andererseits fehlte diesem Begriff aber auch das Prozeßhafte eines objektiven gesellschaftlichen Vorgangs. Wenn es auch nicht ausschließlich auf Lukäcs zurückzuführen ist, daß dieser Begriff in den späteren Jahren zu einer Art Schimpfwort herabsank, so war es doch seine Schubkastenmanier, seine finessenreiche, aber letztlich doch schematische Einteilung in Gestalter und Beschreiber, in Gesunde und Kranke, in Realisten und Dekadente, die diesen Begriff so herabgewirtschaftet hat. Das Problem der Dekadenz war für Brecht nicht von formaler Art; er sah es vor allem in der Verwüstung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch den Imperialismus. Diese Verwüstungen blieben für Brecht auch nicht immer ohne Folgen für den, der gegen die Verwüstungen kämpfte. Dekadenz sah Brecht auch in seinen eigenen Frühwerken, obwohl er schon damals keinen apologetischen Standpunkt einnahm. Gegen Lukäcs gewandt schrieb er, sich an seine eigene Produktion haltend: „die H A U S P O S T I L L E , meine erste lyrische Publikation, trägt zweifellos den Stempel der dekadenz der bürgerlichen klasse. die fülle der empfindungen enthält die Verwirrung der empfindungen. die differenziertheit des ausdrucks enthält zerfallselemente. der reichtum der motive enthält das moment der Ziellosigkeit, die kraftvolle spräche ist salopp, usw. usw. diesem Werk gegenüber bedeuten die späteren S V E N D B O R G E R G E D I C H T E ebensogut einen abstieg wie einen aufstieg, vom bürgerlichen Standpunkt aus 73
ist eine erstaunliche Verarmung eingetreten, ist nicht alles auch einseitiger, weniger .organisch', kühler, .bewußter* (in dem verpönten sinn)? meine mitkämpfer werden das, hoffe ich, nicht einfach gelten lassen, sie werden die HAUSPOSTILLE dekadenter nennen als die SVENDBORGER GEDICHTE, aber mir scheint es wichtig, dass sie erkennen, was der aufstieg, soweit er zu konstatieren ist, gekostet hat. der kapitalismus hat uns zum kämpf gezwungen, er hat unsere Umgebung verwüstet, ich gehe nicht mehr ,im walde so für mich hin', sondern unter polizisten. da ist doch fülle, die fülle der kämpfe, da ist differenziertheit, die der probleme. es ist keine frage: die literatur blüht nicht, aber man sollte sich hüten, in alten bildern zu denken, die Vorstellung von der blüte ist einseitig, den wert, die bestimmung der kraft und der grosse darf man nicht an die idyllische Vorstellung des organischen blühens fesseln, das wäre absurd, abstieg und aufstieg sind nicht durch daten im kalender getrennt, diese linien gehen durch personen und werke durch." 109 Wenn Brecht, hervorgerufen durch Lukäcs' Dekadenz-Beschuldigung gegen ihn, die Auswirkungen der Dekadenz auch zu weit in die kämpferische, realistische Produktion hineintrug, so ist doch richtig, daß oftmals auch der Kampf einseitig macht, Fülle und Lebendigkeit durch den Gewinn an Deutlichkeit und Parteilichkeit eingeschränkt werden. Wie auf politischem, so werden auch auf literarischem Gebiet Eroberungen eingeleitet, indem hin und wieder Terrain aufgegeben wird. Auf Schönheiten muß oftmals verzichtet werden, um den W e g zu neuen Schönheiten frei zu machen. So zeigt jeder literarische Vorstoß zugleich auch, „was er gekostet hat". In der Kontroverse mit Lukäcs erwiesen sich einige Begriffe, wie sie Lukäcs verwandte, als unhaltbar. Begriffe wie „breiter Reichtum des Lebens" wurden von Lukäcs unhistorisch, geradezu idealistisch gebraucht. Sowenig ein Standpunkt, der innerhalb der kapitalistischen Entfremdung verhaftet blieb (Adorno, Marcuse), als richtig angesehen werden konnte, sowenig aber konnte auch eine Auffassung geteilt werden, in der das Moment des Kampfes, der Gegensätze, des Klassenkampfes ausgespart blieb oder zumindest stark reduziert wurde. Deshalb richtete sich Brechts Kritik in ihrer welt74
anschaulichen Konsequenz auch immer auf die gedankliche Ausklammerung des Klassenkampfes, „die marxschen kategorien", schreibt Brecht gegen Lukäcs, „werden da von einem kantianer ad absurdum geführt, indem sie nicht widerlegt, sondern angewendet werden. D a ist der K L A S S E N K A M P F ein ausgehöhlter, verhurter, ausgeplünderter begriff, ausgebrannt bis zur Unkenntlichkeit... bei den lukäcs' ist der klassenkampf nur noch eindämon, ein leeres prinzip, das die Vorstellungen der leute verwirrt, nichts mehr, was stattfindet." 110 Lukäcs nahm für seine Erbeauffassung wiederholt Lenin in Anspruch. Zu Unrecht I Sieht man einmal davon ab, daß es Lenin in seinen Tolstoi-Analysen in erster Linie darauf ankam, wie Tolstois W e r k in die proletarische Bewußtseinsentwicklung und allgemeine Revolutionierung einbezogen werden kann, und weniger darauf, welche Rolle die Werke Tolstois f ü r die Weiterentwicklung einer sozialistischen Literatur spielen, so leitete Lenin aus Tolstois Werk keine irgendwie geartete Vorbildrolle ab. Schon gar nicht geschah das bei ihm in Hinsicht auf die Frage, wie ein besseres Leben erkämpft werden kann. Lenin zeigte nicht einen Tolstoi — wie bei Lukäcs —, dessen Realismus über seine antirevolutionäre Seite siegt, sondern wie die verschiedenen Seiten und Linien, u m hier die Ausdrucksweise Brechts zu gebrauchen, durch die Person und das W e r k hindurchgehen. Lenin bemerkte über •das Werk Tolstois: „Aber sein E r b e enthält etwas, was nicht •dahingegangen ist, was der Zukunft gehört. Dieses Erbe übernimmt das russische Proletariat, an diesem E r b e arbeitet e s . " 1 1 1 A u f den Hinweis „an diesem E r b e arbeitet es" kommt alles an. Denn damit brachte Lenin zum Ausdruck, daß eine revolutionäre Aneignung des Erbes darin besteht, nicht nur Verpflichtungen und eine Vorbildrolle aus der Vergangenheit abzuleiten, sondern mit dem E r b e wirklich zu arbeiten. Der in einem Werk abgebildete Stand der Kämpfe sollte in Vergleich zum gegenwärtigen Stand der Klassenkämpfe gerückt werden, damit auf diese Weise der Leser Genuß und Erkenntnis über den Verlauf des menschlichen Emanzipationskampfes, des Kampfes um die Befreiung des Menschen gewinne. Lenin appellierte an den Wirklichkeitssinn der Leser, die ihren ästhetischen Genuß aus dem Vergleich des Werkes mit der realen
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Entwicklung in der Gegenwart ziehen. Im Gegensatz dazu leitete Lukacs vorwiegend formale Kriterien aus dem Erbe ab. Gegen Lukacs' Erbevorstellung wandte Brecht ein: „aus dem ERBE werden oft genug lediglich Verpflichtungen abgeleitet und zwar nicht nur qualitativer art, sondern solche zu ganz bestimmten qualitäten, d. h., die ästhetischen kriterien werden zu fixen grossen ernannt..." 1 1 2 In dieser ästhetischen Formalisierung des Erbes sah Brecht eine Gefahr. Er sah sie nicht nur für die Schriftsteller, die auf nur ein ästhetisches Programm eingeschränkt wurden, sondern auch darin, daß mit einer solchen formalisierten Erbeauffassung das Proletariat, wie Lenin sagte, gar nicht „arbeiten" kann.
Der Einfluß des historischen Materialismus auf Brechts Erbekon^eption Brechts Haltung zur literarischen Tradition, soll sie nicht oberflächlich nur als weltliterarischer Motivbezug aufgefaßt werden, muß im Gesamtzusammenhang der Kultur gesehen werden. Das literarische Erbe ist nur ein Teil dessen, was wir als kulturelles Erbe bezeichnen. Wenn Brecht auf dem Pariser Schriftstellertreffen vor einer allgemeinen Beschwörung im Namen der Kultur warnte, weil sie nirgends und niemand helfe, am wenigsten der Kultur selber, so müssen diese Überlegungen als Teil seiner Auffassung vom kulturellen Erbe mit in die Betrachtung einbezogen werden. Ging er bei seiner Forderung, nicht in erster Linie über Kultur, sondern über die Eigentumsverhältnisse zu reden, doch davon aus, daß der Inhalt und die Entwicklungsrichtung der Kultur von den Produktionsverhältnissen bestimmt werden. Viele progressive Intellektuelle der dreißiger Jahre sahen in der Kultur vorwiegend etwas „rein Geistiges", sie erkannten nicht, daß sich der Charakter der Kultur in letzter Instanz aus den historisch-konkreten Formen der materiellen Produktion der jeweiligen Gesellschaftsformation ableitet. Diesen Zusammenhang hatte die speziell in Deutschland betriebene bürgerliche Kulturtheorie mit der These vom Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation übertüncht. Dazu bemerkte Brecht: „Nichts 76
ist frecher als die schlaue Trennung der Begriffe Kultur und Zivilisation, mit der schon die Halbwüchsigen in den Volksschulen bekannt gemacht werden." 113 Immer wieder mußte Brecht bei seinen bürgerlichen Freunden feststellen, daß gerade sie, die sich am meisten mit dem Phänomen der Kultur beschäftigten, dieser „frechen" Täuschung erlegen waren. Eine solche Täuschung verstellte den Blick auf die revolutionäre Aneignung des Erbes. Mit ihr wurde versucht, die allzu offensichtlichen Unstimmigkeiten und Widersprüche im Gesamtgefüge der Kultur von dem geistigen Bereich der Kultur fernzuhalten und abzulenken. Auch sollte der Anspruch des „rein Geistigen" die materiellen Interessen der bürgerlichen Kultur besser verbergen helfen. Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge belehrte Brecht, daß jede isolierte Betrachtung einer großen Kunstleistung der Vergangenheit ohne Berücksichtigung des Gesamtzustands der Kultur der herrschenden Klasse wirkungslos bleiben mußte. Mit der Einsicht, daß dieses und jenes Kunstwerk so zu verstehen ist, wie es von der herrschenden Kultur „verbraucht" wurde, war zwar eine kritische Haltung möglich, aber dennoch blieb der Zugang zu einer gesellschaftlich produktiven Haltung zu schmal. Gerade weil sich Brecht bewußt war, wie die herrschende Klasse über ihre Politik den sozialen Inhalt der Kultur beeinflußte und präparierte, sah er auch, wie bestimmte progressive und enthüllende Inhalte durch den Gesamtmechanismus der bürgerlichen Kultur integriert werden konnten. Auf der Suche nach produktiven Möglichkeiten, die den Eingriff in die bürgerliche Kultursteuerung denkbar machten, verdeutlichte er sich die Kultur als etwas sehr Widerspruchsvolles. In ihr, so legte er dar, existieren Elemente, die ihre Rolle ausgespielt und zu Elementen der Unkultur geworden seien, und es gebe andere Elemente, die weiter bestünden, aber auf Grund des bürgerlichen Gesamtcharakters der Kultur in Bedrängnis geraten seien und die nunmehr verteidigt werden müßten. „Aber das an ihr, was immer noch an der Entwicklung der Produktivkräfte mit beteiligt ist, wird verteidigt werden müssen, und zwar gerade von uns und wohl bald nur mehr von uns." 114 77
Für Brecht stellte sich die Kultur schon deshalb widerspruchsvoll dar, weil sich in ihr der Konflikt widerspiegelte, in den die Produktivkräfte zu der Produktionsweise geraten waren. Dieser Widerspruch lähmte nicht nur die menschliche Produktivität, er deformierte auch die Gesamtheit der Kultur. Ein solcher Zustand hatte zur Folge, daß die einzelnen Kunstwerke der Vergangenheit nicht mehr die ihnen eigene Wirkung auszuüben vermochten. Die Krise der bürgerlichen Kultur, so analysierte Brecht, sei offensichtlich, „wenn die alten Beschwörungen niemand mehr hört, weil jedermann durch die Schreckensrufe der Vergewaltigten und Hungernden taub geworden ist." 115 Auf diese Weise wurde Brecht klar, daß es nicht unbedingt an den alten Kunstwerken zu liegen brauchte, wenn von ihnen nicht mehr die aus den Entstehungsbedingungen erwarteten Wirkungen ausgingen. Nicht die Kunstwerke waren verbraucht, wohl aber die Existenzweise, über die sich der Stoffwechsel zwischen Kunstwerk und Kunstaufnehmenden vollzog. Da aber das literarische Erbe seine Wirkung über das Gesamtsystem der Kultur ausübt, war es nicht allein damit getan, das Verhältnis vom einzelnen Kunstwerk zum einzelnen Kunstaufnehmenden „in Ordnung" zu bringen. Welche theoretischen und praktischen Schlußfolgerungen zog nun Brecht aus dieser Erkenntnis ? Zunächst war der „schauderbare Zustand" der Kultur für ihn kein Grund, in die ziemlich abstrakte Losung „Rettet die Kultur" einzustimmen. Andererseits hielt er es nicht für marxistisch, aus diesem Zustand den Schluß zu ziehen, die Kunst sei für den Klassenkampf nicht brauchbar und müsse als affirmativ verworfen werden. Weder der Rettungsschrei noch die Verwerfungsgeste waren für ihn eine Alternative. Brecht schlug eine Lösung vor, die heute zunächst mehr schockiert als überzeugt. Das Proletariat müsse sich, so meinte er, an der Zerstörung der schon zerstörten Kultur beteiligen; denn wie das Proletariat die Produktionsmittel nur in einem durch Krieg und Krise heruntergewirtschafteten Zustand bekomme, so bekomme es auch die Kultur nur im zerstörten und befleckten Zustand. Diese These von Brecht klingt reichlich proudhonistisch. Man muß sie jedoch in Beziehung zu seiner Gesamtauffassung bringen, 78
nach der es in der herrschenden Kultur Elemente gibt, die zu Elementen der Unkultur geworden sind, weil sie das Verfallende stützen, das Destruktive beschönigen, das Chaotische mit dem Schein einer höheren Ordnung umgeben. Diese Elemente der herrschenden Kultur sollen, um im Sprachgebrauch Brechts zu bleiben, zerstört werden. Jene Elemente aber, „die in Bedrängnis geraten sind", die Ausdruck der eingeschränkten Produktivität menschlicher Wesenskräfte sind, müssen verteidigt beziehungsweise in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen freigesetzt werden. Eine solche Sicht der Dinge war für Brecht der weltanschauliche Ausgangspunkt für seine Stellung zur Kultur und zum Kulturerbe. Die Aneignung des literarischen Erbes konnte deshalb für Brecht kein passiver Vorgang sein. Das Proletariat übernahm die Kultur nicht unbeschädigt aus den Händen der Bourgeoisie. Auch konnte niemand erwarten, wie Brecht schreibt: „daß es sich bei diesem Erben um ein friedliches fleißiges Hereinschaffen herrenlos im Regen stehengelassener Güter handeln könnte." 116 Die Aneignung des Erbes vollzog sich im Kampf, der weit über die politische Machtübernahme durch das Proletariat fortdauert, der in verschiedenen Formen bis in die entwickelte sozialistische Gesellschaft hineinwirkt. Eine materialistisch-dialektische Erbeaneignung wird deshalb nicht nur die historische Situation des aufzunehmenden Kunstwerkes in Betracht ziehen. Sie wird die historische Position, den Ideengehalt eines alten Kunstwerkes vor allem in Beziehung zu der gesellschaftlichen Situation setzen, von der aus den Anknüpfung erfolgt. Im dialektischen Spannungsverhältnis zwischen historischer Position des aufzuhebenden Kunstwerkes und den Kristallisationspunkten der gegenwärtigen Gesellschaftsanalyse vollzieht sich der eigentliche Aneignungsvorgang, der auf diese Weise zu einem Vorgang der Auseinandersetzung, des Kampfes wird. Denn zwischen den beiden Polen liegt das, was das literarische Erbe bisher war. Die Aneignung des Erbes durch die Arbeiterklasse kann nur dadurch erfolgen, daß die bisherigen Interpretationsmuster des literarischen Erbes überwunden, beziehungsweise dialektisch aufgehoben werden. Aber gerade das ist ein komplizierter Vorgang, der nicht ohne Kampf vor sich geht und der nicht ohne die kul79
turelle Anstrengung der neuen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gelingt. Für den Zeitraum der Entstehung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft, in der die Ablösung der alten, mit der Arbeiterklasse verbundenen Dichtergeneration durch eine neue, von der sozialistischen Gesellschaft erzogene Dichtergeneration erfolgt, entwickelte Brecht eine merkwürdige und komplizierte Theorie. Eigentlich ist es nur die Grundskizze einer Theorie, die er in sein Arbeitsjournal eintrug. Später ist er auf sie nicht mehr zurückgekommen. Aus ihr läßt sich Brechts Verhältnis von Tradition und Neuerertum rekonstruieren. Auch gibt diese Theorie, die hier die F U N K T I O N D E R V O R K Ä M P F E R genannt werden soll, Aufschluß darüber, worin Brecht die Schwierigkeit und Kompliziertheit der neu entstehenden Literatur in ihrem Verhältnis zum Erbe sah. Brecht eröffnete seine Überlegungen mit der Erklärung, man zögere oft, ihn — wie auch andere mit dem Proletariat verbundene Schriftsteller — als bürgerliche Schriftsteller zu bezeichnen. Völlig zu Unrecht, meinte Brecht, denn wenn Dichter wie er die Sache des Proletariats verteidigten, so beweise das nur, daß das Proletariat in dieser Zeitspanne eben bürgerliche Dichter habe. Eine solche Feststellung mag überraschen. In dem hier zu erörternden Zusammenhang ist sie sekundär, zumal Brecht weiter ausführte, diese bürgerlichen Schriftsteller stünden in einer Reihe mit jenen bürgerlichen Politikern, die die Sache des Proletariats zu der ihrigen gemacht haben. Die Frage nach der sozialen Herkunft wird in dem Maße unwichtig, wie sich ein Schriftsteller zum Gesamtverständnis des Proletariats hinaufgearbeitet hat. Wesentlicher und aufschlußreicher ist jedoch, daß Brecht den aus der bürgerlichen Klasse kommenden, mit dem Proletariat verbundenen Schriftstellern eine ihrer historischen Situation entsprechende spezifische Funktion zuwies. Diesen Schriftstellern, die er als bürgerliche Vorkämpfer des Proletariats bezeichnete, obliege vor allem, die literarische Tradition mit den großen Neuerungen der sozialistischen Literatur zu verbinden. Über diese „Vorkämpfer" vollziehe sich die Dialektik von Tradition und Neuerertum. Ihre Funktion sei gerade dadurch 80
gegeben, daß sie gewisse Phasen der bürgerlichen Kultur mit vollzogen, ihr aber zugleich kritisch, ja antagonistisch gegenübergestanden hätten. Dagegen falle der „neu anfangende", also jener Schriftsteller, der aus dem noch nicht zur Macht gekommenen Proletariat hervorgegangen ist, dadurch, daß er die Tradition noch nicht beherrsche, leicht unter die Herrschaft der Tradition. 117 Nachdem aber das Proletariat gesiegt habe, werde die Funktion der „Vorkämpfer" eine rein formalistische. Ihre Schwäche bestehe darin, daß sie, durch die Entwicklung überholt, nur mehr die Form entwickeln würden, während der Vorstoß zu neuen Gegenständen nicht mehr von ihnen, sondern von den neu auf den Plan tretenden Dichtern der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ausgehe. Aus den Händen der „Vorkämpfer" aber empfange die neue sozialistische Dichtergeneration jenes Arsenal, das sie zur Bewältigung ihrer Aufgaben benötige. Hierbei stellte Brecht drei Elemente heraus: Erstens: Den Dichtern der sozialistischen Gesellschaft würden die „höchstentwickelten ausdrucksmittel" ausgehändigt. Diesen Gesichtspunkt betrachtete Brecht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erbe. Wie an anderer Stelle schon dargelegt, sah Brecht in der technischen Kultur der Kunst ein sehr wesentliches Erbeproblem, da ja gerade die Kunstmittel, die gesamte Ausdrucksbasis der Kunst, eine lange Zeit zu ihrer Entwicklung brauchen. Obwohl Form für ihn nichts anderes als organisierter Inhalt war, unvorstellbar ohne inhaltlichen Ausgangspunkt, wußte er um den komplizierten Ablösungsprozeß der Form wie der Mittel vom Inhalt. Daher waren für ihn auch Werke ein Gegenstand der Erbeaneignung, die von ihrem Inhalt, von ihrem Ideengehalt nicht als humanistisches Erbe in Betracht kamen, die aber auf ihre Weise zur Herausbildung und Kultivierung bestimmter literarischer Techniken und Ausdrucksmittel beigetragen haben. Zweitens: Durch die Arbeiten der „Vorkämpfer" wären bereits „elemente der neuen kultur" entwickelt worden. Diese neuen Elemente, so betonte Brecht, treten vor allem im Kampf am schärfsten hervor. Folgt man seinen Ausführungen genau, so bilden sie sich vor allem in der Zeit heraus, in der, wie der Dichter sagte, die Träume den Taten vorausfliegen. Dabei sei 6
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es nicht zuletzt die den Träumen innewohnende Vagheit, die das „neue feld" unbegrenzt erscheinen lasse. Brecht ging hier von der Kraft des revolutionären Ideals aus, das einer um die Macht kämpfenden Klasse hilft, Berge zu versetzen. Eine Literatur im Dienste einer solchen Sache kennt keine Grenzen, sie steckt weitläufige Wegstrecken und Ziele ab, sie ist oftmals nicht so vom Zwang der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung mit ihrer Orientierung auf die nächstliegenden Etappen abhängig. Bei der Skizzierung der neuen Formen des menschlichen Zusammenlebens tauchen noch nicht die kleinen, zählebigen Schwierigkeiten der alltäglichen Umsetzung auf. Die „Schwierigkeiten der Ebenen" behindern noch nicht den Ausblick auf die Höhen. Dieses unbegrenzt erscheinende Feld spornte an, lenkte auf weite Perspektiven und große Dimensionen. Mit den „dementen der neuen kultur" wurden die Maßstäbe für eine Literatur überliefert, die ihren Gegenstand in der von der kapitalistischen Fessel befreiten menschlichen Produktivität sehen, die direkter Ausdruck menschlicher Wesenskräfte geworden sind. Drittens: Einen wesentlichen Beitrag der „Vorkämpfer" erblickte Brecht in der Ausarbeitung der „technik des neuen Anfangs". Eine solche Technik könne am besten von denen entwickelt werden, die sich in der Tradition auskennen, weil sie von ihnen noch in der alten Form mit vollzogen wurde, die aber zugleich jenes distanzierte, kritische Verhältnis zu ihr haben, das jede Einschüchterung durch Tradition ausschließt. Um die „technik des neuen Anfangs" zu entwickeln, bedurfte es nach Brecht einer Zeitspanne, die den Zwang zur Tradition nicht kennt und die dennoch nicht ohne Tradition auskommen wollte, in der der Kampf u m und g e g e n die Tradition hin und her tobt. Es durfte nicht der Wind der Tradition sein, der zu neuen Ufern trieb, wer aber neue Ufer ansteuerte, brauchte auch den Rückhalt der Tradition, um sie zu erreichen. Die Theorie Brechts ist in ihrem Hauptgesichtspunkt sicher zu mechanisch, weil das Problem der Beherrschung oder der Herrschaft der Tradition nicht teilbar ist zwischen den mit dem Proletariat verbundenen „Vorkämpfern" und den Dichtern des Proletariats. Die Vermittlung zwischen Erbe und Neuerertum wurde sowohl von den einen wie den anderen 82
wahrgenommen. Die Inbesitznahme des gesamten Erbes, der humanistischen Tradition, durch die proletarischen Schriftsteller wie durch das Proletariat als Klasse wurde hier von Brecht unterschätzt. Sieht man aber von dieser Unterschätzung und mechanischen Aufspaltung ab, so griff Brecht mit seinen Überlegungen einige Probleme auf, die Einblick in die überaus komplizierte Dialektik zwischen Tradition und Neuerertum ermöglichten. Eine wichtige Entwicklung in Brechts Verhältnis zur Tradition vollzog sich in den Jahren des Exils. Die Betrachtung der Kunst führte ihn zur Kunst der Betrachtung, die lehrt, einen „Gegenstand richtig, daß heißt tief, umfassend und mit Genuß zu betrachten."118 Auf diese Weise erschloß sich ihm ein größeres Verständnis für die historische Dimension eines Kunstwerks. In den zwanziger Jahren äußerte sich zum Beispiel Brecht über Schillers Wallenstein noch dahingehend, daß dieses Stück neben seiner Brauchbarkeit für Museumszwecke auch einen gar nicht geringen „Materialwert" besitze. Solche Bemerkungen sind in den Jahren der Emigration schon von der Diktion her nicht mehr zu finden. Die schnoddrige, wenn auch nie gleichgültige Art gegenüber dem Erbe ist dem Bemühen um ein tieferes Erfassen des historischen Anliegens gewichen. Im Messingkauf wird von dem Dramaturgen die Frage gestellt: Was würde ein Marxist mit dem Wallenstein machen? Darauf folgt die Antwort des Philosophen: „Er würde den Fall als historischen Fall darstellen, mit Ursache aus der Epoche und Folgen in der Epoche.. . Die moralische Frage würde er ebenfalls als eine historische Frage behandeln. Er würde den Nutzen eines bestimmten moralischen Systems innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sein Funktionieren beobachten und durch seine Anordnung der Vorfälle klarlegen."119 Diese Ausführungen zeigen die stärkere Wendung Brechts zu den historischen Voraussetzungen eines Kunstwerkes. Ein Gesichtspunkt, den Brecht zwar auch in den zwanziger Jahren nicht aus dem Auge verlor, der ihn aber damals nicht näher an die Gegenwart heranführte. Im historischen Feld als Entstehungsbedingung für ein Kunstwerk sah Brecht damals nicht die Möglichkeit, neue Impulse zu gewinnen. Diese erhoffte er sich weit mehr dadurch, daß er die 6*
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Stücke kräftig gegen den historischen Strich bürstete. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Methode des epischen Theaters wurde aber der Vorgang des Historisierens zu einem wichtigen Moment seiner Dramaturgie. Die Anregungen dazu kamen ohne Zweifel durch eine stärkere Beschäftigung mit dem historischen Materialismus. Alte Probleme erschienen plötzlich in einem neuen Licht, die Erkenntnisse des vergangenen Jahrzehnts, ausgelöst durch gesellschaftliche Ereignisse, wurden von ihm anhand neuer gesellschaftlicher Erfahrungen überprüft. Die neuen Einsichten, die auf diese Weise gewonnen wurden, erstreckten sich auf die Gesamtheit seines Wirkens, sie fanden sowohl in der Dramaturgie seiner Stücke, seiner Theatertheorie und -methode wie in seinem Verhältnis zum welthistorischen Erbe ihren Ausdruck. Im ersten Kapitel wurde bereits dargelegt, daß Brecht seine Einwände gegen die großen klassischen Werke der Vergangenheit mit der nicht mehr haltbaren „Mittelpunktstellung" des Individuums begründete. Der Krieg und die großen Klassenschlachten hatten Brecht belehrt, daß eine Dramatik, die nicht nur ihre Stoffe, sondern auch ihre gesamte ästhetische Basis vom Individuum her organisierte, ein Anachronismus war. Nicht die Einheit, sondern die „Zuteilbarkeit" des Individuums war für ihn die Entdeckung. Deshalb verkündete er, daß das neue, „dialektische" Drama ohne das Individuum auskomme, ohne den „großen Einzelnen", der für ihn kein Verhältnis ergab. 120 Der Anstoß zu diesen Überlegungen kam von der Wirklichkeit selbst, und die Wirklichkeit war es auch, die dieses Problem wieder neu stellte. Es muß zu Beginn oder auch noch vor der Emigration gewesen sein, als sich Brecht wiederum mit dem Problem „Individuum und Masse" beschäftigte. Auch jetzt interessierte ihn wieder die „Teilbarkeit" des Individuums. Er fand, daß bisher immer der falsche Weg beschritten worden sei, um den Massenbegrilf zu bestimmen. Immer sei vom Individuum aus das Massenhafte gesucht worden, statt das Individuum vom Massenhaften her zu sehen und aufzubauen. Innerhalb dieser Erörterung bestimmte er die Rolle des Individuums jedoch weit differenzierter. Ohne das „große Individuum" zu rehabilitieren, ließ er den Schlachtruf gegen das Individuum fallen 84
und analysierte die Eigenart des Individuums als kleinsten Teil der Masse. „Das I n d i v i d u u m erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse", schreibt Brecht. „Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen..." 1 2 1 Der Begriff des Individuums als „kampfdurchtobte Vielheit" war ein weit produktiverer Ausgangspunkt für die Literatur als die starre AntiIndividuum-Position. Über ihn ließ sich auch die Stellung des Individuums, des „großen Einzelnen", in den Werken der Vergangenheit besser erschließen. Er ermöglichte eine größere historische Einsicht. Man muß bei dieser Problematik immer bedenken, daß sich in der Literatur, insbesondere im Drama, die Auffassung vom Machtfaktor der Persönlichkeit viel hartnäckiger gehalten hat als in der Geschichtsschreibung und selbst in der Politik. Nicht zuletzt lag der Grund dafür in der formalistischen, idealistischen bürgerlichen Traditionsauffassung. So konservierte die Literatur die undialektische Ansicht von der beherrschenden Rolle der Persönlichkeit noch zu einer Zeit, als sie in der Geschichtsschreibung schon stark erschüttert war. Dazu kam, daß das Problem „Individuum und Masse" in der Literatur von einer anderen Seite her diskutiert wurde als in der Geschichte. In der Geschichte zeigte sich die „große Persönlichkeit" — wie Plechanow treffend charakterisierte — vor allem als der „Beginner". Gefragt wurde, ob die Geschichte auch ohne die „große Persönlichkeit" so verlaufen wäre. In der Literatur stellte sich dieselbe Frage anders. Nicht um das Problem der Auswechselbarkeit des Individuums ging es in erster Linie, sondern um die „Auslöserfunktion" der großen Persönlichkeiten. War doch der gesamte Wirkungsmechanismus der Kunst darauf ausgerichtet, wie der Held mit der Zeit, mit der Geschichte fertig wurde. Die ästhetische Gesetzmäßigkeit organisierte tatsächlich alles Interesse nicht auf die historischen Prozesse, sondern auf das „große Individuum". Plechanow, der gegen die falsche Vorstellung polemisierte, was in der Geschichte als „groß" angesehen wird, faßte das Problem zusammen, indem er sehr schön formulierte: „Nicht vor den,Beginnern' allein, nicht 85
allein vor den .großen' Männern liegt ein breites Feld der Tätigkeit offen. Dieses Feld steht allen offen, die Augen haben, um zu sehen, Ohren, um zu hören, und ein Herz, um ihre Nächsten zu lieben. Der Begriff groß ist ein relativer Begriff. Im sittlichen Sinne ist jeder groß, der, um mit den Evangelisten zu reden, ,sein Leben lässet für seine Freunde'." 122 In der Kunst aber gestaltet sich eine solche Einsicht dennoch schwierig. Der Kunstgenuß realisiert sich vorwiegend über die erzählte Geschichte, über die Fabel — die Brecht als Realist nicht bereit war preiszugeben —, die Fabel aber wiederum verlangte nach dem Individuum, nach Begebenheit, nach der außergewöhnlichen Situation. Während Brecht auf der einen Seite durch seinen Wirklichkeitssinn und die politischen Ereignisse auf das Prozeßhafte, Massenhafte hingelenkt wurde, drängte ihn andererseits seine Auffassung vom realistischen Abbild, von der Fabel, wieder zum Individuum in der großen Entscheidungssituation hin. In den Jahren der Emigration suchte er diesen Kreislauf dadurch zu durchbrechen, daß er die starre Gegenüberstellung von „großem Individuum" und „Prozeßhaftem" aufgab. War Brecht nach dem ersten Weltkrieg fasziniert von den objektiven Faktoren der geschichtlichen Entwicklung, so erkannte er in der Emigration durch das Studium der neuen politischen Wirklichkeit und der Werke Lenins, daß allzu objektivistische Sätze bestimmte Handlungen verhindern und notwendige Unterschiede verwischen. Anhand von Lenins Objektivismus- und Materialismusauffassung machte er sich klar, daß ein Marxist solchen Sätzen wie „Große Männer machen die Geschichte" nicht als Objektivist entgegentreten darf. Die gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit wurde von ihm jetzt nach den Handlungsmöglichkeiten des Individuums abgesucht. „Wenn du die Notwendigkeit einer Reihe von Tatsachen feststellst, so vergiß nicht", vermerkte er, „daß du selbst auch eine dieser Tatsachen bist, und bestimme die Notwendigkeit möglichst genau, sie braucht nämlich, um eine Notwendigkeit zu sein, ganz bestimmtes Handeln."1® Diese Erörterungen über den Handlungsspielraum des Individuums innerhalb des historischen Prozesses führten Brecht 86
zu dem Problem der „inneren Kämpfe" des Individuums, das ihn jetzt von der Individuum-Masse-Beziehung her interessierte. Unter „inneren Kämpfen" verstand Brecht allerdings nicht psychologische Verirrungen und Ängste des Individuums der spätbürgerlichen Gesellschaft, sondern jenen komplizierten Prozeß, in dem sich das Individuum zu den großen gesellschaftlichen Aktionen seiner Klasse hindurchringt. Das Neue, so beschrieb Brecht die revolutionäre Situation, erweise sich zwar als das Notwendige, und doch werfe sich der Mensch „in das Neue nur im Notfall". „ . . . jedermann, der eine revolutionäre Erhebung studiert hat, weiß, welche inneren Schwierigkeiten eine Masse hat, sich zu e r h e b e n . . . In diesem Prozeß haben sie eine Menge aufzugeben und viel zu riskieren. Beinahe als das wenigste wird dabei merkwürdigerweise das Leben selber angesehen. Es wird häufig leichter riskiert als etwa eine ärmliche Wohnung." 124 Damit ist ein neuer Zugang zu den Handlungsmöglichkeiten des Individuums hergestellt, und zwar in der Hinsicht, wie Plechanow große Vorgänge definierte. Diese aus neuen Zusammenhängen gewonnene Größe verlor ihre Aussagekraft nicht im Prüffeld gesellschaftlicher Kausalität, sondern stützte sich auf sie. Wenn die „große Persönlichkeit" im marxistischen Sinne jene ist, die die Fähigkeit besitzt, den großen gesellschaftlichen Bedürfnissen ihrer Zeit zu dienen, so ist eine solche Persönlichkeit auch der „einfache Mensch", der sich auf die Höhe der revolutionären Vorgänge seiner Klasse erhebt. Die inneren Widerstände, die er dabei zu überwinden hat, sind jene „welthistorischen Konflikte", jene „Auslöser-Situation", die ihn zum „großen Individuum" im Sinne der Geschichte wie der Literatur machen. Wandte Brecht in den zwanziger Jahren gegen Shakespeare ein, daß bei ihm die Helden die großen gesellschaftlichen Entscheidungen in „ihrer Brust austragen", so verstand er jetzt, daß auch die großen, durch die Massen herbeigeführten welthistorischen Entscheidungen in der „Brust" des einzelnen Individuums ausgekämpft werden. Vertrat er anfangs die Auffassung, ein Kollektiv sei erst dann lebensfähig und trete gesellschaftlich in Erscheinung, wenn es auf das Einzelleben des Individuums nicht mehr ankomme,125 so erkannte er jetzt, daß im einzelnen 87
Individuum die gleichen Prozesse vor sich gehen wie in der Masse. Im amerikanischen Exil fanden diese Überlegungen unter anderem Aspekt ihre Fortsetzung. Brecht verband seine Studien über den historischen Materialismus und die marxistische Erkenntnistheorie mit einigen Problemen des neuen Weltbildes der Naturwissenschaftler. Er las Max Plancks Determinismus oder Indeterminismus. Aus diesem Buch zitierte er den Satz: „,es ist unmöglich, das innere eines körpers zu sondieren, wenn die sonde größer ist als der ganze körper.'", und stellte fest: „auch der historische materialismus weist diese .unscharfe' in bezug auf das individuum auf." 126 Für ihn bestand das Problem darin, wie anhand von Geschichten über gesellschaftliche Vorgänge, die sich unter Individuen abspielen, der gesellschaftliche Kausalkomplex sichtbar gemacht werden kann. Er sah den Kunstgenuß für den heutigen Betrachter nicht mehr gewährleistet, wenn die künstlerischen Abbildungen gesellschaftlich nicht stimmen, wenn sie keine Gesetzmäßigkeit erkennen lassen. Dabei verwarf er jede Vorstellung, daß etwas völlig ausdeterminiert sein könne. Auf diese Weise aber blieb auch jene „Unschärfe" in bezug auf das Individuum. Brecht erklärte sie so: „beim menschlichen handeln ist es so: wenn sich eine bestimmte qualität von gründen aufgehäuft und durchgesetzt hat, entsteht eine neue qualität, und ein entschluß erfolgt oder eine handlung. durch die qualitätsänderung können die gründe dann nicht mehr rekonstruiert werden." 127 Auch hier ist wieder deutlich zu spüren, daß es Brecht darauf ankam, für eine Literatur, die gesellschaftliche Zusammenhänge aufzudecker versuchte, das Feld des menschlichen Handelns möglichst breit zu halten. Die Literatur konnte zwar nicht davon ausgenommen werden, mit Gründen zu operieren, aber ein völliges „ausdeterminieren" der Vorgänge schien ihm ganz hoffnungslos und unmöglich. Eine Stütze in seinen Überlegungen sah er in der Wahrscheinlichkeits-Kausalität der Physiker, die er mit den gewonnenen Erkenntnissen über den historischen Materialismus zu verbinden suchte. Die Beschäftigung mit dem historischen Materialismus war für Brechts Schaffen nicht weniger folgenreich als das Studium 88
des Kapitals von Karl Marx in den zwanziger Jahren. Die Spuren dieser Beschäftigung erstrecken sich auf alle Gebiete seines Denkens. Insbesondere lernte er in dieser Zeit das Werk Lenins und die Probleme der praktischen Revolutionsbewältigung kennen. Das Lenin-Studium dieser Jahre, obwohl es aus seinen theoretischen Schriften genau ablesbar ist, wurde von der Brecht-Forschung bisher viel zu wenig beachtet. Allenthalben wird auf den großen Einschnitt seines Lebens durch das Studium des Kapitals aufmerksam gemacht. Die Bekanntschaft mit dem Werke Lenins löste bei Brecht eine ähnliche Wendung aus, vor allem aber trug sie mit dazu bei, die Distanz zwischen Theorie und Praxis zu überwinden, die Brecht in den zwanziger Jahren noch anzumerken war, als er auf die Seite des Proletariats überwechselte. „Brecht", so erklärte Hanns Eisler, „hat mehr von Lenin gelernt, als man allgemein weiß . . . Sein Lieblingsaufsatz war ,Über das Besteigen hoher Berge' von Lenin, den er für eines der großen Meisterwerke der internationalen Literatur hielt. Er las den Lenin sehr gut. Und was ihm bei Lenin besonders gefiel, war: Prinzipienfestigkeit — nicht ohne Schlauheit. Die Leninsche List — die List, die Vernunft dort einzuschmuggeln, wo sie sonst verbannt ist, oder sie aus dem Sumpf zu holen, wo sie gerade einsinkt; das konnte geschehen mit Grobheit, aber auch mit Schlauheit, mit Prinzipienfestigkeit und mit einer wendigen Taktik —, ja, das hat den Brecht ungeheuer begeistert... Ich würde folgendes vorschlagen: Brecht hat die Methode des dialektischen Materialismus von Marx und von Lenin gelernt und sie in seiner Weise in seiner Poesie und in seinen Dramen und in seinen Prosaschriften angewandt. Dann haben wir alles drin: den dialektischen Materialismus, den Marx und vor allem auch den Lenin, der nicht weggelassen werden kann . . . Also muß er beschrieben werden als Schüler dieser großen Meister."128 Eisler wies vor allem darauf hin, daß Brecht Lenins Werke in einer Zeit studierte, als der Revisionismus alles versuchte, um Lenin von Marx wegzurücken. Brechts Suche nach einer Lebenshilfe im Werk Lenins war zugleich eine wesentliche weltanschauliche Entscheidung, die heute von der bürgerlichen Brecht-Forschung gern durch allerlei Legenden verschleiert wird. 89
Die Hinwendung zum historischen Materialismus, zur Beschäftigung mit solchen Problemen wie Individuum und Masse, vollzog sich nicht zuletzt durch die politische Entwicklung im faschistischen Deutschland. Unter den progressiven bürgerlichen Intellektuellen tauchte immer wieder die Frage auf, wie kommt es, daß ein Mann wie Hitler ein ganzes Volk in die Irre führen kann. Sie wurden, wie Brecht in seinem Arbeitsjournal vermerkte, nicht mit dem „Phänomen Hitler" fertig. So kam es zum Beispiel im Hause Feuchtwanger immer wieder zu Diskussionen über die Frage: Ist Hitler ein Hampelmann? Die progressiven bürgerlichen Intellektuellen wollten Hitler keineswegs die Rolle des „großen Mannes" zubilligen und charakterisierten ihn deshalb als einen unbedeutenden Mimen, der die Geschäfte der Reichswehr besorgte. Brecht fand diese Haltung weder vom propagandistischen noch vom historischen Standpunkt aus sehr sinnvoll. So machte er darauf aufmerksam, daß Feuchtwanger und andere nicht sahen, daß das Kleinbürgertum keine selbständige Klasse ist. Das Kleinbürgertum sei immer nur Objekt der Politik, und zwar gegenwärtig der großbürgerlichen Politik.129 Feuchtwangers Haltung gegenüber dem „Phänomen Hitler" schien Brecht schon deshalb sinnlos, weil sie viel zuwenig gesellschaftlich zu aktivieren vermochte. Auch hier ging es ihm wieder um das Problem, daß das Auffinden von gesellschaftlichen Ursachen und Gründen in der Literatur wie im gesellschaftlichen Leben nicht dazu führen dürfe, Vorgänge einfach verständlich, anstatt veränderbar zu finden. Die literarische Gestaltung des Individuums durfte durch die Aufhellung objektiver, vor allem ökonomischer Faktoren nicht Lähmung hervorrufen, sondern mußte gerade die Möglichkeiten des Individuums als Teil der Masse zeigen. Dem Publikum mußte durch Kunstwerke klarwerden, daß das Individuum, wie Brecht sagte, unter Tatsachen selbst eine Tatsache ist und unter bestimmten Umständen sogar eine Tatsache von beträchtlicher Dimension sein kann. So erkannte er während seiner Arbeit am Cäsar-Roman nicht ohne Bestürzung, daß er den Leser keinen Augenblick glauben lassen darf, daß es so kommen mußte, wie es kam.130 Diese neue Sicht auf die Persönlichkeit, die von der Ein90
sieht in die Kraft des Individuums als eines gesellschaftlichen Faktors ausging, hat vielleicht in der zweiten Fassung des Galilei ihre stärkste Ausprägung erfahren. Brecht ging hier so weit, dem „großen Individuum" Galilei eine Rolle zuzubilligen, die ihn in den Stand versetzte, weitreichende politische Veränderungen in Europa auslösen zu können. Von der marxistischen Brecht-Forschung ist gerade das bei Brecht mit Erstaunen festgestellt worden. Schon 1959 bemerkte Peter Hacks zum Galilei-Problem: „Ich unterschätze gar nicht die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Aber wir müssen doch einsehen, daß Fälle, wo ein einzelner Mann Umwälzungen der Gesellschaft verzögert oder beschleunigt, wenn überhaupt, ganz selten vorkommen . . . Und wenn Brecht, um besonders gut die Herzen der Atomkundigen zu treffen, den Galilei zu einer solchen Auslöser-Persönlichkeit hochmogelt, dann verkündet er keine geringere Absurdität, als daß das moralische Bewußtsein des Herrn Galilei das Sein der Welt bestimmt habe. Er, Brecht! Und ich kann mir nicht helfen: diese rein wissenschaftliche Unstimmigkeit reicht aus, um mir die Freude an einem so glänzend gemachten Stück ganz zu verleiden."131 Den hier sehr prononciert vorgetragenen Einwand von Peter Hacks hat später Ernst Schumacher in seinem Galilei-Buch wissenschaftlich weiter ausgebaut.132 Hier ist nicht der Ort, sich damit näher auseinanderzusetzen. Die gesamte Problematik wird jedoch nur verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit der Wendung sieht, die Brecht in jenen Jahren in der Erkenntnis des Verhältnisses von Individuum und Masse vollzog. Ausmaß und Folgen des veränderten Gesichtspunktes werden besonders deutlich, wenn man den Galilei mit dem Frühwerk Mann ist Mann vergleicht. Die Sicht auf das Individuum und damit auf die Gesellschaft ist in beiden Werken grundverschieden. Das eine Werk ist die Darstellung der versäumten Möglichkeit des großen gesellschaftlichen Eingriffs; das andere demonstriert den Abbau des Individuums. Nicht die gesellschaftliche Eingriffsmöglichkeit wird gezeigt, sondern: „Sie werden den / Boden, auf dem Sie stehen / Wie Schnee unter Ihren Füßen vergehen sehen."133 Ohne diese Probleme, die hier erörtert werden mußten, 91
wird die neue Stufe in Brechts Erbekonzeption nicht in ihrer ganzen Dimension sichtbar. In dem Maße nämlich, wie sich bei ihm eine dialektische Auffassung über die Beziehungen von Individuum und Masse herausbildete, wie sich diese Erkenntnis in seinem dichterischen Schaffen niederschlug, zeigten sich auch Veränderungen in seiner Haltung zum Erbe, dachte er differenzierter, gerechter und historischer auch über den Wallenstein. Wenn Schiller auf Grund der Tatsache, daß sich die bürgerliche Klasse in der deutschen Gesellschaft nicht kräftig genug zu etablieren vermochte, zu der Ansicht kam, daß Veränderungen nur von der Veränderung einzelner Individuen her möglich sind, so war das für den durch die Schule des historischen Materialismus gegangenen und durch bittere politische Erfahrungen gereiften Brecht kein Grund mehr, ein solches Stück lediglich auf den Materialwert zu reduzieren. Der Brecht, der den Handlungsraum des Individuums zwischen objektiver Gesetzmäßigkeit und gesellschaftlicher Eingriffsmöglichkeit ausgeschritten hatte, sah auch Schillers Werke anders: nämlich als Erbe im Leninschen Sinne, mit dem das revolutionäre Proletariat „arbeitet".
Wir müssen auf Vorbilder bedacht sein oder Welche Traditionslinie bestimmt das Brechtsche Werk?
Das subjektive Moment im Verhältnis %um Erbe Das weltliterarische Erbe stellt sich jeder Generation als etwas Objektives. Es ist die sich im Laufe der Geschichte vollziehende Objektivierung von Subjektivem. So wie der Mensch in ganz bestimmte Produktionsverhältnisse hineingeboren wird, ist auch das kulturelle Erbe etwas, was er vorfindet, was sich vor ihm herausgebildet hat. Es gehört zu den objektiven Faktoren im gesellschaftlichen Leben. Das Individuum aber macht von dieser objektiven Gegebenheit auf sehr unterschiedliche und höchst subjektive Weise Gebrauch. Überhaupt ist das subjektive Moment in der Erbeaneignung und Erbetheorie von hoher Bedeutung; allein schon durch die Tatsache, daß selbst der universell gebildete Mensch das kulturelle Erbe niemals in seiner Ganzheit und Vielfalt wahrnimmt, sondern immer nur einen Ausschnitt als Repräsentanten dieser Vielfalt. Allerdings spielen hierbei natürlich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Bildungsgang eines Menschen bestimmen, eine außerordentlich wichtige Rolle. Bei Künstlern und Schriftstellern kommt dem subjektiven Faktor jedoch eine noch größere Bedeutung zu. Denn für sie ist das künstlerische Erbe nicht nur die Summe aller bisherigen künstlerischen Erfahrung, die aufgespeicherte Weisheit und Phantasie des Volkes, für sie ist es zugleich auch der Spielraum, in dem der Künstler und Schriftsteller sein eigenes Schaffen entwickelt. Das geschieht aber nicht in der Weise, daß sich der Künstler einfach als Fortsetzer alles bisher Erreichten fühlt. Er wird sich seiner künstlerischen Aufgabe 93
bewußt, indem er sich für ganz bestimmte Traditionen entscheidet und sich anderen gegenüber ablehnend verhält. Auch hier wiederum vollzieht sich der Prozeß nicht so einfach, daß sich der fortschrittliche Künstler auf alle progressiven Traditionen beruft, auch innerhalb des progressiven Erbes trifft der Schriftsteller und Künstler seine Auswahl, sucht er Verbündete für seine künstlerischen Vorstellungen und wendet sich in deren Namen gegen bisher für unumstößlich gehaltene Größen der Vergangenheit. Das subjektive Moment führt hier nicht selten bis zur Rivalität. Auf dieses Problem der Rivalität soll hier etwas näher eingegangen werden. Brecht hat einmal die Stellung Londons in der englischen Literaturgeschichte mit einer Börse verglichen. Ein Riesenhandel mit Einfällen und Reputationen finde da statt. Die Dichter rivalisierten miteinander. Wahre Kriege und Schlachten fänden untereinander statt. Die Neuerungen würden als Korrekturen der bisherigen traditionellen Werte vorgetragen, aber die große, lange Tradition erleichtere den Fortschritt.134 Die Rivalität, das zeigt die Beschreibung Brechts anschaulich, wird eben nicht nur unter Zeitgenossen ausgetragen, sondern auch innerhalb der Tradition. Der Künstler, je mächtiger und selbstbewußter er auftritt, mißt sich ebenso mit den Namen der Vergangenheit. So sind auch Brechts Urteile über das weltliterarische Erbe, wie schon beim jungen Brecht gezeigt wurde, nicht in erster Linie literaturgeschichtliche Wertungen, sondern Artikulierungsversuche über die eigene ästhetische Position. Oftmals sagen solche Urteile mehr über das ästhetische Credo der urteilenden Künstlerpersönlichkeit aus als über den Gegenstand selbst. Spannend und aufschlußreich werden diese Stellungnahmen vor allem dann, wenn sie immer wieder mit großer Hartnäckigkeit und Leidenschaftlichkeit vorgetragen werden. Man betrachte nur Brechts Haltung zu Goethe und Thomas Mann. Welche leidenschaftliche Kontroverse, mit ihren fast pathologisch anmutenden Übersteigerungen und Bösartigkeiten, ihren Kühnheiten und brillanten Formulierungen! Die marxistische Literaturwissenschaft hat sich solchen Erscheinungen gegenüber bisher sehr reserviert verhalten, wohl aus Scheu, anstatt objektive gesellschaftliche Prozesse zu verfolgen, in 94
eine subjektivistische, sensationsgierige Darstellungsweise zu verfallen. Aber die Darstellung subjektiver Momente braucht nicht zu einer subjektivistischen Darstellung zu führen. Diese subjektiven Momente sind oftmals der Schlüssel für die komplizierte und schwer durchschaubare Dialektik von objektiv gesellschaftlichem Prozeß und künstlerischer Subjektivität. Diese Momente nicht zu untersuchen, sie nicht ernst zu nehmen, in ihnen Schwächen großer Persönlichkeiten zu sehen, die besser verschwiegen würden, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Denn man vergibt sich damit das Untersuchungsfeld für wichtige wissenschaftliche Aufschlüsse. Bevor hier einige subjektive Momente in den Traditionsbeziehungen Brechts erörtert werden, muß noch einmal seine Gesamthaltung gegenüber der Tradition zur Sprache kommen. Ein Gemeinplatz über diesen Dichter lautet: Brecht sei ein Neuerer gewesen; er habe mehr das Neue als die Tradition gesucht. Im Klischee dieser Vorstellung wird der „Avantgardist" dem „Traditionalisten" gegenübergestellt. Auch wenn das Neuerertum Brechts eher betont als bestritten werden soll, so ist doch jede abstrakte Gegenüberstellung von Tradition und Neuerertum im Falle Brechts ganz und gar falsch. Brecht nahm selbst dazu Stellung, als er sich gegen den Einwand des Formalismus verteidigte: „da ich auf meinem gebiete ein neuerer bin, schreien immer wieder einige, ich sei ein formalist. sie finden die alten formen nicht in meinen arbeiten, schlimmer, sie finden neue und da meinen sie, es sind die formen, die mich interessieren, aber ich habe herausgefunden, dass ich das formale eher gering schätze, ich habe die alten formen der lyrik, der erzählung, der dramatik und des theaters zu verschiedenen Zeiten studiert und sie nur aufgegeben, wenn sie dem, was ich sagen wollte, im weg standen, beinahe auf jedem feld habe ich konventionell begonnen, in der lyrik habe ich mit liedern zur gitarre angefangen und die verse zugleich mit der musik entworfen, die bailade war eine uralte form und zu meiner zeit schrieb niemand mehr bailaden, der etwas auf sich hielt, später bin ich in der lyrik zu anderen formen übergegangen, weniger alten, aber ich bin mitunter zurückgekehrt und habe sogar kopien alter meister gemacht. .." 1 3 5 95
Brechts Position als Neuerer wie sein Verhältnis zur Tradition bedingen einander. Seine Bemühungen um ein neues Theater, um eine neue Art von Literatur, neu in der Machart wie in der Wirkung, waren ein Affront gegen die gesamte bisherige Literaturentwicklung. Sie stellten eine Kampfansage gegen die gesamte marktfähige, lesegewohnte Literatur dar. Schon aus diesem Grunde fühlte er sich auf Verbündete in der weiter zurückliegenden Tradition angewiesen. Aber auch seinen Gegner kennzeichnete er, und das ist wiederum typisch, mit einem großen Namen aus der Tradition. Aristotelisch nannte Brecht jene Richtung, gegen die er sich wandte. Gegen sie kämpfte er aber nicht als Neuerer, den Kampf führte er auch im Namen der Tradition. Die Frontstellung gegen die aristotelische Poesie ist der entscheidende Punkt für dasBrechtsche Traditions Verständnis. Denn durch sie erhält die Haltung Brechts zu den einzelnen Dichterpersönlichkeiten der Vergangenheit wie der Gegenwart erst ihren Sinn und ihre tiefere Begründung. Über das, was Brecht unter dem Aristotelischen verstand, ist schon viel geschrieben worden. 136 * Er faßte darunter in erster Linie eine Poesie, die ihre Wirkung aus dem eigentümlichen Akt der Einfühlung des Zuschauers und Lesers in den Vorgang des Dargestellten zog. Eine solche Wirkung setzte aber auch eine ganz bestimmte Gestaltungsweise voraus. Werke dieser Art suchten Stimmung und Atmosphäre hervorzurufen. Indem einem Charakter, einem Vorgang möglichst viele Schattierungen, Besonderheiten und Direktheit abgewonnen wurden, entstand für den Leser die Möglichkeit, sich „einzuleben", „einzufühlen". Der Figurenaufbau der aristotelischen Poesie kulminierte im Vorführen des Evolutionären, des Organischen. Als eine der wesentlichen Kategorien galt die Unmittelbarkeit. Gezeigt wurde, wie der Mensch auf etwas reagiert, wie viele Voraussetzungen notwendig sind, um seine Haltungen und Wendungen glaubwürdig abzubilden. Es war die große Kunst des „In-denMenschen-Hineinschauens". Absonderliche Charaktereigenschaften wurden in ihrem Entstehungsprozeß vorgeführt, so daß sie auch Menschen verständlich und begreiflich fanden, die im persönlichen Leben solche Eigenheiten tief verab96
scheut hätten. Oberstes Ziel dieser Ästhetik war, alles, was erzählt werden sollte, in Vorgänge von „Fleisch und Blut" zu verwandeln. Selbst die großen geistigen Prozesse, von denen berichtet wurde, erhielten etwas Sensualistisches. Die Kunst der Milieudarstellung erreichte in der aristotelischen Poesie ihren höchsten Standard. Gegen eine solche Gestaltungsweise als einzigen oder hauptsächlichen Weg in der Kunst und Ästhetik polemisierte Brecht und versuchte seine Auffassung entgegenzusetzen. Dabei kam es auch zu polemischen Schärfen und undifferenzierten Konfrontationen. Hier ist nicht der Ort, das Für und Wider von Brechts antiaristotelischer Schreibweise zu erörtern. Nur soviel sei gesagt, daß sein Kampf gegen das Aristotelische im Laufe der Entwicklung seiner eigenen Position eine differenziertere Wertung erfuhr. Von der polemischen Kontroverse ging Brecht in den späteren Jahren mehr zur wissenschaftlichen Fundierung und Begründung seiner Meinung über. Dennoch ist er den politischen Wirkungsmöglichkeiten der aristotelischen Schreibweise, insbesondere in der Umfunktionierung durch sozialistische Schriftsteller, nie ganz gerecht geworden. Seinen erbitterten Kampf gegen die aristotelische Poesie muß man aus seiner isolierten Situation verstehen. Die gesamte Lesegewohnheit wie überhaupt die Art und Weise des Kunstgenießens waren vom aristotelischen Kunstprinzip her geprägt. Dagegen anzukämpfen erschien damals einfach als eine Verrücktheit. Die meisten Kunstinteressierten sahen deshalb auch in Brechts Kunsttheorien nicht mehr als eine Marotte, eine ästhetische Absonderlichkeit, mit der er sich interessant machte. Es war eine vereinsamte Position, die Brecht mit wilder Energie zu einer neuen Basis des Kunstgenießens zu machen suchte. Obwohl sich Brecht sicherlich dagegen verwehrt hätte, das Wort „vereinsamt" auf sich und seine Kunsttheorie anzuwenden, darf man sich nicht über seine isolierte Situation hinwegtäuschen. Der ästhetische Machtfaktor, zu dem Brecht später wurde, läßt oftmals die Ohnmacht von damals vergessen. Der Ruf nach Verbündeten, nach Ahnherren aus der Vergangenheit, war in einer solchen Lage nur zu verständlich. 7
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Bevor jedoch die Galerie seiner Vorbilder erläutert wird, muß die ästhetische Linie markiert werden, gegen die er sich wandte. Denn für das Verständnis seiner Ästhetik ist die Kenntnis seiner Gegner fast ebenso wichtig wie die seiner Vorbilder. Bei der Sichtung der Traditionen konnte Brecht feststellen, daß das, was er das Aristotelische nannte, hauptsächlich durch die Literatur des 19. Jahrhunderts geformt worden war. Insbesondere mit dem großen Roman des 19. Jahrhunderts hatten sich bestimmte Lesegewohnheiten durchgesetzt, die inzwischen zu Marktfaktoren geworden waren. E s ist ein noch viel zuwenig untersuchter Vorgang, in welchem Maße die großen Erzähler des 19. Jahrhunderts das gesamte System des Kunstkonsums beeinflußten. Der Erfolg und die Massenwirksamkeit der großen Romane von Stendhal, Balzac, den Goncourts, Zola, Strindberg, Tolstoi bewirkten ein ganz bestimmtes Verfahren, über das das Publikum Kunst entgegennahm. D a die Hauptgesichtspunkte dieses ästhetischen Verfahrens, wenn auch in stark primitivierter und deformierter Form, von der Unterhaltungsliteratur übernommen wurden, gelangte dieses Verfahren zu einer Verbreitung, die die Annahme vorzutäuschen vermochte, als gäbe es kein anderes. Die anderen, älteren Verfahren, insbesondere die des 18. Jahrhunderts, gerieten in Vergessenheit oder galten als „veraltet", als „überholt". Die spätbürgerliche Kunsttheorie drückte diesen älteren Verfahren außerdem noch den Stempel des nicht vollwertig Künstlerischen auf. So galt zum Beispiel die Kunst der Aufklärung als etwas, was bestenfalls im „Vorfeld" der Kunst steckengeblieben war. Im 19. Jahrhundert sah Brecht wenig Möglichkeiten, Verbündete zu finden. War es doch das eigentliche Traditionsfeld jener ästhetischen Richtung, gegen die er seine antiaristotelische Position aufbaute. Seine Haltung diesem Jahrhundert gegenüber verhärtete sich noch, als Georg Lukäcs gerade das 19. Jahrhundert als das ergiebige Traditionsfeld für den fortschrittlichen Schriftsteller auswies. Brecht stellte die Frage, warum die „Restaurationsschriftsteller" den Vorzug vor der revolutionären Ästhetik der aufsteigenden bürgerlichen Klasse bekämen? Die Frage war durchaus berechtigt, wenn auch die 98
Bezeichnung „Restaurationsschriftsteller" nicht wenige Dichter des 19. Jahrhunderts in ein falsches Licht rückte. Aber allein schon diese Bezeichnung war Ausdruck seiner polemischen Haltung, seiner Opposition gegenüber dieser Tradition. Lukacs berief sich auf die kritischen Realisten des 19. Jahrhunderts und polemisierte gegen die modernistischen Schriftsteller, die er des Traditionsbruchs beschuldigte. So berechtigt dieser Vorwurf war, traf er dennoch nicht den Kern der Sache. Geht man nicht von formalen Kriterien aus, so stellt die modernistische Literaturentwicklung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht in erster Linie einen Bruch mit den Traditionen des 19. Jahrhunderts dar. Vielmehr war sie das Ergebnis der immer weiter getriebenen Subjektivierung aller inhaltlichen und ästhetischen Faktoren. Obwohl die Schriftsteller dieser Richtung die Antipoden des 19. Jahrhunderts gar nicht waren, gaben sie sich selbst gern dafür aus. Überzeugend war der Traditionsbruch nur durch den Vergleich mit den Idealen und ästhetischen Positionen der bürgerlichen Aufstiegsphase herauszuarbeiten. Aber gerade diesem Vergleich ging Lukacs mehr aus dem Wege, als daß er ihn suchte. Brecht erkannte, wie kurzatmig die Tradition als stimulierendes Moment für den bürgerlichen Schriftsteller geworden war. Sie reichte als Vorbildfaktor meist nur bis in die zweite Schriftstellergeneration hinein. Die beherrschende Rolle der Wirkungsästhetik des 19. Jahrhunderts hatte aus der Sicht Brechts auch den Zugang zu den weiter zurückliegenden Traditionen verbaut. Tradition wurde nur über die letzten Glieder der Kette tatsächlich wahrgenommen. Der unmittelbar dialektische Fluß zur Gesamtheit des Traditionsfelds zeigte sich gestört. Wie Lenin in seinen Tolstoi-Analysen, so ging auch Brecht davon aus, daß sich in den Werken der großen realistischen und naturalistischen Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Einflußnahme der revolutionären Arbeiterbewegung widerspiegelte. Aber in den Werken Tschechows, Tolstois, Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns u. a. werde, so erklärte Brecht, der point of view klassenmäßig nicht geändert, und so verwandelten sich unter der Feder dieser Schriftsteller 7*
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Stoffe, die in der Frühzeit des Bürgertums Komödien gewesen waren, zu Tragödien. In diesem Urteil berührte er sich sogar mit Georg Lukács, der am Beispiel von Ibsen demonstrierte, daß dessen Haltung als Bürger verhindere, seine Stoffe in große Komödien zu verwandeln. Hier sei auch der Grund zu suchen, warum es Ibsen letzten Endes versagt bleibe, zu den ganz Großen der europäischen Literatur zu gehören. Die teilweise undifferenzierte Sicht, in die Brecht die verschiedenartigsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts rückte, ist darauf zurückzuführen, daß Brecht keinen Unterschied zwischen kritischem Realismus und Naturalismus machte. In der dichterischen Methode Tolstois und Zolas sah er keinen wesentlichen Unterschied. J a selbst einen in seiner Schreibweise so eigenwilligen Schriftsteller wie Tschechow, den die gegenwärtige spätbürgerliche Ästhetik gern zu einem Vorläufer des absurden Theaters machen möchte, subsumierte Brecht unter die Naturalisten. Dabei bemühte er sich immer wieder, die Unterschiede zwischen Realismus und Naturalismus theoretisch zu fixieren. Aber er ging nicht auf die historischen Bedingungen des kritischen Realismus im 19. Jahrhundert ein, sondern hatte als Realismus vor allem die ästhetischen Hauptzüge jener Methode vor Augen, um die er sich selbst bemühte. Nach dem zweiten Weltkrieg suchte er die Wesensmerkmale von Naturalismus und Realismus in folgender Gegenüberstellung zu erfassen: naturalismus
realismus
die gesellschaft betrachtet
die gesellschaft geschichtlich
als ein stück natur
betrachtet
ausschnitte aus der gesell-
die .kleinen weiten' sind front-
schaft (familie, schule,
abschnitte der großen kämpfe,
militärische einheit usw.) sind ,kleine weiten' für sich. das milieu
das system
reaktion der individúen
gesellschaftliche kausalität
atmosphäre
soziale Spannung
mitgefühl
kritik
die Vorgänge sollen ,für
es wird ihnen zur verständlich-
100
keit verholfen
sich selbst sprechen' das detail als ,zug'
gesetz ( ? )
sozialer fortschritt
gelehrt
empfohlen kopien
Stilisierungen
der Zuschauer als mitmensch
der mitmensch als Zuschauer
das publikum als einheit an-
die einheit wird gesprengt
gesprochen indiskretion
diskretion mensch und weit, vom Stand-
der vielen 1 3 7
punkt des einzelnen
Für ihn blieb der Naturalismus im wesentlichen ein „Realismusersatz", dem dann einige Bedeutung zukomme, wenn er zum Realismus hinführe, wenn er auf ihn vorbereite. Sehr eigenartig war sein Verhältnis zu den zeitgenössischen Schriftstellern, die die Tradition des 19. Jahrhunderts fortführten. Eigenartig deshalb, weil hier seine Polemik einerseits eine geradezu übersteigerte Form annahm, sich andererseits unter diesen Schriftstellern aber auch enge Freunde Brechts befanden, denen er sich bis zuletzt eng verbunden fühlte. Der große Gegner und Polemikgegenstand war Thomas Mann. Über diese literarische Feindschaft wird noch gesondert zu sprechen sein. Freundschaftlich verbunden fühlte er sich dagegen Lion Feuchtwanger, mit dem er sogar Coproduktionen einging, obwohl ihm dessen Schreibweise von den methodologischen Grundlagen her nicht näher stand als die Thomas Manns. Über Feuchtwangers persönliche Haltung, dessen ungewöhnlich reiche literarische und philosophische Bildung fand Brecht immer wieder Worte der Anerkennung und Bewunderung. Einige politische Inkonsequenzen dieses fortschrittlichen Schriftstellers kritisierte Brecht freundschaftlich. Über die vielen Romane Feuchtwangers aber verlor er kein Wort. Es ist nicht einmal sicher, daß er sie gelesen hat. Gerade das Sensualistische, das Moment der Einfühlung in die Hauptgestalt, die wohlnuancierte Atmosphäre, in die Feuchtwanger seine Charaktere stellte, waren für Brecht Elemente einer überholten Schreibweise, wenig brauchbar für einen Schriftsteller des neuen Zeitalters. In Feuchtwanger sah 101
Brecht den fortschrittlichen Schriftsteller, dessen ungeteilte Sympathie dem kämpfenden Proletariat galt, der aber, um es mit den Worten Walter Benjamins zu formulieren, seine Solidarität mit dem Proletariat nicht auf die „nüchterne Art", nämlich in seiner Stellung als Autor im Produktionsprozeß zu begründen vermochte. 138 Wenn Brecht Feuchtwangers Schreibweise und Romantheorie nicht billigen konnte, so verstand andererseits Feuchtwanger nichts von der Methode des epischen Theaters. Die antiaristotelische Theorie Brechts blieb dem grundgescheiten, vielseitig gebildeten Feuchtwanger ein Buch mit sieben Siegeln. 139 Die freundschaftliche Nachsicht, die Feuchtwanger von Seiten Brechts genoß, wurde freilich den anderen Berühmtheiten des aristotelischen Romans nicht zuteil. In seiner Haltung war er so unnachsichtig, daß er selbst ganz offensichtliche politische Wirkungen dieser Autoren im antifaschistischen Kampf übersah. Am meisten Duldung fand bei ihm noch Heinrich Mann. Seine Wertschätzung bezog sich dabei nicht nur auf die kämpferische politische Publizistik dieses Dichters. Weit verständnisloser stand er schon dem Werk Arnold Zweigs gegenüber, das doch den „Krieg bis auf die Knochen zu durchleuchten" suchte. Nichts als Spott und Verachtung aber hatte er f ü r solche Erfolgsautoren wie Franz Werfel, den er den „Heiligen Frunz von Hollywood" oder einfach den „Gschwerfel" nannte, oder für Ernest Hemingway. 140 Die Fehde zwischen Brecht und Thomas Mann gehört zu den interessanten und aufschlußreichen Episoden der deutschen Literaturgeschichte. Eigentlich ist sie mehr als eine Episode, obwohl so subjektive Momente wie Rivalität eine Rolle spielen. Allerdings war die Triebfeder der Auseinandersetzung nicht nur der Neid, den der junge Brecht gegenüber dem zu Weltruhm gelangten älteren Thomas Mann empfand. So einfach ist das subjektive Moment nicht zu verstehen. Wenn Brecht auch gegen die „künstlichen, eitlen und unnützlichen" Bücher Thomas Manns wetterte, 141 so nahm er doch gerade an Thomas Mann wahr, wie berühmte Literatur und berühmte Schriftsteller zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor werden können. Wenn das schon mit einer solchen, nach Ansicht Brechts, künstlichen lebensuntüchtigen Literatur 102
zu erlangen war, welchen Einfluß vermochte dann erst eine wirklich gesellschaftlich engagierte Literatur zu erreichen. Der junge Brecht wünschte sich einfach die gesellschaftliche Ausstrahlungskraft, die Thomas Mann damals bereits besaß, für seine eigene literarische Position. Der substantiellere Grund der Fehde bestand natürlich in der unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Ansicht über das, was Literatur sein müsse und zu bewirken habe. In dem künstlerischen Bemühen um die Gestaltung charakterlich differenzierter und vielschichtiger Menschen, in der Ziselierarbeit, die auf die merkwürdigsten menschlichen Eigenschaften und seelischen Nuancen verwendet wurde, sah Brecht etwas völlig Unnützes. In bewußt provokatorischem Ton erklärte er, daß sich gegenüber Thomas Mann selbst ein Spielhagen wie ein Revolutionär ausnehme. Sein Angriff gipfelte schließlich darin, daß er „geradezu Geldopfer bringen würde", um das Herauskommen von Büchern dieses Mannes zu verhindern, den er für den „erfolgreichsten Typ" bourgeoiser Buchhersteller hielt.142 Brecht führte diese Fehde in den zwanziger Jahren vorwiegend literarisch, obwohl gerade damals der politische Standpunkt Thomas Manns aus der Sicht der linken Intelligenz zu kritisieren gewesen wäre. Zu einer politischen Auseinandersetzung wurde die Fehde erst in den Jahren der Emigration, als beide insbesondere über die amerikanische Nachkriegs-Deutschlandpolitik in Streit gerieten. Darüber wurde hier an anderer Stelle schon geschrieben. Es war aber nicht nur Brecht, von dem diese Schriftstellerfehde ausging. Auch der Kreis um Thomas Mann ließ sich keine Gelegenheit entgehen, die Dichtung Brechts tiefer zu hängen. Als ein typisches Beispiel dafür ist die Kritik zu nennen, die Hermann Kesten 1942 in der deutschsprachigen Zeitung Aufbau über die Aufführung von Furcht und Elend des Dritten Reiches in den USA veröffentlichte. Kesten stellte Brecht, der zu jener Zeit schon Mutter Courage, Galilei, den Guten Menseben von Se^uan, Vuntila geschrieben hatte, als den „Verfasser eines .Dreigroschenromans'", als den „Autor populärer Songs und Balladen im Stil von Wedekind, Villon, Kipling", als den „beliebten Textdichter einiger Operetten" vor.143 Furcht und Elend des Dritten Reiches bezeichnete Kesten als „lustige Szenen aus dem deutschen Volksleben"144. Brecht, 103
der sonst nicht gerade ein Sammler von Zeugnissen über sein dichterisches Werk war, hob sich diese Kritik sorgfältig auf. Er klebte sie in sein Arbeitsjournal, denn er fand, das sei genau die Meinung, die der ganze Thomas-Mann-Kreis über seine Arbeiten habe. Dazu bemerkte er: „interessant, wie versucht wird, bestimmte kunstwerke einfach aus der literatur auszuweisen und in besondere konzentrationslager unterzubringen. Die literatur der niedrigen kann keine hohe literatur sein."145 In seinen Gesprächen über Brecht hat Hanns Eisler, der nicht nur Brecht, sondern auch Thomas Mann persönlich recht gut kannte, das Verhältnis zwischen beiden deutschen Dichtern sehr aufschlußreich beschrieben. Dabei wurden auch einige Vorgänge berührt, die das subjektive Moment noch mehr hervorheben und die scharfe Thomas-MannPolemik Brechts doch recht fragwürdig machen. Um das genauer darzulegen, sei hier etwas ausführlicher zitiert: „Nun, ich kann sagen, daß ich — mit der Distanz des Respekts — mit Thomas Mann . . . das Wort .befreundet' ist ein bißchen zu intim, aber man kann es fast väterliche Zuneigung nennen: Besuche von Haus zu Haus, die Familien kannten sich, ich war oft bei Mann, und er war oft bei mir. Und das hat dem Brecht überhaupt nicht gefallen — diese Intimität mit dem Hause Mann. Er war viel zu höflich, darüber was zu sagen, aber es war irgendwie eine Art Landesverrat. Man kann es eigentlich nur so nennen... Wenn der Thomas Mann bei mir war, habe ich immer wieder versucht, den Brecht einzuladen. Auch der Feuchtwanger . . . Und der Brecht war gegen den Thomas Mann von einer — ich kann nur sagen: Renitenz! Denn wenn sich zum Beispiel in den schwierigen Jahren des Krieges immerhin ein paar antifaschistische Deutsche . . . Zumindest muß man dem Thomas Mann den Antifaschismus lassen — ich rede schon wie der Brecht —, den kann man ihm doch nicht herauseskamotieren! Aber das zögernde, unentschlossene Verhalten bei gewissen scharfen Erklärungen, die Brecht immer von allen unterschrieben haben wollte, hat Brecht aufs Blut gereizt. Kurz und gut: Mißtrauen, Renitenz bis zu bösartigen lauten Bemerkungen machten ein Zusammensein von Thomas Mann und Brecht ziemlich unan104
genehm . . . Nun, der Thomas Mann kannte ja einige Stücke von Biecht. Brecht kannte, glaube ich, Thomas Mann nur von meinen Berichten . . . Da berichtete ich Brecht zum Beispiel über schöne Stellen im ,Zauberberg'. Und er war immer ganz erstaunt, daß da so gute Sachen drin sind. Da meinte er, das müsse man wirklich einmal durchsehen. Er kam nie dazu. Zum Beispiel sind Bemerkungen von Settembrini über Musik im .Zauberberg' den Bemerkungen von Brecht über Musik sehr ä h n l i c h . . . Brecht nannte den Thomas Mann sehr bösartig ,diesen Kurzgeschichtenschreiber'." 146 Ist dann aber, wenn Brecht die großen Romane, gegen die er so hartnäckig polemisierte, gar nicht gelesen hat, die ganze Auseinandersetzung doch nichts weiter als persönliche Rivalität? Wird hier nicht doch nur ein sehr persönlicher Streit ausgetragen? Man kann da mit Hanns Eisler antworten, der im Anschluß an seine Ausführungen über die Schriftstellerfehde zwischen Brecht und Thomas Mann meinte, daß es in der Kunstgeschichte nun einmal nicht so einfach zugehe. Auch war die politische Auseinandersetzung im amerikanischen Exil alles andere als eine persönliche Streitigkeit. Der tiefere Grund für die anhaltende Gegnerschaft zu Thomas Mann scheint darin zu liegen, daß Brecht diesem Dichter in der Entwicklung der fortschrittlichen deutschen Literatur und Geistesgeschichte bis hin zum Entstehen einer neuen, sozialistischen Nationalliteratur einen Platz eingeräumt sah, der nach seiner Meinung Thomas Mann nicht gebührte. Was aber als tragende Elemente einer fortschrittlichen Literatur gewertet wurde, die zu einer sozialistischen Nationalliteratur hinführten, das empfand Brecht nicht als eine nur persönliche Angelegenheit, nicht als subjektive Rivalität. Für Brecht waren die im Werk Thomas Manns enthaltenen Hinweise auf eine kommende gesellschaftliche Entwicklung viel zu schwach und zu vage, als daß er hierin eine kämpferische Literatur erblickt hätte. Selbst die Kritik dieses Dichters an seiner Klasse wertete er nicht sonderlich hoch. Den Typus des unerbittlichen bürgerlichen Gesellschaftskritikers erblickte Brecht in anderen Schriftstellern, zum Beispiel in Heinrich Mann. Auch sah er in Thomas Mann ein „gängig" gewordenes ästhetisches Verfahren, den aristotelischen Roman, gefeiert, nicht aber eine Kunstleistung, nicht 105
einen kämpferischen Beitrag für eine bessere Welt. Gewiß hat Brecht die tatsächliche Bedeutung Thomas Manns nicht erkannt und, wie Hanns Eisler formulierte, die Humanität im Leben wie im Werk von Thomas Mann übersehen. Seine Haltung zu diesem bedeutenden bürgerlichen Dichter mag in mancher Hinsicht ungerecht sein, sie ist aber nicht nur Ausdruck persönlicher Rivalität. Ungewohnt hart war sein Urteil auch gegen die Werke einiger Schriftsteller, die damals vorübergehend mit dem revolutionären Proletariat symphathisierten, wie John Steinbeck, Clifford Odets und Julius Hay. Steinbecks fortschrittlichen Roman Früchte des Zorns lernte Brecht wohl nur durch die amerikanische Verfilmung kennen.147 An Odets schrieb Brecht anläßlich der Aufführung von Paradise lost, in dem Odets' sozialkritische Haltung im Schwinden begriffen war, den berühmten Brief in Versen, dessen letzte Zeilen lauten: „Du, Kamerad, der du Mitleid zeigtest mit dem Mann / Der nichts zu essen hat, hast du nun Mitleid / Mit dem, der sich überfressen hat?"148 Im amerikanischen Exil lernte Brecht Odets persönlich kennen. Dieser aus dem amerikanischen Kleinbürgertum stammende Schriftsteller war vorübergehend mit der Arbeiterbewegung in Berührung gekommen, aber ganz ohne marxistische Bildung, ohne tiefere politische Einsichten. Seine Schreibweise blieb vorwiegend vom amerikanischen Film geprägt. Über das, was künstlerische und gesellschaftliche Wirkungen waren, gab es zwischen Brecht und Odets überhaupt keine Verständnismöglichkeiten. Anläßlich •der Aufführung des Films nach Anna Seghers' berühmten Roman Das siebte Kreuz machte Brecht Odets auf einige sublime, im amerikanischen Film seltene Darstellungsmomente des Schauspielers Spencer Tracy aufmerksam, aber Odets habe sich nur immerfort mit der Hand an die Brust gegriffen und beteuert, er habe nichts gefühlt.149 Hierbei zeigte Odets dasselbe Unverständnis gegenüber der epischen Schreibweise wie Jahre zuvor die Darsteller der amerikanischen Aufführung von Brechts Mutter. Waren die amerikanischen Schriftsteller und Künstler, die sich mit der amerikanischen Arbeiterbewegung verbunden fühlten, zum großen Teil wenig vertraut mit der Entwicklung, 106
die die sozialistische Dramatik bis zum Ausbruch des Faschismus genommen hatte, so kannte sie der Exil-Ungar Julius Hay sehr genau. Seine Entwicklung als Dramatiker begann bereits vor 1933 auf der deutschen Bühne. Den größten Erfolg erzielte er mit dem 1934—1936 geschriebenen Stück Haben. Es erlebte nicht nur viele Aufführungen, sondern fand auch viele Bewunderer. Vor allem Feuchtwanger stellte es als das eigentlich marxistische Stück, als von innen her durchtränkt mit Marxismus heraus. Das aber rief den Widerspruch Brechts hervor. Über Hays Stück gibt es von Brecht zwei Stellungnahmen: eine, die wohl zur Veröffentlichung bestimmt war, und eine Eintragung im Arbeitsjournal. In der zur Veröffentlichung bestimmten stellte Brecht sachlich und nüchtern dar, warum man Hays Stück nicht als marxistisch bezeichnen könne: „Weil ein Stück, das die Gier nach Besitz oder die seelischen Deformationen, welche den Besitz hervorbringen, schildert, noch nicht marxistisch ist. Bekanntlich ist in der Marxschen Darstellung des Kapitalismus die Wurzel des Kapitalismus nicht eine mystische und triebhafte Besitzgier. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsform, welche diese Gier erst entwickelt, und zwar in den verschiedenen Klassen verschieden stark und in verschiedener F o r m . . . Feuchtwangers Irrtum über den Kapitalismus, wie ihn die Marxisten sehen, wenn er die Giftmischerin als ein Urbild des Kapitalismus sieht, geht auf Hays Konto." 150 In der Eintragung im Arbeitsjournal wiederholte er seine Hauptargumente in weit schärferen Formulierungen. Das ganze Stück, so schrieb er, sei „ein trauriger schund". Und immer, wenn sich seine Polemik zuspitzte, suchte er nach einem Vergleich mit einem entwerteten Schriftsteller der Vergangenheit. Gegen Hays Stück, wandte er ein, „ist sudermann. . . ein fortschritt" 151 . So überzogen diese Kritik in ihrer polemischen Haltung auch sein mag, richtig ist sie dennoch in folgender Hinsicht. Brecht zeigte, wohin es führt, wenn man aus der Literatur des kritischen Realismus bestimmte Sujets und Motive, wie die bis zum Giftmord hochgepeitschte Besitzgier, einfach abzieht, ohne zu berücksichtigen, daß sich inzwischen der Kapitalismus ganz anderer Methoden bedient. Der mit dem Kapitalismus verbundene Konkurrenzkampf brachte 107
im Laufe seiner Entwicklung ganz andere Ausdrucksformen der Besitzgier, wenn auch nicht weniger abscheuliche, hervor als die Giftmischerei, als den Giftmord. Die Vervielfältigung von Kapital vollzog sich nicht über den persönlich ausgeführten Mord, das hatte Brecht schon als Autor der Dreigroscbenoper begriffen. Hays Stück Haben war nicht ganz zu Unrecht ein typisches Beispiel für die Lukacs-Losung „Schreibt wie Balzac!" Der früheren Literatur wurde das Handlungsmuster einfach abgezogen, ohne die unterschiedlichen Kampfbedingungen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert zu studieren. Nicht weniger kompliziert wie dem kritischen Realismus gegenüber war die Haltung Brechts zum sozialistischen Roman. Die Umfunktionierung der aristotelischen KatharsisFunktion für neue, sozialistische Zwecke hat ja Brecht nie anerkannt. So blieb sein Verhältnis zu Autoren, die sich zwar bestimmter Elemente der aristotelischen Methode bedienten, diese aber ganz anderen gesellschaftlichen Zwecken dienstbar machten, gleichfalls kritisch. Daß hier sein Urteil besonders ungerecht wurde, lag auf der Hand. Seine Haltung forderte geradezu die Frage heraus, ob denn nicht Brecht, der immer vom Kunsturteil anderer verlangte, daß es von den gesellschaftlichen Zwecken auszugehen habe, hier mehr die Schreibweise als die Ideologiefunktion vor Augen gehabt habe? Vorerst aber muß hervorgehoben werden, daß Brecht allerdings den großen Ahnherren des sozialistischen Romans, den proletarischen Dichtern Maxim Gorki und Martin AndersenNexö, aufrichtige Bewunderung entgegenbrachte. Von ihnen war er jederzeit bereit zu lernen. Nach Gorkis großem Roman schrieb er sein Stück Die Mutter. Von Andersen-Nexö übersetzte er gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Margarete Steffin drei Bände der Erinnerungen ins Deutsche. Über AndersenNexös Bücher sagte Brecht anerkennend: „sie gefallen mir, trotz der Seelenzergliederungen und moralismen, da doch rohstoff darinsteckt. ein respektabler proletarismus. aber da sind schöne stellen, wo die Solidarität der besitzlosen geschildert wird." 152 Sonst aber war sein Urteil über die sozialistische Romanentwicklung ungerecht, ja oftmals abwegig, zumal Brecht 108
dieses Urteil auch dort geltend machte, wo die größten Erfolge und Fortschritte zu verzeichnen waren: gegenüber dem sowjetischen Roman und dem Romanschaffen von Anna Seghers. Anna Seghers' umfangreiches Romanwerk fand bei Brecht kaum Beachtung. Dabei hatte gerade Anna Seghers eine neue methodologische Basis des Romans geschaffen und inhaltliche und technische Neuerungen eingeführt, die trotz der andersartigen ästhetischen Position auf ihrem Gebiet mit dem Neuererwerk Brechts verglichen werden können. Brecht verstand nicht, warum sich Anna Seghers dem großen, viellinigen Roman widmete, wo sie doch so großartige Novellen schreiben konnte. Hier sah Brecht das eigentliche Feld und Talent der Seghers. Bei diesem Urteil spielte sicher die Abneigung Brechts gegen den umfangreichen, viellinigen Roman eine nicht geringe Rolle. Zu den Kunstgebieten, die Brechts Werk beeinflußten, zählt nicht zuletzt die sowjetische Kunst. Innerhalb dieser Wertschätzung verhielt er sich jedoch gegenüber dem sowjetischen Roman außerordentlich reserviert. Das ist insofern verwunderlich, als der Weltruhm des sowjetischen Romans wie dessen gesellschaftliche und politische Wirkung schon damals als erwiesen gelten konnten. Die großen Bürgerkriegsromane und Erzählungen von Fadejew, Babel, Fedin, Tolstoi, Scholochow, Furmanow u. a., die den Stolz der sowjetischen Literatur ausmachen und die nicht wenige Schriftsteller auch in kapitalistischen Ländern nachhaltig beeinflußt haben, berührten Brecht wenig. Freilich ist bei einer solchen Feststellung schon Vorsicht geboten, da Brecht nicht über alles, was er von der Sowjetliteratur kannte, berichtete. Es gibt jedoch einige harte Bemerkungen von ihm gerade über die größten sowjetischen Romanciers, über Alexej Tolstoi und Michail Scholochow. Das große Romanwerk Scholochows schätzte Brecht nicht. Er hielt es für wichtig, wie jedes Buch aus der Sowjetunion, weil es Zeugnis neuer gesellschaftlicher Verhältnisse war, zu denen er sich bekannte. Betont werden muß jedoch, daß Brecht als sozialistischer Schriftsteller an die Beurteilung sowjetischer Romanwerke heranging. Er kritisierte sie von einer selbstgewählten Außenseiterposition her, nämlich von seiner ästhetischen Vorstellung über Funktion 109
und Struktur des sozialistischen Romans. Bei aller Kritik an der künstlerischen Gestaltung ist doch Brechts Bekenntnis zu den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, zu einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht zu übersehen. Nur fand er, daß gerade das gesellschaftlich Neue durch allzu großes Festhalten an den traditionellen Mustern nicht genügend herausgearbeitet wurde. Sein Haupteinwand lautete, diese Bücher seien „ohne kunst geschrieben"153. Wobei er auf die Kunst noch verzichten könne, wenn nicht ihr konventioneller Stil in jedem Augenblick die Darstellung der neuen Dinge verhindere. Diesem Einwand gegen die ungenügende Darstellung des Neuen widerspricht er jedoch bei anderer Gelegenheit. So macht er in den Katzgraben-Notaten den deutschen sozialistischen Schriftstellern und Schauspielern mit dem Hinweis auf die Sowjetschriftsteller den Vorwurf, daß sie das Neue nicht als Neues darzustellen verständen. Dazu gehöre historischer Sinn, wie er bei den sowjetischen Schriftstellern zu finden sei. „Die Sowjetschriftsteller haben ihn beinahe alle", schreibt Brecht. „Sie sehen (und machen sichtbar) nicht nur die neuen Kraftwerke, Dämme, Pflanzungen, Fabriken, sondern auch die neue Arbeitsweise, das neue Zusammenleben, die neuen Tugenden. Nichts ist ihnen selbstverständlich. Ich erinnere mich einer Episode aus Fadejews ,Die junge Garde'. Die Bevölkerung flüchtet vor der andringenden Naziarmee zu Beginn des Krieges. An einer beschossenen Brücke stauen sich Flüchtlinge, Autos, versprengte Truppenteile. Ein junger Soldat hat einen Kasten mit Werkzeugen gerettet, muß aber weg und sucht jemanden, dem er ihn anvertrauen könnte. Es ist ihm unmöglich, ihn wegzuwerfen. Das ist ohne jeden Kommentar so beschrieben, daß man die Gewißheit hat, einem neuen Verhalten beizuwohnen, einen Menschen zu sehen, den es vorher nicht gegeben hat. — Unsere Schriftsteller beschreiben das Neue, das sich allenthalben begibt, wie sie beschreiben, daß es regnet."154 Weit näher, als hier nur einen Widerspruch anzunehmen, liegt die Feststellung, daß hier eine Entwicklung der Ansichten stattgefunden hat, die Kritik von einst hat einer besseren Einsicht Platz gemacht. Dieses Beispiel zeigt, wie bedenklich es ist, wenn einzelne Bemerkungen Brechts über bestimmte 110
Kunstwerke ohne Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs zitiert werden. Jedoch wäre es auch falsch, die Antiposition Brechts zum Beispiel gegen Scholochow zu verschweigen. Wenn Brecht von Scholochow sagt, daß dieser nur ein „von einigen Scheuklappen befreiter balzac" sei, 155 so ist das zwar aus der Sicht Brechts, nicht aber unbedingt aus der aller übrigen Leser eine vernichtende Kritik. Die Gründe für die reservierte Haltung Brechts zum sowjetischen Roman, dem er großen Kunstwert im Sinne sozialistischen Neuerertums absprach, sind zunächst in der unterschiedlichen methodologischen Basis zu suchen, auf der einerseits Brecht und andererseits der sowjetische Roman ihre Entwicklung nahmen. Der sowjetische Roman knüpfte organisch an die großen Leistungen des kritischen Realismus an. In dieser Kontinuität sah aber Brecht eher einen Nachteil als einen Vorteil. Er fand, die Literatur sei nicht genügend auf die sozialistische Revolution vorbereitet gewesen, „die literatur wurde von der machtübernahme des Proletariats überrascht." 156 Die Umwandlung der bürgerlichen in die proletarische Revolution habe die vorhandenen fortschrittlichen Schriftsteller zu einem Sprung gezwungen, der ihnen nicht bekommen sei, der ihnen, wenn auch nicht das Genick, so doch die Beine gebrochen habe. Er machte das am Beispiel von Majakowski und Ehrenburg klar. Majakowski sei nach der Revolution in seinem Element gewesen. Nunmehr habe er die ihm und seinem Talent angemessenen Bedingungen vorgefunden, während sich Ehrenburg nicht mehr zurechtfand und ihm wirkliche Kunstleistungen versagt geblieben seien. Brecht führte zur Erklärung der Situation vorwiegend objektive Faktoren an. In die neue sowjetische Gesellschaft hätten die progressiven Schriftsteller zwar die fortgeschrittensten künstlerischen Methoden eingebracht, aber man dürfe doch nicht aus den Augen verlieren, daß der Ursprung eben dieser Methoden in dem früheren Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen bestanden habe. Außerdem seien diese Methoden „von der geschmackszensur des .freien' marktes geprägt, also korrumpiert gewesen." 157 Dennoch, meinte Brecht, ließen sich diese Methoden nicht sofort aufkündigen, obwohl auf der Hand
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liege, daß sie den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht adäquat wären. Hier sah er einen zeitweilig unlösbaren Widerspruch. Deshalb sei dann eine Literatur entstanden, die krampfhaft auf den Fußspitzen stehe, um dem Proletariat den Spiegel vorzuhalten. 158 Im Gegensatz zur bürgerlichen Kritik an der sowjetischen Literatur waren ihm die neuen gesellschaftlichen und politischen Vorgänge nicht zu stark, sondern nicht stark genug herausgearbeitet. Brecht übersah hierbei jedoch, daß starke politische, gesellschaftliche Wirkungen nicht nur mittels Durchleuchtung großer gesellschaftlicher, ökonomischer und weltpolitischer Zusammenhänge zustande kommen, sondern auch durch die Darstellung der Veränderungen in den verschiedenen Sphären des menschlichen Lebens ausgelöst werden können. Bei allen Bemerkungen Brechts zu literarischen Werken und künstlerischen Richtungen, die nicht mit seiner Traditionslinie übereinstimmen, muß man stets vom theoretischen Ausgangspunkt seiner Frontstellung ausgehen. Denn hier liegt der eigentliche Hebel für das Brechtsche Traditionsverständnis. Wird dieser Kristallisationspunkt nicht begriffen, kann es trotz aller Materialbelege zu einer Entstellung und Verfälschung seiner Auffassungen kommen. Eine Balzac-, Thomas-Mann- oder Scholochow-Gegnerschaft materialmäßig aufzubauen ist ziemlich leicht, aber sie besagt gar nichts, wenn nicht Brechts ästhetische Gesamtposition, wenn nicht die gesellschaftlichen und literaturtheoretischen Voraussetzungen für seine Haltung zum weltliterarischen Erbe zur Sprache kommen. Nur auf diese Weise kann eine einseitige, entstellende Darstellungsweise vermieden werden. Das ist insbesondere im Sinne einer objektiven Brecht-Darstellung geboten, weil die unwissenschaftliche Verwendung von Quellenmaterial die Gefahr der direkten Brecht-Verfälschung birgt. Schon die Bemerkung Brechts über Fadejews Roman machte klar, daß Brechts Notizen im Arbeitsjournal nicht sein letztes Wort über den sowjetischen Roman waren. Wie zu vielen anderen künstlerischen Erscheinungen, zum Beispiel dem Theater Stanislawskis, änderte sich in den fünfziger Jahren auch sein Verhältnis zum sowjetischen Roman, ohne daß er jedoch bestimmte Einwände gegen einen Romantypus auf-
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gab, der von sowjetischen Schriftstellern bevorzugt wurde. Man darf dabei nicht vergessen, daß in den dreißiger Jahren auch in der Sowjetunion eine leidenschaftliche Auseinandersetzung stattfand, welcher Romantypus der sozialistischen Gesellschaft und den proletarischen Lesern der gemäße sei. Dabei wandten sich vor allem Majakowski und Tretjakow gegen einen Romantypus, der sich an den großen traditionellen Vorbildern orientierte. So lehnte Majakowski Gladkows Roman Zement ab, und Tretjakow wandte sich gegen Fadejews Die Neunzehn. Tretjakow korrigierte seine Meinung jedoch sehr bald. Über diese sowjetischen Diskussionen war Brecht nur ungenügend informiert. Durch die Isolierung im Exil blieben ihm neue Standpunkte und Überlegungen weitgehend unbekannt. Erst Ende der vierziger Jahre konnte er sich ein genaueres Bild über die sowjetische Romanentwicklung verschaffen. An dieser Stelle soll noch ein Vorgang erörtert werden, der für das Zustandekommen einer Traditionsauffassung, einer Traditionslinie nicht unwichtig ist, der aber bisher in Untersuchungen kaum berührt wurde: die Lesegewohnheiten eines Autors. Allein schon die quantitative Seite der Belesenheit eines Schriftstellers ist ein wichtiger Faktor. Denn ein nicht zufälliges, sondern bewußt gewähltes und gestaltetes Traditionsverhältnis ist nur bei großer Belesenheit möglich. Wie vollzieht sich Belesenheit? Wie eignet sich ein Autor das weltliterarische Erbe an? Das sind wichtige Fragen, die nicht selten ganz bestimmte Vorgänge und Konstellationen im Verhältnis eines Schriftstellers zur Tradition zu erklären vermögen. Wichtig ist auch, ob ein Autor durch seinen Bildungsgang, seine Ausbildung, durch wissenschaftliche Beschäftigung an ein zielgerichtetes Lesen gewöhnt war oder ob seine Lektürewahl vom Zufall abhing. Thomas Mann hat zur Verwunderung vieler Literaturkenner einmal gestanden, daß er bis ins späte Alter Gottfried Kellers Grünen Heinrieb nicht gelesen, nicht gekannt habe. Eine schockierende Angabe für jene, die gewohnt sind, einen gradlinigen Verlauf der Tradition des deutschen Bildungs- und Erziehungsromans vom Wilhelm Meister bis zu den Buddenbrooks herauszudestillieren, wobei natürlich der Grüne Heinrich nicht fehlen darf. Keine 8
Mittenzwei
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Überraschung bereitet eine solche Eröffnung, wenn man den etwas gestörten Bildungsgang Thomas Manns wie seine Lesegewohnheiten mit in Betracht zieht. Brechts enorme Belesenheit ist immer wieder bestaunt worden. Die neuere Forschung stellt nunmehr Material zur Verfügung, das auch Einblick in die Lesegewohnheiten und die Lektürewahl des jungen Brecht ermöglichte.159 In seiner frühen Phase, bis in die zwanziger Jahre hinein, erfolgte die intensivste Bekanntschaft mit Literatur, Kunst und Philosophie. In dieser Zeit war er auch ein ständiger Theaterbesucher. In der Emigration gab es dazu nur selten Gelegenheit. In den späteren Jahren, zurückgekehrt nach Berlin, machte er davon nicht allzu oft Gebrauch. Brecht verabscheute das bürgerliche Bildungsideal, die Gewohnheit, das zu lesen, was „üblich" war, was zur „Bildung" gehörte. Er orientierte sich schon frühzeitig auf das Nichtübliche, zum Beispiel auf Frank Wedekind, ohne aber dabei das Übliche auszulassen. In den späteren Jahren wurde die zufällige Lektürewahl immer seltener. Allein schon die gründliche, wissenschaftliche Art und Weise, mit der er seine Stücke und Inszenierungen vorbereitete, verlangten ein umfassendes, geplantes Studium der Literatur. So führte ihn die Arbeit am Leben des Galilei und 'Leben des Einstein zu einem intensiven Studium über Probleme des neuen physikalischen Weltbildes. Auf diese Weise wurde er mit den theoretischen Arbeiten der bedeutendsten Physiker und Mathematiker bekannt. Für die Arbeit an dem Stück Die Tage der Commune nahm er nicht nur eine Vielzahl von historischen, literarischen und philosophischen Werken zur Kenntnis, er ließ sich auch die Originalprotokolle der Pariser Commune fotokopieren, die damals noch nicht vollständig veröffentlicht waren. Das sind nur einige Beispiele, die weniger die Belesenheit Brechts als sein systematisches Vorgehen belegen sollen. Eine Eigentümlichkeit des Brechtschen Lektürestudiums bestand darin, daß er ein i n f o r m a t i v e s Lesen bevorzugte. Er begnügte sich oftmals, insbesondere bei recht dickleibigen Büchern damit, herauszufinden, wie das gemacht war, wie das geschrieben war, ohne immer das Ganze zu lesen. Um eine literarische Technik zu beurteilen, genügte ihm ein 114
bestimmter Einblick. Er war der Meinung, um sich ein Urteil über den Geschmack und die Qualität eines Gerichts zu bilden, brauche man es nicht in jedem Falle restlos aufzuessen. In seinem Arbeitsjournal finden sich oft Wendungen wie „wieder einmal in einigen werken . . . geblättert", „das müßte man einmal durchsehen". Diese Wendungen charakterisieren sehr genau die Brechtsche Lesegewohnheit. Mit diesem informativen Lesen, in vielem vergleichbar mit der Literaturdurchsicht der Naturwissenschaftler, ging er so weit, daß er sich über bestimmte Werke von seinen Freunden, Mitarbeitern und, Schülern erzählen ließ. Eisler sagte darüber: „So eine Art literarischen Berichterstatter hat Brecht sehr gern gehabt."160 Auf diese Weise machte Elisabeth Hauptmann, seine langjährige Mitarbeiterin, Brecht in den zwanziger Jahren mit den japanischen No-Spielen bekannt, die seine Lehrstücke wesentlich beeinflußten. Auf diese Weise lernte er auch dicke Romane kennen, die er schon wegen ihres Umfangs nicht gerne las. Vor allem in den späteren Jahren war er bestrebt, möglichst rationell zu lesen. Er war kein l'art-pourl'art-Leser. Was er las, mußte zu etwas zu gebrauchen sein, mußte einem Zweck zugeführt werden. Eisler berichtete, daß Brecht selbst die Kriminalromane, die er mit einiger Ausdauer las, dahingehend überprüfte, wie man eine Story knüpft. „Er hat überhaupt fast nur gelesen, was er gebraucht hat. Brecht, der ein äußerst gebildeter Mensch war, hat, je älter er wurde, nur noch Dinge gelesen, die er brauchte — entweder zur Information oder zur Anregung von Gedankengängen."161
Die Traditionslinie des Brecbtscben Werkes Wie vielfältig die Beziehungen Brechts zum weltliterarischen Erbe sind, geht schon aus der großen Anzahl von Büchern, Dissertationsschriften, Staatsexamensarbeiten hervor, dieBrecht mit den verschiedensten Dichterpersönlichkeiten vergleichen. In der langen Reihe dieser Untersuchungen kann man finden: Brecht und Sophokles, Brecht und Camus, Brecht und die Bibel, Brecht und Plutarch, Brecht und Lenz, Brecht und John Gay, Brecht und Lessing, Brecht und Hasek, Brecht 8*
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und Schiller, Brecht und Georg Kaiser, Brecht und das asiatische Theater, Brecht und Gorki, Brecht und Meyerhold, Brecht und Shakespeare, Brecht und Feuchtwanger, Brecht und Zola, Brecht und Dürrenmatt, Brecht und Gustav Freytag, Brecht und Friedrich Wolf, Brecht und Molière, Brecht und Klabund, Brecht und Baierl, Brecht und Hella Wuolijoki, Brecht und Leonhard Frank, Brecht und Kuba, Brecht und Kafka, Brecht und Lukäcs, Brecht und Nordahl Grieg, Brecht und Becher, Brecht und Weinert, Brecht und Marlowe, Brecht und Heinrich Leopold Wagner, Brecht und Farquhar, Brecht und Hebbel usw. usw. Wenn man erfährt, daß selbst an einer Schrift über Brecht und Gottsched gearbeitet wird, so läßt dieser Titel ahnen, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch hinzukommt. Die Vielzahl dieser Beziehungen zeigt aber auch, wie schwer es ist, für Brecht eine Traditionslinie herauszudestillieren. Etwas erleichtert wird ein solches Unternehmen dadurch, daß Brecht hin und wieder seine Traditionslinie selbst zu bestimmen suchte. In einem seiner Gedichte heißt es: „Ich studierte die Darstellungen der großen Feudalen Durch die Engländer, reicher Figuren Denen die Welt dazu dient, sich groß zu entfalten. Ich studierte die moralisierenden Spanier Die Inder, Meister der schönen Empfindungen Und die Chinesen, welche die Familien darstellen Und die bunten Schicksale in den Städten."162 In der Skizze Wo ich gelernt habe163 verwies er auf folgende Persönlichkeiten, Richtungen und Dichtungsgebiete: Grimmelshausen, Luther, Volkslied („Es ist schwierig, vom Volkslied zu lernen."), Vergil, Lukrez, Goethe. Brechts eigene Versuche, eine Traditionslinie zu skizzieren, sind jedoch meist bruchstückhaft. Entweder sind es unvollendete Skizzen, oder aber seine Bemerkungen sind aus einem genau bestimmbaren Anlaß geschrieben, konzentrieren sich auf ganz bestimmte Gesichtspunkte und lassen andere beiseite. Ein Unterschied besteht auch darin, ob es die Traditionslinie des gesamten Brechtschen Werkes oder die seines epischen 116
Theaters zu bestimmen gilt. Letzteres ist wiederholt versucht worden. Dabei konzentrierte sich die Traditionsfolge hauptsächlich auf Shakespeare, die deutsche Sturm-und-DrangDichtung, Büchner, die sowjetische Revolutionsdramatik. Hierbei zeigt sich bereits die Fragwürdigkeit solcher Kristallisationspunkte und Verallgemeinerungen, die jedoch zur Bestimmung einer Traditionslinie unbedingt nötig sind. Wenn hier der Versuch gemacht wird, die Traditionslinie des Brechtschen Werkes herauszuarbeiten, so kann das nur durch den Hinweis auf große literarische Epochen und Richtungen erfolgen. Literarische Einzelphänomene müssen dabei mehr oder weniger unberücksichtigt bleiben. So wird zum Beispiel auf die Bibel nicht weiter eingegangen, obwohl dieses Werk in seinem sprachlichen Gestus und Erzählton Brecht sehr nachhaltig beeinflußte. Wenn er auch jeder Religiosität abhold war, war für ihn die Bibel ein Buch, in dem er sich auskannte und aus dem er zu zitieren wußte. Nicht weiter aufgespürt werden kann auch der Einfluß von François Villon auf den jungen Brecht. Das trifft auch auf die Anregungen zu, die Brecht von Verlaine und Rimbaud empfing. Eine Traditionslinie verfolgen heißt auch, daß Brechts Beziehungen zu den einzelnen literarischen Epochen nicht allseitig abgesteckt werden können. Wenngleich bereits vorliegende Forschungen genutzt werden, so ist es dennoch hier nicht möglich, die vielfältigen Quellen zu belegen, die Brecht bei seinen Arbeiten benutzte, wie das zum Beispiel für die Antike die Autoren Hans Dahlke (Cäsar bei Brecht) und Peter Witzmann (Antike Tradition im Werk Bertolt Brechts) sehr sorgfältig gemacht haben. Das Anliegen der nachfolgenden Traditionsskizze besteht darin, jenen Gesichtspunkt aufzuspüren und zu bestimmen, der Brecht veranlaßte, sich mit der betreffenden literarischen Epoche oder Richtung zu beschäftigen. Ein wirklicher, dauerhafter Traditionsbezug entsteht nicht durch zufälliges Verwenden von bestimmten Quellen, sondern er ergibt sich über einen besonders interessierenden Punkt. Auf ihn kommt es hier an. Beschrieben werden soll hier vorwiegend das Einstiegsmoment in eine Tradition.
Das fernöstliche Vorbild Ende der zwanziger Jahre fand Brecht großes Interesse an der japanischen und chinesischen Poesie wie an der Schauspielkunst dieser Länder. Das Interesse, einmal geweckt, erlahmte nie wieder. Die Anregung dazu kam von seiner engen Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann. Damals waren die japanischen No-Spiele in englischer Übersetzung erschienen. Elisabeth Hauptmann übertrug das No-Spiel Tonika und machte Brecht damit bekannt. Dieses kleine Stück gab die literarische Vorlage für den Jasager und die Maßnahme ab. Was Brecht zur fernöstlichen Kunst hinzog, hat nichts gemein mit den Motiven, die manchen bürgerlichen Intellektuellen in jenen Jahren veranlaßten, sich außereuropäischen Traditionen zuzuwenden. Bei Brecht war es weder das künstlerische Interesse an einer Exotik noch eine weltanschaulich gefärbte Europamüdigkeit. Es waren aber auch nicht vorwiegend jene Gründe, die Reinhold Grimm in seinem Büchlein 'Bertolt Brecht und die Weltliteratur anführt: „Während Brecht so vom Theater der Chinesen das rein Formale, .Artistische*.. . übernahm, fand er in ihrer Philosophie seine Weltanschauung bestätigt."164 Wenngleich Brecht das artistische Moment, und zwar nicht nur in der Schauspielkunst, sehr beeindruckte, so fühlte er sich aber zur chinesischen Philosophie nicht deshalb hingezogen, weil er hierin seine marxistische Weltanschauung bestätigt fand. Selbst die schärfste Sozialkritik der alten chinesischen Philosophen ergibt noch keine vergleichbare Basis mit dem Marxismus. Was Brecht an der fernöstlichen Kunst so überaus schätzte und wovon er als Dramatiker wie als Lyriker und Prosaschreiber zu lernen suchte, war die Verbindung des Lehrhaften mit dem Kunstvollen. Vor allem die in der chinesischen Kunst virtuos gehandhabte Einheit von Didaktischem und Artistischem zog ihn mächtig an. Brecht hatte sich gegen Ende der zwanziger Jahre dem Lehrstück zugewandt. Für eine kurze Zeit dachte er daran, die Pädagogik der Kunst vorzuziehen. Sehr bald wurde jedoch der Blickpunkt auf die Pädagogik durch die Politik verdrängt, aber das didaktische Element, nunmehr in den Dienst der Politik gestellt, blieb. Daß seine didaktische Schreibweise keineswegs 118
trocken und kunstlos wirkte, ist nicht nur seinem Genie, sondern auch der Stimulierung durch das fernöstliche Vorbild zu danken. Über Jahrzehnte hinweg studierte Brecht die Einheit von Didaktischem und Artistischem in der chinesischen Kunst immer wieder aufs neue. Von den Lehrstücken über die Arbeit am Me-ti zur Spruchdichtung, wie überhaupt in der späten Lyrik, prägte dieses Vorbild nicht nur den Stil entscheidend mit: Die Einheit von Didaktischem und Artistischem wurde zu einem tragenden Element seiner Methode. In seinem Kampf gegen das naturalistische und psychologisierende Theater empfing er von der chinesischen und japanischen Schauspielkunst wichtige Impulse und Fingerzeige. Insbesondere der von Brecht erstrebte Vorgang des Zeigens im Sinne des Theaters der planetarischen Demonstration wurde von Brecht mit Hinweisen auf das fernöstliche Theater erläutert und ausgebaut. Es wäre jedoch falsch, würde man in der Brechtschen Verfremdungstechnik vorwiegend eine Anleihe aus dem asiatischen Theater sehen. Die Methode der Verfremdung ist viel zu komplex, als daß sie nur auf einen Traditionsbezug zurückgeführt werden könnte. Hier muß eher vor einer Überbewertung dieser Traditionsquelle gewarnt werden. Der Verfremdungstechnik bediente sich der Dramatiker bereits, bevor er das chinesische Theater für sich entdeckte. Auch ist der Zweck, zu dem die Verfremdung benutzt wird, bei Brecht und in der chinesischen Schauspielkunst grundverschieden. Bei Brecht dient sie der Aufhellung des gesellschaftlichen Kausalnexus, davon kann weder im alten chinesischen noch im japanischen Theater die Rede sein. Deshalb umriß Brecht auch bei aller Begeisterung für die artistische Eleganz, mit der diese Technik dargeboten wurde, ihre Grenzen, als er schrieb: „Das chinesische Theater erscheint uns ungemein preziös, seine Darstellung der menschlichen Leidenschaften schematisch, seine Konzeption von der Gesellschaft starr und falsch, nichts von dieser großen Kunst scheint auf den ersten Blick verwendbar für ein realistisches und revolutionäres Theater. Motive und Zwecke des VEffekts sind uns im Gegenteil fremd und verdächtig. . . Tatsächlich können nur diejenigen ein Technikum wie den V119
Effekt der chinesischen Schauspielkunst mit Gewinn studieren, die ein solches Technikum für ganz bestimmte gesellschaftliche Zwecke benötigen." 165 Die alte chinesische Dichtung benutzte Brecht vor allem gern zu jenem Darstellungsverfahren, das er „SprachWaschungen" nannte. Damit war das sprachliche Einfärben neuer Gedanken in alte, berühmte Sprachmuster und Gestaltungsweisen gemeint. Im Me-ti entwickelte Brecht daraus eine ganz bestimmte künstlerische Form. In die Texte des alten chinesischen Philosophen Me Ti (400 v. u. Z.) mischte Brecht neue Gedanken, ohne die alten völlig auszulöschen. Die neuen Gestalten und Gedanken spiegeln sich in den alten, darin besteht der sonderbare Reiz dieses Buches. In den alten Texten des Me Ti findet der Leser nicht so sehr, daß alles „so extrem marxistisch" klingt, wie Reinhold Grimm meinte, 166 sondern die neuen Gedanken vor dem Hintergrund der alten veranlassen den Leser, Entwicklungen mitzudenken. Die zeitliche Distanz innerhalb eines Gedankens und die Doppelung der Figur bilden hier ein Element der Erkenntnis und des Genusses. Anziehungspunkt für Brecht war der „halb künstlerische" Charakter der alten chinesischen Philosophie als der eigentlichen Ausgangsbasis jener Einheit des Didaktischen und Artistischen. Nicht nur, daß zum Beispiel Me Tis Buch meist kurze Monolog- und Dialogszenen enthält, macht den „halb künstlerischen" Charakter aus, es ist die künstlerisch zugespitzte, auf Pointe erzählte Darlegung der Gedanken, die es zu einem Vorbild und zur Vorlage für die von Brecht im Kunstwerk erstrebte Dialektik von Belehrung und Unterhaltung machten. Voll zustimmen kann man, wenn Reinhold Grimm in Me Tis Gesprächen (Buch XI-XIII) das Vorbild für die Sprechweise und den Sprachgestus der Keuner-Geschichten sieht, wenn sie sicherlich auch nicht ausschließlich dadurch angeregt und geprägt wurden. Reinhold Grimm führt dafür zwei Beispiele aus dem Me Ti an, die hier wiedergegeben werden sollen: „Der Meister Me-tse ( = Me Ti) hatte Keng Tschu-tse nach T'schu empfohlen. Einige Herren besuchten ihn dort. Er bewirtete sie mit nur drei Maß Speise und behandelte sie nicht sehr freigebig. Die Herren berichteten dies dem Meister Me-tse, indem sie sagten: ,Keng Tsche-tse scheint in 120
T'schu nicht besonders erfolgreich zu sein. Wir besuchten ihn, und er gab uns nur drei Liter Speise zu essen, behandelte uns als seine Gäste nicht mit besonderer Freigebigkeit.' Der Meister Me-tse sagte: ,Man kann nicht wissen.' Bald darauf sandte ihm K e n g Tschu-tse zweihundert Unzen Silber und ließ ihm s a g e n : .Dein unwürdiger Schüler hat hier zweihundert Unzen Silber, von welchen er wünscht, daß der Meister Gebrauch machen möge.' D e r Meister Me-tse sagte: ,In der Tat, man konnte nicht wissen.'" — „ D e r Meister Me-tse sagte: ,Wenn man einen Edlen unserer Zeit als Schweineschlachter verwenden will und er dies Geschäft nicht versteht, so lehnt er ab. Wenn man ihm aber einen Staatsminister-Posten überträgt, so übernimmt er ihn, auch wenn er ihm nicht gewachsen ist. Ist das nicht widersinnig?'" 1 6 7
Die Antike Mehr noch als in der chinesischen Poesie war Brecht in der griechischen und römischen antiken Dichtung an Stoffen interessiert. Wenn es auch hier Elemente gab, die ihn wie in der chinesischen Poesie v o m methodologischen Gesichtspunkt her beschäftigten, so schätzte er die antike Literatur doch besonders als Stofflieferant. Seit seiner Jugendzeit war Brecht mit den antiken Traditionen eng vertraut. In seinem Buch Antike Traditionen im Werk Bertolt Brechts führt Witzmann eine tabellarische Übersicht an, die von Brechts Schulaufsatz über dulce et decorum aus dem Jahre 1915 bis zu den Studien und Gedichten aus den letzten Lebensjahren alle von Brecht verwendeten antiken Quellen nachweist. Besonders Horaz ist es, den Brecht immer wieder bevorzugte. V o n dem genannten Schulaufsatz über das Gedicht Vom armen B.B., dem sechsten Augsburger Sonett, Von der Willfährigkeit der Natur, den Gedichten aus dem Messingkauf und den Deutschen Satiren zu dem großen Gedicht An die Nachgeborenen bis zu den Gesprächen über Einfühlung lieferte Horaz die Vorlage oder die Anregung. Wie bei den Chinesen, so studierte Brecht auch in der antiken Literatur die Verwendung des Lehrhaften. D a s römische Lehrgedicht war ein bevor-
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zugtes Studienobjekt. In der Skizze Wo ich gelernt habe schrieb Brecht: „Aus mindestens zwei Gründen, die miteinander verbunden sind, lohnt es sich, die zwei großen Lehrgedichte der Römer zu studieren, die .Georgica' des Vergil und ,Von der Natur der Dinge' des Lukrez. Einmal sind es Vorbilder dafür, wie man die Bearbeitung der Natur und eine Weltauffassung in Versen beschreiben kann, und des andern haben wir in den schönen Übersetzungen von Voß und Knebel Arbeiten vor uns, die wunderbare Aufschlüsse über unsere Sprache geben." 168 Lukrez' Lehrgedicht regte ihn an, das Kommunistische Manifest in Verse zu übertragen. Über die Schwierigkeiten und Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens ist schon viel geschrieben und debattiert worden. Aber selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß das Experiment mit dem Kommunistischen Manifest ohne Wirkung blieb, so sind damit noch nicht die ästhetischen Bestrebungen widerlegt, um die es Brecht ging. Die alte Dichtung hatte ihm gezeigt, daß sich großer Kunstverstand nur an großen Gegenständen entwickeln kann. Zu den großen Gegenständen aber zählten auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Zeit. In unaufhörlichen Experimenten suchte Brecht nachzuweisen, daß fortschrittliche Kunst fähig sein muß, Wissenschaftsgegenstände und wissenschaftliche Darlegungen zu integrieren. Eine mit den fortschrittlichsten Ideen der Menschheit verbundene Kunst durfte niemals aufhören, auch zu lehren. Aber in der Kunst mußte mit Kunst gelehrt werden, und hierin sah er in Vergil, Lukrez und Horaz unvergleichliche Meister. Zeigten sie doch, wie ein wissenschaftliches Weltbild, wie wissenschaftliche Vorgänge sinnlich zur Anschauung gebracht und kräftig herausgearbeitet werden können, so daß sie die Einbildungskraft herausfordern. Im Lehrgedicht sah Brecht ein Mittel, um Wissenschaftsgegenstände zu Volksgegenständen zu machen. Geistige Erkenntnisse und Entdeckungen, so wollte es Brecht, sollten nicht nur den Verstand, sondern auch die Sinne beschäftigen. Er sah die Aufgabe des Dichters auch darin, zwischen Wissenschaft und Kunstpublikum zu vermitteln. Ihm kam es darauf an, die Entdeckungen der Wissenschaft in den breiten Strom der Volksphantasie einzubeziehen. 122
Für seinen Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar benutzte Brecht als Quelle vor allem Plutarch und Sueton. Dieser beiden antiken Autoren wie auch Livius bediente sich Brecht des öfteren, wenn er nach einprägsamen Situationen und vorgeprägten Stoffen suchte. Sosehr die Stoffwahl bei einem Dichter auch von zufälligen Momenten abhängig ist, die Bevorzugung der antiken Geschichtschreiber hat bei Brecht seine Gründe. Was ihm an den Werken dieser Geschichtsschreiber gefiel und für seine Zwecke verwendbar wurde, war das Exemplarische, fast Parabolische der Vorgänge, die sie schilderten. Geschichte erzählten sie in großen Begebenheiten. Der Dichter konnte vorgeformte Handlungen verwenden und sie ganz bestimmten Zwecken zuführen. Gerade die exemplarische Situation mit ihrem parabolischen Charakter ermöglichte Brecht komplizierte und weitgespannte Aussagen. Ein anderer Grund war der, daß die antiken Autoren zum größten Teil vom Standpunkt der Herrschenden aus schrieben. Was zunächst wie ein Hindernis für Brechts Verwendungszweck erscheinen mag, war jedoch keines, denn so parteiisch diese Geschichtsschreiber ihr Geschäft auch betrieben, betrieben sie es dennoch nicht ohne Objektivität; sie ließen Argumente der verschiedenen Seiten zu. Das ermöglichte Brecht, das Material nunmehr aus der Sicht der unteren Schichten aufzubereiten. Für Brecht lag der Reiz der antiken Stoffe auch darin, daß sie in ihrer Zweckgerichtetheit umkehrbar waren. Was zur Rechtfertigung der Großen, der Herrschenden geschrieben wurde, ließ sich zur Enthüllung der Herrschenden verwenden. Aus der Sicht derer, die die Geschichte machten, erwiesen sich nicht selten — wie zum Beispiel im Lukullus — die Taten der Großen als Untaten. Die besondere Wertschätzung der Antike schloß bei Brecht auch die Verurteilung antiker Ideale ein, wie eines seiner Gedichte heißt, weil Würde „mit falschen Gewichten gewogen" wurde. Und Brecht sah seine Aufgabe darin, „das Zettelchen mit dem Preis", der falsch war, zu entfernen-169 In Sueton fand Brecht — bei der Gestaltung des Cäsar-Romans — allerdings einen Geschichtsschreiber, der, wenn auch inkonsequent, die historischen Vorgänge aus der Sicht von unten darzustellen versuchte. Darauf machte Hans Dahlke in seinem Cäsar bei Brecht aufmerksam: „In Suetons 123
Biographien schien die Sicht von unten sich schon einmal durchgesetzt zu haben. Die Rubriken erinnerten an Paragraphen einer Anklageschrift. Brecht hat Suetons Gestaltungsmethode in einem anderen Fall in gewissem Sinne nachzuahmen versucht. Für sein .Verhör des Lukullus' entnahm er die stofflichen Einzelheiten zwar der Lukullus-Biographie des Plutarch, aber die Art und Weise, wie die .großen' Taten in der Beweisaufnahme vor dem Totengericht in Sachgruppen geordnet erscheinen, weist entschieden auf Sueton als Vorbild hin." 1 7 0 Und noch ein weiterer Grund für die Bevorzugung antiker Stoffe durch Brecht darf nicht unerwähnt bleiben. Die „halbkünstlerische" Art und Weise der antiken Geschichtsschreibung, ihr künstlerischer Erzählton ohne jede psychologische „Vertiefung" beanspruchten sein Interesse. Denn mit dem Cäsar-Roman beabsichtigte Brecht einen Romantypus, der sich vom üblichen Roman, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte, nicht unwesentlich unterscheiden sollte. Er suchte nach einer Romanform, die- einen schlanken, nüchternen Erzählton gestattete, ohne all diese psychologisch verzweigte Menschengestaltung mit ihren Zwischentönen, Stimmungen und seelischen Nuancierungen. Der an der historischen Begebenheit orientierte Erzählton der antiken Geschichtsschreiber schien ihm dabei als eine sehr geeignete Vorgabe. Bei seinen Bemühungen um einen neuen Romantypus spielte zwar nicht nur das antike Vorbild eine Rolle, aber allein schon durch die literarischen Vorlagen empfing Brecht hier sehr nachhaltige Impulse. Allerdings fand Brecht bei diesem Vorhaben nicht die Unterstützung derer, die ihm sonst bei seinen nichtaristotelischen Versuchen theoretischen Beistand leisteten. Immer wieder wurde er gedrängt, sich doch nicht so entschieden von dem üblichen Roman abzugrenzen. Im Hinblick auf den Cäsar-Roman schrieb er etwas betrübt, aber dennoch an seinem Vorhaben festhaltend, in sein Arbeitsjournal: „gretes (Margarete Steffin, die Mitarbeiterin Brechts — W. M.) schwester, frau eines metallarbeiters, ist aus deutschland hier, sie liest in einem einzigen abend das zweite buch und findet es hochinteressant, ausgefragt von grete zeigt sie, dass sie so ziemlich alles verstanden hat. B E N J A M I N und S T E R N B E R G , sehr hochqualifizierte intellektuelle, haben es 124
nicht verstanden und dringend vorgeschlagen, doch mehr menschliches Interesse hineinzubringen, mehr vom alten romanl und dann ist noch steff da, der auf einer Fortsetzung besteht, das sollte ausreichen."171 Shakespeare und das elisabethanische Theater Shakespeare — das war für den Dramatiker Brecht der künstlerische Orientierungspunkt seines Lebens. Zwar änderten sich Meinung und Urteil über Shakespeare in den verschiedenen Phasen seines Lebens. Es gab Zeiten, da er dem großen Briten sehr kritisch gegenüberstand, aber der produktive Bezug zu Shakespeare und dem elisabethanischen Theater wurde nie ernstlich in Frage gestellt. Wenn Brecht bei der Suche nach neuen dramaturgischen Lösungen auf Schwierigkeiten stieß, pflegte er oft zu sagen: „Schaun wir amal, wie der Wilhelm das macht!" Obwohl allgemein bekannt ist, wie stark sich Brecht dem Vorbild Shakespeare verpflichtet fühlte, gibt es in der wissenschaftlichen Literatur darüber dennoch sehr extreme Vorstellungen. So schrieb der Däne Helge Hultberg, ein Spezialist für absonderliche Meinungen über Brecht, in seinem Aufsatz Bert Brecht und Shakespeare: „... es ist ein ziemliches Mißverständnis, daß das Brechtsche Theater eine besondere Affinität zum Shakespeareschen haben solle . . . Für Brecht ist Shakespeare der Anfang der Dekadenz des europäischen Dramas . . . Brecht gab niemals seinen Haß gegen Shakespeare auf, der die großen Tragödien schrieb."172 Hultberg hat Brecht gründlich mißverstanden, wenn er meint, daß Shakespeare für Brecht am ehesten das Synonym für das sei, was bekämpft werden soll. Das Gegenteil ist wahr, allerdings darf man Brechts Shakespeare-Verehrung nicht im Sinne eines Epigonen verstehen. Selbst in seiner Vorrede „Macbeth", in der er am kritischsten mit Shakespeare verfuhr, war er der Meinung, daß man Shakespeare „ruhig einen gewissen Kredit gewähren" könne.173 Immerhin geschah das in einer Phase, da Brecht die Werke der Klassiker für nicht sehr lebensfähig hielt. An anderer Stelle wurde bereits nachgewiesen, von welchen Beweggründen sich 125
Brecht bei seiner Kritik an den alten Stücken leiten ließ. Sosehr Brecht den Figurenaufbau der „großen Einzelnen" bei Shakespeare kritisierte, sowenig er sich mit einer Dramaturgie einverstanden erklären konnte, die alles auf den letzten Akt, die letzte Szene hintreibt, in der, wie Brecht sagt, die Meisterung des Schicksals dadurch stattfindet, indem die „Unbill" ertragen wird, erkannte er in den Stücken des großen Briten doch Elemente, auf die er sich beim Ausbau seines nichtaristotelischen Theaters zu stützen suchte. Das Verständnis für Shakespeare vollzog sich bei Brecht über die Art und Weise, wie dieser mit seinen Stoffen verfuhr: „ E r hat immer viel Rohmaterial auf die Bühne geschaufelt, unausgerichtete Schilderungen von Gesehenem. Und in seinen Werken sind jene wertvollen Bruchstellen, wo das Neue seiner Zeit auf das Alte stieß. Auch sind wir die Väter neuer, aber Söhne alter Zeit und verstehen vieles weit zurück und sind imstande, die Gefühle noch zu teilen, welche einmal überwältigend waren und groß erweckt wurden. Ist doch auch die Gesellschaft, in der wir leben, eine so sehr komplexe. Der Mensch ist, wie die Klassiker sagen, das Ensemble aller gesellschaftlichen Verhältnisse aller Zeiten." 1 7 4 Brecht lernt Shakespeare historisch begreifen, indem er auf den Widerspruch in der Gestaltungskunst des großen Briten stieß. Shakespeare schilderte den Untergang der Feudalen tragisch. Die Amokläufer einer untergehenden Klasse stattete er mit einer imponierenden Lebendigkeit, Kraft und Fülle aus, obwohl gerade diese Elemente einer neuen Gestaltungskunst sich im Ergebnis der Klassenkämpfe herausbildeten, die das aufsteigende Bürgertum gegen die Feudalordnung führte. Der universale menschliche Bezug, den die aufstrebende Bourgeoisie durch ihre gesellschaftliche Kraft als Klasse in die Kunst brachte, diente bei Shakespeare vorwiegend der Charakterisierung der großen Feudalen. „Die Experimente des Globetheaters wie die des Galilei, der den Globus in besonderer Weise behandelte, entsprachen der Umbildung des Globus selber. Das Bürgertum machte seine ersten zögernden Schritte." 175 Aber die neue Art der Menschengestaltung diente noch nicht der direkten Charakteristik des Bürgers, der seinen gesellschaftlichen Anspruch anmeldete. „Aber was gibt es Vielfältigeres, Wichtigeres und Interessanteres als den Untergang 126
großer herrschender Klassen?" läßt Brecht den Philosophen im Messingkauf sagen.176 Denn im Untergang einer ehemals mächtigen Klasse enthüllt sich die historische Gesetzmäßigkeit, treten die gesellschaftlichen Triebkräfte hervor. Erst im Untergang enthüllt sich das Wesen einer Ausbeuterklasse ganz, begreifen ihre Protagonisten ihr verfehltes Leben. Aus dieser Sicht erwuchs ein tiefes Verständnis für Shakespeare. Der späte Brecht, der den Coriolan bearbeitete, sah die „großen Einzelnen" in einem ganz anderen dialektischen Zusammenhang als der Brecht der zwanziger Jahre. Er warnte sogar davor, die Leidenschaften und Maßlosigkeiten der Shakespeare-Gestalten zu beschneiden, weil sich dann die Stärken Shakespeares gegen die Bearbeitung kehrten. Die Kraft und Schönheit dieser Werke traten für Brecht um so deutlicher hervor, je kräftiger sie in Gegensatz zu unserer Zeit gestellt werden. Shakespeare wie Brecht nehmen in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Dramas eine wohl einzigartige Position ein. Shakespeare entwickelte im Ergebnis der Klassenkämpfe der jungen Bourgeoisie gegen die Feudalordnung jene „großen Individuen", jene „Lebendigkeit und Fülle", mit der sich eine neue realistische Kunst ihre Bahn brach. Die Entdeckung und Gestaltung des Individuums in seiner neuen Universalität für das Drama — darin besteht die weltliterarische Leistung Shakespeares. Brechts Position muß darin gesehen werden, daß er im Ergebnis der großen Klassenschlachten nach dem ersten Weltkrieg und des Sieges der ausgebeuteten Massen durch die Sozialistische Oktoberrevolution eine Dramaturgie entwickelte, die es ermöglichte, die Massen und die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten auch in den individuellen Geschichten und Vorgängen der Menschen zu zeigen. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen sind Shakespeare und Brecht auf den ersten Blick Gegensätze. Was für den jungen Brecht, der soziologisch an das Phänomen Shakespeare heranging, noch unmöglich war, löste sich für den Marxisten Brecht. Die „großen Individuen" des Elisabethaners wurden zu einem wesentlichen Richtpunkt bei der Entwicklung des nichtaristotelischen Theaters. Dieser Prozeß vollzog sich in Widersprüchen. Was für den Brecht der zwanziger Jahre, den 127
Brecht der Macieib-Vottede, noch unvereinbar schien, ist für den Brecht der Co/w/