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German Pages 300 [301] Year 1973
Werner Mittenzwei
Brechts Verhältnis zur Tradition
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Werner Mittenzwei
Brechts Verhältnis zur Tradition
Akademie-Verlag • Berlin 1972
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1972 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/167/72 Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 3928 Bestellnummer: 2150/4 • ES 7 E EDV-Nr. 752 105 7
Inhalt
Vorbemerkung
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Revolution und Tradition oder Welcher Weg führt vom Neuen zum Alten?
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Der Tabula-rasa-Standpunkt und die Tradition . . . Die Materialwert-Theorie Neue Sicht auf alte Werke oder Was würde ein Marxist mit dem Wallenstein machen? Die Stellung zum Erbe als politische Frage. — Volksfrontpolitik und Literatur Auseinandersetzung um das Erbe. Brecht—Adorno— Marcuse—Lukäcs • Der Einfluß des historischen Mateiralismus auf Brechts Erbekonzeption
9 22 39 39 55 76
Wir müssen auf Vorbilder bedacht sein oder Welche Traditionslinie bestimmt das Brechtsche Werk? . . . .
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Das subjektive Moment im Verhältnis zum Erbe . Die Traditionslinie des Brechtschen Werkes . . . . Brecht und die deutsche Klassik
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Respekt vor den Klassikern — aber keine Einschüchterung durch Klassizität oder Theorie und Praxis der Brechtschen Erbeauffassung in der Deutschen Demokratischen Republik 186 Neue gesellschaftliche Bedingungen — neue Überlegungen zur Erbeauffassung 186 5
Worin besteht das eigenwillige Verhältnis des Theaters zum Erbe? 208 Die großen Bearbeitungen 218 Anmerkungen
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Auswahlbibliographie
265
Personenregister
293
Vorbemerkung
Mit dem vorliegenden Band, 1971 geschrieben, setze ich meine früheren Arbeiten über Brecht fort. Zugleich ist dieses Buch als ein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über Probleme der Traditionsbewältigung und Erbeaneignung gedacht, mit denen sich das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften seit mehreren Jahren beschäftigt. Die Literatur über Brecht ist im letzten Jahrzehnt in einem kaum übersehbaren Maße angeschwollen. Besonders zahlreich sind die Titel, die Brecht mit anderen Dichtern der Weltliteratur vergleichen. Relativ wenig Analysen gibt es jedoch, die Brechts Verhältnis zur Tradition, zur Weltliteratur insgesamt zu bestimmen versuchen. Noch immer dominiert in der Brecht-Forschung die Meinung, der Dichter habe in seinem Verhältnis zur Tradition eine Außenseiterposition innegehabt. Die vorliegende Arbeit will die falschen Extreme in der Darstellung von Brechts Position zum weltliterarischen Erbe überwinden helfen. Brecht war nicht der Vertreter einer ausgesprochen „plebejischen Tradition", der die Traditionslinie von Goethe, Hegel, Heine zu Marx durch eine andere Traditionsmarkierung zu Marx hin zu ersetzen suchte. Für Brecht war das literarische Erbe aber auch nicht etwas Selbstverständliches, zu dem sich die Menschen bekennen, weil es ihnen zufällt, weil es schließlich durch Größe legitimiert ist. Mehr als das Bekenntnis zur Tradition stellte Brecht die Widersprüche im bürgerlichen humanistischen Erbe heraus wie auch die Schwierigkeiten der Aneignung dieses Erbes. Empfänglich für „große Vorbilder", warnte er jedoch vor jeder Einschüchterung durch Größe, deshalb sann er auf Mittel 7
und Methoden, um Größe auf ihre Brauchbarkeit für neue gesellschaftliche Zwecke zu überprüfen. Auf diese Weise entstanden theoretische Überlegungen und methodische Verfahren, mit denen die marxistisch-leninistische Erbetheorie ausgebaut und weiterentwickelt werden konnte. In dieser Arbeit ging es darum, die einzelnen, oftmals sehr subjektiv anmutenden Bemerkungen und Arbeitsnotizen Brechts in historische und theoretische Zusammenhänge zu stellen. Dabei mußte auf Fragestellungen und Lösungswege eingegangen werden, die über den konkreten Anlaß und Bezug der einzelnen Notizen hinausgehen. Andererseits war es nicht möglich, alle Seiten des (Brechtschen Verhältnisses zur Weltliteratur in diesem Buch darzulegen. Wenn sich auch die Untersuchung vorwiegend auf die dramatischen und kunsttheoretischen Arbeiten Brechts erstreckt, so sind doch die wesentlichen Probleme erfaßt, die die Traditionsauffassung Brechts bestimmen. Es war nicht meine. Absicht, ein Kompendium über die weltliterarischen Einflüsse auf das Gesamtwerk Brechts zu schreiben. Selbst da, wo ich versuchte, eine Traditionslinie des Brechtschen Schaffens abzustecken, konnte nicht mit der Fülle von Bezügen und Hinweisen aufgewartet werden, die bei monographischen Arbeiten mit dem Thema „Brecht und . . ." möglich sind. Wichtig hingegen war mir zu zeigen, daß Brecht ein entschiedener Gegner jener Auffassung war, die das Erbe als „affirmativ" verteufelte, daß er aber auch eine Haltung ablehnte, die das Erbe, in dem Bemühen, es zu bewahren, nur pontifikal gebrauchte. Brecht sah den Sinn einer produktiven kritischen Erbeaneignung darin, daß die fortgeschrittenste Klasse — wie Lenin sagte — mit dem Erbe „arbeitet".
Berlin, Sommer 1971
Werner Mittenzwei
Revolution und Tradition oder Welcher Weg führt vom Neuen zum Alten?
Der Tabula-rasa-Standpunkt und die Tradition Um Brechts Verhältnis zum weltliterarischen Erbe richtig zu verstehen, muß man einige Gemeinplätze über diesen Dichter aufgeben. Brechts Traditionsverständigung vollzog sich in einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung. Von der viel strapazierten „unterkühlten" Diktion des Dichters kann hier keine Rede sein. Brecht stellte zum Problem des Erbes, der Tradition eine weitgespannte Konzeption zur Diskussion, kühn im Entwurf, befestigt durch eine ganze Reihe methodologischer Verfahren und Vorschläge. Zugleich waren diese Überlegungen nicht frei von hitziger Subjektivität und auch von Rivalität. In der Tradition sah Brecht weder eine erdrückende, fremde Macht noch etwas, was dem Menschen ganz selbstverständlich zufällt und zu dem man sich ebenso selbstverständlich bekennt. Er trat ihr eher wie einer lebendigen Versammlung gegenüber, von der er allerdings annahm, daß sie Grund habe, ihm nicht besonders wohlgesonnen zu sein. Mehr als die literarische Gegenwartsproduktion, die er in den zwanziger Jahren für sehr schwächlich hielt, war für ihn die Tradition das Polemikfeld, auf dem er sich durchzusetzen suchte. Sowenig Pietät er auch der Vergangenheit entgegenbrachte, so groß war doch sein Interesse, seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber. Seine Urteile waren alles andere als ausgewogen und abgeklärt, dienten sie ihm doch zur Formierung, zur Parteibildung innerhalb des literarischen Erbes. Auf diese Weise schloß er Bündnisse, trug er seine Kämpfe aus. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß Brechts Haltung zu den Großen der Weltliteratur verschiedene Phasen durch9
lief. Änderte er doch nicht nur seine Meinung zu einzelnen Dichtern, auch sein Verhältnis zur Gesamtheit des humanistischen literarischen Erbes wandelte sich im Laufe seines Lebens. Das ist nur zu verständlich bei einem Dichter, dem die Auseinandersetzung mit dem weltliterarischen Erbe keine rein literarische Angelegenheit war, sondern Teil des politischen Kampfes, der Verständigung über den Charakter der Gesellschaft und den Sinn menschlichen Daseins. Über seine Haltung zur Literatur der Vergangenheit hat sich Brecht in jeder Phase seines Lebens Rechenschaft gegeben. Dabei war er kein Essay-Schreiber, der, wie zum Beispiel Thomas Mann, in Reden und Aufsätzen sein Verhältnis zu den Großen der Weltliteratur darlegte. Auch an literarischen Auseinandersetzungen in Zeitungen und Zeitschriften beteiligte er sich höchst selten, und wenn schon, dann mehr in eigener Sache. Aber Brecht notierte gelegentlich seine Leseeindrücke, vor allem im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit für eine neue Literatur, für ein neues Theater. Am zahlreichsten und vielfältigsten sind seine Stellungnahmen in der ersten Phase seiner schriftstellerischen Entwicklung. Das ist sicher nicht nur dem Umstand zu danken, daß er sich in seiner Augsburger Zeit als Theaterkritiker betätigte, sondern seiner angestrengten Suche nach einer Position, von der aus er der Literatur seiner Zeit und der Vergangenheit gegenübertreten konnte. Brechts Ansichten über Literatur waren zu dieser Zeit noch nicht genau festgelegt. Er befand sich noch auf der Suche und war zu vielem geneigt, so daß seine Urteile noch keine bestimmte Position erkennen lassen. Der frühe Brecht zeigte sich relativ weitherzig in seinen Kunsturteilen. Er akzeptierte die verschiedensten Richtungen und Stile. So aggressiv, ja grob auch der Ton seiner Augsburger Theaterkritiken war, die polemische Schärfe gegen ganz bestimmte Kunsttraditionen und Kunstrichtungen, die für ihn schon wenige Jahre später kennzeichnend war, fehlte hier noch. Bei aller Originalität war sein Urteil noch nicht frei von konventionellen Ansichten. 1 * In seinen Beschreibungen be* Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die sowohl auf Literatur- oder Quellennachweise hindeuten als auch auf Sachanmerkungen, durch einen Stern gekennzeichnet.
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diente er sich der üblichen Maßstäbe einer bürgerlichen, vorwiegend impressionistisch getönten Kunstkritik. Er gebrauchte noch Wendungen und Kriterien, die er kurze Zeit später verdammte und verhöhnte. Selbst über einen solchen Dichter wie Hebbel, von dem er sich bald verächtlich abwandte, der für ihn geradezu zum Sinnbild für Gips und Stuck in der Literatur wurde, schrieb er: „Wie tief die Empfindung und wie rein und kühn der poetische Wille. Es ist drin viel Deutsches . . ." 2 Für Gides Bathseba fand er Worte, die aus der Sicht des späteren Brecht ironisch, parodistisch anmuten, die aber ernst gemeint waren: „Unerhört schön . . . eine zarte Elfenbeinmalerei mit bestürzend tiefer seelischer Fundierung. Hier ergeben Kultur, Dichtung, Gewissen eine wundervoll reine harmonische E i n h e i t . . . " 3 Georg Kaiser charakterisierte er folgendermaßen: „Hier ist ein Dichter . . ., noch in der schweren Elefantiasis des Gewissens . . ." 3 Im Gegensatz zu Hebbel und Gide war die Wertschätzung Brechts gegenüber Georg Kaiser von größerer Dauer, aber was ihn später beeindruckte, war nicht mehr die „Elefantiasis des Gewissens", sondern dessen dramaturgische Technik, die epische Anlage der Kaiserschen Stücke. Interessant ist auch, daß er zu dieser Zeit die Stücke Gerhart Hauptmanns liebte, die er später als wenig aktivierende Mitleidsdramatik verwarf und zu einem bevorzugten Gegenstand seiner Polemik machte. Der Augsburger Theaterkritiker Brecht sah selbst in Rose Bernd, ein revolutionäres Werk, das die Arbeiterklasse angeht. Er schrieb: „ . . . aber wir müssen hineingehen, es ist unsere Sache, die'in dem Stück verhandelt wird, unser Elend, das gezeigt wird. Es ist ein revolutionäres Stück." 4 Hauptmann war ein Dichter, den Brecht schon als Schüler über alles liebte. Die Veränderung im Verhältnis zu Hauptmann, die später eintrat, war ein wichtiges Anzeichen dafür, daß sich bei Brecht eine neue Vorstellung vom Drama herausbildete, die alte Vorbilder auslöschte, bisherige Wertschätzung aufkündigte. In die Augsburger Zeit fällt auch die bekannte Äußerung Brechts zu Schillers Don Carlos-. „Ich habe den ,Don Carlos', weiß Gott, je und je geliebt. Aber in diesen Tagen lese ich in Sinclairs ,Sumpf' die Geschichte eines Arbeiters, der in den Schlachthöfen Chicagos zu Tod gehungert wird. Es handelt 11
sich um einfachen Hunger, Kälte, Krankheit, die einen Mann unterkriegen, so sicher, als ob sie von Gott eingesetzt seien. Dieser Mann hat einmal eine kleine Vision von Freiheit, wird dann mit Gummiknüppel niedergeschlagen. Seine Freiheit hat mit Carlos' Freiheit nicht das mindeste zu tun, ich weiß es: aber ich kann Carlos' Knechtschaft nicht mehr recht ernst nehmen." 5 In dieser Bemerkung wird vielfach der Beginn von Brechts Radikalisierung gegen die Klassiker gesehen. Dieser Lektüreeindruck sollte jedoch nicht überschätzt werden. Denn die eigentliche Periode der Auseinandersetzung mit den Klassikern begann erst von jenem Zeitpunkt an, als sich Brecht über die Ursachen dessen klarzuwerden versuchte, was man in den zwanziger Jahren den „Klassikertod" nannte. Mit ihr kündigte Brecht, wie er selbst einmal formulierte, seine „nachlässige Kampfstellung" gegenüber der Literatur seiner Zeit wie der Vergangenheit auf.6 Brechts Wendung „Ich habe den ,Don Carlos', weiß Gott, je und je geliebt" weckt zudem die Vorstellung, als schlage eine bislang vorbehaltlose Liebe zu Schiller plötzlich in Kritik um. Neuere Forschungen weisen jedoch nach, daß Brecht bereits in seiner Gymnasialzeit gegen Schiller Einwände vorbrachte, die in einem Fall sogar dazu führten, daß die Lehrer erwogen, ihn von der Schule zu verweisen.7 Die zunehmende Radikalisierung gegenüber den Klassikern bedarf hinsichtlich ihrer Ursachen einer näheren Erläuterung. (Zumal die Don-Carlos-Bemerkung darüber nur ungenau Auskunft gibt.) Die kritische Sicht, in die Schiller bei Brecht geriet, erinnert an ähnliche Stellungnahmen sozialistischer Schriftsteller in den frühen Phasen ihrer Entwicklung. Nahe liegt ein Vergleich mit Friedrich Wolfs Aufsatz Kunst ist Waffe, in dem dieser ausführte: „Bitte, sich nicht vor Ekel abzuwenden und zur .Iphigenie' oder zur Erhabenheit gotischer Dome zu flüchten! Es wohnen durchschnittlich in einem Haus in London 8 Personen, in Paris 38 Personen, in Berlin 76 Personen! Was soll uns da der .Wilhelm Teil'?! Was geht uns der Parricida und Geßler an? . . . Gebt den Jungens Arbeit, Brot, Atemraum und ein eigenes Bett! Aber laßt sie mit der Iphigenie und dem Wilhelm Teil in Ruhe, die h e u t e für den Jungarbeiter nichts anderes sind als Dunst, Opium 12
und Phrase! Zustimmung Arno Holz: , . . . Dem Elend dünkt ein Stückchen Butter/Erhabener als der ganze Faust.'" 8 Eine solche Haltung zu den deutschen Klassikern findet man auch bei Johannes R. Becher, Egon Erwin Kisch, Oskar Kanehl, Rudolf Braune und vielen anderen. Sie war in den zwanziger Jahren in den verschiedenen proletarischen Kulturorganisationen weit verbreitet. Wolfs Haltung war durchaus kein Einzelfall; sie war vielmehr Ausdruck einer Zeitstimmung. Über diese Zeit zwischen 1918—1933 schrieb Friedrich Albrecht, der sich mit dem Verhältnis von sozialistischer Literaturbewegung und deutscher Klassik befaßte, daß sie dem klassischen Erbe keine solche Aufmerksamkeit gewidmet habe wie die deutschen Linken in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Zwar seien Anfang der zwanziger Jahre noch Ansätze zur Weiterführung der Mehringschen Tradition vorhanden gewesen, aber zwischen 1924 und 1929 seien in der kommunistischen Presse viel sporadischer als vorher Beiträge erschienen, die sich intensiver mit der klassischen Literatur beschäftigten. Erst ab 1929/30 ändere sich dann das Bild allmählich. 9 Die Gründe dafür sind sicher vielfältig. Albrecht nannte einen wichtigen Grund: „Sehr oft nämlich stellt es sich bei näherer Betrachtung heraus, daß die Ursache für oppositionelle Stimmungen gegenüber der Klassik in der Ablehnung jener Seiten ihres Weltbildes liegen, die ohne kritische Korrektur nicht übernommen werden konnten . . . " 1 0 Becher sprach von dem „dumpfen, sich selbst verzehrenden Haß" auf die Tradition einer Klasse, die ihr progressives Erbe zum Verschmieren der Klassenwidersprüche, zum „frommen Betrug" gebrauchte. 11 Hier war die Negation der Klassik ein Moment des Übergangs fortschrittlicher bürgerlicher Intellektueller auf die Position der Arbeiterklasse. Diese Intellektuellen empfanden die Tradition als eine Last, als einen Alpdruck, von dem sie sich auf radikale Weise zu befreien suchten. Für Friedrich Wolf und die proletarischen Schriftsteller war die Haltung zur Klassik Ausdruck des Protestes, der Opposition. Solange Not und Elend herrschten, sollte nicht von Schönheit gesprochen werden, sollte nicht der Kunstwert, sondern der Kampfwert einer Dichtung im Mittelpunkt stehen. Die proletarische Opposition gegenüber der deutschen 13
Klassik unterschied sich in ihren Motiven wie in ihren Äußerungen von modernistischen Antiklassikpositionen, wie zum Beispiel der der Berliner Dadaisten. Die Dadaisten verulkten Goethe unter der Devise „Kunst ist Scheiße".12* Dieser Antiklassik-Position lag aber mehr eine Bilderstürmerhaltung als eine sozial motivierte Einstellung zugrunde. Brecht läßt sich in keine dieser Oppositionsbewegungen richtig einreihen. Seine Beweggründe sind andere. Er wandte sich weder vom Standpunkt der materiellen Not und des Elends der arbeitenden Klasse wie Friedrich Wolf noch im Namen einer neuen Ästhetik wie die Berliner Dadaisten gegen die Klassik. Die Motive, die Brecht veranlaßten, sich gegen die Klassik zu wenden — Klassik hier im weitesten Sinne des Wortes —, sind außerordentlich aufschlußreich im Hinblick auf die neue weltanschauliche und ästhetische Position, zu der sich Brecht hinentwickelte. Zunächst war er in seiner Argumentation weit weniger edel und sozialdenkend als Friedrich Wolf, aber auch weit weniger ästhetisch argumentierend als die Dadaisten. Brecht brachte im Prinzip gegen die Klassik wie überhaupt gegen den größten Teil des literarischen Erbes die gleichen Argumente ins Spiel wie gegen zeitgenössische bürgerliche Literatur: Sie diene keinem großen gesellschaftlichen Interesse und spiegele hauptsächlich den „Glauben an die Persönlichkeit" wider. Vorerst soll hier nicht untersucht werden, inwieweit Brecht einem Irrtum unterlag. Vielmehr geht es darum, wie seine Gründe zu verstehen sind. Da Brecht gerade in dieser Zeit sprunghaft in seinem Denken war, sich verschiedenen Möglichkeiten verschrieb und sich nicht selten auch widersprach, sind diese Gründe nicht leicht zu erkennen. Die vergangenen Kunstperioden überblickend, stellte Brecht in bezug auf das Theater 1927 fest, daß es „irgendwann ein Theater gegeben hat, das mit dem Leben in einem ganz anderen Kontakt stand". 13 Ein solches Theater war für ihn das Theater Shakespeares. Diesem Dramatiker war er immer bereit, einen „gewissen Kredit" einzuräumen. Bei den deutschen Klassikern, so fand Brecht, war dieser Kontakt zum gesellschaftlichen Leben bereits nicht mehr vorhanden. Die Klassiker, so vermerkte Brecht, „können weit eher auf philosophische 14
Vorbiidung hinweisen als auf einen philosophischen Gehalt ihrer Stücke". Hierin sah er geradezu das Elend der deutschen dramatischen Literatur. Eine solche „unglückliche Tradition" habe dazu geführt (hier zitiert Brecht Alfred Döblin), daß man aus einem Drama niemals das Leben, sondern nur den Geisteszustand des Dramatikers erfahren könne. Insbesondere die Entwicklung von Friedrich Schiller zu Friedrich Hebbel zeige, daß, wo die deutschen Dramenschreiber zu denken anfingen, sie auch zu konstruieren begännen. „Shakespeare", hob er dagegen hervor, „hat das Denken nicht nötig." 1 4 Unstimmig, zu leeren Konstruktionen erstarrt, empfand Brecht den größten Teil der bürgerlichen Dramatik schon deshalb, weil er in ihr die Persönlichkeit, den menschlichen Charakter als eigentliche Triebfeder aller historischen Vorgänge beschrieben sah. Daß etwas in dieser Welt durch außergewöhnliche Charaktere und große Persönlichkeiten verändert oder bewerkstelligt werden könne, hielt Brecht angesichts der Erfahrungen des ersten Weltkrieges und der großen Klassenschlachten der Nachkriegsjahre schlechthin für Aberglauben. Die historischen Vorgänge hatten ihn belehrt, in welcher Weise das Individuum noch eine Rolle zu spielen vermochte: als Teil der Masse. Die Demonstration durch den historischen Prozeß empfand Brecht so überzeugend, daß er die individuumsbetonte Erzählweise der alten Literatur für ein Hindernis auf dem Wege zu einer neuen Kunst hielt. Dabei war die Zerstörung der Legende von der alles bewirkenden Kraft der „großen Individuen" freilich auch mit dem Verlust dialektischer Einsicht in die echten Möglichkeiten des Menschen verbunden. Zunächst aber war Brecht fasziniert von der neuen Erkenntnis: „Der einzelne als solcher erreichte eingreifende Wirkungen nur als Repräsentant vieler. Aber sein Eingreifen in die großen ökonomisch-politischen Prozesse beschränkte sich auf ihre Ausbeutung. Die ,Masse der Individuen' aber verlor ihre Unteilbarkeit durch ihre Zuteilbarkeit. Der einzelne wurde immerfort zugeteilt, und was dann begann, war ein Prozeß, der es keineswegs auf ihn abgesehen hatte, der durch sein Eingreifen nicht beeinflußt und der durch sein Ende nicht beendet wurde." 1 5 15
Mit solchen Auffassungen stand Brecht nicht allein. Nach dem ersten Weltkrieg, insbesondere unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Erschütterungen und der großen Klassenschlachten, entwickelten bürgerliche Ideologen verschiedene Persönlichkeitskonzeptionen, die sich auf den Abbau der alles bewirkenden Macht der großen Persönlichkeiten richteten. Diese Konzeptionen stellten vor allem das „versachlichte", abstrakte Individuum heraus, das seiner eigentlichen menschlichen Wesenskräfte beraubt sei. Der Mensch empfände sich nur mehr als winziges Teilchen innerhalb eines riesigen, aber völlig sinnlosen Mechanismus. Ernst Schumacher charakterisierte diese Auffassung sehr treffend mit dem Satz: „Das ,Menschenmaterial' des Weltkriegs begann die Materialität der Welt als eigenes Wesen zu empfinden." 16 Zwar zeugten diese Konzeptionen von einem schärferen Blick für die Wirklichkeit, aber sie erfaßten dennoch nur die Oberfläche menschlicher Entfremdung, nicht die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen. Die Abrüstung des Individuums, der Persönlichkeit geschah mit dem Hinweis auf die Abhängigkeit des Menschen von „übermächtigen", „blind wirkenden" Kräften. „An die Stelle des Glaubens an ein persönliches, mit der Wesenheit des Menschen in geheimer Kongruenz stehendes Schicksal tritt das Bewußtsein einer starken Bedingtheit durch sinnlose und zufällige äußere Faktoren." 1 7 Von diesen irrationalistischen Auffassungen muß man die Persönlichkeitskonzeption des jungen Brecht abtrennen. Selbst zu einer Zeit, als Brecht die wirklichen Zusammenhänge noch nicht zu durchschauen vermochte, war er weit davon entfernt, die Abhängigkeit des Menschen in „übermächtigen" oder „zufälligen" Faktoren zu suchen. Die Abhängigkeit des Individuums interessierte ihn nur im Zusammenhang mit den Einflußmöglichkeiten der Massen. Von den ersten Überlegungen zu diesem Problem bis zu den gründlichen Studien über die Dialektik von Individuum und Masse in den dreißiger Jahren ging er stets von einer gesellschaftlichen Fragestellung aus und unterschied sich auf diese Weise sehr deutlich von den bürgerlichen Persönlichkeitskonzeptionen, die nur die Oberfläche der kapitalistischen Entfremdung berührten. 16
Die neue Erkenntnis war für Brecht so wesentlich und .wichtig, daß sie für ihn zum beherrschenden Maßstab wurde. Er wandte sie auf eine Art und Weise an, daß selbst die großen Werke der Vergangenheit vor seinem Urteil keinen Bestand hatten. Dabei übersah er allerdings den urwüchsigen Materialismus vieler großer literarischer Werke der Vergangenheit und leitete aus der individuumsgebundenen ästhetischen Struktur der Werke eine geschichtsidealistische Haltung ab, einen Glauben an die Macht des Individuums. Eine solche Tendenz war aber weniger im Stoff selbst als mehr in der Erzählweise der Fabel oder einfach in der Tatsache zu suchen, daß eine dramatische Geschichte vom Helden her erzählt wurde. Hier vermischte sich seine Kritik am literarischen Erbe mit den Prinzipien einer neuen, prozeßorientierten Erzählweise, die ihm damals vorschwebte und die er zu etablieren suchte. Er kritisierte somit die Kunst der Vergangenheit von der Position einer Kunst, die er erst durchzusetzen beabsichtigte. Auf diese Weise stellte er aber das literarische Erbe nicht nur in eine kritische Sicht, vor der es nicht bestehen konnte, er machte es auch mehr oder weniger zum direkten Gegenpol der neu zu schaffenden Kunst. Das hatte zur Folge, daß er den alten Werken oftmals mehr Schwächen anlastete, als sie entwicklungsbedingt aufwiesen. Über die konträren Gesichtspunkte einer Literatur, die von der Rolle der Persönlichkeit ausgeht, und einer Literatur, die ihren Stoff vom historischen Prozeß her organisiert, entwickelt Brecht seine Vorstellung von der epischen Erzählstruktur. Die undifferenzierte, pauschale Kritik an der alten Literatur war somit eine Art Selbstverständigungsprozeß über die Eigenschaften einer neuen, im Entstehen begriffenen Literatur. Bei einem solchen Verfahren, das dem Historiker verwehrt, dem Künstler aber erlaubt ist, war eine differenzierte Wertung des klassischen Erbes nicht möglich. Brecht ging es letzten Endes jedoch auch nicht um eine solche historische Analyse. Er versuchte, neue gesellschaftliche Erfahrungen für seine Kunst dienstbar zu machen, indem er zunächst die positiven Merkmale dieser neuen Kunst durch Kritik an den alten Werken herauskristallisierte, indem er sich Klarheit über die Vorzüge der einen durch die Erhellung — und auch Entstellung — der anderen verschaffte. 2
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Aus diesem Gedanken wird deutlich: Noch bevor Brecht seine Vorstellung vom epischen Theater realisierte, trat er als Kritiker des bisherigen Theaters, der bisherigen Kunst auf. Er kritisierte die alte Kunst von den gesellschaftlichen Unstimmigkeiten her, die ihm zunächst noch unklar, noch nicht in allen Ursachen und Zusammenhängen bewußt waren. Er konfrontierte seine aus Krieg und Klassenkämpfen gewonnenen gesellschaftlichen Erfahrungen mit den Werken des klassischen Erbes und fand es nur folgerichtig, daß diese Kunst ihr Publikum verlor. Bei der weiteren Ausarbeitung seiner Vorstellung vom epischen Theater ging Brecht immer mehr dazu über, das literarische Erbe wie die gesamte bisherige Kunstentwicklung aus der Sicht seiner neuen Kunstvorstellungen zu kritisieren. Das führte zu weiteren Widersprüchen. Sie zeigten sich insbesondere in der Haltung zu Shakespeare. Einerseits gewährte er Shakespeare weiterhin „Kredit". Er gab ihn als Vorbild nicht preis. Hin und wieder spielte er ihn positiv gegen die deutsche Klassik und die schwächliche modernistische Gegenwartsproduktion aus. Andererseits aber fand Brecht gerade in den Stücken des großen Briten den „Glauben an die Persönlichkeit", die Amokläufe der „großen Individuen" gestaltet. Jedoch erwies Brecht im Verhältnis zu Shakespeare mehr historischen Sinn als gegenüber den deutschen Klassikern. „Das elisabethanische Drama", schrieb Brecht, „hat eine mächtige Freiheit des Individuums etabliert und es großzügig seinen Leidenschaften überlassen . . . Diese Freiheiten mögen unsere Schauspieler ihr Publikum weiterhin auskosten lassen. Aber zugleich, in ein und derselben Gestaltung, werden sie nunmehr auch die Freiheit der Gesellschaft etablieren, das Individuum zu ändern und produktiv zu machen." 18 In dieser Erklärung versuchte Brecht, die Eigenart des elisabethanischen Theaters mit jenem Fortschritt zu verbinden, den er mit dem neuen epischen Theater zu erbringen suchte. Brecht zeigte den Fortschritt des einen Zeitalters, um auf den Fortschritt hinzulenken, der von seinem Zeitalter' erwartet wurde. Ansonsten sind die meisten der frühen ShakespeareEinschätzungen jedoch kritisch gegen die „großen Charaktere" gerichtet. „Wir finden im alten Theater eine ausgebildete 18
Technik vor", schrieb Brecht auch über Shakespeare, „die es gestattet, den passiven Menschen zu beschreiben. Sein Charakter wird aufgebaut, indem gezeigt wird, wie er seelisch auf das reagiert, was ihm geschieht. . . Die Menschen handeln zwangsmäßig, ihrem .Charakter' entsprechend, ihr Charakter ist ,ewig', unbeeinflußbar, er kann sich nur zeigen, er hat keine den Menschen erreichbare Ursache. Es findet eine Meisterung des Schicksals statt, aber es ist die der Anpassung; die ,Unbill' wird ertragen, das ist die Meisterung. Die Menschen strecken sich nach der Decke, es wird nicht die Decke gestreckt." 19 In diesen Fragen gab Brecht Shakespeare keinen Kredit. Vom Standpunkt einer Dramatik, die an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert ist, lehnte er die Tragik der Rose Bernd ebenso ab wie die des König Lear. Das wird deutlich, wenn man seine Einwände gegen Hauptmanns Rose Bernd und Ibsens Gespenster mit der Kritik an Shakespeare König Lear vergleicht. „Nehmen wir an, ich sehe im Theater ,Rose Bernd' oder die .Gespenster' . . . warum empfinde ich nichts dabei? . . . weil ich hier etwas tragisch finden soll, was man ohne weiteres oder mit weiterem durch einige zivilisatorische Maßnahmen oder auch ein wenig Aufklärung . . . aus der Welt schaffen kann." 20 Und zu Shakespeares Stück bemerkt er: „Nehmen wir noch einmal den Lear, führen wir ihn vor Verhaltensforschern auf. Meint man, die tragische Wirkung tritt ein, wenn der Zuschauer sich fragt, ob denn das Essen, das Lear von seiner Tochter für 100 Höflinge verlangt, da ist, woher es gegebenenfalls zu schaffen wäre?" 21 In der Polemik mit unzeitgemäßen, unstimmigen Darstellungsverfahren der alten Kunst wie der bürgerlichen Gegenwartskunst, in seinem Bemühen, neuen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnissen Eingang in die Literatur zu verschaffen, verfiel Brecht selbst einer unhistorischen Betrachtungsweise. Brecht täuschte sich, wenn er meinte, daß die tragische Wirkung einer Situation aus der Vergangenheit durch den entsprechenden Fortschritt in der Gegenwart aufgehoben werde. Die Einsicht des heutigen Menschen wie seine „zivilisatorischen" Möglichkeiten heben nicht die tragische Wirkung auf, die aus der Darstellung von Situationen entsteht, in denen diese Einsichten und Hilfen nicht zur Verfügung 2»
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stehen konnten. Im Kunstgenuß vollzieht der Mensch nämlich das historische Feld der Möglichkeiten mit, wenn der entsprechende Vorgang vom Dichter als ein gesellschaftlicher, historisch gegebener dargestellt wird. Der Stoß, den Brecht gegen alle bisherige Kunstentwicklung führte, sollte frontal sein, sie als Ganzes treffen. Es ging ihm nicht um den Einzelfall, nicht um diese und jene Schwäche im Werk des einen oder anderen Dichters. Die Schwäche aller bisherigen Kunst aber sah Brecht darin, daß sich die Vielzahl ihrer Gestaltungsmittel und Darstellungsverfahren auf den einzelnen richteten und wiederum Wirkungen beim einzelnen, vor allem im Bereich des Seelischen, auszulösen versuchten. Die bisherige Kunst habe sich nur imstande gesehen, das Leben des einzelnen zu gestalten. Der „Charakter" mit all seinen mächtigen Leidenschaften und seinen feinen Stimmungen sei zur zentralen Kategorie der Literatur geworden. Und ihren Endzweck sehe diese Literatur wiederum in der Auslösung von Stimmungen und seelischer Beruhigung. Durch die „Charaktergestaltung", durch die Kultivierung von Darstellungsverfahren, mit denen Leidenschaften vorgeführt werden konnten, sei die Kunst ruiniert worden. Die bürgerliche Klasse habe die Literatur und Kunst, so fand Brecht, auf die Stufe von „Charaktergemälden" heruntergewirtschaftet. Die gesamte Entwicklung sah er in einer Sackgasse. Aber gerade eine solche Situation könne zu ganz neuen Wegen veranlassen, wenn man sich bewußt werde, daß man sich in einer Sackgasse befinde. Aus diesem Grund hielt er jeden Versuch, dem menschlichen Charakter noch eine neue seelische Nuance, noch eine psychische Besonderheit, noch eine nicht bekannte Leidenschaft abzugewinnen, nur für geeignet, sich weiter in der Sackgasse zu verrennen. Deshalb war seine Losung: Weg mit dem „Charakter"! — Her mit den gesellschaftlichen Prozessen! Nicht das Individuum, sondern das Kollektiv sei der Ausgangspunkt der Kunst. „Kunst ist nicht Individuelles. Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches." 2 2 Die Situation, in der sich Brecht damals befand, wie auch der eigentliche Sinn der ganzen Auseinandersetzung wird nicht verständlich, wenn man Brechts Kunstbetrachtungen nur am 20
Sinn für historische Gerechtigkeit mißt. Das würde nur zu Kopfschütteln darüber führen, wie ungerecht und historisch unsachgemäß viele Große der Vergangenheit von Brecht behandelt wurden. Brecht unterlag bei seinen Betrachtungen einer doppelten Optik. Er ging von dem zeitgenössischen Zustand, der von der spätbürgerlichen Ästhetik beherrscht wurde, aus. Diese Ästhetik hatte aber tatsächlich alle Wirklichkeit-Kunst-Beziehungen psychologisiert, hatte den „Charakter", das „Seelische" zum Drehpunkt der Kunst gemacht. Aus der Kunst und Literatur waren mehr oder weniger alle Elemente des wirklichen Lebens, alles, was die Entwicklung der Gesellschaft tatsächlich beeinflußt, ausgeschlossen. Den von hier aus gewonnenen polemischen Standpunkt übertrug Brecht auch auf die Literatur weiter zurückliegender Phasen und Epochen, ohne sich allzu eingehend mit den konkreten historischen Bedingungen zu befassen. Die Auseinandersetzung mit den „schwächlichen" Produkten der bürgerlichen Gegenwartsliteratur hielt Brecht für keinen seinem Anliegen angemessenen Gegenstand. Große Veränderungen wollte er nicht an kleinen, wenig aussagekräftigen Vorgängen demonstrieren. Deshalb richtete sich seine Aufmerksamkeit mehr auf die Literatur vergangener Epochen als auf die zeitgenössische. Die Übertragung der aus dem Zustand der spätbürgerlichen Ästhetik abgeleiteten Polemik auf das breite Feld des weltliterarischen Erbes führte dann zu einer Radikalität, die mit der bisherigen Literaturentwicklung fast tabula-rasa machte. Diese Tabula-rasa-Haltung kam vor allem zum Ausdruck, als er Mitte der zwanziger Jahre auf die Rundfrage „Was halten Sie für Kitsch?" schrieb, man möge da ruhig den ganzen Kürschner abdrucken. Die paar Namen, die er gestrichen haben wolle, könne er in einem Drei-MinutenGespräch telefonisch durchsagen. 23 Wenn man bei der Analyse der Brechtschen Haltung auch den vorbedachten ironischen, provokanten Ton in Rechnung stellen muß, so sollte man sich aber nicht darüber täuschen, daß es Brecht mit seiner Meinung ernst war. Von der „nachlässigen Kampfstellung" erfolgte der Umschlag in eine Haltung gegen alles, was nicht wenigen Menschen seiner Zeit lieb und teuer war. In einer späteren Tagebuch-Notiz wies Brecht 21
einmal darauf hin, daß man die Tabula-rasa-Situation, das Beginner-Gefühl brauche, wenn man etwas Neues schaffen wolle. Diese Bemerkung ist bei Brecht nicht im Sinne der Liquidation, des Verwerfens alles Bisherigen zu verstehen. Aber die tatsächliche, die dialektisch verstandene Aufhebung führt immer über das Moment der Negation hinaus. Innerhalb des historischen Prozesses, im Leben des einzelnen wie in der Gesamtheit der Gesellschaft, tritt dieses Moment in vielfältiger Gestalt, in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Wie widerspruchsvoll dieser Prozeß im Leben Brechts verlief, geht schon daraus hervor, daß er unmittelbar zu dem Zeitpunkt, als er von der „nachlässigen Kampfstellung" zu der Tabula-rasa-Haltung überwechselte, nach Tradition verlangte. Bei aller Radikalität war er nicht bereit, auf Tradition zu pfeifen. „Handelt es sich jedoch um wirkliche, revolutionäre Fortführung", vermerkte er, „so ist Tradition nötig." 24 Tabula-rasa machen und auf Tradition bestehen, das ist ein schwer erklärbarer Widerspruch. Aber Widersprüche dieser Art sind es, die große Entwicklungen auslösen. Im Zusammenhang mit seiner radikalen Kritik an der bisherigen Kunstentwicklung begann Brecht, eine Traditionslinie aufzubauen, die nicht schlechthin von Werken markiert wurde, die er besonders schätzte, sondern die den Versuch darstellte, eine Ahnenreihe des epischen Theaters ausfindig zu machen. Sie war weit gespannt. Sie reichte vom „asiatischen" Vorbild über Shakespeare bis zu Georg Kaiser, der für Brecht „am Ende dieser Tradition" stand.25
Die Materialwert-Theorie Im Messingkauf spricht der Philosoph davon, daß man dem Dichter nur soweit folgen solle, wie er der Wahrheit und den öffentlichen Interessen diene, sonst aber, schlägt der Philosoph vor, wäre der Dichter zu verbessern. Darauf antwortet der Dramaturg: „Ich frage mich, ob du wie ein kultivierter Mensch sprichst." 26 Wenn man die literaturtheoretische Entwicklung der letzten Jahrzehnte übersieht, so ist die Antwort des Dramaturgen eigentlich noch heute die Antwort der Litera22
turwissenschaft auf Brechts Materialwert-Theorie. Die marxistische Germanistik, lange Zeit ausgerichtet nach den Theorien Georg Lukäcs', hat es sich mit Brecht stets schwer gemacht und sich nur schrittweise zu seinen Theorien und methodologischen Verfahren bekannt. Gegenüber der MaterialwertTheorie ist sie bis heute abweisend geblieben. Sie bildete sozusagen die äußerste Grenze, an die man mit Brecht zu gehen bereit war. Weitaus mehr Widerhall fand diese Theorie dafür in der künstlerischen Praxis, insbesondere im Theater. Die Art und Weise, wie dort gelegentlich von ihr Gebrauch gemacht wurde, hat aber das Ansehen dieser Theorie nicht gehoben. Die Widersprüche traten eher noch schärfer hervor. Der gegenwärtige Stand der Brecht-Forschung drängt die Frage auf: Muß man die Materialwert-Theorie Brechts nicht einfach als einen Irrtum des jungen Brecht bezeichnen, der von ihm selbst überwunden wurde? Wozu dann einen toten Hund ausgraben? Wer die theoretischen Schriften Brechts kennt, ist sich klar darüber, daß es in dieser Frage eine Entwicklung gegeben hat. Aber eine historische Wertung im Sinne des historischen Materialismus kann sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß ein Standpunkt durch einen besseren, nützlicheren überwunden wurde. Der tatsächliche Vorgang ist komplizierter. Zunächst ist zu klären, welche Gründe Brecht zu dieser Theorie veranlaßten und in welcher Situation sie entstand. Auf die Materialwert-Theorie kam Brecht in einer Zeit, in der die Darstellungsform der Klassik auf dem Theater in eine Krise geraten war. Nach dem ersten Weltkrieg trat ein großer Teil des Publikums seinen Klassikern, wenn auch nicht immer mit Mißtrauen, so doch mit einer veränderten Einstellung gegenüber. Diese Veränderung der Zuschauergewohnheit, des Publikumsgeschmacks war alles andere als rein literarisch, sie erwies sich als ein Resultat historischer Vorgänge. Selbst dem apolitischen Zuschauer blieb die große gesellschaftliche Krise nicht verborgen. Auch er machte seine gesellschaftlichen Erfahrungen. Die Krise der Klassikerdarstellung stand im direkten Zusammenhang mit der Gesellschaftskrise. Der Theaterkritiker Herbert Jhering formulierte damals aus seiner Sicht: „Die Bewegung gegen die Klassiker ist international. Die Zer23
trümmerung traditioneller Werte hat in Rußland begonnen wie in Deutschland. Wenn England, Frankreich und Amerika noch zurückbleiben, so nur deshalb, weil Amerika keine Tradition hat, weil England und Frankreich konservative Theaterländer sind, langsamer in Bewegung geraten und kaum bei Reinhardt stehn." 2 7 Brecht, dessen radikale Position schon beschrieben wurde, faßte die Frage weit globaler. Seine Kritik richtete sich nicht nur gegen die gegenwärtige Darstellungsform der klassischen Stücke, sondern auch gegen die Klassiker selbst. (Nur im Dialog mit Jhering suchte Brecht seine Auffassung hinsichtlich der Kritik an der Darstellungsweise der klassischen Stücke und an den Klassikern zu differenzieren.) Um das ganze Problem noch auf die Spitze zu treiben, umgab Brecht seine Materialwert-Theorie selbst mit dem Fluidum der Anrüchtigkeit, indem er sie ganz offen mit den Praktiken der Vandalen verglich, die von der Kunst ihrer Vorgänger nur den Materialwert schätzten. Denn dafür wußten sie noch eine Verwendung, während der inhaltlich-ideologische Aussagewert ihnen nutzlos erschien, weil er sich nicht mit ihren gesellschaftlichen Interessen deckte. Sie hielten sich an die Nützlichkeit des Materials. Brechts Formulierungen waren sehr bewußt auf Provokation und zugleich als Bekenntnis zu den Anführern des „Vandalentums auf dem Theater", nämlich zu Jessner und Piscator, angelegt. Die Krisis der klassischen Darstellungsform war allgemein. Sie war beredter Ausdruck für die Unstimmigkeiten, für das Mißverhältnis zwischen bürgerlicher Kunstausübung und dem tatsächlichen gesellschaftlichen Leben. Der Verfall der klassischen Darstellungsform ging einher mit dem Verfall der bürgerlichen Literaturwissenschaft. Die Ausführungen von Jessner und Piscator waren in dieser Situation nicht Ausdruck des Verfalls einer großen Literaturtradition, sie waren nur die kritische Reaktion auf diesen Verfall. Sie stellten den aussichtslosen Versuch dar, der Krise durch radikale Regielösungen beizukommen. In der Sicht des verkehrten Bewußtseins erschienen aber gerade die als Verderber, die die Verderbnis erkannt hatten. Als verkommen galten die, die die Verkommenheit des bürgerlichen Traditionsbewußtseins aufzudecken versuchten. 24
Obwohl das spätbürgerliche Theater der zwanziger Jahre im starken Maße wissenschaftsfeindlich war, war es mit der Entwicklung der Literaturwissenschaft, insbesondere der Germanistik, oftmals eng verbunden. In einem ausgesprochenen Bildungstheater, wie es das deutsche war, spiegelte sich die Tendenz dieser Wissenschaft ganz unmittelbar wider. Wenn es auf dem spätbürgerlichen Theater zu einer immer breiteren Privatisierung und immer stärkeren Psychologisierung aller großen gesellschaftlichen Vorgänge kam, so war die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Scherer zu Dilthey und seinem populären literaturtheoretischen Vertreter Gundolf daran nicht schuldlos. Durch diese Entwicklung wurde ein großer Teil des theoretischen Arsenals zur Privatisierung der Klassiker bereitgestellt. 1916 erschien Friedrich Gundolfs Goethe-Buch, das, wie" Paul Rilla schrieb, in kurzer Zeit zum „Hausbuch der gebildeten Familie" werden sollte: „Denn die bürgerliche Bildung hatte Fortschritte gemacht. Nicht einmal mit biographischen Intimitäten konnte man ihr mehr imponieren, sie waren zu realistisch. Womit man ihr imponieren konnte, war ein Pathos, das weder gedanklich noch stofflich zu kontrollieren, sondern nur vermittels irrationaler Zündungen zu erspüren war . . . Goethe als Kraft (ohne Stoff), Goethe als Wirkung (ohne Ursache), Goethe als Ereignis (ohne Folge) — es lief immer auf dasselbe hinaus: Goethe als Mythos ohne Geschichte. Denn Geschichte, Entwicklung, Fortschritt sollte es nicht mehr geben . . . Aus dem luftleeren Raum des bloß noch zu seiner eigenen Unwirklichkeit entschlossenen Zeitgeistes erschuf Gundolf das Goethe-Bild, in dem ein Bildungsbürgertum, das längst von seiner eigenen Tradition abgefallen war und keine Geschichte mehr hatte, sich noch einmal als ästhetische Instanz bestätigt fühlen konnte." 28 Der Positivismus mit seiner fatalen gedanklichen Bindung der Klassiker an die Geschichte und das Vorbild der Hohenzollern wurde abgelöst durch den Irrationalismus Gundolfs. Die methodologische Basis der Scherer-Schule mit ihrem „Drei-Schritt-Schema" vom „Ererbten, Erlernten, Erlebten" wurde durch das „Urerlebnis" der Gundolf-Schule ersetzt. An die Stelle von Biographie und Einflußtheorie rückte das Bewegungsgesetz der Erschütterung durch die „innere 25
Struktur" des Menschen. Dieser Verinnerlichungskult führte auf dem Theater zu noch einer größeren Verschmutzung der Klassiker als durch den Positivismus und die BiographieManier der Scherer-Schule. Durch die Aushöhlung der gesellschaftlichen Grundlagen der klassischen Literatur wurde diese Dichtung handhabbar für die Lebenshaltung einer parasitären Bourgeoisie und eines verängstigten, apolitischen Kleinbürgertums. Aus Tradition wurde, wie Jhering sich ausdrückte, einfach nur „Verbrauch". Jhering beschrieb diesen Einbruch in die klassische Tradition folgendermaßen: „Die Schule entzog den Klassikern das Leben, indem sie jede Wechselwirkung ausschaltete. Die Schule enteignete die Klassiker, in dem sie den Nationalbesitz als Privatbesitz behandelte und als P r i v a t s t o l z gegen Dichter anderer Nationen ausspielte... Die Germanisten schwatzten von Goethes Liebschaften, von Goethes Lebenshaltung, spreizten sich mit unwichtigen, auch im Komplex Goethe unwichtigen Einzelheiten, und draußen bereiteten sich Ereignisse vor, vor denen jedes persönliche Schicksal wesenlos, jede Betonung des Privaten lächerlich wurde . . . Diese Zuschauer, soweit sie sich scheinbar jeder zusammenschließenden Begeisterung öffneten, wurden in ihren P r i v a t g e f ü h l e n bestärkt. Sie wurden durch das Theater erst recht Privatpersonen, gesteigerte Privatpersonen, die sich vor anderen mit ihrem künstlerischen Erlebnis wichtig machten." 29 Diese Ausführungen zeigen, daß die Tendenzen der Literaturwissenschaften auch auf dem Theater zu finden waren. Hier gewannen sie in ihrer enttheorisierten Form sogar erst ihre breitere Wirkung. So abweisend sich das Theater auch gegenüber der Wissenschaft verhielt, die Bühne sog den ideologischen Extrakt der spätbürgerlichen Wissenschaftsentwicklung auf und trug wesentlich dazu bei, daß er vom Publikum als „Lebensgefühl" wahrgenommen wurde. Die sogenannten naiven, „blutvollen" Theaterleute, wie etwa Max Reinhardt, kamen als Gegengewicht gar nicht in Betracht. Indem sie sich, wie Reinhardt, auf das bloße Spiel der Phantasie, auf Farbe, Form und ästhetische Reize orientierten, trugen sie nur auf andere Weise zur Deformierung des klassischen Erbes bei. Max Reinhardts Inszenierungsstil förderte sogar die Privatisierung der Klassiker. Über die künstlerische Eigenart 26
dieses Regisseurs schrieb Herbert Jhering: „Er sah die Rollen, die Szenen. Er sah die Farbe, die Stimmung, die Atmosphäre. Er berauschte sich am Klang, an der Nuance, am ästhetischen Reiz. Es war keine Zeit der kritischen Untersuchung, keine Epoche der Wesensüberprüfung. Es war eine Zeit der gläubigen Hinnahme — zum letztenmal." 30 Auf die Zerstörung der „gläubigen Hinnahme" zielten die Experimente Jessners und Piscators. Allerdings beabsichtigten diese weniger die Aufhellung des gesellschaftlichen Inhalts der klassischen Stücke als mehr die Aktualisierung bestimmter Vorgänge und einzelner Figuren durch provokative Änderungen. So baute zum Beispiel Piscator in seiner Ró'«¿í/'-Inszenierung Karl Moor als Helden ab und dafür Spiegelberg als bewußten Revolutionär auf. Eine neue, nicht auf Pietät beruhende Einstellung zur Klassik sollte dadurch erreicht werden, daß man zeigte, wie fremd den heutigen Menschen die Vorgänge in den klassischen Stücken geworden sind. Mit den provozierenden Änderungen wollte man den Abstand unterstreichen. Nach Brecht, und eine ähnliche Bemerkung steht in Piscators Buch Das politische Theater, soll Piscator über seine Räuier-Inszenierung gesagt haben, er habe erreichen wollen, daß die Leute im Theater merkten, daß 150 Jahre keine Kleinigkeit seien.31 Das war der Zustand, in dem Brecht das klassische Repertoire vorfand. Im Jahre 1928 führte Brecht mit Herbert Jhering ein Gespräch über die Klassik. Ihm ging es darum, was sie für die Menschen der zwanziger Jahre bedeutet, wélchen Platz sie in der Gesellschaft einnimmt und einnehmen könnte. Das Gespräch ist nicht nur deshalb aufschlußreich, weil es Übereinstimmung und Unterschiede in der Haltung Brechts und Jherings aufzeigt, sondern weil es eine allgemeine Zeitstimmung, insbesondere unter der progressiven Intelligenz wiedergibt. Es ist ein Zeitdokument über die Wirkung des klassischen Erbes in einer genau bestimmbaren gesellschaftlichen Situation. An diesem Gespräch fällt zunächst auf, daß Brecht mehr verwarf, schärfer argumentierte als Jhering. Aber Brecht zeigte auch deutlichere Lösungswege. Er suchte die Fragestellung zu radikalisieren, sie unter einen ganz bestimmten 27
Aspekt zu stellen, als er auf Jherings Broschüre einging: „Als ich Ihre Broschüre dann las, sah ich, daß Sie nicht mordeten, sondern lediglich feststellten, daß die Klassiker schon gestorben sind. Wenn sie nun gestorben sind, wann sind sie gestorben? Die Wahrheit ist: sie sind im Kriege gestorben. Sie gehören unter unsere Kriegsopfer . . ," 32 Nun nannte Jhering allerdings seine Broschüre Reinhardt, Jessner, Viscator oder Klassikertod?, aber in ihr selbst ist eigentlich weniger vom „Klassikertod" als vom „Klassikerschlaf" die Rede — wie ein anderer bekannter Kritiker der Zeit, Bernhard Diebold, die Situation charakterisierte. Für Jhering waren nicht die Klassiker, sondern ihre bisherige Darstellungsform tot. Er analysierte im wesentlichen die Krise der Darstellungsweise.33 Brecht ging zwar im Laufe des Gesprächs auf Jherings Argumentation ein, indem er bekannte: „Ich will gleich zugeben, daß nicht die Klassiker daran schuld zu sein brauchen, wenn ihre Wirkung aufhört..." Er forderte dann aber Jhering sofort auf „ . . . mehr von den Klassikern [zu] reden, also auch von der Schuld, die die Klassiker am Aufhören ihrer Wirkung haben".34 Dieser Vorstoß offenbart die unterschiedliche Position Jherings und Brechts in der Frage nach den Ursachen der Krise. Jhering sah die Ursachen hauptsächlich in der Schule, im gesamten gesellschaftlichen Erziehungssystem, das eine falsche Vorstellung von den Klassikern geschaffen habe. Durch die Privatisierung der Klassiker sei eine große Literatur zum Verbrauch für den Spießer präpariert worden; die Literaturwissenschaft habe die Klassik unter falschen Gesichtspunkten vorgestellt. Brecht akzeptierte diese Gründe. Vor allem stimmte er Jhering darin zu, daß die Klassiker durch falsche Ehrerbietung ramponiert worden seien. Geradezu befriedigt stellte er fest, daß sich diese ehrerbietige Haltung an den Klassikern gerächt habe. Allerdings interessierte Brecht der Einfluß der Literaturwissenschaft von der Scherer-Schule bis zur Gundolf-Schule auf die Klassikerdarstellung — von Jhering nicht zu Unrecht sehr wichtig genommen — überhaupt nicht. Im Unterschied zu Jhering stellte er die Klassiker vor allem „als Kriegsopfer" dar. Nach den Erfahrungen des letzten Krieges und der großen Klassenschlachten, so meinte Brecht, hätten die Klassiker dem Theaterzuschauer nichts mehr zu sagen. Wie schon 28
dargelegt, argumentierte Brecht damit, daß in ihren Stücken wie in ihrem Weltbild alles auf den „großen Einzelnen", auf das Individuum hinauslaufe, während durch Krieg und Klassenkämpfe gerade deutlich geworden sei, daß der einzelne, das Individuum, nur als Masse etwas zu bewirken vermöge. Dabei betonte er, daß die Klassiker nicht die Welt zeigten, sondern sich selber. „Persönlichkeiten für den Schaukasten. Worte in der Art von Schmuckgegenständen. Kleiner Horizont, bürgerlich. Alles mit Maß und n a c h Maß." 3 5 Das Gespräch blieb Fragment. Vielleicht kam deshalb der Haupteinwand Brechts, die Ausrichtung der Klassiker auf die Rolle der Persönlichkeit, nicht so zentral zur Sprache, obwohl er für ihn der Kern der Sache war. Wenn man die schonungslose Argumentation Brechts liest, muß man sich immer vor Augen führen, daß die Polemik, ja die Ablehnung der Klassik in der revolutionären Bewegung der zwanziger Jahre keine Seltenheit war. Unterschiede gab es in den Gründen wie in den Schlußfolgerungen. Über die unterschiedlichen Motive der Ablehnung wurden hier schon Angaben gemacht. Aber auch die Schlußfolgerungen v/aren verschieden. Während sich zum Beispiel Friedrich Wolf in den zwanziger Jahren für die Klassiker, insbesondere die deutschen Klassiker in engerem Sinne, kaum interessierte, war Brecht nicht bereit, die Klassiker „rechts" liegenzulassen, oder überhaupt kein Interesse an ihnen zu bekunden. Es wäre eine eklatante Fehleinschätzung, würde man seine vernichtende Kritik an den Klassikern als Desinteresse deuten, als eine ausschließliche Orientierung auf das Gegenwartsdrama, wie das bei Friedrich Wolf der Fall war. Selbst in der Phase, als er im Gespräch mit Jhering die Klassiker für tot erklärte, waren sie ihm wichtig. Die Gründe freilich, mit denen er sein Interesse bekundete, klangen sehr pragmatisch. Brecht argumentierte in erster Linie als Praktiker des Theaters: „Wie soll man denn ein Repertoire aufbauen können, wenn man diese Sachen (die klassischen Stücke — W. M.) durch Argumente zerstört und als Ganzes ablehnt?" 36 Für die Möglichkeiten einer nützlichen Hinwendung und Anwendung der Klassiker führte Brecht zwei große Gesichtspunkte ins Feld. Zwei Verfahren empfahl er auszuprobieren. 29
Das erste Verfahren bestand darin, einen Bearbeitungsund Inszenierungsstil zu entwickeln, der, wie Jhering formulierte, das alte Drama „näherbringt, indem man es entfernt". 37 Die Art und Weise eines solchen Stils erläuterte Jhering anhand der Marlowe-Bearbeitung von Hduard II. durch Brecht und Feuchtwanger. Im Vordergrund stand dabei jener Gedanke, auf den Brecht bereits bei der Piscator-Inszenierung von Schillers Räuber aufmerksam gemacht hatte: Der Zugang zu einem Stück sollte durch die Fremdheit des vorgeführten Geschehens freigelegt werden. Indem man die Fremdheit ihrer Stoffe zur heutigen Wirklichkeit hervorhob, hoffte man die Klassiker verständlicher und aussagekräftiger zu machen. Diesen Gesichtspunkt baute zunächst Jhering theoretisch aus. In Brechts eigenen Überlegungen spielte er nicht die zentrale Rolle, obwohl er mit seiner Bearbeitungspraxis dazu den Anlaß gegeben hatte. Erst später entwickelte er aus seinen praktischen Einsichten das methodologische Prinzip des Historisierens. Für Brecht bedeutete dieses Verfahren zunächst einen Ausweg; denn er ermöglichte nicht nur die Polemik gegen die traditionelle Klassikdarstellung, sondern hatte außerdem noch den Vorzug, daß man mit ihm aktuelle Wirkungen ohne äußerliche Aktualisierung erreichen konnte. Jhering jedoch entwickelte diesen bei Brecht aus der praktischen Arbeit resultierenden Gesichtspunkt in eine ganz andere Richtung. Er sprach vom „Auskälten" 37 alter Stoffe und rückte Brechts Marlowe-Bearbeitung in die Nähe von Strawinskys Ödipus Rex. Dieses „Auskälten" oder „Auf-EisLegen" ist aber etwas ganz anderes als jene Methode der Distanzierung, an der Brecht damals noch laborierte und die er dann in der Emigration zur Methode der Historisierung weiterentwickelte. Hanns Eisler hat den Unterschied später bei einer anderen Gelegenheit einmal klargestellt, indem er betonte: „Er (Brecht — W. M.) ist aber nicht in dieselbe Mode einzurechnen — wie zum Beispiel nach dem ersten Weltkrieg die Periode in der französischen Musik —, die gewissermaßen die Musik auf Eis legen wollte. Sie (der Gesprächspartner Dr. Bunge — W. M.) erinnern sich an die gewissen Perioden bei Strawinsky." 38 Der zweite Hauptvorschlag Brechts, sich mit Nutzen der 30
Klassiker zu bedienen, lief darauf hinaus, sich an den Materialwert der großen Stücke zu halten. Seine Vorstellung über den Materialwert alter Stücke entwickelte Brecht anläßlich einer Rundfrage zu dem Thema ^Stirbt das Drama?", welche die Vossische Zeitung am 4. April 1926 veranstaltet hatte.39 Diese Rundfrage war jedoch mehr der äußerliche Anlaß. Beschäftigt hat sich Brecht mit dieser Frage in seiner gesamten frühen Phase. Man ist sehr schnell geneigt, aus allen Bemerkungen Brechts über die Klassiker eine gewisse Schnoddrigkeit, ja Barbarei herauszulesen. Analysiert man aber seine Haltung genauer, so wird man finden, daß er sich zwischen Bewunderung und Verwerfung hin- und hergerissen fühlte. Mit diesem Moment wäre vorerst nur die psychologische Begründung für die Entwicklung gegeben, die zur Materialwert-Theorie führte. Die großen Stücke wie Wallenstein und Faust, erklärte Brecht unverfroren, enthielten neben ihrer Brauchbarkeit „für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialwert..."« Was verstand er nun unter Materialwert? Zunächst den stofflichen Vorgang, die Geschichte. Was Brecht schätzte, waren die großen Fabeln der alten Stücke. Dabei liebte er vor allem die Fabel pur, das heißt, so wie sie mit wenigen Worten erzählt werden konnte. Diese Eigenschaft spielte später in seiner Fabeltheorie eine bedeutende Rolle. Aber gerade die Fabel pur wurde im spätbürgerlichen Kunstbetrieb, wo alles auf die Nuance, die Farbe, die Stimmung, die Atmosphäre abgestellt war, wenig geschätzt. In dem Maße, wie in der bürgerlichen Kunst die Orientierung auf den Inhalt verlorenging, ging au£h der Sinn für die Fabel pur verloren. Den Materialwert in der Fabel zu sehen war also so barbarisch nicht. Denn hier kam die Wertschätzung gegenüber der unverlierbaren Substanz eines Kunstwerkes zum Ausdruck. Für Brecht waren die alten großen Fabeln über Faust, Don Juan, Falstaff usw. etwas, was über den einzelnen Erzähler und Bearbeiter hinauswies, weil es „Material" der Volksphantasie war. In dieser Hinsicht war er einer Meinung mit Maxim Gorki. Unter dem Stichwort Materialwert denkt man zunächst an das Ausschlachten einzelner Teile. Die Fabel ist nun zwar nur ein Element des gesamten Werkes, aber doch eigentlich der orga31
nisierende Teil des Ganzen. Von ihm hängt oftmals die Einheit und Harmonie des Kunstwerks ab. Außerdem war der Zugriff zur Fabel ein in der Geschichte der Literatur legitimes Verfahren. Von der Antike bis zur Gegenwart wurden immer wieder alte Fabeln neu geformt. Gerade die Größten in der Literaturgeschichte benötigten diesen Materialwert für ihre Werke. Materialwert erblickte Brecht auch in der Methode, in der Technik, in der die alten Fabeln überliefert wurden. Hier sah er wesentliche Fingerzeige für die zeitgenössische Produktion. In diesem Gesichtspunkt unterschied sich Brecht von den sogenannten Avantgardisten, die wenig Sinn für alte Schreibweisen, für Techniken vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte hatten, weil sie etwas ganz und gar „Neues" wollten. Brecht mokierte sich über das „Herumneuern" der bürgerlichen Avantgardisten. „Ich weiß nicht", schrieb er, „warum die Jüngsten so krampfhaft an ihrem Material herumneuern und mit der Reform bei der Sprache anfangen. Das sind Bemühungen eines kleinen Geschlechts." Dagegen betonte er den Vorteil, den es hat, wenn man sich im alten Material auskennt, wenn man „Material" zu verwenden versteht. „Wozu neue Steine wählen, wo die Architektur so unendlich viel Platz für neue Ideen hat!" 4 1 Diese Bemerkung ist deshalb wichtig, weil sie aus dem Anfang der zwanziger Jahre stammt, als sich Brechts Haltung zu den Klassikern noch nicht so zugespitzt hatte. Sie ist nicht im Sinne jenes barbarischen Aktes zu verstehen, nach dem ein altes Gemälde mit dem Materialwert der Leinwand die Grundlage für ein neues bildet. Das Wesentliche sah Brecht darin, daß die Vertrautheit mit den alten Methoden und Techniken die Möglichkeit bot, zeitgenössischen Vorgängern die richtige historische Dimension zu geben. Hier berührten sich seine Überlegungen mit dem später entstandenen, aber schon erwähnten Verfahren des Historisierens. Die Vorstellung, daß sich der zeitgenössische Dichter, will er seinem Werk Größe verleihen, im historischen „Material", in den großen Mustern und Techniken auskennen müsse, sprach eigentlich mehr für Brechts Vertrautheit mit der Tradition als gegen sie. Tatsächlich hatte Brecht damals ein viel engeres und vertrauteres Verhältnis zu den Klassikern als 32
mancher andere aus der jüngeren Dichtergeneration. Sieht man von der Art und Weise des ästhetischen Zugriffs ab, von dem noch zu sprechen sein wird, so war es mehr der auf Barbarei und Provokation abgestimmte Ton, der ihm den Ruf eines Bilderstürmers eintrug. Freilich erschien in einer Zeit der mystifizierenden Kunstbetrachtung, des spätbürgerlichen Geniekults ein Verfahren, das sich auf die technische Seite der alten Kunstwerke richtete, als etwas Barbarisches, Zerstörerisches. Aber Brecht sah in den alten Techniken und Kunstmitteln etwas, was er für unzerstörbar und nicht abnutzbar durch die Zeit hielt, das wert war, außerordentlich hoch geschätzt zu werden, weil es die Kunsterfahrungen vergangener Zeiten enthielt. Hier war für ihn etwas zu lernen. Dennoch ist es nicht ganz verständlich, warum die Materialwert-Theorie Brechts so lange als eine künstlerisch wie wissenschaftlich unseriöse Sache behandelt wurde, als unvereinbar mit der Leninschen Theorie vom kulturellen Erbe. Offenbar gab es lange Zeit Mißverständnisse. Die Materialwert-Theorie wurde als Steinbruch-Jheorie gekennzeichnet. Man verglich Brechts Auffassung vom Kunsterbe mit einer Art Steinbruch, aus dem sich jeder den entsprechenden Brocken herausbrechen konnte. Seine theoretischen Überlegungen verstand man als Aufforderung, sich nur zu bedienen, es lohne sich noch immer. Diesem Mißverständnis unterlagen gerade jene Kunstfreunde, die wenig gewohnt waren, die technische Seite eines Kunstwerkes und die ihr eigene Größe und Schönheit zu beurteilen. Der Einwand gegen die Materialwert-Theorie liegt ja nicht darin, daß wichtige Grundelemente der klassischen Literatur als „Materialwert" bezeichnet wurden. Wesentlich wird die Kritik erst, wenn man den Gebrauch untersucht, den Brecht vom Materialwert machte. Die Klassikerdarstellung, die Brecht vorfand, orientierte sich nicht am Inhalt, sondern war auf eine allgemeine „klassische Haltung" abgerichtet. Es gab bestimmte darstellerische Muster von Ausbrüchen, von Verzweiflung und Überschwang, die kaum noch etwas mit dem eigentlichen inhaltlichen, gesellschaftlichen Vorgang zu tun hatten, die schlechthin nur „Größe" auswiesen, „wilhelminische Größe". Jhering beschrieb die positiven Seiten dieses Darstellungsstils, zu denen 3
Mittenzwei
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es immerhin noch kam, wenn große Schauspieler auf der Bühne standen: „Wenn Matkowsky den Ferdinand oder den Teil, den Marc Anton oder den Götz spielte, so lag in der pompösen Geste, im rollenden Pathos, im Werfen des Hauptes, im Blitzen der Augen allerdings etwas von der Romantik einer sich übernehmenden, dekorativen, prunkenden Zeit." 42 Diese festgefahrenen Vorstellungen vom klassischen Helden mit seinen Ausbrüchen, seinen Temperamentstürzen, seinen Leidenschaften ohne genügende Berücksichtigung des gesellschaftlichen Inhalts suchte Brecht zu erschüttern. Er begann damit, daß er die großen klassischen Helden „gegen den Strich bürstete". Er bastelte sich über die großen Figuren des weltliterarischen Erbes eine Vorstellung zusammen, die der erwarteten nicht nur nicht entsprach, sondern ihr geradezu ins Gesicht schlug. Dabei hielt er sich oft an den „Materialwert", das heißt an die Fabel. Als Beispiel sei hier die Figur des Posa aus Schillers Don Carlos angeführt. Brecht beschreibt seinen Versuch, den Posa gegen den Strich zu bürsten, folgendermaßen: „Versuchen, einen neuen Charakter für die Mission des Posa im ,Don Carlos' zu erfinden! Etwa einen unheilbaren Magister, breit, bucklig, schwerfällig, mit bleichem, gedunsenem Gesicht, der vor dem Spiegel steht und, wie eine Spinne Fäden, idealistische Gebilde aus seiner Brust hervorzieht. Voll tiefer Verachtung für die Menschen, nicht ohne Diplomatie, feig im Physischen, kühn im Geistigen, schwerfällig, aber in längerer Rede entzündbar, mit einer Neigung zu schönen Worten und Paradoxen, verführerisch für die Jugend, etwas unmännlich und mit wunden Stellen (auch zwischen den Beinen eine solche!). Großer Wahrnehmungen fähig, der Lehrer großer Männer! Objektivierte große Empfindungen, die nicht eigene sind, Posen, die er nie selbst ausführen könnte infolge der Unzulänglichkeit seiner Gliedmaßen (da die Herrschaft sich leider nicht bis auf die Extremitäten durchgesetzt hat. . . Die Extremitäten machen den Erfolg, Liebe!). Deshalb auch hat er ein philosophisches System zur Verfügung, das ihm gestattet, seine Schüler zu verachten, und Schüler sind für ihn alle jene, die das tun, was er je gedacht hat oder je hätte denken können!" 43 Solche Beispiele ließen sich fortsetzen von dem „leicht verfetteten Hamlet" bis zu dem alternden Eulen34
Spiegel. Um bei diesem letzten Beispiel zu bleiben. Die Methode der unterschiedlichen „Lesart" einer Figur, einer Fabel, wie Brecht den Vorgang der Umdeutung nannte, behielt er auch in den späteren Schaffensjahren bei. Der alternde Eulenspiegel war zum Beispiel ein Vorhaben, das Brecht nach seiner Abreise aus dem amerikanischen Exil zu verwirklichen suchte. Der alternde Eulenspiegel, versetzt in die Zeit des Bauernkrieges, führte seine Späße auf, aber sie „ziehen" nicht mehr. Der Spaß ist verbraucht. Dieser Entwurf war für einen Film gedacht, dessen Manuskript von Brecht jedoch nicht fertiggestellt wurde. 44 Wir wissen also nicht, wie er diese alte Volksfigur neu gestaltet hätte. Aber man braucht nur an die fertiggestellten Bearbeitungen wie den Hofmeister, den Coriolan, den Don Juan zu denken, um eine Vorstellung von der Art und Weise der Umarbeitung zu bekommen. Über diese Versuche aus seinen letzten Lebensjahren wird in einem späteren Kapitel noch die Rede sein. Nur so viel soll hier gesagt werden, daß nicht schlechthin der Vorgang der Umdeutung, der verschiedenen Lesart zur Diskussion, zur Kritik steht, sondern die Art und Weise der Umdeutung. Sie aber ist bei Brecht unterschiedlich. Sie ist in der frühen Phase eine andere als in den letzten Lebensjahren. Diese Lesarten der Fabel, wie sie der frühe Brecht vorstellte, entbehrten nicht der Provokation. Sie waren aber nicht Provokation um der Provokation willen. Und schon gar nicht waren sie eine Provokation gegen das weltliterarische Erbe. Ihre Funktion sah Brecht vor allem in der Zerstörung eines bestimmten Heldenklischees. Er benutzte die alten Stücke und Figuren nicht, um ihre historische Bedeutung für den gegenwärtigen politischen Kampf aufzuhellen, sondern nutzte sie zur Ideologiekritik. All diese Lesarten, die Brecht über die klassischen Werke vortrug, müssen als Ideologiekritik verstanden werden. Es ging ihm um die Zerstörung bürgerlicher Mythen, nationalistischer Leitbilder und falscher Ideale. Insbesondere sollte die idealistische Weltanschauung der bürgerlichen Klasse getroffen werden. Er war darum bemüht, zu verhindern, daß die bürgerliche Klasse das weltliterarische Erbe zur Festigung ihrer Herrschaft benutzte. Die Harmonie der klassischen Werke sollte nicht mit den Wider3*
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Sprüchen und Widerwärtigkeiten des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens versöhnen; die Sehnsucht der Klassiker nach einer besseren Welt sollte nicht als Trost über Not und Elend mißbraucht werden; das Scheitern der klassischen Helden sollte nicht suggerieren, daß aller Kampf letzten Endes vergeblich ist. Brecht kam es damals nicht darauf an, zu zeigen, was die Klassiker eigentlich gewollt haben, sondern was die Herrschenden nicht aus den Klassikern machen durften. Seine Lesarten strebten von vornherein die Widerlegung an, und es war deshalb nur natürlich, daß in seiner Klassikerinterpretation alles auf den Gegensatz, auf das Nichterwartete, auf das Provokative hinauslief. Es läßt sich darüber streiten, ob das der richtige Weg war, sich mit der bürgerlichen Traditionsverfälschung und Traditionsverschmutzung auseinanderzusetzen. Eine Sicht, die auf die tatsächlichen historischen Bedingungen der klassischen Stücke gerichtet ist und daraus die Position gegen die spätbürgerliche Ideologie ableitet, hat nicht nur einen ganz bestimmten politischen Erkenntnisstand des Künstlers, sondern auch verschiedene gesellschaftliche Faktoren und politische Entwicklungsbedingungen zur Voraussetzung, die zu jener Zeit nicht gegeben waren. Das war die eine Seite. Die andere Seite dieser Brechtschen Lesarten bestand darin, den Klassikern neue Gesichtspunkte abzugewinnen. Der Zuschauer sollte die vertrauten Vorgänge neu sehen und zum Denken angeregt werden. Die auf dem bloßen Geniekult beruhende Ehrerbietung gegenüber den Klassikern hatte den Inhalt der klassischen Stücke vergessen lassen. Die Darstellung von Größe und Leidenschaften ohne Bezug zum Inhalt hatte die Lust am Denken, „sogar am Mitdenken" 45 verkümmern lassen oder ganz ausgeschaltet. Wenn man Brechts Lesarten als konkrete Anwendung seiner Materialwert-Theorie beurteilt, muß man zunächst feststellen, daß er eine Belebung der Klassik nicht von der formalen Seite, auch nicht durch farbige szenische Effekte versuchte. Modernistisches Umfrisieren alter Figuren, wie Tartüffe im Straßenanzug, Hamlet im Frack, waren ihm zuwider. Mit solchen Äußerlichkeiten phantasieloser Regisseure dürfen Brechts Experimente und Vorstellungen nicht verglichen werden. Dennoch blieb seine Hinwendung zum Inhaltlichen trotz allen 36
politischen Engagements auf halbem Wege stecken. Inkonsequent mußte sein Vorstoß zum gesellschaftlichen Anliegen der Stücke deshalb bleiben, weil Brecht damals noch nicht über die Methode des historischen Materialismus und der materialistischen Dialektik verfügte. Berücksichtigung verdient auch der Umstand, daß es in den zwanziger Jahren noch keine entwickelte marxistische Literatur- und Theaterwissenschaft gab, die ihm hätte praktische und theoretische Anregungen bieten können. Auch waren Brecht damals literaturtheoretische Arbeiten von Marxisten, wie zum Beispiel die von Mehring, Lunatscharski und anderen, noch weitgehend unbekannt. Wenn Brecht von der inhaltlichen Seite sprach, so verstand er darunter vor allem, daß aus einem Stück gesellschaftliche Interessen ablesbar sein müßten. Der Bezugspunkt zur Gegenwart sollte nicht durch private Gefühle, sondern durch große gesellschaftliche Interessen hervorgerufen werden. Was ihm dabei aber damals noch nicht gelang, war, der wirklichen Dialektik von Historizität und Aktualität gerecht zu werden. Das gesellschaftlich-historische Anliegen der alten Stücke herauszuarbeiten hielt Brecht angesichts des Zustands, in dem sich das bürgerliche Theater befand, gar nicht für möglich. So liebte er Jessners Regieexperimente, weil dieser durch wohlüberlegte Amputationen und effektvolle Kombinationen mehrerer Szenen den klassischen Werken oder wenigstens ihren Teilen, deren alten Sinn das Theater nicht mehr herausbringe, einen neuen Sinn gegeben habe. 46 Überhaupt kann man beim jungen Brecht ab und an Bemerkungen der Art finden, daß der tatsächliche historische Vorgang der alten Stücke dem heutigen Menschen sowieso dunkel bleibe. Bei aller Wissenschaftsfreundlichkeit hatte er wenig Vertrauen in die Aufhellung weit zurückliegender historischer Vorgänge. Brechts Versuche blieben in der einfachen Negation stecken. Die Methode des Historisierens, die er in der Emigration auf der Grundlage des historischen und dialektischen Materialismus entwickelte, war noch nicht gefunden. Die Haltung, die Brecht in den zwanziger Jahren zum weltliterarischen Erbe einnahm, läßt sich auch an seiner Meinung zur Räuier-Inszemetung Eswin Piscators ablesen. In dieser Inszenierung, die so viel Staub aufwirbelte, hob Piscator 37
Spiegelberg als den konsequenten, bewußten Revolutionär hervor. Der klassische Held Karl wurde entthront und an den Rand gedrängt. Spiegelberg wie Karl waren von Piscator „gegen den Strich gebürstet". Wenn es auch nicht sicher ist, ob Brecht mit Schillers Stück so weit gegangen wäre wie Piscator, so entsprach doch dessen Verfahren der Brechtschen Materialwert-Theorie. In der Emigration, nachdem Brecht seine Methode des Historisierens entwickelt hatte, sah er das Experiment Piscators anders: „Das Theater fand, daß Schiller einen der Räuber, Spiegelberg, als Radikalisten für das Publikum ungerechterweise unsympathisch gemacht habe. Er wurde also sympathisch gespielt, und das Stück fiel buchstäblich um. Denn weder Handlung noch Dialog gaben Anhaltspunkte für Spiegelbergs Benehmen, die es als ein sympathisches erscheinen ließen. Das Stück wirkte reaktionär (was es nicht ist, historisch gesehen), und Spiegelbergs Tiraden wirkten nicht revolutionär. Nur durch sehr große Änderungen, die mit historischem Gefühl und viel Kunst hätten vorgenommen werden müssen, hätte man eine kleine Aussicht gehabt, Spiegelbergs Ansichten, die radikaler sind als die der Hauptpersonen, als die fortgeschritteneren zu zeigen." 47 Wie man auch die „kleine Aussicht" Brechts beurteilen mag, die andere Sicht der Dinge auf Grund der neuen Methode ist unverkennbar. Wenn auch die Materialwert-Theorie Brechts noch keine Lösung im Sinne des historischen Materialismus, des Marxismus, war, so war sie doch alles andere als Barbarei gegenüber dem weltliterarischen Erbe. Sie war eine Reaktion auf die Barbarei, in die der spätbürgerliche Kunstbetrieb die Klassikerdarstellung und -interpretation geführt hatte.
Neue Sicht auf alte Werke oder Was würde ein Marxist mit dem Wallenstein machen?
Die Stellung %um Erbe als politische Frage — Volksfrontpolitik und Literatur In der Emigration entstanden Brechts große dramatische Werke, vollzog sich der Ausbau seiner theoretischen Vorstellungen vom epischen Theater. In der Emigration veränderte sich aber auch sein Verhältnis zum weltliterarischen Erbe. Diese Veränderungen, die nicht weniger tiefgreifend sind, treten jedoch bei weitem nicht so auffällig, so komplex in Erscheinung wie die seiner Theaterkonzeption. In Hinsicht auf das weltliterarische Erbe gibt es bei Brecht keinen direkten Widerruf seiner Auffassungen, wie das zum Beispiel im Kleinen Organon zum Problem des ästhetischen Vergnügens geschah. Das steht ohne Zweifel im Zusammenhang damit, daß Brecht trotz radikaler Fragestellung nie in einen irgendwie gearteten „Widerruf" des klassischen Erbes einstimmte. In keiner Phase seines Lebens gab es für ihn ein Desinteresse am literarischen Erbe. So gab es folglich auch keinen Anlaß, den „Widerruf" zu widerrufen. Wie tiefgreifend die Entwicklung jedoch gerade auf diesem Gebiet war, wird deutlich, wenn man die Äußerungen Brechts zu Shakespeare, zu Goethe, zu Schiller, zu Hauptmann und anderen aus den zwanziger Jahren mit den späteren Einschätzungen vergleicht. Brecht korrigierte bestimmte Auffassungen über weltliterarische Erscheinungen im Zusammenhang mit den großen politischen Kämpfen in den dreißiger und vierziger Jahren. In den Jahren des Exils wurde das Erbe zu einer hochgradig politischen, im bestimmten Sinne sogar weltpolitischen Frage. Bei der Behandlung dieses Problemkomplexes mußte man sich 39
von jedem Rest einer akademischen Vorstellung frei machen. Es ging hierbei nicht nur um Bekenntnisse zu bestimmten literarischen Vorbildern der Vergangenheit. Die Auseinandersetzung um das weltliterarische Erbe war in erster Linie eine Frage nach der richtigen Politik, nach der Revolution, nach der Art und Weise, wie neue Formen menschlichen Zusammenlebens aussehen und praktisch verwirklicht werden müssen. Deshalb kann sich eine wissenschaftliche Untersuchung auch nicht auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge beschränken. Vielmehr müssen die großen gesellschaftspolitischen Fragen zur Sprache kommen, die den eigentlichen Ausgangs- und Zielpunkt des Erbestreites bilden. In dieser Hinsicht ist das A.rbeitsjournal (Tagebücher) Brechts ein ausgezeichnetes Studienobjekt. Dort stehen Eintragungen über das literarische Erbe neben der besorgten Frage nach dem Ausgang der Schlacht von Smolensk. Gerade dieser unvermittelte Umschlag von Eintragungen über Erbeproblematik, gegenwärtige literarische Produktion und Weltpolitik macht den Zusammenhang, die objektive Dialektik dieser Probleme deutlich. Hier liegt Material für eine minutiöse Studie, in der die Haltung Brechts zum Erbe in direkter Konfrontation mit den historischen Ereignissen und den weltpolitischen Grundfragen jener Zeit dargestellt werden könnte. Auf diese Weise ließe sich nicht nur der eminent politische Charakter des ganzen Erbeproblems deutlich machen, sondern auch jener Zusammenhang, den Brecht in einer Arbeitsjournal-E.intt3.gxmg vom 5 . 4 . 1 9 4 2 in dem knappen Satz zusammenfaßt: „die Schlacht um smolensk geht auch um die lyrik." 4 8 Im Kampf gegen den Faschismus wurde auch die Stellung zum humanistischen Erbe einer der entscheidenden Gesichtspunkte. Sie war Teil der in der Komintern kollektiv erarbeiteten neuen Strategie und Taktik der Kommunistischen Parteien, die unter dem Namen Volksfrontpolitik in die Geschichte einging. Nicht nur, weil der Faschismus das literarische Erbe schamlos verfälschte, schenkten die Kommunisten diesem Problem Aufmerksamkeit, sondern auch deshalb, weil viele Menschen den Weg zu den Idealen einer neuen menschlichen Gesellschaft oftmals über die besten Ideale und Sehnsüchte der Vergangenheit fanden. Es war nicht selten, daß die Menschen 40
anhand der Vergangenheit ihre eigene Geschichte begriffen, die Lösung ihrer gegenwärtigen Konflikte in Angriff nahmen. In der Stellung zum Erbe der Vergangenheit lag unausweichlich die Entscheidung zu den gesellschaftlichen Prozessen und Alternativen der Gegenwart. Die neue Politik basierte auf der Erkenntnis, daß die Beschäftigung mit dem künstlerischen Erbe ein Moment der Revolutionierung gegen das bestehende kapitalistische Gesellschaftssystem, gegen die faschistische Diktatur sein kann. Deshalb formulierte Wilhelm Pieck auf der Brüsseler Parteikonferenz der KPD: „Wir Kommunisten wollen in der antifaschistischen Volksfront alle Kräfte der deutschen Nation vereinigen, die der K u l t u r r e a k t i o n des H i t l e r f a s c h i s m u s feindlich gegenüberstehen. Wir Kommunisten wollen den kulturellen und geistigen Schatz des deutschen Volkes, seine Sprache, seine Literatur, seine Kunst und Wissenschaft vor den faschistischen Barbaren retten und für eine höhere Entwicklung der Kulturgüter kämpfen." 49 Im humanistischen Erbe war jener Schatz von menschlichen Erfahrungen, menschlicher Produktivität geronnen, auf den Gesellschaftsveränderer, die die menschliche Existenz erleichtern wollten, nicht verzichten konnten. Wie wichtig der Zusammenhang von Volksfrontpolitik und Literatur für die weitere Entwicklung der humanistischen Literatur und Erbekonzeption ist, geht auch daraus hervor, daß er im Falle Brechts von bürgerlichen Literaturhistorikern immer sofort in Frage gestellt wird. In seinem Buch Bertolt Brecht und die Tradition verwahrt sich Hans Mayer dagegen, daß Brecht etwas mit der Volksfrontpolitik zu tun gehabt haben soll. Brecht habe vielmehr als Marxist die Gegenposition zur Volksfrontpolitik bezogen. Hans Mayer schreibt: „Für den Marxisten und Emigranten Brecht gibt es nur die volle Wahrheit oder gar keine. Taktisches Verschweigen richtiger Erkenntnisse, wie es die Veranstalter der Tagung offenbar beabsichtigt hatten, ist für Brecht unerträglich. .Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur' war der Titel. Brecht antwortet: ,Reden wir nicht nur für die Kultur!' und: ,Die Kultur ist gerettet, wenn die Menschen gerettet sind.' Die aber seien nicht durch Verurteilung von Rohheit, durch Erziehung zur Güte, durch Appelle im Namen der 41
Kultur zu retten, sondern bloß, wenn man die Ursachen der Unkultur, Ungüte und Rohheit beseitigt habe . . . Die Folgerung: ,Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen!' Es war unvermeidlich, daß Brechts Rede dem Sinn dieser Tagung zuwiderlaufen, den Gegensatz zwischen Marxisten und Nicht-Marxisten, bürgerlichen und proletarischen Positionen innerhalb des deutschen Antifaschismus verschärfen werde, daß hier ein Mann, der aus Dänemark nach Paris gekommen war, den politischen Absichten der Kongreßleitung entgegen handelte. Dies alles war vorauszusehen, und Brecht hatte es vorausgesehen. Er bewies damit, daß seine Auffassung vom Marxismus und von seiner Verwirklichung nicht ohne weiteres mit derjenigen etwa der damaligen Kommunistischen Partei Deutschlands gleichgesetzt werden konnte." 50 Allein schon die Formulierung „nur die volle Wahrheit oder gar keine" gehört wohl in das Vokabular von Hans Mayer, paßt jedoch so gar nicht für den Dialektiker Brecht, der zu solchen Forderungen wie „alles oder nichts" an anderer Stelle meinte, darauf antworte die Welt gerne mit: nichts. 51 Hans Mayer beging in seinen Darlegungen eine zweifache Entstellung. Er gab nicht nur Brechts Haltung, sondern auch die Volksfrontpolitik undifferenziert und damit auch unrichtig wieder. Gerade sie wird von Mayer in einer Art und Weise primitiviert, daß sie als politischer Roßtäuschertrick erscheint. Wenn die Kommunistische Partei im Kampf gegen den Faschismus das Gemeinsame und nicht das Trennende aller Hitlergegner hervorhob, so heißt das doch nicht, daß sie ihr revolutionäres Grundanliegen verschwieg oder ihre Bündnispartner in dieser Frage zu täuschen suchte. Wilhelm Pieck hob auf der Brüsseler Konferenz gerade hervor, daß die Volksfrontpolitik nicht den Verzicht auf das revolutionäre Endziel bedeute, sondern die Hinwendung auf ein Teilziel: den Sturz der faschistischen Diktatur. 52 Wie abwegig Hans Mayers Argumentation ist, wird auch deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß die Kommunistische Partei ihre Volksfrontpolitik als politische Plattform im unmittelbaren Zusammenhang mit der Aufhellung der ökonomischen Wurzeln des Faschismus vortrug. In derselben Weise verfuhr Brecht auf dem Pariser Schriftstellertreffen. Seine Rede war durchaus keine Entgleisung, wie 42
Mayer meint, sie stand im Einklang mit dem Ziel und der Praxis der Volksfrontpolitik. Sie richtete sich gegen einige •weitverbreitete Irrtümer einiger Intellektueller, die glaubten, daß der Faschismus nur Ausdruck einer allgemeinen Verrohung und Brutalisierung der Gesellschaft sei und nichts mit der Eigentumsfrage an Produktionsmitteln unter imperialistischen Bedingungen zu tun habe. Es war keineswegs gegen den Sinn der Volksfront, wenn die Marxisten herausstellten, daß die Barbarei nicht von der Barbarei komme und die Kultur nur gerettet werden könne, wenn menschliche Verhältnisse erkämpft werden. Daß die konsequente Bekämpfung des Faschismus die Bekämpfung der kapitalistischen Produktionsweise einschloß, weil, wie Brecht formulierte, der Faschismus die „allerdreckigste Erscheinungsform" des Kapitalismus ist, eines Kapitalismus, der sich „auch der letzten Hemmungen entledigt und alle seine eigenen Begriffe, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Persönlichkeit, selbst Konkurrenz", einen nach dem anderen über Bord geworfen hat 53 , war allerdings eine marxistische Argumentation, die nicht von allen Hitlergegnern geteilt wurde. Aber auch innerhalb der Volksfront wurde um die Hegemonie gerungen, mußte dem besten Argument zum Siege verholfen werden. Brecht kam dieser Aufgabe in hervorragender Weise nach. Davon zeugt noch heute die Lebendigkeit und Überzeugungskraft seiner Pariser Rede, die zu den klassischen Dokumenten der Volksfrontpolitik gehört. Die tagtägliche Praxis der Volksfrontpolitik war allerdings eil} sehr komplizierter Prozeß, der sich nicht ohne Irrtümer, Fehler und Rückschläge vollzog. In den Reden von Pieck, Dimitroff und Togliatti aus jener Zeit ist zu lesen, vor welch schwierigen Aufgaben vor allem die in der Illegalität kämpfenden Kommunisten standen. Da gab es auch Fehlentscheidungen und Sektierertum bis in zentrale Parteiorgane hinein. Eine neue Politik setzt sich in der Praxis nicht in ihrer reinsten Erscheinungsform durch. Deshalb ist es auch naiv zu glauben, daß Brecht die Volksfrontpolitik in dieser Form verkörpert habe. Auch bei Brecht gab es Fragen und Irrtümer sowie Situationen, in denen er durch die Isolierung im Exil nicht genügend Informationen zur politisch richtigen Entscheidung besaß. So berichtet zum Beispiel Hanns Eisler, daß er die fran43
zösische Volksfrontbewegung, die Bedingungen ihres Zustandekommens wie ihren Charakter nicht verstand, daß er sie für „Rabitz" hielt. 54 Das lag mit daran, daß er, im Gegensatz zu Hanns Eisler, die politische Situation in Frankreich nicht kannte, nicht die revolutionäre Haltung der Massen. Andererseits gab es bei Brecht jedoch auch politische Analysen zur Volksfrontsituation, die sich wie Kommentare zu den Beschlüssen von Brüssel und Bern lesen. 1935 hatte zum Beispiel Wilhelm Pieck in seiner Rede darauf hingewiesen, daß die Kommunisten den Kampf der Katholiken gegen die Hitlerdiktatur unterstützen müssen. Er kritisierte dabei einen Artikel in der Internationale, der durch die Forderung, die Partei müsse in der Volksfrontbewegung stets der Hegemon sein, die Bündnisfrage erschwerte. Unabhängig davon gab Brecht folgende Analyse der Situation: „In den deutschen Religionskämpfen müssen wir Kommunisten an der Seite der fortschrittlicheren Religion kämpfen, genauso wie wir in dem neuen Weltkrieg, in dem wir gegenwärtig stehen, an der Seite der Demokratien, der fortschrittlicheren Staatswesen, stehen müssen. Das eine liquidiert und unterbricht nicht unsern Kampf um eine materialistische Weltanschauung, und das andere liquidiert und unterbricht nicht unsern Kampf um eine sozialistische Gesellschaftsordnung."55 Bei der Formierung der Volksfrontpolitik wie überhaupt im antifaschistischen Kampf des Exils spielte eine Frage immer wieder eine Rolle: Warum wenden sich die deutschen Arbeiter nicht stärker gegen Hitler? Und gegen Ende des Krieges: Warum kämpfen die Arbeiter noch für Hitler? Darüber wurde im Exil viel diskutiert. Es waren vor allem fortschrittliche Intellektuelle, die diese Frage stellten. Auch Brecht, obwohl er darauf immer wieder eine Antwort zu geben wußte, ist von dieser Frage nie losgekommen. In ihr verbargen sich Hoffnung und Furcht über die realen Chancen einer Volksfrontpolitik. Diese scheinbar rein politische Frage erstreckte sich auch auf die Erbekonzeption. Ging es doch darum, wie und in welchem Maße sich die objektiv stärkste Kraft des deutschen Volkes, die Arbeiterklasse, von der faschistischen Diktatur befreien konnte. Wie weit waren die Arbeiter zu revolutionären Aktionen bereit? Von der Antwort hing auch die Art und Weise 44
einer revolutionären Erbetheorie ab. A m 1 2 . 9 . 1 9 4 4 notierte Brecht in sein Arbeitsjournal: „die ungeduld der linken mit den deutschen arbeitern ist begreiflich, dabei sollten marxisten wissen, was eine revolutionäre Situation ausmacht. . . und im deutschen fall handelte es sich um ein durch illusionen und Wirtschaftskrisen geschwächtes Proletariat." 5 6 Mit der Miene des nüchternen, kühlen Analytikers der gesellschaftlichen Situation wandte sich Brecht gegen die Illusionen der Intellektuellen. E r warf ihnen, die gewohnt waren, alles nur v o m Ideologischen, vom Ethischen her zu behandeln, vor, das Ausmaß der Unterdrückung, die Macht des Unterdrückungsapparats der herrschenden Klasse zu unterschätzen. Welchen ernsthaften Gegner Hitler in der Arbeiterklasse immer noch sah, bewies Brecht ihnen dadurch, daß er auf die Divisionen aufmerksam machte, die Hitler für die Situation im Innern des Reiches benötigte. Als ihm einmal ein Sozialdemokrat antwortete, er habe noch nichts von einer deutschen „resistancemouvement" gehört, sagte Brecht nur, er habe auch noch nicht gehört, daß eine deutsche „resistancemouvement" liquidiert worden sei. 5 7 So analysesicher sich Brecht in der Diskussion mit den linksbürgerlichen Intellektuellen des Exils auch gab, er selbst stellte sich die Frage nach der revolutionären Kraft der Arbeiter immer wieder. D a s war auch verständlich, wurde das Ausmaß des Widerstandes ja erst nach Kriegsende bekannt. Vor allem gegen Kriegsende hoffte Brecht auf revolutionäre Aktionen der deutschen Arbeiterklasse. Zwischen Problemen über Erbe, Realismus, Dekadenz und Determinismus steht in seinem Arbeitsjournal die mit Hoffnung verbundene Frage, die er am 28. 1. 1945 eintrug: „immer noch nichts aus oberschlesien über die haltung der arbeiter." 5 8 Und wieder am 10. 3. 1945: „zwischen dem L E H R G E D I C H T und den schrecklichen Zeitungsberichten aus deutschland. ruinen und kein lebenszeichen von den arbeitern." 5 9 Immer wieder zählte er die Gründe auf, warum mit einer breiten revolutionären Bewegung der deutschen Arbeiterklasse nicht gerechnet werden konnte, machte er sich die objektiven Faktoren für das Ausbleiben solcher Aktionen bewußt und hoffte dennoch. Diese Hoffnungen dürfen nicht unerwähnt bleiben, wenn es um Brechts Erbekonzeption geht,
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denn sie erklären deutlicher als manche anderen Fakten die vorgetriebene Position seiner Erbeauffassung, die vorrangige Rolle der d i r e k t revolutionären Literatur der Vergangenheit für die Erbekonzeption, die herablassende Haltung gegenüber der nur allgemein humanistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, der Lukäcs' besondere Wertschätzung galt, das Unverständnis, ja Achselzucken gegenüber der „allgemeinen" Fortschrittlichkeit eines Schriftstellers wie Thomas Mann. Im Gegensatz zu Lukäcs, der die Volksfrontpolitik im Sinne seiner Auffassung von der „revolutionären Demokratie" interpretierte und sich auf eine lange Übergangsperiode einrichtete, in der die sozialistische Revolution nicht auf der Tagesordnung stand, hoffte Brecht gerade auf diese Revolution. Die völlig unterschiedlichen Auffassungen über die Möglichkeiten des historischen Verlaufs zwischen Brecht und Lukäcs prägten auch einen unterschiedlichen Typus von Literatur, eine unterschiedliche Erbekonzeption. Im amerikanischen Exil konnten sich die Ideen der Volksfrontbewegung wenig entfalten, obwohl es auch hier gegen Ende des Krieges zu einem stärkeren Zusammenwirken aller Hitlergegner kam. Bereits im August 1943 hatten Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Feuchtwanger, Bruno Frank, Ludwig Marcuse und der Physiker Reichenbach eine Erklärung ausgearbeitet, in der sie die K u n d g e b u n g deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion begrüßten, in der das deutsche Volk aufgerufen wurde, seine Bedrücker zur bedingungslosen Kapitulation zu zwingen. Man müsse, so hieß es in der Erklärung, unterscheiden zwischen Hitler, den mit ihm verbundenen Schichten und dem deutschen Volk. U m diese Erklärung hatte es vorher mit Thomas Mann heftigen Streit gegeben. E r drohte, seine Unterschrift zurückzuziehen, weil sie, wie Brecht in sein Arbeitsjournal eintrug, „eine patriotische erklärung' (sei), mit der man den alliierten ,in den rücken falle' und er könne es nicht unbillig finden, wenn ,die alliierten deutschland zehn oder zwanzig jähre lang züchtigen'". 5 8 Diesen Standpunkt attackierte Brecht schonungslos. Die Schärfe seiner Polemik erinnert an den T o n des jungen Brecht gegenüber Thomas Mann. Jetzt aber waren seine Argumente vorwiegend politisch: „die entschlossene jämmerlichkeit dieser
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,kulturträger' lähmte selbst mich wieder für einen augenblick. der modergeruch des frankfurter parlaments betäubt einen heute noch, mit goebbels' behauptung, hitler und deutschland sei eins, stimmen sie überein, wenn hearst sie übernimmt, ist dem deutschen volk, sagen sie, nicht zumindest knechtseligkeit vorzuwerfen, wenn es sich goebbels so unterwarf, wie sie sich hearst unterwerfen? und waren die deutschen nicht schon vor hitler militaristisch? th. mann erinnert sich, wie er selber 1914 den einfall der kaiserlichen armeen in belgien zusammen mit 91 andern intellektuellen gut befunden hat. solch ein volk muß gezüchtigt werden! wie gesagt, für einen augenblick erwog sogar ich, wie ,das deutsche volk' sich rechtfertigen könnte, daß es nicht nur die untaten des hitlerregimes, sondern auch die romane des herrn mann geduldet hat, die letzteren ohne 20—30 SS-divisionen über sich." 60 Im August/September 1943 wählten dann deutsche Emigranten ein Initiativkomitee zur Bildung einer Bewegung „Freies Deutschland" in Amerika. Thomas Mann wurde die Präsidentschaft angetragen, er lehnte jedoch ab, weil ihm das State Department auf seine Anfrage hin abriet. In seiner BrechtChronik schrieb Klaus Völker über diese Situation: „Den Vorsitz übernimmt dann der protestantische Theologe Paul Tillich. — ,Man muß nur Tillich mit Thomas Mann vergleichen', kommentiert Brecht diese Vorgänge — ,es gibt so etwas wie religiösen Sozialismus, der sich dem Klerikofaschismus entgegenstemmt.' — Als Ruth Berlau die Erklärung vom 1. August als zu wenig entschieden kritisiert, meint Brecht am 16. August: ,das ganze ist mulmig und quatschig, aber sogar so will niemand ran, die Feigheit ist ungeheuer.' Hermann Budzislawski, der Sekretär des Initiativkomitees und Mitarbeiter Dorothy Thompsons, formuliert schließlich die Erklärung vom 1. August um, während Paul Tillich überhaupt von ihr abrät." d Die ungemein harte Kontroverse, die Brecht in seinem Arbeits]ournal mit Thomas Mann führte, ist ein Stück Literaturgeschichte, vor allem deshalb, weil hier die unterschiedliche weltanschauliche Basis und alle sich daraus ergebenden Konsequenzen deutlich werden. In solche Diskussionen stieg Brecht meist hart ein, dabei war die Art und Weise seiner Ar47
gumentation nicht immer im Sinne der Volksfrontpolitik. Denn diese erforderte nicht nur weltanschauliche Konsequenz, sondern auch Geduld und Verständnis für die Unklarheiten und ideologischen Barrieren des Partners. In Thomas Mann sah Brecht stets den Prototyp des inkonsequenten deutschen Intellektuellen, sah er den Tui, der selbst bei fortschrittlichem Wollen die Mühlen der anderen, des Klassengegners, trieb. Unklarheiten und Unverständnis in Fragen, die mit der Volksfrontpolitik im Zusammenhang standen, gab es bei Brecht hinsichtlich der nationalen Frage, des nationalen Charakters der Literatur. Mit diesem Problem des Nationalen, das mit seiner Erbekonzeption aufs engste verknüpft war, hat sich Brecht wiederholt auseinandergesetzt. Er reagierte auch hier außerordentlich heftig, leidenschaftlich, schritt alle Widersprüche aus, verwarf, verwechselte, korrigierte und verstand. Wie bei vielen Intellektuellen, so war auch bei ihm die Haltung zu diesem Problem mit der historischen Entwicklung in Deutschland unmittelbar verbunden. Auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 hatte Dimitroff erklärt: „Wir Kommunisten s i n d u n v e r s ö h n l i c h e g r u n d s ä t z l i c h e Gegner des bürgerlichen Nationalismus in allen Spielarten. Aber wir sind n i c h t A n h ä n g e r des n a t i o n a l e n N i h i l i s m u s und dürfen niemals als solche auftreten." 62 Eine in ihrer Logik und politischen Praktikabilität bestechende Erklärung. Wie schwer es aber für viele Intellektuelle — und nicht nur für sie — war, das wirklich Nationale zu erkennen und zu begreifen, nachdem sie sich eben erst von allen nationalistischen Vorurteilen frei gemacht hatten, beschreibt der Freund Bertolt Brechts, Hanns Eisler, höchst eindruckvoll: „. . . als ich aus dem ersten Weltkrieg zurückkam, 1919, hätte ich ein Gedicht wie zum Beispiel ,An eine Stadt' nie komponieren können, weil mir der Patriotismus zum Halse heraushing. Es mußte erst die Schärfe der Emigration kommen und das Zurückblicken, die Kunst der Erinnerung. Wissen Sie, das ist eine ganz große Kunst, sich zu erinnern . . . Wenn man aber mal vierzehn Jahre in der Emigration ist und sich erinnert an dieses verdammte Deutschland, dann sieht man die Sache auch anders . . . Brecht hat auch einiges Wunderbare darüber geschrieben." 63 Die Hin-
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wendung zu diesem Problem des Nationalen, die auch eine veränderte Sicht zu Goethe, zu Hölderlin bewirkte, vollzog sich bei Brecht langsam, geradezu widerstrebend. Johannes R. Becher, der zwar auch erst in der Emigration, aber doch relativ früh das nationale Element in seiner Dichtung und in seinen publizistischen Arbeiten betonte, wurde von Brecht deswegen regelrecht beschimpft. Bechers Artikel Deutsche 'Lehre, der 1943 in der Internationalen Literatur erschien, empfand Brecht als einen „entsetzlichen opportunistischen quark", als „reformismus des nationalismus". Mit der politischen Stoßrichtung des Artikels, daß man den drastischen „nationalistischen zerstücklungs- und ,deindustriealisierungs'-tendenzen" Widerstand entgegensetzen müsse, stimmte er voll und ganz überein; denn solche Tendenzen gegenüber Deutschland kannte er von der amerikanischen Seite. Auf diese Weise aber geriet Brecht in merkwürdige Widersprüche: Einerseits beschimpfte er Becher wegen seines angeblichen Nationalismus, wegen seines Patriotismus, andererseits mußte er sich von Thomas Mann seine eigenen „patriotischen Erklärungen" vorhalten lassen. Wenn Brecht auch bereit war, die gesellschaftlichen Grundgedanken in Bechers Artikel zu teilen, so fragte er doch, warum man dann aber so einen „gigantischen spießerüberbau" errichten müsse. Allein schon das „Nationalistische" bei Schiller, Goethe und Hölderlin sei, so meinte Brecht, für den heutigen Menschen schwer erträglich. Davon war Brecht so angewidert, daß er in seinem Arbeitsjournal nach des Nachbarn „Speikübel" verlangte. 64 Dieselbe Situation wiederholte sich noch einmal, als sein Freund Hanns Eisler ihm ein soeben komponiertes Lied nach den Versen von Hölderlin
O beilig Herz der Völker, o Vaterland\ / Allduldend, gleich der schweigenden Mutter Erd' und allverkannt vortrug. Brecht war darüber nicht weniger entsetzt. Eisler erinnert sich: „Als ich Brecht das vorspielte — Sie werden das im Tagebuch von Brecht finden —, war er entsetzt, über meinen Nationalismus . . . Brecht wurde blaß und sagte: ,Wie kannst du sowas komponieren!' Das war ungefähr um die Zeit von Stalingrad." Kurze Zeit später griff Brecht den Ton Hölderlins in einem seiner Gedichte auf. Über die Entstehung dieses BrechtTextes heißt es an gleicher Stelle bei Hanns Eisler: „Ja, den hat 4
Mittenzwei
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er danach geschrieben. Also das ist wirklich keine Verleumdung meines Freundes Brecht. Als der Brecht mich den Hölderlin komponieren sah — das hier ist ja nicht das einzige Gedicht; ich habe einige von Hölderlin komponiert —, sagte er, schlürfend vor Begeisterung: ,. . . wo deine Sonne milde dem Künstler zum Ernst leuchtet.' da war Brecht ganz hingerissen. Er hatte das Gedicht noch nie gelesen. Brecht war hingerissen, obwohl er sagte: ,Hanns, bist du nationalistisch.'" 65 Der Vorstoß zum nationalen Charakter der Literatur, zur Verwendung des nationalen Moments im Sinne des Fortschritts, des Sozialismus vollzog sich im dichterischen und theoretischen Werk Brechts langsam, aber mit zunehmender Intensität, wenn auch nicht ohne Widersprüche und Rückschläge. Von der Verdammung bestimmter Erkenntnisse über das Nationale in Bechers Artikel Deutsche Lebre bis zur Verwendung eben dieser Erkenntnisse in seinem eigenen Schaffen oder gar bis zur Interpretation des Becherschen Deutschland-Gedichts durchlief Brecht eine Entwicklung, in der das Nationale und das Sozialistische immer näher aneinanderrückten. Obwohl er bereits Anfang der vierziger Jahre durch das Studium der englischen Literatur erfahren hatte, was eine nationale Literatur ist, trugen diese Gedanken nicht zu einem größeren Verständnis für die Rolle des Nationalen in der deutschen Literatur bei. Damals schrieb er: „was eine nationale literatur und hiermit eine literatur schlechthin ist, ging mir eigentlich erst diesen sommer auf, als ich mehr englisch las. diese große aufeinanderfolge von geschlechtern in der literarischen weit, diese kämpfe und kommunikationen, diese neuerungen, welche korrekturen sind, diese tradition, welche den fortschritt erleichtert, statt ihn zu hemmen!" 66 Brecht sah hier nur das Gegenbild zur deutschen Entwicklung. Erst als ihm bewußt wurde, daß die sozialistischen Dichter und Künstler mit dem Nationalen einen völlig anderen Gehalt, eine gänzlich andere Qualität des Denkens und Fühlens auszudrücken vermochten, daß ihre bedeutendsten Werke ja für eine sozialistische Nation geschrieben waren, verlor sich für Brecht das Destruktive, das er bisher immer mit dem Nationalen verbunden hatte. Die Entwicklung der sozialistischen deutschen Nationalliteratur vollzog sich in der Emigration in einem außerordentlich kompli50
zierten Prozeß. Die neue Qualität des Nationalen wurde unter anderem schon dadurch sichtbar, daß die großen Werke der sozialistischen Dramatiker, die in der Emigration entstanden, nach einer neuen Gesellschaftsordnung verlangten, um richtig aufgeführt zu werden. Als Werke der sozialistischen deutschen Nationalliteratur bargen sie den neuen Anspruch an eine Gesellschaft in sich. Hier sei noch einmal Hanns Eisler zitiert, der das von seinen eigenen wie auch von den Werken Brechts berichtet: „. . . Bertolt Brecht hat ja auch ein Stück geschrieben wie den ,Kreidekreis', das man überhaupt nur aufführen kann, wenn die Proletarier die Macht haben. Mit einem Wort, wir haben geschrieben für die Diktatur des Proletariats in der Form, die wir heute nennen: Deutsche Demokratische Republik. Aber können wir uns deswegen rühmen? Nein! Ich werde Ihnen sagen: wir hatten keine andere Chance. Wir können nur zur Bourgeoisie übergehen oder zu unserer Arbeiterklasse, die uns aufgezogen hat. Sie erinnern sich an das berühmte Gedicht von Brecht: ,. . . will ich gern wieder in die Lehre gehen . . .' Wir sind Schüler der Arbeiterklasse. Wir konnten doch gar nicht anders. Das ist kein Verdienst, auch keine Tugend, auch keine Tapferkeit — es ist nichts. Schüler folgen dem Meister. Das ist alles, was ich zu sagen habe." 6 7 Wer Brechts Haltung zur Volksfront in Frage stellen möchte, findet innerhalb seiner politischen Reaktionen und seiner theoretischen Schriften wohl Schwierigkeiten, Kritik und Polemik, aber keine Ablehnung; ging es doch bei der Realisierung der Volksfrontpolitik um überaus komplizierte, schwierige Probleme und Konflikte. Hier war, wie Brecht sagte, die „Fülle der Kämpfe". Einer solchen Zeit ist literaturhistorisch nicht mit der abstrakten Losung „. . . die volle Wahrheit oder gar keine" (H. Mayer) beizukommen.®8 Im Zusammenhang mit der Volksfrontbewegung und teilweise als direkter Ausdruck ihrer Aktionen und ihrer Politik gab es in den dreißiger und vierziger Jahren einige große Debatten um das literarische Erbe. Allein schon ihr Bezug zur Volksfrontpolitik, zum antifaschistischen Kampf zeigt, daß es in ihnen nicht um akademische Fragestellungen, nicht um vergangene Zeiten, sondern um die unmittelbare Gegenwart, ja mehr noch, um jene Zeitphase ging, die der Zerschlagung des 4*
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Faschismus folgte. Das große Arsenal der Weltliteratur, ihre Dichter, Gestalten und Ideale wurden kritisch durchleuchtet, analysiert und gewertet, um auf diese Weise Vorstellungen und Wege in eine neue Gesellschaft sichtbar zu machen. War das Traditionsproblem für viele Dichter bisher nur eine Frage des subjektiven Bekenntnisses zu literarischen Vorbildern gewesen, so wurde es jetzt zur angewandten Revolutionsstrategie, beziehungsweise zu einem Instrumentarium für die Klärung der Frage, wie nah oder wie weit entfernt man sich von der revolutionären Gesellschaftsumwälzung glaubte. Lukäcs' Orientierung auf Balzac—Tolstoi war nicht nur ein mechanisches Abziehen formaler Muster — hierin täuschte sich Brecht: Sein ästhetisches Credo war aufs engste verknüpft mit seiner Vorstellung von der „revolutionären Demokratie" als langwirkender Übergangsphase. Brechts Orientierung auf die Schriftsteller der direkt revolutionären Phasen, insbesondere der bürgerlichen Aufstiegsphase, wiederum entsprach seiner Vorstellung von der Möglichkeit revolutionärer Umwälzungen. Dagegen waren die Theorien von Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno über den „affirmativen Charakter der Kultur" die Gegenposition zur Volksfrontbewegung mit einem nicht zu übersehenden konterrevolutionären Akzent. So kam es, daß sich in den dreißiger und vierziger Jahren die Stellung zum Erbe im starken Maße politisierte und zu einem direkten Mittel der großen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung wurde. Ein wichtiger Markierungspunkt für die Diskussion um das Erbe war Thomas Manns noch im faschistischen Deutschland erschienene Aufsatzsammlung Leiden und Größe der Meister (1935), die Lukäcs zum Anlaß für einen grundlegenden Artikel nahm. In der Essay-Sammlung griff Thomas Mann das Problem des Kampfes für den Humanismus, gegen die Barbarei auf, wobei er sich noch nicht von seiner Verehrung gegenüber Nietzsche frei machen konnte. Wesentlich waren auch die Aufsätze von Heinrich Mann über das Erbe (Das geistige Erbe, Die Macht des Wortes), weil sie als direkter Teil der von ihm aktiv vertretenen Volksfrontpolitik verstanden werden müssen. Den stärksten Impuls bekam die Diskussion über das Erbe 1937 durch die Debatte über den Expressionismus, die 52
von der in Moskau erscheinenden Zeitschrift Das Wort veranstaltet wurde. Diese Debatte über das Problem, inwieweit der Expressionismus als Erbe für den antifaschistischen Schriftsteller in Frage komme, brachte zwar keine Klärung über den Expressionismus, jedoch gebührte ihr das Verdienst, die Fragen über die Erbeaneignung als eine Form des antifaschistischen Kampfes in den Mittelpunkt der politisch-literarischen Diskussion gerückt zu haben. Brecht beteiligte sich nicht direkt an dieser Debatte, weil er durch sie eine zu starke Frontenbildung und Gruppierung innerhalb der fortschrittlichen Kräfte fürchtete, die er der gemeinsamen Sache für abträglich hielt. Eine solche Gruppierung bildete sich aber zwangsläufig heraus und keineswegs nur durch die ExpressionismusDebatte. Innerhalb des antifaschistischen Lagers der Emigration ließen sich im Streit um das Erbe, grob verallgemeinert, drei Richtungen erkennen. Da war zunächst die Gruppe der progressiven bürgerlich-humanistischen Schriftsteller, die von dem mit der Volksfrontpolitik so eng verbundenen Heinrich Mann über Lion Feuchtwanger bis zu Thomas Mann reichte. Der von ihr geleistete Beitrag war ganz wesentlich, allein schon deshalb, weil er zeigte, in welch starkem Maße sich solche Persönlichkeiten wie Heinrich Mann unter dem Einfluß der Volksfrontbewegung dem Marxismus wie dem real existierenden Sozialismus näherten. Andererseits ist dieser Beitrag, wie im Falle Thomas Manns, auch in seinem Vorstoß zu neuen Ufern überschätzt worden. Das geschah nicht zuletzt durch die Interpretationen Georg Lukäcs'. Hier wird die politische Auseinandersetzung zwischen Brecht und Thomas Mann im amerikanischen Exil sicherlich neue Einblicke geben, wenngleich man sich hüten muß, Brechts erbitterte Ausfälle und Anklagen unbesehen zu übernehmen. Im marxistischen Lager wurde die Erbekonzeption vor allem von Johannes R. Becher, Georg Lukäcs und Bertolt Brecht bestimmt. Brechts Auffassung zum Erbe wurde allerdings in dieser Zeit noch kaum wirksam. Das lag zu einem großen Teil daran, daß er seine Meinung selten publizierte. Wie intensiv er sich jedoch mit diesen Fragen beschäftigte, darüber geben sein Nachlaß und die Berichte seiner Diskussionspartner 53
sehr ausführlich Auskunft. Mit Brechts Auffassung fühlten sich vor allem Walter Benjamin und Hanns Eisler verbunden. Ihre Vorstellungen über das Erbe sind jedoch mit denen Brechts keinesfalls „deckungsgleich". Beide haben ihren spezifischen Beitrag zu den Fragen des Erbes, der literarischen Tradition geleistet. Außerordentlich aufschlußreich sind dabei Hanns Eislers Gedanken, die er später in Gesprächen mit Hans Bunge äußerte. Eine marxistische Erbetheorie kann an ihnen nicht vorbeigehen. Eislers Stellung zum Erbe war lange Zeit durch den gemeinsam mit Ernst Bloch geschriebenen Artikel (in der Neuen Weltbühne) zur Expressionismus-Diskussion vorgeprägt. Seine Rückerinnerungen zeigen eine tiefe und differenzierte Erbeauffassung, die der Weltbühnen-Attike\. auch nicht im entferntesten anzudeuten vermochte. Insbesondere hat es Eisler in seinen Gesprächen verstanden, das dialektische Moment der Erbebewältigung herauszuarbeiten. Neben Georg Lukäcs entwickelte die umfassendste Konzeption über das literarische Erbe wohl Johannes R. Becher, der immer von dem Bestreben ausging, dem Klassengegner keinen Gedanken und keinen Klang humanistischer Literatur zu überlassen. Auch Becher unterscheidet sich jedoch trotz der großen Wertschätzung und manchen direkten Bezugspunktes in seiner Erbeauffassung von Lukäcs. 69 Keinen Bezugspunkt zur Volksfrontpolitik hatten die Erbetheorien von Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno. Ihre Auffassungen waren — bewußt oder unbewußt — eher die Gegenkonzeption zur Literaturpolitik der Volksfront. Dabei erwiesen sich einige Elemente ihrer Theorie allerdings geeignet, Illusionen zu zerstören. So korrigierte Marcuse zum Beispiel die Auffassung, daß es zwischen klassischer bürgerlicher Kultur und Faschismus nur ein diskontinuierliches Verhältnis gebe, so daß der Faschismus als „ein rätselhafter Betriebsunfall der Geschichte" erschien. Dagegen wies Marcuse nach, wie der Liberalismus in den Faschismus hinüberwuchs. 70 Als Ganzes blockierten aber ihre Theorien jeden Zugang zu wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen. Bevor auf Brechts Erbeauffassung näher eingegangen wird und insbesondere die Veränderungen zur Sprache kommen, die sich in der Emigration vollzogen, muß zunächst einmal die 54
Auseinandersetzung Brechts mit den Erbetheorien seiner Zeitgenossen beleuchtet werden. Dabei kann Brecht jedoch nicht mit der ganzen Breite der Erbeauffassungen konfrontiert werden, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren herausbildeten, sondern nur mit den Vorstellungen, die ihn zur Polemik und Stellungnahme veranlaßten.
Auseinandersetzung um das Erbe B recht—Adorno—Marcus e—Lukäcs Obwohl Brecht und sein Werk mit den verschiedenartigsten und unterschiedlichsten Persönlichkeiten der Literatur und Philosophie verglichen wurde, gibt es merkwürdigerweise kaum Darstellungen über das Verhältnis von Brecht zu Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse. Das mag teilweise darauf zurückzuführen sein, daß die Äußerungen Brechts über diese beiden Wissenschaftler aus seinem Arbeitsjournal erst sehr spät veröffentlicht worden sind. Insbesondere zu Herbert Marcuse, der erst in den sechziger Jahren international bekannt und zu einem populären Mann der „Neuen Linken" wurde, vermutete man kaum Beziehungen. Brecht traf im amerikanischen Exil, in Hollywood, mit Adorno und Marcuse (auch mit Ludwig Marcuse) zusammen. Die Abende waren lang, wie einmal Hanns Eisler bemerkte, sie führten auch Menschen unterschiedlicher Gesinnung und verschiedenartigen Temperaments zusammen. In seinem Arbeitsjournal vermerkte Brecht im Jahre 1942 und 1943 wiederholt „wiesengrurid adorno hier", 71 „mit eisler bei horkheimer zum lunch." 72 , „bei adomo diskutieren horkheimer, pollok, adorno, marcuse, eisler, Stern, reichenbach . . ,"73, „eisler spielt winge und h. marcuse die elegien und einige der finnischen epigramme vor . . , 7 4 " Es war vor allem Hanns Eisler, durch den Brecht mit Adorno und Marcuse bekannt wurde; denn Eisler und Adorno gingen thematisch benachbarten Forschungen nach. Trotz politischer Meinungsverschiedenheiten arbeiteten sie gemeinsam an dem Projekt Kompositionen für den Film.15 Die Haltung Brechts zu Adorno und Marcuse ist unkompliziert und eindeutig, nämlich eindeutig polemisch und ablehnend. Wie Brecht, so ging 55
auch Hanns Eisler in seinen Gesprächen auf die Diskussionsabende ein, die das emigrierte Frankfurter Institut für Sozialforschung veranstaltete. Dazu wurde Hanns Eisler eingeladen. Die Einladung an ein Mitglied der KPD diente dem AdornoMarcuse-Horkheimer-Kreis, wie Eisler selbst sagte, als Alibi. In einer Zeit, in der die ganze Welt mit Bewunderung auf den Kampf der sowjetischen Armeen gegen den Faschismus blickte, wollten sie ihre „loyale" Haltung zur Arbeiterbewegung vorweisen. „Brecht wurde", erzählte Eisler über diese Diskussionsabende, „nicht eingeladen. Weil man hat Angst vor ihm gehabt. Und das Geschwätz, das teilweise dort hochkam, hätte man in Anwesenheit Brechts nicht über die Lippen gebracht." 76 Dennoch war Brecht über diese Diskussionsabende genau informiert und nahm in seinem Arbeitsjournal dazu Stellung. Außerdem wurde die Diskussion in den privaten Zusammenkünften weitergeführt. Brechts Polemik ist hierbei von der gleichen Schärfe wie gegenüber Georg Lukäcs, und doch fällt sofort ein Unterschied auf. Während Brecht die damals viel schwieriger zu erreichenden Werke Georg Lukäcs' sehr aufmerksam verfolgte, bemühte er sich kaum um die Kenntnis der wissenschaftlichen Werke von Adorno, Marcuse und Horkheimer. Gegenüber Lukäcs war Brecht oft außerordentlich allergisch und manchmal geradezu boshaft, aber er betrachtete ihn immer äls einen Marxisten und Kommunisten — wenn auch als einen, der enge, unproduktive Theorien in die Welt setzte. Aber selbst wenn er Lukäcs als „Murxisten" beschimpfte, war seine Auseinandersetzung mit ihm eine Auseinandersetzung innerhalb des marxistischen Lagers, innerhalb der Gemeinschaft, der sich Brecht zugehörig fühlte. Ganz anders verhielt es sich im Fall Adorno und Marcuse. Was Brecht bei Adorno immer zuerst notierte, ist die abwertende, Marx-feindliche Einstellung. So arbeitete gegen Ende des Krieges das Frankfurter Institut an einem soziologischen Projekt zur Erforschung des Antisemitismus. Im Gespräch mit Adorno lenkte Brecht die Aufmerksamkeit auf die Schrift von Karl Marx zur Judenfrage. In einem Brief an seinen Sohn schrieb Brecht, daß er von Adorno wieder einmal erfuhr, daß dieses Werk von Marx überholt sei, daß es überhaupt 56
vom jungen Marx stamme und daß Marx, wie Brecht ironisch vermerkte, auf die Goebbelssche Unterscheidung zwischen dem schaffenden und dem raffenden Kapital hereingefallen sei. 77 Nach einem anderen Gespräch zitierte Brecht Adorno: „,marx ist nicht interessiert an den dingen, nur an den beziehungen zwischen den menschen, die in den dingen verdinglicht sind'", und er machte sich lustig über diese „uneigennützigen bewunderer der idee des materialismus"78, die keine Chance ausließen, um den Materialismus anthropologisch und psychologisch aufzulösen. Es war vor allem der heuchlerische Umgang mit bestimmten Grundthesen des Marxismus bei völligem Desinteresse an echten Veränderungen und einem eklatanten Mangel an wirklicher materialistischer Erkenntnis, was Brecht zur Polemik veranlaßte. Immer wieder wies er nach, wie wenig die „Frankfurtisten" in ihren Darlegungen historisch vorgehen, wie sie alle Fragen der Kunst von den sozialen und gesellschaftlichen Beweggründen wegrücken und immer nur nach „Verdrängungen, Komplexen, Hemmungen" stöbern. Es sei, vermerkte Brecht, die alte Routine, mit der auch Lukacs, Bloch, Stern u. a. nur die alte Psychoanalyse verdrängten.79 Eine treffende Charakteristik des Adorno-MarcuseKreises, wie er im amerikanischen Exil auf Brecht wirkte, hat Hanns Eisler in seinen Gesprächen gegeben: „Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieses Instituts in Frankfurt, daß sie alle Auflösungstendenzen mit einer Art Halbmarxismus als progressiv sehen . . . Fehlt aber die echte Polemik und der echte Kampf — sowohl der theoretische als der praktische Kampf gegen das Bürgertum . . ."80 Für den genau beobachtenden Brecht waren aber solche Männer wie Adorno und Marcuse trotz ihrer wenig ergiebigen Ansichten nicht uninteressant, stellten sie doch ein willkommenes Studienobjekt dar. Marcuse und Adorno gaben für Brecht das literarische Vorbild für den Tui ab, den Intellektuellen in der Zeit der Märkte und Waren, der seinen Intellekt vermietet, um die wahren Gründe des menschlichen Elends unauffindbar zu machen. Unterm 10. 10. 1943 schreibt Brecht in sein Arbeitsjournal: „ADORNO hier, dieses frankfurter institut ist eine fundgrube für den TUIROMAN. das gegenstück zu den .freunden des bewaffneten aufstands'.. ." 81 Die Geschichte des 57
emigrierten Frankfurter Instituts und seiner Gelehrten inspirierten Brecht zu seinem Tuiroman.82 Es erwies sich hier zunächst einmal als notwendig, die allgemeine weltanschauliche Haltung Brechts gegenüber Adorno und Marcuse darzulegen, weil sie die Voraussetzung für die Auseinandersetzung um das literarische Erbe ist. Zumal auch Brecht, anders als im Fall Lukäcs, die Kunsttheorien Marcuses und Adornos und ihre Konzeption über das künstlerische Erbe kaum direkt aufgriff. Er attackierte vielmehr die politischen und philosophischen Prämissen dieser Kunsttheorien. Die Negation, die Adorno gegen das künstlerische Erbe ins Feld führte, ging davon aus, daß die traditionelle Kunst „sozial" sei. Durch das ästhetische Stilisationsprinzip, durch den Abbild- und Realitätsbezug entrichte das große künstlerische Erbe der Vergangenheit wie auch jene Kunst, die dieser Tradition folge, ihren „Zoll an die verruchte Affirmation". 83 So vollziehe sich die Anpassung an den Markt und an eine Gesellschaft, in der dann die großen traditionellen Kunstwerte im bürgerlichen Alltag einfach verschlissen würden. Den Ausweg aus dieser Situation sah Adorno in der kritischen Selbstes aufhebung der Kunst; sie war für ihn im total individualisierten Kunstwerk vollzogen, das keinen Zugang zur empirischen Realität und keinen gesellschaftlichen Anspruch mehr kennt. Nicht das gesellschaftskritische, auf Veränderung zielende Kunstwerk, sondern das individualistische, autonome Kunstwerk liefere die richtige „Anweisung auf die Praxis", „auf die Herstellung richtigen Lebens".84 Deshalb seine Losung: „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen." 85 Es war nur zu verständlich, daß Brecht in Adorno keinen Partner für eine fruchtbare Diskussion sah. In der undialektischen Negation der Tradition hatte Brecht schon in den zwanziger Jahren, als seine Kunstauffassung von radikalistischen Tendenzen nicht frei war, keinen rechten Sinn gesehen. Ihm ging es nicht darum, die Kunst der Vergangenheit als affirmativ zu verteufeln, sondern sie ihres affirmativen Gebrauchs zu entreißen. Eine solchc Aufgabe war ganz im Sinne der Volksfrontpolitik. Diese kämpferische Einstellung aber ließ die Theorie Adornos völlig vermissen. Sie beruhte nicht nur auf der Negation, sondern auch auf der Kapitulation. Wenn 58
Brecht mit Adorno darin übereinstimmte, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Kulturgüter dieselbe Funktion bekamen wie alle anderen Güter, nämlich zu Waren wurden, so zog Brecht daraus aber die Schlußfolgerung, daß die Kultur ihren „Gütercharakter" verliere und erst Kultur werde, wenn das Proletariat die gesamte Produktion, und damit auch die künstlerische, von den Fesseln befreie. Brecht sah den Sinn der Kunst darin, daß sie den Menschen hilft, ihre Existenz, ihr Schicksal zu meistern. Dieses Kriterium bezog er auch auf das Erbe, wenn er über eine Erbediskussion mit den Frankfurtisten in sein Arbeitsjournal notierte: „natürlich werden nur die künste gerettet, die an der rettung der menschheit sich beteiligen." 86 Im krassen Widerspruch zu diesen Auffassungen formulierte Adorno zwanzig Jahre später seinen unverändert gebliebenen Standpunkt, der auch jetzt direkt auf Brecht zielte: „Literatur, die wie die engagierte, aber auch wie die ethischen Philister es wollen, für den Menschen da ist, verrät ihn, indem sie die Sache verrät, die ihm helfen könnte, nur, wenn sie nicht sich gebärdet, als ob sie ihm hülfe . . . An der Zeit sind nicht die politischen Kunstwerke, aber in die autonomen ist die Politik eingewandert, und dort am weitesten, wo sie politisch tot sich stellen, so wie Kafkas Gleichnis von den Kindergewehren, in dem die Idee der Gewaitlosigkeit mit dem dämmernden Bewußtsein von der heraufziehenden Lähmung der Politik fusioniert ist." 87 Während sich Brecht in seinem Arbeit sjournal hin und wieder ironisch mit den Tui-Konzeptionen Adornos auseinandersetzte, fiel der Name Herbert Marcuses eigentlich nur immer im Zusammenhang mit dem gesamten Kreis des Frankfurter Instituts. Marcuse wurde von Brecht mit Adorno mehr oder weniger in einen Topf geworfen. Das war insofern nicht unrichtig, da sich Marcuse in Kunstfragen immer stark an Adorno anlehnte. Sieht man einmal davon ab, daß sich Brecht von dem tuistischen Geschwätz der Frankfurtisten abgestoßen fühlte und kein Verlangen spürte, sich mit ihnen über ihre theoretischen Arbeiten zu unterhalten, so ist dennoch die Abstinenz gegenüber Herbert Marcuse auffällig. Zu der Zeit, als Brecht mit Marcuse zusammentraf, war gerade dessen zweites HegelBuch erschienen. Bei der Gier Brechts nach Unterhaltungen 59
über Hegel und Marx verwundert es, darüber im A.rbeitsjournal keinen Hinweis zu finden. Keinen Hinweis gibt es auch auf Marcuses 1937 in der Zeitschrift des Frankfurter Instituts, Zeitschrift für So^ialforscbung, erschienenen großen Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur, der Marcuses Erbekonzeption pur enthält. In den vierziger Jahren war Marcuse für Brecht kein eigenständiger Denker. In Marcuse sah Brecht den „Frankfurtisten", einen Hersteller von Cliquen-Ideologie liberalen Zuschnitts. Sich mit ihm auseinanderzusetzen hielt Brecht gar nicht für notwendig. Damit wäre die Frage nicht unberechtigt: Warum dann hier diese Auseinandersetzung? Marcuses radikale Einstellung zum Erbe, einige seiner theoretischen Fragestellungen fordern unbedingt zu einem Vergleich mit den Vorstellungen Brechts, insbesondere des jungen Brecht heraus. Die Untersuchung der radikalen Fragestellungen von Brecht und Marcuse zum Erbe wird aber auch zeigen, daß es sich um Antipoden handelt, die sich in der Art ihrer radikalen Fragen extrem unterscheiden. Herbert Marcuse befand sich damals an einem entscheidenden Wendepunkt seines Lebens. Robert Steigerwald bezeichnet ihn in seinem Marcuse-Buch als den Übergang von der zweiten zur dritten Entwicklungsperiode. Während in der zweiten Entwicklungsperiode, in der Marcuse den Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur schrieb, „die größte Annäherung an den Marxismus" festzustellen ist, 88 vollzog sich danach eine Abschwächung der Linksentwicklung und eine stärkere Orientierung auf einen Antimarxismus mit direkter Frontstellung gegen den realen Sozialismus. Als sich Hanns Eisler 1958 an die Hollywooder Gespräche erinnerte, hatte er den Herbert Marcuse der zweiten Entwicklungsperiode vor Augen. Er sprach noch von ihm wie von einem völlig unbekannten Mann. Der große Auftritt Marcuses, der zu Beginn der sechziger Jahre erfolgte, hatte noch nicht stattgefunden. „Dann gibt es noch einen anderen Marcuse, der heißt Herbert Marcuse. Das ist ein sehr anständiger Mann, der eine vernünftige Hegelstudie geschrieben hat." 89 Herbert Marcuses Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur entstand in einer Zeit, als Brecht im dänischen Exil seine Theorie und Methode des epischen Theaters weiterent60
wickelte und zu neuen Einsichten über das Erbe kam. Aber fein Vergleich der Auffassungen von Brecht und Marcuse bietet sich nicht nur durch die gleiche Entstehungszeit an, sondern vielmehr durch die gleiche Fragestellung im Werk der beiden Männer. Anhand ihrer Ansichten kann das Kampffeld besichtigt und untersucht werden, auf dem damals der Streit um das Erbe ausgetragen wurde. Erst auf diese Weise werden auch die unterschiedlichen Lösungswege, ja der völlige Gegensatz in der Haltung zum Erbe deutlich. Dabei muß man freilich den Marcuse der zweiten Phase vor Augen haben. Wenn man auch Robert Steigerwald zustimmen kann, daß Marcuse in dieser Phase die weiteste Annäherung an den Marxismus vollzog und die Arbeiten in dieser Phase von beachtlicher Qualität sind, so muß man andererseits aber auch feststellen, daß sich Marcuse in seinem Essay über die affirmative Kultur kaum des theoretischen Arsenals des Marxismus und schon gar nicht einer marxistischen Terminologie bediente. 90 Was die Qualität dieses Aufsatzes ausmacht, was vom Geist des Marxismus zeugt, ist die analytische Kraft dieser Arbeit. Wovon ging Marcuse in seinen Überlegungen aus? Die klassische bürgerliche Kunst habe ihre Idealgestalten so weit von dem alltäglichen Geschehen entfernt, daß der Rezipierende diese Gestalten nur durch einen Sprung in eine total andere Welt wiederfinden könne. In der Einheit der Kunst, in der Glut der großen und schönen Worte werde das Gegenbild der tatsächlichen Wirklichkeit überwunden. Diese große Kunst der bürgerlichen Gesellschaft sei sozusagen zum Trainingsgelände für das vereinsamte Individuum der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Dieses Individuum, schrieb Marcuse, „auf sich selbst zurückgeworfen, lernt seine Isolierung ertragen und in gewisser Weise lieben. Die faktische Einsamkeit wird zur metaphysischen Einsamkeit gesteigert und erhält als solche die ganze Weihe und Seeligkeit der inneren Fülle bei äußerer A r m u t . . . Erst in dieser Kultur gewinnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände ihre hoch über den Alltag emporgesteigerte Würde: ihre Rezeption wird zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung." 9 1 Das durch die bürgerliche Gesellschaft verratene und ramponierte kulturelle Erbe war der Gegenstand, dem sich Mar61
cuse wie Brecht zuwandten. Aber während selbst der Brecht der zwanziger Jahre im Gespräch mit Herbert Jhering davorf ausging, daß sich die allzu ehrerbietige Haltung an den Klassikern gerächt habe, daß sie durch Ehrerbietung ramponiert worden seien, 92 ging Marcuse davon aus, daß das Affirmative in der Kultur, in der Kunst selbst liege. Marcuse stellte in seinem Essay zwei Grundkategorien heraus, die er kritisch untersuchte: das Affirmative und das Seelische. Im Ergebnis dieser Untersuchung verwarf er beide. In der Beschreibung ihrer Funktion erinnert vieles daran, was Brecht das Aristotelische und die Katharsis nannte. Das Affirmative war für Marcuse jene zu einem selbständigen „Wertreich" gewordene geistig-seelische Welt der Kunst. Von diesem „Wertreich" gehe die destruktive Gewalt aus, die darin bestehe, daß sie die Menschen mit einer unmenschlichen Wirklichkeit versöhne. Auf die Not des isolierten Individuums antwortete die affirmative Kultur mit allgemeiner Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Diese Kultur helfe die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums zu verdecken. Als den Kristallisationspunkt des Affirmativen markierte Marcuse die Seele, die Rolle des Seelischen in der Kunst der Vergangenheit. Die Idee von der Seele habe zuerst in der Literatur der Renaissance ihren Ausdruck gefunden, aber mindestens seit Herder seien seelische Werke konstitutiv für den affirmativen Kulturbegriff. „Seelische Bildung und seelische Größe einigt die Ungleichheit und Unfreiheit der alltäglichen Konkurrenz im Reich der Kultur, darin die Individuen als freie und gleiche Wesen eingehen. Wer auf die Seele sieht, sieht durch die ökonomischen Verhältnisse hindurch die Menschen selbst. Wo die Seele spricht, da wird die zufällige Stellung und Wertung der Menschen im Gesellschaftsprozeß transzendiert. Liebe durchbricht die Schranken zwischen reich und arm, hoch und niedrig . . . So hat die affirmative Kultur in ihrem klassischen Zeitalter immer wieder die Seele gedichtet." 93 Inwieweit hier eine Verkennung, eine vereinfachte und mechanische Auffassung von einem Zentralbegriff der klassi62
sehen Literatur vorliegt, soll vorerst nicht weiter erörtert werden. Zunächst fordert die Formulierung Marcuses zu einem Vergleich mit der Katharsisbestimmung Brechts heraus, die ja auch die Funktion hat, zu versöhnen, auf das Allgemeinmenschliche zu lenken. Brecht sah in ihr die große „Waschung", durch die all das abgewaschen werden sollte, was sich objektiv nicht abwaschen ließ: die Klassengegensätze, die gesellschaftlichen Widersprüche. Marcuses Definition des Seelischen als Kristallisationspunkt des Affirmativen wie Brechts Definition der Katharsis als Kernstück des Aristotelischen lenkten auf jene Tendenz der Verinnerlichung einer widerspruchsvollen Wirklichkeit. Der Mechanismus dieser Kategorien lief zu sehr auf das „Erkenne dich selbst" hinaus, nicht aber auf die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge. So verwarf Brecht den aristotelischen Roman, weil die Kunstform dieses Romans und der mit ihr verbundene Wirkungsmechanismus den Satz „Die Justiz ist ungerecht" zu der Aussage filtrierte: „Ein Richter ist ungerecht". 94 Marcuse schrieb: „Die affirmative Kultur hatte die gesellschaftlichen Antagonismen in einer abstrakten inneren Allgemeinheit aufgehoben : als Personen, in ihrer seelischen Freiheit und Würde, haben alle Menschen den gleichen Wert; hoch über den faktischen Gegensätzen liegt das Reich der kulturellen Solidarität." 95 Weiter arbeitete Marcuse heraus, daß in der affirmativen Kunst, wie er sie für die Kunstentwicklung seit der Renaissance formulierte, der Seelenbegriff in einen immer schärferen Gegensatz zum Geistesbegriff trete. In ihrer Eigenschaft universaler Einfühlung entwerte die Seele die Unterscheidung des Richtigen und Falschen, Guten und Schlechten, Vernünftigen und Unvernünftigen, welche durch die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegeben werden könnte. Im Zusammenhang mit der Seele charakterisierte auch Marcuse die Einfühlung als einen hemmenden Faktor bei der Aufhellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Kunst. Wenn man sich der unterschiedlichen weltanschaulichen Zielsetzungen von Brecht und Marcuse bewußt ist, wenn man weiß, wie wenig Berührungspunkte es in Kunstfragen zwischen beiden gab, mag man die Ähnlichkeit in ihrem Verhalten zum Erbe zunächst erstaunt oder verwirrt feststellen. 63
Sie ist aber im Grunde nichts anderes als die kritische Reaktion auf die Verwahrlosung des kulturellen Erbes in der spätbürgerlichen Gesellschaft. Diese große Dichtkunst empfand er so ramponiert, daß sie nicht einfach angeeignet und bloß fortgeführt werden konnte. Jeder Versuch progressiver Kräfte, die literarische Tradition in diesem Zustand einfach anzueignen und fortzuführen, wäre wenn nicht ganz unmöglich, so doch ein opportunistisches Unterfangen. Dieses von der Bourgeoisie ruinierte Erbe verlangte eine dialektische Aufhebung. Das war das Problem, um das es in diesem Streit ging. Denn nur durch die dialektische Aufhebung wurde das Erbe zur politischen Kraft im antifaschistischen Kampf. Das Ausmaß der Zerstörung mußte jedoch voll analytisch ausgeschritten werden. Jedes Hinwegsehen über den Mißbrauch, über destruktive Umfunktionierung, über die falsche ästhetische Kanalisierung politischer Inhalte war nur geeignet, eine wirklich dialektische Aufhebung des Erbes abzuschwächen. Bei solchen analytischen Versuchen zeigte es sich aber auch, wo die analytische Kraft nur zur formallogischen Negation, nicht aber zur dialektischen Negation ausreichte. Es wird daher zu untersuchen sein, wie weit die analytische Kraft eines Marcuse und wie weit die eines Brecht reichte. Die Gegenposition zu Brecht zeichnete sich schon ab, als Marcuse in seinem Aufsatz auf das Historische zu sprechen kam. Nicht nur, daß er die affirmative Kultur fast geschichtslos darstellte, ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen historischen Qualität, der verschiedenen Etappen, er konstruierte einen direkten Zusammenhang zwischen dem Historischen und dem Seelischen. „Die Seele", schrieb er, „hat eine starke Affinität zum Historismus." 96 Das blieb aber völlig unbewiesen. Hier verließ ihn seine analytische Kraft. Die Affinität zum Historischen wurde einfach mit einem aus dem Zusammenhang herausgerissenen Zitat von Herder über die Einfühlung zusammengekittet. Auch übertrug Marcuse hier Momente, die wohl für den spätbürgerlichen Historismus, nicht aber für die wirkliche historische Entwicklung zutrafen, die er gar nicht zu erfassen verstand, weil er von den konkreten Klassenkämpfen wegabstrahierte. Während Marcuse auf diese Weise das Historische negierte und sich jeder histo64
tischen Einsicht verschloß, machte Brecht in den Jahren der Emigration die Erkenntnisse des historischen Materialismus zum Hebel neuer theoretischer und methodologischer Vorstellungen. So überwand er den starren Gegensatz von Einfühlung und Distanz, indem er die Einfühlung historisch wertete und nachwies, wo sie ein Fortschritt war und neue Zusammenhänge erschloß. Bei Marcuse wurde das Seelische, Affirmative unbeeinflußbar und erschien nur in einer fernen klassenlosen Gesellschaft aufhebbar. Indem Brecht von der historischen Entwicklung ausging, sah er auch die unterschiedliche Funktion der Katharsis. Sie war in den Königsdramen Shakespeares eine andere als in den Königsdramen Strindbergs. Lessing gebrauchte sie anders als Ibsen. Brechts Angriff richtete sich in erster Linie gegen die spätbürgerliche Katharsisbestimmung, gegen die Art und Weise, wie die Entgegennahme des Kunstwerkes seitens des Publikums durch die strukturellen Mittel „organisiert" wurde. Dadurch war er in der Lage, seinen Begriff des Aristotelischen historisch genau zu bestimmen, der so — wenn auch über Mißverständnisse hinweg — zu einem wirksamen Element innerhalb der Auseinandersetzung um das Erbe, zu einer methodologischen Basis bei der Bestimmung von Tradition und Neuerertum wurde. Ganz anders bei Marcuse: Indem er das Historische eliminierte, diente sein Begriff der Affirmation, des Affirmativen zur Verteuflung einer großen Tradition, wurde er zur Parole der großen Verschwörung gegen das kulturelle Erbe. Diese Tendenz wurde auch nicht aufgehoben oder abgeschwächt, als Marcuse Jahrzehnte später erklärte, seine Thesen stellten keine Verdammung dar. 97 Noch plastischer trat der Gegensatz zwischen Marcuse und Brecht bei der Aneignung und Aufhebung des Erbes durch die Arbeiterklasse hervor. Für Marcuse war die Aufhebung der affirmativen Kultur im Rahmen der bestehenden Klassengesellschaft nicht möglich. Mit Hohn wandte er sich gegen alle „utilitaristischen" Versuche, Kunst und Kultur als notwendige „Diät und Erholung" zu betrachten. 98 Der Utilitarismus war für ihn nur die Kehrseite der affirmativen Kultur. Nicht weniger zynisch war seine Ablehnung der richtigen, wenn auch mit falschen Voraussetzungen begründeten These .5
Mittenzwei
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Kaucskys, daß die Arbeiterklasse die gesamte Kultur für sich erobern muß. „Solche Ansichten verfehlen das Entscheidende", warf Marcuse ein, „die Aufhebung der Kultur." 9 9 Für Marcuse war das „unausrottbare Klischee vom .Schlaraffenland'", von einer Gesellschaft, die keine Klassen mehr kennt, die im Glück ist — er bezieht sich hier nicht auf Marx, sondern auf Nietzsche —, immer noch besser als die Vorstellung von einer „riesigen Volksbildungsanstalt". Hier spitzte sich der Gegensatz zu Brecht vor allem zu. Während die Überlegungen Brechts von dem Grundgedanken ausgingen, wie mit dem Erbe in den Prozeß der gesellschaftlichen Veränderungen eingegriffen werden kann, verwacf Marcuse das Erbe — hierin einig mit Adorno — als Mittel des politischen Kampfes. Das „Klischee vom .Schlaraffenland'" sagte ihm immer noch mehr zu als der Gebrauch des kulturellen Erbes im Klassenkampf. In seiner Theorie fehlte, wie schon Hanns Eisler richtig feststellte, jede echte Polemik, jeder echte Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft. Die Theorie Marcuses mobilisierte nicht, sie steckte kein neues Kampffeld ab, sie überlieferte den ausgebeuteten Menschen kein brauchbares Instrumentarium, um sich zur Wehr zu setzen. Sie ist als undialektische Negation politisch eine Kapitulation. So scharfsinnig Marcuse in seiner Analyse der bloßen Erscheinung war, so ehrlich auch seine antifaschistische Haltung sein mochte, seine Theorie von der affirmativen Kultur war kein Beitrag zur Volksfrontpolitik, sie war vielmehr eine Gegenkonzeption zu der Kulturpolitik der Volksfront. Marcuse lähmte, wo Brecht zu aktivieren versuchte. So paradox es klingt, Marcuse verwarf die Kultur als affirmativ, weil es ihm — zumindest damals — nur um Kultur ging, Brecht eignete sich das Erbe an, nutzte es für den Klassenkampf, weil es ihm um eine bessere Gesellschaftsordnung ging. Hier ist nicht der Ort, auf die spätere Entwicklung von Brecht und Marcuse einzugehen. Nur soviel muß noch gesagt werden: Der Gegensatz verschärfte sich. Allein wenn man an die Kategorie der Produktivität denkt, die Brecht aus den neuen Formen menschlichen Zusammenlebens in der sozialistischen Gesellschaft entwickelte, und sie mit den Vorstellungen Marcuses über das Lustprinzip und die Revolutio66
nierung der Triebstruktur vergleicht, wird diese Verschärfung des Gegensatzes deutlich. Selbst dort, wo gleiche Begriffe und Kategorien zur Sprache kommen, wie zum Beispiel das Problem des Genusses, das Brecht früher kaum stellte, liegen ihnen nicht mehr gleiche oder ähnliche Fragestellungen zugrunde, sondern grundverschiedene Welten. Für Brecht waren die beiden Theoretiker Herbert Marcuse und Theodor Adorno nur Diskussionspartner im amerikanischen Exil, später ist es ihm nie mehr eingefallen, diese Namen auch nur zu erwähnen. Sie waren mit dem amerikanischen Exil vergessen. Der Kampf um das Erbe ging weiter, aber mit anderen Polemikpartnern. Die Auseinandersetzungen mit Lukäcs zogen sich dagegen durch sein ganzes Leben. Gegen Lukäcs' Gedankengebäude richtete sich Brechts Polemik, auch wenn dessen Name gar nicht fiel. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Ton zwischen beiden konzilianter, aber in der Sache nicht abgeschwächt. Mehr noch als für Stanislawski war für Brecht Lukäcs der große Antipode, der Schirmherr des Aristotelischen. Er hat diesem Mann mit seinem universalen Wissen und seinen Einsichten nie vergeben können, daß er auf dem Gebiet der Ästhetik nur einen Weg wußte, den der Einfühlung. Die Kontroverse mit Lukäcs erreichte Ende der dreißiger Jahre ihren Höhepunkt, aber sie begann viel früher. Hanns Eisler wies darauf hin, daß es zwischen Brecht und Lukäcs schon in den zwanziger Jahren zu persönlichen Begegnungen und heftigen Polemiken kam. „Ich war selbst dabei", sagt Eisler in seinen Gesprächen, „es gab Diskussionen zwischen Brecht und Lukäcs in der Weimarer Republik, die waren wirklich nicht von Pappe. Ich habe mich manchmal auch für Brecht geniert, weil Brecht von einer solchen Grobheit war. Er haßte diesen kleinen, intelligenten, nervösen und doch so hochbedeutenden Mann Lukäcs wirklich aus voller Seele." 100 Lukäcs' Erbekonzeption war Teil seiner politischen Vorstellung von der „revolutionären Demokratie", mit der er sich in die Volksfrontbewegung einreihte und von der aus er den Gedanken der Volksfront propagierte. Aber in ihrem eigentlichen Wesenszug wich diese Vorstellung von der politischen Strategie, wie sie die kommunistischen Parteien er5*
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arbeitet hatten, ab. Im Gegensatz zu Adorno und Marcuse suchte Lukäcs aber das literarische Erbe in den Dienst des Klassenkampfes, der Befreiung der Menschen vom Faschismus zu stellen. „Der Kampf um das Erbe", schrieb er 1936, „ist eine der wichtigsten ideologischen Aufgaben des Antifaschismus in Deutschland. Der Nationalsozialismus benutzte die staatliche Macht, die Monopolstellung der legalen Publikation dazu, die ganze politische und kulturelle Vergangenheit Deutschlands in der rücksichtslosesten Weise umzufälschen . . . Diese Literatur rechnet darauf, daß die breiten Massen die großen Gestalten der Vergangenheit nicht kennen und so der offiziellen faschistischen Propaganda unbesehen Folge leisten werden." 101 Inwieweit bei dieser im allgemeinen richtigen Orientierung auch Boden preisgegeben wurde, wird später noch zu vermerken sein. In allen seinen Darlegungen war jedoch das Bemühen zu spüren, das literarische wie auch das philosophische Erbe der faschistischen Verfälschung zu entreißen. Er kämpfte um Dichter der Vergangenheit, die — wie im Falle Friedrich Hölderlin — besonders stark der faschistischen Vergewaltigung ausgesetzt waren, um die Wiedergewinnung ihres revolutionären und progressiven Wesens. Insbesondere aber dehnte er seine Erbekonzeption auf die nicht direkt revolutionären Schriftsteller aus, die Lukacs in Anlehnung an eine Bemerkung Engels' über Balzac „Realisten wider Willen" und Brecht polemisch gern „Restaurationsschriftsteller" nannte. Ohne Zweifel war es ein Verdienst Lukacs', daß er die Erbetheorie auch auf Schriftsteller ausdehnte, die zwar humanistische Gesellschaftskritiker waren, zur gewaltsamen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft aber eine ablehnende Haltung einnahmen. Hierin folgte Lukäcs konsequent dem Weg, den Lenin in seinen Tolstoi-Analysen gezeigt hatte. Lenin ließ sich von den Lehren Tolstois, die er als „unbedingt utopisch", „reaktionär in der wahrsten und tiefsten Bedeutung" 1 0 2 kennzeichnete, nicht abhalten, den fruchtbaren Bezug der Werke Tolstois zum revolutionären Proletariat herauszuarbeiten. In diesem Sinne hat Lukäcs viel für die Weiterentwicklung einer revolutionären, umfassenden Erbekonzeption geleistet. Dieses Verdienst, das im Klassenkampf nicht nur von ästhetischer, sondern vor allem 68
von politischer Relevanz war, muß auch deshalb herausgestellt werden, weil Brecht es gar nicht sah. In seinem polemischen Eifer, in seiner Grobheit schob er Lukäcs' Punkte beiseite, die ihm ästhetisch wie politisch unbedingt zugezählt werden müssen. Diese Vorzüge nicht zu sehen hieße die Rolle Lukäcs in der Ästhetik und im Befreiungskampf der Menschheit schmälern. Gerade wenn man nicht nur die Kontroverse Brecht — Lukäcs, sondern die Auseinandersetzung im Gesamtstreit um das Erbe, mit Adorno und Marcuse, betrachtet, ist eine solche Feststellung wichtig. Die Sache wurde erst dort beeinträchtigt, wo Lukäcs seine Analysen zum System ausbaute, wo er begann, eine Erbelinie zu ziehen, die von der soeben gewonnenen Bereicherung zur Verarmung führte. Betrachtet man den Kampf um das Erbe in jenen Jahren aus der Situation Brechts, so ergab sich eine merkwürdige Konstellation. Er sah Traditionsvorstellungen aufgebaut, die ihm unannehmbar schienen, weil sie seinem dichterischen Schaffen gar keinen produktiven Zugang ermöglichten. Die Negation des Erbes — die Marcuse und Adorno propagierten — war für ihn kein kämpferischer Standpunkt; eine solche Konsequenz hatte er schon in den zwanziger Jahren verworfen. Aus seinen politischen Erfahrungen heraus konnte er aber auch nicht Lukäcs' Position teilen. Adorno und Marcuse verwarfen das Erbe, Lukäcs hypertrophierte es. Für die einen war es affirmativ und politisch nicht zu gebrauchen, für den anderen stellte es eine nicht mehr einholbare Größe dar. Da bei Lukäcs das Erbe immer mit dem Realismusproblem verbunden war, interpretierte er die großen Werke der Vergangenheit immer von seiner Realismusauffassung her. Dabei wurden die wirklichen Probleme, die sich bei der Entwicklung eines neuen, des sozialistischen Realismus herausbildeten, von der Gipfelhöhe des bürgerlichen Realismus, die Lukäcs theoretisch aufrichtete, einfach überschattet. Mit völligem Recht wandte hier Brecht ein, daß Lukäcs gar keinen Unterschied zwischen bürgerlichem und sozialistischem Realismus machte. Der von Hegel entlehnte Totalitätsbegriff, mit dem er das alte Epos analysierte, wurde für Lukäcs zum eigentlichen Kriterium. Ein Kriterium, das im wahrsten Sinne des Wortes nicht von dieser Welt war, um 69
die es Brecht ging. Wie wenig Brecht für ein solches Kriterium Verständnis aufbrachte, zeigen einige Zitate aus Lukäcs' Darlegungen über den Goetheschen Roman, die Brecht in sein Arbeitsjournal eintrug, „.breiter reichtum des lebens' und der roman erweckt ,die illusion der gestaltung des ganzen lebens in seiner vollständig entfalteten breite'." Verbittert vermerkt Brecht: „nachmachen! nur, daß sich jetzt nichts mehr entfaltet und kein leben mehr breit wird! der rat wäre höchstens, man solle es breit treten, ein solches breittreten besorgt der kapitalismus übrigens, die berühmte eiserne ferse, wir haben tatsächlich lauter umwege, abwege, hindernisse, bremsvorrichtungen, bremsschäden usw. zu beschreiben, aber mit der zunehmenden quantität ist da der Umschlag eingetreten. LUKACS, der geneigt ist, alles aus der weit ins bewußtsein zu verlegen, beobachtet ihn (indigniert) nur in der Sphäre des bewußtseins." Man muß verstehen, daß der Streit um das Erbe für Brecht keine akademische Frage war, sondern ein Arbeitsproblem. Die Traditionslinie, die Lukäcs herauskristallisiert hatte, verwarf er nicht nur aus politischen und ästhetischen Gründen, er sah in ihr einen weltfremden, vom Kampf wegführenden Anspruch erhoben, mit dem man, wie er in sein Arbeitsjournal schrieb, den fortschrittlichen Schriftstellern den Strick drehte. 103 Das Verdienst Lukacs', daß er einen großen Kreis nicht direkt revolutionärer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts in seine Erbetheorie einbezog, schwächte er aber dadurch ab, daß er — und wiederum mit dem Totalitätsbegriff — die Werke dieser Schriftsteller in einer Weise interpretierte, die den eigentlichen Kampf gar nicht mehr erkennen ließ. Alles lief auf Vermittlungen hinaus. Wichtig wurden vor allem die indirekten Zusammenhänge. Der Klassenkampf vergeistigte sich, wurde zu einer Frage der hochgestochenen intellektuellen literarischen Analyse. Brecht ärgerte es maßlos, wie sich in der Erbekonzeption Lukäcs' der Klassenkampf verflüchtigte. Verbittert trug er in sein Arbeitsjournal ein': „aber, natürlich, den (Klassenkampf — W. M.) können wir uns ja dazudenken, .schließlich' ist alles klassenkampf! dieser stumpfsinn ist gigantisch." 104 Diese Methode bekam aber bei Lukäcs noch insofern einen 70
fatalen Zug, da er die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts weit wichtiger nahm als die der bürgerlichen Aufstiegsphase. Zwar fehlt es im Gesamtwerk Lukäcs' nicht an Lob auch für die Schriftsteller der revolutionären bürgerlichen Ästhetik, wie zum Beispiel für Diderot. Aber dieses Lob blieb abstrakt. Aus ihren Werken leitete er keine methodologischen Schlußfolgerungen ab. Im Gegenteil! Lukäcs ließ es sich nicht entgehen, zum Beispiel die Überlegenheit von Balzacs Erzählkunst gegenüber Diderots Rameaus Neffe herauszuheben. Das verkehrte Bewußtsein siegte gegenüber dem illusionären Guten; das eine erkannte Zusammenhänge, das andere verlor sich in isolierten Einzelheiten. Die eigentliche Abwertung der bürgerlichen Aufstiegsphase bei abstraktem Lob geschah aber dadurch, daß Lukäcs die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts als die eigentlichen Muster hervorhob. In seinen großartigen Analysen über Shakespeare, Cervantes, Fielding, Goethe und Schiller trug Lukäcs viel Neues und Interessantes zur Erhellung dieser Dichter bei, aber nicht diese Dichter waren es, sondern vorwiegend die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, aus denen Lukäcs seine „Dichtungsmuster" und Erzählstrukturen ableitete. In der Losung „Schreibt wie Balzac, wie Tolstoi" sah Brecht eine Fehlorientierung. Aber gerade diese großen Namen wurden von Lukäcs als nacheifernswert immer wieder herausgestellt. Dagegen verwarf der Adorno-MarcuseKreis das Erbe der bürgerlichen Aufstiegsphase wie auch den kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts als affirmativ, um in der Hinterhand Baudelaire, George, Nietzsche und Kafka als die großen Leitbilder aufzustellen. War die Losung Lukäcs' unannehmbar, die andere war es noch weit mehr. Sie war für Brecht schon wegen ihres reaktionären Charakters, der völligen Abstinenz gegenüber allen Formen des Klassenkampfes nicht diskutabel. So wandte sich Brecht polemisch gegen die eine wie gegen die andere Linie, obwohl er Balzac nicht völlig ablehnte („Davon ist mir schon allerhand in Fleisch und Blut übergegangen, wenn man mir diesen Ausdruck genehmigen will."l° 5 ) und andererseits manches an Kafka schätzte. Innerhalb dieser komplizierten Konstellation baute Brecht seine Vorstellung vom Erbe aus. Die polemische Situation zwang ihn, der in seiner eigenen literarischen Praxis 71
immer sehr weitgespannten Vorstellungen nachging, die kaum auf eine dünne Schnur bloßer Verallgemeinerung zu bringen waren, zu einer Gegenkonzeption. Als polemischer Entwurf war sie gleichfalls nicht frei von Einseitigkeit, denn Brecht stützte sich vornehmlich auf die Schriftsteller der revolutionären bürgerlichen Aufstiegsphase wie Cervantes, Voltaire, Diderot, Swift, Beaumarchais, Lenz. Auch den schon früh, 1937, gefaßten Plan der Gründung einer Diderot-Gesellschaft muß man bei aller Berücksichtigung in Hinsicht auf das Sammeln neuer theaterpraktischer Erfahrungen als ein Moment betrachten, um, wenn nicht eine Traditionslinie, so doch einen Traditionsbezug zu markieren, der die Differenz zu Lukäcs deutlich machte. Die Diskussion um das Erbe, wird sie nicht als sterile akademische Debatte geführt, berührt immer die Frage: Wie muß man heute schreiben. Für Brecht wie für Lukäcs ging es um diese Frage. So war die Auseinandersetzung mit Problemen des Erbes zugleich eine Diskussion um Fragen des Realismus wie auch der Dekadenz. 106 Dabei bleibt eines der merkwürdigsten Phänomene der Literaturgeschichte, daß Lukäcs den Kampf gegen die Dekadenz im Grunde weder im Namen der revolutionären bürgerlichen Literatur noch im Namen der revolutionären sozialistischen Literatur führte, sondern mit Namen und Werken der nachrevolutionären und spätbürgerlichen Literaturentwicklung. War das schon allein ein Gesichtspunkt, der Brecht in Harnisch brachte, so kam noch ein persönliches Moment hinzu. Wenn Lukäcs in seinen Arbeiten Brechts Namen auch kaum erwähnte, so fehlte es doch nicht an Anzeichen, wo er Brecht eingruppierte. In seinem Arbeitsjournal vermerkte Brecht: „ich erfahre, dass zur dekadenz auch ich gehöre, das interessiert mich natürlich sehr." 107 Obwohl sich Brecht in seinem Arbeitsjournal selten wiederholte, solche bitteren Klagen, daß man ihn zur Dekadenz zähle, tauchen immer wieder auf. Einen Mann wie Brecht, der sein ganzes Werk in den Dienst des politischen Kampfes gestellt hatte, traf dieser Vorwurf von politischen Gesinnungsgenossen hart. Er vermochte diesen Vorwurf um so weniger zu überwinden, als die Emigration und die politische Situation keine direkte Diskussion und Auseinandersetzung zuließen. 72
Deshalb sein Zorn gegen den in Moskau sitzenden Lukäcs. Da er sich in den Kreis der Dekadenz einbezogen sah, obwohl er selbst die spätbürgerliche Dekadenz verabscheute, gestaltete sich sein Verhältnis zu diesem Begriff — wie ihn Lukäcs etabliert hatte — außerordentlich kompliziert. Er konnte sich nicht mit dem passiven, auch politisch passiven Gebrauch des Begriffs abfinden. Die bürgerliche Ideologie und Literatur waren für ihn nicht einfach etwas, was zerfiel, sondern etwas, was als parasitäre Erscheinung äußerst aggressiv auftrat, das, wie er einmal bemerkte, als SS-Verbände Europa zerstampfte. Mit dieser Seite seiner Argumentation wandte er sich sowohl gegen Lukäcs als auch gegen Adorno. 108 Lukäcs' Dekadenzbegriff schien ihm unbrauchbar, weil hier ein Fäulnisprozeß in der Art eines Naturvorgangs dargestellt war. Andererseits fehlte diesem Begriff aber auch das Prozeßhafte eines objektiven gesellschaftlichen Vorgangs. Wenn es auch nicht ausschließlich auf Lukäcs zurückzuführen ist, daß dieser Begriff in den späteren Jahren zu einer Art Schimpfwort herabsank, so war es doch seine Schubkastenmanier, seine finessenreiche, aber letztlich doch schematische Einteilung in Gestalter und Beschreiber, in Gesunde und Kranke, in Realisten und Dekadente, die diesen Begriff so herabgewirtschaftet hat. Das Problem der Dekadenz war für Brecht nicht von formaler Art; er sah es vor allem in der Verwüstung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch den Imperialismus. Diese Verwüstungen blieben für Brecht auch nicht immer ohne Folgen für den, der gegen die Verwüstungen kämpfte. Dekadenz sah Brecht auch in seinen eigenen Frühwerken, obwohl er schon damals keinen apologetischen Standpunkt einnahm. Gegen Lukäcs gewandt schrieb er, sich an seine eigene Produktion haltend: „die HAUSPOSTILLE, meine erste lyrische Publikation, trägt zweifellos den Stempel der dekadenz der bürgerlichen klasse. die fülle der empfindungen enthält die Verwirrung der empfindungen. die differenziertheit des ausdrucks enthält zerfallselemente. der reichtum der motive enthält das moment der Ziellosigkeit, die kraftvolle spräche ist salopp, usw. usw. diesem Werk gegenüber bedeuten die späteren SVENDBORGER GEDICHTE ebensogut einen abstieg wie einen aufstieg, vom bürgerlichen Standpunkt aus 73
ist eine erstaunliche Verarmung eingetreten, ist nicht alles auch einseitiger, weniger ,organisch', kühler, .bewußter' (in dem verpönten sinn)? meine mitkämpfer werden das, hoffe ich, nicht einfach gelten lassen, sie werden die HAUSPOSTILLE dekadenter nennen als die SVENDBORGER GEDICHTE, aber mir scheint es wichtig, dass sie erkennen, was der aufstieg, soweit er zu konstatieren ist, gekostet hat. der kapitalismus hat uns zum kämpf gezwungen, er hat unsere Umgebung verwüstet, ich gehe nicht mehr ,im walde so für mich hin', sondern unter polizisten. da ist doch fülle, die fülle der kämpfe, da ist difTerenziertheit, die der probleme. es ist keine frage: die literatur blüht nicht, aber man sollte sich hüten, in alten bildern zu denken, die Vorstellung von der blüte ist einseitig, den wert, die bestimmung der kraft und der grosse darf man nicht an die idyllische Vorstellung des organischen blühens fesseln, das wäre absurd, abstieg und aufstieg sind nicht durch daten im kalender getrennt, diese linien gehen durch personen und werke durch." 109 Wenn Brecht, hervorgerufen durch Lukäcs' Dekadenz-Beschuldigung gegen ihn, die Auswirkungen der Dekadenz auch zu weit in die kämpferische, realistische Produktion hineintrug, so ist doch richtig, daß oftmals auch der Kampf einseitig macht, Fülle und Lebendigkeit durch den Gewinn an Deutlichkeit und Parteilichkeit eingeschränkt werden. Wie auf politischem, so werden auch auf literarischem Gebiet Eroberungen eingeleitet, indem hin und wieder Terrain aufgegeben wird. Auf Schönheiten muß oftmals verzichtet werden, um den Weg zu neuen Schönheiten frei zu machen. So zeigt jeder literarische Vorstoß zugleich auch, „was er gekostet hat". In der Kontroverse mit Lukäcs erwiesen sich einige Begriffe, wie sie Lukäcs verwandte, als unhaltbar. Begriffe wie „breiter Reichtum des Lebens" wurden von Lukäcs unhistorisch, geradezu idealistisch gebraucht. Sowenig ein Standpunkt, der innerhalb der kapitalistischen Entfremdung verhaftet blieb (Adorno, Marcuse), als richtig angesehen werden konnte, sowenig aber konnte auch eine Auffassung geteilt werden, in der das Moment des Kampfes, der Gegensätze, des Klassenkampfes ausgespart blieb oder zumindest stark reduziert wurde. Deshalb richtete sich Brechts Kritik in ihrer welt74
anschaulichen Konsequenz auch immer auf die gedankliche Ausklammerung des Klassenkampfes, „die marxschen kategorien", schreibt Brecht gegen Lukacs, „werden da von einem kantianer ad absurdum geführt, indem sie nicht widerlegt, sondern angewendet werden. Da ist der K L A S S E N K A M P F ein ausgehöhlter, verhurter, ausgeplünderter begriff, ausgebrannt bis zur Unkenntlichkeit. . . bei den lukacs' ist der klassenkampf nur noch ein dämon, ein leeres prinzip, das die Vorstellungen der leute verwirrt, nichts mehr, was stattfindet." 110 Lukacs nahm für seine Erbeauffassung wiederholt Lenin in Anspruch. Zu Unrecht! Sieht man einmal davon ab, daß es Lenin in seinen Tolstoi-Analysen in erster Linie darauf ankam, wie Tolstois Werk in die proletarische Bewußtseinsentwicklung und allgemeine Revolutionierung einbezogen werden kann, und weniger darauf, welche Rolle die Werke Tolstois für die Weiterentwicklung einer sozialistischen Literatur spielen, so leitete Lenin aus Tolstois Werk keine irgendwie geartete Vorbildrolle ab. Schon gar nicht geschah das bei ihm in Hinsicht auf die Frage, wie ein besseres Leben erkämpft werden kann. Lenin zeigte nicht einen Tolstoi — wie bei Lukacs —, dessen Realismus über seine antirevolutionäre Seite siegt, sondern wie die verschiedenen Seiten und Linien, u m hier die Ausdrucksweise Brechts zu gebrauchen, durch die Person und das Werk hindurchgehen. Lenin bemerkte über das Werk Tolstois: „Aber sein Erbe enthält etw'as, was nicht dahingegangen ist, was der Zukunft gehört. Dieses Erbe übernimmt das russische Proletariat, an diesem Erbe arbeitet es." 1 1 1 Auf den Hinweis „an diesem Erbe arbeitet es" kommt alles an. Denn damit brachte Lenin zum Ausdruck, daß eine revolutionäre Aneignung des Erbes darin besteht, nicht nur Verpflichtungen und eine Vorbildrolle aus der Vergangenheit abzuleiten, sondern mit dem Erbe wirklich zu arbeiten. Der in einem Werk abgebildete Stand der Kämpfe sollte in Vergleich zum gegenwärtigen Stand der Klassenkämpfe gerückt werden, damit auf diese Weise der Leser Genuß und Erkenntnis über den Verlauf des menschlichen Emanzipationskampfes, des Kampfes um die Befreiung des Menschen gewinne. Lenin appellierte an den Wirklichkeitssinn der Leser, die ihren ästhetischen Genuß aus dem Vergleich des Werkes mit der realen 75
Entwicklung in der Gegenwart ziehen. Im Gegensatz dazu leitete Lukäcs vorwiegend formale Kriterien aus dem Erbe ab. Gegen Lukäcs' Erbevorstellung wandte Brecht ein: „aus dem ERBE werden oft genug lediglich Verpflichtungen abgeleitet und zwar nicht nur qualitativer art, sondern solche zu ganz bestimmten qualitäten, d. h., die ästhetischen kriterien werden zu fixen grossen ernannt. . 1 1 2 In dieser ästhetischen Formalisierung des Erbes sah Brecht eine Gefahr. Er sah sie nicht nur für die Schriftsteller, die auf nur e i n ästhetisches Programm eingeschränkt wurden, sondern auch darin, daß mit einer solchen formalisierten Erbeauffassung das Proletariat, wie Lenin sagte, gar nicht „arbeiten" kann.
Der Einfluß des historischen Materialismus auf Brechts Urbekon^eption Brechts Haltung zur literarischen Tradition, soll sie nicht oberflächlich nur als weltliterarischer Motivbezug aufgefaßt werden, muß im Gesamtzusammenhang der Kultur gesehen werden. Das literarische Erbe ist nur ein Teil dessen, was wir als kulturelles Erbe bezeichnen. Wenn Brecht auf dem Pariser Schriftstellertreffen vor einer allgemeinen Beschwörung im Namen der Kultur warnte, weil sie nirgends und niemand helfe, am wenigsten der Kultur selber, so müssen diese Überlegungen als Teil seiner Auffassung vom kulturellen Erbe mit in die Betrachtung einbezogen werden. Ging er bei seiner Forderung, nicht in erster Linie über Kultur, sondern über die Eigentumsverhältnisse zu reden, doch davon aus, daß der Inhalt und die Entwicklungsrichtung der Kultur von den Produktionsverhältnissen bestimmt werden. Viele progressive Intellektuelle der dreißiger Jahre sahen in der Kultur vorwiegend etwas „rein Geistiges", sie erkannten nicht, daß sich der Charakter der Kultur in letzter Instanz aus den historisch-konkreten Formen der materiellen Produktion der jeweiligen Gesellschaftsformation ableitet. Diesen Zusammenhang hatte die speziell in Deutschland betriebene bürgerliche Kulturtheorie mit der These vom Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation übertüncht. Dazu bemerkte Brecht: „Nichts 76
ist frecher als die schlaue Trennung der Begriffe Kultur und Zivilisation, mit der schon die Halbwüchsigen in den Volksschulen bekannt gemacht werden." 113 Immer wieder mußte Brecht bei seinen bürgerlichen Freunden feststellen, daß gerade sie, die sich am meisten mit dem Phänomen der Kultur beschäftigten, dieser „frechen" Täuschung erlegen waren. Eine solche Täuschung verstellte den Blick auf die revolutionäre Aneignung des Erbes. Mit ihr wurde versucht, die allzu offensichtlichen Unstimmigkeiten und Widersprüche im Gesamtgefüge der Kultur von dem geistigen Bereich der Kultur fernzuhalten und abzulenken. Auch sollte der Anspruch des „rein Geistigen" die materiellen Interessen der bürgerlichen Kultur besser verbergen helfen. Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge belehrte Brecht, daß jede isolierte Betrachtung einer großen Kunstleistung der Vergangenheit ohne Berücksichtigung des Gesamtzustands der Kultur der herrschenden Klasse wirkungslos bleiben mußte. Mit der Einsicht, daß dieses und jenes Kunstwerk so zu verstehen ist, wie es von der herrschenden Kultur „verbraucht" wurde, war zwar eine kritische Haltung möglich, aber dennoch blieb der Zugang zu einer gesellschaftlich produktiven Haltung zu schmal. Gerade weil sich Brecht bewußt war, wie die herrschende Klasse über ihre Politik den sozialen Inhalt der Kultur beeinflußte und präparierte, sah er auch, wie bestimmte progressive und enthüllende Inhalte durch den Gesamtmechanismus der bürgerlichen Kultur integriert werden konnten. Auf der Suche nach produktiven Möglichkeiten, die den Eingriff in die bürgerliche Kultursteuerung denkbar machten, verdeutlichte er sich die Kultur als etwas sehr Widerspruchsvolles. In ihr, so legte er dar, existieren Elemente, die ihre Rolle ausgespielt und zu Elementen der Unkultur geworden seien, und es gebe andere Elemente, die weiter bestünden, aber auf Grund des bürgerlichen Gesamtcharakters der Kultur in Bedrängnis geraten seien und die nunmehr verteidigt werden müßten. „Aber das an ihr, was immer noch an der Entwicklung der Produktivkräfte mit beteiligt ist, wird verteidigt werden müssen, und zwar gerade von uns und wohl bald nur mehr von uns." 114 77
Für Brecht stellte sich die Kultur schon deshalb widerspruchsvoll dar, weil sich in ihr der Konflikt widerspiegelte, in den die Produktivkräfte zu der Produktionsweise geraten waren. Dieser Widerspruch lähmte nicht nur die menschliche Produktivität, er deformierte auch die Gesamtheit der Kultur. Ein solcher Zustand hatte zur Folge, daß die einzelnen Kunstwerke der Vergangenheit nicht mehr die ihnen eigene Wirkung auszuüben vermochten. Die Krise der bürgerlichen Kultur, so analysierte Brecht, sei offensichtlich, „wenn die alten Beschwörungen niemand mehr hört, weil jedermann durch die Schreckensrufe der Vergewaltigten und Hungernden taub geworden ist." 115 Auf diese Weise wurde Brecht klar, daß es nicht unbedingt an den alten Kunstwerken zu liegen brauchte, wenn von ihnen nicht mehr die aus den Entstehungsbedingungen erwarteten Wirkungen ausgingen. Nicht die Kunstwerke waren verbraucht, wohl aber die Existenzweise, über die sich der Stoffwechsel zwischen Kunstwerk und Kunstaufnehmenden vollzog. Da aber das literarische Erbe seine Wirkung über das Gesamtsystem der Kultur ausübt, war es nicht allein damit getan, das Verhältnis vom einzelnen Kunstwerk zum einzelnen Kunstaufnehmenden „in Ordnung" zu bringen. Welche theoretischen und praktischen Schlußfolgerungen zog nun Brecht aus dieser Erkenntnis ? Zunächst war der „schauderbare Zustand" der Kultur für ihn kein Grund, in die ziemlich abstrakte Losung „Rettet die Kultur" einzustimmen. Andererseits hielt er es nicht für marxistisch, aus diesem Zustand den Schluß zu ziehen, die Kunst sei für den Klassenkampf nicht brauchbar und müsse als affirmativ verworfen werden. Weder der Rettungsschrei noch die Verwerfungsgeste waren für ihn eine Alternative. Brecht schlug eine Lösung vor, die heute zunächst mehr schockiert als überzeugt. Das Proletariat müsse sich, so meinte er, an der Zerstörung der schon zerstörten Kultur beteiligen; denn wie das Proletariat die Produktionsmittel nur in einem durch Krieg und Krise heruntergewirtschafteten Zustand bekomme, so bekomme es auch die Kultur nur im zerstörten und befleckten Zustand. Diese These von Brecht klingt reichlich proudhonistisch. Man muß sie jedoch in Beziehung zu seiner Gesamtauffassung bringen, 78
nach der es in der herrschenden Kultur Elemente gibt, die zu Elementen der Unkultur geworden sind, weil sie das Verfallende stützen, das Destruktive beschönigen, das Chaotische mit dem Schein einer höheren Ordnung umgeben. Diese Elemente der herrschenden Kultur sollen, um im Sprachgebrauch Brechts zu bleiben, zerstört werden. Jene Elemente aber, „die in Bedrängnis geraten sind", die Ausdruck der eingeschränkten Produktivität menschlicher Wesenskräfte sind, müssen verteidigt beziehungsweise in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen freigesetzt werden. Eine solche Sicht der Dinge war für Brecht der weltanschauliche Ausgangspunkt für seine Stellung zur Kultur und zum Kulturerbe. Die Aneignung des literarischen Erbes konnte deshalb für Brecht kein passiver Vorgang sein. Das Proletariat übernahm die Kultur nicht unbeschädigt aus den Händen der Bourgeoisie. Auch konnte niemand erwarten, wie Brecht schreibt: „daß es sich bei diesem Erben um ein friedliches fleißiges Hereinschaffen herrenlos im Regen stehengelassener Güter handeln könnte." 1 1 6 Die Aneignung des Erbes vollzog sich im Kampf, der weit über die politische Machtübernahme durch das Proletariat fortdauert, der in verschiedenen Formen bis in die entwickelte sozialistische Gesellschaft hineinwirkt. Eine materialistisch-dialektische Erbeaneignung wird deshalb nicht nur die historische Situation des aufzunehmenden Kunstwerkes in Betracht ziehen. Sie wird die historische Position, den Ideengehalt eines alten Kunstwerkes vor allem in Beziehung zu der gesellschaftlichen Situation setzen, von der aus den Anknüpfung erfolgt. Im dialektischen Spannungsverhältnis zwischen historischer Position des aufzuhebenden Kunstwerkes und den Kristallisationspunkten der gegenwärtigen Gesellschaftsanalyse vollzieht sich der eigentliche Aneignungsvorgang, der auf diese Weise zu einem Vorgang der Auseinandersetzung, des Kampfes wird. Denn zwischen den beiden Polen liegt das, was das literarische Erbe bisher war. Die Aneignung des Erbes durch die Arbeiterklasse kann nur dadurch erfolgen, daß die bisherigen Interpretationsmuster des literarischen Erbes überwunden, beziehungsweise dialektisch aufgehoben werden. Aber gerade das ist ein komplizierter Vorgang, der nicht ohne Kampf vor sich geht und der nicht ohne die kul79
turelle Anstrengung der neuen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gelingt. Für den Zeitraum der Entstehung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft, in der die Ablösung der alten, mit der Arbeiterklasse verbundenen Dichtergeneration durch eine neue, von der sozialistischen Gesellschaft erzogene Dichtergeneration erfolgt, entwickelte Brecht eine merkwürdige und komplizierte Theorie. Eigentlich ist es nur die Grundskizze einer Theorie, die er in sein Arbeitsjournal eintrug. Später ist er auf sie nicht mehr zurückgekommen. Aus ihr läßt sich Brechts Verhältnis von Tradition und Neuerertum rekonstruieren. Auch gibt diese Theorie, die hier die FUNKTION DER VORKÄMPFER genannt werden soll, Aufschluß darüber, worin Brecht die Schwierigkeit und Kompliziertheit der neu entstehenden Literatur in ihrem Verhältnis zum Erbe sah. Brecht eröffnete seine Überlegungen mit der Erklärung, man zögere oft, ihn — wie auch andere mit dem Proletariat verbundene Schriftsteller — als bürgerliche Schriftsteller zu bezeichnen. Völlig zu Unrecht, meinte Brecht, denn wenn Dichter wie er die Sache des Proletariats verteidigten, so beweise das nur, daß das Proletariat in dieser Zeitspanne eben bürgerliche Dichter habe. Eine solche Feststellung mag überraschen. In dem hier zu erörternden Zusammenhang ist sie sekundär, zumal Brecht weiter ausführte, diese bürgerlichen Schriftsteller stünden in einer Reihe mit jenen bürgerlichen Politikern, die die Sache des Proletariats zu der ihrigen gemacht haben. Die Frage nach der sozialen Herkunft wird in dem Maße unwichtig, wie sich ein Schriftsteller zum Gesamtverständnis des Proletariats hinaufgearbeitet hat. Wesentlicher und aufschlußreicher ist jedoch, daß Brecht den aus der bürgerlichen Klasse kommenden, mit dem Proletariat verbundenen Schriftstellern eine ihrer historischen Situation entsprechende spezifische Funktion zuwies. Diesen Schriftstellern, die er als bürgerliche Vorkämpfer des Proletariats bezeichnete, obliege vor allem, die literarische Tradition mit den großen Neuerungen der sozialistischen Literatur zu verbinden. Über diese „Vorkämpfer" vollziehe sich die Dialektik von Tradition und Neuerertum. Ihre Funktion sei gerade dadurch 80
gegeben, daß sie gewisse Phasen der bürgerlichen Kultur mit vollzogen, ihr aber zugleich kritisch, ja antagonistisch gegenübergestanden hätten. Dagegen falle der „neu anfangende", also jener Schriftsteller, der aus dem noch nicht zur Macht gekommenen Proletariat hervorgegangen ist, dadurch, daß er die Tradition noch nicht beherrsche, leicht unter die Herrschaft der Tradition. 117 Nachdem aber das Proletariat gesiegt habe, werde die Funktion der „Vorkämpfer" eine rein formalistische. Ihre Schwäche bestehe darin, daß sie, durch die Entwicklung überholt, nur mehr die Form entwickeln würden, während der Vorstoß zu neuen Gegenständen nicht mehr von ihnen, sondern von den neu auf den Plan tretenden Dichtern der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ausgehe. Aus den Händen der „Vorkämpfer" aber empfange die neue sozialistische Dichtergeneration jenes Arsenal, das sie zur Bewältigung ihrer Aufgaben benötige. Hierbei stellte Brecht drei Elemente heraus: Erstens: Den Dichtern der sozialistischen Gesellschaft würden die „höchstentwickelten ausdrucksmittel" ausgehändigt. Diesen Gesichtspunkt betrachtete Brecht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erbe. Wie an anderer Stelle schon dargelegt, sah Brecht in der technischen Kultur der Kunst ein sehr wesentliches Erbeproblem, da ja gerade die Kunstmittel, die gesamte Ausdrucksbasis der Kunst, eine lange Zeit zu ihrer Entwicklung brauchen. Obwohl Form für ihn nichts anderes als organisierter Inhalt war, unvorstellbar ohne inhaltlichen Ausgangspunkt, wußte er um den komplizierten Ablösungsprozeß der Form wie der Mittel vom Inhalt. Daher waren für ihn auch Werke ein Gegenstand der Erbeaneignung, die von ihrem Inhalt, von ihrem Ideengehalt nicht als humanistisches Erbe in Betracht kamen, die aber auf ihre Weise zur Herausbildung und Kultivierung bestimmter literarischer Techniken und Ausdrucksmittel beigetragen haben. Zweitens: Durch die Arbeiten der „Vorkämpfer" wären bereits „elemente der neuen kultur" entwickelt worden. Diese neuen Elemente, so betonte Brecht, treten vor allem im Kampf am schärfsten hervor. Folgt man seinen Ausführungen genau, so bilden sie sich vor allem in der Zeit heraus, in der, wie der Dichter sagte, die Träume den Taten vorausfliegen. Dabei sei 6
Mittenzwei
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es nicht zuletzt die den Träumen innewohnende Vagheit, die das „neue feld" unbegrenzt erscheinen lasse. Brecht ging hier von der Kraft des revolutionären Ideals aus, das einer um die Macht kämpfenden Klasse hilft, Berge zu versetzen. Eine Literatur im Dienste einer solchen Sache kennt keine Grenzen, sie steckt weitläufige Wegstrecken und Ziele ab, sie ist oftmals nicht so vom Zwang der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung mit ihrer Orientierung auf die nächstliegenden Etappen abhängig. Bei der Skizzierung der neuen Formen des menschlichen Zusammenlebens tauchen noch nicht die kleinen, zählebigen Schwierigkeiten der alltäglichen Umsetzung auf. Die „Schwierigkeiten der Ebenen" behindern noch nicht den Ausblick auf die Höhen. Dieses unbegrenzt erscheinende Feld spornte an, lenkte auf weite Perspektiven und große Dimensionen. Mit den „dementen der neuen kultur" wurden die Maßstäbe für eine Literatur überliefert, die ihren Gegenstand in der von der kapitalistischen Fessel befreiten menschlichen Produktivität sehen, die direkter Ausdruck menschlicher Wesenskräfte geworden sind. Drittens: Einen wesentlichen Beitrag der „Vorkämpfer" erblickte Brecht in der Ausarbeitung der „technik des neuen Anfangs". Eine solche Technik könne am besten von denen entwickelt werden, die sich in der Tradition auskennen, weil sie von ihnen noch in der alten Form mit vollzogen wurde, die aber zugleich jenes distanzierte, kritische Verhältnis zu ihr haben, das jede Einschüchterung durch Tradition ausschließt. Um die „technik des neuen Anfangs" zu entwickeln, bedurfte es nach Brecht einer Zeitspanne, die den Zwang zur Tradition nicht kennt und die dennoch nicht ohne Tradition auskommen wollte, in der der Kampf um und g e g e n die Tradition hin und her tobt. Es durfte nicht der Wind der Tradition sein, der zu neuen Ufern trieb, wer aber neue Ufer ansteuerte, brauchte auch den Rückhalt der Tradition, um sie zu erreichen. Die Theorie Brechts ist in ihrem Hauptgesichtspunkt sicher zu mechanisch, weil das Problem der Beherrschung oder der Herrschaft der Tradition nicht teilbar ist zwischen den mit dem Proletariat verbundenen „Vorkämpfern" und den Dichtern des Proletariats. Die Vermittlung zwischen Erbe und Neuerertum wurde sowohl von den einen wie den anderen 82
wahrgenommen. Die Inbesitznahme des gesamten Erbes, der humanistischen Tradition, durch die proletarischen Schriftsteller wie durch das Proletariat als Klasse wurde hier von Brecht unterschätzt. Sieht man aber von dieser Unterschätzung und mechanischen Aufspaltung ab, so griff Brecht mit seinen Überlegungen einige Probleme auf, die Einblick in die überaus komplizierte Dialektik zwischen Tradition und Neuerertum ermöglichten. Eine wichtige Entwicklung in Brechts Verhältnis zur Tradition vollzpg sich in den Jahren des Exils. Die Betrachtung der Kunst führte ihn zur Kunst der Betrachtung, die lehrt, einen „Gegenstand richtig, daß heißt tief, umfassend und mit Genuß zu betrachten."118 Auf diese Weise erschloß sich ihm ein größeres Verständnis für die historische Dimension eines Kunstwerks. In den zwanziger Jahren äußerte sich zum Beispiel Brecht über Schillers Wallenstein noch dahingehend, daß dieses Stück neben seiner Brauchbarkeit für Museumszwecke auch einen gar nicht geringen „Materialwert" besitze. Solche Bemerkungen sind in den Jahren der Emigration schon von der Diktion her nicht mehr zu finden. Die schnoddrige, wenn auch nie gleichgültige Art gegenüber dem Erbe ist dem Bemühen um ein tieferes Erfassen des historischen Anliegens gewichen. Im Messingkauf wird von dem Dramaturgen die Frage gestellt: Was würde ein Marxist mit dem Wallenstein machen? Darauf folgt die Antwort des Philosophen: „Er würde den Fall als historischen Fall darstellen, mit Ursache aus der Epoche und Folgen in der Epoche . . . Die moralische Frage würde er ebenfalls als eine historische Frage behandeln. Er würde den Nutzen eines bestimmten moralischen Systems innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sein Funktionieren beobachten und durch seine Anordnung der Vorfälle klarlegen." 119 Diese Ausführungen zeigen die stärkere Wendung Brechts zu den historischen Voraussetzungen eines Kunstwerkes. Ein Gesichtspunkt, den Brecht zwar auch in den zwanziger Jahren nicht aus dem Auge verlor, der ihn aber damals nicht näher an die Gegenwart heranführte. Im historischen Feld als Entstehungsbedingung für ein Kunstwerk sah Brecht damals nicht die Möglichkeit, neue Impulse zu gewinnen. Diese erhoffte er sich weit mehr dadurch, daß er die 6*
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Stücke kräftig gegen den historischen Strich bürstete. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Methode des epischen Theaters wurde aber der Vorgang des Historisierens zu einem wichtigen Moment seiner Dramaturgie. Die Anregungen dazu kamen ohne Zweifel durch eine stärkere Beschäftigung mit dem historischen Materialismus. Alte Probleme erschienen plötzlich in einem neuen Licht, die Erkenntnisse des vergangenen Jahrzehnts, ausgelöst durch gesellschaftliche Ereignisse, wurden von ihm anhand neuer gesellschaftlicher Erfahrungen überprüft. Die neuen Einsichten, die auf diese Weise gewonnen wurden, erstreckten sich auf die Gesamtheit seines Wirkens, sie fanden sowohl in der Dramaturgie seiner Stücke, seiner Theatertheorie und -methode wie in seinem Verhältnis zum welthistorischen Erbe ihren Ausdruck. Im ersten Kapitel wurde bereits dargelegt, daß Brecht seine Einwände gegen die großen klassischen Werke der Vergangenheit mit der nicht mehr haltbaren „Mittelpunktstellung" des Individuums begründete. Der Krieg und die großen Klassenschlachten hatten Brecht belehrt, daß eine Dramatik, die nicht nur ihre Stoffe, sondern auch ihre gesamte ästhetische Basis vom Individuum her organisierte, ein Anachronismus war. Nicht die Einheit, sondern die „Zuteilbarkeit" des Individuums war für ihn die Entdeckung. Deshalb verkündete er, daß das neue, „dialektische" Drama ohne das Individuum auskomme, ohne den „großen Einzelnen", der für ihn kein Verhältnis ergab. 1 2 0 Der Anstoß zu diesen Überlegungen kam von der Wirklichkeit selbst, und die Wirklichkeit war es auch, die dieses Problem wieder neu stellte. Es muß zu Beginn oder auch noch vor der Emigration gewesen sein, als sich Brecht wiederum mit dem Problem „Individuum und Masse" beschäftigte. Auch jetzt interessierte ihn wieder die „Teilbarkeit" des Individuums. Er fand, daß bisher immer der falsche Weg beschritten worden sei, um den Massenbegriff zu bestimmen. Immer sei vom Individuum aus das Massenhafte gesucht worden, statt das Individuum vom Massenhaften her zu sehen und aufzubauen. Innerhalb dieser Erörterung bestimmte er die Rolle des Individuums jedoch weit differenzierter. Ohne das „große Individuum" zu rehabilitieren, ließ er den Schlachtruf gegen das Individuum fallen
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und analysierte die Eigenart des Individuums als kleinsten Teil der Masse. „Das I n d i v i d u u m erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse", schreibt Brecht. „Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen. . ." 121 Der Begriff des Individuums als „kampfdurchtobte Vielheit" war ein weit produktiverer Ausgangspunkt für die Literatur als die starre AntiIndividuum-Position. Über ihn ließ sich auch die Stellung des Individuums, des „großen Einzelnen", in den Werken der Vergangenheit besser erschließen. Er ermöglichte eine größere historische Einsicht. Man muß bei dieser Problematik immer bedenken, daß sich in der Literatur, insbesondere im Drama, die Auffassung vom Machtfaktor der Persönlichkeit viel hartnäckiger gehalten hat als in der Geschichtsschreibung und selbst in der Politik. Nicht zuletzt lag der Grund dafür in der formalistischen, idealistischen bürgerlichen Traditionsauffassung. So konservierte die Literatur die undialektische Ansicht von der beherrschenden Rolle der Persönlichkeit noch zu einer Zeit, als sie in der Geschichtsschreibung schon stark erschüttert war. Dazu kam, daß das Problem „Individuum und Masse" in der Literatur von einer anderen Seite her diskutiert wurde als in der Geschichte. In der Geschichte zeigte sich die „große Persönlichkeit" — wie Plechanow treffend charakterisierte — vor allem als der „Beginner". Gefragt wurde, ob die Geschichte auch ohne die „große Persönlichkeit" so verlaufen wäre. In der Literatur stellte sich dieselbe Frage anders. Nicht um das Problem der Auswechselbarkeit des Individuums ging es in erster Linie, sondern um die „Auslöserfunktion" der großen Persönlichkeiten. War doch der gesamte Wirkungsmechanismus der Kunst darauf ausgerichtet, wie der Held mit der Zeit, mit der Geschichte fertig wurde. Die ästhetische Gesetzmäßigkeit organisierte tatsächlich alles Interesse nicht auf die historischen Prozesse, sondern auf das „große Individuum". Plechanow, der gegen die falsche Vorstellung polemisierte, was in der Geschichte als „groß" angesehen wird, faßte das Problem zusammen, indem er sehr schön formulierte: „Nicht vor den,Beginnern' allein, nicht 85
allein vor den ,großen' Männern liegt ein breites Feld der Tätigkeit offen. Dieses Feld steht allen offen, die Augen haben, um zu sehen, Ohren, um zu hören, und ein Herz, um ihre Nächsten zu lieben. Der Begriff groß ist ein relativer Begriff. Im sittlichen Sinne ist jeder groß, der, um mit den Evangelisten zu reden, ,sein Leben lässet für seine Freunde'." 1 2 2 In der Kunst aber gestaltet sich eine solche Einsicht dennoch schwierig. Der Kunstgenuß realisiert sich vorwiegend über die erzählte Geschichte, über die Fabel — die Brecht als Realist nicht bereit war preiszugeben —, die Fabel aber wiederum verlangte nach dem Individuum, nach Begebenheit, nach der außergewöhnlichen Situation. Während Brecht auf der einen Seite durch seinen Wirklichkeitssinn und die politischen Ereignisse auf das Prozeßhafte, Massenhafte hingelenkt wurde, drängte ihn andererseits seine Auffassung vom realistischen Abbild, von der Fabel, wieder zum Individuum in der großen Entscheidungssituation hin. In den Jahren der Emigration suchte er diesen Kreislauf dadurch zu durchbrechen, daß er die starre Gegenüberstellung von „großem Individuum" und „Prozeßhaftem" aufgab. War Brecht nach dem ersten Weltkrieg fasziniert von den objektiven Faktoren der geschichtlichen Entwicklung, so erkannte er in der Emigration durch das Studium der neuen politischen Wirklichkeit und der Werke Lenins, daß allzu objektivistische Sätze bestimmte Handlungen verhindern und notwendige Unterschiede verwischen. Anhand von Lenins Objektivismus- und Materialismusauffassung machte er sich klar, daß ein Marxist solchen Sätzen wie „Große Männer machen die Geschichte" nicht als Objektivist entgegentreten darf. Die gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit wurde von ihm jetzt nach den Handlungsmöglichkeiten des Individuums abgesucht. „Wenn du die Notwendigkeit einer Reihe von Tatsachen feststellst, so vergiß nicht", vermerkte er, „daß du selbst auch eine dieser Tatsachen bist, und bestimme die Notwendigkeit möglichst genau, sie braucht nämlich, um eine Notwendigkeit zu sein, ganz bestimmtes Handeln." 123 Diese Erörterungen über den Handlungsspielraum des Individuums innerhalb des historischen Prozesses führten Brecht
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zu dem Problem der „inneren Kämpfe" des Individuums, das ihn jetzt von der Individuum-Masse-Beziehung her interessierte. Unter „inneren Kämpfen" verstand Brecht allerdings nicht psychologische Verirrungen und Ängste des Individuums der spätbürgerlichen Gesellschaft, sondern jenen komplizierten Prozeß, in dem sich das Individuum zu den großen gesellschaftlichen Aktionen seiner Klasse hindurchringt. Das Neue, so beschrieb Brecht die revolutionäre Situation, erweise sich zwar als das Notwendige, und doch werfe sich der Mensch „in das Neue nur im Notfall". „ . . . jedermann, der eine revolutionäre Erhebung studiert hat, weiß, welche inneren Schwierigkeiten eine Masse hat, sich zu erheben . . . In diesem Prozeß haben sie eine Menge aufzugeben und viel zu riskieren. Beinahe als das wenigste wird dabei merkwürdigerweise das Leben selber angesehen. Es wird häufig leichter riskiert als etwa eine ärmliche Wohnung." 1 2 4 Damit ist ein neuer Zugang zu den Handlungsmöglichkeiten des Individuums hergestellt, und zwar in der Hinsicht, wie Plechanow große Vorgänge definierte. Diese aus neuen Zusammenhängen gewonnene Größe verlor ihre Aussagekraft nicht im Prüffeld gesellschaftlicher Kausalität, sondern stützte sich auf sie. Wenn die „große Persönlichkeit" im marxistischen Sinne jene ist, die die Fähigkeit besitzt, den großen gesellschaftlichen Bedürfnissen ihrer Zeit zu dienen, so ist eine solche Persönlichkeit auch der „einfache Mensch", der sich auf die Höhe der revolutionären Vorgänge seiner Klasse erhebt. Die inneren Widerstände, die er dabei zu überwinden hat, sind jene „welthistorischen Konflikte", jene „Auslöser-Situation", die ihn zum „großen Individuum" im Sinne der Geschichte wie der Literatur machen. Wandte Brecht in den zwanziger Jahren gegen Shakespeare ein, daß bei ihm die Helden die großen gesellschaftlichen Entscheidungen in „ihrer Brust austragen", so verstand er jetzt, daß auch die großen, durch die Massen herbeigeführten welthistorischen Entscheidungen in der „Brust" des einzelnen Individuums ausgekämpft werden. Vertrat er anfangs die Auffassung, ein Kollektiv sei erst dann lebensfähig und trete gesellschaftlich in Erscheinung, wenn es auf das Einzelleben des Individuums nicht mehr ankomme, 125 so erkannte er jetzt, daß im einzelnen 87
Individuum die gleichen Prozesse vor sich gehen wie in der Masse. Im amerikanischen Exil fanden diese Überlegungen unter anderem Aspekt ihre Fortsetzung. Brecht verband seine Studien über den historischen Materialismus und die marxistische Erkenntnistheorie mit einigen Problemen des neuen Weltbildes der Naturwissenschaftler. Er las Max Plancks Determinismus oder Indeterminismus. Aus diesem Buch zitierte er den Satz: „,es ist unmöglich, das innere eines körpers zu sondieren, wenn die sonde größer ist als der ganze körper.'", und stellte fest: „auch der historische materialismus weist diese .unscharfe' in bezug auf das individuum auf." 126 Für ihn bestand das Problem darin, wie anhand von Geschichten über gesellschaftliche Vorgänge, die sich unter Individuen abspielen, der gesellschaftliche Kausalkomplex sichtbar gemacht werden kann. Er sah den Kunstgenuß für den heutigen Betrachter nicht mehr gewährleistet, wenn die künstlerischen Abbildungen gesellschaftlich nicht stimmen, wenn sie keine Gesetzmäßigkeit erkennen lassen. Dabei verwarf er jede Vorstellung, daß etwas völlig ausdeterminiert sein könne. Auf diese Weise aber blieb auch jene „Unscharfe" in bezug auf das Individuum. Brecht erklärte sie so: „beim menschlichen handeln ist es so: wenn sich eine bestimmte qualität von gründen aufgehäuft und durchgesetzt hat, entsteht eine neue qualität, und ein entschluß erfolgt oder eine handlung. durch die qualitätsänderung können die gründe dann nicht mehr rekonstruiert werden."! 27 Auch hier ist wieder deutlich zu spüren, daß es Brecht darauf ankam, für eine Literatur, die gesellschaftliche Zusammenhänge aufzudecken versuchte, das Feld des menschlichen Handelns möglichst breit zu halten. Die Literatur konnte zwar nicht davon ausgenommen werden, mit Gründen zu operieren, aber ein völliges „ausdeterminieren" der Vorgänge schien ihm ganz hoffnungslos und unmöglich. Eine Stütze in seinen Überlegungen sah er in der Wahrscheinlichkeits-Kausalität der Physiker, die er mit den gewonnenen Erkenntnissen über den historischen Materialismus zu verbinden suchte. Die Beschäftigung mit dem historischen Materialismus war für Brechts Schaffen nicht weniger folgenreich als das Studium 88
des Kapitals von Karl Marx in den zwanziger Jahren. Die Spuren dieser Beschäftigung erstrecken sich auf alle Gebiete seines Denkens. Insbesondere lernte er in dieser Zeit das Werk Lenins und die Probleme der praktischen Revolutionsbewältigung kennen. Das Lenin-Studium dieser Jahre, obwohl es aus seinen theoretischen Schriften genau ablesbar ist, wurde von der Brecht-Forschung bisher viel zu wenig beachtet. Allenthalben wird auf den großen Einschnitt seines Lebens durch das Studium des Kapitals aufmerksam gemacht. Die Bekanntschaft mit dem Werke Lenins löste bei Brecht eine ähnliche Wendung aus, vor allem aber trug sie mit dazu bei, die Distanz zwischen Theorie und Praxis zu überwinden, die Brecht in den zwanziger Jahren noch anzumerken war, als er auf die Seite des Proletariats überwechselte. „Brecht", so erklärte Hanns Eisler, „hat mehr von Lenin gelernt, als man allgemein weiß . . . Sein Lieblingsaufsatz war ,Über das Besteigen hoher Berge' von Lenin, den er für eines der großen Meisterwerke der internationalen Literatur hielt. Er las den Lenin sehr gut. Und was ihm bei Lenin besonders gefiel, war: Prinzipienfestigkeit — nicht ohne Schlauheit. Die Leninsche List — die List, die Vernunft dort einzuschmuggeln, wo sie sonst verbannt ist, oder sie aus dem Sumpf zu holen, wo sie gerade einsinkt; das konnte geschehen mit Grobheit, aber auch mit Schlauheit, mit Prinzipienfestigkeit und mit einer wendigen Taktik —, ja, das hat den Brecht ungeheuer begeistert. . . Ich würde folgendes vorschlagen: Brecht hat die Methode des dialektischen Materialismus von Marx und von Lenin gelernt und sie in seiner Weise in seiner Poesie und in seinen Dramen und in seinen Prosaschriften angewandt. Dann haben wir alles drin: den dialektischen Materialismus, den Marx und vor allem auch den Lenin, der nicht weggelassen werden kann . . . Also muß er beschrieben werden als Schüler dieser großen Meister." 128 Eisler wies vor allem darauf hin, daß Brecht Lenins Werke in einer Zeit studierte, als der Revisionismus alles versuchte, um Lenin von Marx wegzurücken. Brechts Suche nach einer Lebenshilfe im Werk Lenins war zugleich eine wesentliche weltanschauliche Entscheidung, die heute von der bürgerlichen Brecht-Forschung gern durch allerlei Legenden verschleiert wird. 89
Die Hinwendung zum historischen Materialismus, zur Beschäftigung mit solchen Problemen wie Individuum und Masse, vollzog sich nicht zuletzt durch die politische Entwicklung im faschistischen Deutschland. Unter den progressiven bürgerlichen Intellektuellen tauchte immer wieder die Frage auf, wie kommt es, daß ein Mann wie Hitler ein ganzes Volk in die Irre führen kann. Sie wurden, wie Brecht in seinem Arbeitsjournal vermerkte, nicht mit dem „Phänomen Hitler" fertig. So kam es zum Beispiel im Hause Feuchtwanger immer wieder zu Diskussionen über die Frage: Ist Hitler ein Hampelmann? Die progressiven bürgerlichen Intellektuellen wollten Hitler keineswegs die Rolle des „großen Mannes" zubilligen und charakterisierten ihn deshalb als einen unbedeutenden Mimen, der die Geschäfte der Reichswehr besorgte. Brecht fand diese Haltung weder vom propagandistischen noch vom historischen Standpunkt aus sehr sinnvoll. So machte er darauf aufmerksam, daß Feuchtwanger und andere nicht sahen, daß das Kleinbürgertum keine selbständige Klasse ist. Das Kleinbürgertum sei immer nur Objekt der Politik, und zwar gegenwärtig der großbürgerlichen Politik.129 Feuchtwangers Haltung gegenüber dem „Phänomen Hitler" schien Brecht schon deshalb sinnlos, weil sie viel zuwenig gesellschaftlich zu aktivieren vermochte. Auch hier ging es ihm wieder um das Problem, daß das Auffinden von gesellschaftlichen Ursachen und Gründen in der Literatur wie im gesellschaftlichen Leben nicht dazu führen dürfe, Vorgänge einfach verständlich, anstatt veränderbar zu finden. Die literarische Gestaltung des Individuums durfte durch die Aufhellung objektiver, vor allem ökonomischer Faktoren nicht Lähmung hervorrufen, sondern mußte gerade die Möglichkeiten des Individuums als Teil der Masse zeigen. Dem Publikum mußte durch Kunstwerke klarwerden, daß das Individuum, wie Brecht sagte, unter Tatsachen selbst eine Tatsache ist und unter bestimmten Umständen sogar eine Tatsache von beträchtlicher Dimension sein kann. So erkannte er während seiner Arbeit am Cä-iw-Roman nicht ohne Bestürzung, daß er den Leser keinen Augenblick glauben lassen darf, daß es so kommen mußte, wie es kam. 130 Diese neue Sicht auf die Persönlichkeit, die von der Ein90
sieht in die K r a f t des Individuums als eines gesellschaftlichen Faktors ausging, hat vielleicht in der zweiten Fassung des Galilei ihre stärkste Ausprägung erfahren. Brecht ging hier so weit, dem „großen Individuum" Galilei eine Rolle zuzubilligen, die ihn in den Stand versetzte, weitreichende politische Veränderungen in E u r o p a auslösen zu können. V o n der marxistischen Brecht-Forschung ist gerade das bei Brecht mit Erstaunen festgestellt worden. Schon 1959 bemerkte Peter Hacks zum Galilei-Problem: „Ich unterschätze gar nicht die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Aber wir müssen doch einsehen, daß Fälle, wo ein einzelner Mann U m wälzungen der Gesellschaft verzögert oder beschleunigt, wenn überhaupt, ganz selten vorkommen . . . Und wenn Brecht, um besonders gut die Herzen der Atomkundigen zu treffen, den Galilei zu einer solchen Auslöser-Persönlichkeit hochmogelt, dann verkündet er keine geringere Absurdität, als daß das moralische Bewußtsein des Herrn Galilei das Sein der Welt bestimmt habe. E r , Brecht! Und ich kann mir nicht helfen: diese rein wissenschaftliche Unstimmigkeit reicht aus, um mir die Freude an einem so glänzend gemachten Stück ganz zu verleiden." 1 3 1 Den hier sehr prononciert vorgetragenen Einwand von Peter Hacks hat später Ernst Schumacher in seinem Galilei-Buch wissenschaftlich weiter ausgebaut. 1 3 2 Hier ist nicht der Ort, sich damit näher auseinanderzusetzen. D i e gesamte Problematik wird jedoch nur verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit der Wendung sieht, die Brecht in jenen Jahren in der Erkenntnis des Verhältnisses von Individuum und Masse vollzog. Ausmaß und Folgen des veränderten Gesichtspunktes werden besonders deutlich, wenn man den Galilei mit dem Frühwerk Mann ist Mann vergleicht. Die Sicht auf das Individuum und damit auf die Gesellschaft ist in beiden Werken grundverschieden. D a s eine Werk ist die Darstellung der versäumten Möglichkeit des großen gesellschaftlichen Eingriffs; das andere demonstriert den Abbau des Individuums. Nicht die gesellschaftliche Eingriffsmöglichkeit wird gezeigt, sondern: „Sie werden den / Boden, auf dem Sie stehen / Wie Schnee unter Ihren Füßen vergehen sehen." 1 3 3 Ohne diese Probleme, die hier erörtert werden mußten, 91
wird die neue Stufe in Brechts Erbekonzeption nicht in ihrer ganzen Dimension sichtbar. In dem Maße nämlich, wie sich bei ihm eine dialektische Auffassung über die Beziehungen von Individuum und Masse herausbildete, wie sich diese Erkenntnis in seinem dichterischen Schaffen niederschlug, zeigten sich auch Veränderungen in seiner Haltung zum Erbe, dachte er differenzierter, gerechter und historischer auch über den Wallenstein. Wenn Schiller auf Grund der Tatsache, daß sich die bürgerliche Klasse in der deutschen Gesellschaft nicht kräftig genug zu etablieren vermochte, zu der Ansicht kam, daß Veränderungen nur von der Veränderung einzelner Individuen her möglich sind, so war das für den durch die Schule des historischen Materialismus gegangenen und durch bittere politische Erfahrungen gereiften Brecht kein Grund mehr, ein solches Stück lediglich auf den Materialwert zu reduzieren. Der Brecht, der den Handlungsraum des Individuums zwischen objektiver Gesetzmäßigkeit und gesellschaftlicher Eingriffsmöglichkeit ausgeschritten hatte, sah auch Schillers Werke anders: nämlich als Erbe im Leninschen Sinne, mit dem das revolutionäre Proletariat „arbeitet".
Wir müssen auf Vorbilder bedacht sein oder Welche Traditionslinie bestimmt das Brechtsche Werk?
Das subjektive Moment im Verhältnis %um Erbe Das weltliterarische Erbe stellt sich jeder Generation als etwas Objektives. Es ist die sich im Laufe der Geschichte vollziehende Objektivierung von Subjektivem. So wie der Mensch in ganz bestimmte Produktionsverhältnisse hineingeboren wird, ist auch das kulturelle Erbe etwas, was er vorfindet, was sich vor ihm herausgebildet hat. Es gehört zu den objektiven Faktoren im gesellschaftlichen Leben. Das Individuum aber macht von dieser objektiven Gegebenheit auf sehr unterschiedliche und höchst subjektive Weise Gebrauch. Überhaupt ist das subjektive Moment in der Erbeaneignung und Eibetheorie von hoher Bedeutung; allein schon durch die Tatsache, daß selbst der universell gebildete Mensch das kulturelle Erbe niemals in seiner Ganzheit und Vielfalt wahrnimmt, sondern immer nur einen Ausschnitt als Repräsentanten dieser Vielfalt. Allerdings spielen hierbei natürlich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Bildungsgang eines Menschen bestimmen, eine außerordentlich wichtige Rolle. Bei Künstlern und Schriftstellern kommt dem subjektiven Faktor jedoch eine noch größere Bedeutung zu. Denn für sie ist das künstlerische Erbe nicht nur die Summe aller bisherigen künstlerischen Erfahrung, die aufgespeicherte Weisheit und Phantasie des Volkes, für sie ist es zugleich auch der Spielraum, in dem der Künstler und Schriftsteller sein eigenes Schaffen entwickelt. Das geschieht aber nicht in der Weise, daß sich der Künstler einfach als Fortsetzer a l l e s bisher Erreichten fühlt. Er wird sich seiner künstlerischen Aufgabe 93
bewußt, indem er sich für ganz bestimmte Traditionen entscheidet und sich anderen gegenüber ablehnend verhält. Auch hier wiederum vollzieht sich der Prozeß nicht so einfach, daß sich der fortschrittliche Künstler auf alle progressiven Traditionen beruft, auch innerhalb des progressiven Erbes trifft der Schriftsteller und Künstler seine Auswahl, sucht er Verbündete für seine künstlerischen Vorstellungen und wendet sich in deren Namen gegen bisher für unumstößlich gehaltene Größen der Vergangenheit. Das subjektive Moment führt hier nicht selten bis zur Rivalität. Auf dieses Problem der Rivalität soll hier etwas näher eingegangen werden. Brecht hat einmal die Stellung Londons in der englischen Literaturgeschichte mit einer Börse verglichen. Ein Riesenhandel- mit Einfällen und Reputationen finde da statt. Die Dichter rivalisierten miteinander. Wahre Kriege und Schlachten fänden untereinander statt. Die Neuerungen würden als Korrekturen der bisherigen traditionellen Werte vorgetragen, aber die große, lange Tradition erleichtere den Fortschritt. 134 Die Rivalität, das zeigt die Beschreibung Brechts anschaulich, wird eben nicht nur unter Zeitgenossen ausgetragen, sondern auch innerhalb der Tradition. Der Künstler, je mächtiger und selbstbewußter er auftritt, mißt sich ebenso mit den Namen der Vergangenheit. So sind auch Brechts Urteile über das weltliterarische Erbe, wie schon beim jungen Brecht gezeigt wurde, nicht in erster Linie literaturgeschichtliche Wertungen, sondern Artikulierungsversuche über die eigene ästhetische Position. Oftmals sagen solche Urteile mehr über das ästhetische Credo der urteilenden Künstlerpersönlichkeit aus als über den Gegenstand selbst. Spannend und aufschlußreich werden diese Stellungnahmen vor allem dann, wenn sie immer wieder mit großer Hartnäckigkeit und Leidenschaftlichkeit vorgetragen werden. Man betrachte nur Brechts Haltung zu Goethe und Thomas Mann. Welche leidenschaftliche Kontroverse, mit ihren fast pathologisch anmutenden Übersteigerungen und Bösartigkeiten, ihren Kühnheiten und brillanten Formulierungen! Die marxistische Literaturwissenschaft hat sich solchen Erscheinungen gegenüber bisher sehr reserviert verhalten, wohl aus Scheu, anstatt objektive gesellschaftliche Prozesse zu verfolgen, in 94
eine subjektivistische, sensationsgierige Darstellungsweise zu verfallen. Aber die Darstellung subjektiver Momente braucht nicht zu einer subjektivistischen Darstellung zu führen. Diese subjektiven Momente sind oftmals der Schlüssel für die komplizierte und schwer durchschaubare Dialektik von objektiv gesellschaftlichem Prozeß und künstlerische Subjektivität. Diese Momente nicht zu untersuchen, sie nicht ernst zu nehmen, in ihnen Schwächen großer Persönlichkeiten zu sehen, die besser verschwiegen würden, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Denn man vergibt sich damit das Untersuchungsfeld für wichtige wissenschaftliche Aufschlüsse. Bevor hier einige subjektive Momente in den Traditionsbeziehungen Brechts erörtert werden, muß noch einmal seine Gesamthaltung gegenüber der Tradition zur Sprache kommen. Ein Gemeinplatz über diesen Dichter lautet: Brecht sei ein Neuerer gewesen; er habe mehr das Neue als die Tradition gesucht. Im Klischee dieser Vorstellung wird der „Avantgardist" dem „Traditionalisten" gegenübergestellt. Auch wenn das Neuerertum Brechts eher betont als bestritten werden soll, so ist doch jede abstrakte Gegenüberstellung von Tradition und Neuerertum im Falle Brechts ganz und gar falsch. Brecht nahm selbst dazu Stellung, als er sich gegen den Einwand des Formalismus verteidigte: „da ich auf meinem gebiete ein neuerer bin, schreien immer wieder einige, ich sei ein formalist. sie finden die alten formen nicht in meinen arbeiten, schlimmer, sie finden neue und da meinen sie, es sind die formen, die mich interessieren, aber ich habe herausgefunden, dass ich das formale eher gering schätze, ich habe die alten formen der lyrik, der erzählung, der dramatik und des theaters zu verschiedenen Zeiten studiert und sie nur aufgegeben, wenn sie dem, was ich sagen wollte, im weg standen, beinahe auf jedem feld habe ich konventionell begonnen, in der lyrik habe ich mit liedern zur gitarre angefangen und die verse zugleich mit der musik entworfen, die ballade war eine uralte form und zu meiner zeit schrieb niemand mehr balladen, der etwas auf sich hielt, später bin ich in der lyrik zu anderen formen übergegangen, weniger alten, aber ich bin mitunter zurückgekehrt und habe sogar kopien alter meister gemacht. . . " 1 3 5 95
Brechts Position als Neuerer wie sein Verhältnis zur Tradition bedingen einander. Seine Bemühungen um ein neues Theater, um eine neue Art von Literatur, neu in der Machart wie in der Wirkung, waren ein Affront gegen die gesamte bisherige Literaturentwicklung. Sie stellten eine Kampfansage gegen die gesamte marktfähige, lesegewohnte Literatur dar. Schon aus diesem Grunde fühlte er sich auf Verbündete in der weiter zurückliegenden Tradition angewiesen. Aber auch seinen Gegner kennzeichnete er, und das ist wiederum typisch, mit einem großen Namen aus der Tradition. Aristotelisch nannte Brecht jene Richtung, gegen die er sich wandte. Gegen sie kämpfte er aber nicht als Neuerer, den Kampf führte er auch im Namen der Tradition. Die Frontstellung gegen die aristotelische Poesie ist der entscheidende Punkt für dasBrechtsche Traditions Verständnis. Denn durch sie erhält die Haltung Brechts zu den einzelnen Dichterpersönlichkeiten der Vergangenheit wie der Gegenwart erst ihren Sinn und ihre tiefere Begründung. Über das, was Brecht unter dem Aristotelischen verstand, ist schon viel geschrieben worden. 136 * Er faßte darunter in erster Linie eine Poesie, die ihre Wirkung aus dem eigentümlichen Akt der Einfühlung des Zuschauers und Lesers in den Vorgang des Dargestellten zog. Eine solche Wirkung setzte aber auch eine ganz bestimmte Gestaltungsweise voraus. Werke dieser Art suchten Stimmung und Atmosphäre hervorzurufen. Indem einem Charakter, einem Vorgang möglichst viele Schattierungen, Besonderheiten und Direktheit abgewonnen wurden, entstand für den Leser die Möglichkeit, sich „einzuleben", „einzufühlen". Der Figurenaufbau der aristotelischen Poesie kulminierte im Vorführen des Evolutionären, des Organischen. Als eine der wesentlichen Kategorien galt die Unmittelbarkeit. Gezeigt wurde, wie der Mensch auf etwas reagiert, wie viele Voraussetzungen notwendig sind, um seine Haltungen und Wendungen glaubwürdig abzubilden. Es war die große Kunst des „In-denMenschen-Hineinschauens". Absonderliche Charaktereigenschaften wurden in ihrem Entstehungsprozeß vorgeführt, so daß sie auch Menschen verständlich und begreiflich fanden, die im persönlichen Leben solche Eigenheiten tief verab96
scheut hätten. Oberstes Ziel dieser Ästhetik war, alles, was erzählt werden sollte, in Vorgänge von „Fleisch und Blut" zu verwandeln. Selbst die großen geistigen Prozesse, von denen berichtet wurde, erhielten etwas Sensualistisches. Die Kunst der Milieudarstellung erreichte in der aristotelischen Poesie ihren höchsten Standard. Gegen eine solche Gestaltungsweise als einzigen oder hauptsächlichen Weg in der Kunst und Ästhetik polemisierte Brecht und versuchte seine Auffassung entgegenzusetzen. Dabei kam es auch zu polemischen Schärfen und undifferenzierten Konfrontationen. Hier ist nicht der Ort, das Für und Wider von Brechts antiaristotelischer Schreibweise zu erörtern. Nur soviel sei gesagt, daß sein Kampf gegen das Aristotelische im Laufe der Entwicklung seiner eigenen Position eine differenziertere Wertung erfuhr. Von der polemischen Kontroverse ging Brecht in den späteren Jahren mehr zur wissenschaftlichen Fundierung und Begründung seiner Meinung über. Dennoch ist er den politischen Wirkungsmöglichkeiten der aristotelischen Schreibweise, insbesondere in der Umfunktionierung durch sozialistische Schriftsteller, nie ganz gerecht geworden. Seinen erbitterten Kampf gegen die aristotelische Poesie muß man aus seiner isolierten Situation verstehen. Die gesamte Lesegewohnheit wie überhaupt die Art und Weise des Kunstgenießens waren vom aristotelischen Kunstprinzip her geprägt. Dagegen anzukämpfen erschien damals einfach als eine Verrücktheit. Die meisten Kunstinteressierten sahen deshalb auch in Brechts Kunsttheorien nicht mehr als eine Marotte, eine ästhetische Absonderlichkeit, mit der er sich interessant machte. Es war eine vereinsamte Position, die Brecht mit wilder Energie zu einer neuen Basis des Kunstgenießens zu machen suchte. Obwohl sich Brecht sicherlich dagegen verwehrt hätte, das Wort „vereinsamt" auf sich und seine Kunsttheorie anzuwenden, darf man sich nicht über seine isolierte Situation hinwegtäuschen. Der ästhetische Machtfaktor, zu dem Brecht später wurde, läßt oftmals die Ohnmacht von damals vergessen. Der Ruf nach Verbündeten, nach Ahnherren aus der Vergangenheit, war in einer solchen Lage nur zu verständlich. 7
Mittenzwei
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Bevor jedoch die Galerie seiner Vorbilder erläutert wird, muß die ästhetische Linie markiert werden, gegen die er sich wandte. Denn für das Verständnis seiner Ästhetik ist die Kenntnis seiner Gegner fast ebenso wichtig wie die seiner Vorbilder. Bei der Sichtung der Traditionen konnte Brecht feststellen, daß das, was er das Aristotelische nannte, hauptsächlich durch die Literatur des 19. Jahrhunderts geformt worden war. Insbesondere mit dem großen Roman des 19. Jahrhunderts hatten sich bestimmte Lesegewohnheiten durchgesetzt, die inzwischen zu Marktfaktoren geworden waren. E s ist ein noch viel zuwenig untersuchter Vorgang, in welchem Maße die großen Erzähler des 19. Jahrhunderts das gesamte System des Kunstkonsums beeinflußten. Der Erfolg und die Massenwirksamkeit der großen Romane von Stendhal, Balzac, den Goncourts, Zola, Strindberg, Tolstoi bewirkten ein ganz bestimmtes Verfahren, über das das Publikum Kunst entgegennahm. Da die Hauptgesichtspunkte dieses ästhetischen Verfahrens, wenn auch in stark primitivierter und deformierter Form, von der Unterhaltungsliteratur übernommen wurden, gelangte dieses Verfahren zu einer Verbreitung, die die Annahme vorzutäuschen vermochte, als gäbe es kein anderes. Die anderen, älteren Verfahren, insbesondere die des 18. Jahrhunderts, gerieten in Vergessenheit oder galten als „veraltet", als „überholt". Die spätbürgerliche Kunsttheorie drückte diesen älteren Verfahren außerdem noch den Stempel des nicht vollwertig Künstlerischen auf. So galt zum Beispiel die Kunst der Aufklärung als etwas, was bestenfalls im „Vorfeld" der Kunst steckengeblieben war. Im 19. Jahrhundert sah Brecht wenig Möglichkeiten, Verbündete zu finden. War es doch das eigentliche Traditionsfeld jener ästhetischen Richtung, gegen die er seine antiaristotelische Position aufbaute. Seine Haltung diesem Jahrhundert gegenüber verhärtete sich noch, als Georg Lukäcs gerade das 19. Jahrhundert als das ergiebige Traditionsfeld für den fortschrittlichen Schriftsteller auswies. Brecht stellte die Frage, warum die „Restaurationsschriftsteller" den Vorzug vor der revolutionären Ästhetik der aufsteigenden bürgerlichen Klasse bekämen? Die Frage war durchaus berechtigt, wenn auch die 98
Bezeichnung „Restaurationsschriftsteller" nicht wenige Dichter des 19. Jahrhunderts in ein falsches Licht rückte. Aber allein schon diese Bezeichnung war Ausdruck seiner polemischen Haltung, seiner Opposition gegenüber dieser Tradition. Lukäcs berief sich auf die kritischen Realisten des 19. Jahrhunderts und polemisierte gegen die modernistischen Schriftsteller, die er des Traditionsbruchs beschuldigte. So berechtigt dieser Vorwurf war, traf er dennoch nicht den Kern der Sache. Geht man nicht von formalen Kriterien aus, so stellt die modernistische Literaturentwicklung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht in erster Linie einen Bruch mit den Traditionen des 19. Jahrhunderts dar. Vielmehr war sie das Ergebnis der immer weiter getriebenen Subjektivierung aller inhaltlichen und ästhetischen Faktoren. Obwohl die Schriftsteller dieser Richtung die Antipoden des 19. Jahrhunderts gar nicht waren, gaben sie sich selbst gern dafür aus. Überzeugend war der Traditionsbruch nur durch den Vergleich mit den Idealen und ästhetischen Positionen der bürgerlichen Aufstiegsphase herauszuarbeiten. Aber gerade diesem Vergleich ging Lukäcs mehr aus dem Wege, als daß er ihn suchte. Brecht erkannte, wie kurzatmig die Tradition als stimulierendes Moment für den bürgerlichen Schriftsteller geworden war. Sie reichte als Vorbildfaktor meist nur bis in die zweite Schriftstellergeneration hinein. Die beherrschende Rolle der Wirkungsästhetik des 19. Jahrhunderts hatte aus der Sicht Brechts auch den Zugang zu den weiter zurückliegenden Traditionen verbaut. Tradition wurde nur über die letzten Glieder der Kette tatsächlich wahrgenommen. Der unmittelbar dialektische Fluß zur Gesamtheit des Traditionsfelds zeigte sich gestört. Wie Lenin in seinen Tolstoi-Analysen, so ging auch Brecht davon aus, daß sich in den Werken der großen realistischen und naturalistischen Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Einflußnahme der revolutionären Arbeiterbewegung widerspiegelte. Aber in den Werken Tschechows, Tolstois, Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns u. a. werde, so erklärte Brecht, der point of view klassenmäßig nicht geändert, und so verwandelten sich unter der Feder dieser Schriftsteller 99
Stoffe, die in der Frühzeit des Bürgertums Komödien gewesen waren, zu Tragödien. In diesem Urteil berührte er sich sogar mit Georg Lukäcs, der am Beispiel von Ibsen demonstrierte, daß dessen Haltung als Bürger verhindere, seine Stoffe in große Komödien zu verwandeln. Hier sei auch der Grund zu suchen, warum es Ibsen letzten Endes versagt bleibe, zu den ganz Großen der europäischen Literatur zu gehören. Die teilweise undifferenzierte Sicht, in die Brecht die verschiedenartigsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts rückte, ist darauf zurückzuführen, daß Brecht keinen Unterschied zwischen kritischem Realismus und Naturalismus machte. In der dichterischen Methode Tolstois und Zolas sah er keinen wesentlichen Unterschied. J a selbst einen in seiner Schreibweise so eigenwilligen Schriftsteller wie Tschechow, den die gegenwärtige spätbürgerliche Ästhetik gern zu einem Vorläufer des absurden Theaters machen möchte, subsumierte Brecht unter die Naturalisten. Dabei bemühte er sich immer wieder, die Unterschiede zwischen Realismus und Naturalismus theoretisch zu fixieren. Aber er ging nicht auf die historischen Bedingungen des kritischen Realismus im 19. Jahrhundert ein, sondern hatte als Realismus vor allem die ästhetischen Hauptzüge jener Methode vor Augen, um die er sich selbst bemühte. Nach dem zweiten Weltkrieg suchte er die Wesensmerkmale von Naturalismus und Realismus in folgender Gegenüberstellung zu erfassen: naturalismus
realismus
die gesellschaft betrachtet
die gesellschaft geschichtlich
als ein stück natur
betrachtet
ausschnitte aus der gesell-
die .kleinen weiten' sind front-
schaft (familie, schule,
abschnitte der großen kämpfe,
militärische einheit usw.) sind .kleine weiten' für sich. das milieu
das system
reaktion der individuen
gesellschaftliche kausalität
atmosphäre
soziale Spannung
mitgefühl
kritik
die Vorgänge sollen .für
es wird ihnen zur verständlich-
100
keit verholfen
sich selbst sprechen' das detail als ,zug'
gesetz (?)
sozialer Fortschritt
gelehrt
empfohlen kopien
Stilisierungen
der Zuschauer als mitmensch
der mitmensch als zuschauet
das publikum als einheit an-
die einheit wird gesprengt
gesprochen indiskretion
diskretion mensch und weit, vom Stand-
der vielen 1 3 7
punkt des einzelnen
Für ihn blieb der Naturalismus im wesentlichen ein „Realismusersatz", dem dann einige Bedeutung zukomme, wenn er zum Realismus hinführe, wenn er auf ihn vorbereite. Sehr eigenartig war sein Verhältnis zu den zeitgenössischen Schriftstellern, die die Tradition des 19. Jahrhunderts fortführten. Eigenartig deshalb, weil hier seine Polemik einerseits eine geradezu übersteigerte Form annahm, sich andererseits unter diesen Schriftstellern aber auch enge Freunde Brechts befanden, denen er sich bis zuletzt eng verbunden fühlte. Der große Gegner und Polemikgegenstand war Thomas Mann. Über diese literarische Feindschaft wird noch gesondert zu sprechen sein. Freundschaftlich verbunden fühlte er sich dagegen Lion Feuchtwanger, mit dem er sogar Coproduktionen einging, obwohl ihm dessen Schreibweise von den methodologischen Grundlagen her nicht näher stand als die Thomas Manns. Über Feuchtwangers persönliche Haltung, dessen ungewöhnlich reiche literarische und philosophische Bildung fand Brecht immer wieder Worte der Anerkennung und Bewunderung. Einige politische Inkonsequenzen dieses fortschrittlichen Schriftstellers kritisierte Brecht freundschaftlich. Über die vielen Romane Feuchtwangers aber verlor er kein Wort. Es ist nicht einmal sicher, daß er sie gelesen hat. Gerade das Sensualistische, das Moment der Einfühlung in die Hauptgestalt, die wohlnuancierte Atmosphäre, in die Feuchtwanger seine Charaktere stellte, waren für Brecht Elemente einer überholten Schreibweise, wenig brauchbar für einen Schriftsteller des neuen Zeitalters. In Feuchtwanger sah 101
Brecht den fortschrittlichen Schriftsteller, dessen ungeteilte Sympathie dem kämpfenden Proletariat galt, der aber, um es mit den Worten Walter Benjamins zu formulieren, seine Solidarität mit dem Proletariat nicht auf die „nüchterne Art", nämlich in seiner Stellung als Autor im Produktionsprozeß zu begründen vermochte. 138 Wenn Brecht Feuchtwangers Schreibweise und Romantheorie nicht billigen konnte, so verstand andererseits Feuchtwanger nichts von der Methode des epischen Theaters. Die antiaristotelische Theorie Brechts blieb dem grundgescheiten, vielseitig gebildeten Feuchtwanger ein Buch mit sieben Siegeln. 139 Die freundschaftliche Nachsicht, die Feuchtwanger von seiten Brechts genoß, wurde freilich den anderen Berühmtheiten des aristotelischen Romans nicht zuteil. In seiner Haltung war er so unnachsichtig, daß er selbst ganz offensichtliche politische Wirkungen dieser Autoren im antifaschistischen Kampf übersah. Am meisten Duldung fand bei ihm noch Heinrich Mann. Seine Wertschätzung bezog sich dabei nicht nur auf die kämpferische politische Publizistik dieses Dichters. Weit verständnisloser stand er schon dem Werk Arnold Zweigs gegenüber, das doch den „Krieg bis auf die Knochen zu durchleuchten" suchte. Nichts als Spott und Verachtung aber hatte er für solche Erfolgsautoren wie Franz Werfel, den er den „Heiligen Frunz von Hollywood" oder einfach den „Gschwerfel" nannte, oder für Ernest Hemingway. 1 4 0 Die Fehde zwischen Brecht und Thomas Mann gehört zu den interessanten und aufschlußreichen Episoden der deutschen Literaturgeschichte. Eigentlich ist sie mehr als eine Episode, obwohl so subjektive Momente wie Rivalität eine Rolle spielen. Allerdings war die Triebfeder der Auseinandersetzung nicht nur der Neid, den der junge Brecht gegenüber dem zu Weltruhm gelangten älteren Thomas Mann empfand. So einfach ist das subjektive Moment nicht zu verstehen. Wenn Brecht auch gegen die „künstlichen, eitlen und unnützlichen" Bücher Thomas Manns wetterte, 141 so nahm er doch gerade an Thomas Mann wahr, wie berühmte Literatur und berühmte Schriftsteller zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor werden können. Wenn das schon mit einer solchen, nach Ansicht Brechts, künstlichen lebensuntüchtigen Literatur 102
zu erlangen war, welchen Einfluß vermochte dann erst eine wirklich gesellschaftlich engagierte Literatur zu erreichen. Der junge Brecht wünschte sich einfach die gesellschaftliche Ausstrahlungskraft, die Thomas Mann damals bereits besaß, für seine eigene literarische Position. Der substantiellere Grund der Fehde bestand natürlich in der unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Ansicht über das, was Literatur sein müsse und zu bewirken habe. In dem künstlerischen Bemühen um die Gestaltung charakterlich differenzierter und vielschichtiger Menschen, in der Ziselierarbeit, die auf die merkwürdigsten menschlichen Eigenschaften und seelischen Nuancen verwendet wurde, sah Brecht etwas völlig Unnützes. In bewußt provokatorischem Ton erklärte er, daß sich gegenüber Thomas Mann selbst ein Spielhagen wie ein Revolutionär ausnehme. Sein Angriff gipfelte schließlich darin, daß er „geradezu Geldopfer bringen würde", um das Herauskommen von Büchern dieses Mannes zu verhindern, den er für den „erfolgreichsten Typ" bourgeoiser Buchhersteller hielt. 142 Brecht führte diese Fehde in den zwanziger Jahren vorwiegend literarisch, obwohl gerade damals der politische Standpunkt Thomas Manns aus der Sicht der linken Intelligenz zu kritisieren gewesen wäre. Zu einer politischen Auseinandersetzung wurde die Fehde erst in den Jahren der Emigration, als beide insbesondere über die amerikanische Nachkriegs-Deutschlandpolitik in Streit gerieten. Darüber wurde hier an anderer Stelle schon geschrieben. Es war aber nicht nur Brecht, von dem diese Schriftstellerfehde ausging. Auch der Kreis um Thomas Mann ließ sich keine Gelegenheit entgehen, die Dichtung Brechts tiefer zu hängen. Als ein typisches Beispiel dafür ist die Kritik zu nennen, die Hermann Kesten 1942 in der deutschsprachigen Zeitung Aufbau über die Aufführung von Furcht und Elend des Dritten Reiches in den USA veröffentlichte. Kesten stellte Brecht, der zu jener Zeit schon Mutter Courage, Galilei, den Guten Menschen von Se^uan, Vuntila geschrieben hatte, als den „Verfasser eines ,Dreigroschenromans'", als den „Autor populärer Songs und Balladen im Stil von Wedekind, Villon, Kipling", als den „beliebten Textdichter einiger Operetten" vor. 143 Furcht und Elend des Dritten Reiches bezeichnete Kesten als „lustige Szenen aus dem deutschen Volksleben" 144. Brecht, 103
der sonst nicht gerade ein Sammler von Zeugnissen über sein dichterisches Werk war, hob sich diese Kritik sorgfältig auf. Er klebte sie in sein Arbeitsjournal, denn er fand, das sei genau die Meinung, die der ganze Thomas-Mann-Kreis über seine Arbeiten habe. Dazu bemerkte er: „interessant, wie versucht wird, bestimmte kunstwerke einfach aus der literatur auszuweisen und in besondere konzentrationslager unterzubringen. Die literatur der niedrigen kann keine hohe literatur sein."145 In seinen Gesprächen über Brecht hat Hanns Eisler, der nicht nur Brecht, sondern auch Thomas Mann persönlich recht gut kannte, das Verhältnis zwischen beiden deutschen Dichtern sehr aufschlußreich beschrieben. Dabei wurden auch einige Vorgänge berührt, die das subjektive Moment noch mehr hervorheben und die scharfe Thomas-MannPolemik Brechts doch recht fragwürdig machen. Um das genauer darzulegen, sei hier etwas ausführlicher zitiert: „Nun, ich kann sagen, daß ich — mit der Distanz des Respekts — mit Thomas Mann . . . das Wort .befreundet' ist ein bißchen zu intim, aber man kann es fast väterliche Zuneigung nennen: Besuche von Haus zu Haus, die Familien kannten sich, ich war oft bei Mann, und er war oft bei mir. Und das hat dem Brecht überhaupt nicht gefallen — diese Intimität mit dem Hause Mann. Er war viel zu höflich, darüber was zu sagen, aber es war irgendwie eine Art Landesverrat. Man kann es eigentlich nur so nennen . . . Wenn der Thomas Mann bei mir war, habe ich immer wieder versucht, den Brecht einzuladen. Auch der Feuchtwanger . . . Und der Brecht war gegen den Thomas Mann von einer — ich kann nur sagen: Renitenz! Denn wenn sich zum Beispiel in den schwierigen Jahren des Krieges immerhin ein paar antifaschistische Deutsche . . . Zumindest muß man dem Thomas Mann den Antifaschismus lassen — ich rede schon wie der Brecht —, den kann man ihm doch nicht herauseskamotieren! Aber das zögernde, unentschlossene Verhalten bei gewissen scharfen Erklärungen, die Brecht immer von allen unterschrieben haben wollte, hat Brecht aufs Blut gereizt. Kurz und gut: Mißtrauen, Renitenz bis zu bösartigen lauten Bemerkungen machten ein Zusammensein von Thomas Mann und Brecht ziemlich unan104
genehm . . . Nun, der Thomas Mann kannte ja einige Stücke von Brecht. Brecht kannte, glaube ich, Thomas Mann nur von meinen Berichten . . . Da berichtete ich Brecht zum Beispiel über schöne Stellen im .Zauberberg'. Und er war immer ganz erstaunt, daß da so gute Sachen drin sind. Da meinte er, das müsse man wirklich einmal durchsehen. Er kam nie dazu. Zum Beispiel sind Bemerkungen von Settembrini über Musik im .Zauberberg' den Bemerkungen von Brecht über Musik sehr ähnlich . . . Brecht nannte den Thomas Mann sehr bösartig .diesen Kurzgeschichtenschreiber'." 146 Ist dann aber, wenn Brecht die großen Romane, gegen die er so hartnäckig polemisierte, gar nicht gelesen hat, die ganze Auseinandersetzung doch nichts weiter als persönliche Rivalität? Wird hier nicht doch nur ein sehr persönlicher Streit ausgetragen? Man kann da mit Hanns Eisler antworten, der im Anschluß an seine Ausführungen über die Schriftstellerfehde zwischen Brecht und Thomas Mann meinte, daß es in der Kunstgeschichte nun einmal nicht so einfach zugehe. Auch war die politische Auseinandersetzung im amerikanischen Exil alles andere als eine persönliche Streitigkeit. Der tiefere Grund für die anhaltende Gegnerschaft zu Thomas Mann scheint darin zu liegen, daß Brecht diesem Dichter in der Entwicklung der fortschrittlichen deutschen Literatur und Geistesgeschichte bis hin zum Entstehen einer neuen, sozialistischen Nationalliteratur einen Platz eingeräumt sah, der nach seiner Meinung Thomas Mann nicht gebührte. Was aber als tragende Elemente einer fortschrittlichen Literatur gewertet wurde, die zu einer sozialistischen Nationalliteratur hinführten, das empfand Brecht nicht als eine nur persönliche Angelegenheit, nicht als subjektive Rivalität. Für Brecht waren die im Werk Thomas Manns enthaltenen Hinweise auf eine kommende gesellschaftliche Entwicklung viel zu schwach und zu vage, als daß er hierin eine kämpferische Literatur erblickt hätte. Selbst die Kritik dieses Dichters an seiner Klasse wertete er nicht sonderlich hoch. Den Typus des unerbittlichen bürgerlichen Gesellschaftskritikers erblickte Brecht in anderen Schriftstellern, zum Beispiel in Heinrich Mann. Auch sah er in Thomas Mann ein „gängig" gewordenes ästhetisches Verfahren, den aristotelischen Roman, gefeiert, nicht aber eine Kunstleistung, nicht 105
einen kämpferischen Beitrag für eine bessere Welt. Gewiß hat Brecht die tatsächliche Bedeutung Thomas Manns nicht erkannt und, wie Hanns Eisler formulierte, die Humanität im Leben wie im Werk von Thomas Mann übersehen. Seine Haltung zu diesem bedeutenden bürgerlichen Dichter mag in mancher Hinsicht ungerecht sein, sie ist aber nicht nur Ausdruck persönlicher Rivalität. Ungewohnt hart war sein Urteil auch gegen die Werke einiger Schriftsteller, die damals vorübergehend mit dem revolutionären Proletariat symphathisierten( wie John Steinbeck, Clifford Odets und Julius Hay. Steinbecks fortschrittlichen Roman Früchte des Zorns lernte Brecht wohl nur durch die amerikanische Verfilmung kennen. 147 An Odets schrieb Brecht anläßlich der Aufführung von Paradise lost, in dem Odets' sozialkritische Haltung im Schwinden begriffen war, den berühmten Brief in Versen, dessen letzte Zeilen lauten: „Du, Kamerad, der du Mitleid zeigtest mit dem Mann / Der nichts zu essen hat, hast du nun Mitleid / Mit dem, der sich überfressen hat?" 148 Im amerikanischen Exil lernte Brecht Odets persönlich kennen. Dieser aus dem amerikanischen Kleinbürgertum stammende Schriftsteller war vorübergehend mit der Arbeiterbewegung in Berührung gekommen, aber ganz ohne marxistische Bildung, ohne tiefere politische Einsichten. Seine Schreibweise blieb vorwiegend vom amerikanischen Film geprägt. Über das, was künstlerische und gesellschaftliche Wirkungen waren, gab es zwischen Brecht und Odets überhaupt keine Verständnismöglichkeiten. Anläßlich der Aufführung des Films nach Anna Seghers' berühmten Roman Das siebte Kreu% machte Brecht Odets auf einige sublime, im amerikanischen Film seltene Darstellungsmomente des Schauspielers Spencer Tracy aufmerksam, aber Odets habe sich nur immerfort mit der Hand an die Brust gegriffen und beteuert, er habe nichts gefühlt. 149 Hierbei zeigte Odets dasselbe Unverständnis gegenüber der epischen Schreibweise wie Jahre zuvor die Darsteller der amerikanischen Aufführung von Brechts Mutter. Waren die amerikanischen Schriftsteller und Künstler, die sich mit der amerikanischen Arbeiterbewegung verbunden fühlten, zum großen Teil wenig vertraut mit der Entwicklung, 106
die die sozialistische Dramatik bis zum Ausbruch des Faschismus genommen hatte, so kannte sie der Exil-Ungar Julius Hay sehr genau. Seine Entwicklung als Dramatiker begann bereits vor 1933 auf der deutschen Bühne. Den größten Erfolg erzielte er mit dem 1934—1936 geschriebenen Stück Haben. Es erlebte nicht nur viele Aufführungen, sondern fand auch viele Bewunderer. Vor allem Feuchtwanger stellte es als das eigentlich marxistische Stück, als von innen her durchtränkt mit Marxismus heraus. Das aber rief den Widerspruch Brechts hervor. Über Hays Stück gibt es von Brecht zwei Stellungnahmen: eine, die wohl zur Veröffentlichung bestimmt wär, und eine Eintragung im Arbeitsjournal. In der zur Veröffentlichung bestimmten stellte Brecht sachlich und nüchtern dar, warum man Hays Stück nicht als marxistisch bezeichnen könne: „Weil ein Stück, das die Gier nach Besitz oder die seelischen Deformationen, welche den Besitz hervorbringen, schildert, noch nicht marxistisch ist. Bekanntlich ist in der Marxschen Darstellung des Kapitalismus die Wurzel des Kapitalismus nicht eine mystische und triebhafte Besitzgier. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsform, welche diese Gier erst entwickelt, und zwar in den verschiedenen Klassen verschieden stark und in verschiedener Form. . . Feuchtwangers Irrtum über den Kapitalismus, wie ihn die Marxisten sehen, wenn er die Giftmischerin als ein Urbild des Kapitalismus sieht, geht auf Hays Konto." 150 In der Eintragung im Arbeit sjournal wiederholte er seine Hauptargumente in weit schärferen Formulierungen. Das ganze Stück, so schrieb er, sei „ein trauriger schund". Und immer, wenn sich seine Polemik zuspitzte, suchte er nach einem Vergleich mit einem entwerteten Schriftsteller der Vergangenheit. Gegen Hays Stück, wandte er ein, „ist sudermann. . . ein fortschritt" 151 . So überzogen diese Kritik in ihrer polemischen Haltung auch sein mag, richtig ist sie dennoch in folgender Hinsicht. Brecht zeigte, wohin es führt, wenn man aus der Literatur des kritischen Realismus bestimmte Sujets und Motive, wie die bis zum Giftmord hochgepeitschte Besitzgier, einfach abzieht, ohne zu berücksichtigen, daß sich inzwischen der Kapitalismus ganz anderer Methoden bedient. Der mit dem Kapitalismus verbundene Konkurrenzkampf brachte 107
im Laufe seiner Entwicklung ganz andere Ausdrucksformen der Besitzgier, wenn auch nicht weniger abscheuliche, hervor als die Giftmischerei, als den Giftmord. Die Vervielfältigung von Kapital vollzog sich nicht über den persönlich ausgeführten Mord, das hatte Brecht schon als Autor der Dreigroscbenoper begriffen. Hays Stück Haben war nicht ganz zu Unrecht ein typisches Beispiel für die Lukäcs-Losung „Schreibt wie Balzac!" Der früheren Literatur wurde das Handlungsmuster einfach abgezogen, ohne die unterschiedlichen Kampfbedingungen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert zu studieren. Nicht weniger kompliziert wie dem kritischen Realismus gegenüber war die Haltung Brechts zum sozialistischen Roman. Die Umfunktionierung der aristotelischen KatharsisFunktion für neue, sozialistische Zwecke hat ja Brecht nie anerkannt. So blieb sein Verhältnis zu Autoren, die sich zwar bestimmter Elemente der aristotelischen Methode bedienten, diese aber ganz anderen gesellschaftlichen Zwecken dienstbar machten, gleichfalls kritisch. Daß hier sein Urteil besonders ungerecht wurde, lag auf der Hand. Seine Haltung forderte geradezu die Frage heraus, ob denn nicht Brecht, der immer vom Kunsturteil anderer verlangte, daß es von den gesellschaftlichen Zwecken auszugehen habe, hier mehr die Schreibweise als die Ideologiefunktion vor Augen gehabt habe? Vorerst aber muß hervorgehoben werden, daß Brecht allerdings den großen Ahnherren des sozialistischen Romans, den proletarischen Dichtern Maxim Gorki und Martin AndersenNexö, aufrichtige Bewunderung entgegenbrachte. Von ihnen war er jederzeit bereit zu lernen. Nach Gorkis großem Roman schrieb er sein Stück Die Mutter. Von Andersen-Nexö übersetzte er gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Margarete Steffin drei Bände der Erinnerungen ins Deutsche. Über AndersenNexös Bücher sagte Brecht anerkennend: „sie gefallen mir, trotz der Seelenzergliederungen und moralismen, da doch rohstoff darinsteckt. ein respektabler proletarismus. aber da sind schöne stellen, wo die Solidarität der besitzlosen geschildert wird." 152 Sonst aber war sein Urteil über die sozialistische Romanentwicklung ungerecht, ja oftmals abwegig, zumal Brecht 108
dieses Urteil auch dort geltend machte, wo die größten Erfolge und Fortschritte zu verzeichnen waren: gegenüber dem sowjetischen Roman und dem Romanschaffen von Anna Seghers. Anna Seghers' umfangreiches Romanwerk fand bei Brecht kaum Beachtung. Dabei hatte gerade Anna Seghers eine neue methodologische Basis des Romans geschaffen und inhaltliche und technische Neuerungen eingeführt, die trotz der andersartigen ästhetischen Position auf ihrem Gebiet mit dem Neuererwerk Brechts verglichen werden können. Brecht verstand nicht, warum sich Anna Seghers dem großen, viellinigen Roman widmete, wo sie doch so großartige Novellen schreiben konnte. Hier sah Brecht das eigentliche Feld und Talent der Seghers. Bei diesem Urteil spielte sicher die Abneigung Brechts gegen den umfangreichen, viellinigen Roman eine nicht geringe Rolle. Zu den Kunstgebieten, die Brechts Werk beeinflußten, zählt nicht zuletzt die sowjetische Kunst. Innerhalb dieser Wertschätzung verhielt er sich jedoch gegenüber dem sowjetischen Roman außerordentlich reserviert. Das ist insofern verwunderlich, als der Weltruhm des sowjetischen Romans wie dessen gesellschaftliche und politische Wirkung schon damals als erwiesen gelten konnten. Die großen Bürgerkriegsromane und Erzählungen von Fadejew, Babel, Fedin, Tolstoi, Scholochow, Furmanow u. a., die den Stolz der sowjetischen Literatur ausmachen und die nicht wenige Schriftsteller auch in kapitalistischen Ländern nachhaltig beeinflußt haben, berührten Brecht wenig. Freilich ist bei einer solchen Feststellung schon Vorsicht geboten, da Brecht nicht über alles, was er von der Sowjetliteratur kannte, berichtete. Es gibt jedoch einige harte Bemerkungen von ihm gerade über die größten sowjetischen Romanciers, über Alexej Tolstoi und Michail Scholochow. Das große Romanwerk Scholochows schätzte Brecht nicht. Er hielt es für wichtig, wie jedes Buch aus der Sowjetunion, weil es Zeugnis neuer gesellschaftlicher Verhältnisse war, zu denen er sich bekannte. Betont werden muß jedoch, daß Brecht als sozialistischer Schriftsteller an die Beurteilung sowjetischer Romanwerke heranging. Er kritisierte sie von einer selbstgewählten Außenseiterposition her, nämlich von seiner ästhetischen Vorstellung über Funktion 109
und Struktur des sozialistischen Romans. Bei aller Kritik an der künstlerischen Gestaltung ist doch B rechts Bekenntnis zu den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, zu einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht zu übersehen. Nur fand er, daß gerade das gesellschaftlich Neue durch allzu großes Festhalten an den traditionellen Mustern nicht genügend herausgearbeitet wurde. Sein Haupteinwand lautete, diese Bücher seien „ohne kunst geschrieben"153. Wobei er auf die Kunst noch verzichten könne, wenn nicht ihr konventioneller Stil in jedem Augenblick die Darstellung der neuen Dinge verhindere. Diesem Einwand gegen die ungenügende Darstellung des Neuen widerspricht er jedoch bei anderer Gelegenheit. So macht er in den Kat^graben-Notaten den deutschen sozialistischen Schriftstellern und Schauspielern mit dem Hinweis auf die Sowjetschriftsteller den Vorwurf, daß sie das Neue nicht als Neues darzustellen verständen. Dazu gehöre historischer Sinn, wie er bei den sowjetischen Schriftstellern zu finden sei. „Die Sowjetschriftsteller haben ihn beinahe alle", schreibt Brecht. „Sie sehen (und machen sichtbar) nicht nur die neuen Kraftwerke, Dämme, Pflanzungen, Fabriken, sondern auch die neue Arbeitsweise, das neue Zusammenleben, die neuen Tugenden. Nichts ist ihnen selbstverständlich. Ich erinnere mich einer Episode aus Fadejews ,Die junge Garde'. Die Bevölkerung flüchtet vor der andringenden Naziarmee zu Beginn des Krieges. An einer beschossenen Brücke stauen sich Flüchtlinge, Autos, versprengte Truppenteile. Ein junger Soldat hat einen Kasten mit Werkzeugen gerettet, muß aber weg und sucht jemanden, dem er ihn anvertrauen könnte. Es ist ihm unmöglich, ihn wegzuwerfen. Das ist ohne jeden Kommentar so beschrieben, daß man die Gewißheit hat, einem neuen Verhalten beizuwohnen, einen Menschen zu sehen, den es vorher nicht gegeben hat. — Unsere Schriftsteller beschreiben das Neue, das sich allenthalben begibt, wie sie beschreiben, daß es regnet." 154 Weit näher, als hier nur einen Widerspruch anzunehmen, liegt die Feststellung, daß hier eine Entwicklung der Ansichten stattgefunden hat, die Kritik von einst hat einer besseren Einsicht Platz gemacht. Dieses Beispiel zeigt, wie bedenklich es ist, wenn einzelne Bemerkungen Brechts über bestimmte 110
Kunstwerke ohne Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs zitiert werden. Jedoch wäre es auch falsch, die Antiposition Brechts zum Beispiel gegen Scholochow zu verschweigen. Wenn Brecht von Scholochow sagt, daß dieser nur ein „von einigen Scheuklappen befreiter balzac" sei, 155 so ist das zwar aus der Sicht Brechts, nicht aber unbedingt aus der aller übrigen Leser eine vernichtende Kritik. Die Gründe für die reservierte Haltung Brechts zum sowjetischen Roman, dem er großen Kunstwert im Sinne sozialistischen Neuerertums absprach, sind zunächst in der unterschiedlichen methodologischen Basis zu suchen, auf der einerseits Brecht und andererseits der sowjetische Roman ihre Entwicklung nahmen. Der sowjetische Roman knüpfte organisch an die großen Leistungen des kritischen Realismus an. In dieser Kontinuität sah aber Brecht eher einen Nachteil als einen Vorteil. Er fand, die Literatur sei nicht genügend auf die sozialistische Revolution vorbereitet gewesen, „die literatur wurde von der machtübernahme des Proletariats überrascht." 156 Die Umwandlung der bürgerlichen in die proletarische Revolution habe die vorhandenen fortschrittlichen Schriftsteller zu einem Sprung gezwungen, der ihnen nicht bekommen sei, der ihnen, wenn auch nicht das Genick, so doch die Beine gebrochen habe. Er machte das am Beispiel von Majakowski und Ehrenburg klar. Majakowski sei nach der Revolution in seinem Element gewesen. Nunmehr habe er die ihm und seinem Talent angemessenen Bedingungen vorgefunden, während sich Ehrenburg nicht mehr zurechtfand und ihm wirkliche Kunstleistungen versagt geblieben seien. Brecht führte zur Erklärung der Situation vorwiegend objektive Faktoren an. In die neue sowjetische Gesellschaft hätten die progressiven Schriftsteller zwar die fortgeschrittensten künstlerischen Methoden eingebracht, aber man dürfe doch nicht aus den Augen verlieren, daß der Ursprung eben dieser Methoden in dem früheren Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen bestanden habe. Außerdem seien diese Methoden „von der geschmackszensur des .freien' marktes geprägt, also korrumpiert gewesen." 157 Dennoch, meinte Brecht, ließen sich diese Methoden nicht sofort aufkündigen, obwohl auf der Hand
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liege, daß sie den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht adäquat wären. Hier sah er einen zeitweilig unlösbaren Widerspruch. Deshalb sei dann eine Literatur entstanden, die krampfhaft auf den Fußspitzen stehe, um dem Proletariat den Spiegel vorzuhalten.158 Im Gegensatz zur bürgerlichen Kritik an der sowjetischen Literatur waren ihm die neuen gesellschaftlichen und politischen Vorgänge nicht zu stark, sondern nicht stark genug herausgearbeitet. Brecht übersah hierbei jedoch, daß starke politische, gesellschaftliche Wirkungen nicht nur mittels Durchleuchtung großer gesellschaftlicher, ökonomischer und weltpolitischer Zusammenhänge zustande kommen, sondern auch durch die Darstellung der Veränderungen in den verschiedenen Sphären des menschlichen Lebens ausgelöst werden können. Bei allen Bemerkungen Brechts zu literarischen Werken und künstlerischen Richtungen, die nicht mit seiner Traditionslinie übereinstimmen, muß man stets vom theoretischen Ausgangspunkt seiner Frontstellung ausgehen. Denn hier liegt der eigentliche Hebel für das Brechtsche Traditionsverständnis. Wird dieser Kristallisationspunkt nicht begriffen, kann es trotz aller Materialbelege zu einer Entstellung und Verfälschung seiner Auffassungen kommen. Eine Balzac-, Thomas-Mann- oder Scholochow-Gegnerschaft materialmäßig aufzubauen ist ziemlich leicht, aber sie besagt gar nichts, wenn nicht Brechts ästhetische Gesamtposition, wenn nicht die gesellschaftlichen und literaturtheoretischen Voraussetzungen für seine Haltung zum weltliterarischen Erbe zur Sprache kommen. Nur auf diese Weise kann eine einseitige, entstellende Darstellungsweise vermieden werden. Das ist insbesondere im Sinne einer objektiven Brecht-Darstellung geboten, weil die unwissenschaftliche Verwendung von Quellenmaterial die Gefahr der direkten Brecht-Verfälschung birgt. Schon die Bemerkung Brechts über Fadejews Roman machte klar, daß Brechts Notizen im Arbeitsjournal nicht sein letztes Wort über den sowjetischen Roman waren. Wie zu vielen anderen künstlerischen Erscheinungen, zum Beispiel dem Theater Stanislawskis, änderte sich in den fünfziger Jahren auch sein Verhältnis zum sowjetischen Roman, ohne daß er jedoch bestimmte Einwände gegen einen Romantypus auf112
gab, der von sowjetischen Schriftstellern bevorzugt wurde. Man darf dabei nicht vergessen, daß in den dreißiger Jahren auch in der Sowjetunion eine leidenschaftliche Auseinandersetzung stattfand, welcher Romantypus der sozialistischen Gesellschaft und den proletarischen Lesern der gemäße sei. Dabei wandten sich vor allem Majakowski und Tretjakow gegen einen Romantypus, der sich an den großen traditionellen Vorbildern orientierte. So lehnte Majakowski Gladkows Roman Zement ab, und Tretjakow wandte sich gegen Fadejews Die Neunzehn. Tretjakow korrigierte seine Meinung jedoch sehr bald. Über diese sowjetischen Diskussionen war Brecht nur ungenügend informiert. Durch die Isolierung im Exil blieben ihm neue Standpunkte und Überlegungen weitgehend unbekannt. Erst Ende der vierziger Jahre konnte er sich ein genaueres Bild über die sowjetische Romanentwicklung verschaffen. An dieser Stelle soll noch ein Vorgang erörtert werden, der für das Zustandekommen einer Traditionsauffassung, einer Traditionslinie nicht unwichtig ist, der aber bisher in Untersuchungen kaum berührt wurde: die Lesegewohnheiten eines Autors. Allein schon die quantitative Seite der Belesenheit eines Schriftstellers ist ein wichtiger Faktor. Denn ein nicht zufälliges, sondern bewußt gewähltes und gestaltetes Traditionsverhältnis ist nur bei großer Belesenheit möglich. Wie vollzieht sich Belesenheit? Wie eignet sich ein Autor das weltliterarische Erbe an? Das sind wichtige Fragen, die nicht selten ganz bestimmte Vorgänge und Konstellationen im Verhältnis eines Schriftstellers zur Tradition zu erklären vermögen. Wichtig ist auch, ob ein Autor durch seinen Bildungsgang, seine Ausbildung, durch wissenschaftliche Beschäftigung an ein zielgerichtetes Lesen gewöhnt war oder ob seine Lektürewahl vom Zufall abhing. Thomas Mann hat zur Verwunderung vieler Literaturkenner einmal gestanden, daß er bis ins späte Alter Gottfried Kellers Grünen Heinrich nicht gelesen, nicht gekannt habe. Eine schockierende Angabe für jene, die gewohnt sind, einen gradlinigen Verlauf der Tradition des deutschen Bildungs- und Erziehungsromans vom Wilhelm Meister bis zu den 'Buddenbrooks herauszudestillieren, wobei natürlich der Grüne Heinrich nicht fehlen darf. Keine 8
Mittenzwei
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Überraschung bereitet eine solche Eröffnung, wenn man den etwas gestörten Bildungsgang Thomas Manns wie seine Lesegewohnheiten mit in Betracht zieht. Brechts enorme Belesenheit ist immer wieder bestaunt worden. Die neuere Forschung stellt nunmehr Material zur Verfügung, das auch Einblick in die Lesegewohnheiten und die Lektürewahl des jungen Brecht ermöglichte.159 In seiner frühen Phase, bis in die zwanziger Jahre hinein, erfolgte die intensivste Bekanntschaft mit Literatur, Kunst und Philosophie. In dieser Zeit war er auch ein ständiger Theaterbesucher. In der Emigration gab es dazu nur selten Gelegenheit. In den späteren Jahren, zurückgekehrt nach Berlin, machte er davon nicht allzu oft Gebrauch. Brecht verabscheute das bürgerliche Bildungsideal, die Gewohnheit, das zu lesen, was „üblich" war, was zur „Bildung" gehörte. Er orientierte sich schon frühzeitig auf das Nichtübliche, zum Beispiel auf Frank Wedekind, ohne aber dabei das Übliche auszulassen. In den späteren Jahren wurde die zufällige Lektürewahl immer seltener. Allein schon die gründliche, wissenschaftliche Art und Weise, mit der er seine Stücke und Inszenierungen vorbereitete, verlangten ein umfassendes, geplantes Studium der Literatur. So führte ihn die Arbeit am Leben des Galilei und Leben des Einstein zu einem intensiven Studium über Probleme des neuen physikalischen Weltbildes. Auf diese Weise wurde er mit den theoretischen Arbeiten der bedeutendsten Physiker und Mathematiker bekannt. Für die Arbeit an dem Stück Die Tage der Commune nahm er nicht nur eine Vielzahl von historischen, literarischen und philosophischen Werken zur Kenntnis, er ließ sich auch die Originalprotokolle der Pariser Commune fotokopieren, die damals noch nicht vollständig veröffentlicht waren. Das sind nur einige Beispiele, die weniger die Belesenheit Brechts als sein systematisches Vorgehen belegen sollen. Eine Eigentümlichkeit des Brechtschen Lektürestudiums bestand darin, daß er ein i n f o r m a t i v e s Lesen bevorzugte. Er begnügte sich oftmals, insbesondere bei recht dickleibigen Büchern damit, herauszufinden, w i e das gemacht war, w i e das geschrieben war, ohne immer das Ganze zu lesen. Um eine literarische Technik zu beurteilen, genügte ihm ein 114
bestimmter Einblick. Er war der Meinung, um sich ein Urteil über den Geschmack und die Qualität eines Gerichts zu bilden, brauche man es nicht in jedem Falle restlos aufzuessen. In seinem Arbeitsjournal finden sich oft Wendungen wie „wieder einmal in einigen werken . . . geblättert", „das müßte man einmal durchsehen". Diese Wendungen charakterisieren sehr genau die Brechtsche Lesegewohnheit. Mit diesem informativen Lesen, in vielem vergleichbar mit der Literaturdurchsicht der Naturwissenschaftler, ging er so weit, daß er sich über bestimmte Werke von seinen Freunden, Mitarbeitern und Schülern erzählen ließ. Eisler sagte darüber: „ So eine Art literarischen Berichterstatter hat Brecht sehr gern gehabt." 160 Auf diese Weise machte Elisabeth Hauptmann, seine langjährige Mitarbeiterin, Brecht in den zwanziger Jahren mit den japanischen No-Spielen bekannt, die seine Lehrstücke wesentlich beeinflußten. Auf diese Weise lernte er auch dicke Romane kennen, die er schon wegen ihres Umfangs nicht gerne las. Vor allem in den späteren Jahren war er bestrebt, möglichst rationell zu lesen. Er war kein l'art-pourl'art-Leser. Was er las, mußte zu etwas zu gebrauchen sein, mußte einem Zweck zugeführt werden. Eisler berichtete, daß Brecht selbst die Kriminalromane, die er mit einiger Ausdauer las, dahingehend überprüfte, wie man eine Story knüpft. „Er hat überhaupt fast nur gelesen, was er gebraucht hat. Brecht, der ein äußerst gebildeter Mensch war, hat, je älter er wurde, nur noch Dinge gelesen, die er brauchte — entweder zur Information oder zur Anregung von Gedankengängen." 161
Die Traditionslinie des Brechtscben Werkes Wie vielfältig die Beziehungen Brechts zum weltliterarischen Erbe sind, geht schon aus der großen Anzahl von Büchern, Dissertationsschriften, Staatsexamensarbeiten hervor, dieBrecht mit den verschiedensten Dichterpersönlichkeiten vergleichen. In der langen Reihe dieser Untersuchungen kann man finden: Brecht und Sophokles, Brecht und Camus, Brecht und die Bibel, Brecht und Plutarch, Brecht und Lenz, Brecht und John Gay, Brecht und Lessing, Brecht und Hasek, Brecht 8*
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und Schiller, Brecht und Georg Kaiser, Brecht und das asiatische Theater, Brecht und Gorki, Brecht und Meyerhold, Brecht und Shakespeare, Brecht und Feuchtwanger, Brecht und Zola, Brecht und Dürrenmatt, Brecht und Gustav Freytag, Brecht und Friedrich Wolf, Brecht und Molière, Brecht und Klabund, Brecht und Baierl, Brecht und Hella Wuolijoki, Brecht und Leonhard Frank, Brecht und Kuba, Brecht und Kafka, Brecht und Lukäcs, Brecht und Nordahl Grieg, Brecht und Becher, Brecht und Weinert, Brecht und Marlowe, Brecht und Heinrich Leopold Wagner, Brecht und Farquhar, Brecht und Hebbel usw. usw. Wenn man erfährt, daß selbst an einer Schrift über Brecht und Gottsched gearbeitet wird, so läßt dieser Titel ahnen, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch hinzukommt. Die Vielzahl dieser Beziehungen zeigt aber auch, wie schwer es ist, für Brecht eine Traditionslinie herauszudestillieren. Etwas erleichtert wird ein solches Unternehmen dadurch, daß Brecht hin und wieder seine Traditionslinie selbst zu bestimmen suchte. In einem seiner Gedichte heißt es: „Ich studierte die Darstellungen der großen Feudalen Durch die Engländer, reicher Figuren Denen die Welt dazu dient, sich groß zu entfalten. Ich studierte die moralisierenden Spanier Die Inder, Meister der schönen Empfindungen Und die Chinesen, welche die Familien darstellen Und die bunten Schicksale in den Städten." 162 In der Skizze Wo ich gelernt habe163 verwies er auf folgende Persönlichkeiten, Richtungen und Dichtungsgebiete: Grimmelshausen, Luther, Volkslied („Es ist schwierig, vom Volkslied zu lernen."), Vergil, Lukrez, Goethe. Brechts eigene Versuche, eine Traditionslinie zu skizzieren, sind jedoch meist bruchstückhaft. Entweder sind es unvollendete Skizzen, oder aber seine Bemerkungen sind aus einem genau bestimmbaren Anlaß geschrieben, konzentrieren sich auf ganz bestimmte Gesichtspunkte und lassen andere beiseite. Ein Unterschied besteht auch darin, ob es die Traditionslinie des gesamten Brechtschen Werkes oder die seines epischen 116
Theaters zu bestimmen gilt. Letzteres ist wiederholt versucht worden. Dabei konzentrierte sich die Traditionsfolge hauptsächlich auf Shakespeare, die deutsche Sturm-und-DrangDichtung, Büchner, die sowjetische Revolutionsdramatik. Hierbei zeigt sich bereits die Fragwürdigkeit solcher Kristallisationspunkte und Verallgemeinerungen, die jedoch zur Bestimmung einer Traditionslinie unbedingt nötig sind. Wenn hier der Versuch gemacht wird, die Traditionslinie des Brechtschen Werkes herauszuarbeiten, so kann das nur durch den Hinweis auf große literarische Epochen und Richtungen erfolgen. Literarische Einzelphänomene müssen dabei mehr oder weniger unberücksichtigt bleiben. So wird zum Beispiel auf die Bibel nicht weiter eingegangen, obwohl dieses Werk in seinem sprachlichen Gestus und Erzählton Brecht sehr nachhaltig beeinflußte. Wenn er auch jeder Religiosität abhold war, war für ihn die Bibel ein Buch, in dem er sich auskannte und aus dem er zu zitieren wußte. Nicht weiter aufgespürt werden kann auch der Einfluß von François Villon auf den jungen Brecht. Das trifft auch auf die Anregungen zu, die Brecht von Verlaine und Rimbaud empfing. Eine Traditionslinie verfolgen heißt auch, daß Brechts Beziehungen zu den einzelnen literarischen Epochen nicht allseitig abgesteckt werden können. Wenngleich bereits vorliegende Forschungen genutzt werden, so ist es dennoch hier nicht möglich, die vielfältigen Quellen zu belegen, die Brecht bei seinen Arbeiten benutzte, wie das zum Beispiel für die Antike die Autoren Hans Dahlke (Cäsar bei 'Brecht') und Peter Witzmann (Antike Tradition im Werk Bertolt Brechts) sehr sorgfältig gemacht haben. Das Anliegen der nachfolgenden Traditionsskizze besteht darin, jenen Gesichtspunkt aufzuspüren und zu bestimmen, der Brecht veranlaßte, sich mit der betreffenden literarischen Epoche oder Richtung zu beschäftigen. Ein wirklicher, dauerhafter Traditionsbezug entsteht nicht durch zufälliges Verwenden von bestimmten Quellen, sondern er ergibt sich über einen besonders interessierenden Punkt. Auf ihn kommt es hier an. Beschrieben werden soll hier vorwiegend das Einstiegsmoment in eine Tradition.
Das fernöstliche Vorbild Ende der zwanziger Jahre fand Brecht großes Interesse an der japanischen und chinesischen Poesie wie an der Schauspielkunst dieser Länder. Das Interesse, einmal geweckt, erlahmte nie wieder. Die Anregung dazu kam von seiner engen Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann. Damals waren die japanischen No-Spiele in englischer Übersetzung erschienen. Elisabeth Hauptmann übertrug das No-Spiel Taniko und machte Brecht damit bekannt. Dieses kleine Stück gab die literarische Vorlage für den Jasager und die Maßnahme ab. Was Brecht zur fernösdichen Kunst hinzog, hat nichts gemein mit den Motiven, die manchen bürgerlichen Intellektuellen in jenen Jahren veranlaßten, sich außereuropäischen Traditionen zuzuwenden. Bei Brecht war es weder das künstlerische Interesse an einer Exotik noch eine weltanschaulich gefärbte Europamüdigkeit. Es waren aber auch nicht vorwiegend jene Gründe, die Reinhold Grimm in seinem Büchlein Bertolt Brecht und die Weltliteratur anführt: „Während Brecht so vom Theater der Chinesen das rein Formale, .Artistische'... übernahm, fand er in ihrer Philosophie seine Weltanschauung bestätigt."164 Wenngleich Brecht das artistische Moment, und zwar nicht nur in der Schauspielkunst, sehr beeindruckte, so fühlte er sich aber zur chinesischen Philosophie nicht deshalb hingezogen, weil er hierin seine marxistische Weltanschauung bestätigt fand. Selbst die schärfste Sozialkritik der alten chinesischen Philosophen ergibt noch keine vergleichbare Basis mit dem Marxismus. Was Brecht an der fernöstlichen Kunst so überaus schätzte und wovon er als Dramatiker wie als Lyriker und Prosaschreiber zu lernen suchte, war die Verbindung des Lehrhaften mit dem Kunstvollen. Vor allem die in der chinesischen Kunst virtuos gehandhabte Einheit von Didaktischem und Artistischem zog ihn mächtig an. Brecht hatte sich gegen Ende der zwanziger Jahre dem Lehrstück zugewandt. Für eine kurze Zeit dachte er daran, die Pädagogik der Kunst vorzuziehen. Sehr bald wurde jedoch der Blickpunkt auf die Pädagogik durch die Politik verdrängt, aber das didaktische Element, nunmehr in den Dienst der Politik gestellt, blieb. Daß seine didaktische Schreibweise keineswegs 118
trocken und kunstlos wirkte, ist nicht nur seinem Genie, sondern auch der Stimulierung durch das fernöstliche Vorbild zu danken. Über Jahrzehnte h i n w e g studierte Brecht die Einheit von Didaktischem und Artistischem in der chinesischen Kunst immer wieder aufs neue. Von den Lehrstücken über die Arbeit am Me-ti zur Spruchdichtung, wie überhaupt in der späten Lyrik, prägte dieses Vorbild nicht nur den Stil entscheidend m i t : Die Einheit von Didaktischem und Artistischem wurde zu einem tragenden Element seiner Methode. In seinem Kampf gegen das naturalistische und psychologisierende Theater empfing er von der chinesischen und japanischen Schauspielkunst wichtige Impulse und Fingerzeige. Insbesondere der von Brecht erstrebte V o r g a n g des Zeigens im Sinne des Theaters der planetarischen Demonstration wurde von Brecht mit Hinweisen auf das fernöstliche Theater erläutert und ausgebaut. Es wäre jedoch falsch, würde man in der Brechtschen Verfremdungstechnik vorwiegend eine Anleihe aus dem asiatischen Theater sehen. Die Methode der Verfremdung ist viel zu komplex, als daß sie nur auf einen Traditionsbezug zurückgeführt werden könnte. Hier muß eher vor einer Überbewertung dieser Traditionsquelle gewarnt werden. Der Verfremdungstechnik bediente sich der Dramatiker bereits, bevor er das chinesische Theater f ü r sich entdeckte. Auch ist der Zweck, zu dem die Verfremdung benutzt wird, bei Brecht und in der chinesischen Schauspielkunst grundverschieden. Bei Brecht dient sie der Aufhellung des gesellschaftlichen Kausalnexus, davon kann weder im alten chinesischen noch im japanischen Theater die Rede sein. Deshalb umriß Brecht auch bei aller Begeisterung für die artistische Eleganz, mit der diese Technik dargeboten wurde, ihre Grenzen, als er schrieb: „Das chinesische Theater erscheint uns ungemein preziös, seine Darstellung der menschlichen Leidenschaften schematisch, seine Konzeption von der Gesellschaft starr und falsch, nichts von dieser großen Kunst scheint auf den ersten Blick verwendbar f ü r ein realistisches und revolutionäres Theater. Motive und Zwecke des V Effekts sind uns im Gegenteil fremd und verdächtig . . . Tatsächlich können nur diejenigen ein Technikum wie den V119
Effekt der chinesischen Schauspielkunst mit Gewinn studieren, die ein solches Technikum für ganz bestimmte gesellschaftliche Zwecke benötigen." 1 6 5 Die alte chinesische Dichtung benutzte Brecht vor allem gern zu jenem Darstellungsverfahren, das er „SprachWaschungen" nannte. Damit war das sprachliche Einfärben neuer Gedanken in alte, berühmte Sprachmuster und Gestaltungsweisen gemeint. Im Me-ti entwickelte Brecht daraus eine ganz bestimmte künstlerische Form. In die Texte des alten chinesischen Philosophen Me Ti (400 v. u. Z.) mischte Brecht neue Gedanken, ohne die alten völlig auszulöschen. Die neuen Gestalten und Gedanken spiegeln sich in den alten, darin besteht der sonderbare Reiz dieses Buches. In den alten Texten des Me Ti findet der Leser nicht so sehr, daß alles „so extrem marxistisch" klingt, wie Reinhold Grimm meinte, 1 6 6 sondern die neuen Gedanken vor dem Hintergrund der alten veranlassen den Leser, Entwicklungen mitzudenken. Die zeitliche Distanz innerhalb eines Gedankens und die Doppelung der Figur bilden hier ein Element der Erkenntnis und des Genusses. Anziehungspunkt für Brecht war der „halb künstlerische" Charakter der alten chinesischen Philosophie als der eigentlichen Ausgangsbasis jener Einheit des Didaktischen und Artistischen. Nicht nur, daß zum Beispiel Me Tis Buch meist kurze Monolog- und Dialogszenen enthält, macht den „halb künstlerischen" Charakter aus, es ist die künstlerisch zugespitzte, auf Pointe erzählte Darlegung der Gedanken, die es zu einem Vorbild und zur Vorlage für die von Brecht im Kunstwerk erstrebte Dialektik von Belehrung und Unterhaltung machten. Voll zustimmen kann man, wenn Reinhold Grimm in Me Tis Gesprächen (Buch XI—XIII) das Vorbild für die Sprechweise und den Sprachgestus der Keuner-Geschichten sieht, wenn sie sicherlich auch nicht ausschließlich dadurch angeregt und geprägt wurden. Reinhold Grimm führt dafür zwei Beispiele aus dem Me Ti an, die hier wiedergegeben werden sollen: „Der Meister Me-tse ( = Me Ti) hatte Keng Tschu-tse nach T'schu empfohlen. Einige Herren besuchten ihn dort. Er bewirtete sie mit nur drei Maß Speise und behandelte sie nicht sehr freigebig. Die Herren berichteten dies dem Meister Me-tse, indem sie sagten: ,Keng Tsche-tse scheint in 120
T'schu nicht besonders erfolgreich zu sein. Wir besuchten ihn, und er gab uns nur drei Liter Speise zu essen, behandelte uns als seine Gäste nicht mit besonderer Freigebigkeit.' Der Meister Me-tse sagte: ,Man kann nicht wissen.' Bald darauf sandte ihm Keng Tschu-tse zweihundert Unzen Silber und ließ ihm sagen: .Dein unwürdiger Schüler hat hier zweihundert Unzen Silber, von welchen er wünscht, daß der Meister Gebrauch machen möge.' Der Meister Me-tse sagte: ,In der Tat, man konnte nicht wissen.'" — „Der Meister Me-tse sagte: .Wenn man einen Edlen unserer Zeit als Schweineschlachter verwenden will und er dies Geschäft nicht versteht, so lehnt er ab. Wenn man ihm aber einen Staatsminister-Posten überträgt, so übernimmt er ihn, auch wenn er ihm nicht gewachsen ist. I6t das nicht widersinnig?'" 167 Die Antike Mehr noch als in der chinesischen Poesie war Brecht in der griechischen und römischen antiken Dichtung an Stoffen interessiert. Wenn es auch hier Elemente gab, die ihn wie in der chinesischen Poesie vom methodologischen Gesichtspunkt her beschäftigten, so schätzte er die antike Literatur doch besonders als Stofflieferant. Seit seiner Jugendzeit war Brecht mit den antiken Traditionen eng vertraut. In seinem Buch Antike Traditionen im Werk Bertolt Brechts führt Witzmann eine tabellarische Übersicht an, die von Brechts Schulaufsatz über dulce et decorum aus dem Jahre 1915 bis zu den Studien und Gedichten aus den letzten Lebensjahren alle von Brecht verwendeten antiken Quellen nachweist. Besonders Horaz ist es, den Brecht immer wieder bevorzugte. Von dem genannten Schulaufsatz über das Gedicht Vom armen B. B., dem sechsten Augsburger Sonett, Von der Willfährigkeit der Natur, den Gedichten aus dem Messingkauf und den Deutschen Satiren zu dem großen Gedicht An die Nachgeborenen bis zu den Gesprächen über Einfühlung lieferte Horaz die Vorlage oder die Anregung. Wie bei den Chinesen, so studierte Brecht auch in der antiken Literatur die Verwendung des Lehrhaften. Das römische Lehrgedicht war ein bevor121
zugtes Studienobjekt. In der Skizze Wo ich gelernt habe schrieb Brecht: „Aus mindestens zwei Gründen, die miteinander verbunden sind, lohnt es sich, die zwei großen Lehrgedichte der Römer zu studieren, die ,Georgica' des Vergil und ,Von der Natur der Dinge' des Lukrez. Einmal sind es Vorbilder dafür, wie man die Bearbeitung der Natur und eine Weltauffassung in Versen beschreiben kann, und des andern haben wir in den schönen Übersetzungen von Voß und Knebel Arbeiten vor uns, die wunderbare Aufschlüsse über unsere Sprache geben." 168 Lukrez' Lehrgedicht regte ihn an, das Kommunistische Manifest in Verse zu übertragen. Uber die Schwierigkeiten und Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens ist schon viel geschrieben und debattiert worden. Aber selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß das Experiment mit dem Kommunistischen Manifest ohne Wirkung blieb, so sind damit noch nicht die ästhetischen Bestrebungen widerlegt, um die es Brecht ging. Die alte Dichtung hatte ihm gezeigt, daß sich großer Kunstverstand nur an großen Gegenständen entwickeln kann. Zu den großen Gegenständen aber zählten auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Zeit. In unaufhörlichen Experimenten suchte Brecht nachzuweisen, daß fortschrittliche Kunst fähig sein muß, Wissenschaftsgegenstände und wissenschaftliche Darlegungen zu integrieren. Eine mit den fortschrittlichsten Ideen der Menschheit verbundene Kunst durfte niemals aufhören, auch zu lehren. Aber in der Kunst mußte mit Kunst gelehrt werden, und hierin sah er in Vergil, Lukrez und Horaz unvergleichliche Meister. Zeigten sie doch, wie ein wissenschaftliches Weltbild, wie wissenschaftliche Vorgänge sinnlich zur Anschauung gebracht und kräftig herausgearbeitet werden können, so daß sie die Einbildungskraft herausfordern. Im Lehrgedicht sah Brecht ein Mittel, um Wissenschaftsgegenstände zu Volksgegenständen zu machen. Geistige Erkenntnisse und Entdeckungen, so wollte es Brecht, sollten nicht nur den Verstand, sondern auch die Sinne beschäftigen. Er sah die Aufgabe des Dichters auch darin, zwischen Wissenschaft und Kunstpublikum zu vermitteln. Ihm kam es darauf an, die Entdeckungen der Wissenschaft in den breiten Strom der Volksphantasie einzubeziehen. 122
Für seinen Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar benutzte Brecht als Quelle vor allem Plutarch und Sueton. Dieser beiden antiken Autoren wie auch Livius bediente sich Brecht des öfteren, wenn er nach einprägsamen Situationen und vorgeprägten Stoffen suchte. Sosehr die Stoffwahl bei einem Dichter auch von zufälligen Momenten abhängig ist, die Bevorzugung der antiken Geschichtschreiber hat bei Brecht seine Gründe. Was ihm an den Werken dieser Geschichtsschreiber gefiel und für seine Zwecke verwendbar wurde, war das Exemplarische, fast Parabolische der Vorgänge, die sie schilderten. Geschichte erzählten sie in großen Begebenheiten. Der Dichter konnte vorgeformte Handlungen verwenden und sie ganz bestimmten Zwecken zuführen. Gerade die exemplarische Situation mit ihrem parabolischen Charakter ermöglichte Brecht komplizierte und weitgespannte Aussagen. Ein anderer Grund war der, daß die antiken Autoren zum größten Teil vom Standpunkt der Herrschenden aus schrieben. Was zunächst wie ein Hindernis für Brechts Verwendungszweck erscheinen mag, war jedoch keines, denn so parteiisch diese Geschichtsschreiber ihr Geschäft auch betrieben, betrieben sie es dennoch nicht ohne Objektivität; sie ließen Argumente der verschiedenen Seiten zu. Das ermöglichte Brecht, das Material nunmehr aus der Sicht der unteren Schichten aufzubereiten. Für Brecht lag der Reiz der antiken Stoffe auch darin, daß sie in ihrer Zweckgerichtetheit umkehrbar waren. Was zur Rechtfertigung der Großen, der Herrschenden geschrieben wurde, ließ sich zur Enthüllung der Herrschenden verwenden. Aus der Sicht derer, die die Geschichte machten, erwiesen sich nicht selten — wie zum Beispiel im Lukullus — die Taten der Großen als Untaten. Die besondere Wertschätzung der Antike schloß bei Brecht auch die Verurteilung antiker Ideale ein, wie eines seiner Gedichte heißt, weil Würde „mit falschen Gewichten gewogen" wurde. Und Brecht sah seine Aufgabe darin, „das Zettelchen mit dem Preis", der falsch war, zu entfemen.i(ß In Sueton fand Brecht — bei der Gestaltung des Cäsar-Romaris — allerdings einen Geschichtsschreiber, der, wenn auch inkonsequent, die historischen Vorgänge aus der Sicht von unten darzustellen versuchte. Darauf machte Hans Dahlke in seinem Cäsar bei Brecht aufmerksam: „In Suetons 123
Biographien schien die Sicht von unten sich schon einmal durchgesetzt zu haben. Die Rubriken erinnerten an Paragraphen einer Anklageschrift. Brecht hat Suetons Gestaltungsmethode in einem anderen Fall in gewissem Sinne nachzuahmen versucht. Für sein .Verhör des Lukullus' entnahm er die stofflichen Einzelheiten zwar der Lukullus-Biographie des Plutarch, aber die Art und Weise, wie die ,großen' Taten in der Beweisaufnahme vor dem Totengericht in Sachgruppen geordnet erscheinen, weist entschieden auf Sueton als Vorbild hin." 170 Und noch ein weiterer Grund für die Bevorzugung antiker Stoffe durch Brecht darf nicht unerwähnt bleiben. Die „halbkünstlerische" Art und Weise der antiken Geschichtsschreibung, ihr künstlerischer Erzählton ohne jede psychologische „Vertiefung" beanspruchten sein Interesse. Denn mit dem Cäsar-Roman beabsichtigte Brecht einen Romantypus, der sich vom üblichen Roman, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte, nicht unwesentlich unterscheiden sollte. Er suchte nach einer Romanform, die einen schlanken, nüchternen Erzählton gestattete, ohne all diese psychologisch verzweigte Menschengestaltung mit ihren Zwischentönen, Stimmungen und seelischen Nuancierungen. Der an der historischen Begebenheit orientierte Erzählton der antiken Geschichtsschreiber schien ihm dabei als eine sehr geeignete Vorgabe. Bei seinen Bemühungen um einen neuen Romantypus spielte zwar nicht nur das antike Vorbild eine Rolle, aber allein schon durch die literarischen Vorlagen empfing Brecht hier sehr nachhaltige Impulse. Allerdings fand Brecht bei diesem Vorhaben nicht die Unterstützung derer, die ihm sonst bei seinen nichtaristotelischen Versuchen theoretischen Beistand leisteten. Immer wieder wurde er gedrängt, sich doch nicht so entschieden von dem üblichen Roman abzugrenzen. Im Hinblick auf den Cäsar-Roman schrieb er etwas betrübt, aber dennoch an seinem Vorhaben festhaltend, in sein Arbeitsjournal: „gretes (Margarete Steffin, die Mitarbeiterin Brechts — W. M.) schwester, frau eines metallarbeiters, ist aus deutschend hier, sie liest in einem einzigen abend das zweite buch und findet es hochinteressant, ausgefragt von grete zeigt sie, dass sie so ziemlich alles verstanden hat. BENJAMIN und STERNBERG, sehr hochqualifizierte intellektuelle, haben es 124
nicht verstanden und dringend vorgeschlagen, doch mehr menschliches Interesse hineinzubringen, mehr vom alten roman! und dann ist noch steff da, der auf einer Fortsetzung besteht, das sollte ausreichen." 171 Shakespeare und das elisabethanische Theater Shakespeare — das war für den Dramatiker Brecht der künstlerische Orientierungspunkt seines Lebens. Zwar änderten sich Meinung und Urteil über Shakespeare in den verschiedenen Phasen seines Lebens. Es gab Zeiten, da er dem großen Briten sehr kritisch gegenüberstand, aber der produktive Bezug zu Shakespeare und dem elisabethanischen Theater wurde nie ernstlich in Frage gestellt. Wenn Brecht bei der Suche nach neuen dramaturgischen Lösungen auf Schwierigkeiten stieß, pflegte er oft zu sagen: „Schaun wir amal, wie der Wilhelm das macht!" Obwohl allgemein bekannt ist, wie stark sich Brecht dem Vorbild Shakespeare verpflichtet fühlte, gibt es in der wissenschaftlichen Literatur darüber dennoch sehr extreme Vorstellungen. So schrieb der Däne Helge Hultberg, ein Spezialist für absonderliche Meinungen über Brecht, in seinem Aufsatz Bert 'brecht und Shakespeare: „. . . es ist ein ziemliches Mißverständnis, daß das Brechtsche Theater eine besondere Affinität zum Shakespeareschen haben solle . . . Für Brecht ist Shakespeare der Anfang der Dekadenz des europäischen Dramas . . . Brecht gab niemals seinen Haß gegen Shakespeare auf, der die großen Tragödien schrieb."172 Hultberg hat Brecht gründlich mißverstanden, wenn er meint, daß Shakespeare für Brecht am ehesten das Synonym für das sei, was bekämpft werden soll. Das Gegenteil ist wahr, allerdings darf man Brechts Shakespeare-Verehrung nicht im Sinne eines Epigonen verstehen. Selbst in seiner Vorrede „Macbeth", in der er am kritischsten mit Shakespeare verfuhr, war er der Meinung, daß man Shakespeare „ruhig einen gewissen Kredit gewähren" könne.173 Immerhin geschah das in einer Phase, da Brecht die Werke der Klassiker für nicht sehr lebensfähig hielt. An anderer Stelle wurde bereits nachgewiesen, von welchen Beweggründen sich 125
Brecht bei seiner Kritik an den alten Stücken leiten ließ. Sosehr Brecht den Figurenaufbau der „großen Einzelnen" bei Shakespeare kritisierte, sowenig er sich mit einer Dramaturgie einverstanden erklären konnte, die alles auf den letzten Akt, die letzte Szene hintreibt, in der, wie Brecht sagt, die Meisterung des Schicksals dadurch stattfindet, indem die „Unbill" ertragen wird, erkannte er in den Stücken des großen Briten doch Elemente, auf die er sich beim Ausbau seines nichtaristotelischen Theaters zu stützen suchte. Das Verständnis für Shakespeare vollzog sich bei Brecht über die Art und Weise, wie dieser mit seinen Stoffen verfuhr: „Er hat immer viel Rohmaterial auf die Bühne geschaufelt, unausgerichtete Schilderungen von Gesehenem. Und in seinen Werken sind jene wertvollen Bruchstellen, wo das Neue seiner Zeit auf das Alte stieß. Auch sind wir die Väter neuer, aber Söhne alter Zeit und verstehen vieles weit zurück und sind imstande, die Gefühle noch zu teilen, welche einmal überwältigend waren und groß erweckt wurden. Ist doch auch die Gesellschaft, in der wir leben, eine so sehr komplexe. Der Mensch ist, wie die Klassiker sagen, das Ensemble aller gesellschaftlichen Verhältnisse aller Zeiten." 1 7 4 Brecht lernt Shakespeare historisch begreifen, indem er auf den Widerspruch in der Gestaltungskunst des großen Briten stieß. Shakespeare schilderte den Untergang der Feudalen tragisch. Die Amokläufer einer untergehenden Klasse stattete er mit einer imponierenden Lebendigkeit, Kraft und Fülle aus, obwohl gerade diese Elemente einer neuen Gestaltungskunst sich im Ergebnis der Klassenkämpfe herausbildeten, die das aufsteigende Bürgertum gegen die Feudalordnung führte. Der universale menschliche Bezug, den die aufstrebende Bourgeoisie durch ihre gesellschaftliche Kraft als Klasse in die Kunst brachte, diente bei Shakespeare vorwiegend der Charakterisierung der großen Feudalen. „Die Experimente des Globetheaters wie die des Galilei, der den Globus in besonderer Weise behandelte, entsprachen der Umbildung des Globus selber. Das Bürgertum machte seine ersten zögernden Schritte." 175 Aber die neue Art der Menschengestaltung diente noch nicht der direkten Charakteristik des Bürgers, der seinen gesellschaftlichen Anspruch anmeldete. „Aber was gibt es Vielfältigeres, Wichtigeres und Interessanteres als den Untergang 126
großer herrschender Klassen?" läßt Brecht den Philosophen im Messingkauf sagen.176 Denn im Untergang einer ehemals mächtigen Klasse enthüllt sich die historische Gesetzmäßigkeit, treten die gesellschaftlichen Triebkräfte hervor. Erst im Untergang enthüllt sich das Wesen einer Ausbeuterklasse ganz, begreifen ihre Protagonisten ihr verfehltes Leben. Aus dieser Sicht erwuchs ein tiefes Verständnis für Shakespeare. Der späte Brecht, der den Coriolan bearbeitete, sah die „großen Einzelnen" in einem ganz anderen dialektischen Zusammenhang als der Brecht der zwanziger Jahre. Er warnte sogar davor, die Leidenschaften und Maßlosigkeiten der Shakespeare-Gestalten zu beschneiden, weil sich dann die Stärken Shakespeares gegen die Bearbeitung kehrten. Die Kraft und Schönheit dieser Werke traten für Brecht um so deutlicher hervor, je kräftiger sie in Gegensatz zu unserer Zeit gestellt werden. Shakespeare wie Brecht nehmen in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Dramas eine wohl einzigartige Position ein. Shakespeare entwickelte im Ergebnis der Klassenkämpfe der jungen Bourgeoisie gegen die Feudalordnung jene „großen Individuen", jene „Lebendigkeit und Fülle", mit der sich eine neue realistische Kunst ihre Bahn brach. Die Entdeckung und Gestaltung des Individuums in seiner neuen Universalität für das Drama — darin besteht die weltliterarische Leistung Shakespeares. Brechts Position muß darin gesehen werden, daß er im Ergebnis der großen Klassenschlachten nach dem ersten Weltkrieg und des Sieges der ausgebeuteten Massen durch die Sozialistische Oktoberrevolution eine Dramaturgie entwickelte, die es ermöglichte, die Massen und die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten auch in den individuellen Geschichten und Vorgängen der Menschen zu zeigen. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen sind Shakespeare und Brecht auf den ersten Blick Gegensätze. Was für den jungen Brecht, der soziologisch an das Phänomen Shakespeare heranging, noch unmöglich war, löste sich für den Marxisten Brecht. Die „großen Individuen" des Elisabethaners wurden zu einem wesentlichen Richtpunkt bei der Entwicklung des nichtaristotelischen Theaters. Dieser Prozeß vollzog sich in Widersprüchen. Was für den Brecht der zwanziger Jahre, den 127
Brecht der Macbeth-Worrede,'noch unvereinbar schien, ist für den Brecht der Co«ö/a«-Bearbeitung gelöst. Freilich hebt sich durch die sehr unterschiedliche Ausgangsposition der beiden Dramatiker der Widerspruch nie gänzlich auf. Es bleibt da immer noch ein Widerspruch, allerdings ein produktiver. Nur insofern hat Michel Zeraffa recht, wenn er schreibt: „Brecht und Shakespeare sind Gegensätze, aber Gegensätze, die nach einander verlangen und sich wechselseitig erklären." 177 Die Literatur der französischen Aufklärung Wesentlich anders als zur fernöstlichen und zur antiken Literatur, auch zu Shakespeare, gestaltete sich der Traditionsbezug Brechts zur französischen Aufklärung. Literarische Stoffe entlehnte er hier kaum. Zwar ließ er sich von den Zwiegesprächen in Diderots Jacques le fataliste et son maitre (Jakob der Fatalist) zu den Flüchtlingsgesprächen anregen, aber sonst sind die Anleihen selten. Und dennoch ist Brecht mit kaum einer Phase der vorsozialistischen europäischen Literaturentwicklung als Ganzes so einig gewesen wie mit der französischen Aufklärung. Auch dafür gibt es viele Gründe. Von der Literatur einer aufsteigenden Klasse versprach sich Brecht wertvolle Fingerzeige für die eigene Arbeit. In der französischen Aufklärung sah er die wichtigsten Quellen der revolutionären bürgerlichen Ästhetik. Wenn sich Brecht in den dreißiger Jahren mit dem Plan trug, eine Diderot-Gesellschaft zu gründen, so verfolgte er damit zwar ganz bestimmte theaterpraktische und theatertheoretische Absichten, aber die Verbindung dieser geplanten Gesellschaft mit dem Namen Diderot wies auch auf die verwandte Kampfposition hin, in die sich die Aufklärer zu ihrer und Brecht zu seiner Zeit gestellt sahen. Die Aufklärung etablierte eine neue Vorstellung von Literatur und Poesie. Sie nahm der bisherigen Poesie ihre anmaßende, sakrale Selbstgefälligkeit, indem sie die Literatur und Philosophie in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts stellte. Im Kampf gegen den religiös gestimmten dichterischen Enthusiasmus stützte sich die Aufklärung auf die Wissenschaften, verbündete sie sich mit 128
den Naturwissenschaften. Die Wissenschaftsfreundlichkeit der Aufklärung war für Brecht ein Gesichtspunkt, dem sein andauerndes Interesse galt. Der „esprit universelle" dieser Epoche konstituierte einen Literaturbegriff, der mehr oder weniger alles erfaßte, was in Wort und Schrift gegen das religiöse Denken und die kirchlichen Dogmen gerichtet war. In einem Staat, in dem Religion und Absolutismus eine Einheit bildeten, nahm eine nach antireligiösen Gesichtspunkten formierte Literatur einen unmittelbar politischen und kämpferischen Charakter an. Die Affinität Brechts zu diesem Literaturbegriff darf jedoch nicht vereinfacht werden. Sosehr Brecht das wissenschaftliche Denken auch in die Kunst eingeführt wissen wollte, so sehr bestand er jedoch auch darauf, daß Wissenschaftsgegenstände in der Kunst mit Kunst vorgetragen werden. Deshalb sein Bemühen, alle Elemente poetischer Artistik aufzuspüren. Ohne Zweifel gaben ihm hier die Werke der französischen Aufklärungsliteratur, insbesondere die Diderots, anregende Muster und wichtige Fingerzeige. Aber im Interesse der Einheit von Lehrhaftem und Poetischem war Brecht bestrebt, möglichst viele Anregungen und Muster auszunutzen, damit Kunst nicht nur Erkenntnis, sondern mit der Erkenntnis auch ästhetischen Genuß verschaffe. Deshalb suchte er die französischen Vorbilder mit denen der alten chinesischen und antiken griechischen und römischen Literatur zu verbinden. Was Brecht am Literaturbegriff der französischen Aufklärung interessierte, war nicht nur die Wissenschaftsfreundlichkeit, sondern die damit verbundene Erweiterung des Literaturbegriffs und die Aktivierung der Literaturfunktion. Hierbei ging es nicht um ein terminologisches Problem, sondern um die Erweiterung des Kampffeldes der Literatur. Ähnlich wie die Aufklärer kämpfte Brecht in seiner Zeit gegen einen eingeengten, mystisch interpretierten Dichtungsbegriff, der die Literatur politisch entmündigte und von den gesellschaftlichen, Kämpfen abriegelte. Brecht polemisierte gegen den spätbürgerlichen Literaturbegriff, der vom Geniekult und vom intuitiven Erfassen „höherer" Vorgänge geprägt war. Gegen diesen spätbürgerlichen Literaturbegriff und die damit vertretene Auffassung von dem, was Literatur ist, mobilisierte Brecht die ver9
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schiedensten literarischen Traditionen und die unterschiedlichsten außerliterarischen Gebiete. Sein vielleicht wichtigster B u n d e s g e n o s s e innerhalb der weltliterarischen Traditionen war die französische A u f k l ä r u n g . Wie die französischen Aufklärer, so mußte sich Brecht gegen die Übermacht der großen literarischen Muster wehren. In den Theorien und Streitschriften D i d e r o t s erblickte Brecht eine A r t Feldzugsplan, wie N e u e r u n g e n vorbereitet und in die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens eingeführt werden müssen. Ü b e r die Beziehung Brechts zu D i d e r o t sagt Fradkin : „ I n der Ästhetik der A u f k l ä r u n g liegen die Wurzeln der Theorie des .epischen Theaters' . . . Bannerträger der Theatertradition der A u f k l ä r u n g war f ü r Brecht vor allem Denis D i d e r o t . " 1 7 8 I m K a m p f g e g e n die klassische „ M u s t e r p o e t i k " , g e g e n die Übermacht des ständig reproduzierten A n sehens der Antike entwickelten die Aufklärer, v o r allem D i d e rot, das Kriterium des „ideellen M o d e l l s " . D e r M o d e l l gedanke richtete sich gegen die bisherige Kritikfeindschaft und die Diktatur der klassischen Musterpoesie. D i d e r o t , der seine Vorstellung v o m „ideellen M o d e l l " in der Vorrede des Salons von 1161 und im Paradox über den Schauspieler darlegte, g i n g d a v o n aus, daß der Künstler in seinem Schaffensprozeß nicht nur ein „äußeres M o d e l l " , also nicht nur die N a t u r nachahme, sondern auch ein Modell im Verstand, eben ein „ideelles M o d e l l " sichtbar mache. D i e U m w a n d l u n g des äußeren Modells zu einem Modell „purement idéal", die sich bei D i d e r o t auf der Basis seines materialistischen D e n k e n s vollzog, ist ein zentrales Problem seiner ganzen Ästhetik. Wenn hier auch nicht der O r t ist, diese weitgespannten theoretischen Überlegungen D i d e r o t s mit der Abbildtheorie Brechts zu vergleichen, so fällt doch die Affinität zu der K a m p f position Brechts, insbesondere g e g e n den v o n L u k ä c s propagierten F o r m e n k a n o n des 19. Jahrhunderts und dessen A b bildtheorie, auf. Wie D i d e r o t wandte sich auch Brecht g e g e n die sklavische A b b i l d u n g der Wirklichkeit. Wie dieser zwischen äußerem Modell und d e m „ideellen M o d e l l " unterschied, s o legte auch Brecht Wert auf die Widersprüchlichkeit zwischen A b b i l d und Abgebildetem. D e r lebendige, unverwechselbare Mensch, bemerkte Brecht, dürfe im A b b i l d mit „seinesgleichen 130
nicht ganz gleich" sein, und das geschehe, indem dieser Widerspruch im Abbild gestattet werde. Das Abbild müsse, wie bei einer Porträtskizze, noch um sich herum die Spuren anderer Bewegungen und Züge aufweisen. „Die Abbildungen müssen nämlich zurücktreten vor dem Abgebildeten, dem Zusammenleben der Menschen", notierte Brecht im Kleinen Organon,179 Die Widersprüchlichkeit zwischen Abbild und Abgebildetem diente bei Brecht dazu, das Natürliche, das Selbstverständliche für den Rezipienten auffällig zu machen; denn nur auf diese Weise können die Gesetze von Ursache und Wirkung zutage treten. 180 Die geistigen Beziehungen Brechts zu Diderot sind viel zu zahlreich, als daß sie hier alle nachgezeichnet werden könnten. Insbesondere auf dem Gebiet des Theaters, das für Diderot wie für Brecht eine Stätte der Humanität, eine Stätte der Erziehung und der Unterhaltung war, gibt es viele Berührungspunkte. Zu den Problemen, die nicht nur bei Diderot oft falsch verstanden, sondern die auch in eine falsche Beziehung zu Brecht gerückt wurden, gehört die Forderung Diderots nach Darstellung der „conditions" und nicht der „caractères" auf der Bühne. Diderot wurde oft dahingehend interpretiert, als ob seine Forderung zwar das Selbstbewußtsein der aufsteigenden bürgerlichen Klasse zum Ausdruck bringe, ästhetisch aber nicht haltbar sei. Da sich Brecht gegen die spätbürgerliche Charaktergestaltung wandte und forderte, „Verhaltensweisen" darzustellen, läuft der Vergleich zwischen Diderot und Brecht leicht darauf hinaus, zu zeigen, daß Diderots Forderung nach der Darstellung der „conditions" ebensowenig wie die Brechts nach „Verhaltensweisen" künstlerisch auf die Dauer nicht befriedigen könne. Im Hinblick auf Brecht kann dieses Problem nun als geklärt betrachtet werden. Brecht verwarf nicht die Forderung nach der Darstellung von Charakteren, er verwarf nun den psychologisierten, aller gesellschaftlichen Momente entleerten „Charakter". Die Gestaltung von Verhaltensweisen diente ihm dazu, den Charakteren in stärkerem Maße gesellschaftliches „Material" zuzuführen, damit der Mensch, der künstlerisch gestaltete Charakter, als wirkliches Ensemble gesellschaftlicher Kräfte begriffen werden konnte. Im Hinblick auf Diderot weisen die Autoren des Buches Französische Aufklärung, bürgerliche Uman9*
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vjpation, Uteratur und Bewußtseinsbildung darauf hin, daß zwischen Diderots Forderung nach Darstellung der „conditions" auf der Bühne und den Ausführungen von Marx über die Verwandlung der politischen Stände in soziale Stände ein direkter Zusammenhang besteht. Marx legte dar, daß die Verwandlung der politischen Stände in bürgerliche in der absoluten Monarchie vor sich ging, aber erst die Französische Revolution die Verwandlung der politischen Stände in soziale Stände vollendete. Auf diese Weise wurden alle Ständeunterschiede zu sozialen Unterschieden. Die Autoren schreiben: „Auf dem Hintergrund der Ausführungen von Marx über die Trennung der bürgerlichen von der politischen Gesellschaft erhält die Diderotsche Forderung nach Darstellung der .Conditions' auf der Bühne eine ganz neue Beleuchtung. Indem diese Forderung das Leben der .bürgerlichen Gesellschaft' in den Mittelpunkt stellt, reflektiert sie den historischen Prozeß der .Verwandlung der p o l i t i s c h e n Stände in b ü r g e r l i c h e ' , den die absolute Monarchie begonnen hat, aber erst die Revolution vollenden wird. In diesem Sinne tendiert Diderots Forderung und die Praxis des bürgerlichen Dramas auf eine ideelle Antizipation der erst von der Revolution geschaffenen Bourgeoisgesellschaft. Gleichzeitig antwortet sie auf die Auflösung der Einheit von Individuum und Stand, indem sie die neuentstandenen und immerzu neu entstehenden ,sozialen Existenzweisen des Menschen' (Marx) bewußt macht. Nicht traditionelles Standesbewußtsein, sondern alle Formen der Entwicklung innerhalb von Familie, bürgerlicher Gesellschaft (im Sinne der Marxschen Frühschriften) und Staat sollen mit dieser Losung zur Darstellung gebracht werden." 181 Auf die französische Aufklärung griff Brecht auch zurück, als er in den dreißiger Jahren mit dem Cäsar-Roman und dem Tw'-Roman daran ging, einen neuen Romantypus in der deutschen Literatur zu etablieren. Es wurde schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß Brecht sich damit gegen die Vorherrschaft jenes Romantypus wandte, wie ihn der kritische Realismus prägte, mit weitverzweigten Handlungslinien, breit angelegten Charaktergemälden, mit einer Fülle von psychologischem Material, mit Stimmungen, Nuancen, Atmosphäre. Als Modell für sein Vorhaben schien Brecht die Erzählform und 132
die Erzähltechnik, die sich in der französischen Literatur zu Beginn des 18. Jahrhunderts herausbildete, sehr geeignet. Diese neue Erzählweise war vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie die Ich-Form in viel stärkerem Maße gegenüber der dritten Person bevorzugte, daß sie sich auf die Memoiren-, Brief- oder Dialogform stützte. Die Verbindung von Prosa und Dialog, die Diderot zu einem Höhepunkt der literarischen Gestaltungskunst im 18. Jahrhundert entwickelte, ermöglichte eine größere philosophisch-wissenschaftliche Erörterung; der Widerstreit der Meinung in der öffentlichen Diskussion konnte ohne allzu umständliche Handlungsführung und Motivierung in den Roman hereingenommen werden. So bildeten die französischen Aufklärer die Form des Prosadialoges aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit heraus, eine neue Meinung vorzutragen und durchzusetzen. Dabei kam ihnen eben eine Form sehr gelegen, die nicht nur gestattete, Argumente vorzutragen, sondern zugleich auch schon mögliche Gegenargumente zu widerlegen. Die aus revolutionären Kampfsituationen hervorgegangenen Literaturformen schienen Brecht für seine eigenen politischen Zwecke außerordentlich brauchbar. Doch gelang es ihm nicht, den von ihm erstrebten Romantypus durchzusetzen. Die Verbindung zu der Romantradition des 18. Jahrhunderts war seit langem unterbrochen. Der Brechtsche Versuch muß als gescheitert angesehen werden.
Die deutsche Klassik Während die Antike, Shakespeare, auch die Aufklärung als für Brecht ganz selbstverständliche, zumindest sehr einleuchtende Traditionen angesehen werden, ist das bei der deutschen Klassik nicht der Fall. Dabei hat sich Brecht in seinem Leben immer wieder mit der deutschen Klassik beschäftigt. Selbst die direkten, stofflichen Bezüge, zum Beispiel zu Schiller, sind so häufig wie kaum für einen anderen Traditionsbereich und erstrecken sich über seine gesamten Schaffensjahre. Ohne Zweifel ist es das kritische Verhältnis zur deutschen Klassik gewesen, das zu der Auffassung verführte, die sich noch immer hartnäckig hält: Brecht hat mit der deutschen Klassik nichts 133
anzufangen gewußt, es sei denn zu parodistischen Zwecken. Wenn Hanns Eisler sagt, Brecht beziehe sich nicht auf Goethe, er „überspringe die Klassik" und knüpfe an Luther, an die echte Volkssprache an, 182 so mag das in Hinsicht auf die Formung der Brechtschen Literatursprache richtig sein, wenn auch zu dieser These einige Einschränkungen angemeldet werden müssen. Für die Entwicklung des literarischen Werkes in seiner Gesamtheit aber trifft die Eisler-These nicht zu. Ernst Schumacher formulierte seine Meinung gleich zu Beginn seines Aufsatzes Brecht und die deutsche Klassik. Zu einigen Aspekten des theoretischen Verhältnisses zusammenfassend: „Es zeigt sich, daß die Aufhebung klassischer Positionen durch Brecht nicht so weit vom Geist der Klassiker entfernt ist, wie es bei einer oberflächlichen Betrachtung scheinen mochte und mag." 183 Die Haltung Brechts zur deutschen Klassik ist im Gesamtzusammenhang dieses Buches so wichtig, daß es gerechtfertigt erscheint, die Darlegungen darüber in einem gesonderten, größeren Abschnitt zu analysieren. Dabei wird dann auch zu prüfen sein, inwieweit der Auffassung Ernst Schumachers zugestimmt werden kann.
Die bürgerliche Literatur des 20. Jahrhunderts Zur Literatur des 20. Jahrhunderts verhielt sich Brecht als Zeitgenosse. Sein Verhältnis zu ihr muß hier mit erörtert werden, aber es ist nicht eigentlich ein Verhältnis zur Tradition. Wie an anderer Stelle schon ausführlicher dargestellt wurde, rückte Brecht die bürgerliche Literatur seines Jahrhunderts in eine außerordentlich kritische Sicht. Nur wenige Autoren und Werke ließ er gelten. Es sind vor allem zwei Namen, die er über die verschiedenen Phasen seines Lebens hinweg immer schätzte: Alfred Döblin und Georg Kaiser. Fritz Sternberg erinnerte sich, daß ihm Brecht um 1930 erklärte: „Er habe zwei uneheliche Väter: der eine sei Georg Kaiser, der andere Alfred Döblin. Diesen beiden und Lion Feuchtwanger fühle er sich verpflichtet für die Ausarbeitung seiner eigenen Anschauungen über das epische Drama." 184 Döblins frühes Werk war für Brecht interessant wegen der epischen Erzählkultur, die 134
Döblin auch-verstand, theoretisch zu erläutern und zu analysieren. Bei Brecht haben diese theoretischen Bekenntnisse Döblins, die in dessen Gesamtwerk kaum eine Rolle spielen und ganz ohne Folgen geblieben sind, einen tiefen, bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Verbundenheit zu Döblin war so groß, daß Brecht sich gegenüber diesem Dichter auch noch aufgeschlossen zeigte, als er einem penetranten Katholizismus zu huldigen begann und sich an sozialen Fragen desinteressiert zeigte. Das erstaunt, weil bei Brecht in einem solchen Falle meist die Freundschaft aufhörte. Aber auch in den frühen Jahren war das Verhältnis zu Döblin eine merkwürdige Mischung von Kritik und Bewunderung, wobei stets die Bewunderung überwog. Während er einerseits durchaus erkannte, daß die Werke Döblins mehr mit „reiner Kunst" als mit einer engagierten Literatur zu tun hatten, konnte er andererseits den Wallenstein loben, ohne zugleich die mystische, undialektische Position des Werkes zu kritisieren. In den zwanziger Jahren schrieb Brecht, eigentlich gehe Döblin die jungen Leute schon nichts mehr an, seine Werke würden sich allzuschnell vergessen. Er selbst vergaß Döblin nicht, wie die kleine, ganz ungewöhnliche Feier bewies, die Brecht für Döblin im amerikanischen Exil veranstaltete. Selbst die religiöse, mystisch übersteigerte Rede, die Döblin hier hielt, nahm Brecht, wenn auch verdrossen, hin. Für gewöhnlich verließ Brecht bei solchen Reden den Raum. Im Gegensatz zu Döblin hat Brecht bei Kaiser trotz aller Wertschätzung an dessen idealistischer, individualistischer Grundposition stets unnachsichtig Kritik geübt. Wenn man die allgemeine Lebenshaltung der beiden Dichter vergleicht, ist es überhaupt verwunderlich, warum sich Brecht so interessiert an Kaiser zeigte. Kaisers irrationale Angst vor dem einfachen Leben war für Brecht nicht nur ein Lebensgefühl, das er nicht verstand, sondern das er tief verachtete. Auch Kaisers Geniekult-Auffassung war ihm zuwider. Die Auffassung von der Sinnlosigkeit der Geschichte, die Kaiser in seinem Aufsatz Historien/reue beschrieb, hat Brecht in keiner Phase seines Lebens geteilt. Hier muß man Ernst Schürer widersprechen, der in seiner Untersuchung Georg Kaiser und Bertolt Brecht meinte, daß auch der junge Brecht diesen Irrationalismus be135
jaht und keinen Sinn in der Weltgeschichte gesehen habe.185 Worin aber sah Brecht in Georg Kaiser einen Vorläufer seines epischen Theaters? In einem Gespräch mit Herbert Jhering führte Brecht aus: „Ja, Kaiser ist auch Individualist. Aber doch gibt es etwas in seiner Technik, was zu seinem Individualismus nicht paßt und was also für uns paßt. So etwas, daß man technischen Fortschritt bemerkt, wo man sonst keine Fortschritte mehr bemerkt, kommt nicht nur im Drama vor. Die Fordsche Fabrik ist, technisch betrachtet, eine bolschewistische Organisation, paßt nicht zum bürgerlichen Individuum, paßt besser zur bolschewistischen Gesellschaft. So verzichtet Kaiser für seine Technik schon auf das große Shakespearische Hilfsmittel der suggestiven Wirkung, die zustande kommt wie bei der Epilepsie, . . . Aber Kaiser war doch da schon viel weiter (als Lampel — Revolte im Erziehungshaus — W. M.). Er hat schon eine Zeitlang in den Theatern jene ganz neue Haltung des Publikums ermöglicht, jene kühle, forschende, interessierte Haltung, nämlich die Haltung des Publikums des wissenschaftlichen Zeitalters."186 Was Brecht an den Werken Kaisers gefiel, war der technische Aufbau, die epische Struktur seiner Stücke. Kaiser führte menschliche Verhaltensweisen vor und lieferte diese dem Publikum zur Beurteilung aus. Der Verzicht auf das Suggestive, die Vorliebe für das Modellhafte, Demonstrierende seiner Dramen trugen ihm den Namen „Denkspieler" ein. In diesen Eigenschaften der Kaiserschen Dramentechnik erblickte Brecht wertvolle Aufschlüsse für den Aufbau eines neuen, nichtaristotelischen Dramas. Weit skeptischer war Brecht jedoch, wenn Kaiser die theoretischen Grundlagen dieser Dramentechnik erläuterte. So sah Kaiser im sokratischen Dialog das Vorbild des Dramas schlechthin. Die formale Ideendialektik, wie sie Kaiser in seiner theoretischen Schrift Das Drama "Piatons erläuterte („. . . das Ja überspringt das Nein zu vollem Ja"), war wiederum Brechts Sache nicht. Etwas verächtlich bemerkte Brecht, daß Kaiser von Piaton gelernt habe," daß Reden schön sei, deshalb nannte er ihn auch den „redseligen Wilhelm des deutschen Dramas". 187 Brechts Vorstellung vom Theater war von Anfang an viel zu sehr auf das Gestische, das Körperliche des Schauspielers orientiert, als daß er bei aller Freude am Denken die Absage Kaisers an die 136
„karge Schau-Lust" vorbehaltlos geteilt hätte. Seit dieser Zeit wurde Brechts Haltung zu Kaiser eher kritischer. Er attackierte sarkastisch dessen Idealismus, aber die Wertschätzung der technischen Neuerungen im Werk Kaisers blieb. In der schon genannten Schrift berichtete Ernst Schürer, daß Georg Kaiser 1927 Brecht als Kandidat für die Preußische Akademie der Künste nominierte, „da er als Einziger Brecht vorschlug, blieb sein Versuch, diesen als Mitglied zu gewinnen, ohne Erfolg". 1 8 8 Kaiser hat sich auch später über Brecht mit großer Hochachtung geäußert, so schrieb er 1943 an seinen Freund Julius Marx in Zürich über Brechts Stück Der gute Mensch von Se^uan: „Haben Sie sich im Schauspielhaus Brechts Stück angesehen? Ich las es hier und bin bezaubert. Das ist eine Dichtung, die mitVertrauen erfüllt. Wenn man das könnte. Oder sehen Sie sich die Aufführung nicht an — Sie würden nie wieder einen Federstrich tun. Ein großer Dichter lebt in dieser Nachzeit — und das ist Bert Brecht. Amen." 1 8 9 Und in einem zweiten Brief hieß es: „Ich las Brechts guten Menschen von Sezuan wieder und geriet wie früher in Entzückung über dies vollkommene Werk." 1 9 0 Kompliziert ist das Verhältnis Brechts zu jenen bürgerlichen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, deren Werke zur Konstituierung des Modernismus verwendet wurden. So vor allem zu James Joyce, Marcel Proust, Franz Kafka. Kompliziert ist das Verhältnis in zweifacher Hinsicht: Einmal verhielt sich Brecht zu diesen Dichtern rein technisch; was er an ihnen schätzte, war ihre hochentwickelte literarische Technik und sonst nichts. Z u m anderen nahm er diese Schriftsteller in Schutz, weil sie von Georg Lukacs zu Prototypen der Dekadenz erklärt wurden. So wie Lukacs auf der einen Seite ausgewählte realistische Werke des 19. Jahrhunderts als die „großen Muster" herausstellte, erklärte er auf der anderen Seite wiederum einige Werke der spätbürgerlichen Literatur zum Prototyp der Dekadenz. Auf diese Weise entstand die Lukäcssche Dekadenzkonstellation, die er vor allem durch die Namen Joyce, Proust und Kafka markierte. Was Lukacs diesen Dichtern vorwarf, zielte nicht in erster Linie auf ihre hochgradige Verstrickung in der kapitalistischen Entfremdung, sondern auf ihre Schreibweise, auf die von ihnen verwendeten 137
Techniken wie Verfremdung, Montage usw. Gerade in diesen Techniken aber erblickte Brecht einer wichtigen Beitrag auch für die Entwicklung der sozialistischen Literatur. Wie schon im Fall von Georg Kaiser vertrat er die Meinung, daß diese Techniken für einen Schriftsteller, der etwas vom literarischen Handwerk versteht, von ihrem spätbürgerlichen, unbrauchbaren Inhalt ablösbar sind. Auf diese Weise könnten einige Techniken für neue gesellschaftliche Zwecke brauchbar gemacht werden. Was bisher der Verdunklung gesellschaftlicher Zusammenhänge diente, könne nunmehr zu ihrer Aufhellung benutzt werden. Über die Schwierigkeiten eines solchen Verfahrens war sich Brecht durchaus klar. Auch bedeutete sein Vorschlag nicht, daß literarische Techniken als „neutral", als „wertfrei" behandelt werden müßten. Literarische Techniken entwickelten sich bei der Formung gesellschaftlicher Inhalte, aber einmal herausgebildet, blieben sie nicht dem Inhalt untrennbar verhaftet. Als Techniken erkannt und behandelt, waren sie handhabbar für die verschiedensten gesellschaftlichen Zwecke. Da Brecht an Joyce, Proust und Kafka nur ihre technische Kultur schätzte, da er sie ausschließlich vom technischen Standpunkt betrachtete, sah er auch keine Veranlassung, näher auf ihre weltanschauliche Position einzugehen. So findet man bei Brecht zu diesen Schriftstellern außer der Wertschätzung ihrer Technik meist kein weiteres kritisches Wort. (Nur zu Franz Kafka gibt es einige wenige Bemerkungen, die auf die weltanschauliche Position zielen.) Das hat zu dem Eindruck geführt, als ob diese Dichter für seine Entwicklung sehr entscheidend gewesen seien. Das jedoch ist ganz und gar nicht der Fall. So paradox es auch klingt: Er kannte diese Dichter kaum. Die Kenntnis über ihre Technik hatte sich Brecht informativ verschafft. Auch verstand er in Büchern zu „blättern", um sich ihre literarische Machart, ihre Technik bewußt zu machen. Wie wenig Brecht zu bewegen war, den umfangreichen Roman von Joyce oder gar das große Romanwerk von Proust A la recherche du temps perdu zu lesen, darüber berichtet Hanns Eisler: „Selbst auf mein dringendes Bitten hat er nicht Proust gelesen, sondern ließ sichs referieren. In ,Ulysses' von Joyce hat er hineingeschaut — wegen der Technik." 191 Wenn Brecht Joyce, Proust und Kafka gegenüber Lukács ver138
teidigte, so war damit keineswegs deren ästhetische Grundposition oder gar die Weltanschauung gemeint; was Brecht mit den Namen dieser Dichter verteidigte, war das künstlerische Experiment. Die Ablehnung des Lukäcsschen Dekadenzbegriffs durch Brecht bedeutet jedoch nicht, daß für Brecht das Problem der Dekadenz gar nicht bestanden habe. Er lehnte nur die formalistische Bestimmung der Dekadenz ab. In der Beurteilung wirklich dekadenter Dichter, wie zum Beispiel Stefan George, war er weit unnachsichtiger als Lukäcs. Diese Konsequenz in der Wertung hinderte ihn andererseits nicht, sich polemisch gegen allzu vereinfachte Fragestellungen und schematische Schlußfolgerungen zu wenden. So wurde in den fünfziger Jahren oft dargelegt, daß man der Arbeiterklasse alles an großer Kunst in die Hände geben könne. Diese Behauptung schloß ein, daß die spätbürgerlichen, modernistischen, dekadenten Werke nicht als Kunst gelten. Gegen eine solche Vereinfachung polemisierte Brecht. In einer Diskussion mit dem Kunsthistoriker Walter Besenbruch machte Brecht am Beispiel des Werkes von Paul Claudel klar, daß man dieses gegenwärtig keineswegs der Arbeiterklasse mit gutem Gewissen in die Hände geben könne, obwohl es große Kunst sei. Er würde sich, wenn es gesellschaftlich erforderlich sei, durchaus nicht scheuen, auch große Kunst zu verbieten. Aber nicht alles, was nicht dem Fortschritt diene, sei deshalb ohne große Kunst gemacht. 192 Auch das Phänomen der Dekadenz empfahl Brecht historisch zu betrachten, und zwar im Hinblick auf die Gegenwart wie auf die Zukunft. Es schien ihm durchaus möglich, daß man auch aus dekadenten Werken Nutzen ziehen könne. Dazu aber seien subjektive wie objektive Voraussetzungen nötig. Nicht nur, daß Werke dieser Art vom Rezipierenden mit so viel historischem Sinn und politischem Bewußtsein aufgenommen werden müßten, daß die Wirkungen überschaubar blieben, auch objektive gesellschaftliche Faktoren dürften dabei nicht außer acht gelassen werden. Brecht schrieb dazu: „Die Gesellschaft muß einen sehr hohen Stand erreicht haben, das heißt sehr viel mit wenig Mühe produzieren können, daß Kunstwerke ausweglose Verzweiflung ausdrücken dürfen und damit kleinere Verstimmungen einzelner beseitigen . . . Es 139
gibt aber einen sehr hohen Stand der Kunstkennerschaft, bei der noch unschädlicher Genuß aus Werken leichtsinniger oder törichter Meisterschaft gezogen werden kann. Und selbst ein wenig schädlicher Genuß mag sich lohnen. Bei hohem politischem Bewußtsein können sogar asoziale Kunstwerke genossen werden. Jede Epoche muß wenigstens soviel historischen Sinn aufbringen, daß sie auf weitere Entwicklung gefaßt ist und Werke, die rein technische Merkmale der Kunstfertigkeit aufweisen, aufhebt. Keine Regierung darf sich durch den Kunstwert eines Werkes einschüchtern lassen, sein Gift freizusetzen. Wehe ihr allerdings, wenn sie Medizin für Gift hält !" 193 Die sozialistische Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre In den zwanziger Jahren erklärte Brecht, daß ihn fortan die Anstrengungen für eine bürgerliche Literatur nicht mehr interessierten. Seine Aufmerksamkeit galt der sich entwickelnden sozialistischen Literatur und Kunst. Vor allem drei Quellen und Bestandteile der sozialistischen Weltkunst dieser Jahre waren es, mit denen er sich intensiv beschäftigte, denen seine Aufmerksamkeit und sein Beistand galten: Jaroslav Haseks Schwejk, Piscator und die revolutionär-proletarische Kunst in Deutschland sowie die sowjetische Revolutionskunst. Haseks Schwejk, von Brecht als eine „klassische Erzählung" 194 bezeichnet, bejahte er als Ganzes. Hier fand er nicht nur neue technische Elemente, eine epische Erzählweise, in der eine große Fabel in kleinen, relativ selbständigen Stücken vorgetragen wurde, sondern vor allem die Sicht von unten, die „Eigenwilligkeit" der kleinen Leute, zu überleben und wie daran die Pläne der Großen scheitern. An der Schwejk-Figur lobte Brecht: „. . . das helle Auge des Unterdrückten dem Unterdrücker gegenüber, mit dem er leben muß, jenes feinfühligste Abtastungsvermögen seiner Schwächen und Laster, profunde Kenntnis seiner (des Gegners) realen Bedürfnisse und Verlegenheiten, die ständige, wache Einkalkulierung des Unberechenbaren, Imponderablen und so weiter." 195 Brecht hat den Schwejk zweimal auf die Bühne gebracht. Das erste Mal 140
im Jahre 1928 für die Piscatorbühne. Damals lag Piscator eine völlig unbrauchbare Dramatisierung in der Art eines Soldatenschwanks von MaxBrod und Hans Reimann vor. Brecht erbot sich, in kurzer Zeit eine neue Fassung herzustellen, die dann unter den Namen von Brod und Reimann, die die Rechte besasaßen, aufgeführt wurde. 1943 schrieb Brecht ein eigenständiges Stück über diese große Figur, Schwejk im %weiten Weltkrieg. Nunmehr erfaßte er die Gestalt, wie er selbst schrieb, „erheblich schärfer", ohne ihr die plebejischen Züge, die Züge des „kleinen Mannes" zu nehmen, der noch nicht weiß, ob er auf Hitler schießen oder scheißen soll. Aber nicht nur in diesen beiden Arbeiten bediente er sich der großen Gestalt Haseks. Als er den Puntila fertiggestellt hatte, vermerkte er in seinem Arbeitsjournal, der Ton des Puntila sei nicht original, es sei Haseks Ton im Schwejk, den er auch schon in der Mutter Courage benutzte.196 Brecht beklagte einmal, daß weder die bürgerliche Literatur seit dem 19. Jahrhundert noch die sozialistische Literatur so große, im Gedächtnis der Menschen fortdauernde Gestalten wie den Don Quichote, den Don Juan, den Faust und Mephisto geschaffen habe. Sein Lob und seine Verehrung für Haseks Schwejk widerlegen jedoch diese Bedenken. Ein Jahr vor seinem Tode schrieb Brecht: „Wenn man mich auffordern würde, aus der schönen Literatur unseres Jahrhunderts drei Werke auszuwählen, die meiner Meinung nach der Weltliteratur angehören werden, wählte ich als eines davon Haseks .Abenteuer des braven Soldaten Schwejk'." 197 Über den Einfluß von Piscator und die Agit-Prop-Kunst der revolutionären Arbeiterklasse ist in anderen Büchern schon soviel geschrieben worden, daß hier ein Hinweis genügen mag. 198 Piscators Theaterexperimente, an denen Brecht mitarbeitete, bildeten für ihn das erste praktische wie theoretische Prüffeld für seine Vorstellung vom epischen Theater. Immer wieder hat Brecht betont, was er Erwin Piscator verdankt. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß ihre Wege zur Realisierung eines mit der revolutionären Arbeiterklasse verbundenen Theaters seit Ende der zwanziger Jahre verschieden verliefen. Brecht stützte sich damals auf die kleinen Agit-PropSpieltrupps der Kommunistischen Partei und ihrer Organisa141
tionen. In der Eigenart dieser Spieltrupps sah er eine Fundgrube neuer technischer Mittel und Möglichkeiten. Auch hier bewunderte er die ständig neu gesuchte und gefundene Verbindung von Belehrendem und Unterhaltendem. Für Brecht war die Arbeit mit den proletarischen Spieltrupps keine zeitweilige Episode. Nach der Zerschlagung der Arbeiterorganisationen durch den Faschismus suchte er im Exil, mit dänischen Arbeiterspieltrupps, wieder an die Erfahrungen aus der Zeit vor 1933 anzuknüpfen (Dausen; Was kästet das Eisen?). In den fünfziger Jahren machte Brecht den Vorschlag, sich wieder der Vorzüge und Vorteile der kleinen Form der Agit-PropKunst zu erinnern. Dieser Vorschlag bildete den Anstoß für das didaktische Theater, das sich in der Deutschen Demokratischen Republik entwickelte und zu interessanten Stücken und Experimenten führte. Wie Johannes R. Becher, so hat auch Brecht eine wunderbare Laudatio auf die Agit-Prop-Kunst geschrieben: „Die sogenannte Agitpropkunst, über die nicht die besten Nasen gerümpft werden, war eine Fundgrube neuartiger künstlerischer Mittel und Ausdrucksarten. In ihr tauchten längst vergessene großartige Elemente echt volkstümlicher Kunstepochen auf, den neuen gesellschaftlichen Zwecken kühn zugeschnitten. Waghalsige Abkürzungen und Komprimierungen, schöne Vereinfachungen; da gab es oft eine erstaunliche Eleganz und Prägnanz und einen unerschrokkenen Blick für das Komplexe. Manches mochte primitiv sein, aber die Primitivität war doch nie von der Art Primitivität, an der die scheinbar so differenzierten Seelengemälde der bourgeoisen Kunst litten." 199 Ohne den Einfluß der jungen Sowjetkunst ist das Werk und die Entwicklung Brechts nur schwer vorstellbar. Was ihn an dieser Kunst anzog, waren weniger einzelne technische Mittel und Methoden — obwohl diese Einflüsse auf das Brechtsche Werk sehr weitgreifend waren — als mehr die Übereinstimmung, die Gemeinsamkeit in den Absichten, in dem, was Theater und Literatur in dieser neuen Zeit leisten mußte und zu leisten imstande war. Deshalb ist der Streit, wer diese oder jene Elemente zuerst anwandte, wo die Verfremdung zuerst methodisch herausgearbeitet wurde, bei Brecht oder bei den sowjetischen Theaterpionieren, völlig sekundär. 142
In Majakowski, in Meyerhold, Tretjakow, Wischnewski sah Brecht verwandte Künstler, die wie er die Kunst auf neue gesellschaftliche Zwecke orientierten. „In der Tat", schreibt Käthe Rülicke-Weiler, „ging von der jungen Sowjetkunst d e r Einfluß auf Brecht aus, der entscheidend für seine Verbindung mit der Kunst s e i n e r Gegenwart war. Er unterscheidet sich von den Einflüssen des elisabethanischen Theaters oder denen des Sturm und Drang insofern, als ihm nicht zuerst widersprochen werden mußte. Brecht konnte Errungenschaften der proletarischen Kunst direkt aufnehmen und für sein Theater weiterführen, selbstverständlich unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland und der ihr entsprechenden Aufgabenstellung . . . Von Besuchern gefragt, welche sowjetischen Künstler Einfluß auf seine Arbeit hatten, nannte Brecht die Namen von Eisenstein, Majakowski und Meyerhold." 200 Ein weiterer Name muß hier besonders hervorgehoben werden, der von Sergej Tretjakow, mit dem Brecht eine herzliche Freundschaft und enge Zusammenarbeit verband. Tretjakows literarische Arbeit war tief verwurzelt in den großen gesellschaftlichen Umwälzungen nach der Oktoberrevolution. Die Revolution bestimmte seine Schreibweise, prägte seine literarische Technik wie seine Vorstellung von der neuen Funktion der Literatur. Die Revolution machte aus ihm einen „erfinderischen Aktivisten" der sozialistischen Literatur. Diese Eigenschaften veranlaßten Brecht, in Tretjakow seinen Lehrer zu sehen. In den dreißiger Jahren übersetzte Tretjakow mehrere Gedichte und Stücke Brechts ins Russische. In einer Porträtskizze machte er das sowjetische Publikum mit der Eigenart des Werkes von Bertolt Brecht bekannt. In seinem Essay über Tretjakow schreibt Fritz Mierau: „Tretjakow beschränkte sich auch als Übersetzer nicht auf die Reproduktion des Vorliegenden. In seinen Briefen an Brecht legte er Wert auf exakte Schilderung sozialistischer Verhaltensweisen, weil es ihm nicht um Information schlechthin ging, sondern weil er wußte, daß Brecht eine wichtige Möglichkeit sozialistischer Lyrik im Genre der Chronik, des Berichts sah. Tretjakow hatte ,Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin' und die .Inbesitznahme der großen Metro durch die Mos143
kauer Arbeiterschaft am 27. April 1935' selbst übersetzt . . . Anfang der dreißiger Jahre übersetzte Tretjakow drei Stücke von Brecht — ,Die heilige Johanna der Schlachthöfe', ,Die Mutter', ,Die Maßnahme' (zusammen mit J. Barchasch), die 1934 unter dem Titel .Epische Dramen' mit Tretjakows Vorwort als Buch herauskamen." 201 Brecht wiederum bearbeitete das 1927 entstandene Stück Tretjakows Ich will ein Kind haben nach einer Übersetzung aus dem Russischen von Ernst Hube, das im Max Reichhard-Verlag als Bühnenmanuskript erschien. Brecht lernte die Schreibweise Tretjakows kennen, als das Meyerhold-Theater mit dem Stück Brülle, China im Wallner-Theater bei Piscator gastierte. Die Notizen, die sich Brecht von jener Aufführung machte und in denen er gegen die allgemeine Pressekritik polemisierte, zeigen, daß ihn vor allem die gesellschaftliche Typisierung der Figuren interessierte, die Kühnheit, mit der sich Tretjakow über die bürgerliche Individualisierungstechnik hinwegsetzte. Tretjakow war es auch, der Brecht mit der sowjetischen Wirklichkeit näher bekanntmachte. In einem ausführlichen Briefwechsel unterrichtete er den im Exil lebenden Dramatiker über die großen gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion in der Zeit des zweiten Fünfjahrplans. In Tretjakow hatte Brecht einen Partner gefunden, der die „Kunst der Beobachtung" verstand, der mit jenem enormen Sinn für das neue Wirklichkeitsmaterial begabt war. In einem dieser „Arbeitsberichte" Tretjakows an Brecht hieß es: „Von dem Staatsgut (es ist ein glänzendes Hühnerzuchtgut mit 30000 weißen Hühnern) habe ich etwa 250 Photos mitgebracht und mache jetzt Photoartikel. Das Staatsgut wird gerade von dem Genossen geleitet, von dem ich den .Direktor' mache. Sie erinnern sich an dieses Thema, das ich auch dem Ottwalt angeboten habe. Das ist ein Mensch eines besonderen Talents, Organisationstalents. Man gibt ihm einen Betrieb in sehr schwerem Zustand, und er kuriert ihn leicht und graziös, wo andereLeute sich die Zähne ausbrechen. Er wirtschaftet so, wie Caruso singt. Die Methoden dieser Arbeit zu klären — das ist die Aufgabe. — In den Kolchosen werde ich erstens bei der Ernte helfen — die in diesem Jahre sehr reich ist. Zweitens will ich über alle Leute, die in meinen Kolchosbüchern seit fünf 144
Jahren genannt sind, feststellen, was mit ihnen seit dieser Zeit geschehen ist. Da wird es sich um die Schicksale von 50 bis 70 Menschen handeln. Wenn auch nur 10 bis 15 Beobachtungen gelingen, ist es schon interessant. Drittens werde ich im Kolchos die Arbeit am Drama fortsetzen. Dieser Sommer hat sehr viel Material gegeben zum Schreiben." 202 Zu diesem Stück, das Wir machen die Erde satt heißen sollte, ermunterte Brecht Tretjakow mehrfach. 1937 kam Tretjakow in einem Brief wieder auf das Stück zu sprechen: „Und du hattest recht — wichtig ist ein Stück über die Kollektivierung zu machen in einfachen, aber umfassenden und sehr realen Zügen." 203 Dieses neue Wirklichkeitsmaterial bildete den Ausgangspunkt aller literarischen Neuerungen dieses Schriftstellers. Mit seiner Betonung der „Literatur des Fakts", der „Biographie der Dinge" suchte Tretjakow von einer neuen Sehweise der Wirklichkeit zu einer neuen Schreibweise zu kommen. Die Dinge sollten in ihrer Veränderung, in der nun neu gewonnenen Phase ihres eigentlichen Werdens wahrgenommen werden. Seine Vorschläge richteten sich gegen eine allzu rasche und allzu übliche Art der künstlerischen Verallgemeinerung, die nur das Individuum schlechthin imBlickfeld hatte, die nur den „lebendigen Menschen" allgemein vor Augen hatte, nicht aber den gesellschaftlich konkreten Menschen einer historischen Entwicklungsphase. 1934 schickte Tretjakow Brecht ein Resümee über den Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongreß, in dem er Brecht mit dem dort erörterten Realismusbegriff bekannt machte. „Der Kongreß war bedeutungsvoll und gibt einen ungeheuer großen und frischen Stoff für die literarische Prognose. — Die Frage des sozialistischen Realismus hat Gorki gut angefaßt, als er sagte: Viele haben nach allerlei Arten diesen Begriff erklärt und bewiesen, aber der größte und wirkliche Beweis werden Ihre nächsten Bücher sein. Das gibt diesem Begriff eine Bedeutung mehr für die Perspektive . . . Besonders jetzt wäre es wichtig, theoretisch mehrere Fragen zu bearbeiten. Momentan sind wir an einem Wendepunkt: das extensive Thema übergibt seinen Vorrang an das intensive. Die Reportageliteratur sucht große Formen, und die Lyrik dringt ins Epos. Der einseitige Intellektualismus (Technizismus) wird 10
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vom emotionellen Prinzip schärfstens angegriffen. Emotionelle Kompliziertheit wird gefordert. Nicht nur einen Querschnitt des Lebensstroms (Reportage, Naturalismus, bürgerlicher Realismus), sondern der Schnitt entlang der Zeit (d. h. in die Zukunft, historisch-dialektisch) braucht die Literatur." 204 Wenn hier auch nicht der Ort ist, um den Einfluß der jungen Sowjetkunst auf die Dichtung und Dramaturgie Brechts allseitig zu belegen, so muß doch noch auf die Anregungen hingewiesen werden, die Brecht durch das künstlerische Werk Eisensteins empfing. In ihrem Buch Die Dramaturgie Brechts hat Käthe Rülicke-Weiler diese Beziehung ausführlicher analysiert und darauf aufmerksam gemacht, wie eingehend Brecht die technischen Elemente und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Montagetechnik Eisensteins studierte. „Die dialektische Gegenüberstellung einander widersprechender Handlungen, die einander kommentieren und weitertreiben, bestimmen die Bauweise von Eisensteins .Panzerkreuzer Potemkin', den Brecht eben zu der Zeit kennenlernte, als er — in der .Heiligen Johanna der Schlachthöfe' — versuchte, die dramaturgische Konstruktion der Fabel aus den Entwicklungsgesetzen der Realität abzuleiten. Er konnte bei Eisenstein die praktische Anwendung der Prinzipien finden, um deren Erkenntnis er sich bemühte, die .gesetzmäßigen' Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen eines Werkes, seiner einzelnen Episoden und den einzelnen Elementen innerhalb der Episoden." 205
Die außerliterarischen und verschämten Traditionen Brechts Traditionsverhältnis ist nicht nur aus der Beziehung zu der großen Kunst der Vergangenheit und der Gegenwart zu erklären. Auch außerliterarische Traditionen prägten seine Kunstauffassung. Neben alten und neuen Kunstformen nutzte er auch solche, die gar nicht aus der Kunst stammten. Er bekannte sich offen zu den verschämten Traditionen. Gern erzählte er, welchen großen Eindruck die Jahrmarktschaustellungen auf dem Augsburger „Plärrer" auf ihn gemacht hatten. Für Brecht waren diese Schaustellungen (Guckkasten146
bilder, Moritaten usw.) weit mehr als unvergeßliche Jugendeindrücke. In seinen theoretischen Schriften legte er dar, wie in diesen volkstümlichen Belustigungen und naiven Künsten der Vorgang des Zeigens betont wurde, den er später in seinem epischen Theater herausarbeitete und in seinen Darlegungen über den Gestus begründete. Interessant ist hierbei auch, wie vieler Eindrücke es bedarf, um eine neue Vorstellung zu entwickeln, denn den Vorgang des Zeigens studierte er auch im chinesischen und elisabethanischen Theater. All diesen Jahrmarktschaustellungen lag gleichfalls eine Art „Technik" zugrunde, um auch bei dem nur kurz verweilenden Zuschauer ein ganz bestimmtes Bild, einen mit Absicht hervorgerufenen Eindruck zu erwecken. Brecht verstand auch hieraus zu lernen. Zu den verschämten Traditionen gehört auch der Kriminalroman. Brecht war ein wohl ungewöhnlicher Kenner dieser Materie. Er las sie nicht nur zur Unterhaltung, sondern indem er sich unterhielt, studierte er die Technik, wie eine Geschichte spannend erzählt wird, welche Faktoren und Kombinationen die Spannung ausmachen. Elemente des Kriminalromans verstand Brecht mit den großen literarischen Bauformen zu verbinden. So ist das Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Art uro Ui den großen Historien des elisabethanischen Theaters nachgebildet, zugleich aber tauchen auch Elemente des Kriminalromans auf. Die Kunst zweier Persönlichkeiten gehört unbedingt zum Traditionsfeld Brechts: die von Karl Valentin und die von Charlie Chaplin. Bei Valentin hat Brecht als junger Mensch selbst mitgespielt. Seine frühen Vorstellungen von einem volkstümlichen Theater wurden vor allem von der Kunst Valentins inspiriert. Über ihn schrieb Brecht: „Dieser Mensch ist ein durchaus komplizierter, blutiger Witz. Er ist von einer ganz trockenen, innerlichen Komik, bei der man rauchen und trinken kann und unaufhörlich von einem innerlichen Gelächter geschüttelt wird, das nichts besonders Gutartiges hat. Denn es handelt sich um die Trägheit der Materie und um die feinsten Genüsse, die durchaus zu holen sind . . . Es ist nicht einzusehen, inwiefern Karl Valentin dem großen Chaplin, mit dem er mehr als den fast völligen Verzicht auf Mimik und billige Psychologismen gemein hat, nicht gleich10*
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gestellt werden sollte . . ." 206 Charlie Chaplins tragikomische Kunst war für Brecht „das Erschütterndste, was es gibt". 207 In ihm sah er einen Schauspieler, der mehr den Ansprüchen des epischen als des dramatischen Theaters gerecht werde. Einige der großen Brecht-Figuren, wie der Galy Gay, Arturo Ui, Azdak, lassen Züge Charlie Chaplins erkennen, zumindest ist er beim Aufbau dieser Figuren von bestimmten schauspielerischen artistischen Möglichkeiten ausgegangen, die Chaplin ausprobierte.
Die Wissenschaften Die Aneignung des weltliterarischen Erbes vollzieht sich immer innerhalb einer bestimmten Weltanschauung und Philosophie. Marx, Engels und Lenin sind nicht wegzudenkende Quellen und Bestandteile des Brechtschen Erbe- und Traditionsverhältnisses. Innerhalb der Erbeaneignung Brechts unterscheidet sich aber der Bezug zu den marxistischen Klassikern von dem zu anderen Großen der Weltliteratur dadurch, daß sie mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten, die zur Weltanschauung des Marxismus-Leninismus wurden, die geistige Basis für den gesamten Aneignungsvorgang bilden. Über die Lehre der marxistischen Klassiker eignete sich Brecht das weltliterarische Erbe an. Deshalb wurde auch Brechts Eindringen in den Marxismus-Leninismus im Zusammenhang mit den Klassenkämpfen und den großen weltanschaulichen Auseinandersetzungen dargestellt und nicht als eine Seite des hier abgesteckten Traditionsfeldes behandelt. Aber dieser Zusammenhang von weltliterarischem Erbe und Weltanschauung weist noch auf eine andere Frage hin. Eben weil die Erbeaneignung ein weltanschaulicher Vorgang ist, verflochten und vermittelt durch die vielfältigsten gesellschaftlichen Faktoren, ist das weltliterarische Erbe von dem philosophischen, wissenschaftlichen Erbe nicht zu trennen, wenn auch der Aneignungsvorgang dabei nicht derselbe ist. Vor allem bei einem Manne wie Brecht konnte es hier keine Trennung geben. Er, der in den Literaturen vergangener Epochen immer die Verbindung der Literatur zur Wissen148
schaft aufspürte, der nach methodologischen Verfahren und Vorbildern für die Dialektik von Belehrung und Unterhaltung suchte, der sich vor allem zu den wissenschaftsfreundlichen Literaturepochen hingezogen fühlte, sah in der Wissenschaft einen Faktor, ohne den Dichtung vor ihrem Publikum nicht mehr bestehen könne. Sein gesamtes Bemühen ging dahin, Wissenschaft in die Kunst hineinzutragen, ohne sie zu „verwissenschaftlichen". Wissenschaft und Naivität, das war für Brecht ein Widerspruch, mit dem jeder Künstler fertig werden mußte, den jeder auf seine Weise lösen mußte. Brecht hat die notwendige Verbindung von Kunst und Wissenschaft einmal aus seiner eigenen Erfahrung sehr eindrucksvoll beschrieben: „Ich habe oft, wenn ich auf die unschätzbaren Dienste hinwies, die die moderne Wissenschaft, richtig angewendet, der Kunst, besonders dem Theater leisten kann, zu hören bekommen, daß Kunst und Wissenschaft zwei schätzenswerte, aber völlig verschiedene Gebiete menschlicher Tätigkeit seien. Das ist natürlich ein schrecklicher Gemeinplatz, und man tut gut, immer schnell zu versichern, daß das ganz richtig ist, wie die meisten Gemeinplätze. Kunst und Wissenschaft wirken in sehr verschiedener Weise, abgemacht. Dennoch muß ich gestehen, so schlimm es klingen mag, daß ich ohne Benutzung einiger Wissenschaften als Künstler nicht auskomme. Das mag bei vielen ernste Zweifel an meinen künstlerischen Fähigkeiten erregen. Sie sind es gewohnt, in Dichtern einzigartige, ziemlich unnatürliche Wesen zu sehen, die mit wahrhaft göttlicher Sicherheit Dinge erkennen, welche andere nur mit großer Mühe und viel Fleiß erkennen können. Es ist unangenehm, zugeben zu müssen, daß man nicht zu diesen Begnadeten gehört. Aber man muß es zugeben. Man muß auch ablehnen, daß es sich bei den eingestandenen wissenschaftlichen Bemühungen um verzeihliche Nebenbeschäftigungen handelt, vorgenommen am Feierabend, nach getaner Arbeit. Man weiß ja, auch Goethe hat Naturkunde, Schiller Geschichte betrieben, man nimmt freundlicherweise an, als eine Marotte. Ich will diese beiden nicht ohne weiteres beschuldigen, sie hätten diese Wissenschaften für ihre dichterische Tätigkeit benötigt, ich will mich nicht mit ihnen entschuldigen, aber ich muß sagen, ich benötige die Wissenschaften. Und ich muß sogar zugeben, 149
ich schaue allerhand Leute krumm an, von denen mir bekannt ist, daß sie nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse sind, das heißt, daß sie singen, wie der Vogel singt, oder wie man sich vorstellt, daß der Vogel singt." 208 Brecht selbst hat sich mit Philosophie, Ökonomie, Soziologie, Psychologie und von den Naturwissenschaften vor allem mit Problemen der theoretischen Physik beschäftigt. Von der klassischen deutschen Philosophie war es vor allem Hegel, den er immer wieder las und den er bewunderte wie sonst nur noch Marx und Lenin. Von Hegel ist auch in seinen Werken, wie zum Beispiel in den Flüchtlingsgesprächen, direkt die Rede. In seinem Arbeitsjournal vermerkte er nach dem Studium von Hegels Geschichte der Philosophie, das sei ein „unheimliches Werk". Hegels Methode gestatte nicht nur, das Positive und Negative jeder geschichtlichen Erscheinung zu sehen, sondern auch die Polarität zur causa der Entwicklung. 209 Mit Problemen der Physik befaßte er sich nicht nur während der Arbeit am Leben des Galilei. Sie gehörten wie selbstverständlich zu seinem Interessenkreis, „mir gefällt die weit der physiker", vermerkt er in seinem Arbeitsjournal.210 Und an anderer Stelle: „wieder einmal in einigen werken über das WELTBILD DER NEUEN PHYSIK geblättert. . . mit einigen schrecken sehe ich den neuen positivismus in einen robusten seelenglauben einmünden . . ." 211 Die Probleme der theoretischen Physik waren für ihn nicht nur ein Teil der allgemeinen weltanschaulichen Auseinandersetzung, er suchte auch über diese naturwissenschaftlichen Fragestellungen das methodologische und technische Gesichtsfeld seiner Poesie und Dramaturgie zu erweitern. In der Mutter Courage fand er, daß es ihm gelungen sei, den Krieg wie ein riesiges Feld erscheinen zu lassen, nicht unähnlich den Feldern der neuen Physik, in denen die Körper merkwürdige Abweichungen erfahren.212 Diese andauernde Beschäftigung mit den Problemen der modernen Physik weckte in ihm auch den Wunsch, ein Stück über Einstein zu schreiben. Das Brechtsche Traditionsfeld ist im wahrsten Sinne „ein weites Feld". Hier war es nur möglich, einige Kristallisationspunkte zu beschreiben. Aber auch minutiöse Studien werden kaum in der Lage sein, die ganze Vielfalt der Brechtschen 150
Traditionsbeziehungen zu erfassen. Denn nicht alles, was Brecht bewegte und beschäftigte, was er zu nutzen gedachte, was er vorbereitete, ist von ihm oder anderen immer schriftlich festgehalten worden. Anzengruber zum Beispiel hat ihn beschäftigt, ihn fand er interessant. Aber darüber gibt es keinen Anhaltspunkt. Tschechow wiederum hat er in seinen Schriften immer als einen Naturalisten behandelt. Aus diesen Schriften muß man entnehmen, daß er die Größe dieses Dichters nie verstanden hat. Er sah ihn aus polemischer Sicht Stanislawski gegenüber. Aber einige Monate vor seinem Tode soll Brecht in einem Gespräch den rumänischen Dramatiker Aurel Baranga gefragt haben, wen er für den größten Dramatiker der letzten hundert Jahre halte. Als Baranga den Namen Tschechows nannte, habe Brecht, wie Baranga in einer Notiz festhielt, geantwortet: „,Ich fürchte, daß Sie recht haben', . . . In seiner Stimme schwang bittere Müdigkeit." 213 Mag man auch die Äußerung bezweifeln, so zeigt sie doch, wie problematisch es ist, das Traditions Verhältnis des größten Dramatikers unseres Jahrhunderts auf eine dünne Schnur zu ziehen.
Brecht und die deutsche Klassik Die Klassik analysieren, heißt es in den Eisler-Gesprächen, ist eine große Tradition. Diese Feststellung bezog Hanns Eisler jedoch auf die Musik. In der Literatur und Malerei gebe es eine solche Tradition, in die der junge Künstler bereits durch seine Lehrmeister eingeweiht werde, freilich kaum. Wenn auch Literatur und Malerei eine solche Tradition nicht kennen, das Theater kennt sie, denn ohne sie kommt die Bühne nicht aus. An der Klassik erprobt das Theater seine Kraft, an ihr wird es ebenso gemessen wie an der Eroberung der Gegenwartsdramatik. Schon von diesem Gesichtspunkt her war ein Ausklammern der Klassik für Brecht gar nicht möglich. Die deutsche Klassik, hier im engeren Sinne des Wortes verstanden, hat Brecht ebenso wie das Werk Shakespeares sein Leben lang beschäftigt. Shakespeare war der Dramatiker, der bei Brecht „immer Kredit" hatte. Das Verhältnis zu den deutschen Klassikern gestaltete sich dagegen 151
weitaus komplizierter. Selbst nachdem Brecht durch den historischen Materialismus eine neue methodologische Basis zum klassischen E r b e gefunden hatte, blieb seine Haltung zu Goethe und Schiller überaus kritisch. 1953 ließ Brecht den Urfaust durch seine Schüler inszenieren. Eisler spricht im Hinblick darauf geradezu von einer „wutschäumenden" Haltung Brechts gegenüber Goethe. „Also wer nicht Brecht bei den Proben von ,Urfaust' gesehen hat, der hat ja nichts gesehen. Wie Brecht dem Goethe diverse Striche bei Texten machte, die er für Rabitz hielt, wutschäumend. . , \ " 2 1 i Gegenüber soviel Goethefeindschaft fügte Eisler beschwichtigend und warnend zugleich hinzu: „ D a s kann sich aber wirklich nur der Brecht erlauben. Also Zuzug ist hier fernzuhalten." 2 1 5 Denselben Eindruck, den Eisler von den Urfaust-Ptoben hatte, beschrieb Brecht in seinem Arbeitsjournal weit harmloser: „die urfaustproben sind eine freude, die jungen leute arbeiten ernsthaft und mit grossem spaß, als eisler die szene sah, in der faust das zimmer gretchens betritt, war er immerfort von einem glücklichen lachen geschüttelt, da er ungeachtet des genusses am gedieht deutlich das moment der depravierung ausgedrückt sah." 2 1 6 Wenn man sich die Haltung Brechts zur deutschen Klassik, insbesondere zu Goethe, vergegenwärtigt, ist man geneigt, sie in Beziehung zu den berühmten Goethefeindschaften der Literaturgeschichte zu setzen, etwa zu der Gottfried Kellers, der nach der Lektüre von Börnes Philippika gegen Goethe in sein Tagebuch schrieb: „Ich weiß nicht, schmerzt es mich mehr, daß Goethe ein so großes Genie war, oder daß das große Genie einen solchen Privatcharakter oder vielmehr Privatnichtcharakter hatte. Ich weiß nicht, hasse ich Goethen und mißgönne ihm seine Werke, oder liebe ich ihn u m seiner Werke willen und verzeihe ihm seine Fehler." 2 1 7 Brecht nahm allerdings niemals umfassend, sei es in Form eines Essays oder einer Werkanalyse, zu Goethe Stellung. E r verteilte vielmehr kleine Seitenhiebe, und selbst wenn er die Stärken Goethes beschrieb, läßt sich in der Beurteilung der gesellschaftlichen Position Goethes immer die ironisch-resignierende Bemerkung Heinrich Heines hinzudenken: „ . . . armes deutsches V o l k ! das ist dein größter M a n n ! " 2 1 8 152
Seit G o e t h e gibt es in der deutschen Literatur auch eine Anti-Goethe-Partei. D i e Klassik rief eine direkte Anti-KlassikPosition hervor, die in der deutschen Literaturgeschichte ebenfalls ihre Tradition hat. In seinem B u c h Junges Deutschland, und deutsche Klassik wies Walter Dietze auf diese Linie h i n : „ I n der T a t zieht sich v o n Herder her über J e a n Paul zum jungen Fichte eine deutlich verfolgbare Linie antiklassischer Haltung, die sich besonders dadurch auszeichnet, daß sie mit den plebejischen Elementen zu marschieren geneigt ist, den J a k o b i n i s m u s weitgehend bejaht und die weltanschaulichen Grenzen des deutschen liberalen B ü r g e r t u m s an verschiedenen Punkten überschreitet." 2 1 9 E s wäre interessant, der F r a g e nachzugehen, o b diese Anti-Klassik-Linie, wenn auch v o n anderen gesellschaftlichen Positionen her, v o n Brecht fortgesetzt wurde. In diesem Z u s a m m e n h a n g müssen auch Probleme der marxistischen K l a s s i k f o r s c h u n g berührt werden. Hier kann allerdings nicht der Ort sein, eine umfassende Klassikkonzeption zu entwickeln und die bisherigen bedeutenden marxistischen Forschungsergebnisse differenziert einzuschätzen. A u s g e h e n d v o n dem gestellten T h e m a , wird auf die Klassikf o r s c h u n g nur im Z u s a m m e n h a n g mit den v o n Brecht aufgeworfenen Fragen eingegangen. B e v o r diese Frage jedoch beantwortet werden kann, muß erst einmal untersucht werden, inwieweit sich Brecht, unbeschadet v o n seinem Urteil, überhaupt der Klassik z u w a n d t e ; denn das tatsächliche A u s m a ß der Brechtschen Klassikbeschäftigung wird noch immer verkannt. N u r wenige Forscher haben bisher diese Seite Brechts untersucht. D a s ist u m so bedauerlicher, als es neben Shakespeare k a u m eine andere Literaturtradition gibt, mit der sich Brecht so intensiv und kontinuierlich auseinandersetzte. D i e meisten Traditionseinflüsse traten zu irgend einem Zeitpunkt in Brechts Gesichtskreis, bedingt durch Probleme seiner schriftstellerischen Arbeit oder der allgemeinen Literaturdiskussion. So vollzog sich die A u f n a h m e der alten japanischen und chinesischen Literatur. Mit einigen Einschränkungen trifft das auch auf die griechischen und römischen Klassiker zu. E i n tieferes Verständnis Molieres fand Brecht erst g e g e n E n d e seines Lebens. D i e deutschen Klassiker aber begleiteten ihn durchs ganze L e b e n . 153
Auf die widersprüchliche Haltung, die Brecht bereits in der Schulzeit dem Werk Schillers gegenüber einnahm, wurde bereits hingewiesen. Goethe lernte Brecht in Augsburg nicht nur durch Schule und Theater, sondern auch durch die Gedichtvorträge eines bekannten Schauspielers kennen. Brecht besuchte diese Veranstaltungen mit großem Interesse und Respekt, vermerkte aber kritisch einige Manieriertheiten des Vortragenden. In ihrer Dokumentation weisen Frisch und Obermeier nach, wie Brechts Verse über Goethes Gedicht Der Gott und die Bajadere bis in einzelne Wendungen hinein von diesem Vortragserlebnis aus der Augsburger Zeit bestimmt wurden. 220 Überhaupt muß Brecht in den Augsburger Jahren Goethe, insbesondere dessen Lyrik, als sehr lebendig und jung empfunden haben. Damals schien ihm der Klassiker Goethe noch nicht, wie dann einige Jahre später, „gestorben". Im Gegensatz zum Augsburger Kunstleben machte Brecht von der Goetheschen Lyrik jedoch einen recht unkonventionellen Gebrauch. Er trug sie gelegentlich zur Klampfe vor, auf der er allerdings nur einige Griffe beherrschte.221 Wie intensiv sich Brecht mit Schiller beschäftigte, wie genau er dessen Werk kannte, davon zeugen die Stücke Brechts. In seinem Frühwerk wie in seinem Spätwerk begegnen wir Szenen und Figuren, die das Vorbild Schillers erkennen lassen, findet sich szenisches und gestisches Material aus den Werken des Weimarer Klassikers. Fast ist man geneigt zu sagen, daß durch viele Brecht-Stücke der Schiller hindurchschimmert. Freilich nicht in einer epigonalen Weise. Das Stück Im Dickicht der Städte wurde durch Schillers Räuber angeregt. Nach dreißig Jahren, bei der Durchsicht seiner frühen Stücke, erinnerte sich Brecht: „Eine gewisse Rolle spielte, daß ich ,Die Räuber' auf dem Theater gesehen hatte, und zwar in einer jener schlechten Aufführungen, die durch ihre Ärmlichkeit die großen Linien eines guten Stücks hervortreten lassen, so daß die guten Wünsche des Dichters dadurch zutage treten, daß sie nicht erfüllt werden. In diesem Stück wird um bürgerliches Erbe mit teilweise unbürgerlichen Mitteln ein äußerster, wildester, zerreißender Kampf geführt." 222 In der Heiligen Johanna der Schlachthöfe griff Brecht nicht 154
nur auf Schillers Jungfrau von Orleans zurück, sondern auch auf Goethes Faust und auf Hölderlin. Schillers Werk diente als das große Muster für die Führung der Fabel. In der Figur des Mauler suchte Brecht den „faustischen Menschen" der imperialistischen Gesellschaft abzubilden. Die Figurencharakteristik Goethes nutzte er zur Ideologiekritik. Die Art und Weise, wie sich Brecht in der Heiligen Jobanna der Schlachthöfe auf ein klassisches Stück bezog, trug ihm den Vorwurf ein, er bediene sich des Rückgriffs auf die Klassik ausschließlich zu parodistischen Zwecken. "Das ist jedoch eine sehr kurzsichtige Einschätzung, die nicht einmal stimmt, wenn man sie nur auf dieses Werk bezieht. Über das Schillersche Vorbild wird die große Fabel entwickelt, werden politische Vorgänge aufgebaut. Von Schiller lernte Brecht, wie große gesellschaftliche Aussagen szenisch und gestisch umgesetzt werden können. Wenn er auch einzelne Elemente parodistisch verwendete, so war doch die Anwendung des klassischen Erbes in diesem Stück keineswegs destruktiv. Die ungewöhnliche Art, wie hier Brecht von den Klassikern lernte, darf nicht vergessen machen, daß gelernt wurde. Über Brechts Haltung zu Schiller hat von marxistischer Seite vor allem Günter Härtung einige wichtige Gedanken beigesteuert.223 Er hob hervor, daß Brechts gemeinsam mit Feuchtwanger geschriebenes Stück Die Gesichte der Simone Marchard Schiller noch viel näher stehe als die Heilige Johanna der Schlachthöfe, obwohl es in dem späten Brecht-Stück keinen direkten Bezug zu Schiller gebe, auch nicht in der Form der Parodie. Härtung sieht in Brechts Simone das „unbürgerliche Weiterleben" eines großen Stoffes: „,Die Gesichte der Simone Marchard' jedoch führt die deutsche Tradition dieses Stoffes im modernen sozialistischen Sinn weiter und stellt sich damit in eine Reihe mit der alten bürgerlichen Variante." 224 Härtung wies den Einfluß Schillers auch auf einige andere Brecht-Stücke nach. So verglich er die Eingangsszene von Trommeln in der Nacht mit der in Kabale und Liebe und fand für die Gestaltung des Unternehmers Balicke gestisches Material aus der Miller-Figur entnommen.225 Wichtig ist vor allem sein Hinweis, daß für die Courage weniger Grimmels155
hausens Landstörzerin, sondern Schillers „Gustel aus Blasewitz" im Wallenstein Pate gestanden hat. 226 Ein Vergleich mit der Schiller-Figur macht das deutlich: Marketenderin: Bin hinauf bis nach Temeswar Gekommen mit den Bagagewagen, Als wir den Mansfelder täten jagen. Lag mit dem Friedländer vor Stralsund, Ging mir dorten die Wirtschaft zu Grund. Zog mit dem Sukkurs vor Mantua, Kam wieder heraus mit dem Feria, Und mit einem spanischen Regiment Hab' ich einen Abstecher gemacht nach Gent. Jetzt will ich's im böhmischen Land probieren, Alte Schulden einkassieren — Ob mir der Fürst hilft zu meinem Geld. Und das dort ist mein Marketenderzelt. Erster Jäger: Nun, da trifft sie alles beisammen an! Doch wo hat sie den Schottländer hingetan, Mit dem sie damals herumgezogen? Marketenderin: Der Spitzbub! der hat mich schön betrogen. Fort ist er! mit allem davon gefahren, Was ich mir tat am Leibe sparen. Ließ mir nichts als den Schlingel da! 227 Weniger einverstanden kann man allerdings mit Hartungs These sein, die Mutter Courage als sozialistischen Gegenentwurf zum Wallenstein zu betrachten. Das hieße einzelne Aspekte allzusehr zu verallgemeinern. Überhaupt bedarf es einer gewissen Vorsicht, wenn man in Brecht-Figuren und -Szenen Anklänge oder Motive von älteren Figuren festzustellen meint. So wie Härtung charakteristische Momente und den Grundgestus der Gustel von Blasewitz bei der Courage bemerkte, so lassen sich bestimmte Grundhaltungen, wie zum Beispiel die zeitweilige Ausübung der Richterfunktion 156
durch Sancho Pansa in Cervantes' großem Roman für Brechts Azdak oder charakteristische Haltungen der „Tollen Grete" auf Breughels Gemälden in der Figur der Grusche, nachweisen. Bei Brecht vollzog sich im wahrsten Sinne des Wortes ein andauernder Stoffwechsel zwischen eigener Produktion und dem weltliterarischen Erbe. Dieses war so unmittelbar Teil seines Denkens, seiner dichterischen Phantasie, daß sich das Wirklichkeitsmaterial seiner Zeit dauernd mit dem des weltliterarischen Erbes mischte. Gerade deswegen müssen einzelne Momente auch immer innerhalb dieses höchst souveränen Gesamtbezugs gesehen werden, weil es sonst zu einseitigen Rezeptionsvorstellungen kommt. Das Verhältnis Brechts zur deutschen Klassik erklären heißt die großen Wendungen beschreiben, die dieses Verhältnis prägten. Hanns Eisler hat das höchst komplizierte, weil widerspruchsvolle Verhältnis eines Großteils der sozialistischen Intellektuellen zwischen den beiden Weltkriegen zur deutschen Klassik sehr treffend charakterisiert. „Wissen Sie", sagte er zu seinem Gesprächspartner Bunge, „wir lesen die Klassiker fünfmal. Wir lesen sie immer wieder, übrigens auch B r e c h t . . . Vor dem ersten Weltkrieg las ich Goethe anders als nach dem ersten Weltkrieg. Nach den großen revolutionären Vorgängen in Deutschland und nach der Machtergreifung der Arbeiter in der Sowjetunion las ich ihn wieder anders. In der großen Krise des Kapitalismus vor dem Faschismus las ich ihn noch einmal. In der Emigration las ich ihn abermals mit höchster Begeisterung, denn hier sah ich noch ein ganz neues Element der Humanität — die ich damals gar nicht zur Kenntnis genommen habe, weil mich andere Sachen an den Klassikern interessierten. Nach der Rückkehr, in Deutschland, nach 1945, las ich ihn noch einmal, wieder mit neuen Erfahrungen. Wieder wechselte ich meine Brille, die nicht meine private Brille ist, sondern die Brille der geschichtlichen Entwicklung." 2 2 8 Die großen Wendepunkte, das Wechseln der Brille, wie Hanns Eisler sagte, lagen bei Brecht zu Beginn der zwanziger Jahre, als er sich mehr und mehr von seiner Schul- und Jugendauffassung distanzierte, und in den Jahren der Emigration. Für die Emigrationszeit müssen vor allem folgende Phasen genannt werden: das skan157
dinavische Exil, in dem er seine Methode des epischen Theaters ausarbeitete und zu einem größeren historischen Verständnis des Erbes gelangte; das amerikanische Exil, wo er insbesondere durch die Zusammenarbeit und den Gedankenaustausch mit Hanns Eisler, durch dessen intensive Beschäftigung mit den Weimarer Klassikern entscheidende Anregungen erhielt. Dieser bisher kaum beachtete Einfluß Eislers war für Brecht abermals Anlaß zu wesentlichen Korrekturen. Durch das von Eisler angeregte Studium der deutschen Klassik erlangte das nationale Moment für Brecht Gewicht. Die langwierige Heimreise aus der Emigration brachte schließlich eine weitere Veränderung im Klassikverständnis Brechts. Als er über Frankreich und die Schweiz nach Berlin zurückkehrte, las er den Hölderlin und den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Aufs neue entdeckte er die sprachliche Gestaltungskraft Hölderlins. Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller beschäftigte ihn nachhaltig. Er verglich seine eigenen ästhetischen Versuche mit den Arbeitsmethoden der Klassiker. Eine nochmalige Wandlung vollzog sich, als Brecht die Klassiker, ausgehend von den Bedürfnissen einer Gesellschaft, die auf dem Weg zum Sozialismus war, studierte. Die Arbeit zwischen der Potsdamer und der Berliner Aufführung von Goethes Urfaust führte zu neuen Einsichten. Diese Entwicklung verlief jedoch nicht in klar aufeinanderfolgenden Phasen. Die neugewonnenen Erkenntnisse führten auch zu neuen Widersprüchen. Das Verständnis für das eine historische Problem zog die Kritik für ein anderes nach sich. Bestimmte Positionen gerieten abermals in die Krise. Im folgenden sollen einige Probleme dieser Wendungen in der Haltung Brechts zu Goethe und Schiller erörtert werden, ohne allerdings die Entwicklung in allen ihren Nuancen genau nachzuzeichnen. Im Gegensatz zu den zwanziger Jahren setzte in der Emigration ein größerer Ich-Bezug zu den Klassikern ein. Brecht begann seine eigene Arbeitsweise mit der der Klassiker zu vergleichen. Obwohl Brecht bei solchen Vergleichen mehr den Unterschied als analoge Verfahrensweisen suchte, war es nicht mehr die bewußte provokative Entgegensetzung wie in den zwanziger Jahren. Brecht nutzte vielmehr die Einsicht 158
in die Unterschiede, um die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Verfahren genau zu studieren und abzuwägen. 1941 las er Streichers Buch Schillers Flucht aus Stuttgart und vermerkte darüber in seinem Arbeitsjournal: „ich lese SCHILL E R S F L U C H T A U S S T U T T G A R T von Streicher, notiere die unterschiede in der arbeitsweise, die sich aus den unterschieden der aristotelischen und nichtaristotelischen dramaturgie ergeben. S. arbeitet die dramatischen szenen aus, auch die monologe, legt großen wert auf die .Schönheiten' und legt sorgfältig seine effekte an. alles zielt darauf ab, begeisterung zu erwecken, mitzureissen, zu entzücken, moralisch wie ästhetisch, hochgesinnte charaktere, spannende Verwicklungen, rhetorische explosionen, ausstellungen starker leidenschaften, anzettelung atemraubender kontroversen, all das werden die unwiderstehlichen Wirkungen sein, die misere ist dann sofort behoben, und deutschland hat seinen nationaldichter, das phänomen theater, neue und mit V-effekt, der bürgerlichen klasse und nation aufgehend, erlebt seine phase, wo die abgebildete Wirklichkeit ganz und gar durch das rein theatralische negiert wird (lessings theater war noch sehr anders darin), das vitale interesse der menschheit an sich selber als menschheit, das sich im theater ausdrücken kann und die grundlage der emotionen bildet, wird hier hauptsächlich als interesse am theater, also an der abbildung allein repräsentiert, es ist, dürr gesagt, nicht das abgebildete, d h das was unter den menschen (und in ihnen) vorgeht, was den dichter interessiert, sondern es sind die emotionen direkt, die erweckt werden können durch eine abbildung. S. sucht jeweils lange nach .Stoffen' und handlungen, welche seine emotionen .tragen' können, nicht als ob die Verhältnisse ihn nicht interessierten, nicht als ob er nicht leidenschaftliche proteste und Vorschläge bereithielte — nur ist es eben hauptsächlich das theater und die Verwertung von Stoffen und emotionen für das theater, das ihn zum schreiben bringt, das ergibt eine kunst, welche in kontakt mit der realität steht und realität enthält, welche aber die realität durchaus der kunst opfert. wie entfernt ich von diesem Standpunkt bin, sehe ich daraus, dass der gedanke, eine grand scene auszuformen, mir ganz plötzlich als etwas neues, als ein interessantes experiment 159
vorkommt, ich verwende gewöhnlich viel mühe auf die motivierungen, prüfe immerfort nach, wieviel von den Vorgängen, die ich im auge habe, gezeigt werden müssen, usw, habe aber meines wissens noch nie repliquen ausgefeilt oder den schwung einer szene zu verstärken gesucht, ich beginne mit dem ersten satz und höre auf mit dem letzten, ohne etwas notwendiges zu überspringen und ohne irgendeinem teil eine besondere bedeutung zuzumessen, das ist sehr episch, vermute ich. für den epiker ist jedes detail ziemlich gleich liebenswert, die abbildung kritisiere ich eigentlich nur v o m abgebildeten her." 2 2 9 Interessant ist hierbei, wie Brecht das Wirklichkeitsverhältnis Schillers sieht. Weit entfernt, Schiller als einen nur auf das Ideal, nicht auf die Wirklichkeit ausgerichteten Dichter abzutun, hob Brecht hervor, daß Schiller seine ästhetische Gestaltung weniger aus dem Vergleich des Abbilds mit dem A b gebildeten kontrolliert, sondern mehr auf die beabsichtigte Wirkung aus ist. Diese Wirkung faßte Schiller allerdings durchaus gesellschaftlich auf und brachte auf diesem Wege wieder etwas an Wirklichkeit hinein, was durch den Verzicht auf den Vergleich und die Kontrolle mit dem Abgebildeten verlorenging. Dieser ästhetische „ U m w e g " charakterisiert sehr genau die gesellschaftliche Inkonsequenz Schillers, die fehlende materialistische Position wie auch den für ihn m ö g lichen Weg. Brecht beschäftigte sich auf diese Weise sehr anschaulich mit Grundlagen und Eigenschaften der Schillerschen Wirkungsästhetik. Mit einiger Verwunderung liest man jedoch, daß Brecht bisher noch nie der Gedanke gekommen sei, eine „grand scene" auszuformen. Hier griff er Schillers Arbeitsweise als ein „interessantes experiment" auf, aus der er etwas zu erlernen hoffte. Tatsächlich hat Brecht später in seiner Arbeit am Berliner Ensemble viel Mühe darauf verwandt, einzelne Schönheiten eines Werkes richtig „auszustellen". Überhaupt läßt diese Eintragung im Arbeitsjournal erkennen, wie Brecht über das Herausfinden der Unterschiede bestrebt war, von den Klassikern zu lernen. Den Unterschied faßte er allerdings exemplarisch auf. E s kam ihm nicht darauf an, diese und jene persönliche Eigenart mit den Klassikern zu vergleichen. E s ging ihm vielmehr um einen Test der antiaristotelischen Position. Die Methoden 160
sollten verglichen werden, damit einzelne Elemente deutlicher herausgearbeitet werden konnten. Die Art und Weise, wie die Klassiker das Dramatische und Epische handhabten, war für Brecht ein ständiges Studienobjekt. Brecht kam 1948 in seinem Arbeitsjournal abermals darauf zu sprechen: „SCHILLER sieht erstaunlich deutlich die dialektik (widersprüchliche Verknüpfung) in dem Verhältnis EPOS — DRAMA, meine eigenen hinweise, das epische theater betreffend, sind oft missverständlich, da sie kritisch oppositioneller natur sind und sich voll gegen das dramatische meiner zeit richten, das künstlich undialektisch gehandhabt wird", bekannte er. Wieder verglich er die Diskussion über das Dramatische und Epische zur Zeit Goethes und Schillers mit seinen eigenen Vorstellungen, um festzustellen, wie weit es ihm gelungen war, seine Dramaturgie verständlich zu machen und durchzusetzen: „in der tat soll einfach das epische element in die dramatische dichtart wieder hineingebracht werden, freilich widersprüchlich, die freiheit der kalkulation muss eben ,in dem mitreissenden ström' der geschehnisse etabliert werden." 230 Brecht entdeckte in den dramenästhetischen Ansichten Schillers, daß dieser ebenfalls bemüht war, das Epische w i e d e r in die Dramatik hineinzubringen. Die Anstrengungen, die von Schiller wie von Brecht unternommen wurden, richteten sich auf die Wiederherstellung eines dialektischen Verhältnisses von Dramatischem und Epischem. Allerdings mußte Brecht das Epische im Dramatischen auf andere Weise etablieren, als das Schiller zu seiner Zeit möglich war. Die Verknüpfung der Fabel vollzog sich bei ihm auf der Erkenntnisbasis des dialektischen und historischen Materialismus, das heißt, sie mußte so vorgenommen werden, daß die gesellschaftlichen Einsichten und Möglichkeiten der neuen Klasse ihren sichtbaren Ausdruck fanden. Diese und andere Bemerkungen zu dem Verhältnis von Epischem und Dramatischem bei den Klassikern lassen aber auch erkennen, daß Brecht mit Erstaunen und nicht ohne Bitterkeit feststellte, wie leicht und souverän sich so gegensätzliche Naturen wie Goethe und Schiller über die kompliziertesten ästhetischen Fragen ihrer Zeit zu verständigen vermochten. Wieviel Mißverständ11
Mittenzwei
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nissen waren dagegen seine eigenen ästhetischen Ansichten, selbst unter weltanschaulich gleichdenkenden Menschen, immer ausgesetzt. Während sich Brecht in den zwanziger Jahren gegenüber den eigentlichen ideellen Absichten, die in den klassischen Stücken verfochten wurden, höchst gleichgültig verhielt, bemühte er sich in der Emigration um den „ursprünglichen Ideengehalt". Er versuchte ihn nicht nur historisch zu begreifen, sondern auch von den historischen Bedingungen her für ein fortschrittlich denkendes Publikum sichtbar zu machen. Die Historisierung wurde zu einem sehr wesentlichen Element seines epischen Theaters, die er auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart anwandte. Welcher Wandel gerade hier in seiner Haltung zu dem klassischen Repertoire eingetreten war, davon vermitteln die wenigen Zeilen über den Wallenstein im Messingkauf nur einen schwachen Eindruck. Wenn Brecht schreibt, daß in diesem Stück gezeigt — wenn auch nicht bewiesen — werde, wie Verrat zur moralischen und physischen Zerstörung des Verräters führen müsse, weil die Welt nach Meinung Schillers auf der Basis von Verrat nicht bestehen könne, was wiederum nicht bewiesen werde, so klingt das zunächst noch reichlich kritisch und aggressiv. Die veränderte Einstellung Brechts zu diesem Stück zeigt sich jedoch vor allem in der Antwort auf die Frage, was ein Marxist mit der moralischen Sicht auf die Weltgeschichte anfangen soll. „Die moralische Frage", läßt Brecht den Philosophen sagen, „würde er ebenfalls als eine historische behandeln. Er würde den Nutzen eines bestimmten Systems innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sein Funktionieren beobachten und durch seine Anordnung der Vorfälle klarlegen." 231 Um die veränderte Sicht auf dieses Schiller-Stück noch deutlicher hervorzuheben, müssen noch weitere vergleichende Betrachtungen angefügt werden. In den zwanziger Jahren schätzte Brecht den Wallenstein-Romzn von Alfred Döblin mehr als das Schiller-Stück. Das verwundert, da Döblin in der gesellschaftlichen Aufhellung historischer Vorgänge gegenüber Schiller keineswegs vorangekommen war. Im Gegenteil I Die historischen Zusammenhänge wurden 162
bei Döblin durch eine Flut von Detailbeschreibungen und Episoden zugedeckt. Ein gesellschaftlicher Eingriff schien nirgends möglich. Der Krieg war bei ihm ein Moloch, der, einmal freigesetzt, alles mitriß. Vor allem die Gegenfigur zu Wallenstein, Kaiser Ferdinand, war von Döblin nicht nur völlig unhistorisch dargestellt, sondern auch noch ins Mystische gerückt. Am Schluß des Romans hat diese Figur jeden Realismus verloren und ist nicht mehr als die Verkörperung eines ziemlich verworrenen ethisch-idealistischen Prinzips. Was zog dann aber Brecht, der damals Schiller so unerbittlich kritisieren konnte, an diesem Roman an? Das Problem löst sich relativ einfach, wenn man bedenkt, daß Brecht in den frühen Jahren von einem sehr partiellen Standpunkt an Kunstwerke heranging und an vielem vorbeisehen konnte. Bei Döblin interessierte ihn das Prinzip der Episierung. In diesem Roman fand er großartig ausgebildet, was Döblin selbst als vorzügliches Kennzeichen des Epischen charakterisiert hatte: Epik könne man im Gegensatz zu Dramatik sozusagen mit der Schere in einzelne Stücke schneiden, welche durchaus lebensfähig blieben.232 Diese Stückchenim-Stück-Dramaturgie zog Brecht mächtig an, während er in der strengen aristotelischen Verknüpfungs-Dramaturgie des Schiller-Stückes damals keinen gangbaren Weg für einen zeitgenössischen Autor sah. Das war jedoch die vormarxistische, formale Konzeption vom Epischen. In der Emigration behielt er zwar die Vorstellung von der Stückchenim-Stück-Dramaturgie bei, entwickelte aber dazu ein dialektisches Verfahren der Verknüpfung. Dadurch gewann das Epische innerhalb der nichtaristotelischen Dramaturgie eine ganz andere Dimension.233 Die Position der formalen Episierung, für die Döblin noch ein Vorbild abgab, war überwunden. Daraus ergab sich folgerichtig auch eine andere Sicht auf Schillers Wallenstein. Brecht lernte das Epische an diesem Stück schätzen, die Dialektik von Epischem und Dramatischem, die dem Dramatiker enorme Vorteile in die Hand gab. Diese weitgreifende Veränderung der ästhetischen Ansicht muß man in der knappen Bemerkung Brechts über den Wallenstein mitlesen, um verstehen zu können, wie weit der marxistische Ausbau der nichtaristotelischen 11«
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Theorie auch Brechts Sicht auf die deutsche Klassik veränderte. Und noch ein Problem steht hinter der Bemerkung Brechts zum Wallenstein. Im Messingkauf polemisiert Brecht gegen die Schicksalskonzeption des aristotelischen Theaters. Diese Polemik ist eines der Hauptanliegen des gesamten Werkes. Nun ist es Brecht sicher nicht entgangen, daß Schiller sich in seinen Spät werken zwar auf den „großen Gegenstand" orientierte, sich aber auch der direkten gesellschaftlichen Auseinandersetzung seiner Zeit mehr und mehr zu entziehen suchte. Deshalb meinte er beim Schreiben des Stückes, nie habe er eine solche Kälte für die Sache mit der Wärme für die Arbeit zu verbinden gewußt. Die Ästhetisierung der Probleme durch Schiller zeigte sich u. a. darin, daß der Konflikt Wallensteins durch die Schicksalskonzeption des Dichters vorgeprägt wurde, wenn diese auch hier noch nicht so rein zum Ausdruck kam wie in der später geschriebenen Braut von Messina. Hier aber griff der Polemiker Brecht nicht ein, und dies in einer Arbeit, die sich gegen die aristotelische Schicksalskonzeption wandte. Das zeugt erneut von der eingetretenen Wandlung der Ansichten. Brecht unterließ nicht nur jede Polemik, im Gegenteil: Er erklärte, daß ein Marxist die moralischen Fragen ebenfalls als historische behandeln müsse. Die moralische Lesart der WallensteinFabel (Wallenstein fällt, weil Verrat zur physischen und psychischen Zerstörung des Verräters führt) und auch die ästhetisierende Lesart im Sinne der Schicksalskonzeption (Wallenstein übt Verrat, weil das Schicksal will, daß er fällt) versuchte Brecht historisch zu objektivieren. Er wandte sich sowohl gegen eine Interpretation, die nur von der moralischen Fragestellung ausging, als auch gegen eine Auffassung, die die moralische Frage, in die Schiller die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit kleidete, beiseite schob. Die Objektivierung der moralischen Frage durch eine marxistische Analyse konnte aber nicht so weit gehen, die historische Unscharfe, den mangelnden historischen Sinn Schillers für die gesellschaftlichen Lösungen seiner Zeit zu verschweigen. „Die marxistische Lehre", heißt es im Messingkauf, „stellt gewisse Methoden der Anschauung auf, Kriterien. Sie kommt dabei 164
zu gewissen Voraussagen und Winken für die Praxis. Sie lehrt eingreifendes Denken gegenüber der Wirklichkeit, soweit sie dem gesellschaftlichen Eingriff unterliegt. Die Lehre kritisiert die menschliche Praxis und läßt sich von ihr kritisieren." 2 3 4 V o n der neu gewonnenen methodologischen Basis aus schien es Brecht unhaltbar, in Schiller einen über die realen gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit hinwegdichtenden Ästheten zu sehen, wie er wiederum auch die Darstellung Wallensteins als Vorkämpfer eines geeinten, zentralisierten Deutschlands für eine unhistorische Deutung hielt. Eine marxistische Einschätzung dieses Stückes darf nicht übersehen, daß Schiller seinen Wallenstein zugrunde gehen ließ, weil er sich nicht „an das Sittliche und Verständige anzuschließen" vermochte. Diese kritische Sicht auf die moralische Fragestellung darf andererseits nicht die tatsächlichen historischen Probleme der Epoche verkennen, die im Stück von Schiller aufgeworfen wurden. Diesem vertieften historischen Verständnis für die schwierigen Entwicklungsprobleme der deutschen Klassik stehen bei Brecht gelegentlich auch einzelne Behauptungen entgegen, die schwerlich mit der Methode des historischen Materialismus zu vereinbaren sind. Sie sind bei Brecht vor allem dort zu finden, wo die Wut über die von G e o r g Lukäcs abgesteckte Traditionslinie alle D ä m m e geistiger Kontrolle niederriß. Wenn Lukäcs zum Beispiel von Dekadenz sprach, war Brecht sowieso geneigt, den angeführten Beispielen jede Beweiskraft zu nehmen und eher das Gegenteil zu behaupten. Die ästhetisch normative Betrachtungsweise wie der gesellschaftspolitische Gesichtspunkt des ungarischen Literaturhistorikers und Philosophen gaben Brecht dazu auch häufig Anlaß. In dieser Auseinandersetzung vertrat Brecht nicht nur weit öfter den differenzierteren Standpunkt, er ging auch von der richtigen historischen und gesellschaftlichen Position an das Phänomen der Dekadenz heran. D a s schloß aber boshafte Ausfälle nicht aus. In seinem Arbeitsjournal reagierte sich Brecht ab, wenn er den von Lukäcs angeführten Dekadenz-Beispielen entgegenhielt: „ U n d wenn die W A H L V E R W A N D T S C H A F T E N nicht décadence sind, dann doch der W E R T H E R ! " 2 3 5 E i n solcher Satz ist nur aus 165
der Frontstellung zu verstehen, in der sich Brecht gegenüber Lukäcs befand. Die aus politischen Überlegungen von Brecht unterdrückte Erwiderung entlud sich im Arbeitsjournal in gezielten Bosheiten. Fehlurteile dieser Art bestimmen jedoch bei Brecht nicht die Grundrichtung seiner Beschäftigung mit der deutschen Klassik. Aus ihnen das Brechtsche Klassikerbild abzuleiten wäre ganz und gar absurd. In den Jahren der Emigration wurde sich Brecht nicht nur über die gesellschaftliche Rolle von Goethe und Schiller klar, er entdeckte in ihren Werken auch neue Schönheiten und Tiefen. Von Goethe sagte Brecht, daß ihm aus seiner Zeit mehr zugeflossen sei als Schiller. Goethe habe die „private", Schiller die politische Befreiung besorgt, deshalb sei Schiller reichlicher als Goethe mit Zeitgemäßem versehen.236 Daß dem, der die „private" Befreiung betreibe, aus seiner Zeit mehr zufließe als dem, der die politische Befreiung verfolge, verwundert zunächst bei Brecht. Brecht sah aber in dem Betreiben der „privaten" Befreiung bei Goethe die größere, die dialektische Konzeption. Sie war weniger anfällig gegenüber Einflüssen, die durch die eigene Klassenposition und durch bornierte politische Vorstellungen ausgelöst wurden. Dennoch war er weit davon entfernt, in einer solchen Position nur Vorteile zu sehen. Brecht wußte um den schmalen Grat, der die Kunstleistung der Klassik möglich machte. Die menschliche Emanzipation unter Ausschaltung der politischen zu betreiben schien Brecht als weitgreifende Gesellschaftskonzeption undenkbar, obwohl er nicht ohne Verständnis für bestimmte ästhetische Vorteile war, die eine solche Konzeption Goethe bot. Zehn Tage nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges schrieb Brecht über Goethe in sein Arbeitsjournal: „ich blättere in goethes PANDORA und bin wieder betroffen über die HIRTENGESÄNGE, wie sich das verfeinerte mit dem primitiven berührt!" Folgende Verszeilen trug er in sein Arbeitsjournal ein: „wer will ein hirte sein lange zeit er hat zähl er die Stern im schein blas er auf dem blatt." 237 166
Mit einem bei Brecht geradezu überschwenglichen Lob und in gesteigerter Bildsprache bekannte er von Goethes Versen: „immer wieder taucht die hand da in die tiefe, etwas nach oben hebend, von dem einiges herabtropft, anderes bleibt, völlig verfremdet in der neuen gesellschaft. die glätte des stroms zeigt seine tiefe an." 238 Anhand von Goethes Lyrik hob Brecht hier ein Grundgesetz jeder großen Poesie hervor, auf das er immer wieder zu sprechen kam: Große Poesie muß widersprüchliche Elemente binden können, muß im Zusammenführen den Gegensatz aufheben können, ohne den Widerspruch in der Einheit völlig verschwinden zu lassen. Die Einheit mußte dialektisch gefunden und konstituiert werden. „Die Glätte des Stroms muß seine Tiefe verraten." Denselben Vorgang hatte er an der Dramatik Schillers bewundert. Ähnliche widersprüchliche Elemente fand er in der chinesischen Poesie vereint. Zugleich bahnte sich hier ein Verständnis für den klassischen Harmoniebegriff an. Dieser ästhetischen Kategorie war Brecht bekanntlich nicht mehr geneigt. Die Art und Weise aber, wie er die Schönheit und Tiefe von Goethes Lyrik erklärte, stand der Auffassung über das klassische Harmonieprinzip zumindest nicht entgegen. Ein Jahr nach der Eintragung über die „Hirtengesänge" kam er in seinem Arbeitsjournal nochmals auf die „widersprüchliche Einheit" als ästhetisches Verfahren zu sprechen. Wieder bildete Goethe den Ausgangspunkt. Nach Goethe, stellte Brecht fest, zerfalle „die schöne widersprüchliche einheit". Ein Abstieg finde statt. Heine nehme die völlig p r o f a n e , Hölderlin die völlig p o n t i f i k a l e Linie ein. Die daraus entstehenden Folgen erklärte er folgendermaßen: „in der ersten Linie verlottert die spräche in der folge immer mehr, da die natürlichkeit durch kleine Verstösse gegen die form erreicht werden soll . . . die pontifikale linie wird bei GEORGE unter der maske der Verachtung der politik ganz offen konterrevolutionär, d h nicht nur reaktionär, sondern wirkend für die konterrevolution." 239 Gegen diese von Brecht gezogenen Linien mag es sicher einiges einzuwenden geben. Für die Vielfalt der literarischen Erscheinungen ist dieser Raster etwas zu grob. Aber im Vergleich mit der Lukäcsschen 167
Dekadenzkonzeption weist selbst diese knappe Skizzierung eines Gedankens beträchtliche Vorzüge auf. Zunächst zeigte Brecht, wie Abstieg über Verfall zu Dekadenz als politischer Erscheinung führt. Es sind nicht diese und jene Kunstmittel und Kunstprinzipien wie bei Lukäcs, die zur Dekadenz führen, sondern das Unvermögen, ein Kunstwerk als widersprüchliche Einheit herauszubilden. Die Dialektik von Individuellem und Gesellschaftlichem ist gestört. Die Einheit kann nunmehr durch die Verdrängung oder Verschleierung der Widersprüche hergestellt werden. Das Ästhetische, losgelöst von dem Wirklichkeitsmaterial, von dem ihm innewohnenden Widerspruch, führt zur Dekadenz, die Brecht direkt politisch definierte, und zwar als — ganz gleich ob vom Dichter bewußt oder unbewußt — „wirkend für die Konterrevolution" . Das vertiefte Verständnis für das dichterische Werk Goethes, die Entdeckung des Dialektikers Goethe, dessen er sich wiederum bei der Arbeit zur Urfaust-Inszenietung (1953) bewußt wurde, schloß aber eine bestimmte Art von Mißtrauen gegen den größten deutschen Dichter nicht völlig aus. Es blieb immer ein Rest von Opposition, der mehr als eine kritische Einschätzung und Wertung Goethes war, die für einen Marxisten selbstverständlich ist. Das „wutschäumende" Temperament Brechts, von dem Hanns Eisler sprach, richtete sich in den späteren Jahren weniger gegen einzelne Werke, zu denen er meist eine sehr besonnen kritische, aber auch würdigende Einstellung bezog, als mehr auf die Gesamthaltung Goethes in den sozialen und politischen Kämpfen seiner Zeit. Den Mangel an revolutionärer Gesinnung bei diesem Mann empfand er nicht nur schmerzlich, sondern sah darin auch eine Haltung, mittels der Größe erkauft wurde. Der Aristokratismus Goethes wurmte ihn um so mehr, als er von der marxistischen Literaturwissenschaft der fünfziger Jahre im Unterschied zu den Klassikern des Marxismus mehr heruntergespielt als kritisiert wurde. Die wissenschaftliche Untersuchung der Brechtschen Position zu dieser Frage ist delikat, weil die „wutschäumende" Haltung Brechts zu Goethe zwar allgemein bekannt, aber nicht sonderlich umfassend oder gar zusammenhängend zu belegen ist. Noch 168
schwieriger ist es, den Bezug zur marxistischen Klassikforschung der vierziger und fünfziger Jahre, der bei Brecht in polemischer Richtung immer vorhanden war, nachzuweisen. Größere Diskussionen mit Brecht über diese Fragen fanden nicht statt, da Brecht auch eine Auseinandersetzung mit Germanisten über Goethe nicht als sonderlich nützlich betrachtete. Ihre Forschungen nahm er jedoch zur Kenntnis. Auch scheute er sich nicht, im Programmheft des Berliner Ensembles zum Urfaust Ausschnitte der Goethe-Studien seines Polemikpartners G e o r g Lukäcs abzudrucken. Will man die Position Brechts zu Goethe und zur deutschen Klassik verständlich machen, obwohl es in seinen Schriften und im Arbeitsjournal keine direkten Hinweise darüber gibt, muß man auch den damaligen Stand der Goethe-Forschung berücksichtigen. Wie Brecht über die politische Rolle und soziale Haltung Goethes in Weimar, insbesondere über die Reform Vorstellungen Goethes, dachte, darüber gibt eine Eintragung in seinem Arbeitsjournal Auskunft. E n d e 1940 las Brecht ein Buch über das Leben Konfu-tses. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird es sich dabei um das Buch Lun-jü gehandelt haben, das von den Schülern Konfu-tses verfaßt wurde. Die Lektüre über den großen chinesischen Denker, über den Pacht- und Steuereinnehmer, bereitete ihm auch insofern großes Vergnügen, weil sich ihm beim Lesen wie von selbst die Assoziation zu Goethes Rolle in Weimar aufdrängte. Konfu-tses Vorstellung von der Humanität (shön), von der sittlichen Erziehung der Persönlichkeit, von der Rolle des Menschen in genauer Übereinstimmung mit der Stellung, die der betreffende in der Gesellschaft innehat, das alles waren Bemühungen, um die es in einer anderen gesellschaftlichen Situation auch Goethe ging. Dazu kam noch, daß Konfu-tses Lehren wie die Goethes in der Folgezeit von der herrschenden Klasse in reaktionärer Weise genutzt wurden. D a s besondere Interesse Brechts richtete sich jedoch auf die Anstrengung Konfu-tses, einen Fürsten zu finden, der ihn Reformen durchführen ließ. Hier sah Brecht eine aufschlußreiche Parallele zu Goethe. Brecht bekam sogar Lust, daraus ein Stück zu machen. Wäre der Plan verwirklicht worden, hätte das
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Theater eine satirische Komödie über die Reformtätigkeit und Fürstenuntertänigkeit Goethes in chinesischer Verfremdung erhalten. Wenn man sich an das von Eisler beschriebene Temperament Brechts während der Urfaust-Vtohcn wie auch an die Qualität Brechts als Satiriker erinnert, braucht es nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie Goethe in diesem Stück porträtiert worden wäre. Zunächst sei hier die Arbeitsjournal-Eintragung wiedergegeben: „ich lese über das leben des KUNGFUTSE. was das für ein lustiges stück wäre! der zwanzigjährige ist pacht- und steuereintreiber des fürsten. aus seiner einzigen grösseren Stellung, die der GOETHES in weimar gleicht, wird er verdrängt durch kurtisanen und pferde, die der fürst bekommt, man denkt an den Weimarer hund. dann zieht er 20—30 jähre herum, einen fürsten zu finden, der ihn reformen machen liesse. man lacht überall über ihn. er stirbt überzeugt, dass sein leben ein fehlschlag und durchfall gewesen sei. — man müsste all dies humoristisch behandeln und dazwischen, unvermittelt, seine lehre bringen, soweit sie noch weise erscheint, allein die szene, in der er die geschichte lus verfasst, sich an die Wahrheit haltend, würde das stück verlohnen." 240 Sosehr die Geschichte des Konfu-tse auch ein Stück über Goethe geworden wäre, die Stoßrichtung des geplanten Werkes zielte nicht auf Goethe, sondern auf den politischen Reformismus. Mit ihm hatte er sich schon in der Mutter auseinandergesetzt. Diese Richtung hielt er im Hinblick auf die revolutionäre Umgestaltung Deutschlands einer satirischen Attacke wert. Ihm ging es am Beispiel Konfu-tse/ Goethe um eine Auseinandersetzung mit der unentschiedenen, kompromißlerischen Haltung eines Großteils der deutschen Intelligenz. Was in diesem Stück getroffen werden sollte, war die Tui-Haltung der deutschen Intelligenz, die die Geschäfte der Herrschenden besorgte. Die Haltung Goethes, der meinte, revolutionäre Umwälzungen seien nicht zu befürchten, wenn die Fürsten „ e i n i g e r m a ß e n (Hervorhebung von mir; W. M.) den gerechten Wünschen" entgegenkämen, 241 bot Brecht für das Stück die polemische Grundlage. Die Empfindung, die Konfu-tse am Ende seines Lebens hatte, als er annahm, er sei gescheitert, „sein Leben sei ein 170
Fehlschlag und Durchfall gewesen", war mit der Goethes zu vergleichen, als er in der Nacht vom 3. zum 4. September 1786 von Karlsbad aus nach Italien floh. Obwohl er kurz zuvor, zu seinem siebenunddreißigsten Geburtstag, mit Ehren überhäuft worden war, glaubte er, gescheitert zu sein. Die Art und Weise, wie Konfu-tse durch Kurtisanen und Pferde aus seiner Stellung verdrängt wurde, verglich Brecht mit jenem Vorgang, durch den sich Goethe genötigt fühlte, gegen Herzog Karl August aufzutreten und sein Amt als Hoftheaterintendant niederzulegen: Gegen die Anweisung Goethes hatte die Schauspielerin Jagemann, die langjährige Geliebte Karl Augusts, durchgesetzt, daß der umherziehende Schauspieler Karsten in dem Melodrama Der Hund des A.ubri de Mont-Didier oder der Wald bei Bondy mit einem lebendigen Hund auftreten konnte. Auch 'der Versuch des Konfu-tse, die Geschichte Lus zu verfassen, erinnert an das Dilemma Goethes, seine autobiographischen Schriften Aus meinem Leben über die Zeit nach 1775, dem Jahr der Abreise nach Weimar, hinauszuführen. Goethe hatte in Weimar Rücksicht auf die „höhergestellten" Personen zu nehmen. Goethe zeigt sich dabei allerdings geschmeidiger als Konfu-tse. Er fand einen Ausweg in den Tag- und Jahresheften als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In dieser Form waren Auslassungen und Ausweichmöglichkeiten gegeben, die, wenn vielleicht auch nicht die ganze Wahrheit, so doch Wahrheiten zu sagen erlaubte. Hier handelte es sich um einen der vielen Kompromisse Goethes zwischen dem ursprünglich Geplanten und dem Möglichen. 242 Die Reformertätigkeit Goethes in Weimar hielt Brecht, ohne sich eingehend damit zu beschäftigen, für etwas, was er gewöhnlich als „Rabitz" zu bezeichnen pflegte. In dem von ihm geplanten Stück wäre es ihm nicht in erster Linie darauf angekommen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Goethes Reformbemühungen zu zeigen, sondern den Mangel an revolutionärer Haltung. Es ist notwendig, in diesem Zusammenhang ein Wort zur Einschätzung der Literaturgeschichtsschreibung über die Reformtätigkeit Goethes in Weimar zu sagen. Brechts Meinung zu diesem Punkt mag übertrieben und für eine ganz bestimmte Absicht zurecht171
gelegt sein, völlig von der Hand weisen läßt sie sich nicht. Verschiedene Literaturhistoriker überschätzen Goethes Tätigkeit in Weimar und leiten aus dem Scheitern seiner Reformversuche bestimmte politische und ästhetische Konsequenzen ab, zu denen Goethe zwangsläufig hingedrängt worden sei. Goethe selbst wies auf die „armseligen Elemente unserer kleinen Staaten" hin, die von vornherein Reformversuche fragwürdig machten. In der Tat war das Gebiet, in dem Goethe „regierte", kleiner als ein preußischer Regierungsbezirk. Da für die klassische Periode der deutschen Literatur ein allgemeiner Mangel an gesellschaftlicher Praxis festzustellen ist, hat die marxistische Literaturwissenschaft dieses Feld gesellschaftlicher Tätigkeit sehr wichtig genommen. Den Vorteil einer solchen Arbeit faßte Goethe selbst weit vorsichtiger, als er schrieb: „Wäfs auch nur auf ein paar Jahre, ist's doch immer besser als das untätige Leben zu Hause, wo ich bei der größten Lust nichts tun kann. Hier hab ich doch ein paar Herzogtümer vor mir." 243 Goethe hat sich dann auch tatkräftig für eine Finanzreform eingesetzt. Auch vermochte er den Herzog zu bewegen, das stehende Heer zu vermindern. Während bürgerliche Historiker, u. a. der liberale Fritz Härtung und Wilhelm Mommsen, die politischen Versuche Goethes im Vergleich mit anderen fortschrittlichen Bemühungen in dieser Zeit sehr vorsichtig einschätzten, sahen die Literaturhistoriker diese Tätigkeit in einer anderen Dimension. So schrieb Hans Mayer: „Goethe mußte sich an den Aktenkram .verzetteln', weil seine g r o ß e n politischreformatorischen Pläne (Hervorhebung von mir W. M.) zwischen 1775 und 1786 an den Weimarer Verhältnissen zerschellt waren." 244 Mayers Ansicht war in diesem Punkt auch die Georg Lukâcs'. Im Vergleich mit den wenige Jahre vorher in Sachsen geplanten und teilweise durchgeführten Reformen, die von einer Gruppe bürgerlicher und adeliger Intellektueller, den Initiatoren des sogenannten sächsischen Rétablissements, verfochten wurden, nahmen sich Goethes Bemühungen um Veränderungen im Agrar- und Bergbauwesen äußerst dürftig aus. Es waren also nicht nur die „armseligen Elemente unserer kleinen Staaten", die jede größere Vorstellung verhinderten. Man darf nicht die Augen davor 172
verschließen, daß Goethe, als er nach Weimar kam, auf sozialem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet keine auf vergleichbarer Höhe befindlichen Vorstellungen besaß, wie sie progressive bürgerliche Kreise in Sachsen unter ähnlich miserablen Bedingungen teilweise sogar schon durchgesetzt hatten. 245 Auch schlug sich Goethe bei einigen anderen, nicht unwesentlichen Entscheidungen im Weimarer Staatswesen nicht auf die progressive Seite. So war er gegen die Errichtung einer Akademie, obwohl die Akademien den bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen unter bestimmten Umständen günstigere Ausgangspositionen ermöglichten. Als nach dem Brand des Weimarer Theaters die Frage aufgeworfen wurde, ob ein Hoftheater oder ein Volkstheater gebaut werden sollte, plädierte er gegen das Volkstheater, für das Hoftheater. Er wandte sich gegen die Bestrebungen der Jenenser Studenten. Selbst in Fragen der Prügelstrafe und des Spießrutenlaufens bezog er nicht gerade eine soziale Position.246 Warum hier dieser Exkurs über die soziale Haltung und die staatspolitische Tätigkeit Goethes? Selbstverständlich kann Goethes Position in der deutschen Literaturgeschichte, seine Bedeutung für die Entwicklung der fortschrittlichen deutschen bürgerlichen Nationalliteratur nicht von seiner Ministertätigkeit und seiner sozialen Haltung aus beschrieben werden, sondern muß in erster Linie aus seinen Werken sichtbar gemacht werden. Diese Probleme mußten hier jedoch aufgeworfen werden, weil sie den geistigen Hintergrund zu Brechts Stückentwurf bildeten. Dazu kommt noch,' daß Brecht gerade diese o Seite Goethes stark interessierte. Sie bildete nicht selten den Ausgangspunkt der Brechtschen Opposition gegen Goethe und die Goethe-Forschung. Wie oft sich gerade solche einzelnen Gesichtspunkte auch auf die Sicht einzelner Stücke auswirkten, wird noch an Brechts Arbeit zur Inszenierung des Urfaust zu zeigen sein. Und noch ein weiterer Grund muß genannt werden : In der marxistischen Klassikforschung, insbesondere von Lukacs und der germanistischen Forschung der fünfziger Jahre, fand Brecht die gesellschaftspolitische Haltung Goethes als ein Moment der Dialektik von gesellschaftlicher Persönlichkeit und literarischem Werk einfach weggeschnitten. Im 173
Hinblick auf die politischen und sozialen Anschauungen Goethes stand Brecht in seinem Urteil dem Walter Benjamins nahe, der 1928 in dem Entwurf zu einem Artikel für die Große Sowjet-Enzyklopädie über Goethe geschrieben hatte.: „Goethe hat sich nicht wie Lessing als Vorkämpfer der bürgerlichen Klasse, sondern viel eher als ihr Deputierter, ihr Botschafter beim deutschen Feudalismus und dem Fürstentum empfunden.'^« Während der Rückkehr aus dem Exil beschäftigte sich Brecht mit dem Briefwechsel %mischen Goethe und Schiller. Zuerst las er den Essay Georg Lukäcs' über den Briefwechsel. Etwas ironisch vermerkte er, daß Lukäcs schildere, „wie die deutschen Klassiker die französische revolution verarbeiten".248 Die Bezeichnung „verarbeiten" drückte schon aus, daß Brecht in der Art und Weise, wie Goethe und Schiller von ihren gesellschaftlichen Bedingungen und Ansichten aus mit dem Ereignis der Französischen Revolution fertig zu werden suchten, etwas sehr Problematisches sah. Insbesondere dachte er „schaudernd" daran, die deutschen Schriftsteller der Gegenwart könnten, da sich das deutsche Volk 1945 nicht durch eine revolutionäre Erhebung vom Faschismus zu befreien vermochte, nun die Sozialistische Oktoberrevolution auf ähnliche Weise „verarbeiten". Die Haltung der deutschen Klassiker zum Ereignis der Französischen Revolution, insbesondere ihre zunehmende Verständnislosigkeit gegenüber der sozialen und politischen Differenzierung des sogenannten Dritten Standes bis zur endgültigen Ablehnung der Revolution nach dem Entstehen der Jakobinerdiktatur,249 bildete für Brecht einen weiteren Gesichtspunkt, der ihn zu einer kritischen Haltung gegenüber Goethe und Schiller veranlaßte. Er konnte ihre Kritik an der Revolution, die sich nach 1792 zur Gegnerschaft ausweitete, nicht so weit „historisch" rechtfertigen wie zum Beispiel Paul Reimann, der schrieb: „Aber wenn Goethe auch gelegentlich auf die historische Bedeutung der Revolution hinwies und den herrschenden feudalen Zuständen kritisch gegenüberstand, machten seine gesellschaftliche Stellung und die ganze Atmosphäre, in der er zu leben gezwungen war, es ihm unmöglich, mit ihr zu sympathisieren."250 Wenn Goethe von sich be174
hauptete, er habe sich gegenüber dem herrschenden Prinzip nie in nutzlose Opposition stellen mögen, sondern sich lieber in sein „Schneckenhaus zurückgezogen und da nach Belieben gehauset", 251 so war das für Brecht jene Tui-Haltung, die er in einem großen Teil der deutschen Intelligenz weiterexistieren sah und die er zu geißeln suchte. Die Unerbittlichkeit, mit der Goethe sich gegen jeden Einfluß der Massen wehrte, wie er, für das einfache Volk eintretend, ihm jedoch das Recht absprach, sich in politische Dinge zu mischen, waren für Brecht viel zu weitgreifende Momente, als daß er sich hätte vorstellen können, eine solche Haltung bliebe ohne negative Folgen für die ästhetische Position. Goethe schloß seine Eindrücke über die Campagne in Frankreich mit den Verszeilen: „Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke, / Der Enge zu, die uns allein beglücke." 252 Und Schiller schrieb 1795 an Erhard: „Nach und nach, denke ich mir, sollen Sie sich ganz und gar von dem Felde des praktischen Cosmopolitism zurückziehen, um mit Ihrem Herzen sich in den e n g e r e n Kreis (zweite Hervorhebung von mir; W. M.) der Ihnen zunächst liegenden Menschheit einschließen, indem sie mit Ihrem Geist in der Welt des Ideals leben. Glühend für die Idee der Menschheit, gütig und menschlich gegen den einzelnen Menschen, und gleichgültig gegen das ganze Geschlecht, wie es wirklich vorhanden ist — das ist mein Wahlspruch." 253 Welche ästhetischen Folgen es haben mußte, wenn die Französische Revolution in ihrer weltenwendenden Bedeutung durchaus erkannt, aber zugleich
als „westliches Vorbild" auf das entschiedenste zurückgewiesen wurde, erkannte Brecht, als er 1948 den Briefwecchsel 3wischen Goethe und Schiller las. Nicht ohne Betroffenheit stellte er fest: „lese den BRIEFWECHSEL ZWISCHEN GOETHE UND SCHILLER, was für eine ,hochgesinnte* Verschwörung gegen das publikum; die bourgeoisie bekommt seine literatur aufgezwungen wie sein bürgerliches gesetzbuch. eine coterie unter coterien, und die Verschwörung ist öffentlich, zugleich,
welch ein anpassungsversuch! wie sich die beiden auch gesellschaftlich qualifizieren!" 254 Brecht sah zu dieser Zeit in der Haltung Goethes und Schillers zur Französischen Revolution viel weniger als in früheren Jahren nur das reaktionäre Moment. „Welch ein Anpassungs175
versuch", schrieb er erstaunt und erschrocken zugleich. Beeindruckend für ihn auch, in welchem Maße sich beide in den entscheidenden gesellschaftlichen und ästhetischen Fragen einig waren.Brecht empfand sogleich: Hier entwickelt — wie er boshaft formulierte — eine „Clique" ihr Programm, das alle anderen Positionen zu Außenseitern macht. Die Wendung, „wie sich die beiden auch gesellschaftlich qualifizieren", ist aber nicht ohne Bewunderung gebraucht. Der Versuch, nicht ins reaktionäre Lager abzugleiten und dennoch die Französische Revolution in ihrer konsequenten Phase und die damit verbundenen Demokratievorstellungen abzulehnen, konnte Brecht zwar als eine gesellschaftliche und ästhetische Beweglichkeit von hohen Graden, aber nicht ohne Berücksichtigung der Nachteile und Nachwirkungen hinnehmen. Der Versuch einer menschlichen Emanzipation unter Umgehung der politischen Emanzipation, wie sie durch die Revolution eingeleitet wurde, war als politisches Programm untauglich. Der Briefwechsel machte Brecht klar, was diese „Verarbeitung" der Französischen Revolution ästhetisch kostete. Brecht formulierte es ironisch und bösartig eine „,hochgesinnte' Verschwörung gegen das Publikum". Sofern die ablehnende Haltung zur Französischen Revolution nicht direkt mit einem Niveauschwund bezahlt werden mußte, wie bei Goethe in seiner Revolutionsdichtung und bei Schiller in einigen späteren Dramen (vor allem in der Braut von Messina), lagen die Kosten in dem Verzicht auf den unmittelbaren gesellschaftlichen Eingriff in die Zeit zugunsten einer langfristigen Menschheitsperspektive, die nicht frei sein konnte von utopischen und illusionären Zügen. Damit verbunden war die hochstilisierte und verschlüsselte Gestaltungsweise. So wurde die Kompromißlösung nicht ohne Schädigungen erkauft. Brecht schienen sie nicht unbeträchtlich, zumal auch die Schwierigkeiten der Klassik bis in die Gegenwart fortwirkten. An dieser Stelle sei ein Zitat aus den Gesprächen Hanns Eislers eingefügt, das die Schwierigkeiten verdeutlicht, die die Aneignung des großen klassischen Erbes bereitet: „Ich lese eben wieder einmal die Gespräche Goethes mit Eckermann und finde da einige Zeilen, die mich sehr betrübt machen. Weil: sie erinnern mich an die Schwierigkeiten, mit denen die Deutschen ihr klassisches Erbe 176
zu übernehmen haben. Das Faktum ist bekannt. Die Klassiker haben tatsächlich für die gebildeten Stände geschrieben, wie sie selbst zugaben — und zwar in einer eigentümlichen Form gebildet. Das aufzuholen und nachzuholen, für die Arbeiterklasse, ist schwierig, braucht Zeit und stimmt nicht immer mit unseren momentanen Interessen überein. Zum Beispiel lese ich da über Schwierigkeiten, das Drama Tasso zu lesen. Da sagt jemand: .Dennoch' — ich zitiere — ,hält man in Deutschland den Tasso für schwer, so daß man sich wunderte, als ich sagte, daß ich ihn lese.' — ,Die Hauptsache beim Tasso', sagte Goethe, ,ist die, daß man kein Kind mehr sei und gute Gesellschaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geist und Zartsinn und genugsam äußerer Bildung, wie sie aus dem Umgange mit vollendeten Menschen der höheren und höchsten Stände hervorgeht, wird den Tasso nicht schwer finden.'"255 Diese Verheißung nannte Eisler eine „trübe Chance". Eine weitere Wendung und Vertiefung in Brechts Klassikerauffassung vollzog sich in den fünfziger Jahren, als Brecht am Berliner Ensemble die Inszenierung des Urfaust vorschlug. Dieser Zeitabschnitt ist eigentlich Gegenstand des folgenden Kapitels. Um aber den inneren Zusammenhang in der Darstellung der Probleme zu wahren, sei hier ein Vorgriff erlaubt. Zu Beginn des Jahres 1953 beschäftigte sich Brecht intensiver mit dem TJrfaust. Die Inszenierung des Stückes — als Studio-Aufführung des Berliner Ensembles gedacht — hatte er seinen Schülern übertragen. Die konzeptionelle Ausrichtung der Inszenierung ging jedoch allein von ihm aus. In der Geschichte des Berliner Ensembles wurde diese Aufführung immer etwas stiefmütterlich behandelt. Sie zählte nicht zu den großen, berühmten Inszenierungen des Ensembles. Der Verlauf der Inszenierung gestaltete sich auch recht schwierig, obwohl, wie Brecht in seinem Arbeitsjournal schrieb, die jungen Leute sehr ernsthaft und mit großem Spaß arbeiteten. Wie stark jedoch die Impulse waren, die von der Brechtschen Konzeption ausgingen, zeigte sich, als 1969 Adolf Dresen und Wolfgang Heinz Faust — Erster Teil am Deutschen Theater aufführten. Kenner der Brechtschen Konzeption konnten an 32
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dieser Inszenierung wahrnehmen, wie hier in einzelnen Szenen und auch im Gesamtplan die Vorzüge und Schwächen der Brechtschen -Auffassung hindurchschimmerten. Die Schüler Brechts nahmen zunächst die Arbeit an dem Stück am Potsdamer Theater auf. Das war eine am Berliner Ensemble übliche Praxis, um Erfahrungen für die Aufführung im eigenen Hause zu sammeln und gleichzeitig den kleineren Theatern in der Republik Anregungen für ihre Theaterpraxis zu geben. So verfuhr man auch bei den Aufführungen von Der gute Mensch von Se^uan (Rostock), Tage der Commune (Chemnitz/ Karl-Marx-Stadt). Die Arbeit in Potsdam war jedoch von der Konzeption her heftiger Kritik ausgesetzt. Brecht sah sich nicht nur zu einer tieferen Beschäftigung mit dem Faust-Stoff veranlaßt, er hielt auch weitgehende konzeptionelle Korrekturen für unumgänglich. Es entstand eine ganz neue Lesart des Stückes, die nunmehr am Berliner Ensemble szenisch realisiert werden sollte. Zwischen der Potsdamer und der Berliner Konzeption des Stückes lag eine Phase intensiver Beschäftigung Brechts mit Goethes Faust. Die Gedanken, die Brecht hier entwickelte, gingen über den Urfaust hinaus und betrafen den gesamten Faust. Brechts Beschäftigung mit Goethe hatte diesmal einen völlig neuen Ausgangspunkt. Das Stück wurde für ein sozialistisches Theater mit einem neuen Publikum eingerichtet. Auch die Kritik, mit der er sich auseinanderzusetzen hatte, ging von den Bedürfnissen der sozialistischen Gesellschaft aus. Dennoch konnte die geplante Aufführung eine Polemik mit gewohnten, nämlich bürgerlichen Auffassungen nicht außer acht lassen, aber darin lag nicht der konzeptionelle Drehpunkt für die Inszenierung. Die Regie durfte in dem Stück nicht nur eine Möglichkeit zur Ideologiekritik sehen, sondern mußte den Geist einer neuen Zeit, der im Stück ausgedrückt ist, als impulsgebendes Moment für die sozialistische Gegenwart kräftig herausarbeiten. Brecht ging davon aus, daß man in der frühen Textfassung nicht etwas Unvollkommenes sehen dürfe. Der Urfaust habe durchaus eigenes Leben und sei keine Sache für intime Kenner des gesamten Faust-Komplexes. Er zählte das Stück zu der eigentümlichen Gattung von Fragmenten, „die nicht unvollkom178
men, sondern Meisterwerke sind, hingeworfen in einer wunderbaren Skizzenform".256 Goethes Faust wurde von ihm als die bedeutendste Leistung der deutschen Literatur gekennzeichnet. Bei Brecht heißt es: „Die Liebesgeschichte ist die kühnste und tiefste der deutschen Dramatik . . . Der ,Urfaust' ist eine Art Jungbrunnen für das deutsche Theater . . . Mephisto und Gretchen, zwei der schönsten Figuren des Welttheaters . . ."257 Den Urfaust hielt Brecht für realistischer als den Faust I, fügte aber sogleich vorsichtig hinzu, das liege vielleicht an der bisherigen Aufführungspraxis, die meist absurd gewesen sei.258 Deshalb suchte er die Auseinandersetzung mit früheren Konzeptionen. Nach den Notaten, die Manfred Wekwerth über die Besprechungen anfertigte, machte Brecht auf Spengler aufmerksam, auf die Klischeevorstellung vom „ewigen Wahrheitssucher" wie auf den „Wahrheitssucher als biologisches Prinzip". In jedem Fall sei dann die schauspielerische Lösung „edel, heldisch, unveränderlich . . . mit Äonen verbunden, aber nicht mit dem BGB" gewesen.259 Die Bewunderung und außerordentliche Wertschätzung des Faust I hinderten Brecht nicht, einzelne Schwächen und mögliche Schwierigkeiten zu markieren. So seien Goethe die Hexen völlig mißlungen. Auch der Osterspaziergang habe eine unrealistische Grundhaltung und grenze schon an absurde Schönfärberei. Brecht begründete das historisch. Es sei immerhin die Zeit des Bauernkrieges.260 Goethes Gestaltung war ihm hier zu sehr Idylle. Schwierigkeiten sah er für die Gestaltung der Szene „In Auerbachs Keller" voraus. Die Regie dürfe die Studenten nicht lustig sein lassen, sondern das Publikum. Brecht erklärte, die Späße der Studenten kämen nicht aus der Lustigkeit, sondern aus dem Comment, der sehr ernst sei, mindestens ebenso ernst wie das Dienstreglement. Diese neue Sicht, gerade der Urfaust-Szenen, bereitete dann den Schauspielern sichtbare Schwierigkeiten, so daß sie Bedenken gegen die Regie anmeldeten. Brecht antwortete darauf mit einem Brief an die Schauspieler, in dem er darauf hinwies, daß die Gegensätze von Spaß und Ernst, Humor und Würde sich in großer Dramatik durchaus miteinander vertrügen, daß jede Beschönigung und Verniedlichung nur der Größe des Werkes Abbruch tue. Hier ging es um das Problem der widersprüchlichen Elemente, um 12*
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jenen Vorgang, der die dialektische Spannweite ermöglicht, die für große Fabeln und Figuren unerläßlich ist. Damit beschäftigte sich Brecht schon in der Emigration. Die „schöne Widersprüchlichkeit" hatte er bei den Klassikern kennengelernt. Nunmehr galt es, diese Erkenntnisse in der Theaterpraxis zu erproben. Wenn Brecht den Urfaust vom materialistisch-dialektischen Standpunkt aus zu betrachten suchte, so wollte er keinesfalls den Fehler begehen, statt des Stückes „Philosophie" zu spielen. Deshalb hielt er sich an die „naive Geschichte". Von der Regie forderte er, daß einfach und real gespielt wird. „Wir brauchen einen ganz naiven Ton", heißt es in den Notate/i.261 Andererseits hütete sich Brecht aber auch, die Inszenierung allzunah an das Puppenspiel zu rücken. Das war ihm wiederum ein „zu großer Sprung". Den naiven Volkston, diese Mischung von derbem Spaß und hohem Weltanschauungsgespräch, von grobianischer Versprägung und neuer humanistischer Prosa, den Brecht für die Inszenierung anstrebte, ohne auf allzuweit zurückliegende Vorbilder zu greifen, wäre vielleicht mit dem Hinweis auf Goethes Fragment von Hans Wursts Hochzeit beizukommen gewesen. Denn Brecht suchte für seine UrfaustInszenierung ein Gegengewicht zu den gewohnheitsmäßigen Wirkungen der bürgerlichen Aufführungen. Die Kraft, Leidenschaft und Schönheit des Stückes sollten nicht durch „Philosophie" beeinträchtigt werden. Vor allem kam es ihm darauf an, jene Vorstellungen zu zerstören, die der Besucher des bürgerlichen Bildungstheaters suchte. Nun gehörte zu den großen nachgelassenen Fragmenten Goethes aus der Nachbarschaft des Urfaust das Hans- Wurst-Spiel. Es ist zu bedauern, daß es Brecht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt hat, es hätte in seinen Überlegungen sicher eine entscheidende Rolle gespielt. Thomas Mann, der ein ausgezeichneter GoetheKenner war, kannte es. Er nannte es zwar ein „Unterfangen von der dreistesten Ausgefallenheit", wies aber an dem Fragment bis in einzelne Verszeilen nach, daß der Sprachgestus und Sprachklang des Hans Wurst auch der des Faust sei.262 Thomas Mann fiel es leicht, den Zusammenhang beider Fragmente zu belegen, da beider Herkunft das Volksbuch, das Puppenspiel war. Von hier aus wären für Brecht die Schwierig180
keiten seiner Schauspieler zu beheben gewesen, die mit den drastischen Späßen in einem Werk Goethes nicht zurechtkamen, weil sie meinten, solche Späße seien mehr Carows Lachbühne angemessen. In dieser Befürchtung zeigte sich aber auch, wie eine pontifikale Erbeauffassung die Vorstellung darüber, was einem Goethe gemäß ist, deformiert hatte. Bevor Brecht dazu kam, seine neue Konzeption beim Publikum durchzusetzen, mußte er sie erst einmal bei seinen Schauspielern durchsetzen. Die Ausrichtung der Inszenierung auf das Volksstück gestaltete sich insofern schwierig, als Brecht selbst einige Irrtümer überwinden mußte. In der Potsdamer Fassung hatte er den Faust, um der herkömmlichen Darstellungsweise entgegenzuwirken, als einen Scharlatan, einen Schwarzkünstler, einen brutalen Verführer darstellen lassen. An die Stelle des „ewigen Wahrheitssuchers" rückte der leichtfertige Abenteurer. Faust wurde aller „heldischen Züge" entledigt und so auf eine negative Figur reduziert. Bei dieser konzeptionellen Anlage spielte die „Wut" Brechts auf Goethe keine geringe Rolle. Sie brach hervor, wenn er zum Beispiel seine Schüler darauf hinwies, Goethe habe sich als Minister dazu hergegeben, das Todesurteil über eine junge Kindesmörderin zu unterschreiben, die sogar der Herzog zu begnadigen wünschte. 263 In der Potsdamer Fassung kam Brechts Opposition gegen die soziale und politische Denkweise des größten deutschen Dichters sehr deutlich zum Ausdruck. Seine Aversion gegen Goethe drohte jedoch das Stück zu ruinieren. Zudem blieb nicht aus, daß diese Aufführung in Potsdam auf heftige Kritik stieß. Brecht begann abermals das Stück und die Position Goethes zu durchdenken. Im Zuge dieser Arbeit entdeckte er wieder aufs neue den Dialektiker Goethe. Brecht entschied sich für eine einschneidende Korrektur. Wie er diese Korrektur begründete, soll aus den Notaten Manfred Wekwerths belegt werden. Denn wie Brecht hier seinen Irrtum charakterisierte und korrigierte, das ist zugleich kennzeichnend für die gesamte Haltung Brechts zum Erbe und für seine Wendung in der Erbeauffassung. Einleitend kommt noch einmal die bisherige Aufführungspraxis des Faust zur Sprache, dann heißt es: „Wir suchten den entgegengesetzten Weg. Allerdings reicht 181
für eine Gegenkon2eption nicht aus, den entgegengesetzten Weg zu gehen, da er nur Polemik des .gesetzten' Weges ist, das heißt, nur zusammen mit diesem verständlich. Die Negation des Falschen bleibt noch falsch. Ihr fehlt der dialektische Umschlag, die Aufhebung also." 264 Brecht hob nunmehr Faust als einen souveränen Menschen hervor, der viel geleistet und die Wissenschaften studiert hat. Die Betonung lag auf dem Renaissancemenschen, der alle „Wirkungskraft und Samen schauen" will. Der tragische Widerspruch und Konflikt wurde darin gesehen, daß Faust bei der Verwirklichung seiner humanistischen Ideale sich der Kraft des Teufels bedienen muß. Hierin erblickte Brecht den Konflikt, der sich durch das ganze Stück zieht und für den es auch am Ende des Stückes noch keine Lösung gibt. Der Pakt mit dem Teufel war für ihn ein wichtiger Drehpunkt der gesamten Faust-Dichtung. Nur bestand die Schwierigkeit darin, daß gerade diese wichtige Szene im TJrfaust fehlte. Diese „Lücke" konnte nach Brechts Meinung auf keinen Fall hingenommen werden. Deshalb schlug er vor, über den Abschluß des Paktes auf epische Weise zu berichten. Im Rahmen dieser neuen Konzeption reicherte Brecht die Figur des Faust an, indem er einzelne Züge stärker hervorhob und gestisch aufbereiten ließ. Dazu ein Beispiel aus den Notaten Manfred Wekwerths: „Auf der Probe am 29. 1. gab Brecht der Figur, unter Beibehaltung des matten Tones, eine neue Haltung: die steife, aufrechte Haltung des großen Gelehrten, der gewohnt ist, vor Publikum aufzutreten. Anweisung dazu: Faust ist kein armer Tor an und für sich, sondern er hat sich, wie er erkennen muß, zum Toren herab- oder heraufstudiert; er gleicht einem Ertrunkenen, der sich krampfhaft bemüht, den Kopf über Wasser zu halten; der Körper ist müde, aber der Kopf, gewohnt nächtelang durchzuarbeiten, ist frei. Diese Gesten sind groß und zu Ende geführt, sonst müßten sie dem müden Mann mißlingen." 265 Hier ist nicht der Ort, die Aufführung zu rekonstruieren und theaterwissenschaftlich zu analysieren. Darauf kann auch schon deshalb verzichtet werden, weil die Notate Manfred Wekwerths eine ziemlich genaue Vorstellung von der Aufführung vermitteln. Von größerem Interesse für Brechts Haltung zu 182
Goethe sind einige seiner Ausführungen, die über die UrfaustInszenierung hinausweisen. Das Schwergewicht, das Brecht dem Teufelspakt beimaß, hat nämlich auch zur Folge, daß Fausts Entwicklung im JJrfaust wie im ersten Teil des Faust nicht als abgeschlossen oder zu einem vorläufigen Ende geführt betrachtet werden kann. Brecht betonte, Faust habe am Ende nichts begriffenwie die Mutter Courage. Eine Möglichkeit, aus eigener Kraft zu handeln und Veränderungen zu bewirken, zeichnet sich für Faust erst am Ende des zweiten Teils ab. Der zentrale Konflikt des Stückes, wie der Hinweis auf seine Lösung, ist auf dem Theater nur überzeugend darzustellen, wenn der Teufelspakt, über Hochgefühl und Verzweiflung Fausts hinweg, stets als bestehend und real wirkend gezeigt wird. Denn der Widerspruch des gesamten Faust-Komplexes enthüllt sich darin, wie Brecht formulierte, daß über die Suche nach a n d e r e n gesellschaftlichen Werten sich zunächst eine Verneinung a l l e r ergibt. Je breiter dieser Widerspruch ausgeschritten wird, desto eher ergibt sich der Ansatz zu einer Lösung. Deshalb meinte Brecht, nirgends sei das Stück offener wie am Ende des ersten Teils: „Es ist wie im guten Krimi: das Kapitel bricht ab, wo es am spannendsten ist. Wenn man durchaus wissen will, wie es sich zum Guten wendet, muß man weiterlesen. Jeder Krimileser würde protestieren, die gute Lösung schon im ersten Kapitel immerzu durchblicken zu lassen . . . Tut man im ersten Teil aber so, als ,sei alles gar nicht so schlimm, da es ja später gut ausgehe', raubt man dem Publikum gerade das, was man für Faust beansprucht: Glück durch Tätigkeit." 266 Damit berührte Brecht eines der schwierigsten Probleme der marxistischen Faust-Interpretation auf dem Theater. Da diese Probleme über den JJrfaust hinausgingen, wurden sie von Brecht nicht weiter verfolgt. Er trug sich bereits mit dem Plan, ein Stück über die großen gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR, Strittmatters Katzgraben, aufzuführen. Das war Neuland für das Berliner Ensemble. Die Faust-Debatten, die noch so viele Fragen offengelassen hatten, wurden durch neue Diskussionen um andere Fragen verdrängt. Aus der Faust-Diskussion ging er, der sich immer gern belehren ließ, wenn er lehrte, als ein Belehrter hervor. 183
E r hatte seine Haltung zu den Klassikern erneut überprüft und tiefere Erkenntnisse gewonnen. Für die Weiterentwicklung der marxistischen Erbeaneignung blieben jedoch gerade diese Erfahrungen weitgehend unberücksichtigt. Mit diesen Darlegungen ist bereits die Antwort auf die gestellte Ausgangsfrage gegeben. Mit der stärkeren Hinwendung zum historischen Materialismus gelangte Brecht zu einem Verständnis der widersprüchlichen Position der deutschen Klassik. Die Antiklassik-Position, wie sie Börne im 19. Jahrhundert vertrat, war im wesentlichen ein Problem des liberalen Bürgertums vor der Revolution von 1848. Darauf hatte schon Friedrich Engels 1847 eine Antwort gegeben : „Wir werfen Goethe nicht ä la Börne und Menzel vor, daß er nicht liberal war, sondern daß er zuzeiten auch Philister sein konnte, nicht, daß er keines Enthusiasmus für deutsche Freiheit fähig war, sondern daß er einer spießbürgerlichen Scheu vor aller gegenwärtigen großen Geschichtsbewegung sein stellenweise hervorbrechendes, richtigeres ästhetisches Gefühl opferte; nicht, daß er Hofmann war, sondern daß er zur Zeit, wo ein Napoleon den großen deutschen Augiasstall ausschwemmte, die winzigsten Angelegenheiten und menus plaisirs eines der winzigsten deutschen Höflein mit feierlichem Ernst betreiben konnte. Wir machen überhaupt weder vom moralischen, noch vom Parteistandpunkt, sondern höchstens vom ästhetischen und historischen Standpunkt aus Vorwürfe; wir messen Goethe weder am moralischen, noch am politischen, noch am .menschlichen' Maßstab." 2 6 7 Engels' Auffassung richtete sich ebenso scharf gegen jede Geringschätzung des klassischen Erbes wie auch gegen unhistorische Beanspruchungen — etwa gegen den Vertreter des „wahren Sozialismus" Karl Grün —, der „den rätselhaften Geheimderrath von Weimar als Flügelmann oder Tambour-Major direkt in unsere Reihen [zu] stellen" suchte. 268 Die kritische Sicht wie auch die frühere Opposition gegenüber der deutschen Klassik darf nicht so verstanden werden, als ob Brecht die Entwicklungslinie des klassischen Erbes von Goethe, Hegel, Heine zu Marx durch eine andere zu ersetzen suchte. Sosehr Brecht an einer Literatur interessiert war, die die unmittelbaren Volksinteressen zum Ausdruck 184
brachte, so sah er andererseits nicht die Möglichkeit, für das 18. Jahrhundert und den Beginn des 19. Jahrhunderts der obengenannten Entwicklungsmarkierung eine Linie entgegenzusetzen, die von radikalen kleinbürgerlichen Kräften repräsentiert wurde. Brecht verfiel nicht in das Extrem, die bessere, weil konsequentere politische Haltung der größeren Kunstleistung der Klassiker vorzuziehen. Das Studium der Brechtschen Traditionslinie zeigt vielmehr, daß die Entwicklung seines eigenen Werkes über die fernöstliche Poesie, die griechische und römische Antike, über Shakespeare bis zu Goethe, Hegel und Marx sich vollzog. In die Entwicklungslinie Goethe, Hegel, Heine, Marx reiht sich das Werk Brechts ein. Was Brecht zur Opposition und Kritik veranlaßte, war vor allem die von Lukäcs aufgerichtete und lange nachwirkende Klassikkonzeption. Sie ging zwar davon aus, daß sich Goethe und Schiller von der Französischen Revolution abwandten, ohne zu Renegaten des Fortschritts zu werden. Nicht gezeigt wurden jedoch die politischen und ästhetischen Folgen dieser Position, die zwar den Ansatz zur großen menschheitsperspektivischen und geschichtsphilosophischen Verallgemeinerung ermöglichte, aber auch wesentliche Gesichtspunkte einer großen volksverbundenen Poesie preisgab. Innerhalb der objektiven Dialektik zwischen den Erfordernissen des sich im europäischen Maßstab entfaltenden Kapitalismus, dem notwendigen Sturz des Feudalabsolutismus und der Ohnmacht der bürgerlichen Kräfte in Deutschland vermißte Brecht die exakte Bestimmung und Bewertung des subjektiven Faktors, der Möglichkeit revolutionären Denkens und Handelns. Bei aller Opposition und Kritik war jedoch Brechts Träditionsbezug von einer Klassiknähe, die seine Kritik letzten Endes immer produktiv werden ließ. Eigene Irrtümer überwindend, bemühte sich Brecht während der letzten Jahre um praktische Formen der Aneignung des großen klassischen Erbes. Wo er sich gelegentlich gegen allzu harmonisierende Darstellungen wandte, wollte er im Geiste einer Rückbesinnung auf die Einschätzung der Klassiker des Marxismus verstanden werden, die davon ausgegangen waren, daß sich ein Mann wie Goethe „in zweifacher Weise zur deutschen Gesellschaft seiner Zeit" verhalten hatte. 269 185
Respekt vor den Klassikern aber keine Einschüchterung durch Klassizität oder Theorie und Praxis der Brechtschen Erbeauffassung in der Deutschen Demokratischen Republik Neue gesellschaftliche Bedingungen neue Überlegungen %ur Erbeauffassung In welchem Maße Brecht seine Haltung zum weltliterarischen Erbe änderte, erfährt der Leser sehr einprägsam, wenn er Äußerungen Brechts aus der frühen Phase mit denen aus der späteren vergleicht. Da ist eine neugewonnene Hochachtung zu spüren. Der schnoddrige, provokante Ton der Frühphase ist verschwunden, obwohl Brecht eher kritischer als unkritischer geworden ist. Größe wird auch als groß beschrieben. Nunmehr ist von der Würde klassischer Kunstwerke die Rede, eine Kennzeichnung, die dem jungen, aggressiven Brecht schwerlich eingefallen wäre. In seinen theoretischen Darlegungen spricht er davon, daß man „den ursprünglichen Ideengehalt" herausarbeiten und die „nationale Bedeutung" der klassischen Werke erfassen müsse. 270 Mit Bewunderung hebt er die „Schönheit und Wahrheit" der alten Werke hervor. 271 Hölderlin, den er erst spät für sich entdeckte, nennt er „einen der größten Gestalter der deutschen Sprache". 272 Selbst gegenüber solchen Dichtern, die er in seiner Frühphase hart attackierte und gegen die auch der späte Brecht bestimmte Einwände aufrechterhielt, ist die veränderte Haltung zu spüren. An die Stelle der pauschalen Ablehnung ist die Würdigung der Stärken getreten, ohne die Schwächen zu übersehen. So schreibt er zum Beispiel über Gerhart Hauptmann an den Regisseur Berthold Viertel: „Wir hatten großen Spaß an Hauptmanns glänzender Beobachtung, und der Respekt der jungen Mitarbeiter vor ihm stieg dauernd." 273 Während der junge Brecht die Meinung vertrat, der allzu 186
große Respekt habe die Klassiker ruiniert, bestand der späte Brecht auf dem „echten Respekt", den die klassischen Werke verlangen könnten. 274 Diese Wandlung im Urteil über Werke des weltliterarischen Erbes vollzog sich durch ein tieferes Eindringen in den historischen Materialismus. Wie schon dargelegt wurde, baute sich Brecht in den Jahren der Emigration eine Methode auf, die von der historischen Sicht der Dinge ausging. Über diese Methode verfügte er, als er aus der Emigration heimkehrte und seinen Wohnsitz in jenem Teil Deutschlands nahm, in dem die größten gesellschaftlichen Veränderungen vor sich gegangen waren. Es wurde an anderer Stelle schon ausgeführt, daß die Veränderungen in der Haltung zum weltliterarischen Erbe nicht allein auf das vertiefte Studium des historischen Materialismus zurückzuführen sind. Vor allem die politischen Erfahrungen, die Brecht im antifaschistischen Kampf sammeln konnte, spielten eine wichtige Rolle. Und nicht zuletzt war es auch die Bitternis der Emigration, die neue Erkenntnisse reifen ließ. Veränderungen in der Erbeauffassung werden jedoch nicht nur durch neue weltanschauliche und literaturhistorische Erkenntnisse über die Entwicklungsbedingungen von Kunst und Literatur ausgelöst. In der Klassengesellschaft ist die Anwendung des weltliterarischen Erbes immer mit politischen Auseinandersetzungen verbunden. Selbst wenn sich eine Klasse von ihren großen revolutionären Traditionen distanziert, wird dieses Erbe von ihr nicht gleichgültig stehengelassen, sozusagen frei verfügbar für mögliche Interessenten. Um dieses Erbe wird gekämpft. Die reaktionären Kräfte zeigen sich nicht einfach desinteressiert, sie suchen es für ihre politischen Zwecke zurechtzumachen, während die fortschrittlichen Kräfte an dem progressiven Charakter der weltliterarischen Werke anzuknüpfen bestrebt sind. Auf diese Weise bildet sich ein Polemikfeld heraus, auf dem der Kampf um das weltliterarische und nationale Erbe ausgetragen wird. Dieses Polemikfeld ist ständig Veränderungen unterworfen, die sich wiederum aus den veränderten Bedingungen des Klassenkampfes ergeben. Es ist oftmals schwer überschaubar. Deshalb wäre es höchst einseitig, wollte man eingetretene oder notwendig gewordene Veränderungen in der Einstel187
lung zum Kunsterbe nur aus der Erkenntnis neuer historischer und kunsttheoretischer Einsichten untersuchen. So lösten die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich nach dem zweiten Weltkrieg in einem Teil Deutschlands vollzogen, auch weitgehende Veränderungen im Polemikfeld aus. Neue Gesichtspunkte und Einstellungen zu den weltliterarischen Werken bildeten sich heraus. Deshalb ist es notwendig, an dieser Stelle etwas näher auf die Situation und die Entwicklungsbedingungen der Künste in der Phase des Übergangs von den revolutionär-demokratischen Umwälzungen zu den sozialistischen einzugehen. Als nach 1945 die fortschrittlichen Kräfte unter der Führung der geeinten Arbeiterklasse darangingen, eine gesellschaftliche Erneuerung auf allen Gebieten des materiellen und geistigen Lebens im Sinne einer antifaschistischen Demokratie und eines kämpferischen Humanismus durchzusetzen, stützten sie sich auf eine politische Konzeption, deren Grundlagen schon in den dreißiger Jahren ausgearbeitet wurden. Die Beschlüsse der K P D von Brüssel und Bern hatten auf den Zusammenschluß aller Hitlergegner auf einer einheitlichen Plattform orientiert. Nach 1945 war diese Politik zugleich auch Ausgangsbasis für den Klassenkampf gegen die Wurzeln des Faschismus und Militarismus in Deutschland. Innerhalb dieser umfassenden Konzeption zur gesellschaftlichen Erneuerung bildete das kulturelle Erbe, insbesondere die deutsche Klassik, für den Zusammenschluß aller humanistischen Kräfte zu einer breiten antifaschistischen Front einen außerordentlich wichtigen Bestandteil. Um auf dem Gebiete der Kunst die humanistisch gesinnte Intelligenz und alle nach neuen Ufern suchenden, vom Faschismus irregeführten Menschen anzusprechen, konnte nicht unmittelbar an die erreichten Positionen der revolutionär-proletarischen Kunst vor 1933 angeknüpft werden. Weit näher lag, an den humanistischen Geist der deutschen Klassik zu erinnern, um die bürgerlichen Intellektuellen und kunstinteressierten Massen an einen tatbereiten Humanismus im Sinne des antifaschistisch-demokratischen Neuaufbaus heranzuführen. Auf diese Weise war es auch möglich, den bürgerlich entstellten Humanismus einer kontemplativen Weltbetrachtung zu überwin188
den. „Die Rückkehr zum Humanismus", betonte damals der Dramatiker und erste Intendant des Deutschen Theaters nach dem Kriege, Gustav von Wangenheim, „ist der Sinn der kommenden Zeiten."275 So war es durchaus kein Zufall und hatte sogar etwas Programmatisches, daß der eigentliche Wiederbeginn des Deutschen Theaters in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone mit der Aufführung von Nathan der Weise in der Inszenierung von Fritz Wisten begann. „Die der Klassik immanente Dialektik von humanistischem Auftrag und gesellschaftlichem Erfordernis erleichterte auch die notwendige Auseinandersetzung mit dem liberalen Humanismus vieler bürgerlicher Intellektueller, der — befangen in einem ahistorischen Geist-Macht-Antagonismus — gesellschaftlich unproduktiv blieb. Aber an diesen kontemplativen, für den Menschen unfruchtbaren Humanismus versuchte die geschlagene deutsche Großbourgeoisie in den Westzonen anzuknüpfen. Ein von jedem historisch-konkreten Gehalt entleerter Humanismus drängte hier wieder viele Intellektuelle in eine passive und resignative Haltung gegenüber der Nachkriegswirklichkeit. Die historische Schuldfrage bewußt ausklammernd, weckte diese spätbürgerliche Humanismusvorstellung keine Abwehrkräfte gegen die Ideologie der ausweglosen Schicksalhaftigkeit. So war die strategische Entscheidung der Arbeiterpartei nicht nur von politischer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit, sondern zugleich eine ideologische Kampfposition gegen die sich neu etablierende reaktionäre Linie der bürgerlichen Ideologie in Westdeutschland."276 Während aber in der Politik die Besinnung auf die großen humanistischen Traditionen die revolutionären Aktionen der deutschen Arbeiterklasse unmittelbar einschloß, kam es auf dem Gebiete der Kunst und Literatur zu einer zeitweiligen Zurückstellung bestimmter Traditionen revolutionärer Kunst. So wurden die Leistungen und die kunsttheoretischen Positionen der revolutionär-proletarischen Kunst vor 1933 erst später, in den fünfziger Jahren, allseitig bekannt. Die Unkenntnis über diese wichtige, hochbedeutsame Traditionslinie revolutionärer Kunstentwicklung schränkte eine allseitige, weitgespannte und dennoch die revolutionären Traditionen 189
betonende Erbeauffassung ein. Um die objektiven wie subjektiven Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer politisch praktikablen Erbekonzeption sichtbar zu machen, muß man sich die kulturpolitische Situation in der Zeit nach der Zerschlagung des Faschismus bewußt machen. In jenen Jahren vollzog sich auf dem Gebiet der Kunst eine große weltanschaulich-ästhetische Auseinandersetzung zweier gegensätzlicher Konzeptionen. Gegen die humanistisch-demokratische Position, wie sie von der geeinten Arbeiterklasse im Bündnis mit der Sowjetunion vertreten wurde, versuchten die westlichen Besatzungsmächte das spätbürgerliche Menschenbild durchzusetzen, das vom Pessimismus, vom Unglauben an die Meisterungsmöglichkeiten menschlichen Schicksals geprägt war. Mit einer Flut von spätbürgerlichen Kunstwerken, mit der das bisher von der internationalen Kunstentwicklung abgeriegelte Deutschland nach 1945 überschwemmt wurde, versuchten die Westmächte diese politische Grundtendenz durchzusetzen. Wesentliche Steuerungsimpulse gingen dabei von den Besatzungsmächten aus. Der unterschiedliche Charakter der imperialistischen Siegermächte und der sozialistischen Sowjetunion bewirkte selbstverständlich auch unterschiedliche Prinzipien in der Kunstpolitik. Die Frage, ob Realismus oder Modernismus, gestaltete sich zu einer direkt politischen Auseinandersetzung. Um dem Einfluß des Modernismus als politischer Gesellschaftskonzeption des Imperialismus entgegenzuwirken, mußten alle realistischen Traditionen verteidigt und aktiviert werden. Während in den Westzonen alle Spielarten des Modernismus vom Expressionismus bis zum Existentialismus aufgeboten wurden, kam es in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone zu einer systematischen Pflege der verschiedenen Strömungen des kritischen Realismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Auf Grund dieser objektiven Faktoren bildete sich eine Erbekonzeption heraus, in der die Tradition des kritischen Realismus eine dominierende Rolle spielte. Theoretische Unterstützung von einer sehr problematischen Position her erhielt diese Traditionslinie dadurch, daß nach 1945 die literaturtheoretischen Werke Georg Lukäcs' als erste eine ungemein große Verbreitung erlangten. Der Einfluß dieser Werke auf die Herausbildung einer marxistischen Erbe190
auffassung in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, unterstützt durch objektive Faktoren, war sehr weitgreifend. Lukäcs' ästhetische Grundposition und ihr weltanschaulicher Hintergrund wurden in den Jahren nach der Zerschlagung des Faschismus kaum vom Standpunkt des MarxismusLeninismus kritisch analysiert, zumal diese Anschauungen anfangs gegen rechtsgerichtete Kräfte verteidigt werden mußten. Seine Position war insofern eine Stütze, da sie auch gegen den Modernismus gerichtet war. Der eigentliche weltanschauliche Kern seiner Auffassungen, nämlich seine Orientierung auf die demokratische Revolution als Basis für eine lange Übergangssphase zum Sozialismus und die damit verbundene Laxheit in der Bestimmung der Klassengegensätze, kam erst in einer späteren Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung zur Sprache. All diese Faktoren bewirkten, daß in der Erbekonzeption und in der praktischen Erbeaneignung unmittelbar nach 1945 einige Entwicklungsrichtungen und Grundströmungen der Weltkunst mehr in den Vordergrund traten und einige andere den ihnen gebührenden Platz noch nicht erhielten. Die Vernachlässigung oder auch bewußte Zurückstellung der einen hatte die forcierte Betonung der anderen zur Folge. Nicht ohne Einfluß war auch, daß durch die Auseinandersetzung mit dem Modernismus bestimmte Schwächen des kritischen Realismus, die sich aus seinem Klassencharakter ergaben, weniger in das Diskussionsfeld rückten. Die Bemühungen um das Erbe im Geiste gesellschaftlicher Erneuerung verlangten, daß sowohl dem bürgerlichen Bildungsphilistertum wie einer unkontrollierbaren Mythosauffassung von der Kunst entgegengetreten wurde. Gerade nach 1945 bestand die reale Gefahr einer Restauration des Bildungsphilistertums. Nicht wenige Menschen, die Hitler und seiner Politik bedingungslos gefolgt waren, suchten nunmehr in einer apolitischen Position Zuflucht. Die Willfährigkeit von einst schlug in völliges Desinteresse an gesellschaftlichen Vorgängen um. Die Kunst wurde als die „reine" Domäne erwählt, in der der Geist vor den Niederungen der Politik bewahrt blieb. Der geistige Besitz an den klassischen Werten der Kunst wurde benutzt, um sich gegen jeden politischen Einfluß, gegen jeden Versuch des Eingeständnisses einer Mit191
Verantwortung für den blutigen Faschismus abzuriegeln. Um solchen Auffassungen entgegenzuwirken, orientierten die fortschrittlichen Kräfte damals auf einen aktiven, tatbereiten Humanismus. An den Werken der Klassiker wurde insbesondere die gesellschaftliche Verpflichtung des einzelnen als humanistische Tatbereitschaft betont. Zugleich mußte sich die Polemik gegen jeden Irrationalismus in der Aneignung des klassischen Erbes wenden. Mit der Verabsolutierung des Genies und der Subjektivierung des dichterischen Schaffensprozesses versuchte die spätbürgerliche Kunsttheorie, die Kunst aus allen gesellschaftlichen Bindungen herauszulösen. Die Enthistorisierung sollte die Ablösung des fortschrittlichen Ideengehalts von den Kunstwerken möglich machen. Für die spätbürgerlichen Ideologen war die Rückerinnerung an die progressive, revolutionäre Phase der bürgerlichen Kunstentwicklung wenig brauchbar. In den gesellschaftlichen Zwecken, denen diese Kunst zu jener Zeit verpflichtet war, sahen sie in dieser eher ein Hindernis. Sie suchten in der Kunst den Ausdruck des „Magischen", des „Rätselhaften", des „Seelengerichts", von „unerkennbaren Urmächten" oder eines „neuen existentiellen Bewußtseins". Auf diese Weise wurde unter Ausschaltung der historischen Bedingungen eine neue Zuordnung unter die spätbürgerliche Ideologie angestrebt. Diese Probleme, die sich aus der allgemeinen Aneignung des Erbes ergaben, beeinträchtigten auch die Klassiker-Inszenierungen auf dem Theater. Sie traten hier sogar noch stärker und auffälliger in Erscheinung, weil selbst richtige oder im Ansatz richtige Inszenierungsabsichten durch eine nach falschen Gesichtspunkten ausgerichtete Schauspielkunst eher hervorgehoben als unterspielt wurden. Das aufschlußreichste Beispiel dafür bot die Ham/et-Inszenieiung Gustav von Wangenheims am Deutschen Theater. Diese Inszenierung war der erste größere Versuch nach 1945, ein Werk des weltliterarischen Erbes von der Position des historischen Materialismus zu erschließen und aus der Dialektik von Historizität und Aktualität künstlerisch zu realisieren. Obwohl dem marxistischen Regisseur eine Reihe der besten deutschen Schauspieler zur Verfügung stand (Titelrolle Horst Caspar), gelang 192
es nicht, die Konzeption wirklich umzusetzen. Die bürgerliche Schauspielkunst erwies sich selbst in der Verkörperung ihrer besten Vertreter als wenig geeignet, den gesellschaftlichen Sinn bloßzulegen, den Realismus dieses Werkes deutlich zu machen. Gerade diese Ham/et-lnszenietung, die mit profunder konzeptioneller Vorgabe unternommen wurde, machte sichtbar, wie schwer und langwierig der Weg sein würde, um eine fortschrittliche, auf der Basis des historischen Materialismus beruhende Erbeaneignung durchzusetzen. Obwohl hier bei weitem nicht alle Schwierigkeiten und Probleme aufgeführt werden konnten, die damals die Aneignung des weltliterarischen Erbes beeinträchtigten, so kennzeichnen sie doch einigermaßen die Situation, die Brecht vorfand, als er aus dem Exil heimkehrte und in Berlin mit seiner Theaterarbeit begann. Sie war theoretisch wie praktisch vor allem darauf gerichtet, die „Tradition der Schädigung klassischer Werke" zu überwinden. „Es gibt eine Tradition der Aufführung", schrieb er, „die gedankenlos zum kulturellen Erbe gezählt wird, obwohl sie das Werk, das eigentliche Erbe, nur schädigt; das ist eigentlich eine Tradition der Schädigung der klassischen Werke." 277 In diesem Sinne hatte Gustav Mahler den Satz geprägt: „Tradition ist Schlamperei." Mahlers Bemerkung richtet sich gegen das gedankenlose Festhalten an bestimmten Überlieferungen und Auffassungen, wodurch die Kunst auf gewisse Schemata heruntergewirtschaftet wurde und so ihre Frische und Originalität einbüßte. Aber Brecht sah das weltliterarische Erbe vor allem durch mangelnden historischen Sinn und die fehlende Dialektik von Historizität und Aktualität geschädigt. Seine Polemik gegen falsche oder unzureichende Bewältigung des weltliterarischen Erbes richtete sich nach zwei Seiten. Er wandte sich gegen die „traditionelle" Aufführungsart, die sich nur dem Dichter verpflichtet fühlte und selbst die Staubflecken auf den alten Werken fleißig und gewissenhaft mitkopiert. „Hauptsächlich verloren geht dabei die ursprüngliche Frische der klassischen Werke, ihr damalig Überraschendes, Neues, Produktives, das ein Hauptmerkmal dieser Werke ist. Die traditionelle Aufführungsart dient der Bequemlichkeit der Regisseure und Schauspieler und des Publikums zugleich. Die 13
Mittenzwei
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Leidenschaftlichkeit des großen Werks wird ersetzt durch das Bühnentemperament, und der Bildungsprozeß, der dem Publikum gemacht wird, ist, dem kämpferischen Geist der Klassiker entgegen, ein lauer, gemächlicher und wenig eingreifender. Natürlich entsteht dadurch mit der Zeit eine schreckliche Langeweile, die den Klassikern ebenfalls fremd ist", 2 7 8 vermerkte Brecht. Nicht minder entschieden kritisierte er die formalistische Aufführungsart, die der Wirkung der alten Werke von vornherein mißtraute und sich entweder auf spielerische Effekte oder auf eine hochgeputschte, das eigentliche Anliegen des Werkes vergessen machende Aktualität stützte, „so daß es zu sogar noch schlimmeren Schädigungen kommt als bei den traditionsgebundenen Aufführungen". 2 7 9 Brecht lehnte rohe Aktualisierungen, die ohne historischen Sinn und gesellschaftliche Verantwortung unternommen wurden, entschieden ab, selbst wenn solchen Versuchen eine gutgemeinte politische Absicht zugrunde lag. „Die formalistische ,Erneuerung' der klassischen Werke", führte er aus, „ist die Antwort auf die traditionsgebundene, und es ist die falsche Antwort. Das schlecht konservierte Fleisch wird sozusagen nur durch scharfe Gewürze und Saucen wieder schmackhaft gemacht." 2 8 0 Unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in der Deutschen Demokratischen Republik und der veränderten Kampfsituation im Hinblick auf das kulturelle Erbe entwickelte Brecht neue Gesichtspunkte zur Erbeauffassung. Sie sind vielfach eine Fortsetzung und Vertiefung der Arbeiten und Lösungsvorschläge, die er in der Emigration begonnen hatte. Aber auch bisher noch nicht Durchdachtes kam zur Sprache, noch nicht gegangene Wege wurden ausprobiert, neue Kategorien und Verfahren zur Diskussion gestellt. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse verlangten nach neuen methodischen Lösungen. Wenn hier auch nicht der Ort ist, diese neuen Überlegungen allseitig aus der gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtsituation der Deutschen Demokratischen Republik in jenen Jahren abzuleiten, so sollen doch einige dieser neuen Momente zusammengestellt werden. Auf sie wird in der späteren Analyse der Brechtschen Stück-Bearbeitungen noch einmal zurückzukommen sein. 194
Seinen Standpunkt zur methodologischen Bewältigung des weltliterarischen Erbes faßte Brecht in den fünfziger Jahren mit den Worten zusammen: „Die marxistische Betrachtungsweise, zu der wir uns bekennen, führt bei großen Dichtwerken nicht zu einer Feststellung ihrer Schwächen, sondern ihrer Stärken." 281 Sich der radikalen Stück-Bearbeitungen des späten Brecht erinnernd, könnte diese Erklärung zunächst als widersprüchlich empfunden werden. Aber wie weitgehend der Eingriff in den Stück-Bearbeitungen, zum Beispiel beim Hofmeister, auch angesehen werden mag, es war letzten Endes die Stärke des Stückes, seine Schönheit wie seine kämpferische Haltung, die Brecht bestimmten, es in den Spielplan aufzunehmen und in neuer Gestalt dem Publikum vorzustellen. Vergleicht man diese Art mit dem Standpunkt aus den zwanziger Jahren, so wird die veränderte Einstellung Brechts zu klassischen Werken, insbesondere zu den deutschen, klar ersichtlich. Nicht mehr die Einsicht, daß die Klassiker ramponiert sind, stand im Vordergrund, sondern daß in den alten Werken soziale und nationale Erfahrungen enthalten sind, die für die gesellschaftliche Erneuerung fruchtbar gemacht werden können. Mehr noch als in den Jahren der Emigration, in denen seine Verbindung zur Theaterpraxis eingeschränkt war, warnte er jetzt des öfteren vor der „Beschädigung" alter Werke durch eine oberflächliche Inszenierungspraxis. Man muß sich den Grad der Veränderung bewußtmachen, der hier vor sich ging. Eine Warnung vor der Beschädigung alter Werke wäre Brecht in den Zeiten, als er die Materialwerttheorie vertrat, geradezu unsinnig vorgekommen. Aber der alte Vandalismus war überwunden. Der rigorose, die Substanz und den historischen Sinn beschädigende Eingriff wurde nicht mehr gerechtfertigt. Im Gegenteil: An die Stelle der Rechtfertigung trat die Warnung. Indem Brecht vor der Beschädigung warnte, räumte er auch mit den Restaurierungen, Verfälschungen und Entstellungen auf, zu denen die spätbürgerlichen Theoretiker und Praktiker griffen, um die alten Werke dem bürgerlichen Zeitgeschmack anzugleichen, um sie für eine Bourgeoisie schmackhaft zu machen, die den Kampfwert dieser Stücke nicht mehr billigen wollte. Die Warnung vor der Beschädigung darf aber nicht falsch 13*
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verstanden werden. Brecht sprach hier nicht einer Pietät das Wort, die in die Pflege auch die Staubflecken auf den alten Werken mit einbezog. Jede Form von Konservierung war ihm fremd, ging es ihm doch um die Dialektik von Historizität und Aktualität. Die Gefahr der Beschädigung sah er, wenn diese Dialektik nicht funktionierte. Eine Beschädigung nach der einen oder anderen Seite hin trat ein, wenn sich der dialektische Umschlag von inhaltlich-historischer Substanzauswertung und die Einflußnahme durch neue gesellschaftliche Gesichtspunkte nicht vollzogen. Dann wurde das Werk entweder nur positivistisch, museal erfaßt und blieb dadurch in seiner Lebendigkeit und Wirkungskraft beeinträchtigt, oder es wurde durch einen oberflächlichen Aktualitätsbezug in seiner historischen Substanz und der ihr innewohnenden eigenen Schönheit beschädigt. Brecht erkannte diese Gefahren insbesondere in der Aneignung des Erbes durch die Aufführungs- und Inszenierungspraxis. Wenn die großen Wirkungen der klassischen Werke nur aus der Pflege und dem Arsenal der theatralischen Tradition gespeist werden, verlieren sie ihre Kraft und Lebendigkeit. Es bildet sich ein Abstand, eine Fremdheit zwischen Kunst und Wirklichkeit. Brecht machte das an folgendem Beispiel klar: „Etwa den Wallenstein Albert Steinrücks sehend, sahen wir eine Mischung von Beobachtungen dieses Schauspielers aus dem Leben und solchen aus dem Theater. Wird der Anteil der theatralischen Tradition in einer Gestaltung zu groß, dann wird die Gestalt zum Klischee. Hingegen könnte es nicht schaden, wenn in die Gestaltung plötzlich ganz ungewohnt viel vom Leben der Zeit hineingetan würde . . ." Etwas resigniert fügte Brecht hinzu: „ . . . — jedoch kommt es dazu kaum je, es ist so viel schwerer." 2 8 2 Gerade hierin sah Brecht eine Aufgabe für die Schauspieler, die vor einem neuen Publikum spielten. Dieses Publikum einer neuen Gesellschaft war bereit, sich zu seinem Erbe zu bekennen, aber es mußte einen Ausgangspunkt in der Wirklichkeit selbst finden und im Werk erkennen. Es ist in der Geschichte der Kunst ja nicht so, daß es lebendige und unlebendige Ausdrucksformen schlechthin gibt. Auch die einstmals lebendigen erstarren zu Klischees, wenn sie nicht immer wieder in den dialektischen Fluß von Historizität und Aktualität ein196
bezogen werden. Erst aus dem Widerspruch zwischen dem historischen Moment der Vergangenheit und dem gesellschaftlich-historischen Moment der Gegenwart, aus dem Aufeinandertreffen von Vollzogenem und sich Vollziehendem entsteht die Lebendigkeit der alten Werke. Der Brechtsche Grundsatz, in den alten Werken die Stärken, nicht die Schwächen zu suchen, war die Fortsetzung jener methodologischen Basis, die er im Exil auszuarbeiten begonnen hatte und die er Historisierung nannte. Das historische Moment handhabte er jedoch nicht im Sinne des bürgerlichen Positivismus, der eine wirkliche Dialektik von Historizität und Aktualität ausschloß. Deshalb war er auch nicht geneigt, die „Welt des Dichters" als absolut gegeben zu betrachten, weil sie sich historisch erklären ließ. Vielmehr prüfte er, was von der wirklichen Welt in ihr enthalten war. Denn die historische Wertung eines Stückes wie der Respekt einer Dichtung gegenüber schloß nicht die These aus: „Das ,Wort des Dichters' ist nicht heiliger, als es wahr ist, das Theater ist nicht die Dienerin des Dichters, sondern der Gesellschaft." 283 Der frühe Brecht war an dem Materialwert der alten Stücke, nicht aber an ihrem Ideengehalt interessiert. Mit Hilfe der Materialwert-Theorie sollten ja gerade die stofflichen Elemente säuberlich von dem Ideengehalt abgetrennt werden. Jetzt aber betonte Brecht, daß es für einen Marxisten darauf ankomme, den „ursprünglichen Ideengehalt" eines Werkes herauszubringen. 284 Das Interesse an dem Ideengehalt, der ihm früher hinderlich bei der Darstellung neuer gesellschaftlicher Einsichten erschienen war, erklärte sich aus dem neu gewonnenen historischen Verständnis. Historisches Verständnis beanspruchte Brecht nicht nur für die alte Literatur, sondern in gleicher Weise auch für die Gegenwartsliteratur. Denn nur aus einer solchen Sicht konnten gesellschaftliche Prozesse überhaupt richtig verstanden werden. Historischen Sinn aufbringen bedeutete aber, die ursprünglichen Ideale in ihrem Wirklichkeitsbezug zu ihrer Zeit zu erkennen. So lernte Brecht den Unterschied zwischen Ideal und Idealisierung kennen. Für die bürgerliche Klasse wurden die Ideale ihrer fortschrittlichen Literatur in dem Maße zu einem Mittel der Idealisierung, wie diese Klasse den Bezug zur Veränderung 197
der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufkündigte. Ebenso mußte jeder Versuch, die ursprünglichen Ideale der alten Werke ohne Verständnis für die gesellschaftlichen Grundlagen darzustellen, unweigerlich in der Idealisierung enden. Das echte historische Verständnis aber schlug die Brücke zu den bewegenden Problemen der Gegenwart. Brecht lernte auf diese Weise soziale und nationale Elemente in der alten Literatur schätzen, die, in ihrer historischen Prozeßhaftigkeit betrachtet, zu den neuen Fragen der sozialistischen Gesellschaftsumwälzung hinführten. Das Aufgreifen und Darstellen der ursprünglichen Ideale mußte in zweifacher Hinsicht geschehen: Sie mußten als Wirklichkeitskonfrontation einer anderen, entfernten, uns fremden Zeit und zugleich als ein Moment in der gesamten Kette der Bemühungen begriffen werden, die zu den Gesellschaftsumwälzungen unserer Tage hinführte. Idealistisch wäre nämlich jene vereinfachende Vorstellung, die die sozialistische Gesellschaft zum bloßen Vollstrecker der klassischen Ideale macht, die davon ausgeht, daß wir verwirklichen, was die Klassiker erträumten. Obwohl einer solchen Vorstellung eine richtige Teilerkenntnis zugrunde liegt, ist sie dennoch falsch und unmarxistisch. Sie beschädigt nicht nur die ursprünglichen Ideale in ihrer historischen Bedingtheit, sie beschädigt auch die Ideale des Sozialismus, denn der Kern dieser Ideale enthält etwas, was die Klassiker nicht erträumten, weil es über ihre Vorstellungswelt hinausging. Das Begreifen der klassischen Ideale im Sinne des historischen Materialismus verlangt deshalb, das ursprüngliche, historische Moment in der ganzen Fremdheit zu uns, aber untrennbar damit verbunden, auch das zu uns und unserer Welt hinführende Moment herauszuarbeiten. Brecht begriff, daß man erst über eine solche dialektische Sicht die Größe und Schönheit der alten Werke herausbringt. Undialektisches Heranziehen der ursprünglichen Ideale, wie das durch die idealistische „VollstreckerTheorie" geschieht, und auch die ebenso undialektische Betonung der Fremdheit der ursprünglichen Ideale, zu der der junge Brecht neigte, behindern die Darstellung der klassischen Ideale in ihrer Größe und Schönheit. „Der wahre Respekt vor den klassischen Werken", schrieb Brecht in den fünfziger Jahren, „muß aber der Größe ihrer 198
Ideen und der Schönheit ihrer Formen gelten." 285 Die Schönheit der klassischen Formen, die der späte Brecht im Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsfeld der klassischen Ideale sah, wurde von ihm nunmehr immer wieder erwähnt. In der frühen Phase verband sich bei ihm mit den klassischen Formen die Vorstellung von einer Harmonie, die nie und nirgends existierte. Diese Kategorie glaubte er nicht aus der Wirklichkeit abgeleitet, sondern durch idealistisches Professorengesäusel zustande gekommen. Mit dieser Kategorie, selbst in ihrer nichtidealistischen, dialektischen Auffassung, hat sich Brecht nie sonderlich befreunden können. Aber sie schied für ihn auch als Polemikgegenstand aus. Die klassischen Formen betrachtete Brecht jetzt mehr im Zusammenhang mit den Humanitätsvorstellungen der betreffenden Zeit. Immer wieder betonte er, daß die Größe der klassischen Werke in ihrer menschlichen Größe bestehe und nicht in „einer äußerlichen Größe in Anführungszeichen". 286 Der Mensch aber ist eine historische Kategorie. Seine Größe kann daher nur überzeugend und lebendig in seiner jeweiligen historischgesellschaftlichen Dimension dargestellt werden. Eine der wichtigsten Kriterien des historischen Sinns, seiner Methode des Historisierens bestand im Begreifen der historischen Vorgänge als veränderbare Vorgänge, und zwar veränderbar durch den Menschen als Teil von großen Kollektiven, von Klassen. Größe erkannte Brecht überall dort, wo das Bemühen der Menschen um gesellschaftliche Veränderungen gezeigt wurde. Es bedurfte dazu jedoch jenes dialektischen Verständnisses, diese Veränderungen aus dem Blickpunkt einer Gesellschaftsordnung zu begreifen, von der aus, wie Marx sagte, sich die eigentliche Emanzipation des Menschen vollziehen konnte. Diese Bemühungen um gesellschaftliche Veränderungen mußten aufgehoben betrachtet werden „in der Richtung auf immer kräftigere, zartere und kühnere Humanität". 287 Brecht legte in den fünfziger Jahren viel Wert auf die Erkenntnis, daß die alten Werke ihre eigene Schönheit und ihre eigene Differenziertheit haben. Eben diese zu genießen müsse man verstehen. Den Kunstgenuß alter Werke sah er aber durch eine falsche Auffassung vom Fortschritt empfindlich gefährdet. Nach ihr wurde der Fortschritt in den Künsten darin gesehen, 199
daß die neueren Darstellungen immer weniger primitiv und naiv ausfielen. „Diese Meinung", schreibt Brecht, „ist auch im bürgerlichen Lager weit verbreitet und gehört dorthin." 288 Aber auch innerhalb der sozialistischen Kunstentwicklung traten solche Meinungen auf. Insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden Kunstleistungen gelegentlich als primitiv abgetan, weil sie sich an den ursprünglichen Gestaltungsbedingungen des betreffenden Werkes orientierten. Brecht erläuterte seine Kritik an der damals viel gerühmten Shakespeare-Verfilmung von Heinrich V. durch den englischen Schauspieler Olivier. Der Film begann, schrieb Brecht, „mit der Darstellung der Premiere an Shakespeares Globetheater. Die Spielweise war pathetisch, steif, primitiv, nahezu albern dargestellt. Dann ging die Spielweise in eine .moderne' über. Die rohen alten Zeiten waren überwunden, es wurde differenziert, elegant, überlegen gespielt. Kaum ein anderer Film hat mich so geärgert. Welch eine Meinung, die Regie Shakespeares könnte so viel dümmer und roher gewesen sein als die des Herrn Olivier! Ich bin natürlich nicht der Meinung, daß das vorige Jahrhundert oder auch das unsere nichts Bedeutendes, Neues in der Darstellung menschlichen Zusammenlebens und in der Zeichnung von Menschen hervorgebracht hätte. Aber es geht in keiner Weise an, diese Fortschritte den älteren Werken ,zugute kommen' zu lassen, sofern sie Meisterwerke sind." 289 Das englische Beispiel war mehr als Lehre für die deutsche sozialistische Theatersituation gedacht. Denn nach dem zweiten Weltkrieg war noch immer eine Vorstellung lebendig, die die klassischen Werke aus einer psychologisierenden Sicht beurteilte. Die Reinhardt-Attitüde galt vielfach als das klassische Maß für die Darstellung der Klassiker. Das war um so verwunderlicher, als die wenigsten Besucher den Reinhardtschen Inszenierungstil aus eigener Anschauung kannten. Aber so wie Reinhardts Stil auch durch die spätbürgerlichen Kunstansichten seiner Zeit geprägt wurde, so hatte eben dieser Stil wiederum die Kunstansichten und die Kunsttheorie stimuliert und ausgerichtet. Als dann aber die klassischen Werke in einer Sicht dargestellt wurden, die die ursprüngliche Differenziertheit und die eigenen Werte dieser Stücke betonte, kam es zu einer verkehrten Optik: Die Be200
freiung der Klassiker von der psychologisierenden Glanzfolie wurde als Verfälschung der Klassiker empfunden. Sich der den alten Werken innewohnenden eigenen Schönheit, Differenziertheit und ihrer Werte bewußt zu werden bedeutete aber nicht, daß eine richtige Aneignung der großen Werke des weltliterarischen Erbes nur in ihrer ursprünglichen Form erfolgen könnte. Nicht die Bühnenform des elisabethanischen Theaters (für die Forschung zwar sehr wichtig) ist für die Aneignung Shakespeares der wesentliche Gesichtspunkt, sondern mehr der historische Sinn für den Gesamtzusammenhang von Zeitbezug, Entstehungsbedingungen, Ideengehalt und Gestaltungsweise. Wenn die späteren „Zusätze", zum Beispiel die modern psychologisierende Darstellung, die bei alten Stücken weder von der Wirklichkeitsbewältigung noch von den Gestaltungsmöglichkeiten der Entstehungszeit her denkbar war, zum künstlerischen Wesenszug der alten Werke umgemogelt werden, schwindet die alte Schönheit, verliert das Werk seine ihm eigene Differenziertheit. Werden die Werke des klassischen Erbes nur noch über Zusätze aus der gegenwärtigen Kunstproduktion oder näherliegender Stilepochen genossen, hört das Erbe auf, mit der ihm eigenen Kraft in die Gegenwart hineinzuwirken. Es wird im spätbürgerlichen Kunstbetrieb zu einer Art Halbfabrikat, das des Zusatzes bedarf, um zu wirken. Eine solche Auffassung mißcraut dem Erbe, dessen Lebendigkeit gar nicht mehr vorausgesetzt wird. Um aus der Verwirrung herauszukommen — die Besinnung auf die den alten Werken innewohnenden eigenen Werte als moderne Zusätze und die modernen Zusätze als ursprüngliche Eigenart der alten Werke zu verkennen —, entwickelte Brecht die ästhetische Kategorie der Naivität. Die Begründung dieser Kategorie zählte zu den wichtigsten kunsttheoretischen Leistungen des späten Brecht. Natürlich wurde diese Kategorie nicht in erster Linie im Hinblick auf das Kunsterbe, sondern mehr als Hilfestellung für die gegenwärtige Kunstproduktion erarbeitet. Sie ist auf diese Weise ein Teil der Dialektik von Tradition und Neuerertum. Zu den ästhetischen Kategorien, denen der späte Brecht große Aufmerksamkeit widmete, zählt auch die des Genusses. Seine Einschränkung des Kunstgenusses zugunsten der Päd201
agogik hatte er schon während der Emigration aufgekündigt. „In der Kunst", formulierte Brecht in den fünfziger Jahren, „genießen die Menschen das Leben." 2 9 0 Kunstgenuß, in diesem Sinne verstanden, ist ebenso in der Kunst der Gegenwart wie in der Vergangenheit zu finden. Als Brecht über die Ausführungen Marx' nachdachte, warum sehr alte Kunstwerke noch heute Genuß bereiten, hielt er gleichfalls an dem von Marx aufgeworfenen Problem der Erinnerung fest. Die Bemerkung Marx', daß die Menschheit sich gern ihrer Kindheit erinnere, schien Brecht von Marx „beiläufig" erwähnt. „Eher schon kann man sich denken", führte Brecht aus, „daß sie (die Menschheit — W. M.) gerne die Erinnerung an ihre Kämpfe und Siege pflegt und durchschauert wird, wenn sie sich der immer neuen Bemühungen, Erfindungen, Entdeckungen entsinnt. Denn die großen Kunstwerke entstehen in diesen Zeiten der Kämpfe. Und die Fortschritte sind Schritte weg von Fortschritten. Die Verluste, die sie die neuen Gewinne gekostet haben, gedenkt sie nie zu verschmerzen." 2 9 1 Diese Ausführungen im Zusammenhang mit dem berühmten MarxZitat sind wichtig, weil sie erklären, was die Lebendigkeit der Kunst vergangener Zeiten bewirkt. Es ist nicht allein die Kunstfertigkeit der Abbildungen, die Sinngebung einer Erscheinung, obwohl Brecht gerade diese ästhetischen Faktoren sehr hoch schätzte. Vor allem ist es dieses Moment der Erinnerung, das den Kunstgenuß als ästhetisches Phänomen realisiert. Im ästhetischen Genuß des künstlerischen Erbes wird sich der Mensch seiner Kämpfe bewußt. In der Kunst genießt er die durchstandene Entwicklung, die zurückliegenden Niederlagen und Siege, die Erfahrungen über erreichte und nicht endgültige Lösungen, im Grunde das, was wir die Kontinuität und Diskontinuität des historischen Prozesses, den historischen Fortschritt nennen. In seinen letzten Lebensjahren mahnte Brecht immer wieder: „Wir müssen vor allem die unaufhörlichen Experimente unserer Klassiker studieren." 292 Das war insofern nicht nur eine Forderung des späten Brecht, da der Dramatiker in jeder Phase seines Lebens bereit war, von den Klassikern zu lernen. Aber die angestrebte Position veränderte sich. Ausgehend von eigenen Erfahrungen, richtete sich seine For202
derung an die jungen Dramatiker der D D R . Mißmutig sah Brecht, wie wenig die jungen Schriftsteller in der Lage waren, sich Anregungen aus der weltliterarischen Tradition zu holen. Sie knüpften an die nächstliegenden Formen an und übersahen so den wirklichen Reichtum des Erbes. Deshalb verwunderte es Brecht nicht, daß sie meist nur über Kenntnisse in einer Bauart der Dramatik verfügten. Er erinnerte daran, daß ein Dutzend Stückeschreiber um 1600 die verschiedensten Bauarten ganz selbstverständlich beherrschten, obwohl unter ihnen nicht alle Genies waren. Insbesondere die deutschen Klassiker hatten sich niemals auf nur eine Bauform festgelegt. Goethe, bemerkte Brecht einmal, hätte zittern müssen, wenn er demselben Publikum, dem er den Göt% vorführte, dann die Iphigenie präsentiert hätte. Die Unterschiede in den Bauformen der Klassiker sind beträchtlich. Brecht wies auf den Unterschied zwischen den Käubern und dem Teil, zwischen dem Faust und der Iphigenie und dem Bürgergeneral, zwischen Woy%eck und Leonce und Lena hin. Gerade in dieser Vielfalt des dramatischen Stücktypus erblickte er eine einzigartige •Chance, zu lernen, große Muster zu studieren. „Wir können Stückebau studieren an den großen politischen Stücken ,Emilia Galotti' und .Wallenstein', Rhetorik bei Schiller und Goethe, die Massenszenen im ,Demetrius' und im ,Guiskard' und in ,Dantons Tod', und wir müssen immer von neuem Shakespeare studieren (allerdings nicht an Hand unserer Bühnenaufführungen)." 2 9 3 Wichtig an diesen Studien erschien ihm vor allem, von den Klassikern zu lernen, wie man zu großen Handlungen kommt. Hier verwies er besonders auf Shakespeare, bei dem oft in einer einzigen Szene die gesamte Substanz von manchem neueren Stück enthalten sei. Brecht versuchte seinen jungen Dramatikerkollegen mit dem Hinweis auf die Klassiker klarzumachen, daß es keineswegs genüge, eine Idee zu haben, eine politische Meinung zu vertreten. Ein Stück brauche einen langen Atem. Zu lernen sei nicht nur aus der Wirklichkeit selbst, sondern auch durch das Studium der großen Muster, die die Klassiker hinterlassen haben. Die neue Stufe des Brechtschen Erbeverständnisses sollte nicht in der Weise mißverstanden werden, als ob es sich hierbei 203
um eine Entwicklungslinie handle, die in echt Hegelschem Geist konsequent auf ihren Höhepunkt zutreibt. Die neue Stufe ergab sich aus der neuen gesellschaftlichen Situation und war, wie die vorangegangenen Stufen, nicht frei von Widersprüchen wie von Irrtümern. Die Vorzüge und Grenzen der Brechtschen Auffassung lassen sich konkret erst dann richtig erkennen und bestimmen, wenn man sie mit anderen Bemühungen um die Bewältigung des klassischen Erbes in jenen Jahren vergleicht. Zu den interessantesten und ergiebigsten Versuchen der Klassiker-Rezeption auf der Bühne zählten neben denen Brechts ohne Zweifel die von Wolfgang LanghofF. Langhoff, der Freund Brechts, der später bestimmte Prinzipien und Methoden Brechts zu den seinen machte oder mit seinen eigenen Vorstellungen verschmolz, war in den frühen fünfziger Jahren Brechts entschiedenster Antipode auf dem Gebiet der Klassiker-Inszenierungen. Allerdings ist die Kennzeichnung „Antipode" insofern ungenau, da es sich hier um Versuche handelte, die vom Boden des historischen und dialektischen Materialismus unternommen wurden, und zwar von Brecht wie von Langhoff. Das verdient festgehalten zu werden, weil sich in der sonst sehr freundschaftlich geführten Polemik beide Parteien gelegentlich vorwarfen, daß die Ergebnisse der Bemühungen nicht dem weltanschaulichen Standpunkt entsprächen, der vertreten würde. Die unterschiedlichen Auffassungen wie die Eigenart der Inszenierungen von Langhoff und Brecht wurden bisher nur vom Gesichtspunkt der verschiedenen Theatertheorien und Methoden gesehen, die beide vertraten: dem Stanislawski-System und dem nichtaristotelischen Theater. Ohne Zweifel lagen hier die wesentlichen Differenzpunkte. Aber zugleich gab es zwischen beiden auch beträchtliche Unterschiede in der Art und Weise, wie das klassische Erbe anzueignen war. Langhoff begründete seine Arbeitsprinzipien hinsichtlich des klassischen Erbes mit folgenden Worten: „Von unserem heutigen Standort aus, der der Standort des sozialistischen Bewußtseins ist, sichten und wählen wir mit Bedacht alle diejenigen Tendenzen, Handlungen und Wahrheiten aus seinem Werke (dem Goethes — W. M.), die zum ewigen Bestand der 204
vorwärtsschreitenden Menschheit gehören." 294 Obwohl Langhoff nicht zuerst von dem historischen Sinn ausging, über den sich die Dialektik von Historizität und Aktualität erschloß, kann seinen Ausführungen zunächst zugestimmt werden. Wie aber setzte Langhoff diese Konzeption um? Das beste Beispiel dafür war seine berühmte BgwcwMnszenierung, die Langhoff selbst ausführlich in ihrer Zielstellung beschrieb und die den Widerspruch Brechts hervorrief. Langhoff stellte seine Inszenierung ganz in den Dienst der politischen Bemühungen jener Zeit, die nationale Frage durch eine demokratische Volksbewegung friedlich zu lösen. In Erläuterung seiner EgmontInszenierung führte Langhoff aus: „Unser Zuschauer soll . . . durch ein großes Beispiel angeregt werden, alle seine Kräfte zur Vereinigung unseres eigenen Vaterlandes anzuspannen." Seine Regie-Absicht bestand darin, „in Goethes Sinn [zu] zeigen, daß Schicksal durch menschliches Handeln, durch Aktivität beeinflußbar ist" 295 . Die beabsichtigte Aktivierung des Zuschauers, die Impulse zur Tatbereitschaft suchte Langhoff dadurch zu erreichen, daß er denEgmont zu einer großen Vorbildfigur aufbaute. „In dieses Volksschauspiel fügte sich der Aufbau der Hauptfigur nahtlos ein. Langhoff betrachtete Egmont als adligen Demokraten, der für die nationale Unabhängigkeit seines Volkes in den Tod geht. Indem der Regisseur diesen Weg Egmonts als eine Entwicklung ,vom gutgläubigen Reformisten zum Revolutionär' interpretierte, machte er die Größe von Egmonts gesellschaftlicher Entscheidung und Bewährung stufenweise szenisch erlebbar. Im 1. Bild ist Egmont noch ganz der strahlende, unbeschwerte Held, der, vertrauend auf die Verhandlungsbereitschaft des spanischen Monarchen, seine unzufriedenen Untertanen zu Ruhe und Einsicht ermahnt. Erst angesichts des Todes erkennt er seinen tragischen Irrtum und weiß, ,daß gegen die Gewalt der Unterdrückung nur die Gewalt des Rechts und der Freiheit gesetzt werden kann'." 296 Gegen eine solche Darstellung meldete Brecht Einspruch an. Widerspruch kam auch von anderen, zum Beispiel von Maxim Vallentin. Mit einem schriftlichen Beitrag meldete sich Brecht auf der Stanislawski-Konferenz zu Wort, auf der Langhoffs Egmont-Inszenierung zur Diskussion stand. „Die Konzeption Langhoffs von Goethes ,Eg205
mont' kommt auch mir idealistisch und undialektisch vor. Zumindest in seinem Referat vom Samstag ist Egmont nur der makellose Vorkämpfer eines nationalen Befreiungskrieges", wandte Brecht ein.297 Langhoff hatte alles in die Figur des Egmont gelegt. Die Stufen und Stadien des Befreiungskampfes, den das holländische Volk führte, waren identisch mit den Entwicklungsstadien und -stufen Egmonts. Auf diese Weise aber konnte eine differenzierte Darstellung der Klassenposition dieser Gestalt nicht sichtbar gemacht werden. Langhoff ließ nur die Rechtfertigung, nicht aber auch die Kritik an der Figur spielen. Und das eben nannte Brecht idealistisch. Brechts große theoretische und theaterpraktische Leistung bestand gerade darin, daß er Vorstellungen und darstellerische Mittel entwickelt hatte, damit auch bei der Bejahung des Helden die Kritik mitspielen konnte, die notwendig war, weil Figuren aus der Vergangenheit historisch, das heißt aus der Sicht von damals und von heute gesehen werden mußten. Es waren sowohl das vorbildliche Handeln wie die klassenmäßigen Beschränkungen und Grenzen zu zeigen. Die Kritik, die im Grunde nur die historische Einsicht in die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten war, nahm dadurch der Figur nicht ihre Größe. Auch wurde der Figur durch eine solche Sicht nicht ihre Lebendigkeit und Frische genommen. Im Gegenteil! Sie gewann für ein Publikum mit historischem Sinn noch an Interesse. Dagegen war in Langhoffs theoretischer Konzeption wie in seinem methodischen Verfahren alles auf eine eingleisige Vorbildwirkung ausgerichtet, mit der der historische Gehalt des Stückes nicht differenziert erfaßt werden konnte. Denn schließlich war weder der historische noch der von Goethe gestaltete Egmont der „adlige Demokrat", den Langhoff herausgearbeitet hatte. Die Dialektik von Historizität und Aktualität war durch die Überforderung der Figur zerstört. Ohne Zweifel boten Brechts theoretische Überlegungen wie seine theaterpraktische Methode bei der Aneignung klassischer Werke gegenüber dem Langhoffschen Verfahren — denn Langhoffs Inszenierungsweise traf in dieser Zeit nicht nur auf den ügmont zu — die größeren Vorzüge. Andererseits wurde das richtige gesellschaftliche Gesamtanliegen wie auch die diffe206
renzierte Gestaltung der Volksmassen durch Langhoff von Brecht mit der Kennzeichnung „idealistisch" allzu schroff abgewertet. Keineswegs stellt diese Kritik an der methodologischen Grundauffassung Langhoffs, die er übrigens später selbst korrigierte, kein Urteil über die Regiekunst dieses ausgezeichneten Theatermannes dar. Sie will auch nicht die Egmont-Inszenierung insgesamt bewerten, die neben den hier genannten Schwächen auch viele Vorzüge besaß und wegen dieser Vorzüge zur Theatergeschichte zählt.298 Brecht versuchte bei der Aneignung des Erbes die Würde, die klassische Werke beanspruchen können, mit dem experimentellen Sinn, der wiederum dem Theater als legitim zugestanden werden muß, zu vereinen. Lenin hatte gefordert, daß das Proletariat mit dem Erbe „arbeiten" müsse. Wenn die großen klassischen Werke nur Gegenstand der Feier, der literarischen Andacht sind, wenn ihnen nur Reverenz erwiesen wird, statt sie immer von neuem nach ihrem Aussagewert für hier und heute zu befragen, führt auch das zu einer Schädigung dieser Werke. Andererseits wüßte Brecht auch, wie schwer es war, an die klassischen Werke geknüpfte Gedanken und Probleme durch neue, bisher noch nicht gedachte, zu bereichern oder gar alte Gedanken durch neue abzulösen. Klassisch galt ein Werk, wenn es festgefügt im Gedächtnis des Volkes war. Das hatte oft dazu geführt, daß auch die Ansichten über die klassischen Werke als allzu festgefügt betrachtet wurden. Die Frische, Produktivität der klassischen Werke erwies sich für Brecht darin, daß diese immer wieder von neuem befragt werden konnten. Für die Befragung alter Werke hatte sich Brecht ein methodisches Verfahren zurechtgemacht, das er „ein Stück in die Krise bringen" nannte . Dieses Verfahren beruhte darauf, daß an ein Stück Fragen gerichtet wurden, die man eigendich nicht stellte, weil der Blickwinkel, von dem aus sie gestellt waren, gar nicht als literarisch zulässig galt. Eine solche Frage brachte Brecht in den Nachträgen £um ,Kleinen Organon' vor: „Ein Schauspieler soll den Faust spielen. Fausts Liebesbeziehungen zu Gretchen nehmen einen verhängnisvollen Verlauf. Die Frage erhebt sich: Würden sie das nicht, wenn Faust Gretchen heiratete? Für gewöhnlich wird diese Frage nicht gestellt. Sie erscheint als zu banal, niedrig, spießig. Faust 207
ist ein Genius, ein hoher Geist, der Unendliches anstrebt; wie kann man auch nur die Frage stellen: Warum heiratet er nicht? Aber die einfachen Leute stellen diese Frage." 299 Anhand dieser Frage analysierte Brecht den Grundkonflikt des Faust und arbeitete dann die Lösung des Hauptwiderspruchs heraus, die sich erst am Ende der beiden Teile abzeichnet: „In der produktiven Arbeit für die Menschheit vereinigt sich geistige und sinnliche Tat, und in der Produktion von Leben ergibt sich der Genuß am Leben." 300 Ein Stück „in die Krise bringen" bedeutete für Brecht nicht, irgendeine Schwäche ausfindig zu machen, sondern die Stärken eines Werkes zu überprüfen, dessen Aussagekraft zu testen. Ein Test verlangt außergewöhnliche Belastung. Dieses methodische Verfahren Brechts verlangte ungewöhnliche Fragen. Fragen dieser Art sind in seinen sozialkritischen Sonetten über Hamlet, den Prinzen von Homburg, den Hofmeister zu finden. Diese Sonette, oft mißverstanden, erhalten ihren Sinn und Zweck von dem eben beschriebenen methodologischen Verfahren, das, wie Brecht vermerkte, „den Genuß an den klassischen Werken nicht vereiteln, sondern reiner machen" will. 301
Worin besteht das eigenwillige Verhältnis des Theaters •%um Erbe? Für die Lebendigkeit des weltliterarischen Erbes ist das Theater immer ein unerbittlicher Prüfstein gewesen. Andererseits war es auch der Stein des Anstoßes; denn vom Theater gingen vor allem die Debatten aus, inwieweit eine „werkgerechte", „echte", „unverfälschte" Aneignung des Erbes vorliege. In der Epik und Lyrik vollzogen sich die Rezeptionsprobleme viel ruhiger, weniger gewaltsam und lärmend, so daß man fast geneigt ist, von einem eigenwilligen Verhältnis des Theaters gegenüber dem Erbe zu sprechen. Die Frage ist: Existiert ein solches Verhältnis tatsächlich und wenn ja, worin besteht es? Damit werden hier einige Probleme berührt, die nicht als eine Abweichung vom Thema mißverstanden werden dürfen. Im Grunde geht es um das Problem: Warum wurden die problematischen wie die produktiven Fragen über die Aneignung des 208
Erbes gerade vom Theater aufgeworfen? Liegt es an dem eigenwilligen Verhältnis des Theaters zum Erbe? Als Erwin Piscator in den zwanziger Jahren nach seiner Riäzfer-Inszenierung heftig angegriffen wurde, versuchte er in einigen Thesen klarzumachen, inwieweit die Umformung klassischer Stücke berechtigt sei. Gleich in der ersten These kam er auf die „besondere" Rolle des Theaters zu sprechen. „Bei der Beurteilung der Berechtigung oder Nichtberechtigung zur Umformung klassischer Bühnenwerke für die Bedürfnisse des modernen Theaters begeht man einen Fehler, wenn man Parallelen zu anderen Gebieten der Kunst zieht. Tatsächlich haben wir noch immer zu Werken der Malerei und der Plastik ein rein museales Verhältnis. Leider! Das Bühnenwerk dagegen muß, was nicht mehr bestritten wird, über das rein historische, ethymologische Interesse hinaus in das Erlebnisgebiet der jeweiligen Publikumsgeneration gerückt werden." 302 Nun muß eine aber auch auf dem Gebiet der Epik und der Lyrik wirklich lebendige Aneignung des Erbes über das Interesse an rein historischen, philologischen und etymologischen Problemen hinausgehen. Hier kann der Unterschied nicht liegen. Wesentlicher ist schon ein weiterer Aspekt, den Piscator ebenfalls nennt: „Die Zeit, die über das Werk hinweggeht, läßt nun jeweils die einen oder anderen Elemente des Stückes klarer hervortreten oder in den Schatten versinken. Jede lebende Epoche findet in der vergangenen ihre kongruenten Bestandteile, die sie wieder ans Licht zieht." 303 Die Last der Jahrzehnte und Jahrhunderte, der ein Werk ausgesetzt ist, beeinträchtigt es in seinen einzelnen Teilen höchst unterschiedlich. Während einige Teile über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinaus lebendig bleiben, verblassen andere Teile. Sie werden dann von der Gegenwart als uninteressant, überholt, gelegentlich sogar als gänzlich abseitig oder zeitgebunden empfunden. Nur die ganz großen Meisterwerke bleiben in ihrer Gesamtheit lebendig. Während nun der Leser eines alten Romans auch über verblichene, abgestorbene Stellen hinwegkommt, zumal sie durch Kommentare verständlich gemacht werden können, sind verblichene, nicht mehr lebendige Stellen in einem Bühnenwerk schon schwerer in Kauf zu nehmen. Ein Theaterstück wirkt durch die Gesamtheit seiner Handlung. Sind einzelne Hand14
Mittenzwei
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lungsteile und Vorgänge nicht mehr lebendig, beanspruchen einige der aufgeworfenen weltanschaulichen Probleme nicht mehr das Interesse der Gegenwart, ist meist das Stück als Ganzes gefährdet. Auf diese Weise scheidet es dann aus der Vermittlung und damit als Teil des lebendigen Erbes aus. Inwieweit etwas als nicht mehr lebendig aufgefaßt wird, ist allerdings nicht nur eine Frage, die sich aus dem Ermessen des einzelnen ableitet, sie ist vor allem eine Klassenfrage. Zu dem Wissensdurst des Faust, dem Renaissance- und Beginnergefühl dieses Gelehrten, verhält sich das späte Bürgertum anders als die revolutionäre Arbeiterklasse. Z u m Lohengrin-Motiv „Nie sollst Du mich befragen" wiederum nimmt das späte Bürgertum eine freundlichere Haltung als die revolutionäre Arbeiterklasse ein. Aber auch bei weltanschaulich gleichdenkenden Menschen kann die Meinung über die Lebendigkeit bestimmter Handlungselemente und Vorgänge alter Kunstwerke auseinandergehen. Während beim Buch der historische Sinn des Lesers, sein Wirklichkeitsverständnis und die Kenntnis des historischen Materialismus den Ausschlag geben, kommt beim Theater der Kunstsinn hinzu, durch den ein altes Werk dem Publikum vermittelt wird. Im Gegensatz zum alten Roman, zum Gedicht wird das Bühnenstück über eine weitere Kunstform, das Theater, angeeignet. Kunst wird hier durch Kunst vermittelt. Dadurch kommt es zu einer doppelten Sicht der Vorgänge. Der gebildete Zuschauer sieht sowohl das ursprüngliche, oder besser gesagt das bisher überlieferte Bild wie auch das neu gefundene der betreffenden Aufführung. Es wäre ein durchaus lohnendes und aufschlußreiches Unternehmen, zum Beispiel einmal die Aneignung von Schillers Räuber durch sozialistische Regisseure zu untersuchen, angefangen von Erwin Piscator zu Martin Hellbergs Dresdner Inszenierung, über die Aufführung am Berliner Maxim-Gorki-Theater von Vallentin/Mäde bis zur Inszenierung von Langhoff/Karge an der Berliner Volksbühne. Dadurch könnten viele diffizile Probleme der Erbeaneignung aufgegriffen und auch das eigenwillige Verhältnis des Theaters zum Erbe näher ausgeführt werden. Noch einmal zu Erwin Piscator. Er führte in seinen Darlegungen auch an, daß ein Bühnenwerk nicht etwas Starres und Endgültiges sei. Einmal in der Welt, setze es zwar 210
Patina an, assimiliere aber auch zu den verschiedenen Zeiten neue Bewußtseinsinhalte. Das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt. Genau durchdacht, trifft er zwar auch auf die anderen Kunstgebiete zu, aber dort vollzieht sich der Vorgang in einer ganz anderen Weise. Und damit ist der Ausgangspunkt berührt, der das eigenwillige Verhältnis des Theaters zum Erbe bestimmt: die ästhetische Eigengesetzlichkeit des Theaters. Obwohl diese Eigengesetzlichkeit des Theaters hier nicht analysiert werden kann, zumal es auf diesem Gebiet seitens der marxistischen Forschung noch an ausreichenden Begründungen fehlt, müssen dennoch einige Aspekte erhellt werden. Mit gutem Grund sieht die Theaterwissenschaft nicht im dramatischen Text, sondern in der theatralischen Aufführung ihren eigentlichen Gegenstand. Gewertet wird die Vorstellung als Realisierung eines dramatischen Werkes durch die verschiedenen Schwesternkünste. Eine dramatische Handlung stellt das Theater in erster Linie durch die Körpersprache des Schauspielers dar. Sein gestisches und mimisches Material dient ihm dazu, einen Vorgang zu demonstrieren. Innerhalb dieses „Zeige-Vorgangs" werden die körperlichen Mittel wie Chiffren gebraucht, in deren Sinn das Publikum eingeweiht ist. Zwar geschieht alles als Interpretation des Textes, aber man würde an der Eigengesetzlichkeit des Theaters völlig vorbeigehen, sähe man dabei nur den Textvollzug, nicht aber die körperliche Darstellung. Denn hierin zeigt sich eine wesentliche Seite der theatralischen Eigengesetzlichkeit, aber eben nur eine Seite. Der „Zeige-Vorgang" des Schauspielers drückt immer eine ablesbare Bedeutung aus, die jedoch erst durch das merkwürdig unbestimmbare Zusammenspiel von Bühne und Zuschauer voll realisiert wird. In dieser geistig-psychischen Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauermasse, in der die verschiedensten Momente des gesellschaftlichen Lebens mitspielen, besteht eine weitere Seite der theatralischen Eigengesetzlichkeit. Da die Bedeutung des „Zeige-Vorgangs" durch das Zusammenspiel von Bühne und Zuschauer zustande kommt, kann es auch passieren, daß aus dem „Zeige-Vorgang" des Schauspielers eine andere Bedeutung herausgelesen wird, als sie vom Schauspieler beabsichtigt war. Auch ohne dramatischen Text ist aus der Körpersprache des Schauspielers 14*
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eine Bedeutung ablesbar, die wiederum durch das „Spiel" der Zuschauer oder — konkreter ausgedrückt — aus dem Zusammenspiel von Bühne und Zuschauern zustande kommt. In seiner Studie Theater und Wissenschaft schrieb Manfred Wekwerth: „Der Zuschauer spielt auch, wenn es sich bei der Vorführung auf der Bühne um historische Stücke handele . . . Der Schauspieler leihe sozusagen seine Realität aus, um — verabredungsgemäß — die m ö g l i c h e n V o r s t e l l u n g e n des Zuschauers für die Dauer der Vorführung R e a l i t ä t werden zu lassen, aber ohne das R i s i k o der Realität. Der Zuschauer könne sich zu seinen m ö g l i c h e n Vorstellungen w i r k l i c h verhalten." 304 Auch bei historischen Stücken „spielt" der Zuschauer seine gesellschaftlichen Erfahrungen und sozialen Vorstellungen mit. Das Theatererlebnis für den Zuschauer besteht gerade darin, daß er in der Darstellung des Schauspielers eigene gesellschaftliche Erfahrungen mitdenkt, miterlebt. Nun vollzieht sich der ästhetische Aneignungsvorgang bei einem historischen Roman gleichfalls darin, daß der Leser seine Vorstellung von der Welt und der Gesellschaft auch hier, auch in den Romangestalten, mitdenkt. Auf dem Theater aber gewinnt der Vorgang durch die Körperlichkeit des Schauspielers einen viel direkteren Bezug. Durch die körperliche Darstellung eines Textes vor einer Zuschauermasse kommt es doch erst zu diesem „Mitspielen" des Publikums, das eben beim Roman nicht eintritt und auf Grund der anderen ästhetischen Gesetzlichkeit dieses Genres gar nicht eintreten kann. Zusammengefaßt läßt sich über die ästhetische Eigengesetzlichkeit des Theaters sagen: Ob es sich um ein historisches oder zeitgenössisches Werk handelt, durch den VorzeigeCharakter der schauspielerischen Körpersprache wie durch das Zusammenspiel von Bühne und Publikum wird der Zuschauer eingeladen, eigene gesellschaftliche Erfahrungen mit ins Spiel zu bringen. Der „Einstieg" des Zuschauers in den literarischen Stoff erfolgt über die Vermittlung durch die physische Handlung des Schauspielers. Wichtig aber ist, daß dieser Vorgang innerhalb des kollektiven Zusammenspiels von Bühne und Zuschauer erfolgt. Wenn mit diesen Vorgängen auch noch keineswegs die Eigengesetzlichkeit des Theaters völlig erklärt ist, so liegt hierin doch eine wesentliche Seite des „Wirkungs212
geheimnisses" Theater im Unterschied zur Wirkungsweise anderer Kunstgattungen. Dieser knappe Exkurs über die ästhetische Eigengesetzlichkeit des Theaters war nötig, weil sie sehr wesentlich die Dialektik von Historizität und Aktualität beeinflußt. Es ist eben nicht so, daß der Zuschauer den Eindruck von einer Bühnengestalt, zum Beispiel die des Karl Moor, nur über die Wahrnehmung des Textes, sondern vor allem durch die Körpersprache des Schauspielers gewinnt. Wie der Zuschauer Karl Moor sieht, hängt zu einem großen Teil von der gestischen und mimischen Ausdruckskraft des Schauspielers ab. Durch die dem „Zeige-Vorgang" des Schauspielers innewohnende Bedeutung kann im Zusammenspiel mit der Vorstellungswelt der Zuschauer eine Aussage erreicht werden, die weit über den dramatischen Text hinausreicht. Die Körpersprache des Schauspielers hat einen Spielraum, der auch so extrem ausgedehnt werden kann, daß sich das gestische und mimische Material gegen den Text kehrt. So verleiht das Theater dem Drama oftmals eine andere als vom Autor beabsichtigte Aussage, ohne auch nur die geringsten Textveränderungen vorzunehmen. Nun gibt es zu dem sehr komplizierten Problem der Dialektik von Historizität und Aktualität bei dramatischen Werken oft die Auffassung, die besagt, man solle die Werke des weltdramatischen Erbes einfach „richtig" spielen. In der sozialistischen Gesellschaft, die der rechtmäßige Erbe alles Humanistischen und Schönen ist, stelle sich dann die Aktualität ganz von selbst ein. Eine solche Meinung mag ohne näheres Besehen ganz selbstverständlich erscheinen, sie ist aber viel zu mechanisch, als daß sie in der gesellschaftlichen Praxis brauchbar wäre. Ein Stück historisch „richtig", das heißt im Sinne des Autors und der Geschichte richtig zu spielen ist schon insofern nicht ganz einfach, weil die eigentlichen „Absichten", zum Beispiel der antiken Autoren und auch die Shakespeares, sehr schwer zu rekonstruieren sind. Auch die Wahrheit über den Ideengehalt eines Stückes und den weltanschaulichgeistigen Standpunkt eines Autors der Vergangenheit im Sinne des Marxismus-Leninismus ist ein historischer Prozeß und keine einmal gefundene unumstößliche Erklärung. Aber selbst wenn man für einen Moment unterstellt, die unumstöß213
lieh „richtige" Begründung eines dramatischen Werkes der Weltliteratur zu besitzen, so ist keineswegs gesagt, daß sich diese Wahrheit auch im Zusammenspiel von Bühne und Zuschauerraum ästhetisch realisiert. Auch deshalb ist es ganz und gar sinnlos, wenn man davon ausgeht, mit einer einmal gefundenen historischen Analyse nunmehr ein Stück „richtig" zu spielen. In dem Moment, in dem ein dramatischer Vorgang auf der Bühne gespielt wird, ist er auch schon interpretiert. Der dialektische Denkprozeß von Historizität und Aktualität, der in anderen Kunstgattungen oftmals schwer einsehbar ist, stellt sich im Theater ganz unmittelbar ein. Auf dem Theater ist es unmöglich, etwas „nur historisch" zu zeigen. Durch das Zusammenspiel von Publikum und Bühne wird der historische Vorgang sofort mit den gesellschaftlichen Erfahrungen des Zuschauers konfrontiert. Durch die Unmittelbarkeit der schauspielerischen Mittel, der Körpersprache des Schauspielers, erfaßt das Publikum zum Beispiel den Wallenstein keineswegs nur als eine historische Persönlichkeit in der Gestaltung eines großen Dichters, sondern im Zusammenspiel von Bühne und Publikum konfrontiert der Zuschauer das historische Schicksal der Bühnenfigur mit seinen eigenen gesellschaftlichen Erkenntnissen. E r lebt sich keineswegs nur in die dargestellte Person hinein, sondern er vergleicht sie aus der Sicht seiner eigenen Erfahrungen. Dabei ist von untergeordneter Bedeutung, inwieweit sich der Zuschauer selbst jeweils dieses Vorgangs bewußt wird. In der größeren Intensität der Dialektik von Historizität und Aktualität, die durch die ästhetische Eigengesetzlichkeit des Theaters hervorgerufen wird, liegen Möglichkeiten und Gefahren für das Theater. Der Aneignungsvorgang des Erbes durch das Theater ist in einem ganz anderen Maße einsehbar als in anderen Kunstgattungen. Wie die Leser sich zum Beispiel die Romane Zolas ästhetisch „aneignen", wie sich hier der Aneignungsprozeß der Literatur vollzieht, darüber gibt es nur sehr allgemeine Vorstellungen. Da die Literaturwissenschaft kaum Methoden zur Feststellung solcher Vorgänge ausgebildet hat, ist ein Wissenschaftler auch selten in der Lage, hierüber exakte Auskunft zu geben. Über solche Untersuchungsmethoden verfügt auch die Theaterwissenschaft nicht, aber 214
wie sich die Aneignung des Erbes durch das Theater vollzieht, darüber gibt allein schon die szenische Interpretation auf der Bühne wie die Wirkung im Zuschauerraum konkret Auskunft. Deshalb kommt auch dem Theater bei der praktischen Aneignung wie bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Erbeaneignung eine besondere Rolle zu. Die Gefahren liegen darin, daß die ästhetische Eigengesetzlichkeit des Theaters dazu verführt, den historischen Vorgang, die Historizität einer Dichtung, geringzuschätzen. Wenn ein altes Werk nur noch als Vorlage, nur als „Startposition" für neue, aktuelle Vorstellungen benutzt wird, wird die Dialektik von Historizität und Aktualität unterbunden. Sowenig dem Theater mit einer vom gegenwärtigen Stand der marxistischen Wissenschaft als „richtig" befundenen historischen Analyse allein gedient ist, ebensowenig kann es auf die künstlerische Erfassung der Historizität verzichten. Inwieweit das Theater die Aktualität eines historischen Stoffes zu erfassen versteht, darin zeigt sich sein Neuerertum, seine „avantgardistische" Stoßkraft; inwieweit ein Theater die Historizität eines alten Stückes künstlerisch umzusetzen vermag, darin zeigt sich seine Kultur, sein Kunstsinn als weltanschauliches Engagement. Um die Dialektik von Historizität und Aktualität als Grundvoraussetzung für die Erbeaneignung richtig zu bestimmen, müssen viele Momente berücksichtigt werden. Obwohl diese Dialektik nur als konkreter Vorgang wirklich erfaßt und beschrieben werden kann, soll hier dennoch der Versuch gemacht werden, einige Aspekte dieser Dialektik herauszuheben: Brecht empfahl, beim Umgang mit alten Werken von dem „ursprünglichen Ideengehalt" auszugehen. Wie die historische Position eines Kunstwerkes aufgegriffen wird, darin zeigt sich nicht nur die weltanschauliche, klassenmäßige Einstellung, sondern zugleich die Art und Weise, wie eine Klasse, wie Menschen in einer bestimmten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung mit dem Erbe „arbeiten", um hier Lenins Ausdruck zu gebrauchen. Inwieweit zum Beispiel die historische Position von Goethes ILgmont erfaßt wird, das hängt nicht nur von dem Entwicklungsstand der marxistischen Literaturgeschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft ab, sondern auch davon, ob infolge dieser oder jener gesellschaftlichen 215
Konstellation und der Erfordernisse des Klassenkampfes in der historischen Charakteristik von Goethes Egmonf mehr die bejahenswerten oder die kritikfordernden Züge hervorgehoben werden. Die künstlerische Aneignung des Erbes besitzt auf Grund der ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeit nicht die vielfältigen Möglichkeiten der Differenzierung, die in einer wissenschaftlichen Analyse nicht nur selbstverständlich, sondern geradezu Voraussetzung sind. Allein hieraus ist schon ersichtlich, wie bei der Bestimmung der historischen Position eines alten Werkes historischer Sinn und politisch aktuelle Einsicht einander bedingen, wie das eine Moment in das andere umschlägt. Die Dialektik von Historizität und Aktualität wird nicht zuletzt auch dadurch wesentlich mitbeeinflußt, daß sich die Aneignung eines Werkes aus dem weltliterarischen Erbe innerhalb eines konkret bestimmbaren Polemikfeldes vollzieht. Jedes Werk des weltliterarischen Erbes ist bereits mehr oder weniger mit Vorstellungen und Interpretationen befrachtet. Innerhalb des Klassenkampfes wurden die Werke als Mittel der Politik in die unterschiedlichste Beleuchtung gerückt. Bevor ein Werk neuen Gesichtspunkten zugeführt werden kann, wie sie sich aus der Dialektik von Historizität und Aktualität ergeben, muß es erst einem überholten, von ganz bestimmten Klassenkräften geprägten Interpretationsmuster entzogen werden. So ist die neue Sicht auf ein altes Werk oftmals nur durchzusetzen, indem das bisherige Interpretationsmuster bekämpft wird. Das Neue etabliert sich in der Polemik mit dem Alten, Überholten, mit der Entstellung. Die polemische Auseinandersetzung spielt auf dem Theater auch insofern eine große Rolle, da das Publikum die Werke der Weltliteratur in einer „Zubereitung" ausgehändigt bekommt, die stärker von subjektiven Momenten abhängig ist. Die Sicht auf die große Weltdramatik wird von den vorherrschenden Interpretationsmustern viel stärker beeinflußt als bei anderen Kunstgattungen. Während es möglich ist, ein Gedicht oder einen Roman einigermaßen im Originalzustand an den Leser heranzubringen, ist das auf dem Theater nicht möglich. Gewiß muß man berücksichtigen, daß es auch sehr eingefahrene Lesegewohnheiten und ein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingtes ästhetisches Ver216
halten gibt. Diese Faktoren beeinflußten gleichfalls den ästhetischen Aneignungsvorgang. Das Theater aber realisiert diese ästhetischen Gewohnheiten. Was bei der Aneignung eines Romans mehr oder weniger unkontrollierbar bleibt, wird auf dem Theater direkt sichtbar. Wenn eine neue Sicht auf alte Werke durchgesetzt wird, so ist das mit Polemik verbunden, weil die Werke in der Vorstellung des Publikums „anders" bekannt waren. In welchem Maße daher das Polemikfeld ausgeschritten werden muß, ist nicht in erster Linie ein subjektives Moment. Es gibt Zeiten, in denen die Aufgabe der fortschrittlichen Klasse darin besteht, das Erbe von der „Befrachtung" durch die bisher herrschende Klasse zu befreien. Diese Kampfposition ist dann dadurch gekennzeichnet, daß das Erbe vorwiegend zur Ideologiekritik benutzt wird: Denn eine neue Sicht auf das Erbe muß freigekämpft werden. So sah Brecht nach 1945 die Aufgabe für die mit der Arbeiterklasse verbundenen Künstler darin, die Tradition der Schädigung klassischer Werke zu überwinden. Und es gibt wiederum Zeiten, in denen die Aufgabe darin besteht, nicht so sehr alte Vorstellungen auszuräumen, als vielmehr die neu gewonnenen Erfahrungen zu befestigen. Die Dialektik von Historizität und Aktualität erschließt sich hier auf direktere Weise. Ein weiteres Kriterium der komplizierten Dialektik von Historizität und Aktualität ist darin zu sehen, ob die alte Schönheit eines Werkes sichtbar gemacht wird. Jede Klasse, jede historische Epoche hat ihr eigenes Schönheitsideal. Zur Dialektik von Historizität und Aktualität gehört, die Schönheit eines alten Werkes nicht nur von jenen Seiten her zu verstehen und zu genießen, die der Schönheitsvorstellung unserer Zeit und unserer Gesellschaft am nächsten kommen, sondern aus der Gesamtheit seiner Momente. Das ist möglich, wenn man die Schönheiten alter Werke im Vergleich mit der Eigenart von Schönheiten anderer Zeiten und Epochen, älterer wie neuerer, wahrnimmt. Das verlangt, Entwicklungen mitzudenken. In der Veränderung und Entwicklung auf „immer kräftigere, zartere und kühnere Humanität" 3 0 5 muß ein Element der Schönheit gesehen werden. So wird die historische Sicht selbst zu einer Quelle des Genusses. 217
Die großen
Bearbeitungen
Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil entstanden die großen Bearbeitungen Antigone, Der Hofmeister, Coriolan. Bearbeitungen waren für Brecht von jeher fester Bestandteil seines dramatischen Schaffens. Er folgte hierin der Praxis der meisten großen Dramatiker. So wie Shakespeare ein Stück von George Whetstone als Vorlage für seine Komödie Maß für Maß nahm, war für Brecht Maß für Maß die Vorlage für seine Parabel Die Kundköpfe und die Spit^köpfe. Nicht alle Bearbeitungen Brechts durchliefen so viele Phasen wie Die Kundköpfe und die Spit^köpfe und wurden am Ende zu einem völlig neuen Stück. Aber auch dort, wo Brecht nur geringfügige Veränderungen vornahm, handelt es sich um sehr wesentliche Versuche, die unbedingt zum dramatischen Gesamtwerk Brechts zu zählen sind. Hanns Eisler setzte sich in seinen Gesprächen sehr leidenschaftlich dafür ein, daß die Bearbeitungen in gleicher Weise wie die großen Stücke gewertet werden. Selbst wenn ein Dramatiker nur eine solche Bearbeitung wie den Coriolan gemacht haben würde, meinte Eisler, wäre ihm der Nachruhm sicher. Heute stellt kaum noch jemand die große Leistung dieser Bearbeitung in Frage; wie Brecht dabei jedoch mit den Vorlagen verfuhr, ist nach wie vor umstritten geblieben. Wenn man von den Bearbeitungen Brechts spricht, muß man zugleich deutlich machen, daß sie auf sehr unterschiedliche Anlässe zurückzuführen sind. Es gibt kein auch nur einigermaßen einheitliches Bearbeitungsmuster. Wenn die Bearbeitungen zum festen Bestandteil des dramatischen Gesamtwerkes von Brecht zählen, so heißt das nicht, daß sie aus einer geschlossenen Konzeption heraus entwickelt worden sind. Brecht nahm manche Bearbeitung als Theaterpraktiker in Angriff und lieferte sie als Dichter ab. Das beste Beispiel ist dafür Maß für Maß. Zu Beginn der dreißiger Jahre bat ihn der Regisseur Ludwig Berger, Shakespeares Maß für Maß für eine Aufführung an der Berliner Volksbühne einzurichten und leicht zu bearbeiten. Wie bei ähnlichen Unternehmen Brechts schwoll die Arbeit an. Eine erste Fassung trug noch den Titel Maß für Maß oder Die Sallesteuer. Eine weitere Version nannte 218
Brecht Reich und reich gesellt sich gern. Aus der Bearbeitung wurde schließlich ein ganz neues Stück. Das Shakespeare-Drama, das einstmals „leicht" bearbeitet werden sollte, war kaum noch erkennbar. In den fünfziger Jahren, als Brecht in der Deutschen Demokratischen Republik über ein Theater verfügte, ging er mehr vom Standpunkt des Theaterpraktikers an die Bearbeitungen heran. Brecht brauchte Stücke für sein Berliner Ensemble. Bisher hatte er mit jedem seiner Werke zu einer ganz konkreten Erscheinung im gesellschaftlichen Leben Position bezogen. So unterstützte die Aufführung der Mutter Courage den weltweiten Friedenskampf der fortschrittlichen Menschen. Das Stück zeigte, wie der Krieg den Menschen zerstört, selbst den stärksten und widerstandsfähigsten. Zu den dringendsten gesellschaftlichen Fragen der Zeit sollte auch mit den Stücken des klassischen Repertoires Stellung genommen werden. Das machte sich schon deshalb erforderlich, weil es kaum brauchbare neue Stücke über die Probleme der Gegenwart gab, obwohl die Gesellschaft tiefgreifende Veränderungen durchmachte. Die Situation war auch insofern für das Theater schwierig, als der fortschrittliche Ideengehalt in den besten Werken des weltliterarischen Erbes durch den Faschismus entstellt worden war. Der real vorhandene aktuelle Bezug der klassischen Werke zu den großen Gesellschaftsumwälzungen stellte sich damals keinesfalls so selbstverständlich her, wie man hätte annehmen können. Der historische Sinn des Publikums, ein Geschichtsbewußtsein vom Standpunkt der revolutionären Arbeiterklasse mußten erst entwickelt werden. In dem Bestreben, gegenwärtig noch nicht Vorhandenes auszugleichen, wurde nicht selten zu dem Mittel der großen Aktualisierung gegriffen. Brecht hatte sich in den Jahren der Emigration zu gründlich um ein historisches Verständnis des weltliterarischen Erbes bemüht, als daß er in der groben Aktualisierung einen Ausweg hätte sehen können. Unangemessene Aktualisierungen zerstörten nicht nur den poetischen Reiz der alten Stücke, sie verbauten auch den Weg zu einem wirklichen historischen Verständnis des klassischen Erbes im Sinne des historischen Materialismus. Eine Lösung sah Brecht in den Bearbeitungen. Mit Kunst und historischem Sinn vorgenommen, ließen sich über 219
sie jene Wirkungen erzielen, die von der Aktualisierungsmanier erstrebt, aber infolge der Zerstörung des Poetischen nicht erreicht werden konnten. So wurden die großen StückBearbeitungen Brechts nicht nur durch die Spielplangestaltung angeregt, ihre Entstehung ist auch mit der Theaterpraxis Brechts am Berliner Ensemble und der Entwicklung der Theaterkunst in jenen Jahren auf das engste verknüpft. Als Brecht nach der Zerschlagung des Faschismus sich wieder der Theaterpraxis widmen konnte, fand er, daß mehr noch als die Theatergebäude die Theaterkunst, die theatralischen Mittel und Methoden durch den Faschismus zerstört worden waren. Um die „Tradition der Schädigung der Klassiker" zu unterbinden, mußten Wege gefunden werden, die die Theater überhaupt erst in den Stand setzten, Klassiker aufzuführen. Die poetischen und artistischen Mittel des Theaters, unerläßliche Voraussetzungen für die Aufführung klassischer Stücke, waren durch die Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte entweder ganz verkümmert oder bis zur Verzerrung vergröbert worden. Auf diesen Zustand der deutschen Theaterkunst Ende der vierziger Jahre wies Brecht hin: „Die Lüge trat als Erfindung auf, die Ungenauigkeit als Großzügigkeit, die Unterwürfigkeit unter eine herrschende Form als Kennerin der Form und so weiter. Es war notwendig, die Abbildungen der Wirklichkeit in der Kunst auf ihre Wirklichkeitstreue hin zu prüfen und die Absichten zu untersuchen, welche die Künstler mit der Wirklichkeit hatten." 306 So dienten die Bearbeitungen Brechts auch dazu, eine Ausgangsbasis und Möglichkeit zur Bewältigung poetischer und theatralisch-artistischer Aufgaben zu schaffen. Über die Bearbeitungen sollte ein Beitrag zur Entwicklung der Theaterkünste geleistet werden. Ein solches Verfahren erwies sich zur Realisierung eines klassischen Repertoires als unbedingt nötig. Jede Geringschätzung des Artistischen und Poetischen hielt Brecht für schädlich, weil die Eigentümlichkeit der theatralischen Mittel eben darin besteht, daß sie politische Erkenntnisse nur in Form von Genüssen vermitteln. So wurde über die Bearbeitungen auch das theatralische Arsenal neu formiert, artistische und poetische Fähigkeiten entwickelt und der Sinn für die wirklichen Schönheiten der alten Stücke geschärft. Brecht arbeitete eine langfristige 220
Strategie zur Entwicklung der theatralischen Mittel und Methoden aus. Die Arbeit am Hofmeister diente ihm zum Beispiel dazu, sein Ensemble auf Shakespeare vorzubereiten. Mit der Bewältigung der einen Aufgabe wurde schon die neue in Angriff genommen. Ohne Kenntnis dieser Absichten sind die Bearbeitungen Brechts nicht zu verstehen. Sie sind unmittelbarer Teil seiner Theaterpraxis und können daher nicht nur aus der Sicht des Dramatikers und Dichters interpretiert werden. Wenn man aus den Stück-Bearbeitungen Brechts auch keine direkte Methode oder kein Bearbeitungsmuster ableiten kann, weil sie aus sehr verschiedenartigen Anlässen entstanden sind und sehr unterschiedlichen Aufgaben dienten, so lassen sich doch bestimmte Grundtypen feststellen. Diese Grundtypen kennzeichnen den Bearbeitungsgrad, sie heben das Ausmaß des Eingriffs in das Original hervor. Von dieser Überlegung ausgehend, kann man bei Brecht drei Bearbeitungstypen unterscheiden. Der erste Typus ist jener, der kaum Eingriffe in die Fabelführung und in die Gesamtstruktur des Originals aufweist. Dieser originalschonende Eingriff schließt jedoch nicht aus, daß auch hier die Handschrift des Bearbeiters deutlich abzulesen ist. Das beste Beispiel dafür ist die Bearbeitung der Antigone. Der zweite Grundtypus ist konträrer Art: Ein radikaler Eingriff wird vorgenommen, der bis zur totalen Umformung der Vorlage gehen kann. Die Bearbeitung wird so weit vorgetrieben, daß als Ergebnis ein völlig neues Werk vorliegt. Die Spannweite dieses Bearbeitungsvorgangs liegt zwischen dem Hofmeister und Maß für Maß/ Die Kundköpfe und die Spit^käpfe. Der dritte Bearbeitungstypus ist dadurch gekennzeichnet, daß einem alten Werk ohne allzu weitgehende Veränderungen eine neue bzw. eindeutigere, historisch konkretere inhaltliche Stoßrichtung gegeben wird. Beispiele dafür sind Coriolan, Don Juan, Biberpelz und Kot er Hahn. Während der Heimkehr aus der Emigration bearbeitete Brecht die Antigone des Sophokles in der Übersetzung Friedrich Hölderlins. Diese Arbeit war als Vorbereitung, als Übung für die geplanten Inszenierungen seiner eigenen Werke gedacht. Sie ist in der ganzen Anlage ein Musterbeispiel für den von Brecht in der Emigration beschriebenen Umgang mit großen Werken des weltliterarischen Erbes. Mit dieser Be221
arbeitung praktizierte Brecht, was er vorher theoretisch begründet hatte. Streng eingehalten wurde der Grundsatz, daß man den „ursprünglichen Ideengehalt" der alten Werke herausbringen und jede Veränderung mit „historischem Gefühl und viel Kunst" vornehmen müsse. So blieb die alte Fabel fast unangetastet. In die Struktur des Werkes griff Brecht ebenfalls nicht ein. Wo aber setzte die Bearbeitung an? Als Repräsentant des epischen Theaters verwandte Brecht immer sehr viel Sorgfalt auf die Motivierung der Fabeivorgänge. In dem Vergleich seiner Arbeitsweise mit der Schillers wies Brecht darauf hin, daß die Eigenart des episch orientierten Dramatikers auch darin bestehe, daß er jedem einzelnen Teil der Fabel in seiner Verknüpfung und Motivierung gleiche Aufmerksamkeit schenke. Damit verbunden war, was Brecht die „Durchrationalisierung" eines Werkes nannte, das bedeutete, die einzelnen Fabelteile in ihrer Motivierung zu überprüfen und aufeinander abzustimmen. Ein solches Verfahren diente dazu, jede allzu lockere, nicht mit der Fabelaussage direkt verbundene Begründung auszuschalten. So ersetzte Brecht die zu individuell oder zu weitläufig begründeten Fabelverknüpfungen durch stärkere historisch-gesellschaftliche Motivierungen. Bei Sophokles beginnt das Geschehen nach einem siegreich beendeten Bruderkrieg. In der Bearbeitung Brechts ist der gesellschaftliche Hintergrund ein Raubkrieg. Es geht um die Erzgruben im benachbarten Argos. Kreon befindet sich bei Brecht in einer Situation, in der ihm noch ein Letztes zum Sieg fehlt, aber in der Bewältigung dieses Letzten offenbart sich seine Schwäche. Die Anstrengung schlägt um in Grausamkeit, und diese wiederum bringt ihn zu Fall. Bei Sophokles ist Polyneikes im Zweikampf mit dem Bruder gefallen. In Brechts Bearbeitung wird er von Kreon hingerichtet, weil er zu desertieren suchte. Die Hinrichtung löst einen Aufstand im Heer aus und bringt Kreon in eine äußerst schwierige Lage. Bei Sophokles handelt Antigone mehr aus Bruderliebe, aus religiöser Überlieferung und anerzogener Sitte, die in der Übertragung Hölderlins zur Sittlichkeit schlechthin wird. Bei Brecht begibt sich die Antigone ganz bewußt in eine politische Frontstellung zu Kreon. 222
Vor allem kam es Brecht darauf an, alle Motivierungen auszuschalten, die bei Sophokles im Sinne der antiken religiösen Schicksalsbestimmung angelegt waren. Brecht suchte das Geschehen konsequenter darauf auszurichten, daß das Schicksal des Menschen der Mensch ist. So wurde die göttliche Voraussicht des Sehers Teiresias in die menschliche Eigenschaft eines guten Beobachters umfunktioniert. Teiresias ist erfahren, sieht vieles genauer und kann dafür auch einiges voraussagen. Insgesamt suchte die Bearbeitung die allzu weitläufige, individuell oder religiös bestimmte Motivierung des Sophokles durch gesellschaftliche, vor allem ökonomisch-soziale Begründungen zu ersetzen. Damit wurde nicht nur der antike Schicksalsglaube ausgeschaltet und das Interesse stärker auf die gesellschaftlichen Kämpfe der Menschen gelenkt — das Stück bekam dadurch auch eine größere logische Konsequenz. Indem Brecht die Motivierung auf gesellschaftliche Vorgänge richtete, indem er die gesellschaftlichen Widersprüche in weit größerem Maße zum Motor der Handlung machte, verschärfte er die Konflikte und radikalisierte den gesamten Handlungsablauf. Auf diese Weise bekam die Dichtung eine größere tragische Wucht. Auch seine Schönheiten wurden durch die Bearbeitung mehr hervorgehoben. Aus der gesamten Anlage der Bearbeitung ist zu spüren, daß Brecht äußerst behutsam, mit einer ihm ungewöhnlichen Vorsicht und Feinfühligkeit zu Werke ging. Die historischästhetische Eigenart dieses alten Werkes sollte bewahrt bleiben. Mit historischem Sinn markierte Brecht die neue Betrachtungsweise auf das Werk und warnte vor einem zu direkten Aktualitätsbezug. Kritisch wandte er sich in den Vorbemerkungen zumAntigone-Modellgegen jenen „vagen Durst nach Neuem".307 Diese Vorsicht bei Brecht verwundert. Warum gerade diese Skepsis gegen das Neue in einer Zeit, die nach Neuem verlangte und des Neuen bedurfte? Warum gerade diese abwägenden Bemerkungen von einem Manne, der während der Arbeit am Galilei den Satz prägte: „Alles Neue ist besser als alles Alte"? Diese Haltung Brechts muß man im Zusammenhang mit der kulturpolitischen Situation in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg verstehen. Nach der geistigen Isolierung 223
durch die faschistische Diktatur setzte das ein, was Brecht „den vagen Durst nach Neuem" nannte. Da dieser Drang nach Neuem bei bürgerlichen Künstlern und Intellektuellen nicht immer mit einer konsequenten gesellschaftlichen Erneuerung verbunden war, mußte es zu einer Formalisierung der für die Kunst so wichtigen Kategorie des Neuen kommen. Brecht besaß nach 1945 nur unvollkommene Informationen über die Situation in Europa. Dennoch war ihm nicht entgangen, daß unter der Losung des Neuen allenthalben alte Hüte geschwenkt wurden. Als er, aus den Vereinigten Staaten kommend, in Paris eintraf und sich einige Theateraufführungen ansah, bekam er eine Vorstellung davon, was ihn gegenwärtig auf dem europäischen Kontinent erwartete. In Paris sah er die Aufführung Der Prozeß von André Gide nach dem Roman von Franz Kafka. Insbesondere durch die Kunst Jean Barraults war diese Aufführung berühmt geworden. Brecht lobte auch die brillante Gestaltung und die vielen szenischen Tricks, fand aber, daß die Aufführung insgesamt nicht Verwirrung, sondern eine verwirrte Darstellung zeige. Das „Neue" reduzierte sich zu einem großen Teil auf formalistische Experimente und richtete sich nicht auf gesellschaftliche Veränderung. Und das in einer gesellschaftlichen Situation, die Brecht mit dem Satz charakterisierte: „de gaulle ante portas." 308 Diese neue Kunst lebte von dem Versuch, „die furcht aufs publikum zu übertragen" 309 . In Westeuropa, fand Brecht, hatten sich die Menschen vom Hitlerfaschismus befreit, aber die Furcht war geblieben, weil die gesellschaftlichen Grundlagen des Imperialismus fortbestanden. In einer solchen Situation wollte Brecht mit seinen Neuerungen nicht mißverstanden werden. Er fürchtete, unter die vielen formalistischen Neuerungsbestrebungen subsumiert zu werden. Deshalb seine Warnung vor dem „vagen Durst nach Neuem". Deshalb auch seine Vorsicht bei der Übertragung der Antigene. Durch die stärkere gesellschaftlich begründete Motivierung, die Brecht in seiner Bearbeitung vorgenommen hatte, traten auch einige aktuelle Bezüge deutlicher hervor. Indem Antigone nun nicht mehr aus allgemeiner Bruderliebe, sondern unmittelbarer, direkter, politischer mit Kreon konfrontiert wurde, stellte sich fast zwangsläufig eine Assozia224
tion zum Widerstandskampf gegen den Faschismus ein. Brecht warnte davor, hierin den Sinn, die eigentliche Stoßrichtung der Bearbeitung zu sehen. „Was das stofflich Politische betrifft, stellten sich die Analogien zur Gegenwart, die nach der Durchrationalisierung überraschend kräftig geworden waren, freilich als eher nachteilig heraus: die große Figur des Widerstands im antiken Drama repräsentiert nicht die Kämpfer des deutschen Widerstands, die uns am bedeutendsten erscheinen müssen. Ihr Gedicht konnte hier nicht geschrieben werden, und dies ist um so bedauerlicher, als heute so wenig geschieht, sie in Erinnerung, und so viel, sie in Vergessenheit zu bringen." 310 Auch dieses Zurückdrängen fortschrittlicher Assoziationen, die sich aus der Handlung selbst, nicht durch äußere Zutaten, einstellten, mag befremden. Bemühten sich doch damals fortschrittliche Regisseure, selbst bei einem solchen Werk wie Beethovens Fidelio Assoziationen zum Geschehen während der Hitler-Diktatur beim Zuschauer auszulösen. Brecht wollte mit seiner Theaterarbeit beim Zuschauer nicht nur allgemein menschliche oder allgemein fortschrittliche Assoziationen wecken. Ihm ging es um klare weltanschauliche Durchschaubarkeit, um die Aufhellung der gesellschaftlichen Hintergründe. Während nicht wenige marxistische Theaterleute auch in dem allgemein fortschrittlich aufgefaßten Assoziationsbezug eines humanistischen Werkes zur Gegenwart ein wichtiges Moment der Bewußtseinsbildung erblickten, nahm Brecht hierzu eine andere Haltung ein. Wie Brecht vertrat nach 1945 der bedeutende marxistische Theaterkritiker Fritz Erpenbeck die Ansicht, daß jeder äußerlich aufgesetzte Aktualitätsbezug bei einem großen humanistischen Werk nur schade und keineswegs immer die angestrebte aktualitätsbezogene Wirkung auslöse. Aber im Gegensatz zu Brecht vertrat Erpenbeck die Meinung, daß bei einer auf die „gesellschaftliche Wahrheit" orientierten Inszenierung sich ganz von selbst Assoziationen zum Zeitgeschehen einstellten. Und darauf komme es an. Assoziationen, die auf diese Art und Weise gewonnen wurden, konnten natürlich nur sehr allgemein sein, mußten mehr gefühlsmäßige Reaktionen als kontrollierbare Denkvorgänge bleiben. Brecht strebte bei seinen Inszenierungen jedoch nach15
Mittenzwei
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prüfbare V o r g ä n g e und kontrollierbare Bewußtseinsreaktionen an. Deshalb war er bestrebt, nur soviel an gesellschaftlicher A u s s a g e aus einem Stück herauszuholen, wie direkt sichtbar und gedanklich kontrollierbar gemacht werden konnte. A u f unterschwellige Bedeutungsassoziationen ( v o n der A r t : G e fangenenchor in Beethovens Fidelio assoziiert KZ-Situation während des Faschismus; D o n Pizarros Gefängnismethoden — Gestapomethoden) oder gar auf Reaktionen in der unkontrollierbaren Sphäre des Unterbewußtseins legte Brecht keinen Wert. Hier kann nicht untersucht werden, inwieweit ein solcher Standpunkt zu puritanisch, zu eng ist, denn immerhin vollziehen sich Bewußtseinsveränderungen nicht v o n A n f a n g an nur in der Sphäre kontrollierbarer D e n k v o r g ä n g e . D a s heißt jedoch nicht, daß Brecht nicht an aktuellen Schlußfolgerungen aus fernliegenden V o r g ä n g e n interessiert gewesen wäre. Sie sollten aber v o m Zuschauer historisch erfaßt werden, und wenn das bei einem Werk nicht ohne weiteres möglich schien, mußte der W e g für das Publikum durch eine Bearbeitung freigelegt werden. Worauf richtete sich das Interesse Brechts an der Bearbeitung, wenn er es nicht im Widerstandskampf der A n t i g o n e sah? Brechts Anliegen ist weitgespannt und enthält eine zentrale philosophische und historische Problematik. D e r Zuschauer wurde aufgefordert, nicht nach d e m unmittelbaren B e z u g zur G e g e n w a r t zu suchen, sondern ihm wurde „ d a s Maß v o n Fremdheit" abverlangt, „ d a s nötig ist, soll das Sehenswerte dieses Antigone-Stückes, nämlich die Rolle der Gewaltanwendung bei dem Zerfall der Staatsspitze, mit Gewinn gesehen w e r d e n " 3 1 1 . Als thematisches Hauptanliegen die Rolle der G e waltanwendung herauszuarbeiten konnte f ü r den Marxisten Brecht nicht heißen, sich auf den simplen Standpunkt zu stellen, Gewalt schlechthin als verwerflich zu verdammen, nur weil sie im Stück v o n K r e o n destruktiv gebraucht wurde. E s mußte die Dialektik der Gewaltanwendung unter genau einsehbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen gezeigt werden. D a s erforderte v o n Brecht, die Gewalt als gesellschaftliches, nicht als moralisches Problem darzustellen. Deshalb wandte er sich auch gegeneine Interpretation seines Stückes als ein moralisches. „ Al226
les in mir wehrt sich dagegen, wenn ich in Diskussionen die Neufassung der .Antigone' als ein moralisches Stück angesehen finde. Durch die Bestrafung Thebens (und Kreons) kommt es freilich in gefährliche Nähe der braven Maxime .Verbrechen macht sich nicht bezahlt', aber ich hoffe doch, das Stück zeigt nicht mehr (oder weniger), als daß Unternehmungen, die allzuviel Gewalt benötigen, leicht scheitern. Dies hieße nicht mehr, als daß unpraktische Unternehmungen unpraktisch sind, und wäre also recht platt, wenn nicht eine ganz besondere Art der Gewalt, nämlich diejenige, die aus der Unzulänglichkeit stammt, eingesehen werden könnte, also die Zurückführung der Grausamkeit auf die Dummheit. Damit ist das Moralische in Zusammenhang gebracht mit dem Unpraktischen, wodurch es das Absolute, Starre, im Übersinnlichen Thronende verliert." 312 Brecht versuchte in dem Stück die Gewalt aus der Unzulänglichkeit zu erklären. Die kriegerischen Unternehmungen Kreons sind nicht Ausdruck seiner Stärke, seiner Machtfülle, vielmehr sind sie der Versuch, auf diese Weise aus der Mißwirtschaft in Theben herauszukommen. Alles, was er unternimmt, übersteigt die Kräfte. Das Volk wird ungeduldig. Seine brutalen Aktionen vermögen die Masse nicht mehr zu zwingen. „Gewalttätigkeit, anstatt die Kräfte zusammenzuhalten, spaltet sie; das elementar Menschliche, zu sehr gedrückt, explodiert. Und wirft das Ganze auseinander und in die Vernichtung." 313 In diese Differenzierung der Kräfte wird auch Antigone mit hineingerissen. Auch sie wird durch die Ereignisse zur Alternative gezwungen. Nicht ihre politische Position, sondern die Zuspitzung der Ereignisse zwingt sie zur Stellungnahme. Und diese kann für sie nur darin bestehen, daß sie dem Feind hilft. Die Zuspitzung der Situation läßt ihr keinen anderen Ausweg. Brecht sagte von ihr: „ . . . auch sie hatte allzulange vom Brot gegessen, das im Dunkeln gebacken ward." 314 Ihre „moralische Kontribution" wie ihre Sittlichkeit bestehen darin, daß sie „bewegt durch tiefe Menschlichkeit" nicht zögert, ihrem Volk, ihren Landsleuten, in einem Raubkrieg in den Rücken zu fallen. Verbunden mit der Arbeit an der Antigone war für Brecht die „Entdeckung Hölderlins". Er lobte die Sprachkraft dieses 15*
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Dichters. In Hölderlins Sprache fand er schwäbische Tonfülle, ihm vertraute gymnasiale Lateinkonstruktionen, auch „Hegelisches" wieder. Noch nicht in der Heimat, fühlte er sich im Umgang mit dieser Sprache doch schon daheim. „Vermutlich ist es die Rückkehr in den deutschen Sprachbereich, was mich in das Unternehmen treibt." 315 Über die Verwendung des Hölderlin-Textes durch Brecht schrieb Hans Curjel: „Die Texte Hölderlins sind gelegentlich gekürzt, damit der Fluß des dramatischen Geschehens nicht aufgehalten werde: gelegentlich spinnt Brecht Gedanken und Sprache Hölderlins weiter, um das Ganze in das Gegenwärtige zu überführen. Die rhythmische Aufteilung Hölderlins ist beibehalten, ja in ihrer Strenge und Unerbittlichkeit gesteigert: sie stellt das wichtige und lebendige sprachliche Gerüst dar, das die Welt des Geschehens und des Gedankens trägt." 3 1 6 Brechts Hölderlin-Beschäftigung ist nicht denkbar ohne die Anregungen durch Hanns Eisler. Eisler befaßte sich bereits im Exil eingehend mit Hölderlin. Sein Umgang mit den Hölderlin-Texten wären eine besondere Studie wert. Doch dazu ist hier nicht der Ort. Eisler hatte so unrecht nicht, als er meinte, selbst wäre Brecht schwerlich auf Hölderlin gekommen. Nicht nur, daß Hölderlin für Brecht durch die spätbürgerliche Betrachtungsweise nationalistisch entstellt war, er sah auch bei diesem Dichter — ähnlich wie bei Hebbel — zu „viel Gips". Von Eisler rühmte Brecht, daß er Hölderlin „entgipst" habe. An den meist sehr langen Gedichten Hölderlins entwickelte Eisler ein bei Aufführungen von dramatischen Werken zwar durchaus übliches, bei Gedichten jedoch mehr seltsames Verfahren. Er zog den Ideengehalt einiger langer HölderlinGedichte in wenigen Verszeilen zusammen. Bei dieser Gedichtsmontage nahm Eisler gelegentlich auch kleine Umdichtungen oder — weniger kraß ausgedrückt — Wortveränderungen vor. Eisler ging dabei, wie er selbst berichtete, nicht von bestimmten Prinzipien aus. Sein Verfahren wollte er als ein künstlerisches verstanden wissen. Ein Künstler ließ sich durch Kunst anregen, wandte aber seine Phantasie nicht von dem betreffenden Gegenstand ab, sondern konzentrierte sie darauf. Im Ergebnis dieses Verfahrens trat nicht nur der Sinn des Hölderlin-Gedichts deutlich zutage, sondern auch die 228
Seh weise des Betrachters. Sicherlich ist ein solches Verfahren problematisch, weil es im Grunde eine Paraphrase über das Original ist, nicht mehr das Original. Andererseits sind diese Versuche Eislers gerade vom Gesichtspunkt der Erbeaneignung aufschlußreich und beeindruckend. Denn das literarische Werk wird hier nicht nur kritisch angeeignet, Eisler machte auch deutlich, wie eine große Dichtung im Kampf und Alltag eines sozialistischen Menschen weiterwirkt. Anhand der Montage des Hölderlin-Gedichts Der Gang aufs Land durch Hanns Eisler könnte das noch näher nachgewiesen werden. Hier kam es aber mehr auf den Hinweis an, daß sich Brecht die Eislerschen Arbeitserfahrungen im Umgang mit der Hölderlinschen Dichtung bei der ^»/¡go»i-Übertragung zunutze machte. Er kürzte die Verse Hölderlins, was sich auch insofern als notwendig erwies, als die „Überfülle Hölderlins" ein schon von Schiller kritisiertes Hemmnis darstellte. Auf diese Weise wurden Schönheiten nicht entstellt, sondern freigelegt. Der zweite Bearbeitungstypus ist gekennzeichnet durch den stückverändernden Eingriff. Beispiel dafür ist Brechts Bearbeitung der 1774 entstandenen Komödie Der Hofmeister oder Die Vorteile der Privat er%iebung von Jacob Michael Reinhold Lenz. In diesem Falle ging Brecht nicht auf den „ursprünglichen" Ideengehalt der Sturm-und-Drang-Dichtung ein. Lenz' ideologisches Anliegen wurde durch die Ansicht Brechts ersetzt. Diese radikale Bearbeitung stieß trotz ihrer außerordentlichen poetischen Qualität auf Widerspruch. Vor allem die Literaturwissenschaft fand, so könne man mit einem Schriftsteller, der zur Avantgarde der bürgerlichen Intelligenz gehörte, zur damals fortschrittlichen Klasse, nicht umgehen. Denn was Brecht in diesem Stück preisgab, war eine Kampfposition des progressiven Bürgertums gegen die Feudalverhältnisse in Deutschland. Wo blieb hier der historische Sinn, den Brecht von jeder Stückbearbeitung forderte? Ist die HofmeisterBearbeitung ein Rückfall hinter die Erbeauffassung, die sich Brecht in der Emigration erarbeitete? Wurde hier nicht gleichfalls wieder ein Stück einfach gegen den Strich gebürstet? Fragen dieser Art müssen zugelassen werden, auch wenn es sich um eine Bearbeitung von so hohem poetischem Reiz han229
delt, daß man vielleicht geneigt ist zu antworten, man möge doch froh sein, daß man auf diese Weise zu einem spielbaren Stück mit großen Schönheiten gekommen sei. Hier geht es aber nicht darum, ob der Preis für diese Bearbeitung.zu hoch war. Eine solche Fragestellung ist schon deshalb unsinnig, weil das Original durch die Bearbeitung nicht ausgelöscht wurde; es geht vielmehr um Brechts Verhältnis zu einem fortschrittlichen Stück der deutschen Dramatik. Und es geht ferner um Probleme der praktischen Aneignung durch das Theater in einer ganz bestimmten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Hofmeister zählt zu den gesellschaftskritischsten Werken der deutschen bürgerlichen Literatur. Der Geist der Auflehnung gegen die feudale Gesellschaft ist in allen Szenen zu spüren. „Mit der Drohung des Schulmeisters Wenzeslaus, er werde .handfeste Bauernkerls' zusammenrufen, um gegen die Adligen sein bürgerliches Hausrecht zu verteidigen (11,2), bekommt Lenz auch eine Form aktiver künstlerischer Kritik der Feudalverhältnisse ins dramatische Spiel hinein." 317 Kennzeichnend für die Position Lenz' ist aber auch, daß eben dieser rebellische Geist vermischt ist mit verschiedenen inkonsequenten Reformvorstellungen. Lenz versuchte, gesellschaftliche Forderungen, die sich aus den materiellen Interessen der sich entwickelnden bürgerlichen Klasse ergaben, auch mit Hilfe der progressiv denkenden Kreise des Adels zu verwirklichen. Im Hofmeister machte er einen Adligen zum Sprecher seiner Reformvorstellungen. So ist die eigentlich positive Figur des Stückes nicht der bürgerliche Läuffer, sondern der Geheime Rat Herr von Berg, der für die öffentliche Erziehung eintritt und seine Haltung auch praktisch vorlebt. Er wirft den bürgerlichen Intellektuellen ihre Inkonsequenz vor; er kritisiert sie, weil sie nicht entsprechend ihren eigenen Grundsätzen leben und so die Vorrechte des Menschen verraten, auf die sie schwören. Zum Vater des Hofmeisters, dem Pastor Läuffer, gewandt, erklärt der Geheime Rat: „Mögen die Elenden, die ihre Ideen nicht zu höherer Glückseligkeit zu erheben wissen, als zu essen und zu trinken, mögen die sich im Käfig zu Tode füttern lassen, aber ein Gelehrter, ein Mensch, der den Adel seiner Seele fühlt, der den Tod nicht so scheuen sollt' als eine 230
Handlung, die wider seine Grundsätze l ä u f t . . . Ihr beklagt euch so viel übern Adel und über seinen Stolz, die Leute sähn Hofmeister wie Domestiken an, Narren! Was sind sie denn anders? Stehn sie nicht in Lohn und Brod bei ihnen wie jene? Aber wer heißt euch ihren Stolz nähren? Wer heißt euch Domestiken werden, wenn ihr was gelernt habt, und einem starrköpfischen Edelmann zinsbar werden, der sein Tage von seinen Hausgenossen nichts anders gewohnt war als sklavische Unterwürfigkeit?" Darauf erwidert der Pastor Läuffer: „Das ist sehr allgemein gesprochen, Herr Rat!" 318 Dieser beiläufige Satz markiert im Grunde die weltanschauliche Scheidelinie des Stückes. Denn von hier aus hätte die Figur des Geheimen Rates abgebaut werden müssen. Wie allgemein die Reden des Geheimen Rates nämlich sind, ergibt sich daraus, daß dem bürgerlichen Intellektuellen alle gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlten, um nach diesen Grundsätzen zu leben. Das wird zwar von Lenz am Schicksal des Läuffer mit großer dichterischer Symbolkraft demonstriert, aber die Handlung ist nicht so geführt, daß dadurch die Figur des Geheimen Rates widerlegt und abgebaut würde. Sie bleibt die positive Figur bis zu Ende, durch die Lenz seinen fortschrittlichen Ideen Ausdruck gab. Die Placierung und der Aufbau dieser Figur ist kein bloßes ästhetisch-dramaturgisches Problem. Hier enthüllt sich in sehr aufschlußreicher Weise die Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz der Fortschrittsposition von Lenz. Er erstrebte eine Veränderung der Gesellschaft durch den Appell an die herrschenden Kräfte der Zeit. Einen anderen Weg zur Umgestaltung der Gesellschaft kannte er im Grunde noch nicht. Die fortschrittlichen bürgerlichen Erziehungs- und Bildungsideale hielt er für stark genug, um dafür auch den Adel zu gewinnen. Denn wer, wie es bei Lenz heißt, „den Adel seiner Seele fühlt", wird sich auch für eine andere Lebensweise bereit finden. Die objektive Dialektik der Kämpfe hatte sich noch nicht so deutlich herausgebildet, daß für die Vertreter des gesellschaftlichen Fortschritts ablesbar war, mit welcher Klasse und auf welchen Wegen die neuen Ideen durchgefochten werden mußten. Deshalb hatten die Reformvorstellungen von Lenz bei aller Inkonsequenz nichts „Reformistisches" im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs. Wenn Paul Rilla, der die Brechtsche Hof231
•w/j-tar-Bearbeitung sehr verständnisvoll einschätzte, von Lenz' „gesellschaftlicher Spezialkur" als einer „Schmierkur" schrieb,319 übersah er die spezifischen gesellschaftlichen Probleme der deutschen Sitaution vor der Französischen Revolution. Brecht ließ sich auf die Widersprüchlichkeit und die Schwierigkeiten in der Darstellung der fortschrittlichen Position von Lenz überhaupt nicht ein. Sein Interesse richtete sich auf die Kritik an jenen miserablen deutschen Zuständen und auf eine Gesellschaftsordnung, die einen jungen Menschen zwang, „sich für ein Geschlechtsleben oder ein Berufsleben zu entscheiden".320 Was er zu zeigen beabsichtigte, war nicht eine historisch-fortschrittliche Bewegung, sondern eine kritikfordernde verfehlte Entwicklung — jene „deutsche Misere". Die Hofmeister-Fabel diente ihm nicht dazu, das Fortschrittliche in den bürgerlichen Reformbestrebungen des 18. Jahrhunderts zu zeigen, sondern die brutale Deformation des Menschen durch das Feudalsystem. Wenn es auch keinen Zweifel darüber gibt, daß Lenz mit seinen Reformgedanken die fortschrittlichen Ideen seiner Zeit vertrat, so muß dennoch untersucht werden, inwieweit das Theater imstande ist, das Fortschrittliche dieser Reformbestrebungen zum Ausdruck zu bringen. Zu prüfen wäre: Reicht die progressive, revolutionäre Haltung, die Lenz zu seiner Zeit einnahm, aus, um dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, wie er sich zu Beginn der fünfziger Jahre in der Deutschen Demokratischen Republik herausbildete? Konnte die Reformkonzeption Lenz' nicht reformistisch mißverstanden werden? Es gehört nämlich ein beträchtlicher historischer Sinn dazu, um die Widersprüche und die spezifische Eigenart von Lenz' Gesellschaftskonzeption nicht nur zu verstehen, sondern sie zugleich zum Gegenstand des ästhetischen Genusses zu machen. Aus heutiger Sicht erscheint das Reformprogramm des Sturm-und-Drang-Dichters eher dürftig als besonders revolutionär. Seine auf gesellschaftliche Veränderungen zielende Position konnte in ihrer Widersprüchlichkeit nur aus der genauen Kenntnis der historischen Situation deutlich gemacht werden. Die Reformbestrebungen Lenz' waren von ihrer ganzen Eigenart her nicht sonderlich geeignet, als Impuls für die großen Reformen und 232
gesellschaftlichen Umwälzungen in den fünfziger Jahren zu dienen. Brecht entschloß sich deshalb zu einigen weitgreifenden Veränderungen. Sie erstreckten sich vor allem auf die Figur des Läuffer, des Geheimen Rats und auf die des Schulmeisters Wenzeslaus. Über die Titelfigur des Stückes schrieb Brecht: „Der Hofmeister erntet unser Mitgefühl, da er sehr unterdrückt wird, und unsere Verachtung, da er sich so sehr unterdrücken läßt." 3 2 1 Lenz zeigte seinem Publikum eine Tragödie, obwohl er sein Stück eine Komödie nannte. Brecht dagegen legte sein Stück satirisch an. Läuffer wurde zur Symbolfigur der „deutschen Misere". Im Prolog trug Läuffer vor: „Der Adel hat mich gut trainiert Zurechtgestutzt und exerziert Daß ich nur lehre, was angenehm Da wird sich ändern nichts in dem. Wills euch verraten, was ich lehre: Das ABC der Teutschen M i s e r e ! " 3 2 2 Die Umkehr der Figur durch die Darstellung des Knechtsinns statt der Rebellion löschten die tragischen Züge nicht aus. Denn auch Brecht zeigte, daß zumindest Auflehnung versucht wurde und welcher Preis dafür gezahlt werden mußte. Obwohl Läuffer im Dienen und Gehorchen trainiert ist, nimmt er sein Schicksal nicht von Anfang an als gegeben hin. Hierin unterscheidet er sich vom Schulmeister Wenzeslaus. Während aber Lenz seine Figur so führte, daß aus den Szenen, wenn auch nicht immer der Geist des Aufruhrs, so doch stets die beleidigte Menschenwürde sprach, machte Brecht die Läuffer-Gestalt zur Verkörperung der Knechtseligkeit. Vorgeführt wurde nicht so sehr eine Figur, die in den gesellschaftlichen Kämpfen unterliegt und zugrunde gerichtet wird, sondern eine, die beim Suchen nach einem Ausweg das Messer gegen sich selbst wendet, die den Ausweg darin sieht, ihre eigene Potenz auszuschalten. Vor dem Publikum agiert ein Mensch, dem das Rückgrat schon gebrochen wurde, bevor er seine Bewährungssituation hatte. 233
Da Brecht die Reformvorstellungen Lenz' als fortschrittliche Ideen der damaligen Zeit gar nicht aufgriff, mußte er auch die Figur des Geheimen Rats radikal verändern. Sie verlor bei ihm alle positiven Züge. Brecht nahm das Stichwort des Pastors Läuffer auf: „Das ist sehr allgemein gesprochen, Herr Rat!" und behandelte die Reden des Geheimen Rates als hohles Geschwätz. Was bei Lenz aus dem Munde des Geheimen Rates noch mit gesellschaftlichem Anspruch vorgetragen wurde, diente Brecht zur Enthüllung einer Lebensweise, für die der anderen Klasse alle Voraussetzungen fehlten. Machte Lenz den Geheimen Rat zum Sprecher bürgerlicher Interessen, so diente diese Gestalt Brecht dazu, die Fehlentwicklung und Wirkungslosigkeit bürgerlicher Reformgedanken zu zeigen. Den bürgerlichen Fortschrittsgedanken aus dem Munde des Adligen enthüllte Brecht als Phraseologie. Auch die Figur des Schulmeisters Wenzeslaus verlor bei Brecht alle ihre positiven Züge. Zwar brauchte der Schulmeister nicht wie der Hofmeister zu „essen, wenn er satt ist, und fasten, wenn er hungrig ist, Punsch trinken, wenn er p-ss-n möchte, und Karten spielen, wenn er das Laufen hat". 3 2 3 Er kann sich sogar leisten, den adligen Eindringling aus seinem Haus zu weisen. Jedoch sind diese kärglichen Freiheiten mit dem Verzicht auf jede weitere Ausbildung seiner menschlichen Kräfte bezahlt. Wenzeslaus fügt sich ganz von selbst in die Enge. Brechts Bearbeitung demonstriert, wie diese Selbstbescheidung den Geist zur Borniertheit degradiert; wie diese Enge den Charakter nicht weniger als die Unterwürfigkeit vor dem Adel deformiert. Wie gegensätzlich diese Figur bei Lenz und bei Brecht gesehen ist, zeigt ein Vergleich jener Stelle, an der Wenzeslaus seine Aufgabe als Erzieher erklärt. Bei Lenz heißt es: „Ich soll meinen Buben lesen und schreiben lehren; ich lehre sie rechnen dazu und Lateinisch dazu und mit Vernunft lesen dazu und gute Sachen schreiben dazu." 3 2 4 Bei Brecht: „Ich bilde Menschen nach meinem Ebenbilde. Teutsche Hermanne! Gesunde Geister in gesundem Körper, nicht so welsche Affen. E r mag wohl sagen: Halb Geistesriesen, halb gute Untertanen. Was ist das? Untertänige Riesen oder riesige Untertanen? Immer sternenwärts, aber: dreimal wehe, wenn er gegen den Stachel lökt!" 3 2 5 Brecht 234
kehrte die Selbstbescheidung nicht nur ins Kritische, er rückte sie außerdem noch in eine scharf satirische Beleuchtung. In die satirische Betrachtungsweise zog Brecht auch einige Grundzüge der Kantschen Philosophie ein. Obwohl die KantPassagen im Hofmeister nicht allzu umfangreich sind, bilden sie einen aufschlußreichen Kristallisationspunkt in Brechts Erbeauffassung. Im Gegensatz zu seinem tiefen Hegel-Verständnis vermochte er mit Kants Philosophie nicht viel anzufangen. Während der Arbeit am Hofmeister gab es zwischen Hanns Eisler und Brecht einen Disput über die Kant-Passage, die Eisler nicht für richtig hielt. Später äußerte sich Eisler folgendermaßen dazu: „Wir hatten ein großes Streitgespräch anläßlich der Aufführung des ,Hofmeister'. Die Definition Kants der Ehe ist bekanntlich: Ein Vertrag, geschlossen zum gegenseitigen Gebrauch der Geschlechts Werkzeuge. Also der Brecht fand das ungeheuer lustig und sah auch die ganze Misere des deutschen Schulmeisters darin. Ich aber nicht. Ich sah darin einen enormen Fortschritt, nämlich daß aus einem von der Kirche geheiligten Verhältnis ein Rechtsverhältnis wird, das so trocken und nüchtern beschrieben ist. ,So' — sagte ich dem Brecht, wo er sich über den Satz lustig machte, sehr lustig — ,so ist die junge revolutionäre Bourgeoisie bei uns leider nur in den Köpfen (während die Bourgeoisie in Frankreich die Köpfe der Adligen bekanntlich abgeschnitten hat). Bei uns ist's ja nur als Idee erhältlich.' . . . Ich hab' mit diesem Einwand gegen die Stelle in seiner .Hofmeister'-Bearbeitung nicht gesiegt." 326 Im Stück studiert der Student Pätus die Philosophie Kants und fällt dafür bei seinem Professor Wolff regelmäßig durchs Examen. Brecht nahm hier den Kampf Kants gegen die Wölfische Schulmetaphysik zum Anlaß, um die Folgen des Gelehrtenstreits für die Schüler zu zeigen. Die Stoßrichtung der Kant-Passagen zielte jedoch darauf, daß bestimmte Grundsätze der Kantschen Philosophie, insbesondere der Kategorische Imperativ, markanter Ausdruck für die Praxisfremdheit der deutschen Bourgeoisie war. Für die jungen bürgerlichen Intellektuellen spielten sich alle Vorgänge nur im Geiste ab. Das wurde von Brecht satirisch auf die Spitze getrieben, als sich im Stück Pätus verpflichtet fühlt, die Abtreibungskosten für sein „Kind im Geiste" zu zahlen. Diesen 235
Vorgang wiederholte Brecht noch einmal, als am Schluß des Stückes der junge von Berg Gustchens Kind aus der Liaison mit dem Hofmeister als sein „Kind im Geiste" anerkennt. Brecht schrieb hierzu: „Zu zeigen wäre hier, in einer leichten und komischen Art, die eigentümliche Form der Selbstentmannung der deutschen Intellektuellen bürgerlicher Kreise, welche nicht nur die Revolution anderer Völker, sondern auch ihr eigenes Privatleben nur ,im Geiste erleben'." 327 Brecht kritisierte hier die Kantsche Ethik als Ausdruck des Zurückgescheuchtseins auf die reine Innerlichkeit. Diese Seite der Kantschen Philosophie wurde schon von Hegel, aber vor allem von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie bekämpft. Marx und Engels sahen in Kant den „beschönigenden Wortführer" der deutschen Bourgeoisie, weil er die theoretischen Vorstellungen von den materiellen Interessen des Bürgertums trennte. Kant „machte die materiell motivierten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeoisie zu r e i n e n Selbstbestimmungen des .freien W i l l e n s ' " . 3 2 8 Auf diese Weise räumte er den Theoretikern eine „scheinbare Unabhängigkeit" gegenüber den Bürgern und dem praktischen Leben ein. Die progressive Seite der Kantschen Philosophie blieb von Brecht dennoch nicht unbeachtet. Er brachte sie dadurch zum Ausdruck, daß er Pätus als — wenn auch nicht sehr standhaften — Verteidiger von Kants Schrift Zum ewigen Frieden darstellte. Dagegen ignorierte er alle positiven Aspekte der Kantschen Ethik. Sie spielten bei ihm auch deshalb keine Rolle, weil sich Brecht bei seiner satirischen Polemik gegen den Kategorischen Imperativ nur auf die erste, nicht aber auf die zweite Fassung stützte, in der Kant von einem moralisch denkenden Menschen forderte, so zu handeln, daß er die Menschenwürde sowohl in seiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauche. Damit rückte auch die Kantsche Formulierung über die Ehe, die Brecht in seinem Stück ironisierte, in ein anderes Licht. Wenn nämlich, so meinte Kant, einer der Partner in dem anderen nicht Zweck, sondern nur Mittel sieht, so ist das verwerflich. In dieser Formulierung des Kategorischen Imperativs wird die sozialkritische Tendenz deutlich, die bei Kant in der Forderung nach einer menschlichen Gesellschaft gipfelte, in der 236
man nicht mehr Vorteile genießt, um deren andere um so mehr entbehren müssen. Es wäre jedoch unsinnig, Brecht zum Vorwurf zu machen, daß seine Kant-Passagen diese Differenziertheit vermissen lassen. Ein Theaterstück ist kein Philosophie-Seminar, und eine Satire kann schon von der ästhetischen Gesetzmäßigkeit her nicht noch die positive Seite mitliefern und vielfältige Differenzierungen einbringen. Aufschlußreich sind die Kant-Passagen — wie überhaupt die Szenen in Halle — insofern, als sie eine Vorstellung vermitteln, wie Brecht sein Stück über Konfu-tse/Goethe geschrieben hätte. Im Stück selbst gibt es viele Bezugspunkte zur Weimarer Klassik. Unverkennbar ist der ironisch-satirische Grundgestus jener Szene, in der Fritz von Berg sein ItalienErlebnis schildert. Brecht gab dem Kommentar zu dieser Szene den Titel: Ende einer italienischen Reise. Der satirische Zuschnitt der gesamten Bearbeitung ergab sich aus der Stoßrichtung auf die „deutsche Misere". Brecht lag daran, die deutsche „Fehlentwicklung" zu attackieren, um den „bitteren Zorn" seiner Zuschauer auf menschenwürdige Zustände zu lenken. In diesem thematischen Anliegen steckt bereits ein großer Teil der gesamten Problematik, die mit der Bearbeitung aufgeworfen wurde. Nach 1945 gab es um das Problem der „deutschen Misere" viele Diskussionen. Da es dem deutschen Volk nicht gelungen war, den Faschismus aus eigener Kraft zu überwinden, verstärkte sich bei vielen fortschrittlichen Intellektuellen die Ansicht, daß ein wesentlicher Grund dafür auch in der verhängnisvollen deutschen Entwicklung seit Ausgang des Bauernkrieges zu suchen sei. Brechts Stück entstand in der Zeit, als sich die Partei der Arbeiterklasse gegen eine solche Auffassung wandte, weil damit revolutionäre Potenzen des deutschen Volkes ignoriert wurden. Die Partei verband damit die Forderung, sich stärker auf die revolutionären Traditionen des deutschen Volkes zu besinnen. Die Polemik gegen die Überbewertung der negativen Entwicklung in der Geschichte des deutschen Volkes begann schon Anfang der fünfziger Jahre. Sie entzündete sich vor allem an dem Buch von Alfred Kämpf Die Revolte der Instinkte329, in dem die klassische deutsche Literatur und Philosophie als theoretischer Ausgangspunkt einer negativen 237
Entwicklung dargestellt wurde. Kämpf sah in ihr die „systematische Begründung der Reaktion". Obwohl die MisereTheorie in Alfred Kämpfs Buch sicherlich ihren extremsten Ausdruck und in dieser Form mehr Kritik als Unterstützung fand, waren bestimmte Grundtendenzen dieser Theorie bis in die fünfziger Jahre hinein stark verbreitet. Brecht hat die „deutsche Misere" als mehr oder weniger geschlossene Theorie nie akzeptiert. Kurze Zeit nach der Hofmeister-Bearbeitung schrieb Brecht: „Wir müssen unbedingt ausgehen von der Wahrheit des Satzes: ,Eine Konzeption, der die deutsche Geschichte nichts als Misere ist und in der das Volk als schöpferische Potenz fehlt, ist nicht wahr!'" 3 3 0 Aber es gab bei Brecht einige Überlegungen, wie seine Auffassung vom Tuiismus, der kläglichen Rolle der deutschen Intellektuellen im gesellschaftlichen Prozeß, die von der Misere-Theorie mit beeinflußt waren. Als Brecht am Hofmeister arbeitete, setzte die Diskussion um die Frage ein, inwieweit es berechtigt sei, von einer Misere in der deutschen Entwicklung zu sprechen. Die Hofmeister-Bearbeitung, ursprünglich als Beitrag und Unterstützung zur Schul- und Bildungsreform im Osten Deutschlands gedacht, vermochte auf die neu aufgeworfenen Fragen um die Misere-Theorie keine sehr differenzierte Antwort zu geben. Das ließ schon die betont satirische Anlage des Stückes nicht zu. In einer solchen Situation mußte aber eine Bearbeitung, die auf das revolutionäre Anliegen des Originals bewußt verzichtete, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Es konnte gar nicht ausbleiben, daß gefragt wurde, ob hier nicht eine Entstellung der fortschrittlichen Dichtung vorliege. Im Urteil über die Hof meist er-Beaibeltung lassen sich im wesentlichen drei Standpunkte ausmachen. Der pragmatische lautete, daß man doch froh sein solle, nunmehr über ein spielbares Stück von hohem poetischem und theatralischem Reiz zu verfügen, zumal das alte Stück weder in der Originalfassung noch in den bereits vorliegenden Bearbeitungen spielbar war. Ein weiterer Standpunkt, wie ihn zum Beispiel Paul Rilla vertrat, bestand darin, daß Brecht ein nicht mehr sehr deutliches und allgemein verständliches revolutionäres Anliegen des 19. Jahrhunderts durch das der Gegenwart ersetzt habe. Auf diese Weise sei Lenz „zurückgegeben, was er besitzt". 331 238
Eine nicht geringe Anzahl von kritischen Stimmen sah aber in der Bearbeitung mehr oder weniger die Verleugnung eines fortschrittlichen Autors. Der „ursprüngliche Ideengehalt" bliebe von Brecht unberücksichtigt. Er hätte die Bearbeitung mit „viel Kunst" vorgenommen, aber hätte er sich dabei auch von dem „historischen Sinn" leiten lassen, den er von jeder Bearbeitung alter Stücke forderte? Die Frage läßt sich uneingeschränkt nur dann bejahen, wenn man im Hofmeister nicht eine Bearbeitung im üblichen Sinne sieht. Denn das ist sie nicht. Der Hofmeister ist mehr ein neues Stück als eine Bearbeitung. Diese Arbeit muß zu den Versuchen gezählt werden, die Brecht zwar als Theaterpraktiker aufgriff, aber doch als Dichter ablieferte. Wie in der Maß-fiir-MaßBearbeitung ist auch im Hofmeister durch die Bearbeitung ein Umschlag erfolgt: Ein neues Stück entstand. Während aber im Gestaltungsprozeß von Die Kundköpfe und die Spit^köpfe das Original gänzlich verschwand, besteht der Reiz des HofmeisterStückes darin, daß die Konturen des alten Werkes erhalten blieben. Es ist wie bei einem Gemälde, bei dem der frühe Entwurf noch immer hindurchschimmert und auf diese Weise mit der neuen Gestaltung korrespondiert. Brecht liebte diese Art von Kompositionen, in denen sich, wie auch im Me-ti, die neuen Intentionen und Gestalten im Hintergrund der alten spiegelten. Der kritische Akt der Erbeaneignung erfuhr in dieser doppelten Spiegelung eine besondere Hervorhebung. Der dritte Bearbeitungstypus schließlich ist dadurch gekennzeichnet, daß bei geringfügiger Änderung eine Verlagerung und Neubestimmung der ideellen Stoßrichtung erfolgt. Beispiele dafür sind die Bearbeitung von Shakespeares Coriolan, Molieres Don Juan und Gerhart Hauptmanns Biberpelz und Koter Hahn. In der bürgerlichen Literatur- und Theaterwissenschaft galt Shakespeares Coriolan als die Tragödie des Stolzes. Eine solche Auffassung der Fabelaussage erklärt sich aus der bürgerlichen Ästhetik und Dramaturgie, die sich auf den Charakter orientierte. Brecht las die Fabel des großen Briten als einen gesellschaftlichen Vorgang: Coriolan sucht die Gesellschaft mit seiner Unentbehrlichkeit zu erpressen. Diese Lesart ist ein Resultat der Dialektik von Historizität und Aktualität. Indem 239
sich Brecht bewußt machte, wie und mit welchen Mitteln die Klassenkämpfe in diesem Stück ausgetragen wurden, entdeckte er den in der Shakespeare-Fabel selbst liegenden Bezug zur Gegenwart. Im Gegensatz zur „ewig-menschlichen", charaktertypologischen Interpretationsweise des bürgerlichen Theaters erschloß die historische Sicht auf das alte Werk eine direkte Parallele zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kämpfen, so daß Brecht mit erstaunlich wenig Änderungen auskam. Brecht sah in Coriolan den Spezialisten, den Spezialisten des Krieges, den Rom brauchte. Seine Qualitäten waren nicht vorgespiegelt. Sie waren real, und die Verschärfung des Konflikts bestand gerade darin, daß Rom auf diese Qualitäten des Coriolan nicht leichtfertig verzichten konnte. Beide, Rom und Coriolan, wußten um den Preis. Coriolan ging aufs Ganze und verlor. Bei Brecht! In den Jahren des demokratischen Neuaufbaus und noch stärker beim Aufbau des Sozialismus gab es nicht wenige Spezialisten, die ihre Unentbehrlichkeit gegen die Gesellschaft auszuspielen suchten. Diese Spezialisten wußten, wie dringend sie gebraucht wurden, und benutzten ihre Unentbehrlichkeit, um die Gesellschaft mit Forderungen verschiedener Art zu erpressen. Sie reichten von persönlichen Privilegien bis zum Verlangen nach politischen Konzessionen. Die zeitgenössische Konfliktsituation schien auch insofern mit der des Shakespeare-Stückes vergleichbar, da die von der revolutionären Arbeiterklasse geführte Gesellschaft zwar den Standpunkt der Unersetzlichkeit gegenüber jedermann ablehnte, aber zu jenem Zeitpunkt dennoch nicht unverwundbar gegenüber solchen Erpressungsversuchen war. Verwundbar war die Arbeiterklasse in dieser Situation deshalb, weil sie unter ungewöhnlich schwierigen Verhältnissen den Aufbau einer neuen Gesellschaft vornehmen mußte, zu dieser Zeit jedoch noch nicht über eine breite Spezialistenschicht aus ihren eigenen Reihen verfügte. So ging die Arbeiterklasse zwar von dem Grundsatz aus, daß niemand unersetzlich ist, mußte aber dennoch die Erpressungsversuche bürgerlicher Spezialisten fürchten. Was als Grundsatz außer Zweifel stand, war als konkreter Einzelfall oft schwer lösbar. Die Erpressungsversuche wurden in einer solchen Situation zur gesellschaftlichen Macht240
probe. Die Erpressung durch Unersetzlichkeit war ein Vorgang, der seine Geschichte hatte. Mit ihm mußten sich die Klassen in den verschiedenen Gesellschaftsformationen und historischen Epochen auseinandersetzen. Das Problem war lösbar, sobald eine Klasse ihre Kräfte mobilisierte und gemeinschaftlich gegen die Erpresser vorging. Der Aufbau des Sozialismus bewies, daß durch das gemeinschaftliche Handeln der Anspruch der Spezialisten auf ihre Unersetzbarkeit zusammenfiel. In Hinsicht auf den Coriolan vermerkte Brecht: „Die scheinbare Unersetzlichkeit des Individuums ist ein Riesenthema noch auf lange Zeit, von der Antike bis zu uns führend. Die Lösung muß positiv für die Gesellschaft sein, denn sie hat es nicht nötig, sich von einem Individuum erpressen zu lassen. Das Problem ist prinzipiell lösbar, die Gesellschaft kann sich wehren. Im .Coriolan': Der Ausweg für die Plebs ist die Selbstverteidigung." 332 Durch diesen dialektischen Bezug von Historizität und Aktualität ergab sich nicht nur eine Verlagerung in der Fabelführung, eine Präzisierung der Fabelaussage; auch die Figur des Coriolan bekam einen anderen Stellenwert. Aus Shakespeares Tragödie des Coriolan wurde, wie Jürgen Kuczynski schrieb, „Brechts Tragödie gegen den Coriolan".333 Die Verlagerung in der Fabelführung lief jedoch nicht darauf hinaus, die Tragödie des Stolzes einfach durch die Tragödie des Glaubens an die Unentbehrlichkeit auszuwechseln. „Es ist nicht nötig", betonte Brecht, „und bei dem Genie des Shakespeare nicht möglich — die .Tragödie des Stolzes' außer acht zu lassen oder auch nur abzustumpfen." 334 Brecht warnte davor, die Vorzüge des Materials, die Reichhaltigkeit der Figurenzeichnung und der Motivierung, kurzum die Stärken Shakespeares, abzuschwächen. Das würde bedeuten, Shakespeare gegen sich zu mobilisieren. Selbst die Maßlosigkeit des Coriolan mußte als großartige Haltung vorgeführt werden. Wie in der yl»/*go»«-Bearbeitung zeigte Brecht auch hier viel Feingefühl. Die Eigenart Shakespearescher Gestaltung blieb bewahrt. Selbst bei Kürzungen achtete er darauf, daß die spezifische Formung des Stoffes durch den großen Briten keineBeschädigung erfuhr. Brecht nahm die Bearbeitung in den Jahren 1951/52 vor, kurze Zeit nach der Arbeit am Hofmeister. So vorsichtig er 16
Mittenzwei
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auch in das Stück eingriff und jede größere Veränderung vermied, in einem Punkt drehte er die Tendenz seiner Vorlage entschieden um. Plutarch wie Shakespeare stellten nämlich dar, wie die römische Plebs den Senat erpreßte, als die benachbarten Volsker auf Rom marschierten. Für ihre Kriegsdienste, die nunmehr gebraucht wurden, forderte die Plebs Volkstribunen. Bei Brecht erpreßt nicht die Plebs den Senat, sondern der Spezialist Coriolan die Gesellschaft. Die Umkehr der Tendenz ergab sich einfach aus der Haltung der Autoren zum Volk. Plutarch wie Shakespeare waren in ihrer Gestaltung parteiisch. Nicht ohne Verständnis für den Kampf der gesellschaftlichen Kräfte, vertraten sie dennoch die Interessen der herrschenden Klasse. In seiner vergleichenden Studie schrieb Jürgen Kuczynski über die literarischen Vorlagen: „So ist die Erzählung des Plutarch nicht die Saga einer Tragödie, sondern die einfache moralische Fabel vom Mann, der seinen Stolz und Hochmut nicht bezwingen konnte und dem persönlicher Mut im Krieg sowie Liebe zur Mutter nur Unglück brachten, weil er ein asoziales, ,anationales' Wesen war, das gegen alle, gegen seine Klasse gegen das Vaterland, Recht behalten wollte und so zugrunde gehen mußte. Im Gegensatz zu Plutarchs Auffassung ist für Shakespeare — entsprechend der gesellschaftlichen Wirklichkeit — Coriolan ein konsequenter Vertreter der Klasseninteressen des Patriziats. Im Gegensatz zu Plutarch hat Shakespeare jedoch kein Verständnis für die Rolle des Volkes in der Geschichte, und so machte er — entgegen der gesellschaftlichen Wirklichkeit — aus Coriolan eine tragische Heldengestalt." 335 Welche Veränderungen nahm Brecht gegenüber dem Shakespeare-Stück vor? Der weitestgehende Eingriff bezog sich auf die Gestaltung des Volkes. Er ist auch insofern wichtig, weil Brecht hierbei etwas Neues ausprobieren wollte. Es ging ihm darum, auf dem Theater einmal Volksmassen nicht nur durch einige profilierte und individualisierte Sprecher darzustellen, sondern Volksmassen auch quantitativ, eben durch Massen ins Bild zu rücken, soweit das auf dem Theater überhaupt möglich ist. Dabei galt es auszuprobieren, wie Massen auf bestimmte Vorgänge der Herrschenden reagieren, wodurch sie sich mit242
reißen lassen und wodurch nicht. Was sich als historisches Ereignis spontan vollzog, mußte auf der Bühne in Denkprozesse der Massen umgesetzt werden. Die Studien, die Brecht zu diesem Problem mit seinen Schülern trieb, sind dabei sehr aufschlußreich. Kennzeichnend für seine Auffassung über die Rolle der Massen in revolutionären Situationen ist, daß er darzustellen suchte, wie schwer sich die ausgebeuteten Klassen zum Aufstand entschließen. „ E s ist ein Abenteuer für sie, es müssen neue Wege gebahnt und beschritten werden, und immer herrschen doch mit den Herrschenden auch deren Gedanken. Der Aufstand ist für die Massen eher das Unnatürliche, und so schlimm die Lage auch sein mag, aus der nur der Aufstand sie befreien kann, ist der Gedanke an ihn ebenso anstrengend wie für die Wissenschaftler eine neue Anschauung über das Universum. Unter diesen Umständen sind es oft die Klügeren, die gegen die Einheit sind, und nur die Klügsten sind wieder für sie." 3 3 6 Wenn Manfred Wekwerth, der die Brechtsche Bearbeitung weiterführte und sie auf dem Theater großartig' verwirklichte, schrieb, Brecht habe eine Idealisierung des Volkes vorgenommen, um der Shakespeareschen Idealisierung des Adels entgegenzuwirken, kann man ihm nicht zustimmen. 3 3 7 Brecht unterließ alles, was die römische Plebs einfach in eine revolutionäre Truppe umfunktionierte. Bisher hatte die Massen nur ihr Elend geeint. D a s jedoch erwies sich für eine revolutionäre Situation als zu wenig. Daraus ergaben sich Unentschlossenheit, zeitweise Beeinflussung durch die Herrschenden usw. Was Brecht hier auf dem wenig betretenen Terrain der Gestaltung von Massen auf dem Theater geleistet hat, ist ganz außerordentlich, obwohl diese Arbeit unvollendet blieb. Die Probleme der Darstellung von Massen bezog Brecht auch auf die Schlachtenszenen, die von ihm zur Bearbeitung für einen späteren Zeitpunkt ausgespart und deshalb unübertragen blieben. Größere Veränderungen nahm Brecht noch an der Gestalt der Volumnia, der Mutter des Coriolan, vor. V o r allem zu ihrer großen Bittrede an den Coriolan fügte Brecht einige neue Argumente hinzu. In Brechts Stück weiß diese Patrizierin um die Veränderungen, die im Volk vor sich gegangen sind, seit Coriolan R o m verließ. Bei aller Volks Verachtung hat sie jedoch 16*
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eine vage Ahnung von der Kraft, die in den Volksmassen verborgen ist. Der Haß auf das sich selbst verteidigende Volk macht sie eher klug als blind. Jürgen Kuczynski charakterisierte diese Gestalt in der Brechtschen Übertragung folgendermaßen: „Großartig! diese Patrizierin Roms, von echtester ,adliger Gesinnung'. Feindin des Volkes bis zum letzten Wort, klassenbewußt in jeder Faser! Und doch muß sie bekennen: Unersetzlich bist du nicht mehr! Du größter Kriegsspezialist Roms — das Volk selbst ist ans Werk gegangen und ist Meister seiner Geschichte geworden . . . Wir aber, der Glanz und Adel Roms, werden entweder von unseren Kollegen in der herrschenden Klasse der Volsker, die doch die Feinde des Vaterlandes sind, vor dem eigenen Pöbel gerettet — oder wir müssen unsere Rettung vor den Volkskern, den Feinden des Vaterlandes, unseren Klassenfeinden im Innern, dem Pöbel danken." 338 Stark verändert wurde auch der Schluß des Stückes. Die Bitte der Volumnia, daß den Hinterbliebenen des Coriolan erlaubt werden möge, für zehn Monde ^Trauerkleidung zu tragen, beantwortet der Senat mit einem Wort: „Abgeschlagen." In einer Anmerkung zum Text heißt es: „Der Senat setzt seine Beratungen fort." 339 Mit diesem lakonischen „Abgeschlagen" unterstrich Brecht noch einmal die Grundtendenz der Bearbeitung: Das Volk beugt sich niemals dem Anspruch der Unersetzlichkeit. Lieber ist es bereit, sich in unversöhnlichen Gegensatz zu dem zu stellen, der solch einen Anspruch verficht. Auch der Coriolan beweist jenen Bearbeitungsvorgang, von dem Brecht sagte, daß er mit „historischem Sinn" und „viel Kunst" vorgenommen werden müsse. Der „ursprüngliche Ideengehalt" des Shakespeare-Stückes bildete den Ausgangspunkt für die weitere Präzisierung der Fabelaussage. Selbst die reaktionäre Parteinahme, wie sie bei Shakespeare in den Volksszenen zum Ausdruck kommt, wurde nicht durch eine Gegenkonzeption aufgehoben, sondern historisch einsehbar gemacht. „Ich glaube nicht", sagte Brecht von seiner Bearbeitung, „daß die neue Fragestellung Shakespeare davon abgehalten hätte, einen .Coriolan' zu schreiben. Ich glaube, er hätte ungefähr in der Weise, wie wir es taten, dem Geist 244
der Zeit Rechnung getragen, vermutlich mit weniger Überzeugung, aber mit mehr Talent." 3 4 0 Bei all seinen Bearbeitungen, die Brecht seit Ende der vierziger Jahre vornahm, war er niemals darauf aus, die Originalwerke zu ersetzen. Er wollte sie als einen „Umweg" auf dem Wege zum Verständnis der Originale verstanden wissen. „In nicht allzu ferner Zukunft", schrieb Brecht, „wird dieser (der Genuß an den Originalwerken — W . M.) infolge der Schulung des historischen Sinns und des ästhetischen Geschmacks auch den breiten Massen der Bevölkerung möglich sein." 3 4 1 Brecht strebte eine Betrachtungsweise des weltliterarischen Erbes an, die gestattete, durch Schulung des historischen Sinns ästhetischen Genuß auch aus historisch ungenauen Kunstwerken zu ziehen und selbst aus solchen, die eine Parteinahme für die historisch progressiven Kräfte vermissen ließen. Allerdings sollte der Genuß an solchen Dichtungen nicht dadurch zustande kommen, daß historische Gesichtspunkte überhaupt verdrängt wurden. Vielmehr zielte sein Bemühen darauf, ein historisches Verständnis zu entwickeln, das die Hintergründe und Ursachen von falscher Parteinahme und historischer Fehleinschätzung einsehbar machte. Das Publikum war gleichsam angehalten, die Korrekturen mitzulesen und aus einer solchen Lesart Genuß zu ziehen. Was gegenwärtig noch durch Bearbeitungen sichtbar gemacht werden müßte, sollte später vom Publikum als schöpferischer Denkakt ästhetisch mit vollzogen werden. Die Betrachtungsweise, die Brecht hier vorschwebte, stellte hohe Anforderungen an das Publikum. „Erst ein spätes Bildungsstadium verschafft jedoch den Genuß an historischer Betrachtung", vermerkte Brecht. „Genuß hatten z. B. Marx und Engels, wenn sie den reaktionären Balzac dabei ertappten, wie er in der Beschreibung der Realität seine eigenen Theorien aufgibt. Aber dieser Genuß eines ungeheuer geschulten Betrachters ist unserem Publikum vorläufig versagt." 3 4 2 Deshalb sah Brecht in den Bearbeitungen einen Ausweg. Sie boten die Möglichkeit, auf jenes historische Verständnis hinzuarbeiten, ohne es schon vorauszusetzen. Später, so räumte Brecht ein, könne man vielleicht von Bearbeitungen der Klassiker ganz absehen. „Nach 20 Jahren kann vielleicht ein Denkmalsschutz der Klassiker
245
eingeführt werden — heute sollte man Eingriffe gestatten." 3 4 3 Der von Brecht vorgeschlagene Zeitraum für Bearbeitungen wäre nunmehr abgelaufen, aber dennoch ist es höchst zweifelhaft, ob die Schonfrist für Klassiker verkündet werden kann. Die Bearbeitungen und Umformungen alter Geschichten sind eher häufiger geworden, und der Streit darüber wird kaum duldsamer geführt. Brechts vorsichtige Wendung, daß man später „vielleicht" eine Art Denkmalsschutz für Klassiker einführen könnte, besagt schon, daß er sich seines Vorschlages nicht ganz sicher war. Andere, die Brechts Experimentierlust und Freude am Neuerzählen alter Geschichten genau kennen, glauben in dieser Bemerkung sowieso nur eine Beschwichtigung seiner auf historische Treue drängenden Kritiker zu sehen. Tatsächlich aber hat sich Brecht in seiner letzten Schaffensphase immer wieder mit dem Widerspruch von Bewahrung und Eingriff beschäftigt. In seinen theoretischen Schriften der letzten Jahre findet sich die Rechtfertigung des radikalen Eingriffs dicht neben der Warnung vor der „Beschädigung alter Werke". Der Widerspruch von Bewahrung und Eingriff, oft Quelle des Streits, kann in der Einzelanalyse gelöst werden, für die Gesamtheit der Problematik wird er bleiben. Denn er ist ein wesentliches Moment, durch das eine dialektische Aneignung weltliterarischer Werke bewirkt und ein Einfluß auf den gegenwärtigen Kunstfortschritt möglich wird. Die Umform u n g alter Werke wie auch die Umwertung bestimmter Traditionen waren von jeher ein wesentliches Bindeglied zwischen Tradition und Kunstfortschritt. Wenn man auch sehr geteilter Meinung darüber sein kann, inwieweit heute schon der von Brecht sehr hoch gespannte Anspruch an den historischen Sinn von einem sozialistischen Publikum erfüllt wird, so haben sich doch einige Bedingungen in der Aneignung des weltliterarischen Erbes grundlegend verändert. Heute bedarf es nicht mehr so konzentrierter Anstrengungen wie zu Brechts Zeit, die bürgerlichen Interpretationsmuster zu überwinden. Eine neue Sicht auf die Klassiker ist nicht mehr damit verbunden, daß erst einmal die alten Vorstellungen ausgeräumt werden müssen. Auch ist die sozialistische Klassikerrezeption mehr oder weniger aus der falschen Ent246
gegensetzung heraus. Sie hat keinen Grund mehr, linkssektiererischen Auffassungen durch eine forcierte Aufwertung der progressiven Seiten der deutschen Klassik entgegenzuwirken. Das Polemikfeld, über das sich die Aneignung des weltliterarischen Erbes vollzieht, weist heute andere Konstellationen auf. Unter den Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft bildete sich in den sechziger Jahren ein neues Verhältnis zum weltliterarischen Erbe heraus. Andere Probleme als zu Lebzeiten Brechts stehen auf der Tagesordnung. Sie sind nicht weniger kompliziert als die, mit denen sich Brecht auseinandersetzen mußte. Sie zu analysieren ist, um eine literarische Redewendung zu gebrauchen, „ein weites Feld", sicher aber schon ein neues Buch.
Anmerkungen
Abkürzungen Antigone
— B. Brecht, Die Antigone des Sophokles. Materialien zur Antigone, zsgest. v. Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1965. Arbeitsjournal — Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Arbeitsjournal, Eintragung vom . . . , M a p p e . . . , B l a t t . . . Eisler — H. Bunge, Gespräche mit Hanns Eisler. (Originalmanuskript) Gedichte - B. Brecht, Gedichte, Bd 1 - 9 , Berlin 1961-1969. Jhering — H. Jhering, Die zwanziger Jahre, Berlin 1948. Lenin - W. I. Lenin, Werke, Bd 1-40, Berlin 1959-1968. Lenz - J. M. R. Lenz, Werke und Schriften, Bd 1, 2, hrsg. v. B. Titel u. H. Hang, Stuttgart 1967. Literatur — B. Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst, Bd 1, 2, Berlin-Weimar 1966. Marcuse - H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft, Bd 1, 2, Frankfurt a. M. 1965. MEW - K. Marx/F. Engels, Werke, Bd 1 - 3 9 (u. 2 Erg. Bde, 2 Verz. Bde), Berlin 1968-1971. Politik - B. Brecht Schriften zur Politik und Gesellschaft, Bd 1, 2, Berlin-Weimar 1968. Stücke - B . Brecht, Stücke, Bd 1-14. Berlin-Weimar 1955-1968. Theater - B. Brecht, Schriften zum Theater, Bd 1-7, Berlin-Weimar 1964.
1 In seinem Buch Brechts Weg %um epischen Theater (Berlin 1962, S. 13ff.) geht Werner Hecht auf die Augsburger Zeit Brechts als Theaterkritiker ein und stellt fest, daß dessen Vorstellungen vom Theater damals noch konventioneller Art waren. 2 Literatur 112. 249
3 Theater 1 5 2 . 4 Theater I 37. 5 Theater 1 1 6 . 6 Theater I 63. 7 In ihrer bisher noch nicht veröffentlichten Dokumentation über den frühen Brecht haben Werner Frisch und K . W . Obermeier ( U l m ) Zeugnisse von Lehrern und Schülern über Brecht gesammelt. In sehr mühseliger Kleinarbeit rekonstruierten sie die Schulsituation und die Haltung Brechts, die er zu Schiller und zur Schiller-Interpretation seiner Lehrer einnahm. In der Stellungnahme v o n Karl P., einem ehemaligen Mitschüler Brechts, heißt es: „ A l s ich die Schule bereits verlassen hatte, wurde mir bekannt, daß ihm in der VII. Klasse aufgrund eines Aufsatzes, worin er Schiller angegriffen hatte, mit der Demission gedroht worden war." D e r ehemalige Lehrer Brechts am Realgymnasium an der „Blauen K a p p e " , D r . Lehrmann, äußerte sich ebenfalls zur kritischen Einstellung des Schülers Brecht Schiller g e g e n ü b e r : „Weniger lag ihm das Pathos Schillers, dessen Wallensteins Lager f ü r ihn ein , Oktoberfest
mit Bockbierausschank'
war."
(Manuskript
S. 59, 49f.) 8 F. Wolf, Aufsätze über das Theater, in: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, B d 13, Berlin 1957, S. 161. 9 F. Albrecht, Aspekte des Verhältnisses zwischen sozialistischer L i teraturbewegung und klassischem E r b e in den zwanziger Jahren, i n : Literatur der Arbeiterklasse, Berlin-Weimar 1971, S. 646ff. 10 Ebenda, S. 662. 11 J . R. Becher, Wachstum und Reife, in: Internationale Literatur, Deutsche Blätter 1937, H . 4, S. 91. 12 In seinem Buch Das
Politische Theater (Berlin 1968, Bd 1, S. 23, 271)
berührt E r w i n Piscator die Zeit des Berliner D a d a . Für ihn und andere fortschrittliche Künstler war der Berliner D a d a ein kurzfristiges Durchgangsstadium gewesen. 13 Theater I U I . 14 Theater 1 1 1 3 . 15 Theater 1 2 7 0 . 16 E . Schuhmacher, die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918 bis 1933, Berlin 1955, S. 141. 17 W. Klau, Humanismus und Naturismus, in: D i e neue Rundschau 1932, H . 2, S . 94. Zitiert aus: E . Schuhmacher, Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , Berlin 1955, S. 144. 18 Theater III 157 f. 19 Theater III 156f. 20 Theater I 167. 21 Theater III 157.
250
22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
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45 46 47 48 49
50 51 52
53 54
Theater II 40. Literatur I 45. Theater I 247. Theater I 133. Theater V 55. Jhering 168. P. Rilla, Goethe in der Literaturgeschichte, Berlin 1950, S. 29f. Jhering 154, 160, 153. Jhering 157. Siehe hierzu: Theater I 96. Theater I 156. Theater I 151. Theater I 157. Theater I 164. Theater I 88. Jhering 165. Eisler 6. An der Rundfrage der Vossiscben Zeitung beteiligten sich außer Brecht noch Leopold Jessner, Lucie Höflich, Viktor Barnowsky, Elisabeth Bergner, Jakob Wassermann, Heinrich XLV. Erbprinz Reuß, Fritz von Unruh, Max Dessoir, Fritz Kortner, Rudolf Forster, Arnolt Bronnen, Klabund, Bertolt Viertel, Ludwig Berger. Theater I 88. Theater I 61. Jhering 152. Theater II 21. Die Rolle des Eulenspiegels wollte Brecht mit Hans Albers besetzen, den er als den einzigen Volksschauspieler während der Nazizeit bezeichnete. Theater I 157. Theater I 88 f. Theater V 159. Arbeitsjournal 5. 4. 42, 280/01. W. Pieck, Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf für den Sturz der Hitlerdiktatur, in: Brüssler Konferenz der KPD 1935, Berlin 1957, S. 166. H. Mayer, Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961, S. 75f. Politik 1107. W. Pieck, Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf für den Sturz der Hitlerdiktatur, in: Brüssler Konferenz der KPD 1935, Berlin 1957, S. 121. Politik II 20. Eisler 252. 251
55 56 57 58 59 60 61 62
63 64 65 66 67 68 69
Politik II 94. Arbeitsjournal 12. 9. 44, 282/07. Arbeitsjournal 19. 1. 45, 282/16. Arbeitsjournal 28. 1. 45, 282/19. Arbeitsjournal 10. 3. 45, 282/20. Arbeitsjournal 2. 8. 43, 281/16. K. Völker, Brecht-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München 1971, S. 103. Pieck/Dimitroff/Togliatti, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus, Berlin 1957, S. 85 ff. Eisler 242. Arbeitsjournal 10. 11. 43, 281/27. Eisler 246. Arbeitsjournal 20. 9. 40, 1997/39. Eisler 247. H. Mayer, Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961, S. 75. Nicht unwidersprochen kann hier eine Darstellung bleiben, die Helga Gallas in ihrer Arbeit Marxistische Literaturtheorie zur Diskussion stellte. Sie verlegte die „Betonung der Kontinuität der klassischen Literaturtradition" schon in die Zeit vor 1933. In ihrem Buch unterschied sie die Phase „Opposition von links und Harmonisierung der Gegensätze (Sommer 1931 bis Mitte 1932)" von der Phase „Zurückweisung neuer literarischer Techniken und Betonung der Kontinuität der klassischen Literatur-Tradition (Mitte 1932 bis Dezember 1932)". Diesen Versuch unternahm sie vor allem deshalb, weil sie nachweisen möchte, daß vor allem der Aprilbeschluß der KPdSU über die Auflösung der RAPP (Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller) zur stärkeren Orientierung auf „traditionalistische Einflüsse" bei den deutschen revolutionär-proletarischen Schriftstellern geführt habe. In ihrem Buch schrieb sie: „Der Widerspruch löst sich, sobald die Gründe, die in der Sowjetunion zur Auflösung der RAPP führten, offenliegen: Die RAPP hatte in ihrem Programm — trotz aller Berufung auf das bürgerliche Kulturerbe und die Propagierung einer an Hegel orientierten Literaturtheorie — ungebrochen den alten Proletkult-Anspruch aufrechterhalten, nämlich eine p r o l e t a r i s c h e Klassenliteratur zu schaffen, und darauf ihre Forderung nach der Hegemonie innerhalb der übrigen Literaturrichtungen gegründet. Dieser Anspruch mußte mit der parteioffiziellen Doktrin kollidieren, als Stalin die antagonistischen Klassengegensätze für aufgehoben erklärte und den Sieg der sozialistischen Gesellschaftsform in der Sowjetunion verkündete. In einer solchen Periode konnte es folglich nur noch eine allgemeine sozialistische 252
70 71 72 73 74 75
76 77 78 79 80 81 82
Literatur geben, weshalb sich Stalin auch unter den vielen vorgeschlagenen Termini zur Kennzeichnung der neuen Literatur (.proletarischer', .revolutionärer', .heroischer', .tendenziöser', .romantischer', .dialektischer' Realismus) für den Terminus .sozialistischer' Realismus entschied." (H. Gallas, Marxistische Literaturtheorie, Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Neuwied-Berlin 1971, S. 65.) Damit ist für Helga Gallas die Auseinandersetzung um das literarische Erbe, der Streit um die Konzeptionen Brechts und Lukäcs' „bereits Ende 1932 zugunsten Lukäcs' entschieden". Die gesamte Volksfrontpolitik, die neue Strategie der kommunistischen Parteien, also die eigentlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Grundlagen der Erbedebatte, wurden auf diese Weise einfach unterschlagen. Siehe hierzu: R. Stcigerwald, Herbert Marcuses „dritter Weg", Berlin 1969, S. 121. Arbeitsjournal 18. 1. 42, 279/05. Arbeitsjournal 280/10. Arbeitsjournal 13. 8. 42, 280/25. Arbeitsjournal 3. 10. 42, 280/28. Dieses Buch erschien 1969 unter dem Namen Adornos und nennt Hanns Eisler als Mitautor. Im Nachwort schreibt Adorno dazu: „Zunächst kam es 1947 bei der Oxford University Press in New York in englischer Sprache heraus. Als Autor zeichnete Eisler allein. Zu jener Zeit wurde in den Vereinigten Staaten Gerhart, der Bruder des Komponisten, wegen seiner politischen Aktivität aufs heftigste angegriffen und Hanns Eisler in die Affäre hineingezogen. Ich hatte mit jenen Aktivitäten nichts zu tun und wußte nichts von ihnen. Eisler und ich hegten keine Illusionen über unsere politischen Meinungsverschiedenheiten. Wir mochten unsere alte, auf 1925 zurückdatierende Freundschaft nicht gefährden, und vermieden es, Politisches zu diskutieren. Keinen Anlaß hatte ich, Märtyrer einer Sache zu werden, die nicht meine war und nicht meine ist. Angesichts des Skandals trat ich von der Mitautorschaft zurück." Über Adornos Zusammenarbeit mit Eisler siehe H. Lück in: Die neue Linke nach Adorno, hrsg. v. W. F. Schoeller, München 1969, S. 141-157. Eisler 26. Arbeitsjournal 18. 12. 44, 282/13. Arbeitsjournal 10. 10. 43, 281/24. Arbeitsjournal 18.1.42, 279/05. Eisler 36 f. Arbeitsjournal 10.10.43, 281/24. Über den Vorschlag zum TUI-ROMAN siehe auch: H. Bunge, Gespräche mit Hanns Eis/er (Ms. S. 23). Dort heißt es: 253
„B: Am 12. Mai 1942 schrieb Brecht im Arbeitsbuch: ,Mit Eisler bei Horkheimer zum Lunch. Danach schlägt Eisler für den als Handlung vor: die Geschichte des Frankfurter soziologischen Instituts. Ein reicher alter Mann (der Weizenspekulant Weill) stirbt, beunruhigt über das Elend auf der Welt. Er stiftet in seinem Testament eine große Summe für die Errichtung eines Instituts, das die Quelle des Elends erforschen s o l l . . . Die Tätigkeit des Instituts fällt in eine Zeit, wo auch der Kaiser die Quelle der Übel genannt haben will, da die Empörung des Volkes steigt. Das Institut nimmt am Konzil teil. . .' E: . . . und die Quelle des Übels ist der Getreidespekulant. Selbstverständlich können das die Gelehrten des Instituts nicht herausbringen. Nun, Sie wissen ja, daß Horkheimer — heute, glaub ich, Rektor der Frankfurter Universität — der Leiter dieses seltsamen Instituts ist. Das Institut für Sozialwissenschaft in Frankfurt hat eine Stiftung von einem großen Getreidehändler — ich würde sagen des größten des Getreidehandels, — Weyl, Hermanns als Brüder W e y l . . . Mit Hauptsitz in Argentinien und in Frankfurt. Und tatsächlich hat der Vater am Ende seines Lebens eine riesige Stiftung gemacht: ein fulminantes Gebäude mit sehr vielen Zimmern. Es ladet zur Gelehrsamkeit ein, und seit vierzig Jahren wird dort eifrig nachgedacht, wie das nun alles ist." 83 Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, Bd 3, Frankfurt a. M. 1965. S. 127. 84 Ebenda, S. 134. 85 Th. W. Adorno, Minima Moralia, Berlin, Frankfurt a. M. 1951, S. 428, 86 Arbeitsjournal 22. 8. 42, 280/27. 87 Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, Bd 3, Frankfurt a. M. 1965, S. 133, 134f. 88 R. Steigerwald, Herbert Marcuses „dritter Weg", Berlin 1969, S. 122. 89 Eisler 27. 90 Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift für So^ialforscbung, die vom exilierten Frankfurter Institut für Sozialforschung herausgegeben wurde. Am Beispiel der Korrekturen der in dieser Zeitschrift erschienenen Aufsätze von Walter Benjamin hat Hildegard Brenner sehr sorgfältig nachgewiesen, daß in dieser Zeitschrift unter der Redaktion von Max Horkheimer grundsätzlich kein marxistisches Vokabular und keine marxistische Position geduldet wurde. Siehe hierzu: H. Brenner, Th. W . Adorno als Sachwalter des Benjaminschen Werkes, in: Die neue Linke nach Adorno, hrsg. v. W. F. Schoeller, München 1969, S. 158-175. 91 Marcuse I 90, 63. 92 Theater I 159. 93 Marcuse I 27.
254
9 4 Literatur I 24. 95 Marcuse I 93. 96 Marcuse I 81. 97 Marcuse I 151. 98 Marcuse I 98. 99 Marcuse I 100. 100 Eisler 268. 101 G . Lukàcs, Schicksalswende, Berlin 1956, S. 69. 102 Lenin X V I I 33. 103 Arbeitsjournal 18. 8. 38, 275/09. 104 E b e n d a . 105 Literatur II 33. 106 Siehe hierzu: W. Mittenzwei, Die Brecht-Lukäcs-Debatte,
in:
Sinn
u. F o r m , Berlin, 19 (1967) H . 4, S. 2 3 5 - 6 9 ; auch in: Kritik in der Zeit. D e r Sozialismus, seine Literatur, ihre Entwicklung, hrsg. v. K . J a r m a t z u. a., Halle 1970, S. 7 8 6 - 8 1 2 . 107 Arbeitsjournal 10. 9. 38, 275/10. 108 Arbeitsjournal 10. 10. 43, 281/24. 109 Arbeitsjournal 10. 9. 38, 275/10. 110 Arbeitsjournal Juli 38, 275/03. 111 Lenin X V I 331. 112 Arbeitsjournal 28. 1. 40, 1997/61. 113 Politik I 142 f. 114 Politik I 138. 115 Politik I 139. 116 Politik I 142. 117 Arbeitsjournal 5. 8. 40, 277/30. 118 Literatur I 341. 119 Theater V 53. 120 Theater I 273. 121 Politik 1 1 0 1 . 122 G . W . Plechanow, Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, Berlin 1957, S. 52. 123 Politik I 111. 124 Politik I 179. 125 Politik I 100. 126 Arbeitsjournal 26. 3. 42, 279/23. 127 Arbeitsjournal 23. 3. 42, 279/21. 128 Eisler 150, 154. 129 Arbeitsjournal 27./28. 2. 42, 279/16, 12. 130 Arbeitsjournal 23. 7. 38, 275/02. 131 P. Hacks, Literatur im Zeitalter der Wissenschaft, in: Pen-Zentrum Ost und West, Berlin o. J., S. 70.
255
Deutsches
132 E . Schuhmacher, Drama und Geschichte, Bertolt Brechts „Leben des Galilei" und andere Stücke, Berlin 1965. 133 Stücke II 230. 134 Arbeitsjöurnal 20. 9. 40, 1997/37. 135 Arbeitsjournal ? 8. 39, 1996/04. 136 Über das Aristotelische und die antiaristotelische Position im Werk von Brecht, seiner Theorie und Theaterpraxis, siehe: W. Mittenzwei, Gestaltung und Gestalten im modernen Drama, Berlin-Weimar 1965. 2. Aufl. 1969. — W. Mittenzwei, Erprobung einer neuen Methode. Zur ästhetischen Position Bertolt Brechts, in: Positionen, hrsg. v. W. Mittenzwei, Leipzig 1969 (2. Aufl. 1971). — In diesen Arbeiten wurden die Bedeutung des Aristotelischen und die verschiedenen Entwicklungsetappen der antiaristotelischen Position ausführlich beschrieben. 137 Arbeitsjournal 30. 3. 47, 282/34. 138 W. Benjamin, Lesezeichen, Leipzig 1970, S. 370. 139 Über die streitbare Zusammenarbeit zwischen Brecht und Feuchtwanger erzählt Hanns Eisler: „Ich weiß nur, daß der Feuchtwanger sich bitter beklagt hat — bei mir! — über die Hartnäckigkeit von Brechts epischen Theorien. Brecht hätte also ganz gerührt — wie er sagte: ,mit einer ehernen Stirne' — seine Theatertheorien vertreten, die Feuchtwanger gar nicht goutierte. Ich erinnere mich nur, daß der Feuchtwanger mir triumphierend erzählte: Als Brecht ihm wieder anfing mit diesem epischen Theater, sagte er: ,Also damit kann er mich schon am Arsch lecken 1' Aber das hat den Brecht gar nicht gestört, und es wurde das Stück dann noch so geschrieben, wie der Brecht es wollte. Mit Feuchtwanger kam er auf diesem Gebiet nicht aus. Aber es war eine streitbare Zusammenarbeit. Der Feuchtwanger wollte auf ein realistisches, naturalistisches Stück eigentlich gehen — und der Brecht nicht." (Eisler, 52) 140 141 142 143
144 145 146 147
Arbeitsjournal 25. 6. 44, 282/02. Literatur 163. Ebenda. H. Kesten, Furcht und Elend des Dritten Reiches. Bert-Brecht-Aufführung der „Tribüne", in: Aufbau, New York, 5. 6. 1942. Siehe auch: Arbeitsjournal 8. 6. 42. 280/01. Arbeitsjournal 8. 6. 42, 280/16. Ebenda. Eisler 13ff. John Steinbeck strich sich selbst aus den Reihen der humanistischen Schriftsteller, als er in den sechziger Jahren zu einem Propagandisten des amerikanischen Vietnamkrieges wurde.
148 Theater III 147.
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Arbeitsjournal 21. 10. 44, 282/10. Theater III 145f. Arbeitsjournal 27. 7. 38, 275/05. Arbeitsjournal 25. 7. 39, 1996/04. Literatur II 225. Theater VII 145 f. Arbeitsjournal ? 2. 39, 1993/13. Arbeitsjournal 16. 10. 43, 281/26. Arbeitsjournal 24. 3. 47, 282/34. Arbeitsjournal 16. 11. 42, 280/34. Über die Lektüre des jungen Brecht, insbesondere über die Lektürewahl aus der Augsburger Leihbibliothek, berichten anhand von Protokollen Werner Frisch und K. W. Obermeier in ihrer Dokumentation (siehe Anm. 7). Eisler 14. Eisler 57. Gedichte IV 221. Literatur II 300-307. R. Grimm, Bertolt Brecht und die Weltliteratur, Nürnberg 1961, S. 22. Theater V 188, 190. R. Grimm, Bertolt Brecht und die Weltliteratur, Nürnberg 1961, S.24. Ebenda, S. 24 f. Literatur II 306. Gedichte VI 100. H. Dahlke, Cäsar bei Brecht, Berlin-Weimar 1968, S. 139f. Arbeitsjournal 26. 2. 39, 1996/15. H. Hultberg, Bert Brecht und Shakespeare, in: orbis litterarum, Kopenhagen, 14 (1959), H. 2 - 4 , S. 89, 91. Theater I 111. Theater V 138. Theater V 132. Theater V 131. M. Zéraffa, Shakespeare, Brecht und die Geschichte, in: Geist und Zeit, Düsseldorf, 1957, H. 4, S. 38. I. Fradkin, Brecht, die Bibel, die Aufklärung und Shakespeare, in: Kunst und Literatur, Sowjetwiss., Berlin, 13 (1965), H. 2, S. 163. Theater VII 62f. Siehe dazu auch: W . Mittenzwei, Die Brecht-Lukács-Debatte, in: Sinn und Form, Berlin, 19 (1967), H. 1, S. 235-269. W. Schröder u. a., Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung, zitiert nach Ms. S. 24f. [in Vorbereitung beim Reclam-Verlag, Leipzig]. Eisler 60.
Mittenzwei
257
183 E . Schumacher, Brecht und die deutsche Klassik. Zu einigen Aspekten des theoretischen Verhältnisses, in: Wiss. Zeitschr. Humboldt-Univ., Berlin, Ges.- u. Sprachwiss. R „ 18 (1969), H. 1, S. 77 (Sonderdruck: Zur Ästhetik u. Geschichte d. Theaters). 184 F. Sternberg, Der Dichter und die Ratio. Erinnerungen an Bertolt Brecht, Göttingen 1963, S. 16f. 185 E . Schürer, Georg Kaiser und Bertolt Brecht. Über Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1971, S. 35. 186 Theater I 133 ff. 187 Theater II 10. 188 E . Schürer, Georg Kaiser und Bertolt Brecht, Über Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1971, S. 58. 189 Unveröffentlichter Brief vom 24. 2. 1943 aus St. Moritz; GeorgKaiser-Archiv, (West)Berlin; zitiert aus: E . Schürer, Georg Kaiser und Bertolt Brecht, Frankfurt a. M. 1971, S. 58. 190 Unveröffentlichter Brief vom 25. 3. 1943 aus St. Moritz; GeorgKaiser-Archiv (West)Berlin; zitiert aus: E . Schürer, ebenda. 191 Eisler 163. 192 Bandaufnahme im Besitz von Manfred Wekwerth. 193 Literatur I I 349f. 194 Literatur I I 126. 195 Literatur II 127. 196 Arbeitsjournal 19. 9. 40, 1997/39. 197 Literatur II 364. 198 Siehe dazu: J . Fiebach, Die Darstellung kapitalistischer Widersprüche und revolutionärer Prozesse in Erwin Piscators Inszenierungen von 1920-1931,
T . 1, 2. Phil. Diss., Berlin 1965. -
W . Mittenzwei,
Bertolt Brecht. Von der „Maßnahme" zu „Leben des Galilei", BerlinWeimar 1965. — K . Pfützner, Ensembles und Aufführungen des sozialistischen Berufstheaters in Berlin (1929—1933), in: Schriften zur Theaterwissenschaft, Berlin 1960, S. 11—244. (Schriftenreihe d. Theaterhochschule Leipzig, 4) 199 Literatur II 66. 200 K . Rülicke-Weiler, Die Dramaturgie Brechts, Berlin 1966, S. 109f. 201 F. Mierau, Tatsache und Tendenz. Der „operierende" Schriftsteller Sergej Tretjakow. Nachwort zu: Sergej Tretjakow, Lyrik, Dramatik, Prosa, zitiert nach Umbruch S. 450 u. 452 [erscheint im Reclam-Verlag, Leipzig 1972], 202 Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Brief an Brecht vom 15. 7. 1933, 477/ 146, 47; zitiert nach: F. Mierau, Tatsache und Tendenz. Der „operierende" Schriftsteller Sergej Tretjakow, (siehe Anm. 201) Umbruch S. 502. 2 0 3 Zitiert nach: F. Mierau, ebenda, Umbruch S. 503
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204 Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Brief an Brecht vom 8. 9. 1934, 477/ 139, u. 40; zitiert nach: F. Mierau, Tatsache und Tendenz. Der „operierende" Schriftsteller Sergej Tretjakow (siehe Anm. 201), Umbruch S. 525 f. 205 K. Rülicke-Weiler, Die Dramaturgie Brechts, Berlin 1966, S. 113. 206 Theater 1173. 207 Theaterll 31. 208 Theater III 63 f. 209 Siehe: Arbeitsjournal26. 2.39,1996/15. 210 Arbeitsjournal 18.3.42.279/19. 211 Arbeitsjournal 2.1.41, 277/60. 212 Arbeitsjournal 5.1. 41, 277/60. 213 A. Baranga, Aus einer „Pseudo-Abhandlung über Dramaturgie", in: Rumänische Rundschau, Bukarest, 25 (1971), H. 1, S. 111. 214 Eisler 61. 215 Eisler 62. 216 Arbeitsjournal 28.3.52,285/06. 217 G. Kellers Leben, Briefe und Tagebücher, dargst. u. hrsg. v. E. Ermatinger, Stuttgart-Berlin 1924. Bd. 2: Briefe und Tagebücher 1830-1861,4. Aufl., S. 122. 218 H. Heine, Säkularausgabe, hrsg. v. d. Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar u. dem Centre National de la Recherche Scientific in Paris, Band 5 (Bearbeiter: Karl Wolfgang Becker), Berlin-Paris 1970, S. 202, Schlußwort zum Vierten Teil (Nachträge zu den Reisebildern; 1830). 219 W. Dietze, Junges Deutschland und deutsche Klassik, Berlin 1957, S. 47. 220 In ihrer Brecht-Dokumentation berichten Frisch und Obermeier, daß der junge Brecht die Vortragsabende des alten Schauspielers Possart besuchte, auf dessen Programm immer Goethes Der Gott und die 'Bajadere stand. Sie geben die Erinnerung von Franz X. Sch., eines Jugendfreundes von Brecht wieder. Da heißt es: „Ich war mit Brecht im Ludwigsbau, als Possart Gedichte las. Wir hatten uns noch oft über seine Vortragsart lustig gemacht, besonders hatte es Brecht das stark ausgedehnte ,Mahadöööh' angetan." Die von Possart schmalzig deklamierte Stelle „Mahadöh, der Herr der Erde" wurde später von Brecht in seinem Sonett Über Goethes Gedicht ,Der Gott und die Bajadere' aufgegriffen „O bitterer Argwohn unserer Mahadöhs". (Msk. S. 341) 221 Über einen Vortrag von Goethes Gedicht Der Gott und die Bajadere besonderer Art durch Brecht berichtet gleichfalls Franz X. Sch. in der Brecht-Dokumentation von Frisch/Obermeier: „Eines Abends war die ganze Blase wieder unterwegs, an Brecht, Neher und Pfanzelt kann ich mich noch erinnern. Schließlich landeten wir im Prostituier17'
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ten-Domizil .Sieben Hansen' in der Bäckergasse. E s ging hoch her. Unversehens war da eine der Amüsierdamen auf den Tisch gestiegen und sang anzügliche Lieder. Ich kann mich noch eines Kehrreims erinnern, der immer wieder von allen mitgesungen wurde: ,Ich hab ein Büschel Haar am Bauch, ich glaub' ich bin ein Ali.' Wir alle waren hoch in Stimmung, da griff Brecht zur Gitarre und sang den Mädchen und den anderen Gästen Goethes ,Der Gott und die Bajadere' vor. J e weiter Brecht das Gedicht vom Geschick der indischen Tempeltänzerin vortrug, mit seiner aufreizend krächzenden Stimme und dem ungewöhnlichen Rhythmus, um so stiller wurde es in der Schenkstube, wie in einer Leichenhalle standen sie alle und hörten Brecht singen. Als er geendet hatte, brach ein Beifallsgeschrei über Brecht herein, spontan nahm ein Mann seinen Hut und sammelte für den Sänger, alles stürmte auf Brecht ein und er mußte seinen Vortrag wiederholen." (Ms. S. 341 f.) 222 Stücke I 10. 223 Über Brecht und Schiller siehe: G. Schulz, Die Schiller-Bearbeitungen Bertolt Brechts. Eine Untersuchung literaturhistorischer Bezüge im Hinblick auf Brechts Traditionsbegriff, Tübingen 1971. 224 G. Härtung, Brecht und Schiller, in: Sinn und Form, Berlin, 18 (1966), Sonderh.: Probleme der Dramatik, S. 759. 225 Ebenda, S. 743. 226 Ebenda S. 760. 227 F. Schiller, Werke. Nationalausg., Bd 8, hrsg. v. H. Schneider u. L . Blumenthal, Weimar 1949, S. 15f. 228 Eisler 141. 229 Arbeitsjournal 9.5. 41,277/77. 230 Arbeitsjournal 3 . 1 . 4 8 , 283/06. 231 Theater V 53. 232 Theater III 57. 233 Siehe hierzu auch: W. Mittenzwei, Erprobung einer neuen Methode. Zur ästhetischen Position Bertolt Brechts, in: Positionen, Leipzig 1969, S. 59-100. 234 Theater V 52. 235 Arbeitsjournal 24. 7.38, 275/02. 236 Arbeitsjournal 30.9.40,1997/39. 237 Arbeitsjournal 10.9.39,276/07. 238 Ebenda. 239 Arbeitsjournal 22.8.40,277/36. 240 Arbeitsjournal 11.11.40,277/54. 241 J . W. Goethe, Gespräche, Gesamtausg., hrsg. v. F. v. Biedermann, Bd 2, Leipzig 1909, S. 356f. 242 Siehe: G. Wackerl, Goethes Tag- und Jahreshefte, Berlin 1970. Rez.
260
v.: S. Scheibe, in: Deutsche Literaturzeitung, Berlin, 92, 1971, H. 4, S. 320-324. 243 J. W . Goethe, Briefe, hrsg. im Auftrag d. Großherzogin Sophie v. Sachsen, Bd 3, Weimar 1888, S.28f. 244 H. Mayer, Goethes „Italienische Reise", in: Sinn und Form, Berlin, 12(1960), H. 2, S. 240. 245 Als Initiator des sächsischen „Retablissements" gilt Thomas von Fritsch, Sohn eines Leipziger Buchhändlers und Verlegers, der in den Reichsadelsstand erhoben wurde. Zu der um Fritsch bestehenden Gruppe gehörten die Justizräte Friedrich Ludwig Wurmb und Christian Gotthelf Gutschmid sowie als Sekretär der 1762 gegründeten Restaurationskommission der Dichter Gottlieb Wilhelm Rabener. 246 Siehe hierzu: J. W. Goethe, Briefe, Bd 39, Weimar 1907, S. 180; Bd 3,1888, S. 168,177f.; Bd 15,1894, S. 134f. 247 W . Benjamin, Lesezeichen, Leipzig 1970, S. 34. 248 Arbeitsjournal 26.12.47, 283/05. 249 Mit dem Verhältnis Friedrich Schillers zur Französischen Revolution befaßt sich Hans-Günther' Thalheim in seinem Aufsatz: Schillers Stellung zur Französischen Revolution und zum Revolutionsproblem, in: H.-G. Thalheim, Zur Literatur der Goethezeit, Berlin 1969, S. 118-145. 250 P. Reimann, Hauptströmungen der deutschen Literatur 1750—1848. Beiträge zu ihrer Geschichte und Kritik, Berlin 1956, S. 398. 251 J. W. Goethe, Gespräche, Gesamtausg., hrsg. v. F. v. Biedermann, Bd 2, Leipzig 1909, S. 614. 252 J. W. Goethe, Werke, hrsg. im Auftrag d. Großherzogin Sophie v. Sachsen, Bd 33, Weimar 1898, S. 271. 253 F. Schiller, Werke, Nationalausg., Bd 27, hrsg. v. G. Schulz, Weimar 1962, S. 181. 254 Arbeitsjournal 2.1. 48, 283/06. 255 Eisler 298. 256 Theater VI 348. 257 Theater VI 349E 258 Vgl. Manfred Wekwerth, Notate zum Urfaust, zitiert nach Ms. [Erscheint in einer Sammlung der Schriften von M. Wekwerth im Henschelverlag, Berlin] 259 Ebenda. 260 Ebenda. 261 Ebenda. 262 Th. Mann, Über Goethes „Faust" (1938), in: Gesammelte Werke, Bd 10, Berlin 1955, S. 579. 263 Siehe hierzu: W. Mommsen, Die politischen Anschauungen Goethes, Stuttgart 1948, S. 38.
261
264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276
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V g l . Manfred Welcwcrth, Notate zum Urfaust (siehe A n m . 258). Ebenda. Ebenda. M E W IV 2321. K. Grün, Über Goethe v o m menschlichen Standpunkte, Darmstadt 1846, S. X X I . M E W IV 232. Theater V I 3 4 1 . Theater V I 365. Theater V I 47. Theater V I 318. Theater V I 343. I. J u n g , Spiegel der W e l t : Theater, i n : Tägliche Rundschau, 1 8 . 9 . 1 9 4 5 . Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des D r a m a s und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik (1945—1968), hrsg. v . Institut f ü r Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D Berlin Lehrstuhl Kunst- und Kulturwissenschaften. Forschungsgruppe unter Leitung v. Werner Mittenzwei, Bd 1, Berlin 1972, S. 68. Theater VI. 340. Ebenda. Theater V I 341. Ebenda. Theater V I 361. Theater V I 209. Theater V I 17. Theater V I 341. Theater V I 347. Theater V I 342. Ebenda. Theater V I 364. Theater V I 365. Literatur II 365.
291 292 293 294
Literatur II 369. Theater V I I 348f. Ebenda. W . Langhoff, Die Darstellung der Wahrheit auf der Bühne mit Hilfe der Stanislawski-Methode, Manuskript im Archiv des Deutschen Theaters Berlin, nicht numeriertes Archivgut, S. 7. 295 Egmont. Eine optimistische Tragödie. Interview mit W o l f g a n g Langhoff, i n : Programmheft „Egmont" des Deutschen Theaters Berlin, Spielzeit 1951/52, H. 3, S. 4. 296 Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des
262
Schauspieltheaters
in
der
Deutschen
Demokratischen
Republik
(1945—1968), hrsg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D Berlin. Lehrstuhl für Kunst- und Kulturwissenschaften. Forschungsgruppe unter Leitung v. W . Mittenzwei, Bd 1, Berlin 1972, S. 318. 297 Theater V I I 223f. 298 Ausführliche Darstellung über die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Brecht und Langhoff vom Standpunkt des Theaters bei Werner Mittenzwei in: Der Methodenstreit — Brecht oder Stanislawski, in: Theater in der Zeitenwende, hrsg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D Berlin. Lehrstuhl für Kunst- und Kulturwissenschaften. Forschungsgruppe unter Leitung v. W . Mittenzwei, Bd 1, Berlin 1972, S. 347-361. 299 Theater V I I 68. 300 Theater V I I 7 0 . 301 B. Brecht, Der Hofmeister, Versuche 25/26/35, Berlin 1952, S. 79. 302 E . Piscator, Das Politische Theater. Schriften, Bd 1, Berlin 1968, S. 90. 303 Ebenda. 3 0 4 M. Wekwerth, Theater und Wissenschaft. Überlegungen für die siebziger Jahre. Arbeitshefte, Deutsche Akademie der Künste, H. 3. Berlin o. J „ S. 48. 305 Theater V I I 342. 306 Theater V I 292. 307 Theater V I 7. 308 Arbeitsjournal 3. 11. 47, 282/40. 309 Ebenda. 310 Theater V I 9 f. 311 Theater V I 10. 312 Antigone 116 f. 313 Antigone 115f. 314 Antigone 116. 315 Antigone 114. 316 Antigone 128. 317 U. Wertheim, Die marxistische Rezeption des klassischen Erbes. Zur literaturtheoretischen Position von Gerhard Scholz, in: Positionen, hrsg. v. W . Mittenzwei, Leipzig 1969, S. 489. 318 Lenz II 26f. 319 P. Rilla, Literatur. Kritik und Polemik, Berlin 1950, S. 75. 320 Theater V I 286. 321 Theater V I 265. 322 Stücke X I , 121. 323 Lenz II 25. 3 2 4 Lenz I I 59.
263
325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343
Stücke XI177. Eisler 164. Theater VI 279. MEW III 178. A. Kämpf, Die Revolte der Instinkte, Berlin 1948. Literatur II 344. P. Rilla, Literatur. Kritik und Polemik, Berlin 1950, S. 75. Shakespeares Coriolan im Berliner Ensemble, in: Theater der Zeit, Berlin, 19 (1964), H. 7, S. 5. J. Kuczynski, Gestalten und Werke, Soziologische Studien zur deutschen Literatur, Berlin-Weimar 1969, S. 402. Theater VI 334. J. Kuczynski, Gestalten und Werke, Soziologische Studien zur deutschen Literatur, Berlin-Weimar, 1969, S. 390. Theater VII 241. Shakespeares Coriolan im Berliner Ensemble, in; Theater der Zeit, Berlin, 19(1964), H. 7, S. 6. J. Kuczynski, Gestalten und Werke, Soziologische Studien zur deutschen Literatur, Berlin-Weimar 1969, S. 403. Stücke XI 391. Theater VI 337. Ebenda. Shakespeares Coriolan im Berliner Ensemble, in: Theater der Zeit, Berlin, 19 (1964), H. 7, S. 5. Ebenda.
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Diplom- und Staatsexamens- sowie
Magisterarbeiten
Bartz, Ursula: Die Gestalt des Schweyk bei Hasek und bei Brecht. Güstrow, Päd. Inst. 1963, 24 S. Bettinger, Klaus: Die Kalendergeschichten Hebels und Brechts. Ein Vergleich. Univ. Bonn, Germ. Seminar 1962. Binb, Phan: Elemente des epischen Theaters Brechts im Zusammenhang mit dem asiatischen Theater. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1966, 88 S. Dabne, Alice: Maxim Gorkis Roman „Die Mutter" und Bert Brechts gleichnamiges Stück. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1959, 74 S. Emmerlicb, Margot: Brechts Stück „Die Gesichte der Simone Marchard" im Vergleich zu Feuchtwangers Roman „Simone". Dresden, Päd. Hochschule, 1963, 53 S. Foutb, Jean-Claude: Das Theater Max Frischs und die dramatische Theorie Bert Brechts. Univ. Heidelberg, Phil. Fak. 1964, 70 S. Caede, Frank: Bertolt Brecht als Bearbeiter des „Hofmeister" von Lenz. Univ. Bonn, Germ. Seminar 1964. 286
Hadascb, Marlis: Friedrich Dürrenmatts „Physiker" und Bertolt Brechts „Leben des Galilei" — ein Vergleich. Univ. Halle-Wittenberg, Germ. Inst. 1966, 158 S. Hahn, Rosemarie: Der dramaturgische Aufbau eines Bühnenstückes nach Gustav Freytag und Bertolt Brecht. Versuch eines Vergleichs auf der Grundlage des „Coriolan" von W. Shakespeare und des „Guten Menschen von Sezuan" von Brecht. Erfurt, Päd. Inst. 1963, 35 S. Hamer, Detlef: Brecht-Rezeption bei Peter Weiss. („Marat") Univ. Rostock, Germ. Inst. 1967. Hegewald, Helmut: Die Schweykfigur bei Hasek und Brecht. Dresden, Päd. Hochschule 1962, 79 S. Heiderieb, Rosemarie: Die Humanität Iphigenies, Judiths und Grusches. Leipzig, Päd. Inst. 1962, 40 S. Heidsieck, Arnold: Das Groteske bei Brecht,Dürrenmatt und Frisch. Univ. Westberlin, Germ. Seminar 1964,64 S. Hein, Renate: Der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Macht sowie die Aspekte seiner Lösung bei Brechts „Galilei" und Dürrenmatts „Physikern". Univ. Berlin, Germ. Inst. 1965, 50 S. Heinde, Hartmut: Strukturen des modernen Martyrerdramas. Untersuchungen zu Hofmannsthals „Turm"-Dichtungen und Brechts „Die heilige Johannader Schlachthöfe". Univ. Westberlin, Germ. Seminar 1963. Hein^elmann, Josef: Die Bedeutung der Antike im Werk Bertolt Brechts. Univ. Erlangen, Dt. Seminar [1965], Henatsch, Heinrike: Die Auffassung vom Epischen und Dramatischen bei Schiller, Goethe und im epischen Theater Bertolt Brechts. Univ. Bonn, Germ. Seminar 1959. Henning, Erika: „Der Hofmeister" von J. M. R. Lenz und Brechts Bearbeitung. Ein Vergleich. Univ. Berlin, Inst. f. Theaterwiss. 1956, 84 S. Hillert, Richard: Das Theater als moralisch-pädagogische Anstalt bei Schiller und Brecht. Univ. Bonn, Germ. Seminar 1962. Hohenberg, Klaus: Der Don Juan-Stoff im modernen deutschen Drama. (Bert Brecht und Max Frisch) Univ. Kiel, Inst. f. Lit.wiss. 1962. Holldack, Bettina: „Don Juan" bei Moliere und Brecht. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1963. llscbner, Johanna: Vergleichen Sie Reinhold Lenz' „Hofmeister" mit Brechts Bearbeitung des Stückes hinsichtlich der Zielstellung und deren Verdeutlichung im Prolog und Epilog des Brechtschen Stückes. Erfurt, Päd. Inst. 1962, 30 S. jefabhovä, O.: Galileo Galilei bei Bertolt Brecht und Max Brod. Ein Beitrag zur Interpretation der Werke „Leben des Galilei" von Bertolt Brecht und „Galilei in Gefangenschaft" von Max Brod. Leipzig, Prag 1959. Kim, Tschong Dae: Bertolt Brecht und die Geisteswelt des Fernen Ostens. Univ. Heidelberg, Phil. Fak. 1965, 80 S.
287
Klemme, Helga: Deutung und Darstellung der modernen Gesellschaft in Bertolt Brechts: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe" und Friedrich Dürrenmatts „Frank der Fünfte". Oper einer Privatbank. Univ. Tübingen, Dt. Seminar 1964. K/ietz, Guido: Dürrenmatts Beschäftigung mit Brecht. Univ. Jena, Germ. Inst. 1967, 94 S. Knäsel, Gisa: Die Muttergestalten im „Biberpelz", in „Mutter Courage und ihre Kinder" und in „Spuren im Sand". Leipzig, Päd. Inst. 1964, 51 S. Knigge, Gert: Das epische Element in „Samba" und „Der gute Mensch von Sezuan". Leipzig, Päd. Inst. 1962, 41 S. Knoblocb, Norbert: Vergleich von Reinhold Lenz' „Hofmeister" mit Brechts Bearbeitung des Stückes hinsichtlich der Zielstellung und deren Verdeutlichung in Prolog und Epilog. Erfurt, Päd. Inst. 1962, 45 S. Knoepfle, Joachim: „Der Hofmeister" von Lenz und Brechts Bearbeitung. Potsdam, Päd. Hochschule 1960, 83 S. Koscbke, Ursula: Die „Antigone" des Sophokles und Bert Brechts „Antigonemodell 1948". Ein Vergleich nach Gehalt und Gestalt. Univ. Berlin, Inst. f. Theaterwiss. 1955, 43 S. Kästlet, Jutta: Die Gestalt der Simone bei Feuchtwanger und bei Bert Brecht. (Ein Vergleich des Romans „Simone" vonL. Feuchtwanger und des Dramas „Die Gesichte der Simone Marchard" von B. Brecht) Leipzig, Päd. Inst. 1958, 30 S. Krabe, Ulfert: Die Bearbeitung von Sturm- und Drang-Dramen durch marxistische Stückeschreiber. Univ. Westberlin 1970, 310 S. Kuckenburg, Juergen: Bertolt Brechts „Hofmeister"-Bearbeitung und ihre Vorlage. Potsdam, Päd. Hochschule, 1959, 37 S. Lange-Bortfeldt, Wiebke: Die Darstellung von Held und Volk im „Coriolan" von Shakespeare, Brecht und in der Fassung des Berliner Ensembles 1963. Univ. Berlin, Inst. f. Theaterwiss. 1964, 50 S. hanglot^, Christa: Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit in Gerhart Hauptmanns „Biberpelz" und Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti". Erfurt, Päd. Inst. 1962, 21 S. heder, Gudrun: „Eduard II." von Marlowe und die Neugestaltung des Stückes für die moderne Bühne von Bertolt Brecht. Ein Vergleich unter theatergeschichtlichen und dramaturgischen Gesichtspunkten. Univ. Berlin, Inst. f. Theaterwiss. 1957, 52 S. Uebig, Gert: Vergleich des Stückes „Die Tage der Commune" von Bertolt Brecht mit dem Schauspiel „Die Niederlage" von Nordahl Grieg. Univ. Berlin, Germ. Inst. 1959, 89 S. Löicbmanti, Martin: Brechts Stellung zur deutschen Klassik. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1960,111 S. Ludwig, Katrin: Peter Hacks Bearbeitung der „Kindesmörderin" von Heinrich Leopold Wagner unter Berücksichtigung der „Hofmeister"288
Bearbeitung von Bert Brecht. Univ. Berlin, Inst. f. Theaterwiss. 1958, 107 S. May, Dieter: Elemente aus Bibel und Christentum in der Lyrik Bertolt Brechts. Univ. Kiel, Inst. f. Lit.wiss. 1967. Mayer, Renate: Brechts „Dreigroschenoper" und Dürrenmatts „Frank V". Ein literaturwiss. Vergleich. Univ. Halle-Wittenberg, Germ. Inst. 1966, 98 S. Meves, Ursula: Das Verhältnis von Bertolt Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe" zu William Shakespeares „Maß für Maß". Leipzig, Theaterhochschule, 1958, 50 S. Neumann, Hans-Christian: Zur Spiegelung bürgerlicher und sozialistischer Moralauffassungen im deutschen Drama: Das Problem der unechten Mutter in Brechts Stück „Der kaukasische Kreidekreis" und Hauptmanns Drama „Die Ratten". Potsdam, Päd. Hochschule 1960, 113 S. Pallowski, Gisela: Deutung und Darstellung der Revolution bei Ernst Toller („Masse Mensch"), Georg Kaiser („Hölle Weg Erde"), Bertolt Brecht („Trommeln in der Nacht"). Univ. Tübingen, Dt. Seminar 1965. Pan^ner, Silke: Das Parabelstück bei Brecht und Dürrenmatt. Univ. Berlin, Inst. f. Ästhetik 1967, 32 S. Pauli, Manfred: Bertolt Brechts Bearbeitungen von klassischen Dramen. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1956, 76 S. Petr, Pavel: Lenz' und Brechts „Hofmeister". Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1956. Piet^ucb, Barbara: Die Perspektive in Bertolt Brechts „Leben des Galilei" und Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker". Ein Vergleich. Univ. Berlin, Germ. Inst. 1965. Pods^us, Helga: Bertolt Brechts „Schweyk im zweiten Weltkrieg". Ein Vergleich zum Roman „Die Abenteuer des braven Soldaten Schweyk" von Jaroslaw Hasek. Univ. Rostock, Germ. Inst. 1961, 57 S. Pobley, Inge: Vergleich des gesellschaftlichen Profils der Schweyk-Gestalt bei Hasek und Brecht. Leipzig, Päd. Inst. 1959, 22. S. Pottgießer, Horst: Wesen und Aufgabe des Theaters nach Schiller und nach Brecht. Univ. Kiel, Inst. f. Literaturwiss. 1963. Puls, Gerhard: Das Jeanne-d'Are-Thema bei Feuchtwanger und bei Brecht. Ein Vergleich der epischen und dramatischen Version. Univ. Jena, Germ. Inst. 1962, 92 S. Puntren, Jürgen: Vom Stoff zur Verfremdung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der künstlerischen Gestaltung der Stücke „Mutter Courage und ihre Kinder" von Bertolt Brecht und „Frau Flinz" von Helmut Baierl. Dresden, Päd. Hochschule 1964, 71 S. Rebbein, Antje: Brechts „Antigonemodell 1948". Ein Beitrag zu Brechts Antikerezeption. Univ. Rostock, Germ. Inst. 1962, 65 S. 19
Mittenzwei
289
Ringbandt, Ingeborg: Didaktische Elemente und ihre Rolle in Praxis und Theorie bei Gottsched und Brecht. Univ. Tübingen, Dt. Seminar 1967. Kiscb, Hannelore: Novellistische und dramatische Züge in Brechts „Kaukasischem Kreidekreis" verglichen mit dem „Chinesischen Kreidekreis" von Klabund. Univ. Jena, Germ. Inst. 1967. Roeren, Ursula: Bertolt Brechts Bearbeitung von Christopher Marlowes „Edward II". Univ. Münster, Germ. Inst. 1964, 75 S. Rose, Irmgard: Brechts „Courage" und Baierls „Flinz". Die Konzeption der Titelgestalten. Potsdam, Päd. Hochschule, 1964, 51 S. Rösler, Waltraut: Die dramatische Gestaltung des Jeanne-d'Are-Themas bei Schiller und Brecht. Univ. Erlangen, Dt. Seminar 1965. 'Rosenberg, Johanna: Die Umformung von Hölderlins „A Bertolt Brecht. Univ. Jena, Germ. Inst. 1959, 81 S. Rusebkin, Harald: Lenz' „Hofmeister" und die Bearbeitung Bertolt Brechts. Dresden, Päd. Hochschule 1962, 22 S. Salberg, Winfried: Die Gestaltung des dramatischen Konflikts in Bertolt Brechts „Leben des Galilei", Heiner Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer", Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker". Erfurt, Päd. Inst. 1966, 81 S. Sandow, Gisela: Bertolt Brechts „Die Gesichte der Simone Machard" und L. Feuchtwangers Roman „Simone". Ein Vergleich. Leipzig. ,Päd. Inst. 1958, 23 S. Sauter, Willmar: Bertolt Brecht und Schweden. Ein Bericht über die wechselseitigen Beziehungen während der Jahre 1929 bis 1950. Stockholm, Inst. f. Theater- und Filmwiss. 1971, 206 S. Scbacbtscbneider, Gisela: Die Gestaltung des Jeanne-d'Are-Stoffes bei Feuchtwanger und Brecht. Potsdam, Päd. Hochschule 1961, 49 S. Scheibe, Wolfgang: Dramen der Weltliteratur in der Bearbeitung von Bertolt Brecht (untersucht an „Don Juan" und „Coriolan"). Leipzig, Päd. Inst. 1965, 78 S. Scbellenberg, Edith: Die Gestaltung des Heimkehrermotivs in L. Frank „Karl und Anna" und in Bertolt Brechts „Trommeln in der Nacht". Leipzig, Päd. Inst. 1958, 29 S. Schmidt, Günter: Sinn und Form der Polemik Bert Brechts gegen die Dichtung der deutschen Klassik. Univ. Erlangen, Dt. Seminar 1967. Scbmobl, Gerlinde: Die Gestalt von Brechts „Mutter Courage" und Baierls „Frau Flinz". Güstrow, Päd. Inst. 1963, 37 S. Schröder, Jutta: Bertolt Brechts Bearbeitung des „Hofmeisters" von J. M. R. Lenz. Leipzig, Päd. Inst. 1958, 37 S. Schulte, Gudrun Maria: Klassisches Drama und episches Theater am Beispiel von Schillers „Maria Stuart" und Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder" (mit einem Ausblick auf einige ausgewählte Gesichtspunkte der Dichterkunde beider Dichter). Univ. Bonn, Germ. Seminar 1966.
290
Schuld Marianne: Molieres „Don Juan" und Brechts Nachdichtung. Ein gehalt- und stilkritischer Vergleich. Univ. Jena, Germ. Inst. 1960, 45 S. Semrau, Richard: Das Volksstück Bert Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti" und die finnische Erarbeitung des Themas von Hella Wuolijoki. Ein Vergleich. Univ. Berlin, Finno-ugrisches Inst. 1959. Siebert, Ilse: Bertolt Brecht: „Schweyk im 2. Weltkrieg". Die Dramatisierung eines Romans der Weltliteratur. Univ. Jena, Germ. Inst. 1959, 65 S. Springborn, Peter-Volker: Traditionen des Sturmund Drang in der „Hofmeister"-Bearbeitung von Bertolt Brecht. Univ. Greifswald, Inst. f. dt. Philologie i960, 116 S. Stanislaw, Winfried: Die Brechtsche Rezeption in der Lyrik H. M. Enzensbergers und Günter Kunerts. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1965, 46 S. Storm, Werner: Der Einfluß von Brechts Dramaturgie auf Baierls Dramatik. Güstrow, Päd. Inst. 1963, 53 S. Streubel, Helga: Dichterische Zitate bei Bertolt Brecht in der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe" als Ausdruck seiner Beziehungen zum traditionellen Theater. Dresden, Päd. Hochschule 1963, 55 S. Streubel, Manfred: Elemente der Volkslieddichtung in der Lyrik der Gegenwart, dargestellt an Beispielen von Brecht und Kuba. Univ. Berlin, Germ. Inst. 1957, 60 S. Tailleur, J . : Bertolt Brecht und das elisabethanische Theater. Paris 1959. Themer, Hilde: Das Kreidekreis-Motiv bei Brecht und Klabund. Güstrow, Päd. Inst. 1963, 27 S. Tomnjalova, Mara: Die Geschäfte des Julius Cäsar. Romanfragment von Bertolt Brecht. Eine Analyse. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1967, 77 S. Trampe, Wolfgang: Untersuchung zum Modellcharakter in der Epik (Brechts „Dreigroschenroman" und Kafkas „Der Prozeß"). Univ. Rostock, Germ. Inst. 1967,140 S. Tröbs, Walter: Nordahl Griegs „Die Niederlage" und Bertolt Brechts „Die Tage der Commune", ein Vergleich. Potsdam, Päd. Hochschule 1962, 92 S. Winkels, Heinz: Form und Sinn des aristotelischen und nichtaristotelischen Dramas am Beispiel von vier Dramen aus verschiedenen Epochen (Sophokles „König Ödipus" — Schiller „Maria Stuart" — Hofmannsthal „Das Salzburger große Welttheater" — Brecht „Der gute Mensch von 'Sezuan") Univ. Berlin, Germ. Seminar 1966. Witc^ak, Christa: Mittel des Komischen in Erwin Strittmatters „Katzgraben" und Helmut Baierls „Frau Flinz" in ihren Beziehungen zu bürgerlichen Komödientheorien und der Theorie des epischen Theaters Brechts. Univ. Leipzig, Inst. f. dt. Lit.gesch. 1965, 86 S. Wittig, Christine: Das Groteske — realistische Möglichkeit oder Selbst19*
291
zweck. Im Theater Brechts, Dürrenmatts und den Versuchen der Absurden. Univ. Berlin, Inst. f. Ästhetik 1966, 45 S. Wolters, Ursula: Lenz/Brecht: „Der Hofmeister", Bearbeitung oder Neukonzeption? Univ. Jena, Germ. Inst. 1966. Wulf, Kurt: Das Jeanne-d'Are-Problem bei Schiller, Shaw und Brecht Eine Untersuchung über die Wirksamkeit der historischen Gestalt in der Gegenwart. Potsdam, Päd. Hochschule 1960, 85 S. Wunder, Heinz: Der Aufbau der dramatischen Handlung nach Freytag und Brecht. Ein Vergleich anhand von Lessings „Emilia Galotti" und Brechts „Kaukasischem Kreidekreis". Erfurt, Päd. Inst. 1964, 32 S. Wünsche, Günter: Tradition als Vorbild. Zum Werk Johannes R. Bechers und Bertolt Brechts. Leipzig, Inst. f. Lit. „ J. R. Becher" 1967, 29 S. Zehner, Erich: „Der Hofmeister" bei Lenz und Brecht. Potsdam, Päd. Hochschule 1960,188 S. Zeiger, Wladimir: Die Lyrik Erich Weinerts, Johannes R. Bechers und Bertolt Brechts im Zeichen der Weltwirtschaftskrise. Dresden, Päd. Hochschule, 1964, 74 S.
Personen- und Werkregister
Adorno, Theodor W. 52 54-59 67-69 71 73 74 253 Albers, Hans 251 Albrecht, Friedrich 13 Andersen-Nexö, Martin 108 Erinnerungen 108 Anzengruber, Ludwig 151 Aristoteles 62 65 96-98 Babel, Isaak 109 Baierl, Helmut 116 Balzac, Honoré de 52 68 71 98 108 111 112 245 Baranga, Aurel 151 Barchasch, J. 144 Heilige Jobanna der Schlachthöfe, Die (Übers.) 144 Maßnahme, Die (Übers.) 144 Mutter, Die (Übers.) 144 Barnowsky, Viktor 251 Barrault, Jean 224 Baudelaire, Charles 71 Beaumarchais, Pierre«Augustin Caron de 72 Becher, Johannes R. 13 49 50 53 116 142 Beethoven, Ludwig 225 226 Fidelio 225 226 Benjamin, Walter 54 102 124 174 254 Berger, Ludwig 218 251 Bergner, Elisabeth 251
293
Berlau, Ruth 47 Besenbruch, Walter 139 Bibel, Die 115 Bloch, Ernst 54 57 Börne, Ludwig 152 184 Braune, Rudolf 13 Brecht, Bertolt Antigone (Bearb.) (AntigeneModell) 218 221 223 224 226 227 229 Arbeitsjournal 40 45-47 55-57 59 60 70 72 80 90 104 107 112 115 124 141 150 152 159-161 165-167 169 170 177 Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, Der 147 Biberpelz, Der/Koter Habn, Der (Bearb.) 221, 239 Coriolan 35 127 128 218 221 239 241-244 Dansen 142 Don Juan (Bearb.) 35 221 Dreigroschenoper, Die 108 Dreigroscbenroman, Der 103 Erinnerungen (Übers. Nexös) 108 Flücbtlingsgespräche 128 150 Furcht und Elend des dritten Reiches 103 Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, Die 90 123 124 132 Gesichte der Simone Marchard, Die 155
Brecht, Bertolt Gute Mensch von Seyuan, Der 103 137 178 Heilige Jobanna der Schlachthöfe, Die 144 146 154 155 Herr Puntila und sein Knecht Matti 103 141 Hofmeister Der (Bearb.) 35 195 218 221 229 231 232 238 239 241 Hauspostille, Die 73 74 Im Dickicht der Städte 154 Jasager, Der 118 Katzgraben-Notate 110 Kleines Organon für das Theater 39 131 207 Leben des Einstein 114 Leben des Galilei 91 103 114 150 223 Mann ist Mann 91 Manifest der Kommunistischen Partei 122 Maßnahme, Die 118 Messingkauf, Der 22 83 121 127 162 164 Me-Ti 119 120 239 Mutter, Die 106 108 170 Mutter Courage und ihre Kinder 103 141 150 155 156 183 219 Kundköpfe und die Spitzköpfe, Die 218 221 239 (Maß für Maß oder Die Salzsteuer; Reich und reich gesellt sieb gern) 219 239 Scbtvejk im zweiten Weltkrieg 141 Tage der Commune, Die 114 178 Trommeln in der Nacht 155 Tui-Roman 58, 132 Über Goethes Gedicht „Der Gott und die Bajadere" 154 Verurteilung des Lukullus, Die 124 Vorrede zu „Macbeth" 125
123
Was kostet das Eisen? 142 Brenner, Hildegard 254 Breughel, Pieter 157 Brod, Max 141 Bronnen, Arnolt 251 Budzislawski, Hermann 47 Büchner, Georg 117 Dantons Tod 203 Leonce und Lena 203 Woyzeck 203 Bunge, Hans 54 157 Camus, Albert 115 Carow, Erich 181 Caruso, Enrico 144 Caspar, Horst 192 Cervantes Saavedra, Miguel de 71 72 157 Chaplin, Charlie 147 148 Claudel, Paul 139 Curjel, Hans 228 Dahlke, Hans 117 123 Dessoir, Max 251 Diderot, Denis 71 72 128-133 Jacques le fataliste et son maitre 128 Paradox über den Schauspieler 130 Rameaus N e f f e 71 Salons von 1767 130 Diebold, Bernhard 28 Dietze, Walter 153 Dilthey, Wilhelm 25 Dimitroff, Georgi 43 48 Döblin, Alfred 15 134 135 162 163 Wallenstein 135 162 Dresen, Adolf 177 Dürrenmatt, Friedrich 116 Eckermann, Johann Peter Ehrenburg, II ja 111 Einstein, Albert 150
294
176
Eisenstein, Sergej
143 146
Eisler, Gerhart 253 Eisler, Hanns 30 43 44 48-51 55-57 60 66 67 89 104-106 115 134 138 151 152 157 158 168 170 176 177 218 228 229 235 253 256 Engels, Friedrich 68 148 184 236 245 Erpenbeck, Fritz 225 Fadejew, Alexander 109 110 112 113 Neunzehn, Die 113 Junge Garde, Die 110 Farquhar, George 116 Fedin, Konstantin 109 Feuchtwanger, Lion 30 46 53 90 101 102 107 116 134 155 256 Fichte, Johann Gottlieb 153 Fielding, Henry 71 Forster, Rudolf 251 Fradkin, Uja 130 Frank, Bruno 46 Frank, Leonhard 116 Freytag, Gustav 116 Frisch, Werner 154 250 257 259 Fritsch, Thomas von 261 Furmanow, Dimitri 109 Gallas, Helga 252 Gay, John 115 George, Stephan 71 139 167 Gide, André 224 Batbseba 11 Prozeß, Der 224 Gladkow, Fjodor 113 Zement 113 Goebbels, Joseph 47 57 Goethe, Johann Wolfgang 7 14 25 26 39 49 70 71 94 116 149 152-155 157 158 161 166-176
295
178-181 184 185 203-206 215 216 237 259 'Panzerkreuzer Aus meinem Leben (Dichtung und Wahrheit) 171 Briefwechsel mit Schiller 158 174 175 Bürgergeneral, Der 203 Campagne in Frankreich 175 Egmont 206 215 216 Faust 31 141 155 177-179 181-183 203 207 208 210 Götz von Berlichingen 203 Hans Wursts Hochzeit 180 Iphigenie 203 Pandora 166 Tasso 177 Leiden desjungen Werthers, Die 165 Wahlverwandtschaften, Die 165 Urfaust 152 158 168-170 173 177-180 182 183 Wilhelm Meister 113 Goncourt, Edmond und Jules de 98 Gorki, Maxim 108 116 145 Gottsched, Johann Christoph 116 Grieg, Nordahl 116 Grimm, Reinhold 118 120 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 116 155 Landstörzerin 156 Grün, Karl 184 Gundolf, Friedrich 25 28 Gutschmid, Christian Gotthelf 261 Hacks, Peter 91 Härtung, Fritz 172 Härtung, Günter .155 156 Hasek, Jaroslav 115 140 141 Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkriegs 140 141 Hauptmann, Elisabeth 115 118 Tonika (Übers.) 118
Hauptmann, Gerhart
11 19 39 99
186
Rose Bernd 11 19 Hay, Julius 106-108 Haien 107 108 Hebbel,Friedrich 11, 15 116 228 Hecht, Werner 249 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7 59 69 150 184 185 204 Geschichte der Philosophie 150 Heine, Heinrich 7 152 167 184185 Heinrich XLV. Erbprinz Reuß 251 Heinz, Wolfgang 177 Hellberg, Martin 210 Hemingway, Ernest 102 Herder, Johann Gottfried 62 64 153 Hitler, Adolf 44-47 90 Höflich, Lucie 251 Hölderlin, Friedrich 49 68 155 158 167 186 221 222 227-229 Gang aufs Land, Der 229 Holz, Arno 13 Horaz, Flaccus 121 Horkheimer, Max 55 56 254 Hube, Ernst 144 Hultberg, Helge 125 Ibsen, Henrik 19 65 99 100 Gespenster 19 Jagemann, Karoline 171 Jean Paul d. i. Jean Paul Friedrich Richter 153 Jessner, Leopold 24 27 37 251 Jhering, Herbert 23 26 27-30 33 62 136 195 Joyce, James 137 138 Kafka, Franz 59 71 116 137 138 224 Kaiser, Georg 11 22 116 134-138 Kämpf, Alfred 237 238
296
Kanehl, Oskar 13 Kant, Immanuel 235-237 Zum ewigen Frieden 236 Karge, Manfred 210 Karl August, Herzog 171 Karsten, Julius 171 Kautsky, Karl 66 Keller, Gottfried 113 152 Der grüne Heinrieb 113 Kesten, Hermann 103 Kipling, Joseph Rudyard 103 Kisch, Egon Erwin 13 Klabund d. i. Alfred Henschke 116 251 Kleist, Heinrich von Prinz V0H Homburg 208 Knebel, Karl Ludwig von 122 Konfu-tse 169-171 237 Lun-Jü 169 Kortner, Fritz 251 Kuba d. i. Kurt Barthel 116 Kuczynski, Jürgen 241—243 Lampel, Peter Martin 136 Revolte im Er^iebungsbaus 136 Langhoff, Matthias 210 Langhoff, Wolfgang 204-207 •Eg/BW»/-Inszenierung 206 207 Lehrmann, Dr. 250 Lenin, Wladimir Iljitsch 68 75 86 89 99 148 150 207 215 Lenz, Jakob Maria Reinhold 72 115 229-234 238 Hofmeister, Der 208 230 235 Lessing, Gotthold Ephraim 65 115 159 174 Emilia Galotti 203 Nathan der Weise 189 Livius, Titus 123 Lukäcs, Georg 23 46 52—58 67-76 98 108 116 137-139 165 167-169 172-174 185 190 191 253
Odets, Clifford 106 Paradise lost 106 Olivier, Laurence 200 Ottwald, Ernst 144
Lukrez 116 122 Lunatscharski, Anatol 37 Luther, Martin 116 134 Mäde, Hans Dieter 210 Mahler, Gustav 193 Majakowski, Wladimir 111 113 143 Mann, Heinrich 46 52 53 102 105 Mann, Thomas 10 46-49 52 53 94 101-106 113 114 180 Buddenbrooks, Die 113 Zauberberg, Der 105 Marcuse, Herbert 52 54—69 74 Marcuse, Ludwig 46 55 60 Marlowe, Christopher 30 116 Eduard II. 30 Marx, Julius 137 Marx, Karl 7 56 57 60 66 89 132 148 150 184 185 199 202 236 245 Deutsche Ideologie 236 Kapital, Das 89 Matkowsky, Albert 34 Mayer, Hans 41-43 51 172 Me Ti 120 121 Mehring, Franz 13 37 Menzel, Wolfgang 184 Meyerhold, Wsjewolod 116 143 144 Mierau, Fritz 143 Molière d. i. Jean-Baptiste Pouquelin 116 153 239 Don Juan 221 239 Mommsen, Wilhelm 172 Napoleon Bonaparte 184 Neher, Caspar 259 Nietzsche, Friedrich 52 66 71 Obermeier, Karl Walter 257 259
154 250
Pfanzelt, Georg 259 Pieck, Wilhelm 41-44 Piscator, Erwin 24 27 30 37 38 141144209 210 R«»fcr-Inszenierung 27 30 37 209 Planck, Max 88 Piaton 136 Plechanow, Georgi 85 87 Plutarch 115 123 242 Pollok, Friedrich 55 Possart, Ernst [Ritter von] 259 Proust, Marcel 137 138 Rabener, Gottlieb Wilhelm 261 Reichenbach, Hans 46 55 Reimann, Hans 141 Reimann, Paul 174 Reinhardt, Max 24 26 144 200 Rilla, Paul 25 231 238 Rimbaud, Jean-Nicolas-Arthur 117 Rülicke-Weiler, Käthe 143 146 Scherer, Wilhelm 25 26 28 Schiller, Friedrich 11 15 30 34 38 39 49 71 83 92 116 133 149 154-156 158-164 166 167 174-176 185 203 210 222 229 250 Braut von Messina, Die 164 176 Briefwechsel mit Goethe 158 Demetrius 203 Don Carlos 11 34 Jungfrau von Orlean, Die 155 Kabale und Liebe 155 Räuber, Die 154 203 210
297
Schiller, Friedrich Wallenstein 31 83 92 135 156 162-165 196 203 214 Wilhelm Teil 203 Scholochow, Michail 109 111 112 Schürer, Ernst 135 137 Schumacher,Ernst 16 91 134 Seghers, Anna d. i. Netty Radvaniy 106 109 siebte Kreuz, Das 106 Shakespeare, William 15 18 19 39 65 87 116 117 125-128 133 136 151-153 185 200 201 203 213 218 219 221 239-243 Coriolan 127 239-241 Hamlet 192 193 208 Heinrieb V. 200 König Lear 19 Maß für Maß 218 Sinclair, Isaak von 11 Sophokles 115 221-223 Spielhagen, Friedrich 103 Spengler, Oswald 179 Stalin, Josef W. 253 Stanislawski, Konstantin S. 67 112 151 204 205 Steffin, Margarete 108 124 Steigerwald, Robert 60 61 Steinbeck, John 106 256 Früchte des Zorns 106 Steinrück, Albert 196 Stendhal d. i. Marie Henri Beyle 98 Stern, Otto 55 57 Sternberg, Fritz 124 134 Strawinsky, Igor 30 Ödipus Rex 30 Streicher, Adreas 159 Schillers Flucht aus Stuttgart 159 Strindberg, August 65 98 Strittmatter, Erwin 183 Katzgraben 183 Swift, Jonathan 72
Sudermann, Herrmann 107 Sueton, Tranquillus 123 124 Thompson, Dorothy 47 Tillich, Paul 47 Togliatti, Palmiro 43 Tolstoi, Alexej 68 71 75 98-100 109 Tolstoi, Lew 52 Tracy, Spencer 106 Tretjakow, Sergej 113 143 144 Brülle, China 144 Ich mil ein Kind haben 144 Wir machen die Erde satt 145 Tschechow, Anton 99 100 151 Unruh, Fritz von
251
Valentin, Karl 147 Vallentin, Maxim , 205 210 Yergil Marco, Publius 116 122 Verlaine, Paul 117 Viertel, Bertold 186 251 Villon, François 103 117 Völker, Klaus 47 Voltaire d. i. François-Marie Arouet 72 Voß, Johann Heinrich 122 Wagner, Heinrich Leopold 116 Wangenheim, Gustav von 189 192 Wassermann, Jakob 251 Wedekind, Frank 103 114 Weinert, Erich 116 Wekwerth, Manfred 179 181 182 212 243 Werfel, Franz 102 Whetstone, George 218 Winge, Hans 55 Wischnewski, Wsjewolod 143 Wisten, Fritz 189 Witzmann, Peter 117 121 298
Wolf, Friedrich 12-14 29 116 Wolff, Christian 235 Wuolijoki, Hella 116 Wurmb, Friedrich Ludwig 261
Zeraffa, Michel 128 Zola, Emile 98 100 116 214 Zweig, Arnold 102