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German Pages 151 [297] Year 2022
Kinde vMähechen. Bon
C. W. Contessa, Friedrich Baron de la Motte Fouque und
C. T. A. Hoffmann.
Neue Auflage.
Mit sechs iUuminirten und sechs schwarzen Vignetten nach Zeichnungen von E. T. A. Hoffmann.
D erlin, gedruckt und verlegt bei G. Reimer.
1839.
Inhalt.
1. Da« Gastmahl. Von E. W. Contessa................... Seite 2. Die kleinen Leute. Von Friedrich Baron de la Motte gouque................................................................... — 3. Nußknacker und Mausekönig. Von E. T. 2C. Hoffmann. — 4. Das fremde Kind. Von E. T. 2L Hoffmann. . . — 5. Das Schwerdt und die Schlangen. Von E. W. Con tessa. . — 6. Die Kuckkasten. Von Friedrich Baron de la Motte gouque................................................................... —
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1
Das Gastmahl. In einem anmuthigen Thale, nicht weit von dem Fuß eines ho hen Gebirges, findet sich ein ansehnliches Freigut, gewöhnlich der
Waldhof
zubenannt,
weil eS
einsam
und
abgesondert an dem
Saume eines mächtigen Waldes liegt, der von dem Gebirge herab kommt und zu beiden Seiten des Thals eine gute Strecke hinlauft,
als wollt' er es mit den grünen Armen liebreich umfangen. Dieser Waldhof gehörte vor nicht gar langer Zeit einem wackern Manne, Namens Arnold.
Der lebte hier mit seinem Weibe und
einem Häuflein guter frommer Kinder schon manches Jahr.
Alles
gedieh und blühte unter seinen Händen, und willig hätte man fast diesen Erdenwinkel für ein wohlbewahrtes Stück des verloren ge
gangenen Paradieses gehalten. Wunsch in seinem Gemüthe,
Auch trug Arnold keinen höhern
als daß alles nur immerfort also
Bestand haben möchte. Doch das war im Himmel anders beschlossen.
kam ins Land.
Der Krieg
Da gings dem armen Arnold gar übel.
Seine
Felder wurden verwüstet, feine, Heerden mit fortgeschleppt,
Haus ward geplündert. —
sein
Zwar gedieh es bald darauf wieder
zum Frieden, und Arnold dachte: was seyn soll, das schickt sich
1
2 wohl! —
Lieh sich eine bedeutende Summe auf sein Gut, und
ersetzte das Verlorne, so gut es gehn wollte; allein der Sonnen blick war nur von kurzer Dauer.
Der Krieg schlug von neuem
los, von neuem kam Arnold um all das Seinige, und war nun, bis auf ein Weniges, das er geborgen, ein ganz armer Mann. — Sein harter Gläubiger, dem er keine Zinsen mehr zahlen konnte,
machte Anstalten, ihn von Haus und Hof zu vertreiben;
er sah
mit schwerem Herzen den Tag schon ganz nahe vor der Thür, an welchem
er seinem Paradiese Valet sagen
und
auf immer den
Rücken wenden sollte.
Arnold aber war ein rechter Mann, der sich von keinem Un glück, das er nicht selbst verschuldet, gänzlich zu Boden drücken
ließ.
Und so dachte er auch hier bald wieder: was seyn soll, das
schickt sich wohl!
und schaute voll Vertrauen auf Gott, auf sich
und auf die Seinigen in das neue Leben hinaus, welches er jetzt beginnen mußte.
Mit freundlichem Gesicht trat er am vorletzten Tage vor der Abreise in die Stube, wo seine Frau, ihr jüngstes Kind aus dem
Schooße, still vor sich hinweinend in einem Winkel saß, und sprach zu ihr: „Elsbeth, ich bin nun fertig mit dem Leid; nun denk ich mich noch einmal zum Abschied meines Eigenthums und Be sitzes zu erfreuen, und will nicht in der Stille und bei Nacht und
Nebel mich von dannen schleichen, als hätt' ich was Uebles ver schuldet.
Drum rüste Dich nur immer flink auf Morgen, liebes
Weib: da giebts noch einen tüchtigen Abschiedschmaus.
her, was Du noch hast.
Gieb alles
Wir wollen reines Haus machen."
3 „Wie magst Du jetzt wohl scherzen," sprach Elsbeth ernst,
„und hast Deine armen Kinder doch vor Augen!" —
Sie warf
dabei einen Blick durch das Fenster nach dem Hofe, wo die Kinder
unbekümmert und lustig wie sonst die gewohnten Spiele trieben. „Scherzen?" entgegnete Arnold.
„Mit Nichten, liebe Frau!
Es ist mein wahrer, klarer Ernst mit dem, was ich gesagt.
Ich
gebe morgen einen Abschiedschmaus.
Er ging mit diesen Worten an das Fenster und schaute nach den Kindern.
„Es hat jedes Ding seine Zeit," hub er an.
„Man muß
weder das Leid, noch die Freude gänzlich Herr über sich werden lassen.
Und was die da draußen betrifft, so darf uns, mein' ich,
nicht bange seyn nm sie.
Sie haben von uns beten und arbeiten
gelernt, und werden es fürder lernen: beides zusammen aber macht ein seines Capital zum Anfang in jeglicher Handthierung."
Er öffnete das Fenster und rüste die beiden ältesten von den Kindern herbei.
„Gleich, Vater!" antwortete Wilibald, und legte schnell das
Messer bei Seite, womit er für die jüngern Brüder eben eine Armbrust schnitzte. „Gleich, lieber Vater!" ließ sich Annens Stimme ebenfalls
hören. „Wo steckt das Mädchen denn?" sagte Arnold verwundert,
und sah sich um. — „Ei, schalt doch, Elsbeth," fuhr er fort, und zeigte nach dem
Wipfel einer großen Linde, die mitten im Hofe stand, „da hat sich 1 *
4 unsre stille Anna wieder ein recht feines Plätzchen auserwählt!" — Elsbeth sah hin.
Anna stieg eben auf einer kleinen Treppe, wie
eS schien, die zwischen den Iweigen angebracht war, leicht und
sicher herab. „Das ist wohl recht des Vaters Tochter zu nennen!" sprach
Frau Elsbeth.
„Das Mädchen hat doch von jeher immer etwas
Besonderes haben müssen."
„Laß sie nur!" lächelte Arnold.
„Das ist mitunter auch
nicht übel im Leben, und bewahrt vor manchem.
Ist sie doch gut
und fromm dabei wie ihre Mutter." Die Kinder traten herein. — „Wie bist du da hinaufgekom men, Anna?" fragte der Vater.
„Wilibald hat mir eine Treppe hinauf, und oben einen schö nen Sitz gebaut!" — entgegnete sie.
„Sie hat sichs so oft gewünscht," fuhr Wilibald fort, „daß
sie da oben sitzen möchte wie ein Vogel — da wollte ich ihr doch noch die Freude machen, ehe wir fortreiscn." grau Elsbeth wandte sich schnell ab und verhüllte ihr Gesicht.
Auch Vater Arnold sah eine Weile ganz ernst drein.
Endlich fuhr
er mit der Hand langsam über die Stirn, setzte sich in fernen Lehn stuhl , zog drauf die beidey Kinder zu sich und küßte sie.
Dann
gab er ihnen seinen Auftrag,' und hieß sie bereit seyn, nach Reimers
hau zu gehn, und dort seine alten Freunde, den Amtmann und den
Oberförster
einzuladen mit Werb und Kind auf Morgen
Abend zum Abschiedschmaus.
Seinen Knecht Gottwalt, fügte er
hinzu, — den einzigen, der ihm noch übrig war — wolle er in-
deß mit gleichem Geheiß hinab ins Städtchen senden zu den bei den Vettern. Elsbeth unterbrach ihn und rief: „Die beiden Kinder willst Du durch den Wald schicken, heute, und so ganz allein?" „Warum nicht?" erwiederte Arnold. „Sie machen-ja den Weg nicht zum ersten Male. In einer Stunde sind sie drüben. Die Sonne steht noch hoch am Himmel; so können sie gar bequem wieder hier seyn, ehe sie untergeht." „Es ist morgen Quatember!" rief Elsbeth. Um diese Zeit ist es niemals ganz geheuer in dem Walde." Arnold lächelte. „Die Leute, die dort in dem Walde Hausen, halten gute Nachbarschaft mit uns. Sie werden den Kindern nichts zu Leide thun." Wilibald und Anna waren über indeß schon fröhlich hinaus gesprungen, jener, um Stock und Jagdtasche, diese, um ihr Körbchen zu holen, und traten jetzt, zur Reise gerüstet, freundlich vor die Mutter hin. Frau Elsbeth versorgte kopffchüttelnd Lasche und Körbchen mit dem Veßperbrod, fügte zwei Tücher hinzu, zum Um binden in der kühlen Abendluft, und gab dann mit dem Vater den Kindern das Geleit bis vor das Hofthor, wo beide ihnen nach schauten, wie sie den Fußsteig über die grüne, sonnige. Wiese rüsch und lustig Hinschritten, bis sie endlich in den Waldschatten traten, und bald darauf hinter den Bäumen verschwanden.
Es war kühl und ergötzlich in dem Walde. Wilibald und Anna gingen mit Lust in die grünen Schatten hinein, und hatten
6 ihre Freude an dem Hellen, halb durchsichtigen Laubgewölbc der
alten Buchen über ihnen, und an den runden goldnen Lichtflecken,
die auf dem Moosteppich zu ihren Füßen hin und wieder spielten. Dazwischen horchten sie, wie die Vögel sangen und wie der Baum
specht cklopfte, daß es weithin wie die Schläge einer Art durch den Wald schallte.
Auch blieben sie wohl von Zeit zu Zeit stehen, um
das leise Rauschen in den Baumwipfeln zu vernehmen, das ihnen
vorkam, wie die Waldstimme, dir ihnen gern etwas Geheimniß volles vertrauen möchte, wenn sie nur die Sprache recht verständen. So schlenderten sie mit einander lustig und rrcht wohlbehaglrch
hin, und wurden es kaum gewahr daß sie schon sehr lange gegan gen waren, und der Wald sich noch gar nicht lichten wollte.
Viel
mehr traten die Bäume immer dichter und näher an den Weg. Wilibald bemerkte endlich zuerst, daß die Sonne schon sehr
tief stand; und als sie nun genauer um sich schauten, wurden sie freilich inne, daß sie auf einem ganz falschen Wege waren.
Nach
Wilibalds Meinung mußten sie zu weit links gegen das hohe Ge birge hin gegangen seyn. Sie beschlossen wieder umzukehren, denn die rechte Straße war
unmöglich weit entfernt.
Allein sie gingen und gingen, und je
werter sie gingen, desto rauher wurde der Weg, desto wilder und unbekannter die Gegend.
Keins von ihnen wußte sich zu erinnern,
daß es jemals hier gewesen wäre. Da fing ihnen doch an zu bangen. lich und verlegen an. —
Sie sahen einander ängst
Wilibald kletterte endlich auf eine hohe
Tanne, und dachte sich dort oben umzusehen und zurecht zu finden.
7 Jedoch er sah von allen Seiten nichts als Wald, und überall Wald, und Wald ohne Ende.
Nicht weit von ihnen aber gewahrte er
eine himmelhohe Felsenwand; die meinte er nun zu ersteigen, und aus dem Gipfel eine Aussicht zu gewinnen.
So kletterte er schnell
wieder hinunter und schritt mit seiner Schwester darauf zu.
Es dauerte auch gar nicht lange, so standen sie davor.
Doch
zwischen ihnen und der Felswand, wie sie nun erst sahen, rauschte
und tobte ein wilder Bergstrom über große Steinblöcke hin.
Ver
gebens liefen die beiden Kinder an dem Ufer hin und her, um ir gendwo eine Stelle zu finden, wo sie hinüber kommen möchten; zu wild und reißend war der Strom, zu weit entfernt von einander
lagen überall die Felsblöcke in seinem Bette.
Ueber dem Hinundwiederlaufen aber hatten sie am Ende auch
den Weg verloren, auf dem sie hergekommen waren.
Alles Suchen
war umsonst; er schien auf einmal ganz verschwunden, und sie stan
den nun beide recht trostlos an dem Ufer des wilden Baches, und
blickten schweigend hinab in die schäumenden Wogen. Wilibald, der sonst so muthig war, hub endlich mit leiser und
kleinlauter Stimme an und fragte: „was soll nun aus uns wer den?"
Dabei sah er seine Schwester traurig an, und die Thränen
stürzten ihm aus den Augen.
Doch Anna streichelte ihm die Wan
gen und sprach: „Sei nur ganz ruhig, lieber Wilibald, und äng stige Dich nicht.
Wir sind überall in Gottes Hand, wie die Mut
ter sagt, so wird er uns auch hier nicht verlassen in der Einöde, die freilich recht wild und schauerlich ist.
Wir wollen indeß hier
8 an dem Ufer lang dem Wasser nachgehen; das muß uns doch irgend wohin und wieder zu Menschen führen."
„Mir ist nur bange um Vater und Mutter," sagte Wilibald,
indem er sich die Thränen von den Wangen wischte, „daß sie sich ängstigen um uns, wenn es Nacht wird."
Auf einmal, indem sie noch so sprachen, erschallte eS recht ver
nehmlich von jenseit des Stromes her: pst! pst! —
Sie blieben
stehn und schauten ein wenig bettoffen hinüber, allein kein mensch
liches Wesen war zu ersehen, und sie wandten sich zum Weitergehn. In dem Augenblick erschallte es noch lauter und vernehmlicher wie
derum: pst! pst! —
Sie blieben abermals stehen, und schauten
hinüber, und suchten mit den Blicken hin und hex; da wurden sie endlich ein kleines Männchen gewahr, welches aus einem Felsspalt
inmitten der großen Wand wie aus einem Fenster hervorguckte, und ihnen zunickte und winkte, hinüber zu kommen.
Da es aber
bald einsehn mochte, daß dies den beiden Kindern nicht möglich war, so machte es sich gleich selber auf den Weg, stieg ans Ufer
herab, setzte mit einigen flinken Sprüngen grad über dm Strom, und stand freundlich nickend vor ihnen. Wilibald konnte sich kaum des Lachens enthalten, als er die
wunderliche Gestalt genauer ansah.
Das ganze Männlein war etwa drei Fuß hoch;
die Halste
dieser Höhe nahm beinahe der ungeheure Kopf für sich hinweg, und schien eben so wie die beiden mächtigen Fäuste gar nicht zu
den übrigen spärlichen Gliedmaßen zu gehören.
Besonders war
kaum zu begreifen, wie es die zwei dünnen Sichelbeinchen anfingen,
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—
um die Last zu tragen. Zwei große tellerförmige Augen stierten weit aus dem Kopfe heraus. Ein unförmlicher, scharlachrothcr Fleischklumpen stellte die Nase vor, und war, als wie zur Zierde, mir großen Warzen besetzt, die so durchsichtig schimmerten und Wilibalden grade so vorkamen, wie die Granaten in Mutter ElSbethS Halsband. Die Kleidung des kleinen Mannes bestand auS einem grauen Bergmannskittel. In der Hand führte er einen star ken Spitzhammer. „Nun, meine Kinder," hub er mit gellender Stimme an, nachdem sie sich gegenseitig eine Weile betrachtet hatten, „woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?" Wilibald berichtete ihm, wohin sie gingen, was der Vater ihnen aufgetragen, und wie sie auf eine unbegreifliche Weise vom rechten Wege ab, und in diese Wildniß gekommen wären. Der Kleine lächelte, wiegte den großen Kopf von einer Schul ter zur andern, und sprach: „Nach Reimershau kommt ihr doch heut nicht mehr. Auch ist mirs nicht gelegen, und ich verbiet' eS euch. Auf daß es aber euerm Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen." Mit diesen Worten ging er ins Gebüsch hinein und winkte den Kindern, ihm zu folgen. Nach wenigen Schritten standen sie vor einem schmalen Fußpfade. Diesem hieß er sie nur immer nachgehen, er werde sie grad und sicher nach Hause führen. „Doch," fügte er hinzu, „so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, sagt ihm kein Wort von dem, was euch begegnet, son dern sprecht nur, die Gäste wären eingeladen."
10 Die großen Augen funkelten, indem er dieses sprach, so selt
sam , und seine Stimme gellte so gebieterisch,
daß Wilibald und
Anna kein Wort zu erwiedern wagten, sondern schnell auf dem an
gewiesenen Fußsteige fortschritten.
Als sie nach
einer Weile sich
umsahen, war das Männlein verschwunden.
Sie überlegten noch mit einander, wer der Kleine wohl ge
wesen sei,
und ob sie seinen Worten gehorchen sollten, da hörten
sie zu ihrer Rechten ein dumpfes Rauschen, und als sie gleich darauf
aus den Bäumen traten, sahen sie einen See zu ihren Füßen vor
sich liegen, der auf drei Seiten von hohen, hohen Bergen umgeben
war.
Die Bäume oben an den Gipfeln der Berge standen golden
in den letzten Strahlen der Abendsonne;
unten aber an dem Ufer
des Sees begann es schon zu dämmern.
Leichte Nebel stiegen aus
den Schluchten, doch schaute klar und freundlich noch der blaue
Himmel aus der dunkeln Flut herauf. Anna faßte Wilibalds Arm und flüsterte ihm zu: „Das ist gewiß der Bergsee, von dem uns der Vater oft erzählt! ” — Indem
gewahrte Wilibald eine Frau, die mitten auf der grünen Wiese unten am Ufer faß.
„Laß uns hinunter gehn!" sprach er.
„Viel
leicht kann uns die Frau berichten, ob es noch weit bis Reimers hau, und wo der Weg zu finden ist, daß wir des Vaters Gebot
doch noch vollbringen." Sie liefen hinab und wunderten sich beim Näherkommen gar sehr, als sie nicht eine Bäuerin, wie sie vermuthet, sondern eine gar
stattliche und schöne Frau im Grase sitzend fanden, die ihre langen blonden Haare mit einem Kamm von Gold und Perlmutter strählte.
11 „Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier, ihr hübschen Kin der?" begann die Frau, als sie beide verlegen vor ihr standen. Wilibald erzählte,
wie es ihnen ergangen, und brachte bescheiden
sein Begehr vor.
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Nach Reimershau," sprach
sie, „ kommt ihr doch heut nicht mehr. und ich verbiet' es euch.
Auch ist mirs nicht gelegen,
Auf daß es aber euerm Vater nicht an
Gasten fehle, so werd ich morgen Abend selbst mich bei ihm ein
stellen." —
Darauf zeigte sie ihnen die Berg^chlucht, wodurch ihr
Weg sie führte, und hieß sie unverweilt sich nach Haus begeben.
„Doch," setzte sie hinzu, „so lieb euch euer und eures Vaters Leben ist, sagt ihm kein Wort von dem, was euch begegnet, sondern
sprecht nur, die Gäste wären eingeladen."
Damit winkte sie ihnen
zu gehen, und Wilibald und Anna neigten sich höflich vor ihr
und gingen. „Das ist doch wohl sehr seltsam!" sprach Wilibald, als sie an die Bcrgschlucht kamen, und sah sich noch einmal nach der Frau
um, die aber nicht zu sehen war. —
„Wer sind die gestrengen
Herrschaften denn, die uns hier befehlen wollen?
Und warum sol
len wir denn durchaus nicht nach Reimershau?"
„Daran haben sie nun wohl für heute nicht ganz Unrecht," siel Anna ein; „denn sieh doch nur, wie finster es schon wird!
Wir können ja lieber Morgen früh hingehen.
Allein warum wir
dem Vater nichts sagen sollen —"
„Da ist ein Licht!" riefWilibald.
„Nun werden wir ja zu
vernünftigen Menschen kommen, mit denen sich ein Wort reden läßt."
12 Es schimmerte in der That ein Licht durch die Bäume, und bald noch eins und wieder eins, und immer mehrere, je weiter sie
gingen.
„Das ist ein großes Dorf!" sagte Anna.
Sie schritten munter darauf zu.
Bald standen sie im Freien.
Die Schlucht erweiterte sich.
Allein da war weit und breit kein
Haus, viel weniger ein Dorf zu sehen.
Wohl aber erblickten sie
seitwärts auf einer Wiese eine große Menge kleiner, blauer Flämmchen, die lustig hin und her und durch einander sprangen.
„Das sind Irrlichter!" flüsterte Wilibald.
„Laß uns nur
wohl aus den Weg merken, daß sie uns nicht irre führen." Indem sonderte sich eins der Flämmchen von den andern ab,
und kam husch! husch! über die Wiese her auf sie zu.
Je näher
r6 aber kam, desto mehr dehnte es sich aus, und ward immer
größer, doch zugleich auch immer unscheinbarer, bis es auf einmal dicht vor ihnen auf dem Wege stand; und da sahen sie nun deut lich, daß es gar kein Flämmchen oder Irrlicht war, sondern ein
wirklicher Mann von geringer Statur und bleichem Aussehn, da bei von einer so außerordentlichen Hagerkeit, Dünne und Schmäch
tigkeit der Glieder, daß es fast schien, als ob er sich vor dem Winde, der ziemlich'scharf über die Wiese strich, nicht recht aus den Beinen erhalten könne.
Wenigstens war er in beständiger
Bewegung, und hüpfte und wankte vor den Kindern herüber und
hinüber, ohne jedoch die Füße vom Boden zu erheben.
Mit einer sehr seinen und leisen Stimme begann er gleich
falls wieder das alte Sprüchlein: „Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?"
13 Wilibald mußte
zwar ein wenig lächeln über das
gar
zu
dünne und gefüge Herrlein, doch gab er ihm geziemenden Bescheid auf seine Fragen.
„Possen! Possen!" wisperte es darauf, schnell hin und her springend.
„Possen! mit euerm Reimershau!
nun einmal heut nicht mehr, auch morgen nicht.
gelegen, und ich verbiet' es euch.
Dahin kommt ihr
Es ist mir nicht
Auf daß cs aber euerm Vater
nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen."
„Dacht ichs
doch gleich," murmelte Wilibald, „daß es so
kommen würde!" „Doch fuhr jener fort, und hob den langen weißen Zeige
finger drohend empor, „so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist,
sagt ihm kein Wort von dem was euch begegnet,
sprecht nur, die Gäste wären eingeläden." —
sondern
Damit sprang er
flink über den Graben zur Seite des Weges, und lief schnell neben den Kindern her, die auf dem Fußsteige fortgingen, indem er sagte,
er wolle ihnen das Geleit geben bis an die Weiden dort. Als sie an die Weiden kamen, rief er: „He! he! Herr Nach
bar!
Wie stehts?
morgen Abend? „Wohl!
stimme.
Wollt Ihr
noch mit von der Partie
senn
Ich denke es soll lustig hergehn."
wohl!
gehe mit,"
antwortete eine dumpfe Baß
Sie schien den Kindern aus einem alten Weidenstamm
herzukommen, auf den sie zugingen; wie sie aber näher traten,
fing der Stamm an fich zu bewegen, und sie sahen nun, daß es
ein starker, untersctzter Mann war, der vor ihnen stand, mit ei-
14 nem langen Mantel um die Schultern und einer Krone auf dem Haupte.
„Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?" rief er die Kin der gleichfalls an. Wilibald brachte zum vierten Male seine Geschichte vor, ob
wohl mit einigem Stottern, denn die Baßstimme hatte ihn doch
etwas erschreckt. Reimershau!
Als er geendigt, brummte jener wieder:
Heut nicht,
Selber zu Gaste kommen.
umdrehen.
morgen
nicht!
Nichts
Mills nicht haben.
Aber nichts plaudern!
Sonst Hals
Punktum! Marsch!"
Das ließen sich Wilibald und Anna nicht zweimal sagen.
Sie
setzten sich vielmehr auf der Stelle, und mit großer Hast in Be wegung, und sahen sich nur unterweilen um,
ob der gestrenge
Herr Marschkommissarius ihnen nicht etwa auf den Fersen sey.
„ Nun wird mirs doch beinah zu toll! ” hub Wilibald endlich an,
und begann langsamer zu gehen. Volk hier im Gebirge.
„Das ist ja ganz absonderliches
Wer mochte der grobe Gesell wohl seyn?"
„Schweig nur ganz still!" sagte Anna. wären bald zu Hause.
hand.
Ich wollte,
wir
Die Finsterniß nimmt ja mit Macht über
Was soll das werden, wenn wir noch durch jenen Wald
müssen?" Ihr Weg führte sie aber richtig grade auf den Wald zu.
Doch ehe sie ihn erreichten, kam noch eine andre Straße von der
Seite her, durchschnitt die ihrige, und schien links an dem Saum
des Waldes hinzugehen.
Da war nun guter Rath nicht wohlfeil,
welcher von den beiden sie folgen sollten.
15 Und als sie noch so überlegend auf dem Kreuzweg standen, da ward es plötzlich laut im Walde!
Hundegebell und Jagdruf und
Hörnerklang ließ sich von weitem vernehmen, und kam näher und
näher und war jetzt ganz nahe bei ihnen, und rechts und links brach eS mit Macht durch das-Gebüsch, und zog an ihnen mit entsetzlichem
Getöse vorüber.
Sie konnten dabei nichts weiter sehen und unter
scheiden, als ein Gewimmel grauer Schatten, das sich in einiger Entfernung über und neben ihnen dahin wirbelte. Endlich kam ein Reiter auf einem schwarzen Rosse mit lau tem Hallo aus dem Walde gesprengt, hielt dicht vor ihnen still,
und schnarrte sie an: „Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?" — Wilibald hub an und wollte ihm berichten, allein die Erzählung
blieb ihm in der Kehle stecken; denn der Reiter hatte in seiner ausländischen Tracht mit der hohen Mütze auf dem Kopfe etwas gar Besonderes und Unheimliches, und die Augen des schwarzen
Rosses funkelten durch die Nacht wie glühende Kohlen.
Da nahm
Anna das Wort, und that ihm freundlich und gelassen kund, was
er zu wissen begehrte. „Ho, ho! Hallo!" schrie er, nachdem sie geendet.
„Wenn
ich euch rathen soll, so denkt nur nicht mehr an Reimershau, auch morgen nicht.
Ich wills nicht haben.
Auf daß es aber euerm
Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen.
Hussa! Hallo!"
Er spornte sein Roß an.
In geringer Entfernung aber hielt
er noch einmal still und rief: „Doch merkts euch wohl, so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, so plaudert nicht!"
Und
16 damit jagte er über den Anger hin, seiner tollen Jagd nach, die
sich noch von weitem vernehmen ließ.
Sie sahen ihm lange nach; endlich sprach Wilibald: „Hättest Du ihn nicht fragen können, welches der rechte Weg nach dem Waldhof ist?"
„Der Herr sah mir nicht aus wie Antworten!" erwiederte Anna.
„Laß uns nur in Gottes Namen immer gradaus gehen.
Das wird wohl das Beste seyn." —
ohne sich weiter
zu besinnen,
Und so gingen sie denn,
in Gottes Namen in den Wald
hinein.
In dem Walde aber war es mit der Finsterniß in der That
recht arg, und wurde immer ärger, je tiefer sie hinein geriethen. —
Bald hatten sie ganz den Weg verloren,
liefen mit der Nase
überall an die Bäume, und wußten gar nicht mehr, wohin sie sich
wenden sollten.
In diesem Angenblick der größten Noch zeigte sich
auf einmal an den alten Baumstämmen hin
und her flatternd
ein schwacher Lichtschimmer, der bald verschwand, bald wiederum
zum Vorschein kam.
Wilibald sprang hoch auf vor Freuden, um
armte seine Schwester,
und fing dann aus Leibeskräften an zu
schreien und zu rufen. Da ließ sich deutlich eine Stimme hören, die ihm antwortete, und gleich darauf kam ein großes Licht um eine Bergecke herum
gehuscht, und schnell auf sie zu. Im Anfang hielten es Wilibald und Anna für einen Mann
mit einer großen Laterne; dann däuchte es ihnen wie ein bren nendes Strohbund, und endlich, als es ihnen mehr zur Seite war,
17 sahen sie, wie es ganz die Gestalt eines dicken Mannes hatte, nur
daß er über und über leuchtete wie ein Johanniswurm, das breite
Gesicht ausgenommen, welches aber an sich von einer so hochrothen
Farbe war, daß es gleichfalls beinah aussah, als ob es brennte. „Guten Abend, guten Abend, meine Kinderchen!" rief ihnen der Mann über einen Bach herüber zu, den sie nun erst in ihrer
„Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?"
Nähe bemerkten.
Wilibald erzählte wieder, und bat dann,
er möchte ihnen
doch ein wenig leuchten, damit sie durch diese Finsterniß den Weg nach Hause fänden.
„Recht gern, recht gern, meine Kinderchen!" sagte der dicke Johanniswurm.
„Wir werden bald da seyn.
Aber den einfäl
tigen Gang nach Reimershau gebt nur ganz auf. nicht gelegen. hen denn heut.
Der ist mir
Es möchte euch wohl auch morgen nicht besser ge Auf daß es aber
euerm Vater nicht an Gästen
fehle, so werde ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen."
Während dieses Gesprächs war er immer, ohne sich aufzu
halten, flink weiter geschritten; und obwohl die beiden Kinder im Anfang ein leises Grauen anwandclte vor der wunderlichen Er scheinung, so beruhigte sie doch bald wieder sein freundlich zutrau
liches Wesen, und sie folgten ihm dreist und munter nach, beson
ders da sie hörten, daß es nicht mehr weit nach Hause sey. Sie hatten auch wirklich kaum einige hundert Schn'tte noch
zurückgelegt, da traten sie aus dem Walde heraus auf einen freien Plan, den sie alsbald in höchster Freude für die große Wiese hin
ter ihrem Hause erkannten.
L
18 „Nun, meine Kinderchen/' rief ihr Begleiter, „nun braucht ihr mich nicht mehr.
so
Gute Nacht!
Doch laßt es euch gesagt seyn,
lieb euch euer und euers Vaters Leben ist,
kein Wort von
dem was euch begegnet! sondern sprecht nur, die Gäste wären ein-
gelahen. Er
drehte
sich um,
und war
bald
mit
einigen
tüchtigen
Sprüngen im Walde verschwunden. Wilibald und Anna eilten nun auf das Haus zu; doch wur den sie unterwegs noch einig, den Eltern wenigstens vor der Hand ihre Abenteuer zu verschweigen.
Denn, meinte Anna, so ungern sie
es auch thue, so sey dcch mit dem wunderlichen Volk im Walde wohl nicht gut zu spaßen. Ahr« Ankunft brachte in dem Waldhof gar große Freude mit.
Man war bei der einsinkenden Nacht schon sehr in Sorge gewesen um sie, und eben hatte der Vater die Laterne angezündet und seine
Büchse
über die Schulter gehängt,
und wollte ausgehn sie zu
suchen. Von allen Seiten wurden sie nun mit Fragen bestürmt, warum
und wo sie so lange sich aufgehalten hätten, und was der Ober förster und der Amtmann denn gesagt?
Doch Anna nahm ihren
Vater bei der Hand und bat ihn leise, er möchte sie nur heut nichts
weiter fragen, denn sie könnten ihm doch nicht antworten; er werde alles schon zu seiner Zeit erfahren.
Arnold schaute seiner Tochter verwundert in die Augen; da sie ihn aber so bittend ansah, küßte er sie schweigend auf die Stirn, wandte sich dann zur Mutter und sprach:
„Die Kinder sind sehr
19 müde, liebe Mutter.
Laß sie zu Bette gehen.
Sie werden uns ja
das Alles morgen wohl erzählen."
Am andern Morgen, da es nun doch einmal nicht anders sein
sollte, war Mutter Elsbeth schon sehr frühzeitig bei der Hand, und rührte sich geschäftig, auf daß sie mit dem Abschiedschmaus noch Ehre einlegen möchte bei den werthen Gästen. Es ward Kuchen gebacken von zweierlei Art und Gestalt z das
wenige Geflügel, das sich erhalten hatte auf dem Hofe, mußte ohne Barmherzigkeit sein Leben lassen, und da dies nicht hinreichend schien, ward Vater Arnold mit der Flinte hinausgeschickt, um schnell noch
einen Braten in die Küche zu schaffen, überdies das ganze Haus vom Boden bis zum Keller überall durchstöbert, um alles noch
etwa Brauchbare in Beschlag zu nehmen für das Fest. Ueber diesen Geschäften aber vergaß Frau Elsbeth die Fragen
ganz, die sie für Wilibald und Anna noch seit gestern in Bereit schaft hatte.
Von Reimershau war heut nicht weiter die Rede: sie
setzte die Ankunft des Amtmanns und des Oberförsters als gewiß
voraus, und hatte keine andere Sorge, als daß Gottwalt, der
Knecht, bis jetzt noch immer vergeblich auf sich warten ließ, ob er gleich außer der Nachricht von den Vettern noch verschiedenes an
Gewürz, Citronen und dergleichen aus der Stadt mitbringen sollte. Wilibald und Anna sahen den festlichen Anstalten, wie die
andern Kinder, mit Vergnügen zu, und legten treulich mit Hand
an, wo sie konnten. wenig zu klopfen,
Dennoch begann ihnen jedesmal das Herz ein sobald sie an den Abend sammt dem Ausgang
2*
20 dachten, den dies Alles nehmen würde, und sie warfen einander oft verstohlen bedeutende Blicke zu.
Unter diesem Treiben rückte endlich der theils herbeigewünschte, theils gefürchtete Abend wirklich heran.
Der Wald warf schon
sehr lange Schatten' über die Wiese, die fernen Berggipfel standen
in violettem Schimmer; in der Küche loderte und knackte das Feuer auf dem Heerde schon seit zwei Stunden, und Vater Arnold war
schon zweimal auf dem Hügel hinter dem Hause gewesen und hatte
mit Verlangen ausgeschaut nach den Gästen.
Aber die Gäste ka
men noch nicht.
Und schon lagen Wiese und Wald in tiefen Schatten, schon
bedeckte ein grauer Nebeldust das ferne Thal, und die Berggipfel leuchteten noch mit dunkelrothem Schein herüber;
auch Mutter
Elsbeth hatte schon dreimal den Kopf zur Thüre hereingesteckt und versichert, daß der Braten ganz verbrennen würde, wenn die Gäste
nicht bald kämen.
Aber die Gäste kamen noch immer nicht.
Endlich war es ganz Nacht geworden. Lisch.
Die Magd deckte den
Die jüngern Kindern fragten ungeduldig einmal über das
andere nach dem Essen.
Arnold befahl die Lichter anzuzünden, in
dem er verdrüßlich in der Stube auf und nieder ging, und Frau Elsbeth wollte eben, aus der Küche kommend, Wilibalden und seine Schwester ernstlich vernehmen, auf welche Weise sie ihren Auftrag gestern ausgerichtet, und was der Amtmann und der Oberförster denn eigentlich darauf erwiedert hätten; — da gings auf einmal
an der Thür ganz leise: poch, poch, poch! — Wilibald und Anna
sahen sich ängstlich an, und das Herz hämmerte ihnen gewaltig an
ri die Brust.
Und als der Vater: Herein! rief, und hineilte, die
Thür zu öffnen, da trat ein kleines Männchen herein mit einem mächtig großen Kopfe, welches die beiden Kinder sogleich erkannten, trotz der zierlichen Perücke von Steinflachs*), die es aufgestülpt
hatte.
Außer dieser trug es heut auch ein braunes Röcklein mit
großen goldnen Knöpfen, und seine Weste war ein wahres Pracht stück,
gleichfalls von Asbest künstlich
verfertigt,
und
statt der
Knöpfe mit einer doppelten Reihe kostbarer Steine besetzt.
Der Kleine
begrüßte Arnolden und
seine Frau mit einem
freundlichen: Glückauf! gab sich als den Oberberg- und Hütten
inspektor Bergmann
zu
erkennen,
und bat,
die Dreistigkeit
zu entschuldigen, mit der er so gradezu hereintrete z er habe sich verirrt in dem Gebirge, sei von der Nacht überfallen worden, und
herzlich froh gewesen, als er hier endlich Licht und eine menschliche Wohnung entdeckt, allwo er jetzt um gütige Aufnahme bitten wolle.
Arnold hieß ihn freundlich willkommen, und ersuchte ihn, sich indeß auf der Ruhbank niederzulassen, welche die eine Seite des
Zimmers einnahm. Er hatte sich aber kaum niedergesetzt, da ging es wiederum
an der Thür ganz leise: poch, poch, poch! und als Arnold: Herein! rief, und hineilte, sie zu öffnen, da trat eine stattliche Frau herein, vom Kopf bis zu den Füßen in einen faltenreichen Schleier gehüllt,
die Wilibald und Anna gleichfalls auf den ersten Blick erkannten. Sie neigte sich höflich gegen Arnold und Elsbeth, kündigte
[) Amianth, biegsamer Asbest.
LL sich du eine Frau von Wasserleben an,
welcher auf der Reise
nach dem Bade nicht weit von hier der Wagen zerbrochen sei, und bat um Erlaubniß, so lange hier verweilen zu dürfen, bis derselbe nothdürfcig wieder hergestellt worden sei.
Arnold hieß sie freundlich willkommen, bot seine Dienste bei
dem zerbrochenen Wagen an, und da sie diese durchaus ablehnte, ersuchte er sie,
unterdessen auf der Ruhebank neben dem Herrn
Oberberg- und Hütteninspektor Platz zu nehmen. Sie hatte sich aber, nach höflicher Begrüßung des Letzter»
kaum neben ihm niedergelassen, da gings von neuem an der Thür
ganz leise: poch, poch, poch!
und als Arnold: Herein! rief, und
mit einiger Verwunderung hinging, sie zu öffnen, da huschte flink und g^chmridig ein gar dünner und schmächtiger Herr ihm ent
gegen, sprang mit vielen seltsamen Bücklingen vor ihm und seiner
Frau hin und her, und bat mit einer sehr feinen Stimme um Ver
zeihung, daß er so gradezu gehe,, er sei der Professor Irrlicht,
habe sich beim Botanisiren im Gebirge ein wenig verspätigt, nehme sich die Freiheit, um
und
eine kleine Erfrischung zu ersuchen,
da et noch einen weiten Weg vor sich habe. Wilibald und Anna erkannten auch diesen Freund von gestern
auf den ersten Blick, ob er sich gleich, dem Fest zu Ehren, wie es schien,
auf eine ganz besondere Weise herausgeputzt hatte. —
Er
trug einen leberfarbenen Rock mit silbernen Knöpfen, eine himmel
blaue Weste, und schwefelgelbe Beinkleider, in der einen Hand einen
langen Stock, in der andern, so wie vor der Brust im Knopfloche, einen großen Strauß von allerhand Sumpfpflanzen,
und von sei-
23 nem Kopfe stieg ein hohes, wunderlich in einander gewirrtes Tou
pet, einer Flammenspitze ähnlich, in die Lust empor. Arnold mußte selber lächeln über die seltsame Gestalt, doch hieß er den Herrn Professor freundlich willkommen, ersuchte ihn
indeß neben der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberbergund Hütteninspektor Platz zu nehmen, und gab seiner Frau einen
Wink, für die unvermutheten Gäste Sorge zu tragen. Der Herr Professor hatte sich aber noch nicht niedergcsetzt, und Frau Elsbeth das Zimmer noch nicht verlassen, da ging es
schon wieder an der Thür, doch diesmal sehr laut und vernehmlich:
Poch, poch, pochl —
Und als Arnold: Herein! rief, und mit
einem leisen Kopfschütteln hinging, zu öffnen, da kam von einer tiefen Baßstimme ein lautes: guten Abend!
durch die Thür, und
hinterdrein ein starker, untersetzter Mann von etwas verwildertem
Ansehn, in einem grauen Rock mit mächtigen, goldbrokatenen Auf schlägen nach uralter Mode, auf dem Kopf eine große ziemlich
zerzauste Allongenperücke und einen kleinen dreispitzigen Treffenhut. An der Baßstimme und an der langen Habichtsnase erkannten Wilibald und Anna mit einig-m Schreck den gestrengen Herrn Marsch-
kommissarius von gestern Abend, obgleich Krone und Mantel fehlten.
Er begrüßte Arnolden mit einem herablassenden Kopfnicken, kündigte sich als den pensionirten General Erlkönig an, und gab
in kurzen Worten den Wunsch zu erkennen,
auf seiner Reise hier
zu übernachten. Arnold hieß ihn, trotz seiner steigenden Verwunderung über den zahlreichen Besuch, doch recht freundlich willkommen, und bat,
24 sich indeß neben dem Herrn Professor, der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor niederzulassen. Der General schritt langsam auf die Ruhebank zu.
Wilibald
und Anna wichen seinem Marsch von weitem aus, und zogen sich auf die Mutter zurück.
Kaum aber hatte der neue Gast Platz genommen,* da gingS
abermals und zum fünften Male an der Thüre: Poch, poch,' poch! — Und als Arnold halb lachend, halb ungeduldig: Herein! rief: da
that sich die Thür weit auf, und herein schritt ein langer Mann in grünem Jagdkleide, den Hirschfänger über die Hüften geschnallt; die schwarzen Haare hingen ihm wild um das bleiche Gesicht. —-
Wilibald und Anna ahneten, daß dies der tolle Jäger von gestern Abend sehn möchte, und Wilibald zog sich hinter den Ofen; Frau
Elsbeth aber stand ganz starr vor Erstaunen, die Hände unter der Brust gefaltet, mit halb offnem Munde.
Der Jäger ging auf Arnolden zu, begrüßte ihn kurzweg, und sprach: er sei der Oberjägermeister von Hackelnberg *), denke
morgen eine große Jagd zu machen im Gebirge, und bitte daher
um Nachtquartier auf dem Waldhof, als wohin er sein Gefolge
morgen früh beschieden. Arnold hieß ihn freundlich willkommen, versicherte, sein ganzes Haus stehe zu seinen Diensten, und ersuchte ihn, unterdeß sich dort neben dem Herrn General, dem Herrn Professor, der Frau von
*) Unter diesem Namen ist der sogenannte wilde Iäger in einem gror ßen Theil von Deutschland bekannt.
25 Wasserleben, und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor nieder-
zulaffen. Er hatte aber kaum ausgesprochen, da gings zum sechsten Male an der Thüre: Poch, poch, poch! — rufen konnte,
Und ehe Arnold: Herein!
schob sich, schniebend und schnaubend ein dicker Herr
in die Stube, mit einem breiten, feuerrothen Gesicht, in
einen
langen Ueberrock auf englisch gekleidet, neigte sich sehr höflich gegen Arnold und seine Frau, und meldete sich als den Kammerrath und Laternenkommissarius Feuer mann an, der schon längst viel Gutes
von Herrn Arnold vernommen und gewünscht habe, seine werthe Bekanntschaft zu machen. Arnold dankte verbindlichst für die ihm erzeigte Ehre, und
bat, er möchte indessen neben dem Herrn Oberjägermeister, dem
Herrn General, dem Herrn Professor, der Frau von Wasserleben,
und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor Platz nehmen.
Das geschah; und indem jetzt Arnold die sechs wunderlichen Bilder so in einer langen Reihe neben einander sitzen sah, steif und ohne Bewegung — den Professor ausgenommen, der ein wenig mit
den Beinen bammelte — die Augen alle starr auf ihn gerichtet,
die mittelsten vier Gesichter bleich, fast leichenhaft, das Gesicht auf dem rechten Flügel und die Nase auf dem linken dagegen leuchtend in übernatürlichem Karfunkelschimmer, — da kam ihm die ganze
Gesellschaft doch sehr sonderbar, und fast ein wenig unheimlich vor. Als ein Mann, der zu leben wußte, ließ er sich jedoch nichts da von merken, sondern erhob seine Stimme und sprach:
26 „Ich habe Herren !
eine Bitte an euch,
verehrte Frau und werthe
Da ich morgen dieses Haus und diese Gegend verlasse, so
dachte ich heut meinen Abschiedschmaus zu geben;
wider Verhof-
fen aber, und zu unserer nicht geringen Verwunderung sind cingeladenen Gäste ausgeblieben.
die
Daher ergehet mein freundliches
Gesuch dahin, daß es euch sämmtlichen gefallen möge,
an deren
Stelle zu treten, mit uns fürlieb zu nehmen, und mir meinen Ab
schied feiern zu helfen." Da verneigten alle sechs Bilder zu gleicher Zeit sich gegen ihn, der Oberberg- und Hütteninspektor aber nahm das Wort, und er
klärte im Namen Aller, wie sie es sämmtliche sich für eine Ehre schätzten, die Gäste eines so wackern Mannes zu seyn, zugleich aber
auch sämmtliche verhofften, er werde es sich in dieser Gegend noch
länger gefallen lassen. Arnold antwortete darauf bloß mit einem Achselzucken, und
Frau. Elsbeth lief schnell nach der Küche, das Essen anzurichten, zwar immer noch voll Staunen und Verwunderung, doch aber im
Herzen froh darüber, daß sie ihre Back- und Kochkunst nun doch nicht umsonst aufgewendet haben sollte.
Und als das Essen kam, setzte
und seinen Gästen an den Tisch.
sich Arnold mit den Deinigen Die jüngern Kinder, die jetzt
erst die Gäste zu sehn kriegten, schienen sehr große Freude zu ha
ben an den seltsamen Gesichtern und Gestalten, und Frau Elsbeth hatte nur genug zu winken und zu steuern, daß die Freude nicht allzulaut ward.
S7 Bei
der
übrigen Gesellschaft ging
es
indessen
im Anfang
ziemlich still und einsylbig her, wie dies zu geschehen pflegt unter
Leuten, die einander nicht recht kennen. nig, und
Die Gäste sprachen we
aßen auch wenig; ja zu Frau Elsbeths großem Ver-
druffe berührten sie die Speisen kaum, und thaten nur als ob sie
äßen.
Allein als der Wein kam, ließen sie sich nicht lange nöthi
gen, sondern kippten fleißig aus, und da Arnold immer fleißig wieder einschenkte, zeigte sich gar bald Leben und Feuer von allen
Seiten.
Die Gäste singen an gesprächig zu werden, theils mit
ihren Wirthen, doch mehr noch unter einander, wobei sie sich aber öfters zu vergessen schienen, indem sie die Unterhaltung in einer Sprache führten, die Arnolden so gänzlich
fremd und unbekannt
war, daß er sich nicht erinnern konnte, je in seinem Leben nur etwas Aehnliches vernommen zu haben.
Auch war es kaum eine
Sprache zu nennen; denn es bestand mehr aus einem ganz be
sonderen Zischen, Blasen, Pfeifen und Schnalzen, als aus wirk lichen Worten.
Arnold und seine Frau hörten dem Schariwari mit dem größ
ten Erstaunen zu, und die Kinder konnten sich des lauten Lachens darüber gar nicht länger erwehren. Die rechte Lust ging aber erst an, als am Ende der Mahl
zeit Mutter Elsbeth einen mächtigen Napf voll warmen Punsch auf die Lasel setzte, und die dampfenden Gläser fleißig angestoßen
und aus dem Vollen geleert wurden.
Die Fremden tranken auf
die Gesundheit des braven Wirthes und der angenehmen Wirthin,
auf ncch langen Besitz des Waldhofs, und, was Arnold freilich
28 nicht recht verstand,
—
auf fortgesetzte gute Nachbarschaft.
Dabei
fingen ihre Augen, je länger, je mehr, auf eine seltsame Weise,
beinah wie die Augen der Katzen im Finstern, zu leuchten und zu
strahlen an; ihr Gespräch unter einander ward immer lebhafter; dazwischen brachen fie oft in lautes Gelächter aus, und machten
die allerpossirlichsten Gebärden und Bewegungen dazu.
Frau Els
beth sah ihren Mann bedenklich an, und Vater Arnold selbst schüt telte mit Befremden den Kops.
Nun traf es sich indem, daß die Frau von Wassereleben zu
trinken verlangte, und die Magd mit dem verlangten Wasser ein wenig zögerte; da faßte jene einen Zipfel ihres Schleiers auf, und preßte daraus das klarste Wasser in ein Glas.
Elsbeth hatte es mit Schrecken bemerkt, und wußte nicht, was fie davon denken sollte, und als sie in der Verwirrung dar
über eine Lichtscheere ergriff, das Licht zu putzen, und es ausputzte, streckte der Kammerrath Feuermann, ihr Nachbar, schnell mit einer
verbindlichen Miene die Hand aus dem langen Aermel hervor, und
zündete das Licht auf der Stelle mit seinem Finger wieder an.
Das ging nun der guten Frau Elsbeth über den Scherz. Ein plötzliches Grauen
ergriff sie vor den unbekannten Gästen.
Sie schob erschrocken ihren Stuhl zurück und stand auf;
und die Kinder folgten ihr.
Arndld
Die Gäste aber schienen ihr Ent
setzen gar nicht zu bemerken, oder nicht darauf zu achten, son
dern wurden nur immer lauter, schnitten dazu immer häßlichere Fratzen und Gesichter, Zimmer wären.
und thaten ganz,
als ob sie allein im
29 Die Stubenuhr schlug jetzt eben zwölf.
Da sprang^Pröfeffor
Irrlicht endlich auf, schoß mit großer Behendigkeit einen Burzelbaum, und krähte: „Musik, Musik, ihr lieben Leute!
bei!
Nun wollen wir eins tanzen."
Musik her
Der Oberjägermeister erhob
sich, lief nach dem Fenster, riß es auf, und schrie: „Hup! hup!"
nach Jägerart
hinaus.
Sogleich
ließ
sich
draußen
ganz
nahe
Hundegebell und Hörnerklang vernehmen; die Fenster flogen auf,
verschiedene Eulen und Uhus setzten sich in die Oeffnungen, und begleiteten mit ihrem
draußen aufspicltcn.
angenehmen Gesänge
die Musikanten,
die
Nun erhob sich auch die übrige Gesellschaft,
und fing nach dieser höllischen Musik munter zu tanzen an. Und mit jedem Augenblick wilder ward der Tanz, und immer
ausgelassener wurden die Tänzer.
Der Oberberg- und Hütteninspektor warf jauchzend seine Pe rücke an die Decke, wo sie, zur großen Freude der Andern, an
einem Nagel hängen blieb: Professor Irrlicht sprang
sehr flink
und gelenk auf allen Bänken, Tischen und Schränken herum, und
seine Gestalt dehnte sich wunderbarer Weise bald zu einer unge bührlichen Länge aus, bald schrumpfte sie wieder unter das ge
wöhnliche Maaß
zusammen;
der Kammerrath
Feuermann
aber
knöpfte unterweilen seinen Ueberrock auf, und es war recht ent
setzlich anzusehen, wie er dann jedesmal einen glühenden Feuer
regen auf die Tänzer schüttelte.
Doch schien dieser letzte Scherz
denselben besonders zu gefallen, und begeisterte sie zu immer wü-
thenderm Jubel.
Sie fingen an, einander in der Stube herum
zu jagen und zu Haschen, und dieser oder jener nahm unversehens
30 eins von seinen Beinen in die Hand, und schlug damit wacker zu, oder warf auch wohl einem andern seinen eignen Kopf in den
Rücken, und setzte ihn dann gelassen wieder auf, als ob es ein Hut wäre.
Dabei wurden alle Stühle unt Bänke umgeworfen,
Gläser, Flaschen und Teller von dem Tisch heruntergerissen.
Mut
ter Elsbeth schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Arnold hieß sie die Kinder in das Nebenzimmer bringen,
doch in dem Augenblicke sprang der General Erlkönig auf sie zu, und rief: „Kinder dalassen!
seyn!"
Kinder mitnehmen!
Kinder 'mein
Darüber begannen die Kinder zu weinen und zu schreien,
und verkrochen sich hinter die Mutter; und Arnold trat entrüstet den Popanz an, und beschwerte sich über das ungeziemende Be
tragen, womit sie seine Gastfreiheit vergölten.
Doch jener ant
wortete ihm darauf bloß: „Psch— schw — schw — glapp!" *) und
mischte sich wieder unter die Gesellschaft. Da indessen eben der Oberberg - und Hütteninspektor vorüber
sprang, den Arnold noch für den Vernünftigsten hielt, so machte er sich an diesen, und bat ihn, dem Unwesen doch ein wenig zu steuern, und zu bedenken, daß sie sich hier nur als Gäste befänden.
Allein der schnitt ihm eine abscheuliche Fratze entgegen, antwortete ihm bloß: „Pfü-------- wisch!"**)
und sprang gleichfalls wieder
unter die Uebrigcn.
Der tolle Wirbel drehte sich immer rascher und unbändiger. Die Lichter löschten aus. *)
Der Kammerrath, der seinen Ueberrock
Ad libitum des Vorlesers vorrutragen. Item wie oben.
31 ganz abgeworfen hatte, erleuchtete nun mit seiner feurigen Gestalt allein die ganze Scene, und sprühte einen solchen Funkenregen um
sich her, daß Arnold »in der
größten Angst schwebte,
ihm daß Haus über dem Kopf anzünden.
er werde
Am Ende mischten sich
auch die Sänger darunter, die an den Fenstern saßen; selbst die Musikanten von draußen schienen an dem Feste Theil nehmen zu wollen, denn Hundcge ell und Hörnerklang erschallte bald mitten
in der Stube auf
eine
ohrenzerreißende Weise!
meister feuerte seine wüthende Jagd mit Hussa! immer mehr an,
und
dazwischen
ließ
sich
der Oberjäger
und Hallo!
noch
General Erlkönigs
Baßstimme vernehmen: „Kinder her! Kinder mitnehmen! Kinder mein seyn!"
In
diesem höllischen Sabbath gingen Arnolds
noch immer steuern und vermahnen wollte, verloren.
Worte,
der
gänzlich unter und
Ja mit einem Male faßte ihn der rasende Knäuel selber;
er mußte wider seinen Willen sich mit drehen, ward tüchtig hin
und her gestoßen, und dankte Gott,
als er endlich athemlos sich
wie die Andern in das Nebenzimmer retten konnte.
Dort war Alles indeß in größter Angst und Noth.
Die Kin
der heulten und schrieen; Frau Elsbeth stand zitternd und hände
ringend; die Magd kniete vor dem Bette, und hatte den Kopf hinein gesteckt,
um nichts mehr zu sehen und zu hören.
„Hätten wirs doch gestern dem Vater gesagt!" sprach Wilibald weinend zu seiner Schwester, „so hätte der Vater das ab scheuliche Volk heut gar nicht ins Haus gelassen."
3L Aber Anna, die eine Weile still vor sich hin geschaut hatte,
sprang jetzt schnell hinaus, und bald darauf, als eben der Lärm
dort, und die Angst hier aufs Allerhöchste gestiegen war, daß Va ter Arnolden selber fast der Kopf ansing zu drehen, und er gar
nicht mehr wußte, was er beginnen sollte, da trat sie plötzlich in
die Thür des Vorderzimmers, wo die wilde Jagd tobte, indem sie
etwas unter der Schürze verborgen trug,
und rief mit lauter
Stimme: „Wohl aufgeschaut'. Der Morgen graut; Der Tanz hat nun ein Ende!" Und mit diesen Worten wickelte sie die Schürze aus einander,
und der große Haushahn, den sie darunter verborgen getragen
hatte, flatterte hervor, flog alsbald auf einen Kleiderschrank, schüt telte sich, und fing aus Leibeskräften an zu krähen.
Da ward es auf einmal ganz still in dem Zimmer, und alle
standen und horchten auf.
.
Und der Hahn krähte zum zweiten Mal.
Da flogen die Eulen
und Uhus schnell zum Fenster hinaus; die unsichtbare wilde Jagd folgte ihnen mit entsetzlichem Getöse; die übrige Gesellschaft lief
in Verwirrung erschrocken durch einander.
Und zum dritten Male krähte der Hahn. alles wie weggeblasen und weggestoben.
Da war auf einmal
Anna stand ganz allein
im Zimmer, und friedlich und freundlich schaute der Mond vom klaren Himmel durch die Fenster.
33 Arnold hatte ihrem Beginnen aus der Nebenstube zugesehen,
sprang jetzt herbei, und herzte und küßte seine muthige und kluge Tochter.
Auch die Andern wagten sich nun wieder aus ihrem Ver
steck hervor.
Arnold befahl Licht anzuzünden.
Und als das Licht
gebracht wurde, da sahen sie alle mit Erstaunen drei große Beutel auf dem Tische stehen, und drei große Zettel hingen daran, und aus dem ersten Zettel stand: „Ium Dank für freundliche Bewirthung!”
Auf dem zweiten: „ Noch langer Besitz des Waldhofs."
Auf dem dritten endlich: „Fernere gute Nachbarschaft!" Und als Arnold die Beutel öffnete, fand er sie voll eitel alter
harter Thaler.
Auf dem Fußboden aber waren noch überdies eine
Menge Goldstücke verstreut, die allem Anschein nach der Feuer mann ausgesaet hatte, und auf Tischen und Schränken, überall
wo der Professor Irrlicht hingesprungen, lagen ansehnliche Häuf lein blanker Silberpfennige. Die Freude über diesen Fund war groß,
und so geschah es,
daß Anna erst ganz zuletzt ein kostbares Halsband von sehr schönen Perlen an ihrem Halse gewahr wurde.
Sie wußte selber nicht,
wie sie dazu gekommen war, doch hielt es Mutter Elsbeth wohl
nicht mit Unrecht für ein Geschenk der Frau von Wasserleben.
So war nun Arnold durch die Freigebigkeit seiner wunder lichen Gäste auf einmal wieder ein reicher Mann geworden. Und er säumte nicht, seine Schulden zu bezahlen, brachte sein
Hauswesen wieder in Ordnung auf das Beste, hatte auch bald die
Freude zu sehen, daß alles gedieh und blühte unter seinen Händen, 3
34 mit zuvor, und lebte also mit den Seinigen in Glück und Frieden
noch manches Jahr, Das Perlenhalsband aber wird noch -jetzt in der Familie auf bewahrt, zum Andenken an das wunderbare Gastmahl. Auch blieb
des Oberberg- und Hütteninspectors steinflachsene Perücke an der
Decke hängen, und ihr könnt sie heutiges Tages noch hängen sehen, wenn ihr einmal nach dem Waldhof kommt.
o
35
8.
Die kleinen Leute. Der kleine Fritz — er mochte wohl noch nicht einmal vier Jahr alt seyn, und sprach keinesweges deutlich, und noch minder dachte
er so klug, als verständige Leute pflegen — hatte sich im Spielen und Blumensuchen ein Bischen von der Hütte seines Vaters ent
fernt.
Sein Vater aber war ein Förster, und dessen Wohnung
lag in der finstersten Gegend eines tiefen, von den mehrsten Men schen für gänzlich unwegsam und unbewohnbar gehaltnen Forstes.
Fritzchen hätte wohl gelacht, wenn ihm Jemand dergleichen hätte
vorreden wollen.
Denn er wußte recht gut,
daß außer seinem
Vater noch Leute hier im Walde ihren ganz anständigen Wohn
sitz hatten.
Zwar kannte er von diesen Leuten nur einen Einzigen,
aber der konnte auch für Zehne gelten, und erzählte alle Tage
von mehr als Zehnen seines Gleichen, ob er gleich zufälligerweise
niemals einen Einzigen bei sich zu haben pflegte.
Er selbst war
nicht viel größer, aber vermuthlich viel älter als Fritz, und nannte
sich Puppedenzke, und ich dächte, das wäre ein ganz hübscher Name. Wenigstens dem kleinen Fritz kam er sehr niedlich und sehr ver ständig vor, indem Fritz gewohnt war, die Puppen seiner Schwe3*
36 stern auf eine ganz eigne Weise tanzen zu lassen, und ihm also Puppedenzke nicht anders erschien, als ein nahe verbrüderter Freund
und Schulgefahrt.
Mit ihrer Schulgefährtschaft hatt es auch wirklich seine Rich
tigkeit.
Denn meistens wenn der Förster — Waidhart war er
geheißen —
seinem
kleinen Fritz und
dessen
zwei
etwas
ältern
Schwestern, Julchen und Jettchen, Unterricht im Schreiben und
Lesen gab (wozu er sich wohl alle Monate zwei bis drei Stunden abzumüssigen pflegte), kam der kleine Puppedenzke zur Thür her
ein,
zog das
grüne Käppchen sehr höflich von seinen blonden,
krausen Locken, und sagte jedes Mal mit einem tiefen Bücklinge:
„Ich wollte ganz ergebenst gebeten haben, diesem gelehrten
Unterrichte mit beiwohnen zu dürfen, ausnehmend reich ist,
indem mein Vater zwar
aber es doch zu solch einer vortrefflichen
Anstalt in seinem Hause niemals hat bringen können." Das erste Mal, daß er diese Anrede vorbrachte, sagte der För
ster Waidhart auf eine mürrische WeiseHause kommt, Patronl
„mach' Er, daß er zu
Er hat hier nichts zu schaffen!"
Und
Julchen und Jettchen lachten den Kleinen mit seiner wunderlichen Höflichkeit ganz unmäßig aus.
Da war es fast, als wolle Puppe
denzke sein etwas seltsam lächelndes Gesichtchen zum Weinen ver
ziehen. chen im
Aber Fritz trat vor die Schwestern hin, ballte die Fäust
recht ernsthaften Zorne,
Puppedenzke nicht weinen!
und sagte: „nicht
auslachen!
Fritz das absolut nicht leiden will."
Und es schien ordentlich, als fürchteten sich die Schwestern vor dem drolligen Jungen.
Der aber bat den Vater in seinem kleinen,
37 stammelnden Kauderwelsch herzinnig, er möge doch den Puppedenzke mitlernen lassen, und brachte dabei vor, wie Puppedenzke
ihm öfters Blumen in den Garten bringe, und andre schöne Spiel
sachen, und das Alles zwar immer wieder mit sich hinwegnehme,
aber es seien doch die hübschesten Dinge von der Welt. —
„Ge
liehen ist auch geschenkt!” sagte der ernsthafte Förster nach eini
„Mein Sohn ist Dir Dank schuldig, Puppe
gem Ueberlegen.
denzke, und Du sollst an meinem Unterrichte Theil nehmen.
Sieh
nun selbst zu, wie viel Du davon behalten kannst." Und damit ging es los: „AB ab, BA ba," und immer so
fort, daß dic Fenster dröhnten, und absonderlich schrie dabei der
kleine Puppedenzke bisweilen so eifrig los, daß die Bäume im Forst sich ordentlich vor Schrecken zu schütteln anfingen. ihm aber Förster
Waidhart diese Ungebür verwies,
Sobald
begab fich
Puppedenzke an ein sittigeres Sprechen, und so besuchte er den
Unterricht wohl ein halbes Jahr lang, immer mit derselben höf lichen Anrede, und mit vielem Nutzen, denn nach dieser Zeit konnte
er ziemlich fertig buchstabiren, so daß es ihm wohl manchmal ge
lang, seinen eigenen Namen ohne auffallende Fchler zusammen zu setzen.
Jettchen und Julchen waren ihm derweile auch gut gewor
den, denn er brachte ihnen zuweilen bunte Glasstückchen mit, die ganz wunderlieblich
glänzten, und niemals entzwei gingen,
wie
oft man sie auch an die Erde fallen ließ; ja auch dann nicht, als Julchen
einmal
des Vaters,
im
lustigen
Uebermuth mit dem Mahlhammer
von dem sonst wohl
die gewaltigsten Eichen tiefe
Narben empfingen, auf das blanke Flitterwerk schlug.
38 Der kleine Fritz nun — wie ich Euch schon vorhin erzählte —
war
eines
schönen Abends
einigen
fernleuchtenden Blumen
und
spaßhaften Schmetterlingen so lange nachgerannt, daß er sich end
lich gar nicht mehr recht darauf besinnen konnte, ob die Förster wohnung vorwärts oder rückwärts liege, oder rechts, oder links. — „ Puppedenzke wird schon kommen, und mich nach Hause bringen,"
dachte er, legte sich ganz geruhig auf eine moosbedeckte Steinplatte nieder, und schlief ein. Es dauerte gar nicht lange, da war es ihm,
als komme
Puppedenzke durch den Wald geritten, auf einem kleinen hübschen
Pferdchen, Pferden
von ganz schneeweißer Farbe,
nur darin
unterschied, daß ihm
das sich
von
andern
ein kleines, goldhelles
Waldhorn aus der Stirn hervorgewachsen war.
Wenn der Wind
in dessen Mündung hineinblies, lockte er ganz wunderliche, aber
sehr hübsche Klänge daraus hervor; bald traurige, bald lustige, aber, wie gesagt, immer sehr hübsch.
will auch
Puppedenzke!"
lallte der
und rieb sich die schlaftrunknen Augen.
Als aber
„Auch reiten! kleine Fritz,
reiten,
sein Freund — wie es schien, in sehr tiefen Gedanken — weiter zog, ohne sich nach ihm umzusehen, ward Fritz betrübt und ärger
lich, und fing recht aus Herzensgründe laut zu weinen an.
Da
sahe sich Puppedenzke nach ihm um, und sagte: „ach, halten Sie mir es doch ja zu Gute, verehrter Sohn meines gelehrten Wohl thäters, und mir ein unaussprechlich theurer Schulgefährt, daß
ich Ihnen nicht gleich meinen schuldigen Gruß ausrichtete; aber
39 ich habe in diesem Augenblick über so wichtige, so unendlich Vieles entscheidende Dinge nachzudenken, daß —" „Sollst
mich
mitnehmen!"
unterbrach
ihn Fritz.
„Will
nach Hause reiten auf Deinem Waldhornpferdchen." „Verehrter Freund, das geht heute nicht," entgegnete Jener
mit sichtlicher Verlegenheit.
„Zudem — Ihr Herr Vater schlafen
wohl ohnehin bereits, und haben dero Haus verschlossen, denn es
geht schon sehr stark auf Mitternacht." „Will aber mit!
Will aber durchaus mit!" rief Fritz, und
stampfte ungeduldig gegen den Boden.
»Ich schlag' es Ihnen ja so sehr, sehr ungern ab," betheuerte Puppedenzke, „und doch — wie kann, wie darf Ich aKderSl Wahr
haftig, sie warten gewiß schon Alle auf mich. lieber junger Freund,
und schlafen Sie gesund.
Leben Sie wohl,
Ich will Ihnen
auch einige lebendige Nachtlämpchen besorgen!" Dabei faßte er ins hohe Gras, und fischte eine ganze Menge
Johanniswürmchen heraus;
die streute er in einem zirkelruttdrü
Kreise rings um den Kleinen her, und sang dazu leise/ leise, mit überaus anmuthiger Stimme:
„Ihr Lichterchen, Ihr kleinen, Sollt hübsch zu Nacht hier scheinen;
Und Fritz, hör' auf zu weinen. In jedem Lichtchen steckt ein Traum, Der fliegt hervor aus blankem Saum,
Und sprützt Dich an mit süßem Schaum;
Da siehst Du schöne Sachen,
40 Da sollst noch im Erwachen So recht von Herzen lachew; Und morgen komm' ich hier heran,
Und führ' Dich heim, — ein Wort ein Mann! — Und wiedrum geht die Schule an."
Aber Fritz rief in seinem Zorn: „Nicht mehr Schule!
Sollst
gar nicht mehr in die Schule kommen, wenn Du mich nicht gleich
mitnehmen willst!" Da ward Puppedenzke ganz blaß, und sagte: „O Verehrter, drohen Sie nicht so schrecklich! O, was soll daraus werden!
kommen Sie denn.
So
Nach der Wohnung Ihres Herrn Vaters kann,
ich Sie jetzt nicht führen.
Ich darf Ihnen nur anbieten, mich auf
meiner. Reise zu begleiten."
„Will mit! Will absolut mit," rief Fritz in Einem fort, und Puppedenzke schwang ihn vor sich auf den Sattel.
Sie waren schon ein Paar hundert Schritte fortgetrabt, und
das
goldene Waldhörnchen an des Rößleins Stirne klang gar
fröhlich drein, daß alle Forstbewohner — als da waren Hirsche, Bären, Haasen, Wölfe und Eber — mit sehr höflichem Verneigen Platz machten; ja bisweilen kam es dem kleinen Fritz vor, als
thäten uralte Bäume das Gleiche, und darüber hätte er sich doch
beinah ein Bischen verwundert.
Ihr habt wohl schon eher gesehn,
wie vor blasenden Postillionen die Kutschen und Wagen und Reiter auswichen.
Ungefähr eben so ging es auch hier zu.
Da kam ur
plötzlich ein kleiner närrischer Kerl durch den Wald gesprungen, fast noch kleiner, als Puppedenzke, und trug eine recht gepuderte
41 Perücke in der Hand, rufend: die Krone nicht vergeben!
mach' fort.
„Puppedenzke, Du siehst, noch ist
Aber wenn Du sie haben willst, so
Jenseit ringen, und springen sie schon, daß es
Lust zu sehen ist."
eine
Puppedenzke stach sein Waldhornpferdchen zum
schnellern Laufe an; da sagte der kleine Perückenbote: „nein, wenn
Du erst den ganzen Berg hinunter, und dort wieder hinaufreiten
willst, und dazwischen noch über den großen Fischweiher, kommst Du wirst Dich nun schon durch den
Du auf alle Weise zu spät.
Fußsteig arbeiten müssen." — „ Meinetwegen," sagte Puppedenzke. „Sitze Du nur mit hinten auf. und trägt uns gern alle Drei." —
Das Rößlein ist stark und willig,
Der kleine Perückenkerl schwang
sich auf des Pferdchens Rücken, und lachte so herzlich dabei, Puppedenzke,
den er mit beiden Armen umfaßte,
daß
ganz und gar
von dem Pcrückenpuder beworfen ward, und aussah wie ein Müller.
Zugleich scharrte das weiße Roß sehr ämsig den Boden, und der that
sich auf,
und alle vier kleinen Gestalten '— nämlich Fritz,
Puppedenzke, der kleine Perückenkerl und das Waldhornpferdchen — sanken recht bequem in den Erdenschooß hinunter.
Darüber wun
derte sich Fritzchen abermals ein Bischen, doch nicht allzusehr, denn
die Töne des goldnen Hörnleins klangen recht lustiglich und hell dazu. Fast noch hübscher war es,
daß kleine Leute rechts und links
am Wege saßen, und allerhand Spielwerk zurecht machten; an
fangs aus glatten Steinen, weiterhin aus blankem Stahl, endlich gar aus Silber und Gold;
zuletzt kamen welche vor, die leiteten
beim Glanze rothheller Steinchen ein Bächlein nach dem andern
durch goldne Pfeifen, und so wurden kleine Wafferorgeln daraus;
42 die tönten noch viel anmuthiger als des weißen Röffeleins Horn, und übertönten es nach und nach ganz.
Da sprachen Pirppedenzke und der kleine Perückenkerl heim
lich mitsammen.
Dann hielten sie den Schimmel an, streichelten
Fritzchen die Wangen und Schläfe sehr freundlich, und wanden ihm
bei der Gelegenheit ein seidenweiches Luch um die Augen, davor er auch nicht das Mindeste sehen konnte.
Fritzchen.
„Blindekuh spielen?" sagte
„Müßt auch hübsch rufen: brennt, brennt! wenn Fritz
wo anlaufen will, an hübsche Spielsächelchen oder Helle Musikdinger.
Wär' ja Schade sonst drum.
Nicht wahr?" —
er etwas ängstlich zu schreien an:
mich ja auf'n Kopf!"
Aber plötzlich hub
„Puppedenzke, Unart!
Stellst
Da nahm ihm Puppedenzke die Binde von
den Augen, sprechend: „zürnen Sie nicht, verehrtester Schulgenoß, das ist nur ein Mittelchen wider den Schwindel.
Sehn Sie, mein
junger, gelehrter Freund, nun bekommen wir sehr guten Weg." — Der kleine Perückenkerl aber lachte, und sang:
„Ei Puppedenzke, närr'sches Ding, Was renkst Du so die Worte?"
Puppedenzke sang zurück: „Nur nicht mit Spott so'überflink! Komm' erst wie ich, Du dummes Ding,
Bon hoher Schulen PforteDann pfiffst Du nicht nach Finkenart, Dann sprächst Du hoch- und tiefgelahrt:
„AB, AB, BA."
Und das heißt: „Ab" und: „Ba!"
43 Davor ward der kleine Perückenkerl ganz scheu und still, und machte
ein so tief ehrerbietiges Compliment, daß er beinah vom Pferdchen
heruntergefallen wäre.
Das Pferdchen aber schritt während dieser
Unterhaltung rüstig nach aufwärts, in ganz entgegengesetzter Rich
Anfangs klangen noch viele Wafferorgeln, dann
tung, als vorhin.
wurden sie still, oder tönten nur fernher aus der Liefe herauf;
doch sprudelten sie in reichen Springbrunnen Goldsand aus ihren Pfeifen neben den Reisenden her, immer nach oberwärts, so daß
sich Fritz ganze Händchen davon fing, um cs gleich darauf lustig wieder fortzustreuen, indeß der kleine Perückenkerl sich viele Mühe
gab, behutsam den Goldstaub von der Perücke fortzublasen, damit das weiße Pudermehl hübsch obenauf bleibe.
Jetzt stand der Schimmel, und klopfte mit dem Waldhörnlein —
man konnte nun dessen lustige Musik deutlich wieder vernehmen — tönend an ein finstres Thor, das über dem Haupte der Reisenden wie eine verschlossene Fallthüre lag, und draus etwas wie Fasern
und Spinnengeweb um Fritzchens Angesicht spielte.
Er faßte dar
nach, aber Puppedenzke sagte bittend: „Lassen wir das, mein Hoch
verehrter.
Es
sind die Wurzeln von kleinen
schönen Blumen,
welche bei diesen Versuchen nicht sonderlich an Wachsthum und
Farbe gewinnen möchten." —
schönen Blumen;"
„Nichts zu Leide thun den kleinen,
lächelte der freundliche Knabe, und verhielt
sich still» Wieder klopfte das Waldhornrößlein an die Pforte, und ein blondlockiges Knabenangesicht
guckte durch
eine aufgethane Luke,
und zwischen ihm und Puppedenzke erhob sich folgendes Gespräch:
44 „Wie viel sind Euer vor der Thüre?"
„Vier."
„Wie seyd Ihr alle Vier genannt?" „Schimmel, Fritzchen, Puppedenzke und Schalk aus Brabant." „Was hat Schimmel dabei zu sagen?"
„Schimmel hat uns hierher getragen."
„Und Fritzchen?
Von was für'nem Regiment?"
„Fritzchen ist ein gelehrter Student."
Der Fragende bückte sich sehr tief gegen Fritzchen.
Dann fuhr
er fort:
„Puppedenzke, wie willst du dich gebehrden?"
„König werden." „Und was bringt uns Schalk aus Brabant?"
„Der bringt ja die Kron' in seiner Hand."
„Raus!" rief der kleine, goldlockige Pförtner, ordentlich wie es
die Soldaten am Thor machen,
kommt.
wenn ein General geritten
Und die Thüre ging weit auf, und hervor an das goldne
Mondenlicht tanzte das Waldhornrößlein mit seinen drei Reitern,
und in schönen, blanken Harnischen standen gereiht von beiden Sei
ten viel kleine Menschlein, und trommelten und trompeteten, und
senkten ihre goldnen Lanzen.
Man sah jedoch wohl, daß all' diese
Ehre nur dem kleinen Perückenkerl galt, den sie hier Schalk aus Brabant hießen, oder vielmehr der Perücke, die er in Händen trug. Die neigte er bisweilen rechts und links, und Alle, welche davon
bestäubt wurden, freuten sich ausnehmend, und wußten sich etwas rechtes damit.
45 Man kam nun in einen großen, mondhellen Wald, mit so wunderlichen, ganz riesighohen Bäumen und Blumen, als Fritz in
seinem Leben nicht gesehn hatte, weshalb er auf den seltsamen Ein
fall gerieth, am Ende sey das Alles wohl gar nur ein Traum. Aber da pflückte Puppedenzke im Vorbeijagen ein Ding, wie einen
goldnen Apfel vom Baum, löste es mit einem silbernen Mefferlein
schnell und appetitlich aus der Schaale, und steckte es in Fritzchens
Mund.
Wie nun Fritzchen des süßen Geschmackes inne ward, klopfte
er sich behaglich den kleinen Magen, und wußte von da an mit
voller Sicherheit, er träume nicht.
Und Schimmel rannte und rannte, so schnell er nur irgend konnte, bis er mit seinen drei Reitern in die Mitte eines ganzen
Gewimmels von kleinen, schöngeputzten Leuten kam.
Die rangen
und schwangen, und ritten und glitten, und hüpften im Tanzen
und warfen mit Lanzen, kurz, trieben jeglich Ritterspiel, und ward ihnen nimmermehr zu viel.
Da winkte ein kleiner alter Mann, mit schlohweißen, glatten Haaren, der auf einem blanken Sitze über all das festliche Trei
ben emporragte, den Puppedenzke zu sich heran, sahe etwas ver drießlich aus, und sprach:
„Mein Puppedenzke, sage mir, Wo kommst Du her?
Was willst Du hier?
Und Du, mein Schalk, Du aus Brabant, Thu' mir in Treuen das bekannt, Was liefst Du weg von diesem Ort,
Und nahmst die Krone mit Dir fort?"
46 Der kleine Perückenkerl antwortete für Beide, und zwar fol gendergestalt: „Herr Richter, 's wird bekannt Euch seyn,
Die Krone hier ist rechtlich mein,
Bis sich ein würd'ger König findet, Dem man damit den Kopf umwindet.
Da holt' ich Puppedenzken her,
Ob das vielleicht der Rechte wär', Um uns mitsammen zu regieren;
Und Schimmel rannt' auf allen Vieren, So schnell es ging, den Fußsteig 'rauf.
Nun, denk ich, sind wir all zu Häuf, Und wird noch in den nächsten Stunden
Ein tücht'tzer König aufgefunden." Der kleine Mann strich mit einem goldnen Fiedelbogen auf
einer silbernen Baßgeige, und sah dazu ganz vorzüglich feierlich aus.
Da liefen alle die kleinen Menschen windschnell um dessen
Sitz zusammen, und standen in einem großen Kreise wie hübsche Puppen regungslos still.
Der Richter aber gebot, daß Schalk
aus Brabant, oder Perückenkerl, nochmals erzähle, wie er zu der
weißmehligen Krone gekommen sey, und dieser hub seinen Spruch in folgenden närrischen Worten an: „Ich ging einmal auf der Gränze spatzieren, um mich ein
wenig zu erlustieren.
Ihr wisset, ich hause gewöhnlich in Bra
bant, und das liegt ganz hart an dem drolligen, kollrigen, wun
derlich kunterbunten Franzosenland.
'Nüber hab' ich mich niemals
47 gemacht, denn es wird da mehr gegrinzt, als gelacht, und ich lache
so recht von Herzen gern.
Nun stand ich denn auch- und besah
es von fern, das lustige Elend, und die pudelnärrischen Leute.
Plötzlich — mir ist noch, als geschäh es heute — kommt Euch ein Paar Franzosen anmarschirt, schnarrt und schmatzt und schnalzt
und parlirt — was? — Ja/Gott hat sie hoffentlich verstanden,
ich aber nicht.
Mir kamen fast die Ohren abhanden vor dem
verrückten Gequik,
und
ging mir beinah der Kopf in Stücke.
Aber jeder trug eine excellente Perücke, — so nennen sie dorten dies respektable Ding.
Ich dacht' auf einen Pfiff, wie ich rasch
und flink so 'nen Mehlkasten an mich zückte —” Der Richter sah wiederum höchst verdrießlich aus, und strich
die silberne Baßgeige, daß sie einen tiefen, zornigen Ton angab. Schalk aus Brabant verneigte sich halb lachend, halb ernsthaft,
und sprach weiter:
„ Ich rede ja schon mit Respect.
Wie 'ne verrückte, verdutzte,
beschmutzte Tracht kams mir freilich vor.
Doch Euch siehts wie
'ne Krone aus, und ich bin nur ein Thor.
Nun, die zwei fran
zösischen Kavaliere verzürnen sich auf einmal bei ihrem Parlieren,
zieht jeder, um recht gewaltig zu streiten, 'ne Art Stricknadel von feiner Seiten, und nun geht Euch der Spektakel los: „Ha! ho!
ho! ha!" bei jedem Stoß!
Es war ein Geschrei, kann ich Euch
sagen, vollkommen genug, um hunderttausend Mann bei todtzu
schlagen.
Wißt Ihr noch, wie vor alten Jahren der hörnerne
Siegfried kam gefahren, und uns zu großem Zorn und Gram die
schönen Nebelkappen nahm?
Ihr meint, da wäre mit Schall und
48 Hall gestritten?
Freunde und Herrn, auf allen seinen Krieges
ritten — sie zusammengerechnet und in eins gebracht — hat der
Siegfried kein solches Spektakel gemacht, und kein so ganz mord als meine zwei Perückenfranzosen.
mäßiges Tosen,
kam auch was rechtes zu Stand. die Hand;
Dafür aber
Der Eine ri-tzte sich wahrhaftig
ob er sich nun am eignen Gefäße verletzte, ob ihm der
Andre mit der Stricknadel was versetzte, — ich habe nicht ordent-
lich Acht gegeben.
So viel ist gewiß, sie blieben Beide am Leben,
und sagten, nun wäre gerettet die Ehr', und
küßten sich über die
Maaßen sehr; und das geschah mir zum großen Glücke, denn dabei verlor der Eine die Perücke.
Ich husch damit unter die Erde hin
ein — Ihr meint nun, es soll'ne Krone seyn.
mirs gern gefallen.
Auch das.
Ich laß'
Schalk aus Brabant lacht ja doch zu Allem."
Damit stimmte er wirklich ein ganz ausgelassenes Gelächter an, aber auf einen sehr tiefen Baßgeigenstrich des Richters bezähmte
er sich einigermaaßcn.
Alsbald erhub der kleine, alte, verdrieß
liche Mann seine Summe, lobte die gepuderte Krone sehr, und er klärte, noch in dieser Nacht müsse sichs entscheiden, wer am besten
verdiene, sie zu tragen, und die Königswürde über dies ganze mäch tige Volk zu behaupten.
Drei schöne, blondlockige Ritter, nicht größer als Puppedenzke, traten hervor.
Sie hatten schon den Ucbrigen im Ringen und
Schwingen, und in allen möglichen Heldenkünsten den Preis abge wonnen, und forderten nun den Puppedenzke heraus, darzuthun,
ob er ein besserer Mann sey, als sie, oder nicht. Es wollten dabei viele Zuschauer große Wetten eingehn auf
49 das Nicht, und diese schienen auch vollkommw Recht zu behalten, denn so schön auch das Waldhornrößlein bei allen Uebungen, wozu
es kam, seine Schuldigkeit that, so erbärmlich that Puppedenzke die seinige.
Alle Augenblicke lag er an der Erde, ja, schon vor
dem kühnen Blicke seiner Gegner schien er bisweilen auszugleiten und umzufallen, so daß bald ein allgemeines Zischen und Gelächter
den verunglückten Kronenwerber aus den Goldschranken des Spieles
jagte.
Auch der alte, kleine, verdrießliche Richter legte sein wun
derliches Antlitz einigermaßen zum Lachen zusammen, und Fritzchen
verkroch sich hinter einigen Büschen, denn er schämte sich des un geschickten und feigen Gefährten gar zu sehr.
Zu seinem Trost
wuchs do-rt etw-s Don den schönen Goldäpfeln, derengkichen ihm
Puppedenzke vorhin einen in den Mund gesteckt hatte.
Da fing
er tüchtig an zu essen, und empfand eine große Beruhigung.
Puppedenz-ke verweile hatte sich mit seltsamer Geschicklichkeit aus alten, umherliegenden Brettern ein Ding zusammengebaut, wie
eine Art von Häcksrlladez das stellte er aufrecht, kroch hinan, und sprach von da aus folgende Worte:
„Liebe, noch etwas rohe, aber dennoch meinem Herzen unend
lich theure LandeSgenoffen und Herren!
Meine Aufopferungen für
die Wissenschaften haben meinen Leibeskräften und Leibesgdschicklichkeiten, ja auch wohl dem, was ihr im übermüthigen Sinne mit
dem Namm Tapferkeit zu benennen pflegt, einigen gelinden Schaden zugefügt, aber —"
Da unterbrach ihn wiederum ein allgemeines Lachen, und das
ganze Volk sang wie aus Einer Kehle:
50 „ Puppedenzke ist toll geworden!
Gebt ihm doch ’nen Tollmannsorden!” Tiefer und tiefer kroch Fritzchen hinter das Gesträuch, und er gab sich in seiner Beschämung demauf eine immer gewal
tigere Weise,
aber Puppedenzke wußte von Beschämung nichts.
Vielmehr zog er mit unzerstörbarer Ruhe eine alte Fibel hervor, die ihm Fritz und dessen Schwestern einstmalen geschenkt hatten,
schlug sie auf, und hielt sie dem ganzen Kreise mit feierlichen Ge bärden offen entgegen.
Da wurden die kleinen Leute allzumal ganz stumm und starr, und endlich singen sie an, wie von der ernsthaftesten Ehrfurcht be fangen, ausnehmend tiefe Verbeugungen zu machen, die allertiefsten
der alte verdrießliche Richter.
Aber dieser kam dennoch zuletzt mit
einigen Zweifeln hervor, ob auch Puppedenzke das an und für sich
vortreffliche Werk auf solche Weise zu benutzen und
auszulegen
verstehe, daß davon alle Mitbürger dieses mächtigen Staates klug würden, als woraus es doch nur einzig und allein abgesehn sey. Und sogleich sing Puppedenzke mit gewaltiger Stimme zu lesen an: „AB Ab, BA Ba,” und immer so fort, bis Alle sich aufs
neue im ehrerbietigen Staunen verneigten.
Aber der kleine alte
Richter war ein hartnäckiges Ding in seiner Verdrießlichkeit.
Nun
fiel es ihm wiederein, ob auch PuppedenzkesLesekunst die richtige
sey, und ob man es nicht etwa auf der hohen Schule, deren er sich rühme, ganz anders treibe. —
„Verehrter,” sagte Puppedenzke,
mir hat das Schicksal gegen Ihren etwas überfeinen Scharfsinn
eine ganz vortreffliche Waffe an die Hand gegeben; einen jungen
51 Studenten nämlich, der so gefällig war, diesen Ritt auf meinem
Pferde mitzumachen, und der Ihnen zeigen wird, ob man am ge
hörigen Orte das vortreffliche A B Ab, so wie auch das beinah noch nützlichere BA Ba im mindesten anders vorträgt, als ich." Und
sogleich
von Puppedenzke auf die Häcksellade gehoben,
machte Fritzchen seine Schule nach besten Kräften durch, und ein betäubender Beifall erscholl, und Puppedenzke ward alsbald zum König ausgerufen, ohne daß von den drei kleinen tapfern Rittern
im mindesten mehr die Rede war.
Fritzchen aber hatte diese um
so besser im Auge behalten, denn ihn lästerte ausnehmend, etwas von ihren schönen Ring-, Schwing - und Springstücken zu erlernen,
nur daß er sich vorhin nicht an sie traute, weil sie ihm gar zu schön und herrlich vorkamen. sie kümmerte,
Jetzt, da sich Niemand mehr um
und sie ganz beschämt und traurig in den Hinter
grund zurückgetreten waren, konnte er kaum das Enöe seines AB Ab erwarten, und mit der letzten Sylbe sprang er von der Häcksel
lade, rannte zu ihnen hin, und stammelte seine Bitte her, daß sie ihm ein Bischen zeigen möchten, wie man sich zu solchen lustigen
Spielen anstelle. Die drei Ritterlein waren dem Fritz gern zu Gefallen.
Mit
einem Wettelauf hub das Spiel an, und weil der kleine Fremde
Anfangs gar zu weit dahinten blieb, und wohl sein Gesichtchen darüber etwas weinerlich verzog,
gaben
sich die Ritterlein viele
Mühe, ihm alle Vortheile des Laufens beizubringen, als da sind:
Brust heraus, Arme zurück, nicht Athem durch den Mund geholt,
und solcher guten Lehren mehr.
Fritzchen lief auch alsbald um
4*
52 einen guten Theil schneller und leichter, und konnte sich nun schon
eher mit seinen freundlichen Meistern messen.
Dann kam es ans
Klettern, ans Ringen, ans Schwingen, ans Fechten, und immer
waren die guten Ritterlein sehr besorgt, daß der Fritz nicht zu Schaden komme, aber dennoch in möglichster Eil möglichst viel
von all den schönen Künsten begreife.
auf eine recht wundersame Weise.
Und das geschah denn auch
Nach etwa dreiviertel Stunden
war Fritzchen schon so weit, daß man ihm Puppedenzkes Waldhorn-
rößlein vorführte, und ihn im Reiten gar kunstmäßig zu unter
richten ansing.
Eben trabte er seinen Kreis in gehöriger Stall
meisterstellung, die Zügel und Schenkel sehr verständig brauchend,
um die erfreute» Ritterlein her, und schon war es an dem, daß er de» Schimmel im Gallop ansprengen sollte, — da lenkte ein ganz
gewaltiges Jubelgeschrei die Blicke des Schülers, so wie auch die der drei Meister, nach einem Rasenhügel hin, wo jetzt eben des neuenvählten Fürsten Krönung vor sich gehen sollte.
Sehr stolz und feierlich erschien eben Puppedenzke, aber den noch tonnten sich Fritz und die Ritterlein gar nicht des Lachens er wehren, und auch Schalk aus Brabant gesellte sich zu ihnen, und lachte recht aus ganzem Herzen mit.
Denn um die Perückenkrone
desto würdiger und ungehinderter zu tragen, hatte sich Puppedenzke
sein blondes Lockenhaar ganz ratzenkahl abscheeren lassen, und sah nun unaussprechlich toll und spaßhaftiglich aus.
Aber die Uebn'gen
schienen das kaum zu merken, oder wenn irgend einmal ein Kichern allgemein werden wollte, brauchte Puppedenzke nur aus der Fibel
abzuschreien: „BA Ba!" und Alles war wie durch einen Zauber-
53 spruch in ehrerbietiges Schweigen versteintz nur immer Fritzchen, die drei Ritterlein, und Schalk aus Brabant ausgenommen, wobei
es auch ordentlich war,
als
hätte das Waldhornpferdchen gern
mitgelacht, wenn es gekonnt hätte.
Der alte kleine Richter sah
bisweilen mit vermehrter Verdrießlichkeit nach der Lachgesellschaft hin, aber gütig und huldvoll entschuldigte sie Puppedenzke sämmt
lich damit: bei Fritzchen seyen es Studentenmanieren, wie man auch schon an dem unnöthigen Fechten sehen könne, und ohne Zweifel habe er die Ritter, den Schalk und den Schimmel — sonst lauter
wohlgesinnte Personen — ein Bischen damit angesteckt.
Leutseelige
Herren, meinte er, müßten über solche Lappalien schon wegsehen.
Deshalben pries ihn der Richter ausnehmend, und setzte ihm mit einer höchst erhabnen Rede die Perücke auf, welche den kleinen
König mit ihren langen Puderlocken fast über und über, wie ein ungeheurer Mantel, bedeckte.
Nun kam er erst der Versammlung recht ehrwürdig vor, und
absonderlich dem Richter; ja, als dieser dem neuen König ein Lebe hoch bringen sollte, war es ihm, als ob für eine so herrliche Per son der Name Puppedenzke viel zu geringfügig und kindisch sey, weshalb er dem versammelten Volke vorschlug, man solle dm ge lehrten Herrscher lieber auf eine weit schicklichere Weise Puppedanz
benennen.
Der Antrag gefiel Jedermann, und alsbald brauste
von allen Seiten der Zuruf durch die Lüfte: „Vivat Puppedanz
der Erste!
Puppedanz der Erste, Vivat hoch!"
Schimmel, Fritzchen, Schalk und die drei Ritter wären vor Lachlust und Lachen beinah umgekommen.
54 Da zog es am Himmel herauf wie ein rother Morgenstrcif, und Puppedanz der Erste bewies sogleich, daß er des Guten, wel ches ihm als Puppedenzke zu Theil geworden war, keinesweges
vergessen habe, denn er entblödete sich nicht, mit augenscheinlicher Gefahr seiner Perückenkrone, Fritzchen in die Arme zu nehmen, ihn
durch einige wundersame Lieder einzusingen, und dann in höchst eigner Person mit dem halb träumenden Knaben den nächsten Weg
nach der Försterwohnung auf dem treuen Waldhornrößlein hinunter und hinauf zu traben,
wollte.
so rasch es sich nur irgend thun lassen
Fritzchen fühlte sich wie in einer Wiege, und schlief end
lich zur tiefsten Ruhe und Behaglichkeit ein. Beim Erwachen fand er sich in seinem Bettchen.
Die Sonne
blickte schon ganz hell und hoch durch die Fenster; Julchen und Jettchen standen neben ihm , und lachten den kleinen Langschläfer
aus.
Da sagte Fritz: „ nicht Langschläfer!
Gar nicht Langschläfer!
Viel geritten, viel gefochten, viel gelacht!"
an den
Und in Erinnerung
zum König Puppedanz gewordnen Puppedenzke fing
er
abermals herzlich zu lachen an, und die Schwestern sprangen aus
dem Zimmer, um dem Vater von dem wunderlichen kleinen Träu mer zu erzählen. Aber Förster Waidhart war der Spur eines Ebers nachgegangen, und wollte erst gegen Mittag wieder zu Hause seyn.
Als nun Fritzchen vor die Thüre herauskam, hielten ihm die Schwestern ihre Puppen entgegen, und riefen ihm zu: „Laß sie
tanzen! Laß sie tanzen."
Der Kleine hingegen wandte sich un
willig ab, und sagte: „Ach, nichts da!
muß Reitschule halten."
Habe mehr zu thun;
Da. fingen Zulchen und Jettchen wieder
55 sehr an zu lachen über den wunderlichen Jungen, der reiten wollte,
und hatte ja doch kein Pferd. Verweile lockte Fritz einen großen Ziegenbock, der schon lange
in dem Försterhofe wohnte, mit Brot heran, und hui, eh es sich zog er einen Strick durch des Thieres
irgend Jemand versah,
Maul,
Rücken.
und schwang sich mit einem
kecken Sprunge auf dessen
Das fing nun voll Schrecken und Ungeduld zu bäumen
und zu bocken an, und die zwei kleinen Mädchen weinten ängstlich über ihres Brüderchens Gefahr.
Fritz nahm die Sache ganz spaß
haft, und hielt sich lange mit vieler Sicherheit und Kraft auf seinem ungezähmten und ganz unbändigen Reitpferde fest.
End
lich aber sprang es so kerzengrade in die Höhe, und so steilrecht wieder hinunter, daß der kleine Ritter über die Hörner weg auf den Rasen hinflog. —
„DummesBockpferd," murmelte er.
hornpferdchen ging besser, viel besser." chen
hindern konnten,
„Wald
Und bevor es die Mäd
hatte er den Ziegenbock wieder bestiegen,
und hammecke ihn nun dermaßen mit den Füßen zusammen, daß
demüthig ward und ganz lenksam
das
Recht und die Obergewalt seines kleinen Reiters anerkannte.
Die
der gehörnte Gaul ganz
Schwestern schlugen in froher Verwunderung ihre Händchen über dem Kopf zusammen, als Fritz sein bezwungnes Thier bald im regelrechten Kreise um sie hertraben ließ, bald in geschickten Wen
dungen ihn schlängelnd hin und wieder lenkte.
Nun sprang er ab, nahm den Zaum aus seines Reitpferds
Munde, und streichelte es freundlich.
Da baten Jettchen und Jul-
chen: „Mehr, lieber Fritz! Reite doch noch ein Bischen mehr auf
56
dem närrischen Ziegenbock." Aber Fritz erwiederte sehr verständig : „Pferdchen jetzt müde ist, Pferdchen jetzt auf die Weide muß." Und alsbald ließ er es in eine kleine, umhegte Wiese hineinlaufen. Um indeß seinen Schwestern auf eine andre Art zu Willen zu seyn, machte er ihnen von den übrigen Kunststücken, die ihm zu Rächt die Ritterlein gelehrt hatten, allerlei Lustiges vor, so daß die Mädchen gar nicht aus der Freude kamen. Man geriech dabei um ein gutes Stück in die Waldung hinein, und Jettchen meinte, da könne ihnen wohl etwas Gefährliches aufstoßen; besser sey eS, wieder nach der Hütte umzukehren. — „I, was soll uns denn hier eben Großes begegnen?" erwiederte Julchen. „Sind wir ja doch in dem Thale, durch welches Vater zurückkommen muß." Da ließ es sich denn Jettchen auch gefallen, und wirklich hörte man bereits aus der Ferne das laute Ja^n der Försterhunde, im fröhlichen Wiederhall von den Felsen zurückprallend. Aber plötzlich voll schäumender Wildheit brach ein angeschos sener Eber durch das Gebüsch, und fuhr auf die hülflosen Kinder rin. Aus großer Weite nur folgten die Hunde; vvn einem schrof fen Felsen sahe der Förster die Gefahr des Liebsten, was er auf dieser Erde hatte. Sein wohlgezielter Schuß streifte den Eber zum zweiten Mal, aber ohne ihn zu fallen. Rur rachedurstiger raste das Thier; die Kinder schienen verloren. Da sprang Fritzchen ganz seitwärts von den flüchtenden Schwe stern ab, und wie er es wohl schon den Vater hatte thun sehn, reiztt er den zürnenden Verfolger mit einem lauten „Husu! Husu!" grade auf sich heran. Blitzschnell fuhr der Eber nun
57 auf ihn ein, aber Fritzchen war noch um vieles schneller einen
glatten Tannenbaum hinauf geklettert, und während die schäu
mende Bestie unten in
fruchtloser Wuth an den Wurzeln hieb
und wühlte, lachte des Knaben lächelndes Gesicht fast wie ein ro
thes Aepfelchen zwischen den schwarzgrünen Zweigen hervor,
die
im Winde schwankend und rauschend ihren kleinen Gast anmuthig
aus und niederwiegten.
den Eber gepackt,
Nicht lange, so hatten die treuen Hunde
und
ein kräftiger Waidmesserstoß des herbei
geeilten Försters warf ihn leblos in die Gräser. glitt Fritzchen vom Baume nieder,
Lustig singend
und hüpfte schmeichelnd um
seinen Vater her. Dem schwoll das wackre Herz von Dank gegen Gott und von
Entzücken über seine geretteten Kinder,
vor Allem
muthigen, an Leib und Seele starken Sohn.
über seinen
Er ließ sich nicht
so ganz damit heraus gegen den Knaben, aber kein Auge konnte
er auf dem Heimwege von ihm abwenden, und fragte dabei immer
wieder auf ihn hinein, wie ihm zu Muthe gewesen sey, und wie ihm der kräftigkühne Gedanke den Sinn durchblitzt habe. Der Kleine stammelte das verständlich genug heraus,
und
dabei kam denn natürlich die Geschichte von Puppedenzke und von
den drei Ritterlein und von Schalk aus Brabant und all' den
wunderlichen Dingen der vergangenen Nacht
mit
zur Sprache.
Sehr freudig und. sehr nachdenklich hörte Förster Waidhart zu,
doch gab er mit keinem Worte seine Meinung kund. Am nächsten Morgen hielt er wieder Schule mit seinen Kin dern, und sah immerfort
dabei voll sichtlicher Erwartung
nach
58 der Lhür.
Was er gewünscht zu haben schien, ließ zwar etwas
länger auf sich warten, als gewöhnlich, aber es kam doch endlich:
nach etwa drei Viertelstunden trat Puppedenzke sehr eilfertig und
mit vielen Bücklingen herein.
In lautes Gelächter brachen die
drei Kinder aus, und auch der ernste Förster konnte nicht umhin,
ein ganz klein wenig mit einzustimmen, so gar toll und wunder
lich war Puppedenzke anzusehn mit seinem ganz kahl geschornen Kopf.
„Solltet ihn erst mit der Puderkrone sehn, mit der Puder
krone!" schrie der ausgelassene Fritz dazwischen.
„Wenn er Pup-
pedanz heißt! ' Da ist 'mal rechter Spaß bei!" Puppedanz der Erste war doch in
einige Verlegenheit ge
rathen, und suchte seinen Aerger über das wilde Auslachen mit möglichster Fassung und Selbstüberwindung niederzudrücken.
Da
winkte ihm Förster Waidhart sich nach aus her Lhür, und die Kinder sahen, wie Beide unter den Rüstern eines nahen Hügels
sehr ernsthaft im ämsigen Gespräche mitsammen auf und nieder gingen.
Endlich blieben sie stehn, gaben sich feierlich, wie zu einem
wichtigen gegenseitigen Versprechen, die Hände, und gingen sodann mit vielen freundlichen Grüßen aus einander.
Förster Waidhart zeigte
sich von nun an ganz ausnehmend vergnügt, ja sogar ostmalen scherz
haft, und eine gewisse dunkle Wolke, die bis dahin über seinen Augen
braunen zu ruhen pflegte, war so gut als gänzlich verschwunden. Fritzchen ward seit diesem Lage gewöhnlich um
die dritte
oder vierte Nacht in das Reich der kleinen Leute abgcholt, über
welches Puppedanz als König herrschte.
Anfangs kam dieser fast
immer selbst, und schickte nur selten einen der drei Ritterlein an
59 seiner Stelle;
zuletzt aber mochte ihm das Regieren zu viele Zeit
wegnehmen, auch ritt er mit jeder Nacht erbärmlicher und un sichrer, so daß Fritz beständig in Gesellschaft eines Ritterleins reiste,
auch jenseit des wunderlichen Erdfußsteiges ausschließlich nur mit seinen drei Meistern verkehrte, die ihm ganz wunderbar herrliche Kampf- und Ringerkünste beibrachten.
Wenn er so was dann
seinem Vater wieder vormachte, glühte dieser in Freuden Hochauf,
daß er fast anzusehen war wie ein mächtiger, halbversteinter Eich
baum in den Lichtern des frühesten Morgengefunkels.
Etwas ver
drießlich sahe man den Förster nur an den Tagen, wo Puppe-
denzke — immer noch mit glattgeschornem Kopfe,
bisweilen auch
gar mit der Perücke drüber — in den Frühstunden mühsam heran gewandelt kam, sein jetzt sehr breit aussehendes Antlitz mit einem Tuche fächelnd, und AB Ab, BA Ba unter Waidharts Anleitung absingend, oder — wie Jettchen und Julchen es zu Puppedenzkes großem Aerger zu nennen pflegten, — abblökend.
Vater Waid
hart gewann aber seine jetzige heitre Laune immer bald wieder, und pflegte zuletzt aus voller Brust zu lachen, sprechend:
„Hab' es denn Jeder, wie er es haben will.
Der Tauschhandel
von meiner Seite ist ehrlich, und die etwas dumme Mühseeligkeit,
die es mir kostet, soll sich in Erdenseeligkeit und Himmelsseeligkeit
an Fritz und seinen Kindern und Kindeskindern schon vergelten." Fritzchen bemerkte indeß nach geraumer Zeit, daß die kleinen Leute, wenn er einmal zu öffentlichen Festen bei ihnen eintraf, nur
wenig mehr sprangen und wettliefen und ritten, sondern fast die
ganze Zeit mit dem Abschreien ihres mühsam eingelernten AB Ab,
60 BA Ba verbrachten.
Und wenn es denn auch endlich einmal an
die schönen Ritterübungen kam, erwiesen sich jetzt beinah Alle so ausnehmend ungeschickt darin, daß man wohl sah, in kurzer Zeit
würden
sie vollends um die ganze
edle Kunst gekommen
seyn.
Fritzchen übte sich nur mit seinen drei Meistern, denn die Andern waren ihm viel zu schwach, ungelenkig und mattherzig.
Aber so
gar die drei Ritterlein schienen nach und nach an der altedlen Kraft und Kampfeslust zu verlieren.
Zum Theil sah es wohl deshalb so
aus, weil Fritz recht schnell und stark emporwuchs, und gewaltig viel in der freudigen Schule lernte, doch lag es unbezweifelt auch
an den drei Ritterlein selbst. Es war schon mehrere Jahre so fortgegangen, und Fritz konnte bereits die wilden Rosse des Waldes zähmen, und sie im eben so
geflügelten als gezügelten Lauf thalunter sprengen und bergauf,
da kamen einstmalen an einer dunklen, fernabgelegnen Stelle des Forstes die drei Ritterlein zu ihm, und hielten ihm folgende Rede:
„Du bist nun unser Schüler nicht mehr, Du kecker Fritz; Du bist nun unser Waffenfreund und Genosse.
Weil wir also Dir nichts
mehr lehren können, wirst du auch nichts dawider haben, daß wir einstweilen Abschied von dir nehmen, um auf unsre eigne Hand Abenteuer in der Welt zu suchen.
Ueberhaupt geht nun der ganze
Vertrag zu Ende, weil auch König Puppedanz der Erste von Dei nem Vater das AB Ab und BA Ba so hinlänglich gelernt hat, als es Dein Vater selbst versteht.
Schlimm ist es nur, daß jemS
gelehrte BA Ba unserm ganzen Volke in die Glieder geschlagen
ist, wie Du es ohne Zweifel schon seit langer Zeit bemerkt haben
61 mußt.
Sie können nicht ringen, nicht springen, nicht schwingen,
nicht singen; sie können nicht reiten, nicht streiten, — kaum schrei ten; — kurz: es sind eben lauter Bahkerle geworden, und sogar
uns hat das verwünschte AB Ab entsetzlich herunter gebracht.
Weil
wir nun ohnehin darin nicht sehr weit gekommen find, und Puppedanz der Erste uns deshalb für sehr rohe, unbequeme,
und wohl
gar höchst gefährliche Unterthanen halt, hat er uns den Urlaub auf
ein Stücker drei Jahrhunderte mit Freuden bewilligt. men also Abschied von Dir, Du lieber kecker Fritz.
Wir neh
Den Fußsteig
nach unserm Lande brauchst Du nicht wieder zu suchen; — beiläu fig gesagt: das Ding liegt in Amerika — denn in Puppedanz des Ersten Reichen giebt es nun gar keinen Spaß mehr, indem auch
Schalk aus Brabant aus Langerweile von den A B Absleuten wegge-
lauscn ist; aber wir treffen wohl irgend einmal anderwärts Eins das Andre an, und dann wollen wir recht lustig seyn, und uns als gute Waffen-undSpaß - und Lachbrüder gehörig vor aller Wett beweisen." Fritz war ordentlich recht betrübt, daß seine ehemaligen Meister
fortzogen, aber er konnte und wollte nichts dawider einwenden, wohl merkend, daß sie das beste Theil ergriffen hätten.
Nur selbst
noch lange in dem Walde zu bleiben, kam ihm nach der Trennung von den drei Ritterlein abscheulich langweilig vor, und das sagte
er bei der Heimkehr seinem Vater auch ganz frei heraus.
Dieser erwiederte nach einigem Besinnen: ,, Ziehe hin, lieber Fritz! in Gottes Namen.
Du sollst wissen, daß ich mich eigentlich
in diese öde Waldung begeben habe, weil mich die Menschen, die draußen wohnen, allzusehr ärgerten.
Die haben es nämlich grade
62 so gemacht, wie Puppedanz der Erste und seine Unterthanen. haben vor
Sie
lauter AB Ab und BA Ba die edlen Nitterkünste in
Grund und Boden verderben lassen, und sehen größtentheils aus wie Jammerbilder.
Doch denke ich nun, wenn Einer unter sie
kommt, der so ist wie Du — den dreien Ritterlein sey es zu vie
len tausend Malen gedankt — könnte er vielleicht eine Menge von ordentlichen Kerlen neben sich aufziehn, und so die ganze Geschichte wieder in Gang bringen.
Ich bin zu alt, und wohl auch zu ver
drießlich, um mich auf die rechte Manier damit abzugeben. Reise Du
also allein.
Wenn es aber erst draußen einigermaßen vernünftig
aussieht, so komm wieder und hole mich und deine Schwestern nach. Da zog der Fritz recht frisch und fröhlich in die Welt, und
richtete Alles ganz tüchtig aus, wie es ihm der Vater aufgetragen hatte, und dann kam er wieder, und holte die Andern.
Er war
ein großmächtiger General geworden, und trug schöne Rittersterne auf seiner Brust.
Julchen und Jettchen sollen mit der Zeit sehr
herrliche Prinzen geheirathet haben, und wohl gar Königinnen ge worden seyn, und wenn sie nicht todt sind, leben sie noch.
Nussknacker Ullfl
ITauseköni».
63
» Nußknacker und Mausekönig.
Der Weihnachtsabend. Am vier und zwanzigsten December dursten die Kinder des Medizinalraths Stahlbaum den ganzen Tag über durchaus nicht in
die Mittelstube hinein, viel weniger in das daran stoßende Prunk
zimmer.
In einem Winkel des Hinterstübchens zusammengekauert
saßen Fritz und Marie, die tiefe Abenddämmerung war eingebrochen und es wurde ihnen recht schaurig zu Muthe, als man, wie es gewöhnlich an dem Tage geschah, kein Licht hereinbrachte.
Fritz
entdeckte ganz insgeheim wispernd der jüngern Schwester (sie war eben erst sieben Jahr alt geworden) wie er schon seit früh Morgen
es habe in den verschlossenen Stuben rauschen und rasseln, und leise pochen hören.
Auch sey nicht längst ein kleiner dunkler Mann
mit einem großen Kasten unter dem Arm über den Flur geschlichen, er wisse aber wohl, daß es niemand anders gewesen als Pathe
Droßelmeier.
Da schlug Marie die kleinen Händchen voll Freude
zusammen und ries:
„Ach was
für uns Schönes gemacht haben.
wird
nun Pathe Droßelmeier
Der Obergerichtsrath Droßel
meier war gar kein hübscher Mann, nur klein und mager, hatte
64 viele Runzeln im Gesicht, statt des rechten Auges ein großes schwar
zes Pflaster und auch gar keine Haare, weshalb er eine sehr schöne weiße Perücke trug, die war aber von Glas und ein künstliches Stück Arbeit.
Ueberhaupt war der
Pathe selbst auch ein
sehr
künstlicher Mann, der sich sogar auf Uhren verstand und selbst welche machen konnte.
Wenn daher eine von den schönen Uhren
in Stahlbaums Hause krank war und nicht singen konnte, dann kam Pathe Droßelmeier, nahm die Glasperücke ab, zog sein gelbes Röckchen aus, band eine blaue Schürze um und stach mit spitzen
Instrumenten in die Uhr hinein, so daß es der kleinen Marie or dentlich wehe that, aber es verursachte der Uhr gar keinen Scha
den, sondern sie wurde vielmehr wieder lebendig und fing an recht
luftig zu schnurren, zu schlagen tinb zu singen, worüber denn Alles große Freude hatte.
Immer trug er, wenn er kam, was Hübsches
für die Kinder in der Lasche, bald ein Männlein, das die Augen verdrehte und Complimente machte, welches komisch anzusehen war, bald eine Dose, aus der ein Vögelchen heraushüpste, bald waS Anderes.
Aber zu Weihnachten, da hatte er immer rin schönes
künstliches Werk verfertigt, das ihm viel Mühe gekostet, weshalb es auch, nachdem es einbescheert worden, sehr sorglich von den
Eltern aufbewahrt wurde. —
meier für uns Schees
„ Ach, was wird nur Pathe Droßel
gemacht haben," rief nun Marie;
Fritz
meinte aber, e.s könne wohl diesmal nichts anders seyn, als eine
Festung, in der allerlei sehr hübsche Soldaten auf- und abmarschirten und exerzirten und dann müßten andere Soldaten kommen,
die in die Festung hineinwollten, aber mm schössen die Soldaten
65 von innen tapfer heraus mit Kanonen, daß es tüchtig brauste und knallte. „Nein, nein," unterbrach Marie den Fritzr j,Pathe Droßelmeier hat mir von einem schönen Garten erzählt, darin ist ein großer See, auf dem schwimmen sehr herrliche Schwäne Mit goldnen Halsbändern herum und singen die hübschesten Lieder. Dann kommt ein kleines Mädchen aus dem Garten an den See und lockt Vie Schwäne heran, und füttert sie mit süßem Marzipan." Schwäne fressen keinen Marzipan, fiel Fritz etwas rauh ein, und einen gan zen Garten kann Pathe Droßelmeier auch nicht machen. Eigent lich haben wir wenig von seinen Spielsachen; es wird uns ja alles gleich wieder weggenommen, da ist mir denn doch das diel lieber, was uns Papa und Mama einbescheeren, wir behalten es sein und können damit machen, was wir wollen." Nun riethen die Kinder hin und her, was es wohl diesmal wieder geben könne. Marie meinte, daß Mamsell Trutchen (ihre große Puppe) sich sehr verändere, denn ungeschickter als jemals fiele sie jeden Augmblick aus den Fußboden, wel^s ohne garstige Zeichen im Gesicht nicht abginge, und dann sey an Reinlichkeit in der' Kleidung gar nicht mehr zu dercken. Alles tüchtige Ausschelten helfe nichts. Auch habe Mama gelächelt, als sie sich über Gretchens kleinen Sonnen schirm so gefreut. Fritz versicherte dagegen, ein tüchtiger Fuchs fehle seinem Marstall durchaus, gleichwie seinen Truppen gänzlich an Kavallerie, das sey dem Papa recht gut bekannt. — So wußten die Kinder wohl, daß die Eltern ihnen allerlei schöne Gaben ein gekauft hatten, die sie nun aufstellten, es war ihnen aber auch ge wiß, daß dabei der liebe heilige Christ mit gar freundlichen from5
66 men Kindesaugen hineinleuchte
und
daß
wie von seegensreicher
Hand berührt, jede Weihnachtsgabe herrliche Lust bereite wie keine andere.
Daran erinnerte die Kinder, die immerfort von den zu
erwartenden Geschenken wisperten, ihre ältere Schwester Luise hin zufügend, daß es nun aber auch der heilige Christ sei, der durch
die Hand der
lieben Eltern den Kindern immer das bescheere,
was ihnen wahre Freude und Lust bereiten könne, das wisse er viel besser als die Kinder selbst, die müßten daher nicht allerlei wünschen und hoffen, sondern still und fromm erwarten, was ihnen Die kleine Marie wurde ganz nachdenklich, aber
bescheert worden.
Fritz murmelte vor sich hin: „ Einen Fuchs und Husaren hätt ich
nun einmal gern." Es war ganz finster geworden; Fritz und Marie, fest an ein
ander gerückt, wagten kein Wort mehr zu reden, es war ihnen als rausche es mit linden Flügeln um sie her und als ließe sich eine ganz ferne, aber sehr herrliche Musik vernehmen.
Ein heller
Schein streifte an der Wand hin, da wußten die Kinder, daß riuit
das Christkind auf glänzenden Wolken fortgeflogen zu andern glück lichen Kindern.
In dem Augenblick ging es mit silberhellem Ton:
Klingling, klingling, die Thüren sprangen auf, und solch ein Glanz strahlte aus dem großen Zimmer hinein, daß die Kinder mit lau
tem Ausruf: „Ach! — Ach!" wie erstarrt auf der Schwelle ste hen blieben.
Aber Papa und Mama traten in die Thüre, faßten
die Kinder bei der Hand und sprachen: „Kommt doch nur, kommt
doch nur, ihr lieben Kinder, und seht, was euch der heilige Christ bescheert hat.
67 Die Gaben. Ich wende mich an Dich selbst, sehr geneigter Leser oder Zu
hörer Fritz — Theodor — Ernst — oder wie
du
sonst
heißen
magst und bitte dich, daß du dir deinen letzten mit schönen, bunten Gaben reich geschmückten Weihnachtstisch recht lebhaft vor Augen bringen mögest, dann wirst Du es Dir wohl auch denken können,
wie die Kinder mit glänzenden Augen ganz verstummt stehen blie ben, wie erst nach einer Weile Marie mit einem tiefen Seufzer rief: „Ach wie schön — ach wie schön" und Fritz einige Lust sprünge versuchte, die ihm überaus wohl geriethen.
Aber die Kin
der mußten auch das ganze Jahr über besonders artig und fromm gewesen seyn, denn nie war ihnen so viel Schönes, Herrliches ein-
beschcert worden als diesesmal.
Der große Tannenbaum in der
Mitte trug viele goldne und silberne Aepfel,
und wie Knospen
und Blüthen keimten Zuckermandeln und bunte Bonbons und was es sonst noch für schönes Naschwerk giebt, aus allen Aesten.
Als
das Schönste an dem Wunderbaum mußte aber wohl gerühmt wer den, daß in seinen
dunklen Zweigen hundert kleine Lichter wie
Sternlein funkelten und er selbst in sich hinein und herausleuchtend die Kinder freundlich einlud seine Blüthen und Früchte zu pflücken.
Um den Baum umher glänzte alles sehr bunt und herrlich — was es da alles für schöne Sachen gab — ja! wer das zu beschreiben
vermöchte!
Marie erblickte die zierlichsten Puppen, allerlei saubere
kleine Geräthschasten und was vor allem schön anzusehen war: ein seidenes Kleidchen, mit bunten Bändern zierlich geschmückt, hing
5*
68
—
an einem Gestell so der kleinen Marie vor Augen, daß sie es von
allen Seiten betrachten konnte uud das that sie denn auch, indem sie einmal über das andere ausrief: „Ach das schöne,
ach das
liebe -r- liebe Kleidchen; und das werde ich — ganz gewiß —
das werde ich wirklich anziehen dürfen!" —
Fritz hatte indessen
schon drei oder viermal um den Tisch herum galoppirend und tra bend den neuen Fuchs versucht, den er in der That am Tische an
gezäumt gefunden.
Wieder absteigend meinte er: es sey eine wilde
Bestie, das thäte aber nichts, er wolle ihn schon kriegen, und musterte die neue Schwadron Husaren, die sehr prächtig in Roth
und Gold gekleidet waren, lauter silberne Waffen trugen und auf solchen weißglanzenden Pferden ritten, daß man beinah hätte glau ben sollen, auch diese seym von purem Silber.
Eben wollten die
Kinder, etwas ruhiger geworden, über die Bilderbücher her, die aufgeschlagm waren,
daß man allerlei sehr schöne Blumen und
bunte Menschen, ja auch allerliebste spielende Kinder, so natür
lich gemalt als lebten und sprachen sie wirklich, gleich anschauen konnte. —
Bücher her,
Za! eben wollten die Kinder über diese wunderbaren als nochmals geklingelt wurde.
Sie wußten,
daß
nun Pathe Droßelmeier einbescheeren würde, und liefe» nach dem
an der Wand stehenden Tisch.
Schnell wurde der Schirm, hinter
dem er so lange versteckt gewesen, weggenommen. da die Kinder! —
Was erblickten
Aus einem grünen, mit bunten Blumen ge
schmückten Rasenplatz stand ein sehr herrliches Schloß mit vielen Spiegelfenstern und goldnen Thürmen.
Ein Glockenspiel ließ sich
hören, Thüren und Fenster gingen auf, und man sah, wie sehr
69 kleine aber zierliche Herrn und Damen mit Federhüten und langen Schleppkleidern in den Sälen herumspatzierten.
In dem Mittel
saal, der ganz in Feuer zu stehen schien — so viel Lichtetchen
-rannten an silbernen Kronleuchtern — tanzten Kinder in kurzen
Wämschen und
dem Glockenspiel.
Röckchen nach
Ein Herr in
einem smaragdenen Mantel sah ost durch ein Fenster, winkte her aus und verschwand wieder, so wie auch Pathe Droßelmeier selbst, aber kaum viel höher als Papas Daumen, zuweilen unten an der
Thür
des Schlosses
stand
und
wieder
hineinging.
Fritz hatte
mit auf den Tisch gestemmten Armen das schöne Schloß und die tan zenden und spatzierenden Figürchen angesehen, dann spxücherr „Pathe
Droßelmeier!
Laß mich tnal hineingehen in dein Schloß!" —
Der Obergerichts-Rath bedeutete ihm, daß das nun ganz und gar
nicht anginge.
Er hatte auch Recht, denn es war thöricht von
Fritzen, daß er in ein Schloß gehen wollte, welches überhaupt
mit sammt feinen goldnen Thürmen nicht so hoch war, als er
selbst.
Fritz sah das auch eia.
Rach einer Weile, als immerfort
auf dieselbe Weise die Herrn und Damen hin und her fpatzierten,
die Kinder tanzten, der smaragdene Mann zu demselben Fenster
heraussah, Pathe Droßelmeier vor die Thür trat, da rief Fritz ungeduldig:
Pathe Droßelmeier, nun komm mal zu der andern
Thür da drüben heraus."
„Das geht nicht, liebes Fritzchen," er
wiederte der Obergerichts-Rath.
weiter,
„Nun so laß mal," sprach Fritz
„laß' mal den grünen Mann,
mit den andern herumspatzieren."
der so ost herauskuckt,
„Das geht auch nicht," erwie
derte der Obergerichts-Rath aufs neue.
„So sollen die Kinder
70 herunter kommen, rief Fritz, „ich will sie naher besehen."
„Ei,
das geht alles nicht," sprach der Ob^rgerichts-Rath verdrießlich, „wie die Mechanik, nun einmal gemacht ist, muß sie bleiben"
„So —o?" frug Fritz mit gedehntem Ton, „das geht alles nicht?
Hör mal Pathe Droßelmeier, wenn deine kleinen geputzten Dinger in dem Schlosse nichts mehr können als immer dasselbe, da taugen sie nicht viel, und ich frage nicht sonderlich nach ihnen. —
Nein,
da lob' ich mir meine Husaren, die müssen manövriren vorwärts,
rückwärts, wie ichs haben will und sind in kein Haus eingesperrt."
Und damit sprang er fort an den Weihnachtstisch und ließ seine Escadron auf den silbernen Pferden hin und her trottiren und schwenken und einhauen und feuern nach Herzenslust.
Auch Marie
hegte sich sachte fortgeschlichen, denn auch sie wurde des Herum gehens und Tanzens der Püppchen im Schlosse bald übndrüßig,
und mochte es, da sie sehr artig und gut war, nur nicht so mer ken lassen,
wie Bruder Fritz.
Der Obergerichts-Rath Droßel
meier sprach ziemlich verdrießlich zu den Eltern: „Für unver
ständige Kinder ist solch künstliches Werk nicht, ich will nur mein Schloß wieder einpacken;" doch die Mutter trat hinzu, und ließ
sich dm innern Bau und das wunderbare, sehr künstliche Räder werk zeigen, wodurch die kleinen Püppchen in Bewegung gesetzt wurden.
Der Rath nahm alles aus einander, und setzte es wieder
zusammen. Dabei war er wieder ganz heiter geworden, und schenkte
den Kindern noch einige schöne braune Männer und Frauen mit
göldnen Gesichtern, Händen und Beinen.
Sie waren sämmtlich
aus Thorn, und rochen so süß und angenehm wie Pfefferkuchen,
71 worüber Fritz und Marie sich sehr erfreuten. hatte, wie es die Mutter gewollt,
Schwester Luise
das schöne Kleid angezogen,
welches ihr einbescheert worden, und sah wunderhübsch aus, aber
Marie meinte, als sie auch ihr Kleid anziehen sollte, sie möchte es lieber noch ein Bischen so ansehen.
Man erlaubte ihr das gern.
Der Schützling. Eigentlich mochte Marie sich deshalb gar nicht von dem Weih nachtstisch trennen, weil sie eben etwas noch nicht Bemerktes ent
deckt hatte.
Durch das Ausrücken von Fritzens Husaren, die dicht
an dem Baum in Parade gehalten, war nämlich ein sehr vor trefflicher kleiner Mann sichtbar geworden, der still und bescheiden
da stand, als erwarte er ruhig, wenn die Reihe an ihn kommen werde.
Gegen seinen Wuchs wäre freilich vieles einzuwenden ge
wesen, denn abgesehen davon, daß der etwas lange,
starke Ober
leib nicht recht zu den kleinen dünnen Beinchen passen wollte, so
schien auch der Kopf bei weitem zu groß.
Vieles machte die propre
Kleidung gut, welche auf einen Mann von Geschmack und Bildung schließen ließ.
Er trug nämlich ein sehr schönes, violettglänzendes
Husarenjäckchen mit vielen weißen Schnüren und Knöpfchen, eben
solche Beinkleider, und die schönsten Stiefelchen, die jemals an die Füße eines Studenten, ja wohl gar eines Offiziers gekommen sind. Sie saßen an den zierlichen Beinchen so knapp angegossen,
wären sie darauf gemalt.
als
Komisch war es zwar, daß er zu dieser
Kleidung sich hinten einen schmalen unbeholfnen Mantel, der recht
aussah wie von Holz, angehängt, und ein Bergmannsmützchen auf-
72 gesetzt hatte, indessen dachte Marie daran, daß Pathe Droßelmeier ja auch einen sehr schlechten Matin umhänge, und eine fatale Mütze
auffetze, dabei aber doch ein gar lieber Pathe sey.
Auch stellte
Marie die Betrachtung an, haß Pathe Droßelmeier, trüge er sich auch übrigens so zierlich wie der Kleine, doch nicht einmal so hübsch
als er aussehen werde.
Indem Marie den netten Mann, den sie
auf den ersten Blick lieb gewonnen, immer mehr und mehr ansah,
da wurde sie erst recht inne, Gesichte lag.
welche Gutmüthigkeit auf seinem
Aus den hellgrünen, etwas zu großen hervorstehenden
Aasen sprach nichts als Freundschaft und Myhlwollen.
Es stand
dem Manne gut, daß sich um sein Kinn ein wohlfrisirter Bart von weißer Baumwolle legte, denn um so mehr konnte man das süße fächeln des hochrothen Mundes bemerken»
„Ach!" rief Marie
endlich aus: „ Ach, lieber Vater, wem gehört Henn der allerlieb-e kleine Mann dort am Baume?"
„Der," antwortete der Vater,
„der, liebes Kind! soll für Euch alle tüchtig arbeiten, er soll Euch fein die harten Nüsse aufbeißen, und er gehört Luisen eben so gut
als Dir und dem Fritz."
vom Tische,
Damit nahm ihn der Vater behutsam
und indem erden hölzernen Mantel in die Höhe hob,
sperrte das Männlein den Mund weit, weit auf, und zeigte zwei
Reihen sehr
Geheiß eine
weißer spitzerZähnchen.
Marie schob auf des Vaters
Nuß hinein, und — knack — hatte sie der Mann
zerbissen, daß die Schalen abfielen, und Marie den süßen Kern in die Hand bekam.
Nun
mußte wohl jeder und auch Marie
wissen, daß der zierliche kleine Mann aus dem Geschlecht der Nuß knacker abstammte, und die Profession seiner Vorfahren trieb.
Sie
73 jauchzte auf vor Freude, da sprach der Vater: „da Dir, liebe
Marie, Freund Nußknacker so sehr gefällt, so sollst Du ihn auch
besonders hüten und schützen, unerachtet, wie ich gesagt, Luise und Fritz ihn mit eben so vielem Recht brauchen können als Du!" — Marie nahm ihn sogleich in den Arm, und ließ ihn Nüsse aufknackw, doch suchte sie die kleinsten aus, damit das Männlein nicht
so weit den Mund aufsperren durfte, welches ihm doch im Grunde nicht gut stand.
Luise gesellte sich zu ihr, und auch für sie mußte
Freund Nußknacker seine Dienste verrichten, welches er gern zu thun schien, da er immerfort sehr freundlich lächelte.
Fritz war
unterdessen vom vielen Exerzieren und Reiten müde geworden, und da er so lustig Nüsse knackm hörte, sprang er hin zu den Schwe stern, und lachte recht von Herzen über den kleinen drolligen Mann,
der nun, da Fritz auch Nüsse essen wollte, von Hand zu Hand ging, und gar nicht aufhören konnte mit Auf- und Zuschnappen.
Fritz schob immer die größten und härtsten Nüsse hinein, aber mit einem Male ging ed — krack — krack — und drei Zähnchen fielen aus des Nußknackers Munde, und
sein ganzes Unterkinn
war lose und wacklicht. — „Ach mein armer, lieber Nußknacker!" schrie Marie laut,
und nahm ihn dem Fritz aus den Händen.
„Das ist ein einfältiger, dummer Bursche," sprach Fritz.
Nußknacker seyn, und hat kein ordentliches Gebiß
auch sein Handwerk gar nicht verstehen. — Marie!
„Will
mag wohl
Gieb ihn nur her,
Er soll mir Nüsse zerbeißen, verliert er auch noch die
übrigen Zähne, ja das ganze Kinn obendrein, was ist an dem
Taugenichts gelegen."
„Nein, nein," rief Marie weinend, „Du
74 bekommst ihn nicht, meinen lieben Nußknacker, schau nur her, wie er mich so wehmüthig anschaut, und mir sein wundes Mündchen
zeigt! —
Aber Du bist ein hartherziger Mensch — Du schlägst
Deine Pferde, und läßt wohl gar einen Soldaten todt schießen." — „Das muß so seyn, das verstehst Du nicht," rief Fritz; „aber
der Nußknacker gehört eben so gut mir, als Dir, gieb ihn nur her." —
Marie fing an heftig zu weinen, und wickelte den kran
ken Nußknacker schnell in ihr kleines Taschentuch ein.
kamen mit dem Pathen Droßelmeier
herbei.
Die Eltern
Dieser nahm zu
Mariens Leidwesen Fritzens Parthie, der Vater sagte aber: „Zch habe den Nußknacker ausdrücklich unter Mariens Schutz gestellt, und da, wie ich sehe, er dessen eben jetzt bedarf, so hat sie volle
Macht über ihn, ohne daß jemand drein zu reden hat.
Uebrigens
wundert es mich sehr von Fritzen, daß er von einem im. Dienst
Erkrankten noch fernere Dienste verlangt. Als guter Militair sollte er doch wohl wissen, daß man Verwundete niemals in Reihe und Glied stellt?" —
Fritz war sehr beschämt, und schlich, ohne sich
weiter um Nüsse und Nußknacker zu bekümmern, fort an die an dere Seite des Tisches, wo seine Husaren, nachdem sie gehörige
Vorposten ausgestellt hatten, ins Nachtquartier gezogen waren. Marie suchte Nußknackers verlorne Zähnchen zusammen, um das kranke Kinn hatte sie ein hübsches weißes Band, dgs sie von ihrem Kleidchen abgelöst, gebunden, und dann den armen Kleinen, der
sehr blaß und erschrocken'aussah, noch sorgfältiger als vorher in ihr Tuch eingewickelt.
So hielt sie ihn wie ein kleines Kind wie
gend in den Armen, und besah die schönen Bilder des neuen Bil-
75 derbuchs, das heute unter den andern vielen Gaben lag.
Sie wurde,
wie es sonst gar nicht ihre Art war, recht böse, als PatheDroßelmeier so sehr lachte, und immerfort frug: wie sie denn mit einem solchen grundhäßlichen kleinen Kerl so schön thun könne? — Jener
sonderbare Vergleich mit Droßelmeier, den sie anstellte, als der Kleine ihr zuerst in die Augen fiel, kam ihr wieder in den Sinn,
und sie sprach sehr ernst: „Wer weiß, lieber Pathe, ob Du, putz test Du Dich auch eben so heraus wie mein lieber Nußknacker, und hattest Du auch solche schöne blanke Stiefelchen an, wer weiß, ob
Du denn doch so hübsch auSsehen würdest, als er!" —
Marie
wußte gar nicht, warum hierauf die Ettern so laut auflachten, und warum der Obergerichts-Rath solch eine rothe Nase bekam, und
gar nicht so hell mitlachte, wie zuvor.
Es mochte wohl seine be
sondere Ursache haben.
Wunderdinge. Bei Medizinalraths in der Wohnstube, wenn man zur Thüre
hineintritt, gleich links an der breiten Wand steht ein hoher Glas schrank, in welchem die Kinder all die schönen Sachen, die ihnen
jedes Jahr einbescheert worden, aufbewahren.
Die Luise war noch
ganz klein, als der Vater den Schrank von einem sehr geschickten Tischler machen ließ, der so himmelhelle Scheiben einsetzte, und
überhaupt das Ganze so geschickt
einzurichten wußte,
daß alles
drinnen sich beinah blanker und hübscher ausnahm, als wenn man es in Händen hatte.
Im obersten Fache, für Marien und Fritzen
unerreichbar, standen des Pathen Droßelmeier Kunstwerke, gleich
76 darunter war das Fach für die Bilderbücher, die beiden untersteh Fächer dursten Marie und Fritz anfüllen, wie sie wollten, jedoch
geschah es immer, daß Marie das unterste Fach ihren Puppen
zur Wohnung einräumte, Fritz dagegen in dem Fache drüber seine
Truppen Cantonnirungsquartiere beziehen ließ.
So war es auch
heute gekommen, denn, indem Fritz seine Husaren oben aufstellte,
hatte Marie unten Mamsell Lrutchen bei Seite gelegt, die neue schön geputzte Puppe in das sehr gut meublirte Zimmer hinein-
gesetzt, und sich auf Zuckerwerk bei ihr eingeladen.
Sehr gutmeu-
blirt war das Zimmer, habe ich gesagt, und das ist auch wahr, denn ich weiß nicht, ob Du, meine aufmerksame Zuhörerin Marie k
eben so wie die kleine Stahlbaum (es ist Dir schon bekannt wor den, daß fie auch Marie heißt), ja! — ich meine, ob Du eben so wie diese, ein kleines, schöngeblümtes Sopha, mehrere allerliebste Stühlchen, einen niedlichen Theetisch, vor allen Dingen aber ein
sehr nettes, blankes Bettchen besitzest, worin die schönsten Puppen
ausruhen?
Alles dieses stand in der Ecke des Schranks, dessen
Wände hier sogar mit bunten Bilderchen tapezirt waren, und Du kannst Dir wohl denken, daß in diesem Zimmer die neue Puppe,
welche, wie Marie noch denselben Abend erfuhr, Mamsell Etärchen
hieß, sich sehr wohl befinden mußte. Es war später Abend geworden, ja Mitternacht im Anzuge,
und Pathe Droßelmeier längst fortgegangen, als die Kinder noch gar nicht wegkommen konnten von dem Glasschrank, so sehr cmch
die Mutter mahnte, daß sie doch endlich nun zu Sette gehn möch ten.
„ Es ist wahr,” rief endlich Fritz, „ die armen Kerls (seine
77 Husaren meinend) wollen auch nun Ruhe haben, und so lange ich da bin, wagts keiner, ein Bischen zu nicken, daß weiß ich schon!" Damit ging er ab;
Marie aber bat gar sehr: „nur noch ein
Weilchen, ein einziges kleines Weilchen laß mich hier, liebe Mut ter, hab ich ja doch noch manches zu besorgen, und ist das gesche hen, so will ich ja gleich zu Bette gehen!"
Marie war gar ein
frommes vernünftiges Kind, und so konnte die gute Mutter wohl ohne Sorgen sie noch bei den Spielsachen allein lassen.
Damit
aber Marie nicht etwa gar zu sehr verlockt werde von der neuen
Puppe und den schönen Spielsachen überhaupt, so aber die Lichter vergäße, die rings um den Wandschrank brennten, löschte die Mut
ter sie sämmtlich aus, so daß nur die Lampe, dir in der Mitte des Zimmers von der Decke herabhing, Licht verbreitete.
ein sanftes, unmuthiges
„Komm bald hinein, liebe Marie! sonst kannst
Du ja Morgen nicht zu rechter Zeit ausstehen," rief die Mutter,
indem sie sich in das Schlafzimmer entfernte.
So bald sich Marie
allein befand, schritt sie schnell dazu, was ihr zu thun recht auf
dem Herzen lag, und was sie doch nicht, selbst wußte sie nicht
warum, der Mutter zu entdecken vermochte. sie den
kranken Nußknacker
dem Arm getragen.
eingewickelt in
Noch immer hatte
ihr Taschentuch
auf
Jetzt legte sie ihn behutsam auf den Tisch,
wickelte leise, leise das Tuch ab, und sah nach dm Wunden.
Nuß
knacker war sehr bleich, aber dabei lächelte er so wehmüthig freund
lich, daß es Marien recht durch das Herz ging.
„Ach Nußknacker
chen," sprach sie sehr leise, „sey nur nicht böse, daß Bruder Fritz Dir so wehe gethan hat, er hat es auch nicht so schlimm gemeint, er
78 ist nur ein Bischen hartherzig geworden durch das wilde Soldaten
wesen, aber sonst ein recht guter Junge, das kann ich Dich versichern. Nun will ich Dich aber auch recht sorglich so lange pflegen, bis Du
wieder ganz gesund und fröhlich geworden; Dir Deine Zähnchen rechl fest einsetzen, Dir die Schultern einrenken, das soll Pathe Droßel-
meier, der sich auf solche Dinge versteht." —
Aber nicht ausreden
konnte Marie, denn indem sie den Namen Droßelmeier nannte, machte Freund Nußknacker ein ganz verdammt schiefes Maul, und aus seinen Augen fuhr es heraus, wie grünfunkelnde Stacheln. In dem Augen blick aber, daß Marie sich recht entsetzen wollte, war es ja wieder
des ehrlichen Nußknackers wehmüthig lächelndes Gesicht, welches sie anblickte, und sie wußte nun wohl, daß der von der Zugluft
berührte, schnell auflodernde Strahl der Lampe im Zimmer Nuß
knackers Gesicht so
entstellt hatte.
„Bin ich nicht ein thöricht
Mädchen, daß ich so leicht erschrecke, so daß ich sogar glaube, das
Holzpüppchen da könne mir Gesichter schneiden!
Aber lieb ist mir
doch Nußknacker gar zu sehr, weil er so komisch ist, und doch so
gutmüthig, und darum muß er gepflegt werden, wie sichs gehört! ”
Damit nahm Marie den Freund Nußknacker in den Arm, näherte sich dem GlaSschrank, kauerte vor demselben, und sprach also zur neuen Puppe: „Ich bitte Dich recht sehr, Mamsell Clärchen, tritt
Dein Bettchen dem kranken, wunden Nußknacker ab, und behelfe Dich, so gut wie cs geht, mit dem Sopha.
Bedenke, daß Du sehr
gesund, und recht bei Kräften bist, denn sonst würdest Du nicht
solche dicke, dunkelrothe Backen haben, und daß sehr wenige der allerschönsten Puppen solche weiche Sopha's
besitzen."
Mamsell
79 Clärchen sah in vollem glänzenden Weihnachtsputz sehr vornehm und verdrießlich aus, und sagte nicht „Muck!"
„Was mache ich
aber auch für Umstände," sprach Marie, nahm das Bett hervor, legte sehr leise und sanft Nußknackerchen hinein, wickelte noch ein
gar schönes Bändchen, das sie sonst um den Leib getragen, um die wunden Schultern, und bedeckte ihn bis unter die Nase. „Bei
der unartigen Cläre darf er aber nicht bleiben," sprach sie weiter, und hob das Bettchen sammt dem darinne liegenden Nußknacker heraus in das obere Fach, so daß es dicht neben dem schönen Dorf zu stehen kam, wo Fritzens Husaren kantonirten.
Sie verschloß
den Schrank und wollte ins Schlafzimmer, da — horcht auf Kin
der! — da fing es an leise — leise zu wispern und zu flüstern und zu rascheln rings herum, hinter dem Ofen, hinter den Stüh
len, hinter den Schränken. —
Die Wanduhr schnurrte dazwischen
lauter und lauter, aber sie konnte nicht schlagen.
hin, da hatte die große vergoldete Eule,
Marie blickte
die darauf saß,
ihre
Flügel herabgesenkt, so daß sie die ganze Uhr überdeckten und den häßlichen
Katzenkopf mit krummem Schnabel
weit vorgestreckt.
Und stärkep schnurrte es mit vernehmlichen Worten: Uhr, Uhre, Uhre, Uhren, müßt alle nur leise schnurren, leise schnurren. —
Mausekönig hat ja wohl ein feines Ohr — purrpurr — pum pum singt nur, singt ihr altes Liedlein vor — purr purr — pum pum schlag an Glöcklein, schlag an, bald ist es um ihn gethan! pum pum ging es ganz dumpf und heiser zwölfmal! —
Und
Marien
fing an sehr zu grauen und entsetzt wär' sie beinah davon gelaufen,
als sie Pathe Droßelmeier erblickte, der statt der Eule auf der
80 Wanduhr saß und seine gelben Rockschöße von beiden Seiten wie Flügel herabgehängt hatte; aber sie ermannte sich und rief laut
und weinerlich: „Pathe Droßelckeier, willst Du da oben?
Pathe Droßelmeier, was
$omm herunter zu mir und erschrecke mich
nicht so, du böser Pathe Droßelmeier!" —
Aber da ging ein
tolles Kichern und Gepfeife los rund umher, und bald trottirte und lief es hinter den Wänden wie mit tausend kleinen Füßchen
und tausend kleine Lichterchen blickten aus den Ritzen der Dielen. Aber nicht Lichterchen waren es, nein! kleine funkelnde Augen, und Marie wurde gewahr, daß überall Mause hervorguckten und sich hervorarbeiteten.
Bald ging es trott — trott — hopp hopp in
der Stube umher — immer lichtere und dichtere Haufen Mäuse -alappirten hin und her, und stellten sich endlich in Reihe und
Mied, so wie Fritz seine Soldaten zu stellen pflegte, wenn es zur Schlacht gehen sollte.
Das kam nun Marien sehr possierlich vor
und da sie nicht, wie manche andre Kinder, einen natürlichen Ab scheu
gegen Mause
hatte,
wollte ihr
eben
alles
Grauen
ver
gehen, als es mit einem Mal so entsetzlich und so schneidend zu
pfessen begann, daß es ihr eiskalt über den Rücken lief! — was erblickte sie jetzt! —
Ach
Rein , wahrhaftig , geehrter Leser Fritz,
ich weiß, daß eben so gut wie dem weisen und muthigen Feldherrn
Fritz Stahlbaum Dir das Herz auf dem rechten Flecke sitzt, aber, hättest Du das gesehen, was Marien jetzt vor Augen kam, wahr
haftig Du wärst davon gelauftn, ich glaube sogar, Du wärst schnell ins Bette gesprungen und hättest die Decke viel weiter über die
Ohren gezogen als gerade nöthig. —
Ach! — das konnte die
81 arme Marie ja nicht einmal thun, denn hört nm Kinder! — dicht,
dicht vor ihren Füßen sprühte es wie von unterirdischer Gewalt getrieben, Sand und Kalk und zerbröckelte Mauersteine hervor, und sieben Mäuseköpfe mit sieben hellfunkelnden Kronen erhoben
sich recht gräßlich zischend und pfeifend aus dem Boden.
Bald
arbeitete sich auch der Mausekörper, an dessen Hals die sieben Köpfe
angewachsen waren,
vollends hervvr und der großen mit siebe»
Diademen geschmückten Maus jauchzte in vollem Chorus dreimal laut aufquiekend das ganze Heer entgegen, das sich nun auf einmal
in Bewegung setzte und hott, hott — trott — trott ging es — ach geradezu auf den Schrank — geradezu auf Marien los, die
noch dicht an der Glasthür des Schrankes stand.
Dor Angst und
Grauen hatte Marien das Herz schon so gepocht, daß sie glaubte, es müsse nun gleich aus der Brust herausspringen und dann müßte sie sterben; aber nun war es ihr, als stehe ihr das Blut in den
Adern still. Halb ohnmächtig wankte sie zurück, da ging es klirr klirr — prr und in Scherben siel die Glasscheibe des Schranks herab, die sie mit dem Ellbogen eingestoßem
Sie fühlte wohl in
dem Augenblick einen recht stechenden Schmerz am linken Arm,
aber es war ihr auch plötzlich viel leichter ums Herz, sie hörte kein Quieken und Pfeifen mehr; es war alles ganz stille geworden, und obschon sie nicht Hinblicken mochte, glaubte sie doch, die Mäuse
wären von dem Klirren der Scheibe erschreckt wieder abgezogm in ihre Löcher. —
Aber was war denn das wieder? —
Dicht
hinter Marien sing es an im Schrank auf seltsame Weise zu ru moren und ganz
feint Sümmchen fingen an: „Aufgewacht —
82 aufgewacht — woll'n zur Schlacht — noch diese Nacht — auf
gewacht — auf zur Schlacht." — Und dabei klingelte es mit har „Ach das ist ja
monischen Glöcklein gar hübsch und unmuthig!
mein kleines Glockenspiel," rief Marie freudig und sprang schnell zur Seite.
Da sah sie, wie es im Schrank ganz sonderbar leuch
tete und herum wirthschaftete und handthierte.
Es waren mehrere
Puppen, die durch einander liefen und mit den kleinen Armen herum
fochten.
Mit einem mal erhob sich jetzt Nußknacker, warf die Decke
weit von sich
und
sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem
Bette, indem er laut rief: „Knack — knack — knack — dummes Mausepack — dummer toller Schnack — Mausepack — Knack — Knack — Mausepack — Krick und Krack — wahrer Schnack."
Und damit zog er sein kleines Schwerdt nnd schwang es in den
Lüften und rief: „Ihr meine lieben Vasallen, Freunde und Brüder,
wollt ihr mir beistehen im harten Kampf?" —
Sogleich schrien
heftig drei Skaramuzze, ein Pantalon, vier Schornsteinfeger, zwei
Zitterspielmänner und ein Tambour: „Ja Herr — 'wir hängen
Euch an in standhafter Treue — mit Euch ziehen wir in Tod, Sieg und Kampf!" und stürzten dann dem begeisterten Nußknacker nach, der den gefährlichen Sprung wagte vom obern Fache herab.
Ja! jene hatten gut sich herabstürzen, denn nicht allein daß sie reiche Kleider von Tuch und Seide trugen, so war inwendig im
Leibe auch nicht viel anders als Baumwolle und Häcksel, daher plumpten sie auch herab wie Wollsäckchen.
Aber der arme Nuß
knacker, der hätte gewiß Arm und Bein gebrochen, denn, denkt Euch, es war beinahe zwei Fuß hoch vom Fache, wo er stand,
83 bis zum untersten, und sein Körper war so spröde als sey er ge
radezu aus Lindenholz geschnitzt.
Ja Nußknacker hätte gewiß Arm
und Beine gebrochen, wäre im Augenblick, als er sprang, nicht
auch Mamsell Clärchen schnell vom Sopha aufgesprungen und hätte den Helden mit dem gezogenen Schwerdt in ihren weichen Armen aufgefangen.
„Ach du liebes gutes Clärchen!" schluchzte Marie,
„wie habe ich dich verkannt, gewiß gabst du Freund Nußknackern dein Bettchen recht gerne her!" jetzt,
Doch Mamsell Clärchen sprach
indem sie den jungen Helden sanft an ihre seidene Brust
drückte: „Wollet Euch, o Herr! krank und wund, wie ihr seyd, doch nicht in Kampf und Gefahr begeben, seht, wie Eure tapferen
Vasallen kampflustig und des Sieges gewiß sich sammeln.
Skara-
muz, Pantalon, Schornsteinfeger, Zitterspiclmann und Tambour sind schon unten und die Devisen-Figuren in meinem Fache rühren
und regen sich merklich.
Wollet, o Herr! in meinen Armen aus
ruhen, oder von meinem Federhut herab Euern Sieg anschaun!"
So sprach Clärchen, doch Nußknacker that ganz ungebehrlich und strampelte so sehr mit den Beinen, daß Clärchen ihn schnell herab
auf den Boden setzen mußte.
In dem Augenblick ließ er sich aber
sehr artig auf ein Knie nieder und lispelte: „O Dame! stets werd'
ich Eurer mir bewiesenen Gnade und Huld gedenken in Kampf
und Streit!"
Da bückte sich Clärchen so tief herab, daß sie ihn
beim Aermchen ergreifen konnte, hob ihn sanft auf, löste schnell
ihren mit vielen Flittern gezierten Leibgürtel los und wollte ihn
dem Kleinen umhängen, doch der wich zwei Schritte zurück, legte die Hand aus die Brust und sprach sehr stierlich: Nicht so wollet,
6*
84 o Dame, Eure Gunst an mir verschwenden, denn — er stockte, seufzte tief auf, riß dann schnell das Bändchen, womit ihn Marie verbunden hatte, von den Schultern, drückte es an die Lippen, hing
es wie eine Feldbinde um und sprang, das blank gezogene Schwerdt-
lein muthig schwenkend, schnell und behende wie
ein Vögelchen
über die Leiste des Schranks auf den Fußboden. —
Ihr merkt
wohl, höchst geneigte und sehr vortreffliche Zuhörer, daß Nußknacker schon früher, als er wirklich lebendig worden, alles Liebe und Gute, was ihm Marie erzeigte, recht deutlich fühlte, und daß er nur des
halb, weil er Marien so gar gut worden, auch nicht einmal ein
Band von Mamsell Clarchen annehmen und tragen wollte, uner
achtet es sehr glänzte und sehr hübsch aussah.
Der treue gute
Nußknacker putzte sich lieber mit Mariens schlichtem Bändchen. — Aber wie wird es nun weiter werden? —
So wie Nußknacker
herabspringt, geht auch das Quieken und Pipen wieder los.
Ach!
unter dem großen Tische halten ja die fatalen Rotten unzähliger
Mäuse und über alle ragt die abscheuliche Maus mit den sieben Köpfen hervor! —
Wie wird das nun werden! —
Die Schlacht. „Schlagt den General-Marsch," getreuer Vasalle Tambour!
schrie Nußknacker sehr laut und sogleich
fing der Tambour an,
auf die künstlichste Weise zu wirbeln, daß die Fenster des Glas schranks zitterten und dröhnten.
Nun krackte und klapperte es
drinnen und Marie wurde gewahr,
daß die Deckel sämmtlicher
Schachteln, worin Fritzens Armee einquartiert war, mit Gewalt
85 auf- und die Soldaten heraus und herab ms unterste Fach spran
gen, dort sich aber in blanken Rotten sammelten.
Nußknacker lief
auf und nieder begeisterte Worte zu den Truppen sprechend: „Kein
Hund von Trompeter regt und rührt sich," schrie Nußknacker erboßt, wandte sich aber dann schnell zum Pantalon, der, etwas blaß
geworden, mit dem langen Kinn sehr wackelte, und sprach feierlich: „General, ich kenne Ihren Muth und Ihre Erfahrung, hier gilts
schnellen Ueberblick und Benutzung des Moments — ich vertraue Ihnen das Kommando sämmtlicher Kavallerie und Artillerie an — ein Pferd brauchen sie nicht,
Sie haben sehr lange Beine und
gallopiren damit leidlich. —
Thun Sie jetzt, was Ihres Berufs
ist."
Sogleich drückte Pantalon die
dürren langen Dingerchen
an den Mund und krähte so durchdringend, daß es klang, als wür den hundert helle Trompetlein lustig geblasen.
Da ging es im
Schrank an ein Wiehern und Stampfen, und siehe, Fritzens Cürassiere und Dragoner, vor allen Dingen aber die neuen glänzenden Husaren rückten aus und hielten bald unten auf dem Fußboden.
Nun defilirte Regiment auf Regiment mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel bei Nußknacker vorüber und stellte sich in brei ter Reihe quer über den Boden des Zimmers.
Aber vor ihnen her
fuhren rasselnd Fritzens Kanonen auf, von den Kanonieren um
geben, und bald ging es bum — bum und Marie sah, wie die Zucker
erbsen einschlugen in den dicken Haufen der Mäuse, die davon ganz weiß überpudert wurden und sich sehr schämten. Vorzüglich that ihnen
aber eine schwere Batterie viel Schaden, die auf Mama's Fußbank aufgefahren war und Pmn—Pum—Prmr, immer hinter einander
86 Pfeffernüsse unter die Mause schoß, wovon sie umfielen.
Die Mäuse
kamen aber doch immer näher und überrannten sogar einige Kano nen, aber da ging es Prr—Prr—Prr, und vor Rauch und Staub konnte Marie kaum sehen, was nun geschah.
Doch so viel war
gewiß, daß jedes Corps sich mit der höchsten Erbitterung schlug, und der Sieg lange hin und her schwankte.
Die Mäuse entwickel
ten immer mehr und mehr Massen, und ihre kleinen silbernen Pillen, die sie sehr geschickt zu schleudern wußten, schlugen schon
bis in den Glasschrank hinein.
Verzweiflungsvoll liefen Clärchen
und Trutchen umher, und rangen sich die Händchen wund.
„Soll
ich in meiner blühendsten Jugend sterben! — ich die schönste der
Puppen!" schrie Clärchen. „Hab ich darum mich so gut konservirt, um hier in meinen vier Wänden umzukommen?" rief Trutchen.
Dann fielen sie sich um den Hals, und heulten so sehr- daß man es trotz des tollen Lärms doch hören konnte.
Denn von dem Spek
takel, der nun losging, habt ihr kaum einen Begriff, werthe Zu hörer. —
Das ging — Prr — Prr — Puff, Piff—Schnetter
deng—Schnetterdeng—Bum, Burum, Bum —Burum —Bum —
durch einander und dabei quiekten und
schrien Mauskönig und
Mäuse, und dann hörte man wieder Nußknackers gewaltige Stimme,
wie er nützliche Befehle austheilte und sah ihn, wie er über die im Feuer stehenden Bataillone Hinwegschritt! —
einige sehr
Pantalon hatte
glänzende Cavallerie-Angriffe gemacht und sich mit
Ruhm bedeckt, aber Fritzens Husaren wurden von der Mäuse-Ar tillerie mit häßlichen, übelriechenden Kugeln beworfen, die ganz fatale Flecke in ihre rothen Wämser machten, weshalb sie nicht
87 recht vor wollten.
Pantalon ließ sie links abschwenken und in der
Begeisterung des Commandirens machte er es eben so und seine Cürassiere und Dragoner auch, das heißt, sie schwenkten alle links
ab und gingen nach Hause.
Dadurch gerieth die auf der Fußbank
postirte Batterie in Gefahr, und es dauerte auch gar nicht lange, so kam ein dicker Haufe sehr häßlicher Mäuse und rannte so stark
an, daß die ganze Fußbank mit sammt den Kanonieren und Ka nonen umsiel.
Nußknacker schien sehr bestürzt, und befahl, daß der
rechte Flügel eine rückgängige Bewegung machen solle.
Du weißt,
o mein kriegserfahrner Zuhörer Fritz! daß eine solche Bewegung
machen, beinahe so viel heißt als davon laufen und betrauerst mit
mir schon jetzt das Unglück, was über die Armee des kleinen von Marien geliebten Nußknackers kommen sollte! — Wende jedoch dein
Auge von diesem Unheil ab, und beschaue den linken Flügel der Nußknackerischen Armee, wo alles noch sehr gut steht und für Feld herrn und Armee viel zu hoffen ist.
Während des hitzigsten Ge
fechts waren leise, leise Mäuse-Cavalleriemassen unter der Commode
herausdebouchirt, und hatten sich unter lautem gräßlichen Gequiek mit Wuth auf den linken Flügel der Nußknackerischen Armee ge
worfen, aber welchen Widerstand fanden sie da! —
Langsam, wie
es die Schwierigkeit des Terrains nur erlaubte, da die Leiste des Schranks zu passiren, war das Devisen-Corps unter der Anführung
zweier Chinesischen Kaiser vorgerückt, und hatten sich en quarre sormirt. —
Diese wackern, sehr bunten und herrlichen Truppen,
die aus vielen Gärtnern, Tyrolern, Tungusen, Friseurs, Harlekins,
Kupidos, Löwen, Tigern, Meerkatzen und Affen bestanden, fochten
88 mit Fassung, Muth und Ausdauer.
Mit spartanischer Tapferkeit
hätte dies Bataillon von Eliten dem Feinde den Sieg entrissen,
wenn nicht ein verwegner feindlicher Rittmeister tollkühn vordrin
gend einem der Chinesischen Kaiser den Kopf abgebissen und dieser tm Fallen
zwei Tungusen und
eine Meerkatze erschlagen hätte.
Dadurch entstand eine Lütte, durch die der Feind eindrang und
bald war das ganze Bataillon zerbissen. hatte der Feind von dieser Unthat.
Doch
wem'g Vortheil
So wie ein Mäuse-Cavallerist
mordlustig einen der tapfern Gegner mitten durch zerbiß, bekam er einen kleinen gedruckten Zettel in den Hals, wovon er augenblicklich
starb. —
Half dies aber wohl auch der Nußknackerischen Armee,
die einmal rückgängig geworden, immer rückgängiger wurde, und
immer mehr Leute verlor, so daß der unglückliche Nußknacker nur
mit einem gar kleinen Häufchen dicht vor dem Glasfchranke hielt? „Die Reserve soll heran! — Pantalon — Skaramuz Tambour — wo seyd ihr?"— So schrie Nußknacker, der noch auf neue Trup pen hoffte, die sich aus dem Glasfchrank entwickeln sollten.
Es
kamen auch wirklich einige braune Männer und Frauen aus Thorn
mit goldnen Gesichtern, Hüten und Helmen heran, die fochten aber
so ungeschickt um sich herum, daß sie keinen der Feinde trafen und bald ihrem Feldherrn Nußknacker selbst die Mütze vom Kopfe her
untergefochten hätten.
Die feindlichen Chasseurs bissen ihnen auch
bald die Beine ab, so daß sie umstülpten und noch dazu einige von Nußknackers Waffenbrüdern erschlugen.
Nun war Nußknacker vom
Feinde dicht umringt, in der höchsten Angst und Noth.
Er wollte
über die Leiste des Schranks springen, aber die Beine waren zu
89 kurz, Clärchen und Trutchen lagen in Ohnmacht, sie konnten ihm
nicht helfen — Husaren — Dragoner sprangen lustig bei ihm vor bei und hinein, da schrie er auf in heller Verzweiflung:
Pferd — ein Pferd — ein Königreich für ein Pferd! —
Ein
In dem
Augenblick packten ihn zwei feindliche Tirailleurs bei dem hölzernen
Mantel und im Triumph aus sieben Kehlen aufquiekend sprengte Mausekönig heran.
Marie wußte sich nicht mehr zu fassen, o mein
armer Nußknacker — mein armer Nußknacker! so rief sie schluch
zend, faßte, ohne sich deutlich ihres Thuns bewußt zu seyn, nach ihrem linken Schuh und warf ihn mit Gewalt in den dicksten Hau
fen der Mäuse hinein auf ihren König.
In dem Augenblick schien
alles verstoben und verflogen, aber Marie empfand am linken Arm einen noch stechendern Schmerz als vorher und sank ohnmächtig zur Erde nieder.
Die Krankheit. Als Marie wie aus einem tiefen Lodesschlaf erwachte, lag
sie in ihrem Bettchen und die Sonne schien hell und funkelnd
durch die mit Eis belegten Fenster in das Zimmer hinein.
Dicht
neben ihr saß ein fremder Mann, den sie aber bald für den Chi-
rurgus Wendelstern erkannte. gewacht!"
Der sprach leise: „ Nun ist sie auf
Da kam die Mutter herbei und sah sie mit recht ängst
lich forschenden Blicken an.
„Ach
liebe Mutter," lispelte die
kleine Marie: „sind denn nun die häßlichen Mäuse alle fort, und ist denn
der gute Nußknacker gerettet?"
„Sprich nicht
solch'
albernes Zeug, liebe Marie," erwiederte die Mutter, „was haben
so die Mäuse mit dem Nußknacker zu thun.
Aber du böses Kind
hast uns allen recht viel Angst und Sorge gemacht.
Das kommt
davon her, wenn die Kinder eigenwillig sind und den Eltern nicht folgen.
Du spieltest gestern bis in
deinen Puppen,
Du
die
tiefe Nacht hinein mit
wurdest schläfrig, und mag es seyn,
ein hervorspringendes Mäuschen,
daß
deren es doch sonst hier nicht
giebt, dich erschreckt Hatz genug, Du stießest mit dem Arm eine Glasscheibe des Schranks ein und schnittest Dich so sehr in den
Arm, daß Herr Wendelstern, der Dir eben die noch in den Wun den steckenden Glasscherbchen herausgenommen hat, meint, Du hättest,
wenn das Glas eine Ader zerschnitten, einen steifen Arm behalten, oder dich gar verbluten können.
Gott sey gedankt, daß ich um Mitter
nacht erwachend und Dich noch so spät vermissend, aufstand und
in die Wohnstube ging.
Da lagst Du dicht neben dem Glasschrank
ohnmächtig auf der Erde und blutetest sehr. Schreck auch ohnmächtig geworden.
Bald wär' ich vor
Da lagst Du nun, und um
Dich her zerstreut erblickte ich viele von Fritzens bleiernen Sol
daten und andere Puppen, zerbrochene Devisen, Pfefferkuchmannerz Nußknacker lag aber auf Deinem blutenden Arme und nicht weit
von Dir Dein linker Schuh."
„Ach Mütterchen, Mütterchen,"
siel Marie ein: „sehen Sie wohl, das waren ja noch die Spuren von der großen Schlacht zwischen den Puppen und Mäusen, und
nur darüber bin ich so sehr erschrocken, als die Mause den armen Nußknacker, der die Puppen-Armee kommandirte, gefangen neh
men wollten.
Da warf ich meinen Schuh unter die Mäuse und
dann weiß ich weiter nicht, was vorgegangen."
Der Chirurgus
91 Wendelstern winkte der Mutter mit den Augen,
und diese sprach
sehr sanft zu Marien: „Laß es nur gut seyn, mein liebes Kind! —
beruhige Dich, die Mäuse sind alle fort und Nußknackerchen steht ge sund und lustig im Glasschrank."
Nun trat der Medizinalrath ins
Zimmer und sprach lange mit dem Chirurgus Wendelstern z dann fühlte er Mariens Puls und sie hörte wohl, daß von einem Wund
fieber die Rede war.
Sie mußte im Bette bleiben und Arzenei
nehmen und so dauerte es einige Tage, wiewohl sie außer einigem Schmerz am Arm sich eben nicht krank und unbehaglich fühlte.
Sie wußte, daß Nußknackerchen gesund aus der Schlacht sich gerettet hatte, und es kam ihr manchmal wie im Traume vor, daß er
ganz vernehmlich, wiewohl mit sehr wehmüthiger Stimme sprach: „Marie, theuerste Dame, Ihnen verdanke ich viel, doch noch mehr können Sie für mich thun!"
Marie dachte vergebens darüber
nach, was das wohl seyn könnte, es fiel ihr durchaus nicht ein.— Spielen konnte Marie gar nicht recht wegen des wunden Arms, und wollte sie lesen > oder in den Bilderbüchern blättern, so flim
merte es ihr seltsam vor den Augen, und sie mußte davon ablassen. So mußte ihr nun wohl die Zeit recht herzlich lang werden, und sie konnte kaum die Dämmerung erwarten, weil dann die Mutter
sich an ihr Bett setzte, und ihr sehr viel Schönes vorlas und er
zählte.
Eben
hatte die Mutter die vorzügliche Geschichte vom
Prinzen Fakardin vollendet, als die Thüre aufging, und der Pathe Droßelmeier mit den Worten hineintrat: „Nun muß
ich doch
wirklich einmal selbst sehen, wie es mit der kranken und wunden Marie zusteht."
So wie Marie den Pathen Droßelmeier in sei-
SL nem gelben Röckchen erblickte, kam ihr das Bild jener Nacht, als
Nußknacker die Schlacht wider die Mäuse verlor,
gar lebendig
vor Augen, und unwillkührlich ries sie laut dem Obergerichtsrath entgegen: ,,'O Pathe Droßelmeier, Du bist recht häßlich gewesen,
ich habe Dich wohl gesehen, wie Du auf der Uhr saßest, und sie mit Deinen Flügeln bedecktest, daß sie nicht laut schlagen sollte, weil sonst die Mäuse verscheucht worden, — ich habe es wohl ge hört, wie Du dem Mausekönig riefst! — warum kamst Du dem Nußknacker, warum kamst Du mir nicht zu Hülfe, Du häßlicher
Pathe Droßelmeier, bist Du denn nicht allein Schuld, daß ich verwundet und krank im Bette liegen muß?" —
Die Mutter
fragte ganz erschrocken: „was ist Dir denn, liebe Marie?"
Aber
der Pathe Droßelmeier schnitt sehr seltsame Gesichter, und sprach
mit schnarrender, eintöniger Stimme: „Perpendikel mußte schnur ren — picken — wollte sich nicht schicken — Uhren — Uhren —
Uhrenperpendikel müssen schnurren — leise schnurren — schlagen Glocken laut kling klang — Hink und Honk, und Honk und Hank
— Puppenmädel sey nicht bang! — schlagen Glöcklein, ist ge
schlagen, Mausekönig fortzujagen,
kommt die Eul' im schnellen
Flug---------Pak und Pik, und Pik und Puk — Glöcklein bim
bim — Uhren — schnurr schnurr — Perpendikel müssen schnur ren — picken wollte sich nicht schicken —Schnarr und schnurr,
und pirr und purr! —”
Marie sah den Pathen Droßelmeier
starr mit großen Augen an, weil er ganz anders, und noch viel häßlicher aussah, als sonst, und mit dem rechten Arm hin und
her schlug, als würd' er gleich einer Drathpuppe gezogen.
Es
93 hätte ihr ordentlich grauen können vor dem Pathen,
wenn die
Mutter nicht zugegen gewesen wäre, und wenn nicht endlich Fritz,
der sich unterdessen hineingeschlichen,
ihn mit
lautem Gelächter
unterbrochen hätte. „Ei, Pathe Droßelmejer," rief Fritz,
bist
heute wieder auch gar zu possierlich, Du gebehrdest Dich ja wie
mein Hampelmann,
den ich längst hinter den Ofen geworfen."
Die Mutter blieb sehr ernsthaft, und sprach:
Lieber Herr-Ober-
gerichtsrath, das ist ja ein recht seltsamer Spaß, was meinen Sie denn eigentlich?
Mein Himmel! erwiederte Droßelmeier lachend,
kennen sie denn nicht mehr mein hübsches Uhrmacherliedchen?
Das
pfleg' ich immer zu singen bei solchen Patienten wie Marie.
Da
mit setzte er flch schnell dicht an Mariens Bette, und sprach: Sey nur nicht böse, daß ich nicht gleich dem Mausekönig alle vierzehn
Augen ausgehackt, aber es konnte nicht seyn, ich will Dir auch statt dessen eine rechte Freude machen; der Obergerichtsrath langte mit
diesen Warten in die Tasche, und was er nun leise, leist hervorzog, war — der Nußknacker, dem er sehr gesthickt die verlornen Zähn
chen fest eingesetzt, und den lahmen Kinnbacken eingerenkt hatte. Marie jauchzte laut auf vor Freude, aber "die Mutter sagte lächelnd:
Siehst du nun wohl, wie gut es Pathe Droßelmeier mit Deinem Nuß knacker meint?
„Du mußt es aber doch eingestehrn, Marie," unter
brach der Obergerichtsrath die Medizinalräthin, „Du mußt es aber
doch eingestehen, daß Nußknacker nicht eben zum besten gewachsen, und sein Gesicht nicht'eben schön zu nennen ist.
Wie sothane Häßlichkeit
in seine Familie gekommen und vererbt worden ist, das will ich Dir
wohl erzählen, wenn Du es anhören willst. Oder weißt Du vielleicht
94 schon die Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Hexe Mause-
rinks und dem künstlichen Uhrmacher?" „Hör mal," siel hier Fritz
unversehens ein, „ hör' mal, Pathe Droßelmeier, die Zähne hast Du dem Nußknacker richtig eingesetzt, und der Kinnbacken ist auch nicht
mehr so wackelig, aber warum fehlt ihm das Schwerdt, warum hast Du ihm kein Schwerdt umgehängt?"
„Ey," erwiederte der
Obergerichtsrath ganz unwillig, „Du mußt an allem mäkeln und
tadeln, Junge! —
Was geht mich Nußknackers Schwerdt an,
ich habe ihn am Leibe kurirt, mag er sich nun selbst ein Schwerdt schaffen wie er will."
„Das ist wahr," rief Fritz, „ists ein tüch
tiger Kerl, so wird er schon Waffen zu finden wissen."
„Also
Marie," fuhr der Obergerichtsrath fort, „sage mir, ob Du die
Geschichte weißt von der Prinzessin Pirlipat?"
„Ach nein," er
wiederte Marie, „erzähle, lieber Pathe Droßelmeier, erzähle!" „Ich hoffe," sprach die Medizinalräthin, „ich hoffe, lieber Herr
Obergerichtsrath, daß Ihre Geschichte nicht so graulich seyn wird,
wie
gewöhnlich alles ist, was Sie erzählen?"
theuerste Frau Medizinalräthin,"
„Mit Nichten,
erwiederte Droßelmeier,
„im
Gegentheil ist das gar spaßhaft, was ich vorzutragen die Ehre haben werde."
„Erzähle, o erzähle, lieber Pathe," so riefen die
Kinder, und der Obergerichtsrath fing also an.
Das Mährchen von bet harten Nuß. Pirlipats Mutter war die Frau eines Königs, mithin eine
Königin, und Pirlipat selbst in dem Augenblick, als sie geboren wurde, eine geborne Prinzessin.
Der König war außer sich vor
95 Freude über das schöne Töchterchen, das in der Wiege lag, er ju
belte laut auf, er tanzte und schwenkte sich auf einem Beine, und rief einmal über das andere: Heysa! — hat man was Schöneres
jemals gesehen, als mein Pirlipatchen? —
Aber alle Minister,
Generale und Präsidenten und Stabsoffiziere sprangen, wie der Landesvater, auf einem Beine herum, und schrien sehr: Nein, nie
mals!
Au läugnen war es aber auch in der That gar nicht, daß
wohl so lange die Welt steht, kein schöneres Kind geboren wurde,
als eben Prinzessin Pirlipat.
Ihr (hesichtchen war wie von zarten
lilienweißen und rosenrothen Seidenflocken gewebt, die Aeuglein lebendige, funkelnde Azure^ und es stand hübsch, daß die Löckchen
sich in lauter glänzenden Goldfaden kräuselten.
Dazu hatte Pirli-
patchen zwei Reihen kleiner Perlzähnchen auf die Welt gebracht,
womit sie zwei Stunden nach der Geburt den Reichskanzler in den
Finger biß,
als er die Lineamente näher untersuchen wollte, so
daß er laut ausschrie: O Jemine! —
Andere behaupten, er hübe:
Au weh! geschrieü, die Stimmen sind noch heut zu Tage darüber sehr getheilt.
—
Kurz, Pirlipatchen biß wirklich den Reichs
kanzler in den Finger, und das entzückte Land wußte nun, daß auch
Geist, Gemüth und Verstand in Pirlipats engelschönem Körperchen wohne. —
Wie gesagt, alles war vergnügt, nur die Königin
war sehr ängstlich und unruhig, niemand wußte, warum?
Vor
züglich siel es auf, daß sie Pirlipats Wiege so sorglich bewachen ließ.
Außerdem, daß die Thüren von Trabanten besetzt waren,
mußten, die beiden Wärterinnen dicht an der Wiege abgerechnet,
noch sechs andere Nacht für Nacht ringsumher in der Stube sitzen.
— 96
—
Was aber ganz närrisch schien, und was niemand begreifen konnte,
jede dieser sechs Wärterinnen mußte einen Kater auf den Schooß
nehmen, und ihn die ganze Nacht streicheln, daß er immerfort zu
spinnen genöthigt wurde.
Es ist unmöglich, daß ihr, lieben Kin
der, errathen könnt, warum Pirlipats Mutter all' diese Anstalten machte, ich weiß es aber, und will es euch gleich sagen. —
Es
begab sich, daß. einmal an dem Hofe von Pirlipats Vater viele vor treffliche Könige und sehr angenehme Prinzen versammelt waren,
weshalb es denn sehr glänzend herging, und viele Ritterspiele, Co-
mödien und Hofbälle gegeben wurden.
Der König um recht zu
zeigen, daß es ihm an Gold und Silber gar nicht mangle, wollte
nun einmal einen recht tüchtigen Griff in den Kronschatz thun, und
was Ordentliches drauf gehen lassen.
Er ordnete daher, zumal
er von dem Oberhofküchenmeister insgeheim erfahren, daß dec Hof einen großen
astronom die Zeit des Einschlachtens angekündigt,
Wurstschmaus an, warf sich in den Wagen, und lud selbst sämmt liche Könige und Prinzen — nur auf einen Löffel Suppe ein, um
sich der Ueberraschung mit dem Köstlichen zu erfreuen. er sehr freundlich zur Frau Königin:
Nun sprach
Dir ist ja schon bekannt,
Liebchen! wie ich die Würste gern habe! —
Die Königin wußte
schon, was er damit sagen wollte, es hieß nämlich nichts anders, als sie selbst sollte sich, wie sie auch sonst schon gethan, dem sehr nützlichen Geschäft des Wurstmachens unterziehen.
Der Oberschatz
meister mußte sogleich den großen, goldnen Wurstkessel und die sil
bernen Kasserollen zur Küche abliefern; es wurde ein großes Feuer von Sandelholz angemacht, die Königin band ihre damastne Kü-
97 chenschürze um, und bald dampften aus dem Kessel die süßen Wohl Bis in den Staatsrath drang der an-
gerüche der Wurstsuppe.
muthige Geruch; der König, von innerm Entzücken erfaßt, konnte
sich nicht halten.
Mit Erlaubniß, meine Herren! rief er, sprang
schnell nach der Küche, umarmte die Königin, rührte mit dem gol denen Scepter ein wenig in dem Kessel, und kehrte dann beruhigt
Eben nun war der wichtige Punkt ge
in den Staatsrath zurück.
kommen, daß der Speck in Würfel geschnitten, und auf silbernen Rosten gebraten werden sollte. Königin dies Geschäft
Die Hofdamen traten ab, weil die
aus treuer Anhänglichkeit und Ehrfurcht
vor dem königlichen Gemahl allein unternehmen wollte.
Allein
so wie der Speck zu braten anfing, ließ sich ein ganz feines wispern
des Stimmchen vernehmen:
Von dem Brätlein gieb mir auch,
Schwester! — will auch schmausen, bin ja auch Königin —- gieb
mir von dem Brätlein! — Die Königin wußte wohl, daß es Frau
Mauserinks war, die also sprach.
Frau Mauserinks wohnte schon
seit vielen Jahren in des Königs Pallast.
Sie behauptete, mit der
königlichen Familie verwandt und selbst Königin in dem Reiche
Mausolien zu seyn, deshalb hatte sie auch eine große Hofhaltung unter dem Heerde.
Die Königin war eine gute, mildthätige Frau,
wollte sie daher auch sonst Frau Mauserinks nicht gerade als Kö nigin und als ihre Schwester anerkennen, so gönnte sie ihr doch von Herzen an dem festlichen Tage die Schmauserei, und rief: Kommt
nur hervor, Frau Mauserinks, Ihr möget immerhin etwas von
meinem Speck genießen.
Da kam auch Frau Mauserinks sehr
schnell und lustig hervorgehüpft, sprang auf den Heerd, und er-
7
98 griff mit den zierlichen kleinen Pfötchen ein Stückchen Speck nach
dem andern, das ihr die Königin hinlangte.
Aber nun kamen alle
Gevattern und Muhmen der Frau Mauserinks hervorgesprungen,
und sogar auch ihre sieben Söhne, recht unartige Schlingel, die
machten sich über den Speck her, und nicht wehren konnte ihnen die erschrockene Königin.
Zum Glück kam die Oberhofmeisterin
dazu, und verjagte die zudringlichen Gäste, so daß doch noch etwaß
Speck übrig blieb, welcher, nach Anweisung des herbeigerufenen Hofmaihematikers sehr künstlich auf alle Würste vertheilt wurde. —
Pauken und Trompeten erschallten, alle anwesenden Potentaten und Prinzen zogen in glänzenden Feierkleidern, zum Theil auf weißen Zeltern, zum Theil in krystallnen Kutschen zum Wurstschmauft.
Der König empfing sie mit herzlicher Freundlichkeit und Huld, und setzte sich dann, als Landesherr mit Krone und Scepter angethan, an die Spitze des Tisches.
Schon in der Station der Leberwürste
sah man, wie der König immer mehr und mehr erblaßte, wie er die Augen
gen
Himmel
hob — leise
Seufzer entflohen seiner
Brust — ein gewaltiger Schmerz schien in seinem Innern zu wüh len!
Doch in der Station der Blutwürste sank er laut schluch
zend und ächzend in den Lehnsessel zurück;
er hielt beide Hände
vors Gesicht, er jammerte und stöhnte. —
Alles sprang auf voN
der Tafel, der Leibarzt bemühte sich vergebens, des unglücklichen Königs Puls zu erfassen, ein tiefer, namenloser Jammer schien ihn
zu zerreißen.
Endlich, endlich nach vielem Zureden, nach Anwen
dung starker Mittel, als da sind, gebrannte Federposen und Ver gleichen, schien ber König etwas zu sich selbst zu kommen, er staM-
99 melle kaum hörbar die Worte: Zu wenig Speck!
Da warf sich
die Königin trostlos ihm zu Füßen und schluchzte: O mein armer
unglücklicher königlicher Gemahl! — o welchen Schmerz mußten Sie dulden! — Aber sehen Sie hier die Schuldige zu Ihren Füßen — strafen, strafen Sie sie hart! -—Ach — Frau Mäuse rinks mit ihren sieben Söhnen, Gevattern und Muhmen hat den
Speck aufgefressen und — damit fiel die Königin rücklings über
in Ohnmacht.
Aber der König sprang voller Zorn auf und rief
laut: Oberhofmeisterin wie ging das zu? Die Oberhofmcisterin er
zählte, so viel sie wußte, und der König beschloß, Rache zu neh men an der Frau Mauserinks und ihrer Familie, die ihm den Speck aus der Wurst weggefressen hatten.
Der Geheime Staats
rath wurde berufen, man beschloß, der Frau Mauserinks den Pro zeß zu machen, und ihre sämmtlichen Güter einzuziehen; da aber der König meinte, daß sie unterdessen ihm doch noch immer den
Speck wegfressen könnte, so wurde die ganze Sache dem Hofuhr
macher und Arkanisten übertragen.
Dieser Mann, der eben so
hieß, als ich, nämlich Christian Elias Droßelmeier, versprach durch eine ganz besonders staatskluge Operation die Frau Mauserinks mit ihrer Familie auf ewige Zeiten aus den Pallast zu vertreiben.
Er erfand auch wirklich kleine, sehr künstliche Maschiencn, in die an einem Fädchen gebratener Speck gethan wurde, und die Droßel-
meier rings um die Wohnung der Frau Speckfresserin aufstellte. Frau Mauserinks war viel zu weise, um nicht Droßelmeiers List einzusehen, aber alle ihre Warnungen, alle ihre Vorstellungen hal
fen nichts) von dem süßen Geruch des gebratenen Specks verlockt,
7*
100 gingen alle sieben Söhne und viele, viele Gevattern und Muhmen
der Frau Mauserinks in Droßelmeiers Maschienen hinein, und wur den, als sie eben den Speck wegnaschen wollten, durch ein plötz
lich vorsallendes Gitter gefangen, dann aber schmachvoll hingerichtet. nen Häufchen
in der Küche selbst
Frau Mauserinks verließ mit ihrem klei
den Ort
Rache erfüllte ihre Brust.
des Schreckens;
Gram, Verzweiflung,
Der Hof jubelte sehr, aber die Köni
gin war besorgt, weil sie die Gemüthsart der Frau Mauserinks
kannte, und wohl wußte, daß sie den Tod ihrer Söhne und Ver
wandten nicht ungerächt hingehen lassen würde.
In der That er
schien auch Frau Mauserinks, als die Königin eben für den könig
lichen Gemahl ein Lungenmus bereitete, welches er sehr gern aß, und sprach: Meine Söhne — meine Gevattern und Muhmen sind erschlagen, gieb wohl Acht, Frau Königin, daß Mausekönigin Dir nicht Dein Prinzcßchen entzwei beißt — gieb wohl Acht.
Darauf
verschwand sie wieder und ließ sich nicht mehr sehen, aber die Kö
nigin war so erschrocken, daß sie das Lungenmus ins Feuer fallen ließ, und zum zweitenmal verdarb Frau Mauserinks dem Könige eine Lieblingsspeise, worüber er sehr zornig war. —
Nun ists
aber genug für heute Abend, künftig das Uebrige.
So sehr auch Marie, die bei der Geschichte ihre ganz eignen
Gedanken hatte, den Pathe Droßelmeier bat, doch nur ja weiter zu erzählen, so ließ er sich doch nicht erbitten, sondern sprang auf,
sprechend: Au viel auf einmal ist ungesund, morgen das Uebrige.
Ebm als der Obergerichtsrath im Begriff stand zur Thür hin
auszuschreiten, fragte Fritz: Aber sag mal, Pathe Droßelmeier, ists
101 denn
wirklich
wahr,
daß
Du
die Mausefallen
erfunden hast?
„Wie kann man nur so albern fragen," rief die Mutter, aber der Obergerichtsrath lächelte sehr seltsam, und sprach leise: „Bin ich denn nicht ein künstlicher Uhrmacher, und sollt' nicht einmal Mause
fallen erfinden können."
. Fortsetzung des Mährchens von der harten Nuß. Nun wißt ihr wohl, Kinder, so fuhr der Obergerichts-Rath Droßelmeier am nächsten Abende fort, nach dem bisher Gehörten, warum die Königin das wunderschöne Prinzeßchen Pirlipat so sorg lich bewachen ließ.
Mußte sie nicht fürchten, daß Frau Mauferinks
ihre Drohung erfüllen, wiederkommen, und das Prinzeßchen todt beißen würde?
Droßelmeiers Maschinen halfen gegen die kluge
und gewitzigte Frau Mauserinks ganz und gar nichts, und nur der Astronom des Hofes, der zugleich Geheimer Oberzeichen - und Stern
deuter war, wollte wissen, daß die Familie des Katers Schnurr im Stande seyn werde, die Frau Maustrinks von der Wiege ab
zuhalten z demnach geschah es also, daß jede der Wärterinnen einen
der Söhne jener Familie, die übrigens bei Hofe als Geheime Legationsräthe angestellt waren, auf dem Schooß halten, und durch
schickliches Krauen ihm den beschwerlichen Staatsdienst zu versüßen
suchen mußte.
Es war einmal schon Mitternacht, als eine von den
beiden geheimen Oberwärterinnen, die dicht an der Wiege saßen,
wie aus tiefem Schlafe auffuhr. —
Alles rund umher lag vom
Schlaf befangen — kein Schnurren — tiefe Todtenstille, in der man das Picken des Holzwurms vernahm! — doch wie ward der
102 Geheimen Oberwärterin, als sie dicht vor sich eine große, sehr
häßliche Maus erblickte, die auf den Hinterfüßen aufgerichtet stand, und den fatalen Kopf aus das Gesicht der Prinzessin gelegt hatte.
Mit einem Schrei des Entsetzens sprang sie auf, alles erwachte,
aber in dem Augenblick rannte Frau Mauserinks (niemand anders war die große Maus an Pirlipats Wiege) schnell nach der Ecke
des Zimmers.
Die Legationsräthe stürzten ihr nach, aber zu spät —
durch eine Ritze in dem Fußboden des Zimmers war sie verschwun den.
Pirlipatchen
kläglich.
erwachte von dem Rumor,
und weinte
Dank dem Himmel, riesen die Wärterinnen,
sehr
sie lebt!
Doch wie groß war ihr Schrecken, als sie hinblickten nach Pir
lipatchen, und wahrnahmen, was aus dem schönen, zarten Kinde
geworden. Statt des weiß und rothen, goldgelockten Engelsköpfchens
faß ein unförmlicher dicker Kopf auf einem winzig kleinen, zusam mengekrümmten Leibe,
die azurblauen Aeugelein
hatten sich ver
wandelt in grüne hervorstehende starr blickende Augen,
und das
Mündchen hatte sich verzogen von einem Ohr zum ander».
Königin wollte vergehen
in Wehklagen und Jammer,
Die
und des
Königs Studirzimmer mußte mit wattirten Tapeten ausgeschlagen werden, weil er einmal über das andere mit dem Kops gegen die
Wand rannte, und dabei mit sehr jämmerlicher Stimme rief: O ich unglückseliger Monarch! —
Er konnte zwar nun einsehen, daß
es besser gewesen wäre, die Würste ohne Speck zu essen, und die Frau Mauserinks mit ihrer Sippschaft unter dem Heerde in Ruhe zu
lassen, daran dachte aber Pirlipats königlicher Vater nicht, sondern er schob einmal alle Schuld auf den Hofuhrmacher und Arkanisten
103 Christian Elias Droßelmeier aus Nürnberg.
Deshalb erließ
er
den weisen Befehl: Droßelmeier habe binnen vier Wochen die Prin zessin Pirlipat in den vorigen Zustand herzustellen, oder wenigstens ein bestimmtes untrügliches Mittel anzugeben, wie dies zu bewerk
stelligen sey, widrigenfalls er dem schmachvollen Lode unter dem Beil des Henkers verfallen seyn solle. —
Droßelmeier erschrack
nicht wenig, indessen vertraute er doch bald seiner Kunst und fti-
yem Glück und schritt sogleich zu der ersten Operation, die ihm nützlich schien.
Er nahm Prinzeßchen Pirlipat sehr geschickt aus
einander, schrob ihr Händchen und Füßchen ab, und besah sogleich hie innere Struktur, aber da fand er leider., daß die Prinzessin,
iß größer, desto unförmlicher werden würd§, und wußte sich nicht zu rathen und zu helfen.
Er setzte die Prinzessin behutsam wieder
zusammen, und versank an ihrer Wege, die er nie verlassen durste
in Schwermuth.
Schon war die vierte Woche angegangen — ja
bereits Mittwoch — als der König mit zornfunkelnden Augen hin
einblickte,
und mit dem Scepter drohend rief: Christian Elias
Droßelmeier kurire die Prinzessin, oder Du mußt sterben I meier fing
an bitterlich
knackte vergnügt Nüsse.
zu weinen,
Droßel
aber Prinzeßchen Pirlipat
Zum erstenmal fiel dem Arkanisten Pir-
lipats ungewöhnlicher Appetit nach Nüssen, und der Umstand auf, daß sie mit Zähnchen zur Welt gekommen.
In der That hatte
sie gleich nach der Verwandlung so lange geschrieen, bis ihr zu
fällig eine Nuß vorkam, die sie sogleich aufknackte, den Kern aß, und dann ruhig wurde.
Seit der Zeit konnten die Wärterinnen
nicht aufhören, ihr Nüsse zu bringen.
,,O heiliger Instinkt der
104 Natur, ewig unerforschliche Sympathie aller Wesen," rief Johann Elias Droßelmeier aus: „Du zeigst mir die Pforte zum Geheim
niß, ich will anklopfen, und sie wird sich öffnen!"
Er bat so
gleich um die Erlaubniß, mit dem Hofastronomen sprechen zu
können, und wurde mit starker Wache hingeführt.
Beide Herren
umarmten sich unter vielen Thränen, da sie zärtliche Freunde waren, zogen sich dann in ein geheimes Kabinet zurück, und schlugen viele Bücher nach, die von dem Instinkt, von den Sympathieen und
Antipathien und anderen geheimnißvollen Dingen handelten.
Die
Nacht brach herein, der Hofastronom sah nach den Sternen, und
stellte mit Hülfe des auch hierin sehr geschickten Droßelmeiers das
Horoskop der Prinzessin Pirlipat.
Das war eine große Mühe,
denn die Linien verwirrten sich immer mehr und mehr, endlich
aber — welche Freude,
endlich lag es
klar vor ihnen,
daß
die Prinzessin Pirlipat, um den Zauber, der sie verhäßlicht, zu
lösen, und um wieder so schön zu werden, als vorher, nichts zu
thun hatte, als den süßen Kern der Nuß Krakatuk zu genießen. Die Nuß Krakatuk hatte eine solche harte Schale, daß eine achtundvierzigpfündige Kanone darüber wegfahren konnte, ohne sie
zu zerbrechen.
Diese harte Nuß mußte aber von einem Manne,
der noch nie raflrt worden und der niemals Stiefeln getragen, vor der Prinzessin aufgebisserr und ihr von ihm mit geschlossenen Augen
der Kern dargereicht werden.
rückwärts gegangen,
Erst nachdem er sieben Schritte
ohne zu stolpern, durfte der junge Mann
wieder die Augen erschließen.
Drei Tage und drei Nächte hatte
Droßelmeier mit dem Astronomen ununterbrochen gearbeitet und
105 es saß gerade Sonnabends der König bei dem Mittagstisch, als
Droßelmeier, der Sonntag in aller Frühe geköpft werden sollte, voller Freude und Jubel hineinstürzte, und das gefundene Mittel,
der Prinzessin Pirlipat die verlorne Schönheit wieder zu geben,
verkündete.
Der König umarmte ihn mit heftigem Wohlwollen,
versprach ihm einen diamantnen Degen, vier Orden und zwei neue Sonntagsröcke.
„Gleich nach Tische, setzte er freundlich hinzu,
soll es ans Werk, sorgen Sie, theurer Arkanist, daß der junge
unrastrte Mann in Schuhen mit der Nuß Krakatuk gehörig bei der Hand sey, und lassen Sie ihn vorher keinen Wein trinken,
damit er nicht stolpert, wenn er sieben Schritte rückwärts geht, wie ein Krebs, nachher kann er erklecklich saufen!"
Droßelmeier
wurde über diese Rede des Königs sehr bestürzt, und nicht ohne
Zittern und Zagen brachte er es stammelnd heraus, daß das Mit tel zwar gefunden wäre, beides, die Nuß Krakatuk und der junge
Mann zum Aufbeißen derselben citier erst gesucht werden müßten, wobei es noch obenein zweifelhaft bliebe, ob Nuß und Nußknacker
jemals gefunden werden dürften.
Hoch erzürnt schwang der König
den Scepter über das gekrönte Haupt und schrie mit einer Löwen stimme: So bleibt es bei dem Köpfen.
Ein Glück war es für
den in Angst und Noth versetzten Droßelmeier, daß dem Könige
das Essen gerade den Tag sehr wohl geschmeckt hatte, er mithin
in der guten Laune war,
vernünftigen Vorstellungen Gehör zu
geben, an denen es die großmüthige und von Droßelmeiers Schicksal gerührte Königin nicht mangeln ließ.
Droßelmeier faßte Muth
und stellte zuletzt vor, daß er doch eigentlich die Aufgabe, das
106 Mittel/ wodurch die Prinzessin geheilt werden könne, zu nennen,
gelöst, und sein Leben gewonnen habe.
Der König nannte das:
dumme Ausreden und einfältigen Schnickschnack, beschloß aber end lich, nachdem er ein Gläschen Magenwasser zu sich genommen daß beide, der Uhrmacher und der Astronom, sich auf die Beine machen Unt> nicht anders als mit der Nuß Krakatuk in der Lasche wieder kehren sollten.
Der Mann zum Aufbeißen derselben sollte, wie es
die Königin vermittelte, durch mehrmaliges Einrücken einer Auf
forderung in einheimische und auswärtige Zeitungen und Intelli genz-Blätter
herbeigeschafft
werden. —
Der Obergerichtsrath
hrach hier wieder ab, und versprach den andern Ahend das Uebrige zu erzählen.
Beschluß des Mährchens von der harten Nuß. Am andern Abende, so wie kaum die Lichter angesteckt worden, fand sich
Pathe Droßelmeier wirklich wieder ein,
also weiter.
und erzählte
Droßelmeier und Hof-Astronom waren schon funzehy
Jahre unterwegs, ohne der Nuß Krakatuk auf die Spur gekommen zu seyn.
Wo sie überall waren,, welche sonderbare seltsame Dinge
ihnen widerfuhren, davon könnt' ich Euch, ihr Kinder, vier Wochen
lang erzählen, ich will es aber nicht thun, sondern nur gleich sa gen, daß Droßelmeier in seiner tiefen Betrübniß zuletzt eine sehr
große Sehnsucht nach seiner lieben Vaterstadt Nürnberg empfand. ®anj besonders überfiel ihn diese Sehnsucht, als er gerade einmal
Mit seinem Freunde mitten in einem großen Walde in Asien ein Pfeifchen Knaster rauchte.
„ V schörze
schöne Vaterstadt Nüvp-
107 berg — schöne Stadt, wer dich nicht gesehen hat, mag er auch
viel gereist seyn nach London, Paris und Peterwardein, ist ihm das Herz doch nicht aufgegangen, muß er doch stets nach Dir verlan
gen — nach Dir,
o Nürnherg, schöne Stadt, die schöne Häuser
mit Fenstern hat." —
Als Droßelmeier so sehr wehmüthig klagte,
wurde der Astronom von tiefem Mitleiden
ergriffen und fing so
jämmerlich zu heulen an, daß man es weit und breit in Asien hören
konnte.
Doch faßte er sich wieder, wischte sich die Thränen aus
den Augen und fragte: Aber werthgeschätzter College, warum sitzen
wir hier und heulen? warum gehen wir nicht nach Nürnberg, ists
denn nicht gänzlich egal, wo und wie wir die fatale Nuß Krakatuk suchen?
Das ist auch wahr, erwiederte Droßelmeier getröstet.
Beide standen alsbald auf, klopften die Pfeifen aus, und gingen
schnurgrade in einem Strich fort, aus dem Walde mitten in Asien,
nach Nürnberg.
Kaum waren sie dort angekommen, so lief Dro
ßelmeier schnell zu seinem Vetter, dem Puppendrcchsler, Lackire? und Vergolder Christoph Zacharias Droßelmeier, den er in vielen, vielen Jahren nicht mehr gesehen.
Dem erzählte nun der Uhr
macher die ganze Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Frau
Mauserinks und der Nuß Krakatuk, so daß der einmal über das andere die Hände zusammenschlug und voll Erstaunen ausrief: Ei
Vetter, Vetter, was sind das für wunderbare Dinge!* Droßelmeier erzählte werter von den Abentheuern seiner weiten Reise, wie er zwei Jahre bei dem Dattelkönig zugebracht, wie er vom Mandel fürsten schnöde abgewiesen, wie er bei der nqtursorschenden Gesell
schaft in Eichhornshausen vergebens gngefragt, kurz, wie es ihm
108 überall mißlungen sey, auch nur eine Spur von der Nuß Krakatuk zu erhalten.
Während dieser Erzählung hatte Christoph Za
charias oft mit den Fingern geschnippt — sich auf einem Fuße herumgedreht — mit der Zunge geschnalzt — dann gerufen — Hm hm — I — Ey — O — das wäre der Teufel! — Endlich warf er die Mütze und Perücke in die Höhe, umhalste den Vetter
mit Heftigkeit und rief: Vetter — Vetter! Ihr seyd geborgen, ge borgen seyd ihr,
sag' ich, denn Alles müßte mich trügen, oder ich
besitze selbst die Nuß Krakatuk.
Cr holte alsbald eine Schachtel
hervor, aus der er eine vergoldete Nuß von mittelmäßiger Größe
hervorzog.
Seht, sprach er, indem er die Nuß dem Vetter zeigte,
seht mit dieser Nuß hat es folgende Bewandtniß: Vor vielen Jahren
kam einst zur Weihnachtszeit ein fremder Mann mit einem Sack voll Nüsse hieher, die er feil bot.. Gerade vor meiner Puppen
bude gerieth er in Streit, und setzte den Sack ab, um sich besser gegen den hiesigen Nußverkäufer, der nicht leiden wollte, daß der
Fremde Nüsse verkaufe, und ihn deßhalb angriff, zu wehren.
In
dem Augenblick fuhr ein schwer beladener Lastwagen über den Sack, alle Nüsse wurden zerbrochen bis auf eine, die mir der fremde Mann, seltsqm lächelnd für einen blanken Zwanziger vom Jahre 1720 feil bot.
Mir schien das wunderbar, ich fand gerade
einen solchen Zwanziger in meiner Tasche, wie ihn der Mann ha
ben wollte, kaufte die Nuß und vergoldete sie, selbst nicht recht wissend, warum ich die Nuß so theuer bezahlte und dann so werth
hielt.
Jeder Zweifel, daß des Vetters Nuß wirklich die gesuchte
Nuß Krakatuk war, wurde augenblicklich gehoben, als der herbei-
109 gerufene Hof - Astronom das Gold sauber abschabte und in der Rinde der Nuß das Wort Krakatuk mit Chinesischen Charakteren eingegraben fand.
Die Freude der Reisenden war groß und der
Vetter der glücklichste Mensch unter der Sonne, als Droßelmeier
ihm versicherte, daß sein Glück gemacht sey, da er außer einer an sehnlichen Pension hinführo alles Gold zum Vergolden umsonst er
halten werde.
Beide, der Arkanist und der Astronom, hatten schon
die Schlafmützen aufgesetzt und wollten zu Bette gehen, als Letzte rer, nämlich der Astronom, also anhub: Bester Herr College, ein
Glück kommt nie allein — Glauben Sie, nicht nur die Nuß Kra
katuk, sondern auch den jungen Mann, der sie aufbeißt und den
Schönheitskern der Prinzessin darreicht, Ich meine niemanden anders,
haben wir gefunden! —
als den Sohn ihres Herrn Vet
ters! — Nein, nicht schlafen will ich, fuhr er begeistert fort, son
dern noch in dieser Nacht des Jünglings Horoskop stellen! — Da
mit riß er die Nachtmütze vom Kopf und fing gleich an zu observiren. — Des Detters Sohn war in der That ein netter, wohl gewachsener Junge, der noch nie rastrt worden und niemals Stiefel getragen hatte.
In früher Jugend war er zwar ein Paar Weih
nachten hindurch ein Hampelmann gewesen, das merkte man ihm aber nicht im mindesten an, so war er durch des Vaters Bemühungen
ausgebildet worden.
An Weihnachtstagen trug er einen schönen,
rothen Rock mit Gold, einen Degen, den Hut unter dem Arm und
eine schöne Frisur mit einem Haarbeutel.
So stand er sehr glän
zend in seines Vaters Bude und knackte aus angeborner Galanterie
den jungen Mädchen die Nüsse auf,
weshalb sie ihn auch schön
110 Nußknackerchen nannten. —
Den andern Morgen fiel der Astrv-
nom dem Arkanisten entzückt um den Hals und rief: er ist es,
wir haben ihn, er ist gesunden, nur zwei Dinge dürfen wir nicht außer Acht lassen.
Fürs Erste müssen Sie ihrem vortrefflichen
Neffen einen robusten hölzernen Zopf flechten, der mit dem untern
Kinnbacken so in Verbindung steht, daß dieser dadurch stark ange zogen werden kann, dann müssen wir aber, kommen wir nach der Residenz, auch sorgfältig verschweigen, daß wir den jungen Mann,
der die Nuß Krakatuk aufbeißt, gleich mitgebracht habens er muß sich vielmehr lange nach uns einfinden.
Ich lese in dem Horoskop,
daß der König, zerbeißen sich erst Einige die Zähne ohne weitern Erfolg, dem, der die Nuß aufbeißt und der Prinzessin die verlorne
Schönheit wiedergiebt,
Prinzessin und Nachfolge im Reich zum
Lohn versprechen wird.
Der Vetter Puppendrechsler war gar höch
lich damit zufrieden, daß fein Söhnchen die Prinzessin Pirlipat hei-
rathen und Prinz und König werden sollte- und überließ ihn daher den Gesandten gänzlich.
Der Zopf, den Droßelmeier dem jungen,
hoffnungsvollen Neffen ansetzte, gerieth überaus wohl, so daß er
mit dem Aufbeißen der härtesten Pfirsichkerne die glänzendsten Ver suche anstellte.
Da Droßelmeier und der Astronom das Auffinden der Nuß
Krakatuk sogleich nach der Residenz berichtet, so waren dort auch aus der Stelle die nöthigen Aufforderungen erlassen worden, und
üls die Reisenden mit dem Schönheitsmittel ankamen, hatten sich schon viele hübsche Leute, unter denen es sogar Prinzen gab, eingefunden, die, ihrem gesunden Gebiß vertrauend, die Entzauberung
111 der Prinzessin versuchen
wollten.
Die Gesandten erschraken nicht
wenig, als sie die Prinzessin wieder sahen.
Der kleine Körper mit
den winzigen Händchen und Füßchen konnte kaum den unförmlichen Kops tragen.
Die Häßlichkeit des Gesichts wurde noch durch einen
weißen baumwollnen Bart vermehrt, der sich um Mund und Kinn gelegt hatte.
roskvp gelesen.
Es kam alles so, wie es der Hof-Astronom im HoEin Milchbart in Schuhen nach dem andern bist
sich an der Nuß Krakatuk Zähne und Kinnbacken wund, ohne der Prinzessin im mindesten zu helfen,
dazu bestellten Zahnärzten
und wenn er dann von dett
halb ohnmächtig
seufzte er: das war eine harte Nuß! —
weggetragen wurde,
Als nun der König in
der Angst feines Herzens dem, der die Entzauberung vollenden werde,
Tochter und Reich versprochen, Meldete sich der artige, sanfte Züng-
ling Droßelmeier und bat auch
den Versuch beginnen zu dürfen.
Keiner als der junge Droßelmeier hatte so sehr der Prinzessin Pirlipat gefallen; sie legte die kleinen Händchen auf das Herz, und seufzte recht innig: Ach wenn es doch der wäre, der die Nust KrakatUk wirklich aufbeißt und mein Mann nvird.
Nachdem der
junge Droßelmeier den König und die Königin, dann aber die Prin
zessin Pirlipat, sehr höflich gegrüßt, empfing er aus den Händen des Ober-Ieremonienmeisters die Nuß Krakatuk, nahm sie ohne
weiteres zMschen die Zähne/ zog stark den Zopf an, und Krak —
Krak zerbröckelte die Schale in viele Stücke.
Geschickt reinigte er
den Kern von den noch daran hängenden Fasern und überreichte
ihn mit einem unterthänigen Kratzfuß der Prinzessin, worauf er die Augen verschloß und rückwärts zu schreiten begann.
Die'Pritt-
112 zesfin verschluckte alsbald den Kern und o Wunder! — verschwun den war die Mißgestalt, und
statt, ihrer stand ein engelschönes
Frauenbild da, das Gesicht wie von lilienweißen und rosarothen Seidenflocken gewebt, die Augen wie glänzende Azure, die vollen Locken wie
von Goldfaden
gekräuselt.
Trompeten und Pauken
mischten sich in den lauten Jubel des Volks.
Der König, sein gan
zer Hof tanzte wie bei Pirlipats Geburt auf einem Beine und die Königin mußte mit Eau de Cologne bedient werden, weil sie in
Ohnmacht gefallen vor Freude und Entzücken.
Der große Tu
mult brachte den jungen Droßelmeier, der noch seine sieben Schritte
zu vollenden hatte, nicht wenig aus der Fassung, doch hielt er sich und streckte eben den rechten Fuß aus zum siebenten Schritt, da
erhob sich, häßlich piepend und quiekend, Frau Mauserinks aus
dem Fußboden, so daß Droßelmeier,
als er den Fuß niedersetzen
wollte, auf sie trat und dermaßen stolperte, daß er beinahe ge
fallen wäre. —
O Mißgeschick! — urplötzlich war der Jüngling
eben so mißgestaltet,
als es vorher Prinzessin Pirlipat gewesen.
Der Körper war zusammengeschrumpft und konnte kaum den dicken,
ungestalteten Kopf mit großen
hervorstehenden Augen
breiten, entsetzlich aufgähnenden Maule tragen.
und dem
Statt des Zopfes
hing ihm hinten ein schmaler, hölzerner Mantel herab, mit dem er
den untern Kinnbacken regierte. —
Uhrmacher und Astronom wa
ren außer sich vor Schreck und Entsetzen; sie sahen aber wie Frau Mauserinks sich blutend auf dem Boden wälzte.
nicht ungerächt geblieben,
Ihre Bosheit war
denn der junge Droßelmeier hatte sie
mit dem spitzen Absatz seines Schuhes so derb in den Hals getroffen,
113 daß sie sterben mußte.
Lodesnoth erfaßt wurde,
Aber indem Frau Mauserinks von der
da piepte und quiekte sie ganz erbärm
lich: „OKrakatuk, harte Nuß — an der ich nun sterben muß —
hi hi — pipi fein Nußknackerlein wirst auch bald des Todes seyn — Söhnlein mit den sieben Kronen, wirds dem Nußknacker lohnen, wird die Mutter rächen fein, an Dir du klein Nußknackerlein —
o Leben so frisch und roth, von Dir scheid' ich, o Lodesnoth! — Quiek" — Mit diesem Schrei starb Frau Mauserinks und wurde
von dem königlichen Ofenheizer fortgebracht. —
Um den jungen
Droßelmeier hatte sich niemand-bekümmert; die Prinzessin erinnerte aber den König an sein Versprechen, und sogleich befahl er, daß
man den jungen Helden herbeischaffe.
Als nun aber der Unglück
liche in seiner Mißgestalt hervortrat, da hielt die Prinzessin beide
Hände vors Gesicht und schrie: Fort, fort mit dem abscheulichen
Nußknacker!
Alsbald ergriff ihn auch der Hofmarschall bei den
kleinen Schultern und warf ihn zur Thür heraus.
Der König
war voller Wuth, daß man ihm habe einen Nußknacker als Eidam
aufdringen wollen, schob alles auf das Ungeschick des Uhrmachers und des Astronomen, und verwies beide auf ewige Zeiten aus der Residenz.
Das hatte nun nicht in dem Horoskop gestanden, wel
ches der Astronom in Nürnberg gestellt; er ließ sich aber nicht ab halten, aufs Neue zu observiren und da wollte er in den Sternen
lesen, daß der junge Droßelmeier sich in seinem neuen Stande so
gut nehmen werde, daß er trotz seiner Ungestalt Prinz und König werden würde.
Seine Mißgestalt könne aber nur dann verschwin
den, wenn der Sohn der Frau Mauserinks, den sie nach dem Lode
114 ihrer sieben Söhne, mit sieben Köpfen geboren, und der Mausekönig
geworden, von seiner Hand gefallen sey, und eine Dame ihn, trotz Man soll denn auch wirk
seiner Mißgestalt, lieb gewinnen werde.
lich den jungen Droßelmeier in Nürnberg zur Weihnachtszeit in seines Vaters Bude zwar als Nußknacker, aber doch als Prinz ge sehen haben!
Das ist, ihr Kinder! das Mährchen von der harten
Nuß, und ihr wißt nun, warum die Leute so oft sagen, daß war eine
harte Nuß! und wie es kommt, daß die Nußknacker so häßlich sind. — So schloß der Obergerichtsrath seine Erzählung.
Marie meinte,
daß die Prinzessin Pirlipat doch eigentlich ein garstiges undank
bares Ding sey; Fritz versicherte dagegen, daß, wenn Nußknacker nur sonst ein braver Kerl seyn wolle,
er mit dem Mausekönig
nicht viel Federlesens machen, und seine vorige hübsche Gestalt bald
wieder erlangen werde.
Onkel und Neffe. Hat jemand von meinen hochverehrten Lesern oder Zuhörern jemals den Unfall erlebt, sich mit Glas zu schneiden, so wird er
selbst wissen, wie wehe das thut, und welch schlimmes Ding es
überhaupt ist, da es so langsam heilt.
Hatte doch Marie beinahe
eine ganze Woche im Bett zubringen müssen, weil es ihr immer
ganz schwindlicht zu Muthe wurde, so bald sie aufstand.
Endlich
aber wurde sie ganz gesund, und konnte lustig wie sonst in der Stube
umherspringen.
Im Glasschrank sah es ganz hübsch aus, denn
neu und blank standen da, Bäume und Blumen und Häustr, und
schöne glänzende Puppen.
Vor allen Dingen aber fand Marie
115 ihren lieben Nußknacker wieder, der, in dem zweiten Fache stehend, mit ganz gesunden Zähnchen sie anlächelte.
Als sie nun den Lieb
ling so recht mit Herzenslust anblickte, da fiel es ihr mit einem
mal sehr bänglich aufs Herz, daß alles, was Pathe Droßelmeier erzählt habe, ja nur die Geschichte des Nußknackers und seines
Zwistes mit
der Frau Mauserinks und
ihrem Sohne gewesen.
Nun wußte sie, daß ihr Nußknacker kein anderer seyn könne, als der junge Droßelmeier aus Nürnberg, des Pathen Droßelmeiers
angenehmer, aber leider von der Frau Mauserinks verhexter Neffe.
Denn daß der künstliche Uhrmacher am Hofe von Pirlipats Vater niemand anders gewesen,
selbst,
als der Obergerichtsrath Droßelmeier
daran hatte Marie schon bei der Erzählung nicht einen
Augenblick gezweifelt.
„Aber warum half Dir der Onkel denn
nicht, warum half er Dir nicht, so klagte Marie, als sich es immer lebendiger und lebendiger in ihr gestaltete, daß es in jener Schlacht, die sie mit ansah, Nußknackers Reich und Krone galt.
Waren
denn nicht alle übrigen Puppen ihm Unterthan, und war es denn
nicht gewiß, daß die Prophezeiung des Hofastronomen eingetroffen,
und der junge Droßelmeier König des Puppenreichs geworden?" Indem die kluge Marie das alles so recht im Sinn erwägte, glaubte
sie auch, daß Nußknacker und seine Vasallen in dem Augenblick, daß sie ihnen Leben und Bewegung zutraute, auch wirklich leben
und sich bewegen müßten.
Dem war aber nicht so, alles im
Schranke blieb vielmehr starr und regungslos, und Marie weit entfernt, ihre innere Ueberzeugung aufzugeben, schob das nur auf die fortwirkende Verhexung der Frau Mauserinks und ihres sieben-
8*
116 köpfigen Sohnes.
„Doch," sprach sie laut zum Nußknacker: „wenn
Sie auch nicht im Stande sind, sich zu bewegen, oder ein Wörtchen mit mir zu sprechen, lieber Herr Droßelmeier! so weiß ich doch,
daß Sie mich verstehen, und es wissen, wie gut ich es mit Ihnen meine; rechnen Sie auf meinen Beistand, wenn Sie dessen bedür fen. —
Wenigstens will ich den Onkel bitten, daß er Ihnen mit
seiner Geschicklichkeit beispringe, wo es nöthig ist."
Nußknacker
blieb still und ruhig, aber Marien war es so, als athme ein leiser
Seufzer durch den Glasschrank, wovon die Glasscheiben kaum hör bar, aber wunderlieblich ertönten, und es war, als sänge ein kleines Glockenstimmchen: „Maria klein — Schutzenglein mein — Dein werd ich seyn — Maria mein."
Marie fühlte in den eiskalten
Schauern, die sie überliefen, doch ein seltsames Wohlbehagen; die Dämmerung war eingebrochen, der Medizinalrath trat mit dem Pathen Droßelmeier hinein, und nicht lange dauerte es, so hatte
Luise den Theetisch geordnet,
und die Familie saß ringsumher,
allerlei Lustiges mit einander sprechend.
Marie hatte ganz still
ihr kleines Lehnstühlchen herbeigeholt, und sich zu den Füßen des Pathen Droßelmeier gesetzt.
Als nun gerade einmal alle schwiegen,
da sah Marie mit ihren großen blauen Augen dem Obergerichts
rath starr ins Gesicht und sprach: „Ich weiß nunmehr, lieber Pathe Droßelmeier, daß mein Nußknacker Dein Neffe, der junge Droßel
meier aus Nürnberg ist; Prinz, oder vielmehr König ist er ge
worden, das ist richtig eingetroffen, wie es Dein Begleiter, der Astronom, voraus gesagt hat; aber Du weißt es ja, daß er mit dem Sohne der Frau Mauserinks, mit dem häßlichen Mausekönig,
— in offnem Kriege steht.
117
—
Warum hilfst Du ihm nicht?"
Marie
erzählte nun nochmals den ganzen Verlauf der Schlacht, wie sie es angesehen, und wurde oft durch das laute Gelächter von Vater, Mutter und Luise unterbrochen.
ben ernsthaft.
Nur Fritz und Droßelmeier blie
„Aber wo kriegt das Mädchen all' das tolle Zeug
in den Kopf? ” sagte der Medizinalrath.
Ey nun, erwiederte die
Mutter, hat sie doch eine lebhafte Fantasie — eigentlich sind eS
nur Träume, die das heftige Wundsieber erzeugte.
„Es ist alles
nicht wahr," sprach Fritz, „solche Poltrons sind meine rothen Hu
saren nicht, Potz Bassa Manelka, wie würd' ich sonst drunter fah ren."
Seltsam lächelnd nahm aber Pathe Droßelmeier die kleine
Marie auf den Schooß, und sprach sanfter als je: „ Ey, Dir liebe
Marie ist ja mehr gegeben, als mir und uns allen, Du bist, wie Pirlipat, eine geborne Prinzessin, denn Du regierst in einem schö nen blanken Reich. —
Aber viel hast Du zu leiden, wenn Du
Dich des armen, mißgestalteten Nußknackers annehmen willst, da
ihn der Mausekönig auf allen Wegen und Stegen verfolgt. —
Doch nicht ich — Du, Du allein kannst ihn retten, sey standhaft und treu."
Weder Marie noch irgend jemand wußte, was Droßel-
meier mit diesen Worten sagen wollte, vielmehr kam es dem Me dizinalrath so sonderbar vor, daß er dem Obergerichtsrath an den Puls fühlte und sagte: „Sie haben, werthester Freund, starke Con gestionen nach dem Kopfe, ich will Ihnen etwas ausschreiben."
Nur die Medizinalräthin schüttelte bedächtlich den Kopf, und sprach
leise: „Ich ahne wohl, was der Obergerichtsrath meint, doch mit deutlichen Worten sagen kann ichs nicht." —
118 Der Sieg. Nicht lange dauerte es, als Marie in einer mondhellen Nacht
durch ein seltsames Poltern geweckt wurde, das aus einer Ecke des Zimmers zu kommen schien. hin
Es war, als würden kleine Steine
und her geworfen und gerollt,
quiekte es dazwischen.
und recht widrig pfiff und
Ach die Mause, die Mäuse kommen wieder,
ries Marie erschrocken, und wollte die Mutter wecken, aber jeder Laut stockte, ja sie vermochte kein Glied zu regen, als sie sah, wie
der Mausekönig sich durch ein Loch der Mauer hervor arbeitete, und endlich mit funkelnden Augen und Kronen im Zimmer herum,
dann aber mit einem gewaltigen Satz auf den kleinen Tisch, der dicht neben Mariens Bette stand, heraussprang.
„Hi — hi — hi —
mußt mir Deine Zuckererbsen — Deinen Marzipan geben, klein
Ding — sonst zerbeiß ich Deinen Nußknacker — Deinen Nuß knacker !" —
So pfiff Mausekönig, knapperte und knirschte dabei
schr häßlich mit den Zähnen, und sprang dann schnell wieder fort
durch das Mauerloch.
Marie war so geängstet von der graulichen
Erscheinung, daß sie den andern Morgen ganz blaß aussah, und, im
Innersten aufgeregt, kaum ein Wort zu reden vermochte. Hundert
mal wollte sie der Mutter oder der Luise, oder wenigstens dem Fritz klagen, was ihr geschehen, aber sie dachte: Glaubts mir denn
einer, und-werd ich nicht obendrein tüchtig ausgelacht? —
Das
war ihr denn aber wohl klar, daß sie, um den Nußknacker zu retten, Zuckererbsen und Marzipan hergeben müsse.
So viel sie
davon besaß, legte sie daher den andern Abend hin vor der Leiste
119 des Schranks.
Am Morgen sagte die Medizinalräthin: Ich weiß
nicht, woher die Mäuse mit einem Mal in unser Wohnzimmer
kommen, sieh nur, arme Marie, sie haben Dir all' Dein Jucker werk aufgefreffen.
Wirklich war es so.
Den gefüllten Marzipan
hatte der gefräßige Mausekönig nicht nach seinem Geschmack ge
funden, aber mit scharfen Zähnen benagt, so daß er weggeworfen
werden mußte.
Marie machte sich aber gar nichts mehr aus dem
Zuckerwerk, sondern war vielmehr im Innersten erfreut, da sie ihren Nußknacker gerettet glaubte.
Doch wie ward ihr, als in
der folgenden Nacht es dicht an ihren Ohren pfiff und quiekte. Ach, der Mausekönig war wieder da, und noch abscheulicher, als
in der vorvorigen Nacht, funkelten seine Augen, und noch widriger pfiff er zwischen den Zähnen.
„Mußt mir Deine Zucker-, Deine
Dragantpuppen geben, klein Ding, sonst zerbeiß ich Deinen Nuß knacker, Deinen Nußknacker," und damit sprang der grauliche Mause
könig wieder fort! —
Marie war sehr betrübt, sie ging den an
dern Morgen an den Schrank, und sah mit den wehmüthigsten
Blicken ihre Zucker- und Dragantpüppchen an.
Aber ihr Schmerz
war auch gerecht, denn nicht glauben magst Du's, meine aufmerk
same Zuhörerin Marie! was für ganz allerliebste Figürchen aus Zucker oder Dragant geformt die kleine Marie Stahlbaum besaß. Nächstdem,
daß ein sehr hübscher Schäfer mit seiner Schäferin
eine ganze Heerde milchweißer Schäflein weidete, und dabei sein
munteres Hündchen herumsprang, so traten auch zwei Briefträger
mit Briefen in der Hand einher, und vier sehr hübsche Paare, sauber gekleidete Jünglinge mit überaus herrlich geputzten Mädchen
120 schaukelten sich in einer russischen Schaukel.
Hinter einigen Tän
zern stand noch der Pachter Feldkümmel mit der Jungfrau von Orleans, aus denen sich Marie nicht viel machte, aber ganz im
Winkelchen
stand ein
Mariens Liebling,
rothbäckiges Kindlein,
die Thränen stürzten der kleinen Marie aus den Augen.
sie,
zu dem
„Ach,
Nußknacker wendend,
ach, lieber Herr
Droßelmeier, was will ich nicht alles thun,
um Sie zu ret
rief
sich
ten; aber es ist doch sehr hart!" —
Nußknacker sah indessen so
weinerlich aus, daß Marie, da es überdieß ihr war, als sähe sie Mausekönigs sieben Rachen geöffnet, den unglücklichen Jüngling
zu verschlingen, alles aufzuopfern beschloß.
Alle Auckerpüppchen
setzte sie daher Abends, wie zuvor das Zuckerwerk, an die Leiste
des Schranks.
Sie küßte den Schäfer, die Schäferin, die Läm-
merchen, und holte auch zuletzt ihren Liebling, das kleine roth
bäckige Kindlein Hon Dragant aus dem Winkel, welches sie jedoch ganz hinterwärts stellte.
Pachter Feldkümmel und die Jungfrau
von Orleans mußten in die erste Reihe.
„Nein das ist zu arg,
rief die Medizinalräthin am andern Morgen.
Es muß durchaus
eine große garstige Maus in dem Glasschrank Hausen, denn alle
schöne Auckerpüppchen der armen Marie sind zernagt und zerbissen."
Marie konnte sich zwar der Thränen nicht enthalten, sie lächelte aber doch bald wieder, denn sie dachte: Was thuts, ist doch Nuß
knacker gerettet.
Der Medizinalrath sagte am Abend, als die Mut
ter dem Obergerichtsrath von dem Unfug erzählte, den eine MauS im Glasschrank der Kinder treibe: es ist doch aber abscheulich,
daß wir die fatale Maus nicht vertilgen können, die im Glas-
121 schrank also ihr Wesen treibt, und der armen Marie alles Zucker werk wegfrißt.
„Ey, fiel Fritz ganz lustig ein: Der Becker un
ten hat einen ganz vortrefflichen grauen Legationsrath, den will
ich heraufholen.
Er wird dem Dinge bald ein Ende machen, und
der Maus den Kopf abbeißen, ist sie auch die Frau Mauserinks
selbst, oder ihr Sohn, der Mausekönig."
Und, fuhr die Medizinal-
räthin lachend fort, auf Stühlen und Tischen herumspringen, und
Gläser und Tassen herabwerfen und tausend andern Schaden an richten.
„Ach nein doch, erwiederte Fritz, Beckers Legationsrath
ist ein geschickter Mann, ich möchte nur so zierlich auf dem spitzen
Dach gehen können, wie er."
„ Nur keinen Kater zur Nachtzeit,"
bat Luise, die keine Katzen leiden konnte. Medizinalrath hierauf,
„Eigentlich, sprach der
hat Fritz Recht, indessen können wir ja
auch eine Falle aufstellen, haben wir denn keine?" — „Die kann uns Pathe Droßelmeier am besten machen, der hat sie ja erfunden,"
rief Fritz.
Alle lachten, und auf die Versicherung der Medizinal-
räthin, daß keine Falle im Hause sey, verkündete der Obergerichts rath, daß er mehrere dergleichen besitze,
und ließ wirklich zur
Stunde eine ganz vortreffliche Mausfalle von Hause herbeiholen. Dem Fritz und der Marie ging nun des Pathen Mährchen von der harten Nuß ganz lebendig auf.
Als die Köchin den Speck
röstete, zitterte und bebte Marie, und sprach, ganz erfüllt von dem Mährchen und den Wunderdingen darin, zur wohlbekannten Dore: „Ach Frau Königin, hüten Sie sich doch nur vor der Frau Mau serinks und ihrer Familie."
Fritz hatte aber seinen Säbel gezogen
und sprach: „ja die sollten nur kommen, denen wollt' ich einsaus-
122 wischen."
Es blieb aber alles unter und auf dem Heerde ruhig.
Als nun der Obergerichtsrath den Speck an ein feines Fädchen
band, und leise, leise die Falle an den Glasschrank setzte, da rief Fritz: „Nimm dich in Acht, Pathe Uhrmacher, daß Dir Mause
könig keinen Possen spielt." — Ach wie ging es der armen Marie in der folgenden Nacht!
Eiskalt tupfte es auf ihrem Arm hin
und her, und rauh und ekelhaft legte es sich an ihre Wange, und piepte und quiekte ihr ins Ohr. —
Der abscheuliche Mauskönig
saß auf ihrer Schulter, und blutroth geiferte es aus den sieben geöffneten Rachen, und mit den Zähnen knatternd und knirschend zischte er der vor Grauen und Schreck erstarrten Marie ins Ohr:
„Zisch aus — zisch aus, geh' nicht ins Haus — geh' nicht zum Schmaus — werd' nicht gefangen — zisch aus — gieb heraus,
gieb heraus, Deine Bilderbücher all, Dein Kleidchen dazu, sonst hast keine Ruh — magsts nur wissen, Nußknackerlein wirst sonst
missen, der wird zerbissen — hi hi — pi pi — quiek quiek!" — Nun war Marie voll Jammer und Betrübniß — sie sah ganz blaß und verstört aus, als die Mutter am andern Morgen sagte:
Die böse Maus hat sich noch nicht gefangen, so daß die Mutter in dem Glauben, daß Marie um ihr Zuckerwerk traure, und sich
überdieß vor der Maus fürchte, hinzufügte: „Aber sey nur ruhig,
liebes Kind, die böse Maus wollen wir schon vertreiben.
Helfen
die Fallen nichts, so soll Fritz seinen grauen Legationsrath herbei
bringen."
Kaum befand sich Marie im Wohnzimmer allein, als
sie vor den Glasschrank trat, und schluchzend also zum Nußknacker
sprach: „Ach, mein lieber, guter Herr Droßelmeier, was kann ich
123 armes, unglückliches Mädchen für Sie thun? — Gäb ich nun auch alle meine Bilderbücher, ja selbst mein schönes, neues Kleidchen, das mir der heilige Christ einbescheert hat, dem abscheulichen Mause
könig zum Zerbeißen her, wird er denn nicht doch noch immer mehr verlangen, so daß ich zuletzt nichts mehr haben werde, und
er gar mich selbst statt Ihrer zerbeißen wollen wird? —
O ich
armes Kind, was soll ich denn nun thun — was soll ich denn nun thun?" — Als die kleine Marie so jammerte und klagte, bemerkte
sie, daß dem Nußknacker von jener Nacht her ein großer Blutfleck am Halse sitzen geblieben war.
Seit der Zeit, daß Marie wußte, wie
ihr Nußknacker eigentlich der junge Droßelmeier, des Obergerichts raths Neffe sey, trug sie ihn nicht mehr auf dem Arm, und herzte und küßte ihn nicht mehr, ja sie mochte ihn aus einer gewissen Scheu gar nicht einmal viel anrühren; jetzt nahm sie ihn aber sehr behutsam aus dem Fache, und sing an, den Blutfleck am Halse
mit ihrem Schnupftuch abzureiben.
Aber wie ward ihr, als sie
plötzlich fühlte, daß Nußknackerlein in ihrer Hand erwärmte, und
sich zu regen begann.
Schnell setzte sie ihn wieder ins Fach, da
wackelte das Mündchen hin und her, und mühsam lispelte Nuß knackerlein: „Ach, wertheste Demoiselle Stahlbaum — vortreffliche
Freundin, was verdanke ich Ihnen alles — Nein, kein Bilderbuch,
kein Christkleidchen sollen Sie für mich opfern — schaffen sie nur ein Schwerdt — ein Schwerdt, für das Uebrige will ich sorgen,
mag er —" Hier ging dem Nußknacker die Sprache aus, und seine erst zum Ausdruck der innigsten Wehmuth beseelten Augen wurden wieder starr und leblos.
Marie empfand gar kein Grauen, viel-
124 mehr hüpfte sie vor Freuden, da sie nun ein Mittel wußte, den
Nußknacker
ohne weitere schmerzhafte Aufopferungen
zu
retten.
Aber wo nun ein Schwerdt für den Kleinen hernehmen? — Marie beschloß, Fritzen zu Rathe zu ziehen, und erzählte ihm Abends,
als sie, da die Eltern ausgegangen, einsam in der Wohnstube am Glasschranke saßen, alles, was ihr mit dem Nußknacker und dem Mausekönig widerfahren, und worauf es nun ankomme', den Nuß knacker zu retten.
Ueber nichts wurde Fritz nachdenklicher, als
darüber, daß sich, nach Mariens Bericht, seine Husaren in der Schlacht so schlecht benommen haben sollten.
Er fragte noch einmal
sehr ernst, ob es sich wirklich so verhalte, und nachdem es Marie
auf ihr Wort versicherte,
schrank,
so ging Fritz schnell nach dem Glas
hielt seinen Husaren eine pathetische Rede,
und schnitt
dann, zur Strafe ihrer Selbstsucht und Feigheit, einem nach dem andern das Feldzeichen von der Mütze, und untersagte ihnen auch, binnen einem Jahr den Gardehusarenmarsch zu blasen.
er sein Strafamt vollendet, wandte er sich wieder
Nachdem
zu Marien,
sprechend: „Was den Säbel betrifft, so kann ich dem Nußknacker
helfen, da ich einen alten Obristen von den Cürassiers gestern mit Pension in Ruhestand versetzt habe, der folglich seinen schönen schar
fen Säbel nicht mehr braucht." Besagter Obrister verzehrte die ihm
von Fritzen angewiesene Pension in der hintersten Ecke des dritten Faches.
Dort wurde er hervorgeholt, ihm der in der That schmucke
silberne Säbel abgenommen, und dem Nußknacker umgehängt. Vor bangem Grauen konnte Marie in der folgenden Nacht
nicht einschlafen,
es war ihr um Mitternacht so, als höre sie im
125 Wohnzimmer ein seltsames Rumoren, Klirren und Rauschen. —
Mit einem Male ging es:
Quiek! —
Der Mausekönig! der
Mausekönig! rief Marie, und sprang voll Entsetzen aus dem Bette. Alles blieb still $ aber bald klopfte es leise, leise an die Thüre, und ein seines Stimmchen ließ sich vernehmen:
„Allerbeste Demoiselle
Stahlbaum, machen Sie nur getrost auf — gute, fröhliche Bothschast!"
Marie erkannte
die Stimme des jungen Droßelmeier,
warf ihr Röckchen über, und öffnete flugs die Thüre.
lein stand draußen,
das blutige Schwerdt in
Wachslichtchen in der linken Hand.
Nußknacker
der rechten,
ein
So wie er Marien erblickte,
ließ er sich auf ein Knie nieder, und sprach also: „Ihr, o Dame! seid es allein, die mich mit Rittermuth stählte, und meinem Arme
Kraft gab, den Uebermüthigen zu bekämpfen, der es wagte, Euch zu höhnen.
Ueberwunden liegt der verrätherische Mausekönig und
wälzt sich in seinem Blute! — Wollet, o Dame! die Zeichen des
Sieges aus der Hand
Ritters anzunehmen
Euers Euch
bis
nicht verschmähen!"
in
den Lod ergebenen
Damit streifte Nuß
knackerchen die sieben goldnen Kronen des Mausekönigs, die er auf den linken Arm heraufgestreist hatte, sehr geschickt herunter, und
überreichte sie Marien, welche sie voller Freude annahm.
Nuß
knacker stand auf, und fuhr also fort: „Ach, meine allerbeste De
moiselle Stahlbaum, was könnte ich in diesem Augenblick, da ich
meinen Feind überwunden, Sie für herrliche Dinge schauen lassen,
wenn. Sie die Gewogenheit hätten, chen zu folgen! —
moiselle! —
mir nur ein Paar Schritt-
O thun Sie es — thun Sie es, beste De
126 Das PuppenreLch. Ich glaube, deins von Euch, ihr Kinder, hatte auch nur einen
Augenblick angestanden, dem ehrlichen gutmüthigen Nußknacker, der nie Böses im Sinn haben konnte, zu folgen.
Marie that dies um
so mehr, da sie wohl wußte, wie sehr sie auf Nußknackers Dank
barkeit Anspruch machen könne, und überzeugt war, daß er Wort
hatten, und viel Herrliches ihr zeigen werde.
Sie sprach daher:
»,2ch gehe mit Ihnen, Herr Droßelmeier, doch muß es nicht weit seyn, und nicht lange dauern, da ich ja noch gar nicht ausgeschla fen habe."
„Ich wähle deshalb, erwiederte Nußknacker, den näch
sten, wiewohl etwas beschwerlichen Weg.
Er schritt voran, Marie
ihm nach, bis er vor dem alten mächtigen Kleiderschrank auf dem Hausflur stehen blieb.
Marie wurde zu ihrem Erstaunen gewahr,
daß die Thüren dieses sonst wohl
verschlossenen Schranks offen
standen, so daß sie deutlich des Baters Reisefuchspelz erblickte, der
ganz vorne hing.
Nußknacker kletterte sehr geschickt an den Leisten
und Berzieruungen herauf, bis er die große Troddel, die, an einer
dicken Schnur befestigt, auf dem Rücktheile jenes Pelzes hing, er fassen konnte.
So wie Rußknacker diese Troddel stark anzog, ließ
sich schnell eine sehr zierliche Treppe von Jederholz durch den Pelz ärmel herab.
„Steigen Sie nur gefälligst aufwärts, theuerste De-
moiselle," rief Nußknacker.
Marie that es, aber kaum war sie
durch den Ermel gestiegen, kaum sah sie zum Kragen heraus, als
blendendes Licht ihr.entgegenstrahlte, und sie mit einem Mal auf einer herrlich duftenden Wiese stand, von der Millionen Funken,
127 wie blinkende Edelsteine empor strahlten. der CandisDiese,
Thor passiren."
sprach Nußknacker,
„Wir befinden uns auf
wollen aber alsbald jenes
Nun wurde Marie, indem sie aufblickte, erst das
schöne Thor gewahr,
welches sich nur wenige Schritte vorwärts
auf der Wiese erhob. Es schien ganz von weiß, braun und rosinfarbcn gesprenkeltem Marmor erbaut zu seyn, aber als Marie näher
kam, sah sie wohl, daß die ganze Masse aus zusammengebackenen
Juckermandeln und Rosinen bestand, weshalb denn auch, wie Nuß
knacker versicherte, das Thor, durch welches sie nun durchgingen, das Mandeln- und Rosinenthor hieß.
Gemeine Leute hießen es
sehr unziemlich die Studentenfutterpforte. bauten Gallerie dieses Thors,
2Cuf einer herausge
augenscheinlich aus Gerstenzucker,
machten sechs in rothe Wämserchen gekleidete Aeffchen die aller
schönste Janitscharenmusik, die man hören konnte, so daß Marie kaum bemerkte, wie sie immer weiter, weiter auf bunten Marmor
fliesen, die aber nichts anders waren, als schön gearbeitete Morschellen, fortschritt.
Bald umwehten sie die süßesten Gerüche, die aus einem
wunderbaren Wäldchen strömten, das sich von beiden Seiten auf-
that.
In dem dunklen Laube glänzte und funkelte es so hell her
vor, daß man deutlich sehen konnte, wie goldne und silberne Früchte
an buntgesärbtcn Stengeln herabhingen, und Stamm und Aeste sich mit Bändern und Blumensträußen geschmückt hatten, gleich fröh
lichen Brautleuten und lustigen Hochzeitsgästen.
Und wenn die
Orangendüfte sich wie wallende Jephyre rührten, da sauste es in
den Iweigcn und Blättern, und das Rauschgold knitterte und knat terte, daß es klang wie jubelnde Musik, nach der die funkelnden
128 Lichterchen Hüpfen und tanzen müßten.
„Ach^vie schön ist es hier,"
rief Marie ganz seelig und entzückt.
„ Wir sind im Weihnachts
walde, beste Demoiselle," sprach Nußknackerlein.
„Ach, fuhr Marie
fort, dürst' ich hier nur etwas verweilen, o es ist ja hier gar zu schön."
Nußknacker klatschte in die kleinen Händchen und sogleich
kamen einige kleine Schäfer und Schäferinnen, Jäger und Jäge
rinnen herbei, die so zart und weiß waren, daß man hätte glauben sollen, sie wären von purem Zucker und die Marie, unerachtet sie
im Walde umher spazierten, noch nicht bemerkt hatte.
Sie brach
ten einen allerliebsten, ganz goldenen Lehnsessel herbei, legten ein
weißes Kiffen von Reglisse darauf, und luden Marien sehr höflich ein, sich darauf niederzulassen.
Kaum hatte sie es gethan, als
Schäfer und Schäferinnen ein sehr artiges Ballet tanzten, wozu die Jäger ganz manierlich bliesen; dann verschwanden sie aber alle
in dem Gebüsch.
„Verzeihen Sie, sprach Nußknacker, verzeihen
Sie, wertheste Demoiselle Stahlbaum, daß der Tanz so miserabel aussiel, aber die Leute waren alle von unserm Drathballet, die können nichts anders machen als immer und ewig dasselbe;
und daß die
Jäger so schläfrig und flau dazu bliesen, das hat auch seine Ursachen.
Der Auckerkorb hängt zwar über ihrer Nase in den Weihnachts bäumen, aber etwas hoch! — ges weiter spatzieren?"
Doch wollen wir nicht was weni
„Ach es war doch alles recht hübsch und
mir hat es sehr wohl gefallen!" so sprach Marie, indem sie auf stand, und dem voranschreitenden Nußknacker folgte.
Sie
gingen
entlang eines süß rauschenden, flüsternden Baches, aus dem
nun
eben all' die herrlichen Wohlgerüche zu duften schienen, die den
129 ganzen Wald erfüllten.
Es ist der Orangenbach, sprach Nußknacker
aus Befragen, doch, seinen schönen Dust ausgenommen, gleicht er
nicht an Größe und Schönheit dem Limonadenstrom, der sich gleich ihm in den Mändelmilchsee ergießt.
In der That vernahm Marie
bald ein stärkeres Plätschern und Rauschen und erblickte den brei
ten Limonadenstrom, der sich in stolzen isabellfarbenen Wellen zwischen gleich grün glühenden Karfunkeln leuchtendem Gesträuch fort
kräuselte.
Eine ausnehmend frische, Brust und Herz stärkende Küh
lung wogte aus dem herrlichen Wasser.
Nicht weit davon schleppte
sich mühsam ein dunkelgelbes Wasser fort, das aber ungemein süße Düste verbreitete und an dessen Ufer allerlei sehr hübsche Kinderchen
saßen, welche kleine dicke Fische angelten und sie alsbald verzehrten. Näher gekommen bemerkte Marie, daß diese Fische aussahen wie
Lampertsnüffe.
In einiger Entfernung lag ein sehr nettes Dörf
chen an diesem Strome; Häuser, Kirche, Pfarrhaus, Scheuern, alles war dunkelbraun, jedoch mit goldenen Dächern geschmückt, auch waren viele Mauern so- bunt gemalt, alS seyen Citronat und Man
delkerne darauf geklebt.
„Das ist Pfefferkuchheim,
sagte Nuß
knacker, welches am Honigstrome liegt, es wohnen ganz hübsche Leute darin, aber sie sind meistens verdrießlich, weil sie sehr an
Zahnschmerzen leiden, wir wollen daher nicht erst hineingehen." In dem Augenblick bemerkte Marie ein Städtchen, das aus lauter bun
ten durchsichtigen Häusern bestand und sehr hübsch anzusehen war.
Nußknacker ging geradezu darauf los und nun hörte Marie ein tolles
lustiges Getöse und sah, wie tausend niedliche kleine Leutchen viele hochbepackte Wagen, die aüf dem Markte hielten, untersuchten und
9
130 abzupacken im Begriff standen.
Was sie aber hervorbrachten, war
anzusehen wie buntes gefärbtes Papier und wie Chokolade-Tafeln. „Wir sind in Bonbonshausen, sagte Nußknacker, eben ist eine Sen
kung aus dem Papierlande und vom Chokoladen-Könige angekom men."
Die armen Bonbonshäuser wurden neulich von der Armee
des Mücken - Admirals
hart bedroht,
deshalb überziehen sie ihre
Häuser mit den Gaben des Papierlandes und führen Schanzen auf von den tüchtigen Werkstücken, sandte.
die ihnen der Chokoladen-König
Aber, beste Demoiselle Stahlbaum, nicht alle kleinen Städte
und Dörfer dieses Landes wellen wir besuchen — zur Hauptstadt — zur Hauptstadt! —
Rasch eilte Nußknacker vorwärts und Marie
voller Neugierde ihm nach.
Nicht lange dauerte es, so stieg ein
herrlicher Rosenduft auf und alles war wie von einem sanften hin hauchenden Rosenschimmer umflossen.
Marie bemerkte, daß dies der
Wiederschein eines rosenroth glänzenden Wassers war, das in klei
nen rosasilbernen Wellchen vor ihnen her wie in wunderlieblichen Tönen und Melodien plätscherte und rauschte.
Auf diesem anmu-
thigen Gewässer, das sich immer mehr und mehr wie ein großer See ausbreitete, schwammen sehr herrliche silberweiße Schwäne mit
goldnen Halsbändern, und sangen mit einander um die Wette die hübschesten Lieder, wozu diamantne Fischlcin aus den Rosenfluthen auf - und niedertauchten, wie im lustigen Tanze.
„Ach, rief Marie
ganz begeistert aus, ach, das ist der See, wie ihn Pathe Droßel-
meier mir einst machen wollte, wirklich, und ich selbst bin das Mädchen, das mit den lieben Schwänchen kosen wird. ”
Nußknacker
lein lächelte so spöttisch, wie es Marie noch niemals an ihm bemerkt
131 hatte, und sprach dann: „So etwas kann denn doch wohl der Onkel
niemals zu Stande bringen; Sie selbst viel eher, liebe Demoiselle
Stahlbaum, doch lassen Sie uns darüber nicht grübeln, sondern
vielmehr über den Rosensee hinüber nach der Hauptstadt schiffen."
Die Hauptstadt. Nußknackerlein klatschte abermals in die kleinen Händchen, da
sing der Rosensee an stärker
zu rauschen, die Wellen plätscherten
höher auf, und Marie nahm wahr, wie aus der Ferne ein aus
lauter bunten, sonnenhell funkelnden Edelsteinen geformter Muschel wagen,
von zwei goldschuppigen Delphinen
gezogen, sich nahte.
Zwölf kleine allerliebste Mohren mit Mützchen und
Schürzchen,
aus glänzenden Kolibrifedern gewebt, sprangen ans Ufer und tru
gen erst Marien, dann Nußknackern sanft über die Wellen gleitend,
in den Wagen, der sich alsbald durch den See fortbewegte.
Ei,
wie war das schön, als Marie im Muschelwagen, von Rosenduft
umhaucht, von Rosenwellen umflossen, so dahin fuhr.
Die beiden
goldschuppigen Delphine erhoben ihre Nüstern und spritzten kry
stallene Strahlen hoch in die Höhe, und wie die in flimmernden
und funkelnden Bogen niederfielen, da war es, als sängen zwei holde feine Silberstimmchen: „Wer schwimmt auf rosigem See? — die Fee!
Mücklein!
bim bim Fischlein,
sim sim — Schwäne!
Schwa schwa, Goldvogel! trarah, Wellen - Ströme, — rührt Euch,
klinget, singet, wehet, spähet — Feelein, Feelein kommt gezogen; Rosenwogen, wühlet, kühlet, spület — spült hinan — hinan!" —
Aber die zwölf kleinen Mohren, die hinten auf den Muschelwagen 9*
132 aufgesprungen waren, schienen das Gesinge der Wasserstrahlen or
dentlich übel zu nehmen, denn sie schüttelten ihre Sonnenschirme
so sehr, daß die Dattelblätter, aus denen sie geformt waren, durch
einander knitterten und knatterten,
und dabei stampften sie mit
den Füßen einen ganz seltsamen Takt und sangen: „Klapp und klipp und klipp und klapp, auf und ab — Mohrenreigen darf
nicht schweigen; rührt Euch, Fische — rührt Euch, Schwäne» dröhne, Muschelwagen, dröhne, klapp und klipp und klipp und klapp und auf und ab!" —
„Mohren sind gar lustige Leute, sprach Nuß
knacker etwas betreten, aber sie werden mir den ganzen See rebel
lisch machen."
In der That ging auch bald ein sinnverwirrendes
Getöse wunderbarer Stimmen los, die in See und Luft zu schwim
men schienen; doch Marie achtete dessen nicht, sondern sah in die duftenden Rosenwellen, aus deren- jeter ihr ein holdes unmuthiges
Mädchenantlitz entgegenlächelte.
„Ach, rief sie freudig, indem sie
die kleinen Händchen zusammenschlug: Ach schauen Sie nur, lieber Herr Droßelmeier!
Da unten ist die Prinzessin Pirlipat, die lä
chelt mich an so wunderhold. —-
Herr Droßelmeier!" —
Ach, schauen sie doch nur, lieber
Nußknacker seufzte aber fast kläglich und
sagte: „O beste Demoiselle Stahlbaum, das ist nicht die Prinzessin Pirlipat, das sind Sie und immer nur Sie selbst, immer nur ihr
eignes holdes Antlitz, das so lieb aus jeder Rpsenwelle lächelt." Da
fuhr Marie schnell mit dem Kopf zurück, schloß die Augen fest zu und schämte sich sehr.
In demselben Augenblick wurde sie auch
von den zwölf Mohren aus dem Muschelwagen gehoben und an das Land getragen.
Sie befand sich in einem kleinen Gebüsch, das
133 beinahe noch schöner war als der WeihnachLswald, so glanzte und funkelte alles darin, vorzüglich waren aber die seltsamen Früchte
zu bewundern, die an allen Bäumen hingen, und nicht allein fette fern gefärbt waren, sondern auch ganz wunderbar dufteten.
„Wir
sind im Confiturenhain, sprach Nußknacker, aber dort ist die Haupt stadt."
Was erblickte Marie nun!
Wie werde ich eS denn anfan-
gen, Euch, Ihr Kinder, die Schönheit und Herrlichkeit der Stadt zu beschreiben, die sich jetzt breit über einen reichen Blumenanger
hin vor Mariens Augen austhat.
Nicht allein daß Mauern und
Thürme in den herrlichsten Farben prangten, so war auch wohl,
was die Form der Gebäude anlangt, gar nicht- sehnliches auf Er den zu finden.
Denn statt der Dächer hatten die Häuser zierlich
geflochtene Kronen aufgesetzt, und die Thürme sich mit dem zier
lichsten, buntesten Laubwerk gekränzt, das man nur sehen kann. Als
sie durch das Thor, welches so aussah, als sey es von lauter Ma kronen und überzuckerten Früchten erbaut, gingen, präsentirten sil berne Soldaten das Gewehr und ein Männlein in einem brokat-
nen Schlafrock warf sich dem Nußknacker um den Hals mit den
Worten: „Willkommen, bester Prinz, willkommen in Confektburg! ” Marie wunderte sich nicht wenig, als sie merkte, daß der junge Droßelmeier von einem sehr vornehmen Mann als Prinz anerkannt wurde.
Nun hörte sie aber so viel feine Sümmchen durch einan
der toben, solch ein Gejauchze und Gelächter, solch ein Spielen und Singen, daß sie an nichts anders denken konnte, sondern nur gleich
Nußknackerchen frug, was denn das zu bedeuten habe?
,.O beste
Demoiselle Stahlbaum, erwiederte Nußknacker: das ist nichts Be-
134 sonders, Conftktburg ist eine volkreiche, lustige Stadt, da gehts alle Tage so herz kommen Sie aber nur gefälligst weiter."
Kaum
waren sie einige Schritte gegangen, als sie auf den großen Markt platz kamen, der den herrlichsten Anblick gewährte.
Alle Häuser
rings umher waren von durchbrochener Zuckerarbeit, Gallerie über Gallerie gethürmt, in der Mitte stand ein hoher überzuckerter Baum
kuchen als Obelisk und um ihn her sprützten vier sehr künstliche Fontaine» Orsade, Limonade und andere herrliche, süße Getränke
in die Lüste; und in dem Becken sammelte sich lauter Kreme, die
man gleich hätte auslösstln mögen.
Aber hübscher, als alles das,
waren die allerliebsten kleinen Leutchen, die sich zu Tagenden Kopf
an Kopf durch einander drängten und juchzten und lachten und scherzten und sangen, kurz jenes lustige Getöse erhoben, das Marie
schon in der Ferne gehört hatte.
Da gab es schön gekleidete Her
ren und Damen, Armenier und Griechen,
Juden und Tyroler,
Offiziere und Soldaten, Prediger, Schäfer und Hanswürste, kurz alle nur mögliche Leute, wie sie in der Welt zu finden sind.
An
der einen Ecke wurde größer der Tumult, das Volk strömte aus
einander, denn eben ließ sich der Großmogul auf einem Palankin vorüber tragen, begleitet von drei und neunzig Großen des Reichs und siebenhundert Sklaven.
Es begab sich aber, daß an der an
dern Ecke die Fischerzunft, an fünfhundert Köpfe stark, ihren Fest zug hielt und übel war es auch, daß der türkische Großherr ge
rade den Einfall hatte, mit dreitausend Janitschar.en über den Markt spatzieren zu reiten, wozu noch der große Aug aus dem unterbro
chenen Opferfeste kam, der mit klingendem Spiel und dem Gesänge:
135 Auf danket der mächtigen Sonne, gerade auf den Baumkuchen zu
wallte. Gequieke!
Das war ein Drängen und Stoßen und Treiben und —
Bald
gab
es
auch viel Jammergeschrei,
denn
ein Fischer hatte im Gedränge einem Bramin den Kopf abgesto ßen und der Großmogul wäre beinahe von einem Hanswurst über
rannt worden.
Toller und toller wurde der Lärm und man fing
bereits an sich zu stoßen und zu prügeln,
als der Mann im bro-
katnen Schlafrock, der am Thor den Nußknacker als Prinz be grüßt hatte, auf den Baumkuchen kletterte, und nachdem eine sehr
hell klingende Glocke dreimal angezogen worden, dreimal laut rief: Conditor! Conditor! — Conditor! —
Sogleich legte sich der Tu
mult; ein Jeder suchte sich zu behelfen, wie er konnte, und nachdem
die verwickelten Züge sich entwickelt hatten, der besudelte Großmo
gul abgebürstet, und dem Bramin der Kopf wieder aufgesetzt wor den, ging das vorige lustige Getöse aufs neue los.
„Was bedeu
tet das mit dem Conditor, guter Herr Droßelmeier, ” frug Ma rie.
„Ach beste Demoiselle Stahlbaum,
erwiederte Nußknacker:
Conditor wird hier eine unbekannte, aber sehr grauliche Macht ge
nannt, von der man glaubt, daß sie aus dem Menschen machen
könne, was sie wolle; es ist das Verhängniß, welches über dies kleine lustige Volk regiert,
und sie fürchten dieses so sehr, daß
durch die bloße Nennung des Namens der größte Tumult gestillt werden kann, wie es eben der Herr Bürgermeister bewiesen hat.
Ein Jeder denkt dann nicht mehr an Irdisches, an Rippenstöße und
Kopfbeulen, sondern geht in sich und spricht: Was ist der Mensch und was kann aus ihm werden?" —
Eines lauten Rufs derBe-
136 wunderung, ja des höchsten Erstaunens konnte sich Marie nicht
enthalten, als sie jetzt mit einem Mal vor einem in rosenrothem
Schimmer hell leuchtenden Schlosse mit hundert lustigen Thürmen stand.
Nur hin und wieder waren reiche Bouquets von Veilchen,
Narzissen, Tulpen, Levkoyen auf die Mauern gestreut, deren dun
kel brennende Farben nur die blendende, ins Rosa spielende Weiße des Grundes erhöhten.
Die große Kuppel des Mittel-Gebäudes,
so wie die pyramidenförmigen Dächer der Thürme, waren mit tau
send golden und silbern funkelnden Sternlein besäet. vor dem Marzipanschloß," sprach Nußknacker.
„Nun sind wir
Marie war ganz
verloren in dem Anblick des Zauberpallastes, doch entging es ihr nicht, daß das Dach eines großen Thurmes gänzlich fehlte, welches kleine Männerchen, die auf einem von Zimmtstangen erbauten Ge wiederherstellen zu wollen schienen.
Noch ehe sie
den Nußknacker darum befragte, fuhr dieser fort.
„Vor kurzer
rüste standen,
Zeit drohte diesem schönen Schloß arge Verwüstung, wo nicht gänz
licher Untergang.
Der Riese Leckermaul kam des Weges gegan
gen, biß schnell das Dach jenes Thurmes herunter und nagte schon
an der großen Kuppel; die Confektbürger brachten ihm aber ein
ganzes Stadtviertel, so wie einen ansehnlichen Theil des Consitu-
renhains als Tribut, womit er sich abspeisen ließ und weiter ging." In dem Augenblick ließ sich eine sehr angenehme sanfte Musik hö
ren,
die Thore des Schlosses öffneten sich und es traten zwölf
kleine Pagen heraus mit angezündeten Gewürznelkstengeln, die sie wie Fackeln in den kleinen Händchen trugen.
Ihre Köpfe bestan
den aus einer Perle, die Leiber aus Rubinen und Smaragden und
137 dazu gingen sie auf sehr schön aus purem Gold gearbeiteten Füß chen einher.
Ihnen folgten vier Damen, beinahe so gvoß als Ma
riens Klärchen, aber so über die Maßen herrlich und glänzend ge
putzt, daß Marie nicht einen Augenblick in ihnen die gebornen Prin zessinnen verkannte.
Sie umarmten den Nußknacker auf das Zärt
lichste und riefen dabei wehmüthig freudig: „£> mein Prinz — mein
bester Prinz! — o mein Bruder!" Nußknacker schien sehr gerührt, er wischte sich die sehr häufigen Thränen aus dm Äugen, ergriff
dann Marien bei der Hand und sprach pathetisch: „Dies ist die Demoiselle Marie Stahlbaum, die Tochter
eines sehr achtungs-
werthen Medizinalraths, und die Retterin meines Lebens!
Warf
sie nicht den Pantoffel zur rechten Zeit, verschaffte sie mir nicht den Säbel des pensionirten Obristen, so läge ich, zerbissen von dem
fluchwürdigen Mausekönig, im Grabe. —
O! dieser Demoiselle
Stahlbaum, gleicht ihr wohl Pirlipat, obschon sie eine geborne
Prinzessin ist, an Schönheit, Güte und Tugend? —
nein!”
Nein, sag ich,
Alle Damen riefen: Rein! und fielen der Marie um den
Hals und riefen schluchzend: „O Sie edle Retterin des geliebten
prinzlichen Bruders — vortreffliche Demoiselle Stahlbaum!” — Nun geleiteten die Damen Marien und den Nußknacker in das In
nere des Schlosses, und zwar in einen Saal, dessen Wände aus
lauter farbig funkelnden Krystallen
bestanden.
Was aber vor
allem Uebrigen der Marie so wohl gefiel, waren die* allerliebsten kleinen Stühle, Tische, Commoden, Sekretärs u. s. w., die rings umher standen, und die alle von Zedern- oder Brasilienholz mit darauf gestreuten goldnen Blumen verfertigt waren.
Die Prin-
138 zesstnnen nöthigten Marien und den Nußknacker zum Sitzen, und
sagten,
daß sie sogleich selbst ein Mahl bereiten wollten.
Nun
holten sie eine Menge kleiner Töpfchen und Schüsselchen von dem feinsten japanischen Porzellan, Löffel, Messer und Gabeln, Reib
eisen, Kasserollen und andere Küchenbedürfnisse von Gold und Sil
ber herbei.
Dann brachten sie die schönsten Früchte und Jucker
werk, wie es Marie noch niemals gesehen hatte, und fingen an, auf das Zierlichste mit den kleinen schneeweißen Händchen die Früchte
auszupressen, das Gewürz zu stoßen, die Juckermandeln zu reiben,
kurz, so zu wirthschaften, daß Marie wohl einsehen konnte, wie gut
sich die Prinzessinen auf das Küchenwesen verstanden, und was das für ein köstliches Mahl geben würde.
Im lebhaften Gefühl, sich
auf dergleichen Dinge ebenfalls recht gut zu verstehen, wünschte sie heimlich, bei dem Geschäft der Prinzessinnen selbst thätig seyn zu
können.
Die schönste von Nußknackers Schwestern, als ob sie Ma
riens geheimen Wunsch
errathen hätte, reichte ihr einen
kleinen
goldnen Mörser mit den Worten hin: „O süße Freundin, theure Retterin meines Bruders, stoße eine Wenigkeit von diesem Juckerkandel!"
Als Marie nun so wohlgemuth
in den Mörser stieß,
daß er gar unmuthig und lieblich, wie ein hübsches Liedlein ertönte, fing Nußknacker an sehr weitläuftig zu erzählen, wie es bei der
grausenvollen Schlacht zwischen seinem und des Mausekönigs Heer er gangen, wie er der Feigheit seiner Truppen halber geschlagen wor
den,
wie dann der abscheuliche Mausekönig ihn durchaus zerbeißen
wollen, und Marie deshalb mehrere seiner Unterthanen, die in ihre Dienste gegangen, aufopfern müssen u. s. w.
Marien war es bei
139 dieser Erzählung, als klängen seine Worte, ja selbst ihre Mörser
stöße,
immer ferner und unvernehmlicher,
bald sah sie silberne
Flöre wie dünne Nebelwolken aufsteigen, in denen die Prinzessin
nen — die Pagen, der Nußknacker, ja sie selbst schwammen — ein
seltsames Singen und Schwirren und Summen ließ sich verneh men, das wie in die Weite hin verrauschte; nun hob sich Marie wie auf steigenden Wellen immer höher und höher — höher und höher — höher und höher —
Beschluß. Prr — Puff ging es! — Marie fiel herab aus unermeßlicher
Höhe. —
Das war ein Ruck! —
Aber gleich schlug sie auch
die Augen auf, da lag sie in ihrem Bettchen, es war heller Tag,
und die Mutter stand vor ihr, sprechend: „Aber wie kann man
auch so lange schlafen, längst ist das Frühstück da!"
Du merkst
es wohl, versammeltes, höchst verehrliches Publikum, daß Marie
ganz betäubt von all den Wunderdingen, die sie gesehen, endlich im Saal des Marzipanschloffes
eingeschlafen war,
und daß die
Mohren, oder die Pagen, oder gar die Prinzessinnen selbst, sie zu Hause getragen, und ins Bette gelegt hatten.
„O Mutter, liebe
Mutter, wo hat mich der junge Herr Droßelmeier diese Nacht überall hingeführt, was habe ich alles Schönes gesehen!"
Nun
erzählte sie alles beinah so genau, wie ich es so eben erzählt habe, und die Mutter sah sie ganz verwundert an.
Als Marie geendet,
sagte die Mutter: „Du hast einen langen, sehr schönen Traum ge
habt, liebe Marie, aber schlage Dir das Alles nur aus dem Sinn."
140 Marie bestand hartnäckig darauf, daß sie nicht geträumt, sondern alles wirklich gesehen habe, da führte die Mutter sie an den Glas schrank, nahm den Nußknacker, der, wie gewöhnlich, im dritten
Fache stand, heraus, und sprach:
„Wie kannst Du, Du albernes
Mädchen, nur glauben, daß diese Nürnberger Holzpuppe Leben und Bewegung haben kann."
„Aber liebe Mutter, fiel Marie ein,
ich weiß es ja wohl, daß der kleine Nußknacker,
der junge Herr
Droßelmeier aus Nürnberg, Pathe Droßelmeiers Neffe ist."
Da
brachen Beide, der Medizinalrath und die Medizinalräthin, in ein
„Ach, fuhr Marie beinah weinend fort:
schallendes Gelächter aus.
nun lachst Du gar meinen Nußknacker aus, lieber Vater! und er hat doch von Dir sehr gut gesprochen, denn als wir im Marzipan
schloß ankamen, und er mich seinen Schwestern, den Prinzessinnen,
vorstellte, sagte er, Du seyst ein sehr achtungswerther Medizinal rath!" —
Noch stärker wurde das Gelächter, in das auch Luffe,
ja sogar Fritz einstimmte. holte
schnell aus ihrem
Da lies Marie ins andere Zimmer,
kleinen Kästchen
die
sieben Kronen des
Mausekönigs herbei, und überreichte sie der Mutter mit den Wor ten:
„Da sieh nur, liebe Mutter, das sind die sieben Kronen
des Mausekönigs, die mir in voriger Nacht der junge Herr Droßel
meier zum Zeichen seines Sieges überreichte."
Voll Erstaunen be
trachtete die Medizinalräthin die kleinen Krönchen, die von einem
ganz unbekannten, aber sehr funkelnden Metall so sauber gearbeitet
waren, als hätten Menschenhände das unmöglich vollbringen können.
Auch der Medizinalrath konnte sich nicht satt sehen an den Krön chen, und Beide, Vater und Mutter, drangen sehr ernst in Marien,
141 zu gestehen, wo sie die Krönchen her habe?
Sie konnte ja aber
nur bei dem, was sie gesagt, stehen bleiben, und als sie nun der
Vater hart anließ, und sie sogar eine kleine Lügnerin schalt, da fing sie an heftig zu weinen, und klagte: „Ach ich armes Kind, ich
armes Kind! was soll ich denn nun sagen!" ging die Thüre auf.
In dem Augenblick
Der Obergerichtsrath trat hinein, und rief:
„Was ist da — was ist da? mein Pathchen Marie weint und
schluchzt? —
Was ist da — was ist da?"
Der Medizinalrath
unterrichtete ihn von Allem, was geschehen, indem er ihm die Krön chen zeigte.
Kaum hatte der Obergerichtsrath aber diese angesehen,
als er lachte, und rief: Toller Schnack, toller Schnack, das sind ja die Krönchen, die ich vor Jahren an meiner Uhrkette trug, und
die ich der kleinen Marie an ihrem Geburtstage, als sie zwei Jahre alt geworden, schenkte.
Wißt ihrs denn nicht mehr?"
Weder der
Medizinalrath noch die Medizinalräthin konnten sich dessen erinnern;
als aber Marie wahrnahm, daß die Gesichter der Eltern wieder freundlich geworden,
da sprang sie los auf Pathe Droßelmeier
und wes: „Ach, Du weißt ja alles, PatheDroßelmeier, sag es doch
nur selbst, daß mein Nußknacker Dein Neffe, der junge Herr Droßel meier aus Nürnberg ist, und daß er mir die Krönchen geschenkt hat!" — Der Obergerichtsrath machte aber ein sehr finsteres Ge sicht und murmelte: „dummer einfältiger Schnack." Darauf nahm
der Medizinalrath die kleine Marie vor sich und sprach sehr ernst
haft: „Hör mal, Marie, laß nun einmal die Einbildungen und Pos
sen, und wenn Du noch einmal sprichst, daß der einfältige miß gestaltete Nußknacker der Neffe des Herrn Obergerichtsrathes sey,
142 so werfe ich nicht allein den Nußknacker, sondern auch alle Deine übrigen Puppen, Mamsell Clärchen nicht ausgenommen,
Fenster." —
durchs
Nun durste freilich die arme Marie gar nicht mehr
davon sprechen, wovon denn doch ihr ganzes Gemüth erfüllt war; denn ihr möget es Euch wohl denken, daß man solch Herrliches
und Schönes, wie es Marien widerfahren, gar nicht vergessen kann.
Selbst, sehr geehrter Leser oder Zuhörer, Fritz, selbst Dein Camerad Fritz Stahlbaum drehte der Schwester sogleich
den Rücken,
wenn sie ihm von dem Wunderreiche, in dem sie so glücklich war, erzählen wollte.
Er soll sogar manchmal zwischen
den Zähnen
gemurmelt haben: „einfältige Gans!" doch das kann ich seiner sonst
erprobten guten Gemüthsart halber nicht glauben, so viel ist aber gewiß, daß, da er nun an nichts mehr, was ihm Marie erzählte,
glaubte, er seinen Husaren bei öffentlicher Parade das ihnen ge schehene Unrecht förmlich abbat, ihnen statt der verlornen Feld zeichen viel höhere, schönere Büsche von Gänsekielen anhestete, und
ihnen auch wieder erlaubte,
den Gardehusarenmarsch zu
blasen.
Run! — wir wissen am besten, wie es mit dem Muth der Hu saren aussah, als sie von den häßlichen Kugeln Flecke
auf die
rothen Wämser kriegten! —
Sprechen durfte nun Marie nicht mehr von ihrem Abenteuer, aber die Bilder jenes wunderbaren Feenreichs umgaukelten sie in
süßwogendem Rauschen und in holden lieblichen Klängen; sie sah alles noch einmal, so wie sie nur ihren Sinn fest darauf richtete, und so kam es, daß sie, statt zu spielen, wie sonst, starr und still,
tief in sich gekehrt, da sitzen konnte, weshalb sie von allen eine
143 kleine Träumerin gescholten wurde.
gerichtsrath einmal eine Uhr
Es begab sich, daß der Ober
in dem Hause des Medizinalraths
reparirte, Marie saß am Glasschrank, und schaute, in ihre Träume vertieft, den Nußknacker an, da fuhr es ihr wie unwillkürlich, heraus: „Ach, lieber Herr Droßelmeier, wenn Sie doch nur wirk
lich lebten, ich würds nicht so machen, wie Prinzessin Pirlipat, und Sie verschmähen,
weil Sie, um meinet willen,
haben, ein hübscher junger Mann zu seyn!”
aufgehört
In dem Augenblick
schrie der Obergerichtsrath: Hey, hey — toller Schnack. —
Aber
in dem Augenblick geschah auch ein solcher Knall und Ruck, daß Marie
ohnmächtig vom Stuhle sank.
Als sie wieder erwachte,
war die Mutter um sie beschäftigt, und sprach: „Aber wie kannst
Du nur vom Stuhle fallen, ein so großes Mädchen! —
der Neffe des Herrn Obergerichtsraths
men — sey hübsch artig! ” —
Hier ist
aus Nürnberg angekom
Sie blickte auf, der Obergerichts
rath hatte wieder seine Glasperücke aufgesetzt, seinen gelben Rock angezogen, und lächelte sehr zufrieden; aber an seiner Hand hielt er einen zwar kleinen, aber sehr wohlgewachsenen jungen Mann.
Wie Milch und Blut war sein Gesichtchen, er trug einen sehr herr lichen rothen Rock mit Gold, weißseidene Strümpfe und Schuhe,
hatte im Jabot ein allerliebstes Blumenbouquet, war sehr zierlich
frisirt und gepudert, und hinten über den Rücken hing ihm ein ganz vortrefflicher Zopf herab.
Der kleine Degen an.seiner Seite
schien von lauter Juwelen, so blitzte er, und das Hütlein unterm
Arm
von Seidenflocken
gewebt.
Welche angenehme Sitten der
junge Mann besaß, bewies er gleich dadurch, daß er Marien eine
144 Menge herrlicher Spielsachen, vorzüglich aber den schönsten Mar
zipan und dieselben Figuren, welche der Mausekönig zerbissen, dem
Fritz aber einen wunderschönen Säbel mitgebracht hatte.
Bei Tische
knackte der Artige für die ganze Gesellschaft Nüsse auf, die här testen widerstanden ihm nicht, mit der rechten Hand steckte er fie
in den Mund, mit der linken zog er den Jopf an — Krak —
zerfiel die Nuß in Stücke! —
Marie war glutroth geworden,
als sie den jungen artigen Mann erblickte, und noch röther wurde sie, als nach Tische der junge Droßelmeier sie einlud, mit ihm in
das Wohnzimmer an
den Glasschrank zu gehen.
„Spielt nur
hübsch mit einander, ihr Kinder, ich habe nun, da alle meine Uh
ren richtig gehen, nichts dagegen," rief der Obergerichtsrath. Kaum war aber der junge Droßelmeier mit Marien allein, als er sich auf ein Knie niederließ, und also sprach: „O meine allervortreff
lichste Demoiselle Stahlbaum, sehen Sie hier zu Ihren Füßen den
beglückten Droßelmeier, dem Sie an dieser Stelle das Leben ret
teten! —
Sie sprachen es gütigst aus, daß Sie mich nicht wie
die garstige Prinzessin Pirlipat verschmähen wollten, wenn ich ihret
willen häßlich geworden! — sogleich hörte ich auf ein schnöder Nußknacker zu seyn, und erhielt meine vorige nicht unangenehme Gestalt wieder. —
O vortreffliche Demoiselle, beglücken Sie mich
mit Ihrer werthen Hand, theilen Sie mit mir Reich und Krone, herrschen Sie mit mir auf Marzipanschloß, denn dort bin ich jetzt
König!" — Marie hob den Jüngling auf, und sprach leise: „Lieber Herr Droßelmeier! Sie sind ein sanftmüthiger guter Mensch, und
da Sie dazu noch ein unmuthiges Land mit sehr hübschen lustigen
145 Leuten regieren, so nehme ich Sie zum Bräutigam an! — wurde Marie sogleich Droßelmeiers Braut.
Hierauf
Nach Jahresfrist hat
er sie, wie man sagt, auf einem goldnen von silbernen Pferden
gezogenen Wagen abgeholt.
Auf der Hochzeit tanzten zwei und
zwanzigtausend der glänzendsten, mit Perlen und. Diamanten ge schmückten Figuren, und Marie soll noch zur Stunde Königin eines Landes seyn,
in dem man überall funkelnde Weihnachtswälder,
durchsichtige Marzipanschlösser, kurz, die allerherrlichsten wunder barsten Dinge erblicken kann, wenn man nur Augen darnach hat. Das war das Mährchen vom Nußknacker und Mausekönig.
146
4
Das fremde Kind.
Der Herr von Brakel auf Brakelheim.
Es
war einmal ein Edelmann,
der hieß Herr Thaddäus von
Brakel und wohnte in dem kleinen Dörfchen Brakelheim, das er von seinem verstorbenen Vater, dem alten Herrn von Brakel ge erbt hatte, und das mithin sein Eigenthum war.
Die vier Bauern,
die außer ihm noch in dem Dörfchen wohnten, nannten ihn den gnädigen Herrn,
unerachtet er wie sie mit schlicht ausgekämmten
Haaren einherging, und nur Sonntags, wenn er mit seiner Frau
und seinen beiden Kindern, Felix und Christlieb geheißen, nach dem
benachbarten großen Dorfe zur Kirche fuhr, statt der groben Tuch jacke, die er sonst trug, ein seines grünes Kleid und eine rothe Weste
mit goldnen Tressen anlegte, welches ihm recht gut stand.
Eben
dieselben Bauern pflegten auch, fragte man sie: wo komm ich denn
hin zum Herrn von Brakel? jedesmal zu antworten: „Nur immer vorwärts durch das Dorf den Hügel herauf, wo die Birken stehen, da ist des gnädigen Herrn sein Schloß!" Nun weiß doch aber jeder
mann, daß ein Schloß ein großes hohes Gebäude seyn muß mit vielen Fenstern und Thüren ja wohl gar mit Thürmen und fun-
puiAq arpmaxT
st»(J
147 feinten Windfahnen, von dem allen war aber auf dem Hügel mit den Birken gar nichts zu spüren, vielmehr stand da nur ein niedriges'Häuschen mit wenigen kleinen Fenstern, das man kaum frü her, als dicht davor angekommen, erblicken konnte.
Geschieht es
aber wohl, daß man vor dem hohen Thor eines großen Schlosses
plötzlich stille steht und, angehaucht von der herausströmenden eis kalten Luft, angestarrt von den todten Augen der seltsamen Stein
bilder, die wie grauliche Wächter sich an die Mauer lehnen, alle
Lust verliert hineinzugehen, sondern lieber umkehrt, so war das bei
dem kleinen Hause des Herrn Thaddäus von Brakel ganz und gar nicht der Fall.
Hatten nämlich schon im Wäldchen die schönen
schlanken Birken mit ihren belaubten Kesten, wie mit zum Gruß
ausgestreckten Armen uns freundlich zugewinkt, hatten sie im fro hen Rauschen und Säuseln uns zugewispert: „Willkommen, will
kommen unter uns!" so war es denn nun vollends bei dem Hause,
als riefen holde Stimmen aus den spiegelhellen Fenstern, ja überall aus dem dunklen dicken Weinlaube, das die Mauern bis zum Dach
herauf bekleidete, süßtönend heraus: „Komm doch nur herein, komm
doch nur herein, du lieber müder Wanderer, hier ist es gar hübsch
und gastlich! ”
Das bestätigten denn auch die, Nest hinein, Nest
hinaus, lustig zwitschernden Schwalben und der alte stattliche Storch
schaute ernst und klug vom Rauchfange herab und sprach: „Ich wohne nun schon manches liebe Jahr hindurch zur Sommerzeit hier,
aber ein besseres Logement finde ich nicht auf Erden, und könnte ich
nur die mir angeborne Reiselust bezwingen, wär's nur nicht
zur Winterzeit hier so kalt und das Holz so theuer, niemals rührte
148 id) mich von der Stelle. — So anmuthig und hübsch, wenn auch
gleich gar kein Schloß, war das Haus des Herrn von Brakel.
Der vornehme Besuch. Die Frau von Brakel stand eines Morgens sehr früh auf und
buk einen Kuchen, zu dem sie viel mehr Mandeln und Rosinen ver brauchte, als selbst zum Osterkuchen, weshalb er auch viel herr
licher gerieth als dieser.
Während dessen klopfte und bürstete der
Herr von Brakel seinen grünen Rock und seine rothe Weste aus
und Felix und Christlieb wurden mit den besten Kleidern angethan, die sie nur besaßen.
„Ihr dürst, so sprach dann der Herr von
Brakel zu den Kindern, ihr dürft heute nicht herauslaufen in den Wald wie sonst, sondern müßt in der Stube ruhig sitzen bleiben,
damit ihr sauber und hübsch ausseht, wenn der gnädige Herr Onkel kommt'." —
Die Sonne war hell und freundlich ausgetaucht aus
dem Nebel und strahlte golden hinein in die Fenster, im Wäld chen sauste der Morgenwind und Fink und Zeisig und Nachtigall
jubilirten durch einander und
schmetterten die
lustigsten Liedchen.
Christlieb saß still und in sich gekehrt am Tische;
bald zupfte sie
die rothen Bandschleifen an ihrem Kleidchen zurecht,
bald ver
suchte sie ämsig fortzustricken, welches heute nicht recht gehen wollte. Felix, dem der Papa ein schönes Bilderbuch in die Hände gegeben,
schaute über die Bilder hinweg nach dem schönen Birkenwäldchen,
in dem er sonst jeden Morgen ein paar Stunden nach Herzenslust herumspringen durfte. sich hinein,
,,2lch, draußen ist's so schön, seufzte er in
doch als nun vollends der große Hofhund,
Sultan
149 geheißen, klaffend und knurrend vor dem Fenster herumsprang,
eine Strecke nach dem Walde hinlief, wieder umkehrte und aufs neue knurrte und bellte, als wolle er dem kleinen Felix zurufen:
Kommst du denn nicht heraus in den Wald? was machst du denn
in der dumpfigen Stube? da konnte sich Felix gar nicht lassen vor Ungeduld. „Ach liebe Mama, laß mich doch nur ein paar Schritte
hinausgehen!"
So rief er laut, aber die Frau von Brakel erwie
derte: „Nein nein, bleibe nur fein in der Stube. Ich weiß schon,
wie es geht, so wie du hinaus läufst, muß Christlieb hinterdrein und dann husch husch durch Busch und Dorn, hinauf auf die Bäume!
Und dann kommt ihr zurück erhitzt und beschmuzt und
der Onkel sagt: „Was sind das für häßliche Bauernkinder! So dür
fen keine Brakels aussehen, weder große noch kleine." Felix klappte voll Ungeduld das Bilderbuch zu, und sprach, indem ihm die Thrä nen in die Augen traten, kleinlaut: „Wenn der gnädige Herr Onkel von häßlichen Bauernkindern redet, so hat er wohl nicht Vollrads Meter oder Hentschels Annliese oder all unsere Kinder hier im Dorfe
gesehen, denn ich wüßte doch nicht, wie es hübschere Kinder geben sollte als diese."
„Ja wohl, rief Christlieb, wie plötzlich aus einem
Traum erwacht, und ist nicht auch des Schulzen Grete ein hüb
sches Kind, wiewohl sie lange nicht solche schöne rothe Bandschleifen
hat als ich: „Sprecht nicht solch dummes Zeug, rief die Mutter halb erzürnt, ihr versteht das nicht, wie es der gnädige Onkel
meint." —
Alle weitere Vorstellungen, wie es grade heute gar
zu herrlich im Wäldchen sey, halfen nichts, Felix und Christlieb
mußten in der Stube bleiben und das war um so peinlicher, als
150 der Gastkuchen, der auf dem Tische stand, die süßesten Gerüche
verbreitete und doch nicht früher angeschnitten werden durfte, bis
der Onkel angekommen.
„Ach wenn er doch nur käme, wenn er
doch nur endlich käme!" so riefen beide Kinder und weinten bei nahe vor Ungeduld.
Endlich ließ sich ein starkes Pferdegetrappel
vernehmen, und eine Kutsche fuhr vor, die so blank und mit gol denen Aierathen reich geschmückt war, daß die Kinder in das größte
Erstaunen geriethen, denn sie hatten dergleichen noch gar nicht ge sehen.
Ein großer hagerer Mann glitt an den Armen des Jä
gers, der den Kutschenschlag geöffnet, heraus in die Arme des Herrn von Brakel, an dessen Wange er zweimal sanft die seinige legte und leise lispelte: „Bon jour, mein lieber Vetter, nur gar keine Um
stände, bitte ich." Unterdessen hatte der Jäger noch eine kleine dicke Dame mit sehr rothen Bakken und zwei Kinder, einen Knaben und
ein Mädchen, aus der Kutsche zur Erde hinab gleiten lassen, wel ches er sehr geschickt zu machen wußte, so daß jeder auf die Füße
zu stehen kam.
Als sie nun alle standen, traten, wie es ihnen von
Vater und Mutter eingeschärft worden, Felix und Christlieb hinzu,
faßten jeder eine Hand des langen hagern Mannes und sprachen dieselbe küssend:
„Seyn Sie uns recht schön willkommen, lieber
gnädiger Herr Onkel!" dann machten sie es mit den Händen der
kleinen dicken Dame eben so und sprachen:
„Seyn sie uns recht
schön willkommen, liebe gnädige Frau Tante!"
zu den Kindern,
dann traten sie
blieben aber ganz verblüfft stehen, denn
Kinder hatten sie noch niemals gesehen.
solche
Der Knabe trug lange
Pumphosen und ein Jäckchen von scharlachrothem Tuch über und über
151 mit goldenen Schnüren und Tressen besetzt unb, einen kleinen blan ken Sabel an der Seite, auf dem Kopf aber eine seltsame rothe
Mytze mit einer weißen Feder, unter der er mit seinem blaßgelben
Gesichtchen und den trüben schläfrigen Augen blöd und scheu her vorkuckte.
Das Mädchen hatte zwar ein weißes Kleidchen an wie
Christlieb, aber mit erschrecklich viel Bändern und Spitzen, auch waren ihre Haare ganz seltsam in Zöpfe geflochten und spitz in die
Höhe heraufgewunden, oben funkelte aber ein blankes Krönchen.
Christlieb faßte sich ein Herz und wollte die Kleine bei der Hand nehmen, die zog aber die Hand schnell zurück und zog solch ein verdrüßliches weinerliches Gesicht, daß Christlieb ordentlich davor
erschrak und von ihr abließ.
Felix wollte auch nur des Knaben
schönen Säbel ein bischen näher besehen und faßte darnach, aber
der Junge sing an zu schreien: „Mein Säbel, mein Säbel, er will mir den Säbel nehmen," und lief zum hagern Mann, hinter den er sich versteckte.
Felix wurde darüber roth im Gesicht und sprach
ganz erzürnt: „Ich will dir ja deinen Säbel nicht nehmen — dummer Junge!"
Die letzten Worte murmelte er nur so zwischen
den Zähnen, aber der Herr von Brakel hatte wohl alles gehört und schien sehr verlegen darüber zu seyn, denn er knöpfelte an der Weste
hin und her und rief: „Ei Felix!"
Die dicke Dame sprach:
„Adelgundchen, Hermann, die Kinder thun euch ja nichts, seid
doch nicht so blöde;" der hagere Herr lispelte aber: „Sie wer den schon Bekanntschaft machen," ergriff die Frau von Brakel bey
der Hand und führte sie ins Haus; ihr folgte Herr von Brakel mit der dicken Dame, an deren Schleppkleid sich Adelgundchen und
152 Hermann hingen.
Christlich und Felix gingen hinterdrein. „Jetzt
wird der Kuchen angeschnitten/' flüsterte Felix der Schwester ins
Ohr.
Ach ja, ach ja, erwiederte diese voll Freude und dann laufen
wir auf und davon in den Wald, fuhr Felix fort, „ und bekümmern
uns um die fremden blöden Dinger nicht," setzte Christlich hinzu. Felix machte einen Lustsprungz so kamen sie in die Stube.
Adel
gunde und Hermann durften keinen Kuchen essen, weil sie, wie die Aeltern sagten, das nicht vertragen könnten; sie erhielten dafür je
der einen kleinen Zwieback, den der Jäger aus einer mitgebrach
ten Schachtel heraus nehmen mußte.
Felix und Christlich bissen
tapfer in das derbe Stück Kuchen, daß die gute Mutter jedem ge
reicht und waren guter Dinge.
Wie es weiter bei dem vornehmen Besuche herging. Der hagere Mann, Cyprianus von Brakel geheißen, war zwar
der leibliche Vetter des Herrn Thaddäus von Brakel, indessen weit
vornehmer als dieser.
Denn außerdem, daß er den Grafen-Titel
führte, trug er auch auf jedem Rock, ja sogar auf dem Puderman tel, einen großen silbernen Stern.
Deshalb hatte, als er schon
ein Jahr früher, jedoch ganz allein ohne die dicke Dame, die seine Frau war, und ohne die Kinder, bei dem Herrn ThaddäuS von
Brakel, seinem Vetter, auf eine Stunde einsprach, Felix ihn auch gefragt: „Hör' mal, gnädiger Herr Onkel, du bist wohl König ge worden?"
Felix hatte nämlich in seinem Bilderbuche einen abge
malten König, der einen dergleichen Stern auf der Brust trug,
153 und so mußte er wohl glauben, daß der Onkel nun auch König geworden sey, weil er das Zeichen trug.
Der Onkel hatte da
mals sehr über die Frage gelacht und geantwortet: „Nein, mein Söhnchen, König bin ich nicht, aber des Königs treuster Diener
und Minister, der über viele Leute regiert.
Gehörtest du zu der
Gräflich von Brakelschen Linie, so könntest du vielleicht auch künf tig solch' einen Stern tragen, wie ich, aber so bist du freilich nur ein simpler Von, aus dem nicht viel Rechtes werden wird." Felix
hatte den Onkel gar
nicht verstanden und Herr Thaddäus von
Brakel meinte, das sey auch gar nicht vonnöthen. —
Jetzt er
zählte der Onkel seiner dicken Frau, wie ihn Felix für den König
gehalten, da rief sie: „O süße liebe rührende Unschuld!"
Und
nun mußten beide, Felix und Christlieb hervor aus dem Winkel, wo sie unter Kichern und Lachen den Kuchen verzehrt hatten.
Die
Mutter säuberte beiden sogleich den Mund von manchen Kuchen krumen und Rosinenresten und übergab sie so dem gnädigen Onkel
und der gnädigen Tante, die sie unter lauten Ausrufungen: „O süße liebe Natur! o ländliche Unschuld!" küßten und ihnen große Tüten in die Hände drückten.
Dem Herrn Thaddäus von Brakel
und seiner Frau standen die Thränen in den Augen über die Güte
der vornehmen Verwandten.
Felix hatte indessen die Tüte geöffnet
und Bonbons darin gefunden, auf die er tapfer zubiß, welches ihm
Christlieb sogleich nachmachte.
„Söhnchen, mein Söhnchen, rief
der gnädige Onkel, so geht das nicht, du verdirbst dir ja die Zähne, du mußt fein so lange an dem Zuckerwerke lutschen, bis es im Munde zergeht.
Da lachte aber Felix beinahe laut aus und sprach:
154 „Ei lieber, gnädiger Onkel, glaubst du denn, daß ich ein kleines Wickelkind bin und lutschen muß, weil ich noch keine tüchtige Zähne
habe zum Beißen? " Und damit steckte er einen neuen Bonbon in den Mund und biß so gewaltig zu, daß es knitterte und knatterte.
„O liebliche Naivität," rief die dicke Dame, der Onkel stimmte
ein, aber dem Herrn Thaddäus standen die Schweißtropfen auf der Stirne; er war über Felixens Unart ganz beschämt und die Mut
ter raunte ihm ins Ohr: „Knirsche nicht so mit den Zähnen, un
artiger Junge!"
Das machte den armen Felix, der nichts Uebles
zu thun glaubte, ganz bestürzt, er nahm den noch nicht ganz ver
zehrten Bonbon langsam aus dem Munde, legte ihn in die Tüte und reichte diese dem Onkel hin, indem er sprach: „Nimm nur deinen Zucker wieder mit, wenn ich ihn nicht essen soll!"
Christlieb,
gewohnt in Allem Felixens Beispiel zu, folgen, that mit ihrer Tüte dasselbe.
Das war dem Herrn Thaddäus zu arg, er brach los:
„Ach, mein geehrtester gnädiger Herr Vetter, halten Sie nur dem einfältigen Jungen die Tölpelei zu Gute, aber freilich auf dem
Lande und in so beschränkten Verhältnissen — Ach wer nur solche
gesittete Kinder erziehen könnte wie Sie! —
Der Graf Cypri-
anus lächelte selbstgefällig und vornehm, indem er auf Hermann
und Adelgunden hinblickte.
Die hatten längst ihren Zwieback ver
zehrt und saßen nun stumm und still aus ihren Stühlen, ohne eine
Miene zu verziehen, ohne sich zu rühren und zu regen.
Die dicke
Dame lächelte ebenfalls, indem sie lispelte: „Ja, lieber Herr Vet ter, die Erziehung unserer lieben Kinder liegt uns mehr als Alles
am Herzen."
Sie gab dem Grafen Cyprianus einen Wink, der
155 sich alsbald an Hermann und Adelgunden wandte und allerlei Fra gen an sie richtete, die sie mit der größten Schnelligkeit beant worteten: Da war von vielen Städten, Flüssen und Bergen die
Rede, die viele.tausend Meilen ins Land hinein liegen sollten und
die seltsamsten Namen trugen.
Eben so wußten beide ganz genau
zu beschreiben, wie die Thiere aussähen, die in wilden Gegenden
der entferntesten Himmelsstriche wohnen sollten.
Dann sprachen sie
von fremden Gebüschen, Bäumen und Früchten, als ob sie sie selbst
gesehen, ja wohl die Früchte selbst gekostet hätten.
Hermann be
schrieb ganz genau, wie es vor dreihundert Jahren in einer großen Schlacht zugegangen, und wußte alle Generale, die dabei zugegen
gewesen, mit Namen zu nennen.
Zuletzt sprach Adelgunde sogar
von den Sternen und behauptete, am Himmel säßen allerlei selt same Thiere und andere Figuren.
Dem Felix wurde dabei ganz
angst und bange, er näherte sich der Frau von Brakel und fragte leise ins Ohr: „Ach Mama! liebe Mama! was ist denn das Alles, was die dort schwatzen und plappern?"
„Halts Maul, dummer
Junge, raunte ihm die Mutter zu, das sind die Wissenschaften'."' Felix verstummte.
„Das ist erstaunlich, das ist unerhört! in dem
zarten Alter!" so rief der Herr von Brakel einmal über das an dere, die Frau von Brakel aber seufzete: „O mein Herr Jemine!
o was sind das für Kinder, nein was sind das für Engel! o was soll denn aus unsern Kleinen werden,
hier aus dem öden Lande.
Als nun der Herr von Brakel in die Klagen der Mutter mit ein
stimmte, tröstete beide der Graf Cyprianus, indem er versprach, bin nen ^einiger Zeit ihnen einen gelehrten Mann zuzuschicken, der ganz
156 umsonst den Unterricht der Kinder übernehmen werde. war die schöne Kutsche wieder vorgefahren.
Unterdessen
Der Jäger trat mit
zwei großen Schachteln hinein, die nahmen Adelgunde und Her
mann und überreichten fie der Christlieb und dem -Felix.
„Lieben
Sie Spielsachen, mon eher ? hier habe ich Ihnen welche mitgebracht
von der feinsten Sorte," so sprach Hermann sich zierlich verbeu gend.
Felix hatte die Ohren hängen lassen, er ward traurig, selbst
wußte er nicht, warum.
Er hielt die Schachtel gedankenlos in
den Händen und murmelte, ich heiße nicht Mon schär, sondern Fe lix und auch nicht Sie, sondern Du. — Der Christlieb war auch das Weinen näher als das Lachen, unerachtet aus der Schachtel, die sie von Adelgunden erhalten, die süßesten Düste strömten, wie
von allerlei schönen Näschereien.
An der Thür sprang und bellte
nach seiner Gewohnheit Sultan, Felixens getreuer Freund und Lieb
ling, Hermann entsetzte sich aber so sehr vor dem Hunde, daß er schnell in die Stube zurücklief und laut zu weinen ansing. thut dir ja nichts, sprach Felix, er thut dir ja nichts,
„ Er warum
heulst und schreist du so? es ist ja nur ein Hund, und du hast ja schon die schrecklichsten Thiere gesehen?
Und wenn er auch auf dich
zufahren wollte, du hast ja einen Säbel?" Felixens Zureden half gar
nichts, Hermann schrie immerfort, bis ihn der Jäger auf den Arm
nehmen und in die Kutsche tragen mußte.
Adelgunde, plötzlich von
dem Schmerz des Bruders ergriffen oder aus Gott weiß welcher andern Ursache, sing ebenfalls an heftig zu heulen, welches die arme Christlieb so anregte, daß sie auch zu schluchzen und weinen be
gann.
Unter diesem Geschrei und Gejammer der drei Kinder fuhr
157 der Graf Cyprianus von Brakel ab von Brakelh'eim, und so endete der vornehme Besuch.
Die neuen Spielsachen. So wie die Kutsche mit dem Grafen Cyprianus von Brakel
und seiner Familie den Hügel herabgerollt war, warf der Herr Thaddäus schnell den grünen Rock und die rothe Weste ab, und
als er eben so schnell die weite Tuchjacke angezogen und zwei bis dreimal mit dem breiten Kamm die Haare durchfahren hatte, da
holte er tief Athem, dehnte sich und ries: „Gott sey gedankt!"
Auch die Kinder zogen schnell ihre Sonutagsröckchen aus und fühl ten sich froh und leicht.
„In den Wald, in den Wald!" rief
Felix, indem er seine höchsten Luftsprünge versuchte.
„Wollt ihr
denn nicht erst sehen, was euch Hermann und Adelgunde mitge
bracht haben?"
So sprach die Mutter, und Christlieb, die schon
während des Ausziehens die Schachteln mit neugierigen Mgen be trachtet hatte, meinte, daß das wohl erst geschehen könne, nachher
sey es ja wohl noch Zeit genug in den Wald zu laufen. war sehr schwer zu überreden.
Felix
Er sprach: „Was kann uns denn
der alberne pumphosigte Junge mit sammt seiner bebänderten Schwe ster Großes mitgebracht haben.
Was die Wissenschaften betn'fft, Z
nun, die plappert er gut' genug weg, aber erst schwatzt er von Löw und Bär und weiß wie man die Elephanten fängt und dann fürch
tet er sich vor meinem Sultan, hat einen Säbel an der Seite und heult und schreit und kriecht unter den Tisch.
ein schöner Jäger seyn!"
Das mag mir
„Ach, lieber guter Felix, laß uns doch
158 nur ein ganzes kleines Bischen die Schachteln öffnen!"
So bat
Christlieb, und da ihr Felix alles nur Mögliche zu Gefallen that, so gab er das in den Wald Laufen vor der Hand auf, und setzte
sich mit Christlieb geduldig an den Tisch, auf dem die Schachteln standen.
Sie wurden von der Mutter geöffnet, aber da — Nun,
o meine vielgeliebten Leser!
Euch allein ist es gewiß schon so gut
geworden zur Zeit des fröhlichen Jahrmarkts,
oder doch gewiß
zu Weihnachten, von den Aeltern oder andern lieben Freunden mit
allerlei schmucken Sachen reichlich beschenkt zu werden. Denkt Euch, wie ihr vor Freude jauchztet, als blanke Soldaten, komische Männ chen mit Drehorgeln, schön geputzte Puppen, zierliche Geräthschaf-
ten, herrliche bunte Bilderbücher u. a. m. um Euch lagen und standen!
Solche große Freude, wie ihr damals, hatten jetzt Felix
und Christlieb, denn eine ganz reiche Bescheerung der niedlichsten
glänzendsten Sachen ging aus den Schachteln hervor, und dabei gab es noch allerlei Naschwerk, so daß die Kinder einmal über
das andere die Hände zusammenschlugen und ausriefen: „Ei, wie schön ist das! ”
Nur eine Tüte mit Bonbons legte Felix mit Ver
achtung bei Seite, und als Christlieb bat, den gläsernen Aucker
doch wenigstens nicht zum Fenster heraus zu werfen, wie er es eben thun wollte, ließ er zwar davon ab, öffnete aber die Tüte
und warf einige Bollbons dem Sultan hin, der indessen hineingegeschwänzelt war.
Sultan roch daran und wandte dann unmuthig
die Schnauze weg.
„Siehst du wohl, Christlieb, rief Felix nun
triumphirend, siehst du wohl, nicht einmal Sultan mag das gar
stige Aeug fressen."
Uebrigens machte dem Felix von den Spiel-
159 fachen nichts mehr Freude als ein stattlicher Jägersmann, der,
wenn man ein kleines Fädchen, das hinten unter seiner Jacke her vorragte, anzog, die Büchse anlegte und in ein Ziel schoß, das
drei Spannen weit vor ihm angebracht war.
Nächstdem schenkte
er seine Liebe einem kleinen Männchen, das Complimente zu ma chen verstand und auf einer Harfe quinkelirte, wenn man an einer Schraube drehte; vor allen Dingen gefiel ihm aber eine Flinte und
ein Hirschfänger, beides von Holz und überfilbert, so wie eine statt liche Husarenmütze und eine Patrontasche.
Christlieb hatte große
Freude an einer sehr schön geputzten Puppe und einem saubern voll ständigen Hausrath.
Die Kinder vergaßen Wald und Flur und
ergötzten sich an den Spielsachen bis in den späten Abend hinein.
Dann gingen fie zu Bette.
Was sich mit den neuen Spielsachen im Walde zutrug. Tages darauf fingen die Kinder es wieder da an, wo sie es Abends vorher gelassen hatten, das heißt: sie holten die Schachteln
herbei, kramten ihre Spielsachen aus und ergötzten sich daran auf
mancherlei Weise.
Eben so wie gestern schien die Sonne hell und
freundlich in die Fenster hinein, wisperten und lispelten die vom
sausenden Morgenwind begrüßten Birken, jubilirten Zeisig, Fink und Nachtigall in den schönsten lustigsten Liedlein.
Da würd' es dem
Felix bei seinem Jäger, seinem kleinen Männchen, seiner Flinte und
Patrontasche ganz enge und wehmüthig ums Herz.
„Ach, rief er
auf einmal, ach, draußen ist's doch schöner, komm Christlieb! laß
160 uns in den Wald laufen! "
Christlieb hatte eben die große Puppe
ausgezogen und war im Begriff sie wieder anzukleiden, welches ihr
viel Vergnügen machte, deßhalb wollte sie nicht heraus, sondern bat: „Lieber Felix, wollen wir denn nicht noch hier ein Bischen
spielen?"
„Weißt du was, Christlieb, sprach Felix, wir nehmen
das Beste von unsern Spielsachen mit hinaus.
Ich schnalle meinen
Hirschfänger um, und hänge das Gewehr über die Schulter, da seh' ich aus wie ein Jäger. Der kleine Jäger und das Harfenmännlein können mich begleiten, du, Christlieb, kannst deine große Puppe und das Beste von deinen Geräthschaftcn mitnehmen. Komm nur, komm! "
Christlieb zog hurtig die Puppe vollends an und nun liefen beide Kinder mit ihren Spielsachen hinaus in den Wald, wo sie sich auf
schönen grünen Plätzchen lagerten.
Sie hatten eine Weile gespiett
und Felix ließ eben das Harfenmännlein sein Stückchen orgeln als Christlieb anfing: „Weißt du wohl, Ueber Felix, daß dein Harfen
mann gar nicht hübsch spielt? Hör nur, wie das hier im Walde
häßlich klingt, das ewige Ting-Ling-Ping-Ping, die Vögel kucken so neugierig aus den Büschen, ich glaube, sie halten sich ordentlich
aus über den albernen Musikanten, der hier zu ihrem Gesänge spie len will."
Felix drehte stärker und stärker an der Schraube und
rief endlich: „Du hast Recht, Christlieb! es klingt abscheulich, was der kleine Kerl spielt, was können mir seine Dienerchen helfen — ich schäme mich ordentlich vor dem Finken dort drüben, der mich
mit solch schlauen Lugen anblinzelt. —
Aber der Kerl soll besser
spielen — soll besser spielen!" — Und damit drehte Felix so stark
an der Schraube, daß Krack - krack — der ganze Kasten in tau-
161 send Stücke zerbrach, §uf dem das Harfenmännlein.stand und seine
Arme zerbröckelt herabsielen.
„Oh — Oh" rief Felix; „Ach das
Harfenmännlein!" rief Christlieb.
Felix beschaute einen Augenblick
das zerbrochne Spielwerk, sprach dann: „ Es war ein dummer al
berner Kerl, der schlechtes Zeug aufspielte und Gesichter und Diener machte wie Vetter Pumphose" und warf den Harfenmann weit fort in das tiefste Gebüsch.
„Da lob ich mir meinen Jägersmann,
sprach er weiter, der schießt einmal über das andere ins Ziel."
Nun ließ Felix den kleinen Jäger tüchtig excerciren.
Als das eine
Weile gedauert, sing Felix an: „Dumm ists doch, daß der kleine
Kerl immer nur nach dem Ziele schießt, welches, wie Papa sagt,
gar keine Sache für einen Jägersmann ist.
Der muß im Walde'
schießen nach Hirschen — Rehen — Hasen und sie treffen im vollen
Lauf. —
Der Kerl soll nicht mehr nach dem Ziele schießen."
Damit brach Felix die Zielscheibe los, die vor dem Jäger angebracht war.
„Nun schieß' ins Freie, rief er, aber er mochte an dem
Fädchen ziehen, so viel er wollte, schlaff hingen die Arme des klei nen Jägers herab.
nicht mehr los.
Er legte nicht mehr die Büchse an, er schoß
„Ha ha, rief Felix, nach dem Ziel, in der Stube,
da konntest du schießen, aber im Walde, wo des Jagers Heimath
ist, da gehts nicht.
Fürchtest dich auch wohl vor Hunden
und
würdest, wenn einer käme, davon laufen mit sammt deiner Büchse, wie Vetter Pumphose mit seinem Säbel! —
nichtsnutziger Bursche," damit schleuderte Felix Harfenmänlein nach ins tiefe Gebüsch.
Ei du einfältiger
den Jäger dem
„Komm laß uns ein wenig
laufen," sprach er dann zu Christlieb. „Ach ja, lieber Felix, erwie-
11
—
162
—
derte diese, meine hübsche Puppe soll mit laufen, das wirb ein Nun faßte, jeder, Felix und Christlieb, die Puppe
Spaß seyn."
GH einem Arm, und so gings. fort, in vollem Laufe durchs Gebüsch
den Hügel herab, und fort und fort bis an den mit hohem Schilf umkränzten Teich, der noch zu dem Besitzthum des, Herrn Thad-
däus von Brakel gehörte und wo er zuweilen wilde Entew zu schie ßen pflegte.
Hier standen die Kinder still und Felix sprach: „Laß
uns ein wenig passen, ich habe ja nun eine Flinte, wer weiß ob ich nicht im Röhricht eine Ente schießen kann, so gut wie der Va ter."
In dem. Augenblick schrie, aber Christlieb lautauf: „Ach
meine Puppe, was ist aus meiner schönen Puppe geworden!" Frei lich sah das arme Ding ganz miserabel aus.
Weder Christlieb noch.
Felix hatten tm Laufen die Puppe-beachtet und so war es gekom
men, daß sie sich an dem- Gestripp die Kleider ganz und gar zer rissen, ja beide Beinchen gebrochen hatte. Von dem hübschen Wachs gesichtchen war auch beinahe keine Spur; so zerfetzt und häßlich sah es aus.
Ach meine Puppe, meine schöne Puppe, klagte Christlieb.
„Da siehst du nun, sprach Felix, was für dumme Dinger uns die
fremdm Kinder mitgebracht haben.
Das ist ja eine ungeschickte
einfältige Trine, deine Puppe , dm-nicht einmal mit uns laufen kann, ohne sich gleich Alles zu zerreißen und zu zerfetzen — gieb sie nur her."
Christlieb reichte die verunstaltete Puppe traurig
dem Bruder hin und konnte sich eines-lautes Schreies: „Ach Ach!" nicht enthalten, als der sie ohne Weiteres fortschleuderte in den
Teich. „Gräme dich nur nicht," tröstete Felix die Schwester, „gräme dich nur ja nicht um das alberne Ding, schieße- ich eine Ente, so
163 sollst du die schönsten Federn bekommen, dir sich nur in den bunten
Flügeln finden wollen."
Es rauschte im Röhricht, da legte stracks
Felix seine hölzerne Flinte an, setzte sie aber in demselben Augen blick wieder ab, und schaute nachdenklich vor sich hin.
„Bin ich-
nicht auch selbst ein thörichter Junge, sing er dann leise an, ge gehört denn nicht zum Schießen Pulver und Blei und habe ich
denn beides? — Kann ich denn auch wohl Pulver in eine hölzerne Flinte laden? — Wozu ist überhaupt das dumme hölzerne Ding?
Und der Hirschfänger? —
Auch von Holz! — der schneidet und
sticht nicht — des Vetters Säbel war gewiß auch von Holz, des halb mochte er ihn nicht ausziehn, als er sich vor dem Sultan
fürchtete.
Ich merke schon, Vetter Pumphose hat mich nur zum
Besten gehabt mit seinen Spielsachen, die was vorstellen wollen und nichtsnütziges Zeug sind."
Damit schleuderte Felix Flinte,
Hirschfänger und zulezt noch die Patrontasche in den Teich.
Christ
lieb war doch betrübt über den Verlust der Puppe, und auch Fe
lix konnte sich des Unmuths nicht erwehren.
So schlichen sie nach
Hause, und als die Mutter frug: Kinder, wo habt ihr Eure Spiel
sachen, erzählte Felix ganz treuherzig, wie schlimm er mit dem Jä ger, mit dem Harfenmännlein, mit Flinte, Hirschfänger und Pa
trontasche, wie schlimm Christlieb mit der Puppe angeführt wor den.
„Ach, rief die Frau von Brakel halb erzürnt, ihr einfäl
tigen Kinder, ihr wißt nur nicht mit den schönen zierlichen Sachen
umzugehen."
Der Herr Thaddäus von Brakel, der Felixens Er
zählung mit sichtbarem Wohlgefallen angehört hatte, sprach ader:
„Lasse die Kinder nur gewähren, im Grunde genommen ists mir
11*
164 recht lieb, daß sie die fremdartigen Spielsachen, die sie nur ver wirrten und beängsteten, los sind." noch die Kinder wußten,
Weder die Frau von Brakel
was der Herr von Brakel mit diesen
Worten eigentlich sagen wollte.
Das fremde Kind. Felix und Christlieb waren in aller Frühe nach dem Walde
gelaufen.
Die Mutter hatte es ihnen eingeschärft ja recht bald
wiederzukommen, weil sie nun viel mehr in der Stube sitzen, und viel mehr schreiben und lesen müßten als sonst, damit sie sich nicht
gar zu sehr zu schämen brauchten vor dem Hofmeister, der nun
nächstens kommen werde, deshalb sprach Felix: „Laß uns nun das Stündchen über, das wir draußen bleiben dürfen, recht tüchtig springen und laufen!"
Sie begannen auch gleich sich als Hund
und Häschen herumzujagen, aber so wie dieses Spiel, erregten
auch alle übrigen Spiele, die sie ansingen, nach wenigen Sekunden ihnen nur Ueberdruß und Langeweile. Sie wußtew selbst gar nicht,
wie es denn nur kam, daß ihnen gerade h.eute tausend ärgerliches Zeug geschehen mußte.
Bald flatterte Felixens Mütze vom Winde
getrieben ins Gebüsch, bald strauchelte er und fiel auf die Nase im besten Rennen, bald blieb Christlieb mit den Kleidern hängen
am Dornstrauch oder stieß sich den Fuß am spitzen Stein, daß sie laut aufschreien mußte.
Sie gaben bald alles Spielen auf, und
schlichen mißmüthig durch den Wald.
„Wir wollen nur in die
Stube kriechen" sprach Felix, warf sich aber, statt weiter zu ge
hen, in den Schatten eines schönen Baumes.
Christlieb folgte sei-
165 nem Beispiel.
Da saßen die Kinder nun voller Unmuth und starr
ten stumm in den Boden hinein.
„Ach, seufzete Christlieb endlich
leise, ach hätten wir doch noch die schönen Spielsachen!" — „Die
würden, murrte Felix, die würden uns gar nichts nützen, wir müß
ten sie doch nur wieder zerbrechen und verderben.
Höre Christ
lieb! — die Mutter hat doch wohl Recht — die Spielsachen waren
gut, aber wir wußten nur nicht damit umzugehen, und das kommt daher, weil uns die Wissenschaften fehlen."
„Ach lieber Felix,
rief Christlieb, du hast Recht, könnten wir die Wissenschaften so hübsch auswendig, wie der blanke Vetter und die geputzte Muhme,
ach, da hättest du noch deinen Jäger, dein Harfenmännlein, da tag’ meine schöne Puppe nicht im Ententeich! — wir ungeschickten
Dinger — ach wir haben keine Wissenschaften!" und damit sing
Christlieb an jämmerlich zu schluchzen und zu weinen, und Felix stimmte mit ein und beide Kinder heulten und jammerten, daß es
im Walde wiedertönte: „Wir armen Kinder, wir haben keine Wis
senschaften — uns fehlen die Wissenschaften!" ten sie inne und fragten voll Erstaunen:
lieb?" —
„Hörst du's, Felix?" -
Doch plötzlich hiel
„ Siehst du's, Christ
Aus dem tiefsten Schatten
des dunklen Gebüsches, das den Kindern gegenüber lag, blickte ein
wundersamer Schein, der wie sanfter Mondesstrahl über die vor Wonne zitternden Blätter gaukelte, und durch das Säuseln des
Waldes ging ein süßes Getön, wie wenn der Wind über Harfen hinstreift,
und im Liebkosen die schlummernden Akkorde weckt.
Den Kindern wurde ganz seltsam zu Muthe, aller Gram war von
ihnen gewichen, aber die Thränen standen ihnen in den Augen vor
166 Meni/ nie gekanntem Weh.
So wie lichter und lichter der schein
durch das Gebüsch strahlte, so wie lauter und lautet die wunder vollen Töne erklangen, klopfte den Kindern höher das Herz, sie
harrten hinein in den Glanz und ach! sie gewahrten, daß es das von der Sonne hell erleuchtete holde Antlitz des lieblichsten Kindes
war, welches ihnen aus dem Gebüsch zulächelte und zuwinkte. komm doch nur zu uns — komm doch nur
„O
uns, du liebes Kind !
so riefen beide, Christlieb und Felix, indem sie aufsprangen und voll unbeschreiblicher Sehnsucht die Hände nach der holden Gestalt
ausstreckten.
„Ich komme — ich komme," rief es mit süßer Stimme
aus dem Gebüsch und leicht, wie vom säuselnden Morgenwinde ge
tragen, schwebte das fremde Kind Herüber zu Felix und Christlieb.
Wie das fremde Kind mit Felix und Christlieb spielte. „ Ich hab' Euch wohl aus der Ferne weinen und klagen ge hört, sprach das fremde Kind, und da hat es mir recht leid um
Euch gethan, was fehlt Euch denn, liebe Kinder?"
„Ach wir
wußten es selbst nicht recht, erwiederte Felix, aber nun ist es mix so, als wenn nur Du uns gefehlt hättest," — „Das ist wahr,
siel Christlieb ein, nun du bei uns bist, sind wir wieder froh!
warum bist du aber auch so
lange ausgeblieben?" —
Beiden
Kindern war es in der That so, als ob sie schon lange das fremde Kind gekannt und mit ihm gespielt hätten, und als ob ihr Un-
muth nur daher gerührt hätte, daß der liebe Spielkamerad sich
nicht mehr blicken lassen.
„Spielsachen, sprach Felix weiter, haben
167 wir nun freilich gar nicht, denn ich einfältiger Zunge habe gestern die schönsten, die Vetter Pumphose mir geschenkt hatte, schändlich
verdorben und weggeschmissen, aber spielen wollen wir doch wohl." „Ei, Felix, sprach das fremde Kind, indem es laut auflachte, ei, wie magst du nur so sprechen.
Das Zeug, das du weggeworfen
hast, das hat gewiß nicht viel getaugt, du so wie Christlieb, ihr seyd ja beide ganz umgeben von dem herrlichsten Spielzeuge, das man nur sehen kann."
Christlieb und Felix. —
fremde Kind. —
„Wo denn? — Wo denn?" — riefen -„Schaut doch um euch," sprach das
Und Felix und Christlieb gewahrten, wie aus
dem dicken Grase, aus dem wolligen Moose allerlei herrliche Blu men wie mit glänzenden Augen hervorguckten, und dazwischen fun
kelten bunte Steine und krystallne Muscheln, und goldene Käferchen tanzten auf und nieder und summten leise Liedchen. —
„Nun
wollen wir einen Pallast bauen, helft mir hübsch -die Steine zu
sammentragen!" so rief das 'fremde Kind, indem eß zur Erde ge bückt bunte Steine aufzulesen begann.
Christlieb und Felix halfen,
und das fremde Kind wußte so geschickt die Steine zu fügen, daß
sich bald hohe Säulen erhoben, die in der Sonne funkelten wie
polirtes Metall, Dach. —
und darüber wölbte
sich
ein luftiges
goldenes
Nun küßte das fremde Kind die Blumen, die aus dem
Boden hervorguckten, da rankten sie im süßen Gelispel in die Höhe und sich in holder Liebe verschlingend bildeten sie duftende Bogen
gänge, in denen die Kinder voll Wonne und Entzücken umher sprangen.
Das fremde Kind klatschte in die Hände, da sumste das
goldene Dach des Pallastes — Goldkäferchen hatten es mit ihren
168 zerflossen
Flügeldecken gewölbt — auseinander und die Säulen
zum rieselnden Silberbach, an dessen Ufer sich die bunten Blumen lagerten und bald neugierig
in seine Wellen kuckten, bald ihre
Häupter hin und her wiegend auf sein kindisches Plaudern horchten.
Nun pflückte das fremde Kind Grashalme, und brach kleine Aest-
chen von den Bäumen, die es hinstreute vor Felix und Christlieb. Aber aus den Grashalmen wurden bald die schönsten Puppen, die
man nur sehen konnte, und aus den Aestchen kleine allerliebste Jä ger.
Die Puppen tanzten um Christlieb herum und ließen sich
von ihr auf den Schooß nehmen und lispelten mit feinen Stimmchen: „Sey uns gut, sey uns gut, liebe Christlieb."
Die Jäger
tummelten sich und klirrten mit den Büchsen und bliesen auf ihren
Hörnern und riesen: „Halloh! — Halloh! zur Jagd, zur Jagd! ” —
Da sprangen Häschen aus den Büschen und Hunde ihnen nach,
und die Jäger knallten hinterdrein! —
Das war eine Lust —
Alles verlor sich wieder, Christlieb und Felix riefen: „Wo sind die
Puppen, wo sind die Jäger."
Das fremde Kind sprach, „O! die
stehen euch Alle zu Gebote, die sind jeden Augenblick bei Euch,
wenn ihr nur wollt, aber möchtet ihr nicht lieber jetzt ein Bischen
durch den Wald laufen?" — Felix und Christlieb.
„Ach ja, Ach ja!" riefen beide,
Da faßte das fremde Kind sie bei den Hän
den und rief: „Kommt, kommt!" und damit ging es fort. Aber das war ja gar kein Laufen zu nennen! — Nein!
Die Kinder
schwebten im leichten Fluge durch Wald und Flur und die bunten
Vögel flatterten laut singend und jubilirend um sie her.
nem Mal ging es hoch — hoch in die Lüfte.
Mit ei
„Guten Morgen,
169 Kinder! Guten Morgen, Gevatter Felix!" rief der Storch im Vor beistreifen! —
„ Thut mir nichts, thut mir nichts — ich freß'
Euer Täublein nicht!" kreischte der Geier, sich in Langer Scheu
vor den Kindern durch die Lüste schwingend. —
Felix jauchzte
laut, aber der Christlieb wurde bange „Mir vergeht der Athem — ach, ich falle wohl!" so rief sie, und in demselben Augenblick ließ
sich das fremde Kind mit den Gespielen nieder, und sprach: „Nun
singe ich Euch
das Waldlied zum Abschiede für heute,
komm ich wieder."
morgen
Nun nahm das Kind ein kleines Waldhorn
hervor, dessen goldene Windungen beinah anzusehen waren, wie
leuchtende Blumenkränze, und begann darauf so herrlich zu blasen, daß der ganze Wald wundersam von den lieblichen Tönen wieder
hallte, und dazu sangen die Nachtigallen, die wie auf des Wald horns Rus herbeiflatterten und sich dicht neben dem Kinde in die
Zweige setzten, ihre herrlichsten Lieder. die Töne mehr und mehr,
Aber plötzlich verhallten
und nur ein leises Säuseln quoll aus
den Gebüschen, in die das fremde Kind hingeschwunden.
„Mor
gen — morgen kehr' ich wieder!" so rief es aus weiter Ferne
den Kindern zu, die nicht wußten, wie ihnen geschehen, denn solch innere Lust hatten sie nie empfunden.
„Ach wenn es doch nur
schon wieder morgen wäre!" so sprachen beide, Felix und Christ
lieb,
indem sie voller Hast zu Hause liefen, um den Aeltern zu
erzählen, was sich im Walde begeben.
170 Was der Herr von Brakel und die Frau von Brakel
zu dem fremden Kinde sagten, und was sich weiter
mit demselben begab. „Beinahe möchte ich glauben, daß den Kindern das Alles nur geträumt hat! ” So sprach der Herr Thaddäus von Brakrl zu sei
ner Gemahlin; als Felix und Christlieb, ganz erfüllt von dem frem den Kinde, nicht aufhören sonnten, sein holdes Wesen, seinen unmu
thigen Gesang, seine wunderbaren Spiele zu preisen.
aber wieder daran, fuhr Herr von Brakel fort,
„Denk' ich
daß beide doch
nicht auf einmal und auf gleiche Weise geträumt haben können, so weiß ich am Ende selbst nicht, was ich von dem Allen denken soll." „Zerbrich dir den Kops nicht, o mein Gemahl! erwiederte die
Frau von Brakel, ich wette, das fremde Kind ist niemand anders als Schulmeisters Gottlieb aus dem benachbarten Dorfe.
Der ist
herübergelaufen und hat den Kindern allerlei tolles Zeug in den
Kopf gesetzt, aber das soll er künftig bleiben lassen."
Herr von
Brakel war gar nicht der Meinung seiner Gemahlin, um indessen
mehr hinter die eigentliche Bewandtniß der Sache zu kommen, wur den Felix und Christlieb herbeigerufen und aufgefordert genau an
zugeben, wie das Kind ausgesehen habe und wie es gekleidet ge wesen sey.
Rücksichts des Ansehns stimmten beide überein, daß das
Kind ein lilienweißes Gesicht, rosenrothe Wangen, kirschrothe Lippen, blauglänzende Augen und goldgelocktes Haar habe, und so schön sey,
wie sie es gar nicht aussprechen könnten; in Ansehung der Kleider
wußten sie aber nur so viel, daß das Kind ganz gewiß nicht eine
171 blaugestreiste Jacke,
Mütze trage,
eben solche Hosen und eine schwarz Lederne
wie Schulmeisters Gottlieb.
Dagegen klang Alles,
was sie über den Anzug des Kindes ungefähr zu sagen vermochten,
ganz fabelhaft und unklug.
Kind
Christlieb
behauptete nämlich,
das
leichtes
glänzendes Kleidchen
von
trage ein wunderschönes
Rosenblätternz Felix meinte dagegen, das Kleid des Kindes funkle
in
hellem goldenen Grün wie
Frühlingslaub
im
Sonnenschein.
Daß das Kind, fuhr Felix weiter fort, irgend einem Schulmeister
angehören könne, daran sey gar nicht zu denken, denn zu gut ver stehe sich der Knabe auf die Jägerei, stamme gewiß aus der Hei-
math aller Wald und Iagdlust und werde der tüchtigste Jägers mann werden,
den es wohl gebe.
„Ei, Felix,
unterbrach ihn
Christlieb, wie kannst du nur sagen, daß das kleine liebe Mädchen
ein Jägersmann werden soll.
Auf das Jagen mag sie sich auch
wohl verstehen, aber gewiß -noch viel besser auf die Wirthschaft im Hause,
sonst hätte sie mir nicht so hübsch die Puppen angekleidet
und so schöne Schüsseln bereitet ! ” Kind für einen Knaben,
So hielt Felix
das fremde
Christlieb behauptete dagegen, es sey ein
Mädchen und beide konnten darüber nicht einig werden. — Die Frau von Brakel sagte, es lohnt gar nicht, daß man sich mit den Kindern
auf solche Narrheiten
einläßt,
der Herr
von
Brakel
meinte dagegen: „Ich dürste ja nur den Kindern nachgehen in den Wald und erlauschen, was denn das für ein seltsames Wunderkind
ist, das mit ihnen spielt,
aber es ist mir so, als könnte ich dm
Kindern dadurch eine große Freude verderben und deshalb will ich
es nicht thun."
Andern Tages, als Felix und ChristLieb zu ge-
178 wöhnlicher Zeit in den Wald liefen, schon auf sie,
wartete das fremde Kind
und wußte es gestern herrliche Spiele zu beginnen,
so schuf es vollends heute die anmuthigsten Wunder, so daß Felix
und Christlieb einmal über das andere vor Freude und Entzücken laut aufjauchzten.
Lustig und sehr hübsch zugleich war es,
daß
das fremde Kind während des Spielens so zierlich und gescheut
mit den Bäumen, Gebüschen, Blumen, mit dem Waldbach zu
sprechen wußte.
Alle antworteten auch so vernehmlich, daß Felix
und Christlieb Alles verstanden.
Das fremde Kind rief ins Erlen-
gebüsch hinein: „Ihr schwatzhaftes Volk, was flüstert und wispert
ihr wieder unter einander?" Da schüttelten stärker sich die Zweige und lachten und lispelten: „Ha — ha ha — wir freuen uns über die artigen Dinge, die uns Freund Morgenwind heute zugeraunt
hat, als er von den blauen Bergen vor den Sonnenstrahlen daher rauschte.
Er brachte uns tausend Grüße und Küsse von der gold-
nen Königin und einige tüchtige Flügelschläge Düfte."
voll der süßesten
„O schweigt doch, so unterbrachen die Blumen das Ge
schwätz der Büsche, o schweigt doch von dem Flatterhaften, der mit den Düsten prahlt, die seine falschen Liebkosungen uns entlockten.
Laßt die Gebüsche lispeln und säuseln, ihr Kinder, aber schaut uns
an, horcht auf uns, wir lieben Euch gar zu sehr und putzen uns
heraus mit den schönsten glänzendsten Farben Tag für Tag, nur damit wir Euch recht gefallen." —
„Und lieben wir Euch denn
nicht auch, ihr holden Blumen?" So sprach das fremde Kind, aber Chnstlieb kniete zur Erde nieder und streckte beide Aerme weit aus, als wollte sie all' die herrlichen Blumen, die um sie her sproßten,
173 umarmen, indem sie rief: „Ach, ich lieb' Euch ja allzumal'." — Felix sprach: „Auch mir gefallt ihr wohl
in Euren glänzenden
Kleidern, ihr Blumen, aber doch halt' ich es mit dem Grün, mit den Büschen, mit den Bäumen, mit dem Walde,
der muß Euch
doch schützen und schirmen, ihr kleinen bunten Kindelein!"
sauste es in den hohen schwarzen Tannen:
Da
„Das ist ein wahres
Wort, du tüchtiger Junge, und du mußt dich nicht vor uns fürch ten, wenn der Gevatter Sturm daher gezogen kommt und wir ein
Bischen ungestüm mit dem groben Kerl zanken."
„Ei, rief Felix,
knarrt und stöhnt und sauset nur recht wacker, ihr grünen Riesen, dann geht ja dem tüchtigen Jägersmann erst das Herz recht auf."
„Da hast du ganz Recht, so rauschte und plätscherte der Waldbach, da hast du ganz Recht, aber wozu immer jagen, immer rennen im
Sturm und im wilden Gebraus'. — Moos und hört mir zu.
Kommt! setzt euch fein ins
Von fernen fernen Landen aus tiefem
Schacht komm ich her — ich will euch schöne Mährchen erzählen
und immer was Neues, Well' auf Welle und immerfort und fort. Und die schönsten Bilder zeig' ich Euch, schaut mir nur recht ins
blanke Spiegelantlitz — duftiges Himmelblau — goldenes Gewölk — Busch und Blum und Wald — Euch selbst, ihr holden Kinder, zieh
ich liebend hinein tief in meinen Busen! —
„Felix, Christlieb, so
sprach das fremde Kind, indem es mit wundersamer Holdseeligkeit
um sich blickte, Felix, Christlieb, o hört doch nur, wie Alles uns liebt.
Aber schon steigt das Abendroth auf hinter den Bergen und
Nachtigall ruft mich nach Hause."
fliegen," bat Felix.
„O laß uns noch ein Bischen
„Aber nur nicht so sehr hoch, da schwindeltö
174 mir gar zu sehr," sprach Christlieb.
Da faßte wie gestern das
fremde Kind beide, Felix und Christlich^ bei dm Händen und nun
schwebten sie auf im goldnen Purpur des Äbendroths und das lu stige Volk der bunten Vögel schwärmte und lärmte um sie her —
das war ein Jauchzen und Jubeln! — km,
wie in wogenden Flammen
In den glänzenden Wol-
erblickte Felix
die
herrlichsten
Schlösser von lauter Rubinen und andern'funkelnden Edelgesteinen:
„Schau, o schau doch, Christlieb, rief er voll Entzücken, das sind prächtige, prächtige Häuser, nur tapfer laß uns fliegen, wir kom
men gewiß hin."
Christlieb gewahrte auch die Schlösser und ver
gaß alle Furcht, indem sie nicht mehr hinab, sondern unverwandt in die Ferne blickte.
„Das sind meine lieben Luftschlösser, sprach
das fremde Kind, aber hin kommen wir heute wohl nicht mehr!" — Felix und Christlieb waren wie im Traume und wußten selbst nicht)
wie es geschah, daß sie unversehens sich zu Hause bei Vater und Mutter befanden.
Don der Heimath des fremden Kindes. Das fremde Kind hatte auf dem unmuthigsten Platz im Walde
zwischen säuselndem Gebüsch, dem Bach unfern, ein überaus herr liches Gezelt von hohen schlanken Lilien, glühenden Rosen und bun
ten Tulipanen erbaut.
Unter diesem Gezelt saßen mit dem frem
den Kinde Felix und Christlieb und horchten darauf, was der Waldbäch allerlei seltsames Zeug durch einander plauderte.
„Recht ver
stehe ich doch nicht, sing Felix an, was der dort unten erzählt, und es ist mir so, als wenn du selbst, mein lieber lieber Junge, Alles,
175 was er nur so unverständlich murmelt,
könntest.
recht hübsch mir sagen
Ueberhaupt möcht' ich dich doch wohl fragen, wo du
denn herkommst und wo du immer so schnell hinverschwindest, daß
wir selbst niemals wissen, wie das geschieht?" — „Weißt du woht> liebes Mädchen, fiel Christlieb ein, daß Mutter glaubt, du seyst
Schulmeisters Gottlieb?" „Schweig doch nur, dummes Ding, ries
Mix, Mutter hat den lieben Knaben niemals gesehen, sonst würde sie gar nicht von Schulmeisters Gottlieb gesprochen haben. — Aber
nun sage mir geschwind, du lieber Junge, wo du wohnst, damit
wir zu dir ins Haus, kommen können, zur Winterszeit, wenn es stürmt und schneit und im Walde nicht Steg nicht Weg zu finden
ist."
„Ach ja! sprach Christlieb, nun mußt du uns fein sagen,
wo du zu Hause bist, wer deine Aeltern sind und hauptsächlich, wie du denn eigentlich heißest."
Das fremde Kind sah sehr ernst, bei---
nahe traurig vor sich hin und seufzte recht aus tiefer Brust. Dann,
nachdem es einige Augenblicke geschwiegen, fing es an: „Ach, liebe
Kinder, warum fragt ihr nach meiner Heimath?
Ist es denn nicht
genug, daß ich tagtäglich zu Euch komme und mit Euch spiele? —
Ich könnte Euch sagen, daß ich dort hinter den blauen Bergen,
die wie krauses, zackiges Nebelgewölk anzusehen sind, zu Hause bin, aber wenn ihr Tage lang und immer fort und fort laufen wolltet,
bis ihr auf den Bergen stündet, so würdet ihr wieder eben so fern
ein neues Gebirge schauen, hinter dem ihr meine Heimath suchen müßtet, und wenn ihr auch dieses Gebirge erreicht hattet, würdet ihr wiederum ein neues erblicken, und so würde es Euch immer
fort und fort gehen und ihr würdet niemals meine Heimach er-
176 reichen?'
„Ach, rief Christlieb weinerlich aus, ach, so wohnst du
wohl viele hundert, hundert Meilen von uns, und bist nur zum
Besuch in unserer Gegend?"
„Sieh nur, liebe Christlieb! fuhr
das fremde Kind fort, wenn du dich recht herzlich nach mir sehnst,
so bin ich gleich bei dir und bringe dir alle Spiele, alle Wunder aus meiner Heimath mit, und ist denn das nicht eben so gut, als
ob wir in meiner Heimath selbst zusammen säßen und mit einander spielten?"
„Das nun wohl eben nicht, sprach Felix, denn ich
glaube, daß deine Heimath ein gar herrlicher Ort seyn muß, ganz voll von den herrlichen Dingen, die du uns mitbringst.
Du magst
mir nun die Reise dahin so schwierig darstellen, wie du willst, so wie ich es nur vermag, mache ich mich doch auf den Weg.
So
durch Wälder streichen und auf ganz wilden verwachsenen Pfaden,
Gebirge erklettern, durch Bäche waten über schroffes Gestein und dornicht Gestrüpp, das ist so recht Waidmanns Sache — ich werd's schon durchführen."
„Das wirst du auch, rief das fremde Kind,
indem es freudig lachte, und wenn du es dir so recht fest vornimmst, dann ist es so gut als hättest du es schon wirklich ausgeführt.
Das Land, in dem ich wohne, ist in der That so schön und herr lich, wie ich es gar nicht zu beschreiben vermag.
Meine Mutter
ist es, die als Königin über dieses Reich voller Glanz und Pracht
herrscht." —
„So bist du ja ein Prinz — So bist du ja eine
Prinzessin" — riefen zu gleicher Zeit verwundert, ja beinah er
schrocken, Felix und Christlieb. Kind.
„Allerdings," sprach das fremde
„So wohnst du wohl in einem schönen Pallast?" fragte
Felix weiter.
„Ja wohl, erwiederte das fremde Kind, noch viel
177 schöner ist der Pallast meiner Mutter, als die glänzenden Schlösser,
die du in den Wolken geschaut hast, denn seine schlanken Säulen
aus purem Krystall erheben sich hoch — hoch hinein in das Him melblau, das auf ihnen ruht wie ein weites Gewölbe. . Unter dem
segelt glänzendes Gewölk mit goldnen Schwingen hin und her und das purpurne Morgen-, das Abendroth steigt auf und nieder und
in klingenden Kreisen tanzen die funkelnden Sterne. —
Ihr habt,
meine lieben Gespielen, ja wohl schon von Feen gehört, die, wie es sonst kein Mensch vermag, die herrlichsten Wunder Hervorrufen kön
nen, und ihr werdet es auch wohl schon gemerkt haben, daß meine Mutter nichts anderes ist, als eine Fee.
und
zwar die mächtigste, die es giebt.
Ja! das ist sie wirklich
Alles, was auf der Erde
webt und lebt, hält sie mit treuer Liebe umfangen, doch zu ihrem
innigen Schmerz wollen viele Menschen gar nichts von ihr wissen. Vor allen liebt meine Mutter aber die Kinder und daher kommt
es, daß die Feste, die sie in ihrem Reiche den Kindern bereitet, die schönsten und herrlichsten sind.
Da geschieht es denn wohl, daß
schmucke Geister aus dem Hofstaate meiner Mutter keck sich durch
die Wolken schwingen und von einem Ende des Pallastes bis zum
andern einen in den schönsten Farben schimmernden Regenbogen spannen.
Unter dem bauen sie den Thron meiner Mutter aus lau
ter Diamanten, die aber so anzusehen sind und so herrlich duften wie Lilien, Nelken und Rosen.
So wie meine Mutter den Thron
besteigt, rühren die Geister ihre goldnen Harfen, die krystallnen Zimbeln und dazu singen die Kammersänger meiner Mutter mit
solch wunderbaren Stimmen, daß man vergehen möchte vor süßer
178 Lust. Diese Sänger sind aber schöne Vögel, größer noch als Adler,
mit ganz purpurnem Gefieder, wie ihr sie wohl noch nie gesehen Aber so wie die Musik losgegangen, wird Alles im Pallast,
habt.
im Walde, im Garten laut und lebendig.
Viele tausend blankge
putzte Kinder tummeln sich im Jauchzen und Jubeln umher.
Bald
jagen sie sich durch's Gebüsch und werfen sich neckend mit Blumen, bald klettern sie auf schlanke Bäumchen und lassen sich vom Winde
hin und her schaukeln, bald pflücken sie goldglänzende Früchte, die so süß und herrlich schmecken wie sonst nichts auf der Erde, bald
spielen sie mit zahmen Rehen — mit andern schmucken Thieren, die ihnen aus dem Gebüsch entgegenspringen; bald rennen sie keck den
Regenbogen auf und nieder oder besteigen gar als kühne Reuter die
schönen Goldfasanen, die sich mit ihnen durch die glänzenden Wol ken schwingen."
„Ach, das muß herrlich sein, ach, nimm uns mit
in deine Heimath, wir wollen immer dort bleiben!" —
So rie
fen Felix und Christlieb voll Entzücken, das fremde Kind sprach
aber:
„Mitnehmen nach meiner Heimath kann ich Euch in der
That nicht, es ist zu weit, ihr müßtet so gut und unermüdlich flie gen können wie ich selbst." Felix und Christlieb wurden ganz trau
rig und blickten schweigend zur Erde nieder.
Don dem bösen Minister am Hofe der Feen-Königin. „Ueberhaupt, fuhr das fremde Kind fort, überhaupt möchtet ihr Euch in meiner Heimath vielleicht gar nicht so gut befinden, als
ihr es Euch nach meiner Erzählung vorstellt. könnte euch sogar verderblich seyn.
Ja, der Aufenthalt
Manche Kinder vermögen nicht
179 den Gesang der purpurrothen Vögel, so herrlich er auch ist, zu
ertragen, so daß er ihnen das Herz zerreißt und sie augenblicklich
sterben müssen.
Andere, die gar zu keck auf dem Regenbogen ren-
ncn, gleiten aus und stürzen herab, und manche sind sogar albern genug, im besten Fliegen dem Goldfasan, der sie trägt, weh' zu thun.
Das nimmt denn der sonst friedliche Vogel dem dummen Kinde übel
und reißt ihm mit seinem scharfen Schnabel die Brust auf, so daß es blutend aus den Wolken herabfällt.
Meine Mutter härmt sich
gar sehr ab, wenn Kinder auf solche Weise, freilich durch ihre eigne Schuld, verunglücken.
Gar
zu gern wollte sie, daß alle
Kinder auf der ganzen Welt die Lust ihres Reichs genießen möchten,
aber wenn viele auch tüchtig fliegen können, so sind sie nachher doch entweder zu keck oder zu furchtsam und verursachen ihr nur Sorge Eben deshalb erlaubt sie mir daß ich hinausfliegen
und Angst.
aus meiner Heimath und tüchtigen Kindern allerlei schöne Spiel sachen daraus mitbringen darf, wie ich es denn auch mit Euch ge
macht habe."
,',Ach, rief Christlieb, ich könnte gewiß keinem schö
nen Vogel Leides thun, aber auf dem Regenbogen rennen möchte ich doch nicht."
„Das wäre, — siel ihr Felix ins Wort, — das
wäre nun gerade meine Sache und eben deshalb möchte ich zu dei
ner Mutter Königin. Kannst du nicht einmal den Regenbogen mit
bringen?"
„Nein, erwiederte das fremde Kind, das geht nicht an,
und ich muß dir überhaupt sagen, daß ich mich nur ganz heimlich zu Euch stehlen darf.
Sonst war ich überall sicher als sey ich bei
meiner Mutter, und es war überhaupt so, als sey überall ihr schö nes Reich ausgebreitet, seit der Zeit aber, daß ein arger Feind mei-
180 ner Mutter, den sie aus ihrem Reiche verbannt hat, wild umher
schwärmt, bin ich vor arger Nachstellung nicht geschützt,"
„Nun
rief Felix, indem er aufsprang und den Dornenstock, den er sich ge schnitzt, in der Lust schwenkte, nun den wollt' ich denn doch sehen,
der dir hier Leides zufügen sollte.
Fürs Erste hätt' er es mit mir
zu thun, und dann rief ich Papa zu Hülfe; der ließe den Kerl ein fangen und in den Thurm sperren."
„Ach, erwiederte das stemde
Kind, so wenig der arge Feind in meiner Heimath mir etwas an
thun kann, so gefährlich ist er mir außerhalb derselben; er ist gar
mächtig und wider ihn Hilst nicht Stock, nicht Thurm." ist denn das für ein garstig Ding,
„Was
daß dich so bange machen
kann?" fragte Christlieb. „Ich habe Euch gesagt, fing das fremde Kind an, daß meine Mutter eine mächtige Königin ist, und ihr
wißt, daß Königinnen so wie Könige einen Hofstaat und Minister um sich haben."
„Ja wohl, sprach Felix, der Onkel Graf ist
selbst solch' ein Minister, und trägt einen Stern auf der Brust.
Deiner Mutter Minister tragen auch wohl recht funkelnde Sterne?"
„Nein, erwiederte das fremde Kind, nein, das eben nicht, denn die
mehrsten sind selbst ganz und gar funkelnde Sterne und andere tragen gar keine Röcke, worauf sich so etwas anbringen ließe. Daß ichs nur sage, alle Minister meiner Mutter sind mächtige Geister,
die theils in der Luft schweben, theils in Feuerflammen, theils in den Gewässern wohnen,
Mutter ihnen gebietet.
und überall das ausführen was meine
Es fand sich vor langer Zeit ein fremder
Geist bei uns ein, der nannte sich Pepasilio und behauptete, er sey ein großer Gelehrter, er wisse mehr und würde größere Dinge be-
181 wirken, als alle übrigen.
Meine Mutter nahm ihn in die Reihe ih
rer Minister auf, aber bald entwickelte sich immer mehr seine innere
Tücke.
Außerdem daß er alles, was die übrigen Minister thaten,
zu vernichten strebte, so hatte er es vorzüglich darauf abgesehen, die
frohen Feste der Kinder recht hämisch zu verderben.
Er hatte der
Königin vorgespiegelt, daß er die Kinder erst recht lustig und ge
scheut machen wollte, statt dessen hing er sich centnerschwer an den Schweif der Fasanen, so daß sie sich nicht ausschwingen konnten,
zog er die Kinder wenn sie auf Rosenbüschen hinaufgeklettert, bei den Beinen herab, daß sie sich die Nasen blutig schlugen, zwang
er die, welche lustig laufen und springen wollten, auf allen Vieren mit zur Erde gebeugtem Haupte herum zu kriechen.
Den Sän
gern stopfte er allerlei schädliches Zeug in die Schnäbel, damit sie
nur nicht singen sollten, denn Gesang konnte er nicht ausstehen und die armen zahmen Thierchen wollte er, statt mit ihnen zu spielen,
auffressen, denn nur dazu, meinte er, wären sie da.
Das Abscheu
lichste war aber wohl, daß er mit Hülfe seiner Gesellen die schönen
funkelnden Edelsteine des Pallastes, die bunt schimmernden Blu
men, die Rosen und Lilienbüsche, ja selbst den glänzenden Regen bogen mit einem ekelhaften schwarzen Saft zu überziehn wußte,
so daß alle Pracht verschwunden und alles todt und traurig anzu
sehen war.. Und wie er dies vollbracht, erhob er ein schallendes Gelächter und schrie, nun sey erst alles so, wie es sein solle, denn er habe es beschrieben.
Als er nun vollends erklärte, daß er meine
Mutter nicht als Königin anerkenne, sondern daß ihm allein die
Herrschaft gebühre, und sich in der Gestalt einer ungeheuren Fliege
182 mit blitzenden Augen und vorgestrecktem scharfem Rüssel empor schwang in abscheulichem Summen und Brausen auf den Thron
meiner Mutter, da erkannte sie so wie alle, daß der hämische Mi nister, der sich unter dem schönen Namen Pepafllio eingeschlichen,
niemand anders war, als der finstere mürrische Gnomen-König Pepser.
Der Thörichte aber hatte die Kraft, so wie die Tapferkeit
seiner Gesellen viel zu hoch in Anschlag gebracht.
Die Minister des
Lustdepartements umgaben die Königin und fächelten ihr süße Düfte zu, indem die Minister des Feuerdepartements 'in Flammenwogen
auf und nieder rauschten, und die Sänger, deren Schnäbel gereinigt, die volltönendsten Gesänge anstimmten, so daß die Königin den häß
lichen Pepser weder sah noch hörte, noch seinen vergifteten übelrie-
chenden Athem spürte.
In dem Augenblick auch faßte der Fasanen
fürst den bösen Pepser mit dem leuchtenden Schnabel und drückte
ihn so gewaltig zusammen, daß er vor Wuth und Schmerz laut aufkreischte, dann ließ er ihn aus der Höhe von dreitausend Ellen
zur Erde niederfallen.
Er konnte sich nicht
regen noch bewegen,
bis auf sein wildes Geschrei seine Muhme, die große blaue Kröte,
herbeikroch, ihn auf den Rücken nahm und nach Hause schleppte. Fünfhundert lustige kecke Kinder erhielten tüchtige Fliegenklatschen,
mit denen sie Pepsers häßliche Gesellen, die noch umherschwärmten und die schönen Blumen verderben wollten, todt schlugen.
So wie
nun Pepser fort war, zerstoß der schwarze Saft, womit er alles über zogen, von selbst und bald blühete und glänzte und strahlte alles so herrlich und schön wie zuvor.
Ihr könnt denken, daß der gar
stige Pepser nun in meiner Mutter Reich nichts mehr vermag, aber
183
er weiß, daß ich mich oft hinauswage und verfolgt mich rastlos unter« allerlei Gestatten, so daß ich ärmstes Kind oft auf der Flucht nicht weiß, wo ich mich hin verbergen soll, und darum, ihr lieben Gespielen, entfliehe ich oft so schnell, daß ihr nicht spürt, wo ich hingekommen. Dabei muß es denn auch bleiben und wohl kann ich euch sagen, daß, sollte ich es unternehmen mich mit Euch in meine Heimath zu schwingen, Pepser uns gewiß aufpaffen und uns todt machen würde." Christlieb weinte bitterlich über die Gefahr, in der das fremde Kind immer schweben mußte. Felix meinte aber: „Ist der garstige Pepser weiter nichts als eine große Fliege, so will ich ihm mit Papas großer Fliegenklatschr schon zu Leibe gehn, und habe ich ihm eins tüchtig auf die Nase versetzt, so mag Muhme Kröte zusehen, wie fle ihn nach Hause schleppt." Wie der Hofmeister angekommen war und die Kinder sich vor ihm fürchteten.
In vollem Sprunge eilten Felix und Christlieb nach Hause, indem sie unaufhörlich riefen: „Ach das fremde Kind ist ein schö ner Prinz! —- Ach das fremde Kind ist eine schöne Prinzessin!" Sie wollten das jauchzend den Eltern verkünden, aber wie zur Bildsäule erstarrt blieben sie in der Hausthüre stehen, als ihnen Herr Thaddäus von Brakel entgegentrat und an seiner Seite einen fremden verwunderlichen Mann hatte, der halb vernehmlich in sich hinein brummte: „Das sind mir saubere Rangen!" — „Das ist der Herr Hofmeister, sprach Herr von Brakel, indem er den Mann bei der Hand ergriff, das ist der Herr Hofmeister, den Euch der
184 gnädige Onkel geschickt hat.
Grüßt ihn fein artig!" —
Aber
die Kinder sahen den Mann von der Seite an und konnten sich nicht regen und bewegen.
wunderliche Gestalt noch
Das kam daher,
niemals
geschaut.
weil sie solch eine
Der Mann
mochte
kaum mehr als einen halben Kopf höher seyn als Felix, dabei war
er aber untersetzt, nur stachen gegen den sehr starken breiten Leib die kleinen ganz dünnen Spinnenbeinchen seltsam ab.
Der unförm
liche Kopf war beinahe viereckig zu nennen und das Gesicht fast gar zu häßlich, denn außerdem, daß zu den dicken braunrothen Backen und dem breiten Maule die viel zu lange spitze Nase gar nicht passen wollte, so glänzten auch die kleinen hervorstehenden Glasaugen so graulich, daß man ihn gar nicht gern ansehen mochte. Uebrigens hatte der Mann eine pechschwarze Perücke auf den vier
eckigen Kopf gestülpt, war auch vom Kopf bis zu Fuß pechschwarz
gekleidet und hieß: Magister Tinte.
Als nun die Kinder sich nicht
rückten und rührten, wurde die Frau von Brakel böse und rief:
„Potztausend, ihr Kinder, was ist denn das?
Der Herr Magister
wird Euch für ganz ungeschliffene Bauernkinder halten müssen —
Fort! gebt dem Herrn Magister fein die Hand!"
Die Kinder
ermannten sich, und thaten, was die Mutter befohlen, sprangen
aber, als der Magister ihre Hände faßte, mit dem lautem Schrei: „Oweh, oweh!" zurück. Der Magister lachte hellauf, und zeigte
eine heimlich in der Hand versteckte Nadel vor, womit er die Kin
der, als sie ihm die Hände reichten, gestochen.
Christlieb weinte,
Felix aber grollte den Magister von der Seite an: „Versuche das nur noch einmal, kleiner Dickbauch." — „ Warum thaten sie das,
185 lieber Herr Magister Tinte," fragte etwas mißmüthig der Herr von Brakel.
Der Magister erwiederte: „Das ist nun einmal so
meine Art, ich kann davon gar nicht lassen."
Und dabei stemmte
er beide Hände in die Seite und lachte immer fort, welches aber
zuletzt so widerlich klang, wie der Ton einer verdorbnen Schnarre. „Sie scheinen ein spaßhafter Mann zu seyn, lieber Herr Magister
Tinte," sprach der Herr von Brakel, aber ihm sowohl als der Frau von Brakel, vorzüglich den Kindern, wurde ganz unheimlich zu Muthe.
„Nun nun, rief der Magister, wie stehts denn mit
den kleinen Krabben,
rückt? —
schon tüchtig in den Wissenschaften vorge
Wollen doch gleich sehen."
Damit fing er an, den
Felix und die Christlieb so zu fragen, wie es der Onkel Graf mit
seinen Kindern gethan.
Als nun aber beide versicherten, daß sie
die Wissenschaften noch gar nicht auswendig wüßten, da schlug der
Magister Tinte
die Hände über
dem Kopf zusammen,
daß es
klatschte und schrie wie besessen: „Das ist was Schönes! — keine
Wissenschaften, keine Wissenschaften. — Wollens aber schon kriegen!"
Das wird Arbeit geben!
Felix so wie Christlieb, beide schrie
ben schon eine saubere Handschrift und wußten aus manchen alten
Büchern, die ihnen der Herr von Brakel in die Hände gab, und die sie ämsig lasen, manche schöne Geschichte zu erzählen, das ach
tete aber der Magister Tinte für gar nichts, sondern meinte, das Alles wäre nur dummes Zeug. —
Ach! nun war an kein in den
Wald Laufen mehr zu denken! —
Statt dessen mußten die Kin
der beinahe den ganzen Tag zwischen den vier Wänden sitzen und dem Magister Tinte Dinge nachplappern, die sie nicht verstanden.
186 Es war ein wahres Herzeleid! —
Mit welchen sehnsuchtsvollen
Blicken schauten sie nach dem Walde!
Oft war es ihnen, als hör
ten sie, mitten unter den lustigen Liedern der Vögel, im Rauschen
der Bäume des fremden Kindes süße Stimme rufen: „Wo seyd
ihr denn, Felix — Christlieb — ihr lieben Kinder! wo seyd ihr denn! wollt ihr nicht mehr mit mir spielen ? — Kommt doch
nur! — ich habe Euch einen schönen Blumenpallast gebaut — da
setzen wir uns hinein und ich schenk' Euch die herrlichsten buntesten
Steine — und dann schwingen wir uns auf in die Wolken und bauen selbst funkelnde Lustschlösser! — Kommt doch! Kommt doch nur!"
Darüber wurden die Kinder ryit allen ihren Gedanken
ganz hingezogen nach dem Walde, und sahen und hörten nicht mehr auf den Magister.
Der wurde aber dann ganz zornig, schlug mit
beiden Fäusten auf den Tisch, und brummte und summte und
schnarrte und
knarrte: „Pim — Sim —
Knurr — Krrr —
Prr —
Was ist das! — aufgepaßt l"
Srrr —
Felix hielt
das aber nicht lange aus, er sprang auf und ries: „Laß mich los
mit deinem dummen Zeuge, Herr Magister Tinte, fort will ich in
den Wald — such' dir den Vetter Pumphose, das ist was für
den! —
uns." —
Komm Christlieb,
das fremde Kind wartet schon auf
Damit ging es fort, aber der Magister Tinte sprang
mit ungemeiner Behendigkeit hinter her, und erfaßte die Kinder dicht vor der Hausthüre.
Felix wehrte sich tapfer und der Ma
gister Tinte war im Begriff zu unterliegen, da dem Felix der treue
Sultan zu Hülfe geeilt war.
Sultan, sonst ein frommer gesitteter
Hund, hatte gleich vom ersten Augenblick an einen entschiedenen
187 Abscheu gegen den Magister Tinte bewiesen.
So
wie dieser ihm
nur nahe kam, knurrte er und-schlug mit dem Schweif so heftig
um sich, daß er den Magister, den er geschickt an die dünnen Bein chen zu treffen wußte, beinah umgeschmissen hätte.
Sultan sprang
hinzu und packte den Magister, der Felix bei beiden Schultern hielt, ohne Umstände beim Rockkragen.
Der Magister Tinte erhob
ein klägliches Geschrei, auf das Herr Thaddäus von Brakel schnell Der Magister ließ ab von Felix,
hinzueilte.
Sultan von dem
Magister. „Ach, wir sollen nicht mehr in den Wald," klagte Christ lieb, indem sie bitterlich weinte.
So sehr auch der Herr von Bra
kel den Felix ausschalt, thaten ihm doch die Kinder leid, die nicht
mehr in Flur und Hain herumschwärmen sollten.
Der Magister
Tinte mußte sich dazu verstehen, täglich mit den Kindern den Wald zu besuchen.
Es ging ihm schwer ein.
„Hätten sie nur, Herr
von Brakel, sprach er, einen vernünftigen Garten mit Buchsbaum
und Staketen am Hause, so könnte man in der Mittagsstunde mit
den Kindern spazieren gehen, was in aller Welt sollen wir aber in dem wilden Walde?" —
Die Kinder waren auch ganz un
zufrieden, und die sprachen nun wieder: „Was soll uns der Ma gister Tinte in unserm lieben Walde?" —
Wie die Kinder mit dem Herrn Magister Tinte im Walde spazieren gingen und was sich dabei zutrug. „Nun? — gefällt es dir nicht in unserm Walde, Herr Ma
gister?"
So fragte Felix den Magister Tinte, als sie daher zogen
durch das rauschende Gebüsch.
Der Magister Tinte zog aber ein
188 saures Gesicht und rief: „Dummes Aeug, hier ist kein ordentlicher Steg und Weg, man zerreißt sich nur die Strümpfe und kann vor dem häßlichen Gekreisch der dummen Vögel gar kein vernünf
tiges Wort sprechen."
„Haha, Herr Magister, sprach Felix, ich
merk' es schon, du verstehst dich nicht auf den Gesang und hörst es auch wohl gar nicht einmal, wenn der Morgenwind mit den
Büschen plaudert und der alte Waldbach schöne Mährchen erzählt." „Und, fiel Christlieb dem Felix ins Wort, sag' es nur Herr Ma
gister, du liebst auch wohl nicht die Blumen?"
Herr Magister noch kirschbrauner im Antlitz,
Da wurde der
als er schon von
Natur war, er schlug mit den Händen um sich und schrie ganz
erbost: „Was sprecht ihr da für tolles albernes Aeug?
wer
hat Euch die Narrheiten in den Kopf gesetzt? das fehlte noch, daß
Wälder und Bäche dreist genug wären, sich in vernünftige Gespräche zu mischen und mit dem Gesänge der Vögel ist es auch nichts;
Blumen lieb' ich wohl, wenn sie fein in Töpfe gesteckt sind und in der Stube stehen, dann duften sie und man erspart das Räucher
werk.
Doch im Walde wachsen ja gar keine Blumen."
„Aber,
Herr Magister, rief Christlieb, siehst du denn nicht die lieben Mai blümchen, die dich recht mit hellen freundlichen Augen ankucken?"
„Was, was, schrie der Magister — Blumen? Augen? — ha ha ha —
schöne Augen — schöne Augen!
nicht einmal!" —
Die nichtsnutzigen Dinger riechen
Und damit bückte sich der Magister Tinte zur
Erde nieder, riß einen ganzen Strauß Maiblümchen sammt den Wurzeln heraus und warf ihn fort ins Gebüsch.
Den Kindern
war es, als ginge in dem Augenblick ein wehmüthiger Klagelaut
189 durch den Wald; Christlieb mußte bitterlich weinen, Felix biß un muthig die Zähne zusammen.
Da geschah es, daß ein kleiner Zeisig
dem Magister Tinte dicht bei der Nase vorbeiflatterte, sich dann auf einen Zweig setzte und ein lustiges Liedchen anstimmte.
„Ich
glaube gar, sprach der Magister, ich glaube gar, das ist ein Spott
vogel?"
Und damit nahm er einen Stein von der Erde auf,
warf ihn nach dem Zeisig und traf den armen Vogel, daß er zum Tode verstummt von dem grünen Zweige herabfiel.
Felix sich gar nicht mehr halten.
Nun konnte
„Ei, du abscheulicher Herr Ma
gister Tinte, rief er ganz erbost, was hat dir der arme Vogel ge
than, daß du ihn todt schmeißest? — O wo bist du denn, du hol des fremdes Kind, o komm doch nur, laß uns weit weit fortfliegen,
ich mag nicht mehr bei dem garstigen Menschen seyn, ich will fort nach deiner Heimath!" — Und mit vollem Schluchzen und Wei
nen stimmte Christlieb ein: „O du liebes holdes Kind, komm doch nur, komm doch nur zu uns, Ach! Ach! — rette uns — rette
uns, der Herr Magister Tinte macht uns ja todt wie die Blumen
und Vögel!" — der Magister.
„Was ist das mit dem fremden Kinde," rief
Aber in dem Augenblick säuselte es. stärker im Ge
büsch und in dem Säuseln erklangen wehmüthige herzzerschneidende Töne wie von dumpfen in weiter Ferne angeschlagenen Glocken. — In einem leuchtenden Gewölk, das sich herabließ, wurde das holde
Antlitz des fremden Kindes sichtbar — dann schwebte es ganz her vor, aber es rang die kleinen Händchen und Thränen rannen wie
glänzende Perlen aus den holden Augen über die rosigen Wangm „Ach, jammerte das fremde Kind, ach, ihr lieben Gespielen, ich
—
190
kann nicht mehr zu Euch kommen — ihr werdet mich nicht wieder sehen — lebt wohl!
Der Gnome Pepser hat sich
lebt wohl! —
Eurer bemächtigt, o ihr armen Kinder, lebt wohl — lebt wohl! ” —
Und damit schwang sich das fremde Kind hoch in die Lüste.
Aber
hinter den Kindern brummte und summte und knarrte und schnarrte
eS auf entsetzliche grausige Weise.
Der Magister Tinte hatte sich
umgestaltet in eine große scheusliche Fliege, und recht abscheulich
war es, daß er dabei doch noch ein menschliches Gesicht, und sogar auch einige Kleidungsstücke behalten.
Er schwebte langsam
schwerfällig auf, offenbar um das fremde Kind zu verfolgen.
und
Von
Entsetzen und Graus erfaßt rannte Felix und Christlieb fort aus dem Walde.
Erst auf der Wiese wagten sie empor zu schauen.
Sie wurden einen glänzenden Punkt in den Wolken gewahr, der wie ein Stern funkelte und herabzuschweben schien.
fremde Kind" rief Christlieb.
„Das ist das
Immer größer wurde der Stern
und dabei hörten sie ein Klingen wie von schmetternden Trompeten.
Bald konnten sie nun erkennen, daß der Stern ein schöner in glei ßendem Goldgesieder prangender Vogel war, der die mächtigen Flü
gel schüttelnd und laut singend sich
auf den Wald herabsenkte.
„Ha, schrie Felix, das ist der Fasanenfürst, der beißt den Herrn Magister Tinte todt — ha ha, das fremde Kind ist geborgen und wir sind es auch! —
Komm Christlieb — schnell laß uns nach
Hause laufen und dem Papa erzählen, was sich zugetragen.
191 Wie der Herr von Brakel den Magister Tinte fortjagte. Der Herr von Brakel und die Frau von Brakel, beide, saßen vor der Thüre ihres kleinen Hauses, und schauten in das Abend-
roth, das schon hinter den blauen Bergen in goldenen Strahlen aufzuschimmern begann.
Vor ihnen stand auf einem kleinen Lisch
das Abendessen aufgetragen, das aus nichts anderm als einem tüch tigen Napf voll herrlicher Milch und einer Schüssel mit Butter-
bröten bestand.
„Ich weiß nicht, sing der Herr von Brakel an,
ich weiß nicht, wo der Magister Tinte so lange mit den Kindern
ausbleibt.
Erst hat er sich gesperrt und durchaus nicht in den
Wald gehen wollen, und jetzt kommt er gar nicht wieder heraus.
Ueberhaupt ist das ein ganz wunderlicher Mann, der Herr Magister Tinte, und es ist mir beinahe so, als sey es besser gewesen, er wäre ganz davon geblieben.
Daß er gleich anfangs die Kinder
so heimtückisch stach, das hat mir gar nicht gefallen, und mit sei nen Wissenschaften mag es auch nicht weit her seyn, denn allerlei
seltsame Wörter und unverständliches Zeug plappert er her und
weiß, was der Großmogul für Kamaschen trägt; kommt er aber heraus, so vermag er nicht die Linde vom Kastanienbaum zu unter
scheiden und hat sich überhaupt
ganz albern
und
abgeschmackt.
Die Kinder können unmöglich Respekt vor ihm haben."
„Mir
geht es, erwiederte die Frau von Brakel, mir geht es ganz wie dir, lieber Mann!
So sehr es mich freute, daß der Herr Better
sich unserer Kinder annehmen wollte, so sehr bin ich jetzt davon
192 überzeugt, daß das auf andere und bessere Weise hätte geschehen können, als daß er uns den Herrn Magister Tinte über den Hals
schickte.
Wie es mit seinen Wissenschaften stehen mag, daß weiß
ich nicht, aber so viel ist gewiß, daß das kleine schwarze dicke Männchen mit den kleinen dünnen Beinchen mir immer mehr und
mehr zuwider wird. so entsetzlich
Vorzüglich ist es garstig, daß der Magister
naschhaftig ist.
er stehen sehen,
Keine Neige Bier oder Milch kann
ohne sich darüber her zu machen, merkt er nun
vollends den geöffneten Auckerkasten, so ist er gleich bei der Hand
und schnuppert und nascht so lange an dem Zucker, bis ich ihm
den Deckel vor der Nase Zuschläge; dann ist er auf und davon,
und ärgert sich und brummt und summt ganz seltsam und fatal.” Der Herr von Brakel wollte fortfahren im Gespräch, als Felixiund Christlieb in vollem Rennen durch die Birken kamen.
„Heisa! —
heisa! — schrie Felix unaufhörlich, heisa heisa! der Fasanenfürst hat den Herrn Magister Tinte todtgebissen!”
„Ach — Ach Mama,
rief Christlieb athemlos, ach! — der Herr Magister Tinte ist kein
Herr Magister,
das
ist der Gnomen-König Pepser,
eigentlich
aber eine abscheuliche große Fliege, die eine Perücke trägt, und
Schuhe und Strümpfe.”
Die Aeltern staunten die Kinder an, die
nun ganz aufgeregt und erhitzt durch einander von dem fremden
Kinde, von seiner Mutter, der Feen-Königin, von dem Gnomen-
König Pepser, und von dem Kampf des Fasanenfürsten mit ihm erzählten.
„Wer hat Euch denn die tollen Dinge in den Kopf
gesetzt, habt ihr geträumt oder was geschah sonst mit Euch?”
So
fragte Herr von Brakel einmal über das andere; aber die Kin?
193 der blieben dabei, daß sich alles so zugetragen, wie sie es erzählten, und daß der häßliche Pepser, der sich für den Herrn Magister
Tinte fälschlich ausgegeben, todt im Walde liegen müsse. Die Frau von Brakel schlug die Hände über den Kopf zusammen und rief
ganz traurig: „Ach Kinder, Kinder, was soll auS Euch werden,
wenn Euch solche entsetzliche Dinge in den Ginn kommen und ihr Euch davon nichts.ausreden lassen wollt!" —
Aber der Herr von
Brakel wurde sehr nachdenklich und ernsthaft.
„Felix, sprach er
endlich, Felix du bist nun schon ein ganz verständiger Zunge, und ich
kann es dir wohl sagen, daß auch mir der Herr Magister Tinte von Anfang an ganz seltsam und verwunderlich vorgekommen ist.
Ja, es schien mir ost, als habe es mit ihm eine besondere Bewandt-
niß und er sey gar nicht so wie andere Magister.
Noch mehr'. —
ich sowohl als die Mutter, beide sind wir mit dem Herrn Magister
Tinte nicht ganz zufrieden,
die Mutter vorzüglich, weil er ein
Naschmaul ist, alle Süßigkeiten beschnuppert und dabei so häßlich
brummt und summt; er wird daher auch wohl nicht lange bei uns bleiben können.
Aber nun, lieber Junge, besinne dich einmal, ge
setzt auch, es gebe solche garstigen Dinger, wie Gnomen seyn sollen, wirklich in der Welt, besinne dich einmal, ob ein Herr Magister wohl eine Fliege seyn kann?" —
Felix schaute dem Herrn von
Brakel mit seinen blauen klaren Augen ernsthaft inS Gesicht. Der
Herr von Brakel wiederholte die Frage:
„Sag', mein Junge!
kann wohl ein Herr Magister eine Fliege seyn?" Da sprach Felix: „Ich habe sonst nie daran gedacht, und hätte es auch wohl nicht
geglaubt, wenn mir es nicht das fremde Kind gesagt, und ich es
13
194 mit eigenen Augen gesehen hätte, daß Pepser eine garstige Fliege ist und sich nur für den Magister Tinte ausgegeben hat. —
Und
Vater, fuhr Felix weiter fort, als Herr von Brakel wie einer, der vor Verwunderung gar nicht weiß, was er sagen soll, still
schweigend den Kppf schüttelte, und Vater, sage, hat dir der Herr Magister Tinte
selbst nicht
einmal entdeckt, daß er eine Fliege
sey? — habe ich's denn nicht selbst gehört, daß er dir hier vor der
Thür sagte, er sey auf der Schule eine muntere Fliege gewesen?
Nun, was man einmal ist, daß muß man, denk ich, auch bleiben. Und daß der Herr Magister,
wie die Mutter zugesteht, so ein
Naschmaul ist und an allem Süßen schnuppert, nun, Vater! wie
machen's denn die Fliegen anders? und das häßliche Summen und
Brummen."
„Schweig, rief der Herr von Brakel ganz erzürnt,
mag der Herr Magister Tinte seyn was er will, aber so viel ist
gewiß, daß der Fasanenfürst ihn nicht todt gebissen hat, denn dort
kommt er eben aus dem Walde!"
Auf dieses Wort schrien die
Kinder laut auf und flüchteten ins Haus hinein.
In der That
kam der Magister Tinte den Birkengang herauf, aber ganz ver wildert mit funkelnden Augen, zerzauster Perücke, im abscheulichen Sumsen und Brummen
sprang er von einer Seite zur andern
hoch auf und prallte mit dem Kopf gegen die Bäume an, daß man es krachen hörte.
So herangekommen, stürzte er sich sofort in den
Napf, daß die Milch überströmte, die er einschlürfte mit widrigem Rauschen.
„Aber um tausend Gotteswillen, Herr Magister Tinte,
was treiben Sie?" rief die Frau von Brakel. „Sind Sie toll ge
worden, Herr Magister, plagt sie der böse Feind?" schrie der Herr
195 von Brakel.
Aber alles nicht achtend schwang sich -er Magister
aus dem Milchnapf, setzte sich auf die Butterbrödte hin, schüttelte die Rockschöße und wußte mit den dünnen Beinchen geschickt darü
ber hinzufahren und sie glatt zu streichen und zu fälteln.
Dann
stärker summend schwang er sich gegen die Thüre, aber er konnte
nicht hineinsinden ins Haus, sondern schwankte wie betrunken hin und her und schlug
gegen die Fenstern an,
daß
es klirrte und
schwirrte. „Ha, Patron, rief der Herr von Brakel, das sind dumme unnütze Streiche, wart', das soll dir übel bekommen." den Magister bei dem Rockschoß zu haschen,
Er suchte
der wußte ihm aber
Da sprang Felix Sus' dem Hause mit der
geschickt zu entgehen.
großen Fliegenklatsche in der Hand, die er dem Vater gab. „Nimm
Vater, nimm, rief er, schlag ihn todt, den häßlichen Pepser." Der Herr von Brakel ergriff auch wirklich die Fliegenklatsche, und nun
ging es her hinter dem Herrn Magister. Felix, Christlieb, die Frau von
Brakel
schwangen
hatten
die Servietten
vom Tische genommen
und
sie den Magister hin und hertreibend in den Lüften,
während Herr von Brakel unaufhörlich Schläge gegen ihn führte, die leider nicht trafen, weil der Magister sich hütete, auch nur einen Augenblick
zu
ruhen.
Und wilder
und wilder wurde die tolle
Jagd — Summ — Summ — Simm — Simm — Trr — Trr — stürmte der Magister auf und nieder — und Klipp — Klapp fielen hageldichter des Herrn von Br'akel Schläge undhuß—
Huß — hetzten Felix, Christlieb und die Frau von Brakel den Feind.
Endlich gelang eS dem Herrn von Brakel den Magister
am Rockschoß zu treffen.
Aechzend stürzte er zu Boden,
13*
aber
196 in dem Augenblick, daß der Herr von Brakel ihn mit einem zwei ten Schlage treffen wollte, schwang er sich mit erneuter doppelter
Kraft in die Höhe, stürmte sausend und brausend nach den Birken hin und ließ sich nicht wieder sehen.
„ Gut, daß wir den fatalen
Herrn Magister Tinte los sind, sprach der Herr von Brakel, über meine Schwelle soll er nicht wieder kommen."
„Nein, das soll er
nicht, fiel die Frau von Brakel ein, Hofmeister mit solchen ab
scheulichen Sitten können nur Unheil anstisten, da, wo sie Gu tes wirken sollen. —
Prahlt mit den Wissenschaften und springt
in den Milchnapf! — das nenne ich mir einen schönen Magister!" Aber die Kinder jauchzten und jubelten und riefen: „Heisa — Papa hat dem Herrn Magister Tinte mit der Fliegenklatsche eins auf die
Nase versetzt und da hat er
Reißaus genommen!
—
Heisa —
heisa!" —
Was sich weiter im Walde begab, nachdem der Magister Tinte fortgejagt worden. Felix und Christlieb athmeten frei auf,
als sey ihnen eine
schwere drückende Last vom Herzen genommen.
Vor allem dachten
sie aber daran, daß nun, da der häßliche Pepser von dannen ge
flohen, das fremde Kind gewiß wiederkehren, und so wie sonst mit ihnen spielen würde.
Ganz erfüllt von freudiger Hoffnung gingm
sie in den Wald; aber es war alles still und wie verödet drin, kein lustiges Lied von Fink und Zeisig ließ sich hören, und statt
des fröhlichen Rauschens der Gebüsche, statt des frohen tönenden Wogens der Waldbäche wehten angstvolle Seufzer durch die Lüfte.
197 Nur bleiche Strahlen warf die Sonne durch den dunstigen Himmel.
Bald thürmte sich schwarzes Gewölk auf, der Sturm heulte, der
Donner begann in der Ferne zürnend zu murmeln, die hohen Tan
nen dröhnten und krachten.
Christlieb schloß sich zitternd und
zagend an Felix an; der sprach aber: „Was fürchtest du dich so, Christlieb, es zieht ein Wetter auf, wir müssen machen, daß wir nach Hause kommen."
Sie fingen an zu laufen, doch wußten sie
selbst nicht, wie es geschah, daß sie, statt aus dem Walde heraus
zu kommen, immer tiefer hineingeriethen.
Es wurde finsterer und
finsterer, dicke Regentropfen fielen herab und Blitze fuhren zischend
hin und her! —
Die Kinder standen an einem dicken dichten
Gestrüpp, „Christlieb, sprach Felix, laß uns hier ein bischen unter
ducken, nicht lange kann das Wetter dauern."
Christlieb weinte
vor Angst, that aber doch, was Felix geheißen.
Aber kaum hatten
sie sich hingesetzt in das dicke Gebüsch, als es dicht hinter ihnen mit häßlich knarrenden Sttmmen sprach: „Dumme Dinger! ein
fältig Volk — habt uns verachtet — habt nicht gewußt, was ihr mit uns anfangen sollt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielsachen, ihr
einsältigen Dinger!"
Felix schaute sich um, und es wurde ihm
ganz unheimlich zu Muthe, wie er den Jäger und den Harfenmann
erblickte, die sich aus dem Gestrüpp, wo er sie hineingeworfen, er hoben, ihn mit todten Augen anstarrten und mit den kleinen Händ
chen herumfochten und handthierten.
Dazu griff der Harfenmann
in die Saiten, daß es recht widrig zwitscherte und klirrte, und der Jägersmann legte gar die kleine Flinte auf Felix an.
Dazu
krächzten beide: „Wart — Wart du Junge, du Mädel, wir sind
198 die gehorsamen Zöglinge des Herrn Magister Tinte, gleich wird
er hier seyn, und da wollen wir Euch euren Trotz schon einträn
ken ! " — Entsetzt, des Regens, der nun herabströmte, der krachen den Donnerschläge, des Sturms, der mit dumpfem Brausen durch die Tannen fuhr, nicht achtend, rannten die Kinder von dannen
und geriethen an das Ufer des großen Teichs, der den Wald be-
gränzte.
Aber kaum waren sie hier, als sich aus dem Schilf
Christliebs große Puppe, die Felix hineingeworfen, erhob, und mit häßlicher Stimme quäkte: „Dumme Dinger, einfältig Volk — habt
mich verachtet — habt nicht gewußt, was ihr mit mir anfangen
sollt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielsachen, ihr einfältigen Dinger. Wart' wart', du Junge, du Mädel, ich bin der gehorsame Zögling
des Herrn Magister Tinte, gleich wird er hier seyn und da wollen wir Euch euren Trotz schon ^intränken!" —
Und dazu spritzte die
häßliche Puppe den armen Kindern, die schon vom Regen ganz durchnäßt waren, ganze Ströme Wasser ins Gesicht.
Felix konnte
diesen entsetzlichen Spuk nicht vertragen, die arme Christlieb war
halb todt, aufs neue rannten sie davon, aber bald mitten im Walde
sanken sie vor Angst und Erschöpfung nieder. brauste es hinter ihnen.
Da summte und
„Der Magister Tinte kommt" schrie Fe
lix, aber in dem Augenblick vergingen ihm auch so wie der armen Christlieb die Sinne.
Als sie wie aus tiefem Schlafe erwachten,
befanden sie sich aus einem weichen Moossitz.
Das Wetter war
vorüber, die Sonne schien hell und freundlich und die Regentrop
fen hingen wie funkelnde Edelsteine an den glänzenden Büschen und
Bäumen.
Hoch verwunderten sich die Kinder darüber, daß ihre
199 Kleider ganz trocken waren und sie gar nichts von der Kälte und Nässe spürten.
„Ach," rief Felix, indem er beide Aerme hoch in
die Lüste emporstreckte, „ach, das fremde Kind hat uns beschützt!"
Und nun riefen beide, Felix und Christlieb, laut, daß es im Walde
wiedertönte: „Ach, du liebes Kind, komme doch nur wieder zu uns, wir sehnen uns ja so herzlich nach dir, wir können ja ohne dich
gar nicht leben!" —
Es schien auch, als wenn ein Heller Strahl
durch die Gebüsche funkelte, von dem berührt die Blumen ihre Häup
ter erhoben;
aber riefen auch wehmüthiger und wehmüthiger die
Kinder nach dem holden Gespielen, nichts ließ sich weiter sehen.
Traurig schlichen sie nach Hause, wo die Aeltern, nicht wenig we gen des Ungewitters um sie bekümmert, sie mit voller Freude em pfingen.
Der Herr von Brakel ,sprach: „Es ist nur gut, daß ihr
da seyd, ich muß gestehen, daß ich fürchtete, der Herr Magister
Tinte schwärme noch im Walde Spur."
umher,
und sey euch auf der
Felix erzählte alles, was sich im Walde begeben.
„Das
sind tolle Einbildungen, rief die Frau von Brakel, wenn Euch drau
ßen im Walde solch verrücktes Zeug träumt, sollt ihr gar nicht mehr hin gehen, sondern im Hause bleiben."
Das geschah denn nun
freilich nicht, denn wenn die Kinder baten: „Liebe Mutter, laß' uns ein bischen in den Wald laufen!" so sprach die Frau von Brakel:
„Geht nur, geht und kommt hübsch verständig zurück."
Es ge
schah aber, daß die Kinder selbst gar nicht mehr in den Wald ge
hen mochten.
Ach! — daß fremde Kind
ließ sich nicht sehen und
so wie Felix und Christlieb sich nur tiefer ins Gebüsch wagten
oder sich dem Ententeich nahten, so wurden sie von dem Jäger, dem
200 Harfenmännlein, der Puppe ausgehöhnt: „Dumme Dinger, einfältig Volt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielzeug — habt nichts mit unS
artigen gebildeten Leuten anzufangen gewußt — dumme Dinger,
einfältig Volk!" —
Das war gar nicht auszuhalten, die Kinder
blieben lieber im Hause.
Beschluß. „Ich weiß nicht, sprach der Herr ThaddäuS von Brakel eines
Tages zu der Frau von Brakel, ich weiß nicht, wie mir seit ei nigen Tagen so seltsam und wunderlich zu Muthe ist.
Beinahe
möchte ich glauben, daß der böse Magister Tinte mir es angethan
hat, denn seit dem Augenblick, als ich ihm eins mit der Fliegen
klatsche versetzte und ihn forttrieb, liegt es mir in allen Gliedern wie Blei."
In der That wurde nuch der Herr von Brakel mit
jedem Tage matter und blässer.
Er durchstrich nicht mehr wie
sonst die Flur, er polterte und wirthschaftete nicht mehr im Hause umher, sondern saß stundenlang in tiefe Gedanken versenkt, und
dann ließ er sich von Felix und Christlieb erzählen, wie es sich mit dem fremden Kinde begeben.
Sprachen die denn nun recht
mit vollem Eifer von den herrlichen Wundern des fremden Kindes, von dem prächtigen glänzenden Reiche, wo es zu Hause, dann lächelte er wehmüthig und die Thränen traten ihm in die Augen. Darüber konnten sich Felix und Christlieb aber gar nicht zufrieden geben, daß das fremde Kind nun davon bleibe und sie der Quä lerei der häßlichen Puppen im Gebüsch und im Ententeiche bloß
stelle, weshalb sie gar nicht mehr sich in den Wald wagen möchten.
201 „Kommt, meine Kinder, wir wollen zusammen in den Wald gehen,
die bösen Zöglinge des Herrn Magister Tinte sollen Euch keinen Schaden thun!"
So sprach an einem schönen hellen Morgen der
Herr von Brakel zu Felix und Christlieb, nahm sie bei der Hand
und ging mit ihnen in den Wald, der heute mehr als jemals vol ler Glanz, Wohlgeruch und Gesang war.
Als sie sich ins weiche
Gras unter duftenden Blumen gelagert hatten, fing der Herr von Brakel in folgender Art an: „Ihr lieben Kinder, es liegt mir
recht am Herzen, und ich kann es nun gar nicht mehr ausschieben Euch zu sagen, daß ich eben so gut wie ihr das holde fremde Kind, das
kannte.
Euch hier im Walde so viel Herrliches schauen ließ,
Als ich so alt war wie ihr, hat es mich so wie Euch be
sucht und die wunderbarsten Spiele gespielt.
Wie es mich dann
verlassen hat, darauf kann ich mich gar nicht besinnen, und es ist
mir ganz unerklärlich, wie ich das holde Kind so ganz und gar vergessen konnte, daß ich, als ihr mir von seiner Erscheinung er
zähltet, gar nicht daran glaubte, wiewohl ich oftmals die Wahr heit davon leise ahnte.
Seit einigen Tagen gedenke ich aber so
lebhaft meiner schönen Jugendzeit, wie ich es seit vielen Jahren
gar nicht vermochte.
Da ist denn auch das holde Zauberkind so
glänzend und herrlich wie ihr es geschaut habt, mir in den Sinn gekommen, und dieselbe Sehnsucht, von der ihr ergriffen, erfüllt
meine Brust, aber sie wird mir das Herz zerreißen! — Ich fühl' es, daß ich zum letztenmal hier unter diesen schönen Bäumen und
Büschen sitze, ich werde Euch bald verlassen ihr Kinder! —
Hal
tet, wenn ich todt bin, nur recht fest an dem holden Kinde!" r—
202 Felix und Christlieb waren außer sich vor Schmerz, sie weinten
und jammerten und riefen laut: „Nein, Vater — nein, Vater, du
wirst nicht sterben, du wirst noch lange, lange bei uns bleiben, und so wie wir mit dem fremden Kinde spielen!" —- Aber Tages darauf
lag der Herr von Brakel schon krank im Bette.
Es erschien etrt
langer hagerer Mann, der dem Herrn von Brakel an den Puls fühlte und darauf sprach: „das wird sich geben!"
Es gab sich
aber nicht, sondern der Herr von Brakel war am dritten Tage
todt.
Ach, wie jammerte die Frau von Brakel, wie rangen die
Kinder die Hände, wie schrien sie laut: „Ach unser Vater — un ser lieber Vater!" — Bald darauf, als die vier Bauern von Bra
kelheim ihren Herrn zu Grabe getragen hatten, erschienen ein paar
häßliche Männer im Hause, die beinahe aussahen wie der Magister
Tinte.
Die erklärten der Frau von Brakel, daß sie das ganze
Gütchen und alles im Hause in Beschlag nehmen müßten, weil der
verstorbene Herr Thaddäus von Brakel das alles und noch viel mehr dem Herrn Grafen Cyprianus von Brakel schuldig geworden
sey, der nun das Seinige zurückverlange.
So war denn nun die
Frau von Brakel bettelarm geworden und mußte das schöne Dörf
chen Brakelheim verlassen.
Sie wollte zu einem Verwandten hin,
der nicht fern wohnte, und schnürte daher ein kleines Bündclchen
mit der wenigen Wäsche und den geringen Kleidungsstücken, die man ihr gelassen, Felix und Christlieb mußten ein Gleiches thun, und so zogen sie unter vielen Thränen fort aus dem Hause.
Schon hör-
ten* sie das ungestüme Rauschen des Waldstroms, über dessen Brücke sie wollten, als die Frau von Brakel vor bitterm Schmerz ohn-
203 mächtig zu Boden sank.
Da fielen Felix und Christlieb auf die
Knie nieder und schluchzten und jammerten: „O wir armen un
glücklichen Kinder! nimmt sich denn keiner, keiner unsers Elends
an?”
In dem Augenblick war es, als werde das ferne Rauschen
des Waldstroms zu lieblicher Musik, das Gebüsch rührte sich in
ahnungsvollem Säuseln — und bald strahlte der ganze Wald in wunderbarem funkelndem Feuer.
Das fremde Kind trat aus dem
süß duftenden Laube hervor, aber von solchem blendenden Glanz um flossen, daß Felix und Christlieb die Augen schließen mußten.
Da
fühlten sie sich sanft berührt und des fremden Kindes holde Stimme
sprach: „O klagt nicht so, ich euch denn nicht mehr?
ihr meine
Kann
lieben Gespielen!
Lieb'
ich euch denn wohl verlassen?
Nein! — seht ihr mich auch nicht mit leiblichen Augen, so um
schwebe ich euch doch beständig und helfe euch mit meiner Macht, daß ihr froh und glücklich werden sollet immerdar.
Behaltet mich
nur treu im Herzen, wie ihr es bis jetzt gethan, dann vermag
der böse Pepser und kein anderer Widersacher etwas über euch! —
liebt mich nur stets recht treulich!"
„O das wollen wir, das
wollen wir! riefen Felix und Christlieb, wir lieben dich ja mit
ganzer Seele." Als sie die Augen wieder aufzuschlagen vermochten, war das fremde Kind verschwunden, aber aller Schmerz war von ihnen gewichen, und sie empfanden die Wonne des Himmels, die in ihrem Innersten aufgegangen.
Die Frau von Brakel richtete
sich nun auch langsam empor und sprach: „Kinder! ich habe euch
im Traum gesehen, wie ihr wie in lauter funkelndem Golde stan det, und dieser Anblick hat mich aus wunderbare Weise erfreut und
204
getröstet." Das Entzücken strahlte in der Kinder Augen, glänzte auf ihren hochrothen Wangen. Sie erzählten, wie eben das fremde Kind bei ihnen gewesen sey und sie getröstet habe; da sprach die Mutter: „Ich weiß nicht, warum ich heute an Euer Mährchen glauben muß, und warum dabei so aller Schmerz, alle Sorgen von mir weichen. Laßt uns nun getrost weiter gehen." Sie wur den von dem Verwandten freundlich ausgenommen, dann kam es, wie das fremde Kind es verheißen. Alles, was Felix und Christ lieb unternahmen, gerieth so überaus wohl, daß sie sammt ihrer Mutter froh und glücklich wurden, und noch in später Zeit spiel ten sie in süßen Träumen mit dem fremden Kinde, das nicht auf hörte, ihnen die lieblichsten Wunder seiner Heimath mitzubringen.
Das SchweTdl und die ^cKlangen..
205
S
Das Schwerdt und
die Schlangen. Ein Mährchen in acht Kapiteln.
Erstes Kapitel.
Don der Oedenburg und ihren Bewohnern. Meister Ezzelino mit dem Dachsränzelein.
In einem tiefen, tiefen Thal, mitten im wilden Gebirge, da lebte einmal vor langer Zeit ein Mann mit seinem Sohn und zwei Knechten. Sie hatten fich ein geräumiges Haus in diese Einsam keit hinein gebaut, und hatten es die Oedenburg genannt, denn öde war die Gegend ringsumher auf viele Stunden, und ihr Haus das einzige im ganzen Gebirge. Der Mann hieß Wolfgang, sein Sohn aber Raimund. So hatten fie in diesem Thale miteinander gelebt seit 16 Jah ren. Kein fremder Mensch war in dieser Aeit dahin gekommen. Niemand im ganzen Lande wußte von der Oedenburg. Raimunds Mutter, die mit dahin gezogen, war vor 10 Jahren bereits gestor-
206 ben und Raimund jetzo 18 Jahr.
Doch hätte ihn jeder willig für
älter genommen, denn er war hoch und schlank aufgeschossen wie
eine Tanne, und gewaltig an Brust und Armen.
Kein Felsen
stand ihm zu hoch und steil, kein Strom war ihm zu mächtig, kein Wild war ihm zu schnell.
Da saß Wolfgang eines Abends mit ihm und mit den Knech ten am Heerde.
Die Männer sprachen unter einander von der Zeit,
da sie noch unter den übrigen Menschen lebten.
Raimund hörte
zu und hatte viel zu fragen. Draußen aber machte sich der Sturm
auf, warf die Wolken, die schon den ganzen Tag zusammengeballt am höchsten Gebirgsrücken gehangen hatten, herunter in die Thä
ler und fuhr schnaubend und brausend durch den Tannenwald. „Ist mirs doch," sagte Wolfgang auf einmal und horchte, —
„ist mirs doch, als klopfte es draußen an der Thür.
Was könnte
das wohl seyn?" „Es ist der Wind, Herr!" meinte Erich, der ältere von den
Knechten. „Ja, Wind!" rief Bolko, der andere Knecht. „Wenn du das
Wind , nennen willst, was Hände und Füße hat.
Zwei Hände und
Füße, sag ich, auch wohl nach Gelegenheit einmal drei oder vier.
Ich höre das Klopfen schon lange und weiß wohl, wer sich den Spaß macht.
Aber man muß thun, als hörte mans nicht."
Indem klopfte es wieder ganz laut und vernehmlich.
Wolf
gang und Erich sahen einander verwundert an. „Run so sieh doch einmal hinaus, Bolko!" rief Wolfgang endlich.
„ Es könnte sich doch wohl einmal jemand verirrt haben."
207 Bolko schüttelte den Kopf.
„Nehmts nicht für ungut, Herr;
ich stecke meine Nase nicht zur Thür hinaus;
denn wer steht mir
denn dafür', daß ich sie nicht vielleicht noch einmal so lang wieder
hereinbringe.
Der liebe Gott hat mich ohnedies schon an diesem
Theil meines Leibes über die Gebühr gesegnet, und den Herrn, der
draußen pocht, den kenn' ich schon: der hat sein Gefallen an derlei Späßen."
Indessen Bolko so sprach, war Raimund bereits aufgestanden.
Er zündete eine Kienfackel auf dem Heerde an und ging hinaus. Erich langte die blanke Streitaxt, die über ihm an der Wand hing,
vom Nagel und folgte ihm.
Es dauerte nicht lange, so traten sie beide wieder herein mit
einem kleinen Mannlein. Das ging auf Herrn Wolfgang zu, grüßte ihn freundlich und bat um Herberge für diese Nacht.
Er heiße
Meister Ezzelino, sei für gewöhnlich wohnhaft in der Stadt Padua
in Welschland, pflege aber des Sommers herumzuwandern da und dorten in den Gebirgen,
um den geheimen Kräften der Natur
aus die Spur zu gehn, die sich in Kräutern, Steinen und Metallen auf das Wunderbarste an den Tag legen. So sey er denn auch hie-
her gekommen, und da sich diese Gegend besonders reich erweise an den seltensten Dingen, habe ihn dies unvermerkt immer weiter in dieses Gebirge hinein verlockt, bis er nicht mehr gewußt, wo ein
noch aus, und gar herzlich froh gewesen sey, als er endlich in der Abenddämmerung von oben herab dieses Haus im Thale entdeckt habe.
Wolfgang hieß ihn willkommen und befahl Bolko'n den Gast mit Speise und Trank zu erquicken.
Bolko schob einen Tisch zum
208 Feuer, und sorgte für alles Benöthigtez doch nahm er fich wohl in Acht, daß er dem Fremden nicht zu nahe kam.
Meister Ezzelino machte sichs bequem,
legte seinen Mantel
und ein kleines Dachsränzlein ab, das er auf dem Rücken trug,
und setzte sich an den Lisch.
Raimund sah ihm von der Seite zu,
und hatte seine Freude an der wunderlichen Behendigkeit, mit der
der Kleine aß und trank, wobei das rothe Spitzbärtlein an dessen Kinn sich possierlich auf und nieder bewegte.
„Nun," sagte der
Gast endlich, „nun hab' ich eurer Gastfreundschaft redlich Bescheid
gethan, nun bitt' ich um die Vergunst, daß ich euch gleichfalls be wirthen darf."
Er holte mit diesen Worten eine Flasche und 5 silberne Be
cher aus seinem Ränzlein und schenkte ein. „Euer Meth ist gut," fuhr er -fort, „aber ich denke mein
Wein auch.
Er ist aus meinem Daterlande."
Als Wolfgang und Erich von Wein-sprechen hörten, und die edle Gottesgabe so hell und klar wie lauteres Gold in den Be
chern perlte, da war ihnen freilich beinah zu Muth, als wenn sie
die Sonne seit 16 Jahren zum erstenmal wieder aufgehen sähen. Bolko aber trat dem Fremden schnell einige Schritte näher, ja der Muth wuchs ihm endlich so weit, daß er sich gleichfalls an dem
Lisch ihm gegenüber niederließ. Alle sprachen hierauf wacker zu.
fallm zu finden an dem neuen Getränk. bald auf den Grund.
Mänzel, und noch eine.
Auch Raimund schien GeSo kamen sie der Flasche
Meister Ezzelino holte noch eine aus dem
Raimund wunderte sich freilich ein wenig,
209 wie die drei Flaschen darin Platz gehabt hatten. Die Andern aber nahmen daraus kein Arges und wurden bald gar munter und ge sprächig. Der fremde Gast wußte viel und mancherlei zu erzählen von den besondern Dingen, die er auf seinen Reisen gehört, gesehen oder erlebt hatte. „Za," sagte er endlich, „ich habe wohl mancherlei Wunder bares in der Welt erlebt, das Allersonderlichste aber doch, und was mit nichts Anderm zu vergleichen steht, das ist die Geschichte von dem Könige mit den Schlangen. Vielleicht ist sie euch schon be kannt. Die ganze Welt spricht ja davon. Wolfgang bezeugte seine Unwissenheit und bat, er möchte ihnen doch die wunderbare Geschichte nicht vorenthalten. „Nun, so wißt ihr doch wenigstens," sagte der Fremde, „daß das ganze Land dort auf der andern Seite des Gebirges von einem heidnischen, sehr mächtigen König beherrscht wird, und daß dieser König Giselherr heißt?" — „Ja, ja," rief Wolfgang, „das wissen wir nur gar zu gut!" „So? Nun," sprach jener weiter, „dieser König Giselherr ist es, von dem ich spreche. Er war, wie ihr vielleicht auch wißt, der jüngste von drei Brüdern, und also nicht dazu bestimmt die Krone auf seinem Haupte zu tragen. Die beiden ältern aber starben nach einander schnell hinweg." — „Ja, ja, sie starben schnell hinweg!" unterbrach ihn Wolf gang und lachte grimmig dazu.
210
Zweites Kapitel. Die Geschichte von dem König mit den Schlangen. Raimunds Schwur. „Die Brüder starben," fuhr der Fremde fort, „und Giselherr
ward König.
Das ist er nun gewesen mit Ruhm und Ehren man
ches Jahr, und was er in Krieg und Frieden noch so keck oft un
ternahm, das führt er auch zu seinem Ziel und Ende aus, und
seine Macht, sein Reichthum und sein Glück war in den Ländern weit und breit umher beinah zum Sprichwort geworden."
„Seit einem Jahr aber etwa hat sich alles plötzlich gewendet, König Giselherr ist jetzt der elendeste aller Menschen zu nennen, und um alle Schätze, die er aufgehäuft, möchte der schlechteste sei ner Unterthanen nicht an seiner Stelle seyn." „Das soll sich also zugetragen haben.
Als er eines Tages
nämlich, wie man erzählt, auf die Jagd geritten und von seinem
Gefolge abgekommen war, gelangte er tief im Walde zu einer Felsenhöhle.
Aus dieser Höhle kommt ihm ein seltsames Geräusch
zu Ohr, fast wie ein heftiges Blasen oder Zischen, und da er meint,
dies rühre vielleicht von einer verborgenen Quelle her, steigt er vom Pferde und geht hinein sich
zu erquicken.
Das Zischen und
Blasen wird immer stärker, je weiter er vorwärts schreitet; doch
von einer Quelle ist nirgends eine Spur, wohl aber sieht er plötz-,
lich zu seinen Füßen zwei menschliche Gerippe liegen, und da er jetzo fast erschrocken um sich schaut, und seine Augen sich indeß an
die Dämmerung in der Höhle gewöhnt haben, sieht er auf dem
211 Boden und an den Wänden neben ihm, und an dem Gewölbe über ihm sich Alles regen und bewegen, und gewahret endlich, daß es die sich durch einander
tausend und abertausend Schlangen sind,
ringeln, und ihn mit glänzenden Augen anstarren und mit gräß lichem Gezisch die Zungen ausstrecken nach ihm.
Da sträubt sich
sein Haar, das Entsetzen faßt ihm ins Mark seines Gebeins, und er taumelt zurück und
wendet sich zur Flucht.
In dem Augen
blick aber schießen aus den beiden Menschengerippen zwei der größ ten Schlangen hervor, mit goldnen Kronen auf dem Kopse, und folgen dem König nach, und obgleich dieser fein Pferd erreicht,
und es über Berg und Thal, durch Sumpf und Moor in gestreck tem Laufe dahin treibt und meint den Schlangen zu entfliehen,
so sind sie dennoch immer an des Rosses Hufen und erreichen die königliche Burg zu gleicher Zeit mit ihm.
Hier laufen nun auf
des Königs Ruf die Diener alsbald zusammen und wollen ihrem Herrn zu Hülfe kommen, allein die Schlangen stellen sich mit halb
ausgerichtetcm Leibe an das innere Thor der Burg, durch das sich jener geflüchtet, und verwehren den Eintritt jedem, der sich naht. Aus ihren Augen schleicht allmählig sich das Grausen in Aller Brust,
wie sie der furchtbaren Schildwacht gegenüber stehen, und endlich,
als von einem plötzlichen Schreck ergriffen und geschlagen, stäubt der ganze Haufe aus einander.
Die Schlangen aber bleiben un
verwandt so stehen bis um Mitternacht.
Da ringeln sie sich die
Treppe hinauf und grade nach des Königs Schlafgemach.
Die
Dienerschaft und alles Volk, das die unerhörte Mähr versammelt, sie hören draußen vor der Burg das Hülferufen ihres Herrn, sie
14*
212 hören sein Angstgeschrei, das Aller Ohr und Herz zerreißt, doch Keiner wagt sich in die Burg hinein; bis endlich, als der Morgen graut, die Schlangen an dem äußern Thor erscheinen und sich lang
sam an dem Abhang hinunter wälzen, nach dem Walde zu." „Und mit jeder Mitternacht seitdem sind auch die entsetzlichen
Gäste wieder da, und dringen in das Schlafgemach des Königs, kein Thor und Wall, kein Schloß und Riegel hält sie auf, und
nagen und zehren, bis der Morgen graut, an seinem Herzen.
Der
kommende Tag heilt darauf die Wunden zu, ergänzt das Verlorne, und die Gäste kommen um Mitternacht wieder zum vollen frischen
Mahle." „ Zwar haben sich seitdem der wackern Ritter und treuen Die ner einige gefunden, die das unsägliche Elend ihres Herrn gejam
mert, und welche tief in ihrer tapfern Brust die Schmach gefühlt, ihn also hülflos und ohne Beistand solcher
gräßlichen Qual zu
überlassen, und diese haben sich um Mitternacht zu ihm begeben, muthig entschlossen ihn zu beschützen gegen seine Peiniger, und die
Ungeheuer zu bekämpfen;
allein zerfleischt und ohne Leben sind sie
am andern Morgen auf den Stufen der Burg gefunden worden,
und der unglückliche König Giselherr harret noch bis diese Stunde seines Befreiers und Erlösers." Der Fremde schwieg, da sprang Raimund empor von seinem Sitze, seine Augen funkelten.
„So war mir Gott helfe, rief er,
ich werde ihn befreien und erlösen!"
„Unsinniger!" schrie Wolfgang zornig, „was beginnst du?
Hier, wo Gott so sichtbarlich sein Rächeramt schon auf Erden ver-
213 waltet, willst du ihm frevelnd in den Arm fallen und sein Gericht
aufhalten?
Kennst du diesen König, den du von der gerechten
Strafe zu befreien schwörst?
Nun, so wisse, als sein Vater starb,
da ließ er seine ältern Brüder beide heimlich ermorden, weil ihn nach der Krone gelüstete, er ließ sie ermorden mit Weib und Kind,
und wahrlich nicht an ihm hat es gelegen, daß die schändliche That
nicht gänzlich so vollbracht ward, als er es wollte."
Raimund schwieg einige Augenblicke, dann reichte er jenem die Hand und sprach ruhig: „Vater, ich habe es so geschworen, und so will ich es auch thun." Meister Ezzelino sprang schnell auf, zog Wolfgang auf die
Seite, und redete heimlich mit ihm.
Wolfgang hörte nachdenklich
zu; dann wandte er sich, hob seine Augen gen Himmel und faltete die Hände, trat zu seinem Sohne und sprach mit feierlicher Stimme: „Wohlan, so ziehe hin, mein Sohn, und thue, was dein Herz dich heißt.
Ich sehe deinen raschen Schwur als Gottes Stimme an.
Morgen mit dem Frühsten brichst du auf.
Meister Ezzelino wird
dich begleiten."
Drittes Kapitel.
Das Alpenröslein. Naimunv reist ab. Die Morgendämmerung blickte oben kaum über den Bergen aus, und unten im tiefen Thal um die Oedenburg herbergte noch die Nacht, als Raimund schon von seinem Lager sprang.
Er öff
nete leise die Thür und nahm den Weg nach einem Hügel, der
214 nicht weit hinter dem Hause lag.
Auf diesem Hügel war seine
Mutter begraben.
Er hatte seine Mutter sehr lieb gehabt, da sie noch lebte, und
hielt das Andenken an sie gar hoch und werth.
Jetzt aber wollte
er nicht von dannen scheiden, ohne ihrem Grabe noch ein Lebewohl
zurückzulassen.
Als er eine Weile still in Gedanken daneben gestanden hatte, schlugen die ersten rothen Strahlen der Morgensonne an den höch sten Gipfel des Gebirges, auf dem noch der Schnee lag, daß er wie ein König in seinem Purpurmantel über die dunklen Rücken und
Häupter der andern Berge weg ins Thal herab schaute; da nahm
Raimund
bei dem Schimmer
ein Alpenröslein auf dem Grabe
wahr, das gestern nicht da gestanden hatte, und ihm auch sonst
noch niemals hier vorgekommen war.
Er sah es als einen Ab-
fchiedsgruß an, den die geliebte Mutter ihm herauf gesendet, pflückte es ab mit nassen Augen, und da indem eben der Klang des Hüsthorns von der Oedenburg herüberschallte, der ihn rief, begab er sich auf den Rückweg.
Wolfgang und der Fremde harrten schon seiner. zur Abreise bereit.
Auch Bolko,
der
seinen
Alles war
jungen Herrn als
Knappe begleiten sollte, hatte sich mit einem alten verrosteten Panzer hemde und einem mächtig langen Schwerte dazu gerüstet.
Wolfgang war sehr still und ernst.
Er reichte seinem Sohn
einen Ring mit hellfunkelnden Steinen besetzt, und gebot ihm den
selben wohl zu verwahren;
darauf schloß er ihn in seine Arme
213 und segnete ihn, und gleichfalls still und ernst zogen die drei Wan derer von dannen.
Meister Ezzelino
schien in dem Gebirge
besser Bescheid zu
wissen, als er gestern Abend vorgegeben hatte, denn er führte seine Gefährten einen andern und kürzern Weg hinauf, als beiden be
kannt war.
Die Sonne fing kaum an sich zu neigen, da standen
sie bereits auf dem höchsten Rücken, und schauten auf der andern Seite hinab.
Zu ihren Füßen dehnte sich weithin ein finsterer ungeheurer Wald;
jenseit
des
Waldes
aber sahen
sie
ein wohlangebautes
Land, und viele Dörfer, Städte und Burgen blinkten weiß im
Sonnenschein.
„Schaut dort," sagte Meister Ezzelino, „auf jenem fernen Berge, der so einzeln steht in der Ebene, da prangt die Burg des
Königs Giselherr.
Das ist dein Ziel, junger Degen.
dein ein schwerer Kampf. baue fest auf dich.
Dort harret
Du wirst ihn mit Ehren bestehen, ich
Aber merke wohl auf das, was ich dir jetzt
zu sagen habe."
„Nicht durch deine Kraft allein kannst du die beiden Unge
heuer bezwingen und erlegen.
Sie sind Kinder der Hölle, und
Hölle bezwingt nicht bloße Tapferkeit.
Nur ein gewisses Schwert,
von besondrer Macht und Lugend, nur das mag deinem tapfern Arm den Sieg verleihen.
Dies Schwert ist jetzt in der Gewalt
feindseliger Mächte, denen daran liegt, daß es nicht auf Erden herrsche, und diese haben es verborgen tief im Grunde unterirdischer
Klüfte.
Dort mußt du dir es holen.
In jenen blauen Bergen
216 die sich schroff und zackig in seltsamen Gestalten uns zur Rechten erheben,
da wirst du nähere Kunde finden.
jetzt dein Weg.
wenn du in Noth bist, werde ich bei dir seyn.
standhaft.
Dorthin also geht
Ich aber kann dich nicht fürder begleiten.
Doch
Ziehe hin und sey
Dem festen Willen ist die Welt Unterthan.
Freund Bolko, hinterlaß' ich mein Dachsränzlein.
Dir aber,
Das wird für
Sey deinem Herren treu, und steh' ihm
euern Imbiß sorgen.
wacker zur Seite in der Gefahr."
Er reichte beiden die Hand zum Abschiede. fuhr er
fort,
„Doch noch eins!"
„du bist nicht ritterlich gerüstet und geschmückt.
Dort unten, wo der Rauch aus dem Walde steigt, da wohnt ein
kunstreicher Waffenschmidt.
Dem
bringe nur einen Gruß vom
Meister Ezzelino, fordre, was du brauchst, und lasse dich nicht ab schrecken.
Er ist ein wunderlicher Gesell, und öfters nicht bei Laune.
Doch ist er grob, so sey nur wieder hübsch grob: so wirst du am
Besten mit ihm fertig.
Es mag dein erstes Probestücklein seyn.
Gott sei mit dir!" Raimund und Bolko hatten noch viele Fragen auf den Lippen,
allein Meister Ezzelino verschwand in dem Augenblick hinter einem Felsenstücke.
Viertes Kapitel.
Das erste Abenteuer. Wie Raimund zu dem Schmidt kommt. Der Wald war dicht und wild verwachsen; von einem Pfade nirgends eine Spur.
Raimund stieg von Zeit zu Zeit auf einen
217 Baum, um die Richtung nach dem aufsteigenden Rauche nicht zu verlieren.
So kamen die beiden Wanderer nur mit großer Be
schwerde und langsam weiter.
Raimund ging schweigend voran,
der Knappe zog murrend und leise fluchend hinter drein.
„Nehmt mirs nicht übel, junger Herr," hub Bolko endlich
an, „ich kann nicht länger schweigen; mir frißt ein mörderlicher Groll an der Leber. Ich muß ersticken, wenn ich ihm nicht Luft mache. Es geht hier nicht mit rechten Dingen zu.
Der kleine Rothbart —
ich möchte ihn gern anders betiteln, wenn wir nicht noch auf seinem Revier wären — der kleine Gottseybeiuns, den ich gar wohl kenne,
oder ich will nicht Bolko heißen, er übt hier wieder einen von sei nen Streichen aus, gebt Acht, und hat uns nur zum Besten. Schon
als ein Knabe
hab' ich solche feine
Stücklein von ihm erzählen
Ich sag euch, an der ganzen Mähr von dem König mit
hören.
den Schlangen ist kein wahres Wort."
„Schweig still!" sprach Raimund, „und gieb etwas zu essen her.
Mich hungert." „Mich auch," rief Bolko, „so wahr ich einen Magen habe!
Aber ich bitte euch, bestellt euren Hunger auf ein ander Mal. Sagt
lieber, es wäre alleweil' niemand zu Hause; er würde schlechte Unterhaltung finden. —
Ja,
seht mich nur nicht so groß an.
Unser Vorrath ist heute Morgen rein aufgezehrt worden." „Nun aber Meister Ezzelinos Dachsränzlein?" rief Raimund.
„Ja," erwiederte Bolko, „Meister Ezzelino ist ein Ehrenmann.
Er hat uns ein treffliches Mittel für die Augen mit aus den Weg
gegeben.
Ihr seht, was in dem Ränzlein ist, und wie es sich selber
218 vor Verdruß darüber in tieft Kummerfalten legt! gar nichts!
Nichts ist darin,
Es ist so leer, als wollt's meinem Magen mit gutem
Beispiel vorangehn."
Raimund hieß ihn nur hineinzufassen.
Er zog kopfschüttelnd
den Riemen auf und streckte die Hand hinein.
Sogleich aber zog
er sie mit großem Geschrei wieder heraus, und warf ein mächtiges Bund Nesseln und Disteln weit von sich hinweg. —
„Nun, seht
ihr, seht ihr," schrie er, „wie boshaft der verdammte Kobold sein Spiel mit uns treibt!
Ich hab's euch ja gesagt!"
Raimund nahm lachend den Sack auf, steckte die Hand hinein, und brachte alsbald eine Flasche Wein und ein weißes Brot heraus.
„Nun siehst du, siehst du" rief er, Meister Ezzelino ist doch ein Ehrenmann.
Ein ander Mal halte nur deine Zunge im Zaum."
Da kam Bolko freudig herbeigesprungen, aß und trank und ließ den Meister hoch leben, und beide machten sich hierauf wieder
mit frischem Muthe auf den Weg und gingen, und gingen immerzu. Die Sonne war bereits hinter den Bergen; die Krähen flogen nach
ihren Nestern, Eulen huschten leise durch den Wald, und Bolko sing schon wieder an halb laut mit sich selber zu reden und zu schimpfen:
da klangen auf einmal helle Hammerschläge von ferne aus der Tieft herauf.
Die beiden Pilger nahmen freudig ihre Richtung dorthin.
Es dauerte nicht lange, da sahen sie einen rothen Schimmer an den Wipfeln der Bäume, bald darauf flatterten einzelne Funken rasch hinter einander vor ihnen in die Höhe: es ward immer heller
um sie, und nach einigen Schritten standen sie am Rande eines Bergkeffels und ihnen gegenüber an der andern Seite wölbten sich
219 die schwarzen Felsen zu einem hohen weiten Thor; durch das Thor schauten sie hinab in eine geräumige Höhte, darin war Helle Gluth,
und dunkle Gestalten bewegten sich auf dem feurigen Hintergründe
hin und her. „Hm" sagte Bolko „das sieht wohl eher dem Eingang zur
Hölle gleich,
als
einer Schmiedewerkstatt.
Und dort hinunter
wollt ihr?" „Nun freilich!" erwiederte Raimund „bin ich doch darum
hergekommen."
Und damit schritt er den Abhang schnell hinab.
Bolko folgte ihm kopfschüttelnd. Als sie unten waren, erhub sich in der Höhle nach dem Takt
der Hammerschläge ein Gesang von einigen rauhen Männerstimmen. Raimund blieb stehen und hörte sich das wunderliche Lied mit an.
Risch daran, Rasch darauf! Rühr dich, Gesell!
Hammer spring ab und auf: Eisen glüht hell, Freudig sprüht's Funken aus,
Daß bald ein Schwert wird draus.
Risch daran, Rasch darauf! Rüstig, Gesell! Dunkel aus Grundes Nacht Kommt's uns zum Schlag;
Hammers und Feuers Macht
Treibt's blank zu Tag,
220 Blank, daß sich klar und rein
Spiegelt der Himmel drein.
Risch daran, rasch daraus! Rühr dich, Gesell!
Und so zur Nacht hinab, Oder hinan, Himmelwärts übers Grab
Wieder macht's Bahn.
Wahl' dir das Beste hier: Heute mir, morgen dir!
Risch daran, rasch hinaus!
Schwerttod ist schön. Das Lied gefiel Raimund.
Er war neugierig die Sänger zu
sehen, und ging rasch durch das Felsenthor in die Höhle hinein.
Hier standen drei Knechte am Ambos und schlugen mit mächtigen Hammern wacker drauf los, daß die Funken weit umher sprühten.
Seitwärts aber saß ein Mann von schwarzem finsterm Ansehn, der silberne Aierathen mit kleinen Hämmerchen und Meißeln kunst
reich ausarbeitete.
Den hielt Raimund für den Meister, trat also
zu ihm und begrüßte ihn freundlich.
Der Meister sah ihn scheel von der Seite an, erwiederte seinen Gruß nicht, sondern arbeitete fort.
Raimund erhob seine Stimme, in der Meinung, daß jener vor dem Getöse ihn nicht recht gehört habe und rief zum andernmale.
„Guten Abend, lieber Meister!"
221 Da fuhr der Meister zornig auf und winkte seinen Knechten, Die ließen alsbald ihre Arbeit liegen, einer von ihnen machte sich
an Bolko, ergriff ihn bei den Schultern und schob ihn behend zur Höhle hinaus, die beiden andern aber faßten Raimunden unsanft
an den Armen an, willens ihm ein Gleiches zu thun.
Doch jetzt
ergn'mmte Raimund über den schnöden Empfang, machte sich schnell
die Arme frei, packte die beiden Knechte mit gewaltiger Faust, und
warf sie zur Erde, daß der Boden dröhnte;
dann ging er auf
den Meister zu, der aufgesprungen war und einen großen Hammer
ergriffen hatte, unterlief ihn flink,
faßte ihn beim Kragen und
schleuderte ihn an die Felswand, daß ihm alle Gebeine erkrachten.
Dabei schrie er mit donnernder Stimme. Meister!"
„Guten Abend, lieber
Und da jener, von der Wand abprallend, ihm wieder faßte er ihn abermals,
entgegentaumelte,
schleuderte ihn wieder
zurück, und indem er sein: guten Abend, lieber Meister! wiederholte,
machte er sich bereit, ihn also auch zum drittenmale zu empfangen. Da schrie der Meister schnell: „Schön Dank! Laßts gut seyn.
Ich habe es schon gehört."
Schön Dank!
Und Kopf und Schul
tern reibend, setzte er hinzu: „Das muß wahr seyn, ihr habt eine besondere Art zu grüßen!"
„Ländlich, sittlich!" erwiederte Raimund. Vater oft gesagt.
„So hat mir mein
Nach euerm Empfang meinte ich, es wäre hier
der Gebrauch so." Der Meister Schmidt lachte laut aus.
„Ihr gefallt mir nicht
übel, junger Gesell," sprach er, „und scheint mir mein Mann zu
seyn.
Was wollt ihr von mir?"
Raimund
brachte
ihm nun seinen freundlichen Gruß vom
Meister Ezzelino, und trug ihm dann bescheiden fein Begehr vor. „So- so!” rief Meister Welf, „von dem kommt ihr! Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?
Das Feuer theilt einem, der
immer damit zu schaffen hat, leicht etwas von seiner Natur mit, macht verdrüßlich und zum schnellen Zorn geneigt.
Auch treibt
sich hier im Walde mancherlei Volk umher, und ihr, nehmt mirs nicht für ungut, mit euerm Bärenfell um die Schultern, und der
Krummbeinige da mit seinem verrosteten Panzerhemd, ihr saht mir beide ein wenig verdächtig aus. den.
Nun, dafür soll aber Rath wer
Die beste Rüstung, die ich habe, steht euch zu Dienst.
Ich
meine, ihr werdet sie mit Ehren tragen, und meiner Arbeit keine
Schande machen.” Mit diesen Worten zündete er eine Fackel an, und führte Rai
munden in eine anstoßende Felsenhöhle.
Da hingen nun Rüstungen
und Waffen von mancherlei Art und Gestalt umher.
Dem jungen
Kämpen schlug das Herz vor Freude bei dem Anblick.
Welf hieß ihn wählen.
Meister
Er wählte sich nach langem Besehn und
Ueberlegen endlich eine schöne blau angelaufene Stahlrüstung mit silbernen Nägeln und Verzierungen.
Der Meister bestand darauf,
er solle gleich versuchen, ob sie ihm gerecht sei, und Bolko ward herbeigeholt, seinen Herrn zu wappnen.
Und als nun der junge Held von den Schultern bis auf die Füße herab ganz gerüstet hoch und herrlich vor ihnen stand, und
das lichtbraune Haar in unmuthigen goldenen Wellen und Ringeln ihm vom Haupte herabfloß und die Augen ihm in der Freude sei-
223 nes Herzens leuchteten und strahlten wie das aufgehende Zwillings -
gestirn, da konnten sie beide nicht satt werden, ihn zu betrachten, und Meister Welf sagte: „Wahrlich, der junge Gesell steht schön
und stattlich aus wie ein Königssohn, und weiß ich ihn mit Nie mand zu vergleichen, als mit Prinz Gundibert, des jetzigen Königs Bruder, da er noch lebte und jung war.
Er ging und
brachte einen
trefflichen Helm herbei.
Eine
kunstreich gearbeitete silberne Schlange ringelte sich oben über die
Wölbung hin. Als Raimund die Schlange erblickte, rief er freudig: „Das ist ein gutes Zeichen, Meister, daß ihr mir grade diesen Helm bringt:"
Und er erzählte ihm nun, in welcher Absicht er sich aufgemacht, und wie er jetzt nach den blauen Bergen gegen Morgen ziehe, um sich dort zuvor das Schwert zu holen, mit welchem er zu sie
gen hoffe. „Wahrlich," sagte der Schmidt, „ihr habt nichts Geringes
unternommen, doch scheint ihr mir grade der Mann unter Tausen den, dem es vielleicht gelingen möchte.
Ruht euch nur diese Nacht
bei mir aus: morgen will ich euch den Weg beschreiben, den ihr
zu nehmen habt. linos Rechnung."
Die Rüstung übrigens geht auf Meister Ezze-
224 /untres Kapitel.
Das zweite Abenteuer. Thorhilde und die Waldkönigin. Als Raimund am andern Morgen zur Abreise gerüstet aus der Höhle trat, fand er zwei gesattelte Rosse zu seinem Gebrauch.
„Das geht Alles auf Meister Ezzelinos Rechnung," antwortete
der Schmidt auf seine Frage.
„Die Zahlung ist mir gewiß."
Hierauf wies er ihn mit kurzen Worten an, wie er ein Roß zu besteigen und zu führen habe, und obgleich Raimund noch nie
mals zu Pferde gesessen hatte, wußte er sich doch sehr bald darin zu finden, und tummelte den muthigen Braunen wacker auf dem
Rasen hin und her.
Dann nahm er freundlich Abschied von Mei
ster Welf und trabte mit seinem Knappen frisch in den Wald hinein. Sie ritten immer so fort, wie ihnen der Weg bezeichnet war^
Meister Welf hatte ihnen verheißen,
daß sie noch vor Sonnen
untergang aus dem Walde kommen sollten.
Allein die Sonne ging
unter, die Nacht brach ein, und noch immer zeigte sich des Wal des kein Ende.
„Aus dem Walde kommen!" sich was!
brummte Bolko.
Wir kommen immer tiefer hinein.
„Ja, hat
Wenn wir nur
noch acht Tage so drin herumreiten, so mögen wir von Glück sa
gen.
Vielleicht finden wir in unserm ganzen Leben keinen Ausgang.
Ich hab' mirs gleich gedacht.
Der Meister Welf läßt euch den
kräftigen guten Abend von gestern nicht so hingehen.
in welchen höllischen Abgrund uns dieser Weg führt!"
Wer weiß,
225
„Still!” rief Raimund und hielt sein Pferd an. „War mirs doch, als hört' ich das Hifthorn von der Oedenburg!” Bolko seufzte: „Ach, du gute Oedenburg! Ich wollte, ihr hättet recht gehört, und wir wären zu Hause!” Indem hörten sie in der That ganz deutlich den Klang eines Hifthorns in der Ferne. Bald gesellte sich Hundegebell und wildes Geschrei dazu , und der Lärm kam immer näher. „Gebt eurem Pferde die Sporen!” schrie Bolko. „Macht, daß wir fortkommen. Das ist die heidnische Waldkönigin Diana, die alleweile mit ihren Strigholdcn und anderm heidnischen Weibs volke das nächtliche Reiten anstellt durch ihr Gebiet. Kommt ihnen ein Christenmensch in den Weg, so ist er verloren! — Macht fort, reitet zu, daß wir ihr noch entwischen!” Allein Raimund meinte, das sey nicht noth. Wie Vater Wolfgang ihm oft gesagt, hätten die bösen Geister keine Gewalt über den, der sich selbst keiner bösen That bewußt sey, noch böse Gedanken in sich hege, und so wolle er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einmal solchem nächtlichen Unwesen in der Nähe zuzusehen. Sie waren unter diesen Reden ganz langsam fortgeritten, und kamen jetzt auf einen freien Platz. Da hörten sie plötzlich raschen Huffchlag hinter sich, sahen etwas Weißes durch die Bäume schim mern, und erkannten endlich bei dem schwachen Dämmerlichte, wel ches der Tag noch zurückgelaffen hatte, eine weibliche Gestalt auf einem weißen Pferde. Das kam in gestrecktem Laufe grade auf sie zu. „Das ist sie! das ist sie!” schrie Bolko. „Gott steh' uns bei!” 15
226 Raimund wandte sein Pferd und hielt. Als die Reiterin ganz nahe gekommen war, hielt sie gleichfalls ihr Roß an, sprang herab, und indem sie sich vor Raimunden
auf die Knie warf, flehte sie ihn mit rührender Stimme um Hülfe
und Schutz vor ihren Verfolgern an. „ Das ist euch gewährt, Jungfrau! ” sprach Raimund. „ Steigt
nur wieder zu Pferd und haltet euch dicht bei mir.
Mit Gottes
Hülfe denk' ich euch zu beschützen gegen jedermann."
Er hatte kaum ausgesprochen und die Jungfrau kaum Zeit, nach seinem Geheiß zu thun, da war der höllische Lärm, den sie
von fern gehört, auch schon ganz nahe; von allen Seiten brach es
durch die Gebüsche; der ganze Platz füllte sich mit wunderlichen
Gestalten an.
Es waren, so viel sich erkennen ließ, lauter Weiber,
die auf Pferden, Hirschen, Einhörnern und sonst auf abenteuer lichen Thieren einherrüten.
Sie umringten Raimunden mit ent
setzlichem Lärmen und Geheul und schrien: „Gieb sie raust
sie raus!"
Gieb
Mitten durch das Gewimmel aber sprengte auf einem
schwarzen Rosse eine hohe stattliche Frau daher.
Sie war grün
gekleidet; auf ihrem Haupte trug sie einen halben Mond von kost
baren Steinen, wie es schien, und dieser strahlte mit so hellem
Lichte, daß er den wirklichen Mond am Himmel darin noch ülbertraf, und weit umher Alles erleuchtete. „Wohin gehst du?" sprach sie zu Raimunde
du, schöner Knabe, Heldensohn? Tod.
Kehre um!
Kehre um, komm mit mir.
„Wohin-willst
Du gehst in deinen
Glück und Ruhm verheiß ich
227 dir, wie Keiner noch besessen hier auf .Erden.
Schöner Knabe,
Heldeusohn, König dereinst, komm mit mir! ” Raimunden war nicht anders zu Muthe, als ob die Stimm?
tief in sein Innerstes dränge und fein Herz auflöste in Lust und Sehnsucht; und als er ihr, die sprach, ins Gesicht schaute, ver mochte er seine Augen nicht mehr abzuwenden, er fühlte sich wie
trunken und taumelnd, eine wunderbare Gluth brannte in seinen Adern, und halb bewußtlos, wie er war, kam es ihm vor, als ob die Blicke, die die schöne Jägerin aus ihren dunklen Augen auf
ihn schoß, ihn mit einem feurigen Netz umwebten und umstrickten, und ihn mit Gewalt hinüberzögen zu ihr.
Da drängte sich die Jungfrau ihm zur Seite hart an ihn und ergriff ängstlich seine Hand, ihn mit sich fortzuziehen.
Halb
unwillig wandte er sich nach ihr; doch als er in das bleiche und
doch so schöne Gesicht sah, und in die blauen Augen, die so flehend nach ihm
aufblickten, da fühlte er sich plötzlich im Innersten ver
wandelt;
er wußte nicht wie es kam, daß ihm seine Mutter
siel, wie
sie oft mit den milden blauen Augen ihn so freundlich
und doch
so wehmüthig angesehn, und er faßte schnell nach der
ein
Alpenrose von ihrem Grabe, die er in seiner Schärpe verwahrt
trug, und zog sie hervor, und in dem Augenblick war es, als ob ein Sturmwind unter den Haufen führe, der ihn umgab.
Mit
entsetzlichem Geheul und Geschrei stäubte er auseinander, und Rai mund, von plötzlichem Grausen erfaßt, nahm das Pferd der Jung frau beim Zügel und sprengte mit ihr davon,
umzusehn.
ohne sich weiter
S28 Ein gräuliches Ungewitter erhub sich und tobte hinter ihnen
her mit Sturm und Hagel, Donnern und Blitzen, und durch daS
Toben hindurch vernahmen sie das Geschrei und Geheul der Wei
ber, die sie verfolgten, und da Bolko nicht so rasch nachkommen konnte, siel er ihnen in die Hände und sie setzten ihm mit Stoßen
und Schlagen, Zwicken und Kneipen so mörderlich zu, daß er vor Angst lauter schrie und brüllte, als alle die Weiber mit einander.
Endlich ward der Wald lichter; bald erreichten sie das Freie und hielten an.
Bolko stürzte athemlos herbei, Roß und Reuter
mit Schweiß und Schaum bedeckt. „Nun, junger Herr" schrie er, „ihr werdet an euern Für
witz gedenken, wie ich!
Und solltet ihr die Geschichte jemals ver
gessen, so habt ihr an mir ein stetes Erinnerungsbuch bei euch;
denn auf meiner Haut steht sie wie auf einem alten Pergament mit blauen Buchstaben so deutlich und nachdrücklich geschrieben,
daß sie die Engel, die mit der Posaune zum jüngsten Tage blasen, noch darauf werden lesen können." Er begann darauf im Weiterreiten nach seiner Art auf den
Schmidt sowohl als Meister Ezzelino zu schimpfen, und beide zu verwünschen, bis ihn ein heftiger Blitz und Donnerschlag schnell
zum Schweigen brachte.
Bei dem Blitze aber wurden sie gewahr, daß ihnen ganz nahe zur Seite aus einem Hügel eine alte Burg sich erhob mit vielen Thürmen und seltsam ausgezackten Mauern und Zinnen.
„Wenn mich nicht Alles trügt" rief die Jungfrau, „so bin
229 ich hier am Ziele meiner Reise.
Denn so ward mir die Burg be
schrieben, wo ich das finden soll, was ich suche." edler Ritter," fuhr sie fort, „daß
„Ihr sollt wissen,
ich
Thorhilda heiße und eine Tochter des Königs bin, der dieses Land beherrscht."
„Des Königs Giselherr?" rief Raimund mit Verwunderung.
„Desselben!" erwiederte Thorhilda.
„Wenn ihr seinen Na
men kennt, so kennt ihr auch ohne Zweifel fein unerhört entsetzliches Schicksal.
In
ausgezogen.
der Hoffnung,
es wenigstens zu mildern, bin ich
Denn die Herrin dieser Burg soll
im Besitze einer
Laute seyn, deren wunderbare Töne alle Schmerzen manchem bösen Zauber widerstehn.
lindern und
Durch einen Zufall kam ich
heute gegen Abend von meinen Begleitern ab, und fiel der wilden Weiberschaar in die Hände, von deren Verfolgung ihr
mich so
großmüthig befreitet."
„Nun, beim Himmel!" — rief Raimund aus — „das kann sich nicht seltsamer treffen!
Auch ich bin ausgezogen eurem Vater
zu Hülfe und Rettung." —
Und damit erzählte er ihr, wie Alles
gekommen, und unter diesem Gespräche ritten sie in die Burg.
Sechstes Kapitel.
Das dritte Abenteuer. Was sich mit Bolkon in der Burg zugetragen. Raimund
freundlich
und
sowohl
als Thorhilda waren von
liebreich
ausgenommen worden.
der Burgftau
Raimund
hatte
230 Marschen guten Rath ooit ihr erhalten, wie er zu dem Wünder-
schwerdt gelangen möchte, und Lhorhildens Schönheit und stille
Anmuth hatte schnell ihr Herz gewonnen.
Sie zeigte sich bereit
Lhk Verlangen zu erfüllen,- tirtb Raimund beschloß am andern Mor
gen weiter zu ziehen, so gern er auch noch dort geblieben wäre, vcn'tt er dachte allezeit an Vater Wolfgangs Sprüchlein: Selber,
Hintereinander und Behend, die bringen alles wohl zu End'. Bolko hatte sich's indessen wohl seyn lassen mit den drei Zwer
gen, welche die Bedienung in der Burg versahen, die sich als mun tere Gesellen zeigten und ihren Gast aufs beste bewirtheten.
bei war
Da
denn zuletzt auch das Dachsränzlein zu Rathe gezogen
worden, und hatte die lustige EUMpanschaft mit mancher Flasche
so wöhl berathen, daß sie endlich sammt und sonders mit einem güten Rausche versehen zu Bette taumelten.
Diesen mochte Bolko nun wohl noch nicht völlig ausgeschlafen
haben, als die Morgensonne, die grade auf seine Rügen schien, ihn
aus dem Schlafe weckte; denn indem er sich an den Befehl seines Herrn erinnerte, frühzeitig bei der Hand zu seyn, und in den Hof gehen wollte, nach den Pferden zu sehen, stieg er, anstatt die Treppe
hinabzusteigen, vielmehr eine Treppe hinan, und wunderte sich nicht wenig, als er hier, statt nach seiner Meinung in den Stall zu
kommen, in ein hochgewölbtes, reiches Gemach trat.
Spiegelblanke
Säulen von Marmor standen ringsum an den Wänden, und zwi
schen den Säulen riesengroße Bilder von Erz und Stein.
Bolko
betrachtete alles mit Erstaunen, und dä er gegenüber noch eine halb offne Thür gewahrte, konnte er dem Verlangen nicht widere
231 stehen, sich weiter umzusehen, und trat in eine zweite Halle, die
auf ähnliche Weife, aber statt der Bildsäulen mit großen Gemäl den an den Wänden ausgeschmückt war.
Hier befand er sich nun
recht in seinem Elemente, denn fein Vater war ein Maler gewesen,
und hätte den Sohn gleichfalls zu seiner Kunst erzogen, wenn er
nicht frühzeitig weggestorben wäre.
Von daher blieb Bolko indeß
allzeit eine große Neigung zur Malerei. Er lief nun hier mit einem besondern Vergnügen vor den
herrlichen Bildern aus und nieder, und wußte gar nicht, wo er an fangen sollte zu schauen.
In dieser Unruhe stieß er auf die Thür
zn einem dritten Gemache, öffnete sie gleichfalls, und sah sich nun mitten in einer großen Malerwerkstätte, auf der Wand ihm gegen
über aber ein treffliches Gemälde von vielen Figuren in ganz ver alteter Tracht, dessen Farben jedoch so lebhaft und frisch waren, als hätte der Meister
eben
erst die
letzte Hand
daran gelegt.
Allein zu seiner Verwunderung bemerkte er in der Mitte desselben einen ganz leeren weißen Raum: das kam ihm sehr seltsam und
fast ärgerlich vor, und je länger er das Bild betrachtete, desto
ärgerlicher und unerträglicher ward ihm der weiße Fleck, und er fühlte eine große Begier, diesem häßlichen Uebelstand abzuhelfen, so
daß er endlich schnell nach einem Pinsel griff, und sich einige Far
bentöpfe zusammentrug, um den Fleck zu übermalen.
Da er nun
dabei einem großen Spiegel gegenüber kam, und sich selbst darin
erblickte, fiel er auf den Gedanken, sein eignes Bild in dem lee ren Raume auzubringen, welches er auch auf der Stelle ins Werk
setzte.
232 Die Arbeit ging ihm über die Maaßen gut von statten; der
Pinsel flog in seiner Hand, und in kurzer Zeit sah er sein wohl
getroffenes Ebenbild in Lebensgröße vor sich stehn. er nun großes Vergnügen.
Darüber spürte
Er beäugelte das Bild von allen Sei
ten mit Wohlgefallen, und trat endlich auch vor den Spiegel, um eS darin zu betrachten, wie die Maler pflegen.
Hier kam es ihm
noch weit schöner, ja in der That fast als wie lebendig vor, und er
nickte
Gruß zu.
ihm
in der Freude seines Herzens
Doch siehe!
Bild wieder zurück. daß ihn
einen
freundlichen
Da bäuchte ihm auf einmal, als nicke daS
Ein wenig erschrocken und in der Meinung,
der Spiegel getäuscht,
kehrte er sich schnell um, ging
einige Schritte gegen das Bild, blieb dann stehen und wiederholte seinen Gruß.
Und siehe!
Das Bild fing an die Augen zu drehen,
verzerrte das Geficht zu einem freundlichen Grinsen und nickte ganz
deutlich dreimal mit dem Kopfe. Darüber kam Bolko doch ein Grau
sen an, es lief ihm kalt über den Rücken, und er zog sich langsam, die Augen immer gegen das Bild gewendet, nach der Thüre. Allein
so wie er zurückwich, fing auch das Bild an Arme und Beine zu
bewegen, als wollte es ihm folgen; zu gleicher Zeit wurden auch die andern Figuren an der Wand lebendig, regten die Glieder und nick
ten mit den Köpfen, und endlich schritten sie alle mit einander,
Männer, Weiber^ und Kinder, wirklich aus der Wand heraus und
grade auf Bolko
zu.
Dieser rannte nun voll Entsetzen nach der
Thür, und glaubte sich durch die Flucht von der ungebetenen Be
gleitung los zu machen; allein als er in die anstoßende Gemälde
halle stürzte, waren dort die Figuren aus den Wandbildern sämmt-
233 lich auch schon in voller Bewegung und kamen ihm entgegen und
nickten mit den Köpfen.
Zugleich hörte er die aus dem ersten
Zimmer hinter sich her schlürfen und rascheln, und erblickte dicht neben sich sein Ebenbild, welches alle seine Bewegungen und Ge berden wie ein Spiegel aufs getreuste nachahmte oder vielmehr zu
gleicher Zeit mit ihm machte.
Das brachte ihn nun vollends au
ßer sich.
Halb bewußtlos ohne Athem sprang er in das folgende
Gemach.
Aber, o Entsetzen! auch hier stiegen die Riesenbilder von
Erz und Stein eben von ihren Fußgestellen, marschirten in bester
Ordnung, mit schweren Tritten, tapp! tapp! daß die Fenster klirr ten, nach dem Ausgang, stellten sich dort in einer langen Reihe vor die Thür, so daß an kein Entwischen zu denken war, und begrüß
ten Bolko gleichfalls mit langsamem feierlichem Kopfnicken.
In der Todesangst rannte er nun hin und wieder, sein Con-
terfey immer mit ihm, und suchte nach einem Ausweg und konnte keinen finden, und von der andern Seite her raschelte und schlürfte die gemalte Gesellschaft ihm immer näher auf den Leib und warf ihm entsetzliche Blicke zu, während dort die großen blinden Augen
der Bildsäulen ihn auf eine fast noch gräßlichere Weise anstarrten. Endlich da er sich nicht mehr zu retten noch zu helfen wußte,
warf er sich platt auf den Boden nieder und sing aus allen Lei
beskräften an um Hülse zu schreien. Unter dieser Zeit hatte Raimund, zur Abreise gerüstet, seinen
Knappen überall vergebens gesucht und gerufen, bis er endlich das gewaltige Tapp!
Tapp!
über sich
vernahm,
wovon die ganze
Burg erdröhnte, und bald darauf auch Bolkos Geschrei hörte.
So-
234 gleich lief er die Treppe hinan, und die Burgfrau, die das Vorgegangme zu ahnen schien, folgte ihm nach.
Hier erblickten sie nun mit Erstaunen das wunderliche Schau
spiel.
Die Burgfrau aber sprach mir feierlicher Stimme:
„Traum von Farben, Erz und Stein, Scheinen sollst du nur, nicht seyn!"
und berührte eines der steinernen Bilder mit einem kleinen Maler stäbchen, das sie in der Hand trug.
Sogleich stob die ganze Ver
sammlung aus einander; die Bildsäulen standen im Nu wieder auf
ihren Fußgestellen, und die andern Gestalten nahmen ihre Plätze wieder in den Wandgemälden ein wie zuvor.
Allein nicht so geschah es mit Bolkos Ebenbilde.
Die Burg
frau berührte es umsonst mit ihrem Stäbchen; es bezeigte nicht dir geringste Lust, sich wieder an seinen Platz zu verfügen, sondern
begleitete Bolko auf allen Tritten und Schritten und stieg endlich
mit ihm sogar
die Treppe
hinab in den Hof,
wo die Pferde
bereits gesattelt standen. „Wohl! Wohl!" sagte die Burgfrau lächelnd, „ich merke, wer du bist.
Du wirst dich nun schon drein ergeben müssen, Bolko.
Ich kann dir nicht helfen."
Bolko aber, als er die Pferde sah, dachte sich doch vielleicht noch selber zu
helfen.
Als daher Raimund Abschied genommen
hatte von der Burgfrau und von Thorhilden,
und
eben aufsitzen
wollte, da sprang jener auf einmal wie der Blitz auf sein Pferd
und jagte davon in der Meinung, daß sein Conterfey ihm so schnell nicht würde folgen können.
Doch indem er sich nach ihm umsehm
235 wollte, wo es geblieben, da saß es auch schon wicher hinter ihm
und grinste ihm freundlich über die Schulter entgegen.
„Run denn," schrie er, indem er vom Pferde h-rang, — „beim heiligen Antonius, der in seiner Wüste nicht tolleres Zeug
erlebt hat, als ich heute, ich ergebe mich!
Ist es mir in Zeit
von 40 Jahren gelungen mich an mich selber zu gewöhnen, ja
sogar mich recht leidlich lieb zu gewinnen, so kann es mir wohl auch mit dir so gehen, der du ja mein Bruder und zugleich mein Sohn bist.
Der Himmel gebe mir nur gehörige Zeit dazu."
Lachend befahl
die Burgfrau noch
ein Pferd hcrbeizufühten
für Bölkos Conterfey, lachen- erfüllten die Zwerge den Befehl und
lachend trabte Raimund mit seinem Bolko Nummer 1 und Bolko Nummer 2 zum Thore hinaus.
Siebentes Kapitel. Das vierte Abenteuer. Wie Raimund sich das Schwert gewinnt. Der Tag ging auf die Neige, als Raimund mit seinen zwei
Knappen von einer Anhöhe herab die blauen Berge ganz nahe vor
sich liegen sah. In tausend und aber tausend einzelnen Klippen, Säulen, Pfei lern und Thürmen starrten die grauen Felsen zum Himmel empor
wie Trümmer einer ungeheuren Riesenstadt, Raimund ritt grade
darauf zu und folgte einem Wege, der in das Innere dieses Fel
senwaldes zu sichren schien.
Immer nackter und schroffer wurde
236
das Gestein, immer seltsamer seine Gestalten, so daß es bald mit mancherlei Thieren, bald selbst mit Menschen zu vergleichen war. Endlich gelangten sie auf einen runden Platz, der ringsum mit einer steilen, glatten Felswand umgeben war und keinen andern Aus weg zu haben schien, als den, durch welchen sie kamen. Zhnen gegenüber rauschte ein starker Bach wie ein breiter Waffervorhang an der Steinwand hoch herab. „Nun, wie weiter, Bolkochen?" sprach Bolko zu seinem Eben bilde, an dessen Begleitung er sich bereits so weit gewöhnt hatte, daß er anfing allerlei Possen mit ihm zu treiben. „Sprich doch nur endlich einmal ein Wort! Ich kann solche stumme Gesellschaft nicht leiden, und du schlägst wahrhaftig ganz aus der Art, mein Söhnchen." Aber jener, ob er gleich wie gewöhnlich die Lippen bewegte, so lange als Bolko sprach, brachte er doch keinen Laut aus sei nem Munde. „Hier durch das Wasser geht unser Weg!" rief Raimund, und ohne weiter aus Bolko zu hören, der ihm die Unmöglichkeit vorstellte, ritt er gerade mitten in den Wasservorhang hinein. Bolko hatte keine Lust, allein zurück zu bleiben, und mußte sich also entschließen, ihm zu folgen. Sie kamen alsbald in eine schmale Kluft, die hinter dem Wasser durch den Felsen ging, und sahen nach einer Weile wieder den blauen Himmel über sich. Doch war ihnen dadurch nicht viel geholfen, denn sie bemerkten bald, daß der Platz, auf dem sie sich befanden, gleichfalls rund um eingeschloffen war und nirgends wei-
237
ter einen Ausgang zeigte. Vergebens untersuchte Raimund den ganzen Umkreis genau: bis zu einer Höhe von mehr als hundert Ellen hinauf war das Gestein überall so steil und glatt wie eine Mauer. „Nun, hier hat die Welt ein Ende," rief Bolko, „und hof fentlich auch unsre Reise! Laßt uns nur gleich umkehren. ES ist nicht anders; wenn nicht etwa Meister Ezzelino der Taschenspieler kommt und uns auf der Stelle in Vöglein verwandelt, so müßt ihr euch schon drein ergeben. — Aber seht nur, wie wunderlich!" fuhr er fort, „ich spreche vom Meister Ezzelino, und da sitzt er ja leibhaftig vor uns." — Er zeigte bei diesem Worte auf einen mächtigen Felsenberg, der sich im Hintergründe ihnen gegenüber bis in die Wolken erhob, und Raimund fand in der That, daß der Berg ganz so aussah, wie ein in Stein gehauenes ungeheures Riesenbild von Meister Ezzelino. Sogar das rothe Spitzbärtlein war nicht vergessen. Indem sie aber noch mit Erstaunen das seltsame Naturspiel betrachteten, und ihnen die einzelnen Züge des Bildes immer deut licher hervortraten, kam es ihnen auf einmal vor, als ob der Kopf desselben anfinge sich zu bewegen, und in demselben Augenblicke löste sich ein gewaltiger Felsblock ab, der die Nase vorstellte, und wohl so groß war wie ein Haus, und fiel krachend herunter. Der Kopf selbst folgte bald hinterdrein, Hände und Arme lösten sich gleichfalls, und endlich stürzte die ganze Gestalt mit einem ent setzlichen Donnergepraffel in sich zusammen. Raimund und seine Gefährten konnten sich kaum vor den Felsenstücken retten, die bis
238 zu ihnen herabgerollt unt> gesprungen kamen und wurden von einer
Wolke von Sand und Staub so dicht eingehüllt, daß Keiner den
Andern sah.
Als sich diese aber nach einer Weile wieder zertheilt
hatte, bemerkte Raimund alsbald zu seiner großen Freude, daß nun über die
die Trümmer des
zusammengestürzten Berges
hinweg
schroffe Felswand ganz bequem zu ersteigen seyn würde; er
sprang daher vom Pferde, hieß Bolkon ein Gleiches thun, und schritt,
Meister Ezzelino laut preisend, über die Felsblöcke, wie über eine
Treppe, schnell hinan. Hier verwandelte sich nun auf einmal der Schauplatz.
Sie
meinten aus dem Leben plötzlich in das starre Reich des Todes
versetzt zu seyn.
Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm war
zu sehen; nicht einmal ein dürftiges Moos hatte sich an die zakkigen, schwarzen Klippen gewagt, die gleich den Schlacken einer
in Feuer aufgegangenen Welt um sie her standen.
Rothe und
gelbe Schwefelkrystalle schauten aus den Ritzen des verbrannten Ge
steins wie grelle Flammen aus der Nacht. Am desto mehr verwunderten sie sich, als sie bald darauf an
dem Eingang einer Höhle einen Baum stehen sahen, der zwar keine Blätter, an seinen nackten Zweigen aber die schönsten goldfarbnen
Früchte trug.
Bolko konnte dem Gelüste nicht widerstehm, von
den herrlichen Früchten zu kosten, und obgleich Raimund ihn warnte, pflückte er einige ab und aß.
Sein Conterfey that desgleichen,
und verdrehte die Augen und schmatzte vor Vergnügen, und siehe
da!
auf einmal rief eS mit lauter Stimme:
schmeckt!"
„Ach! Ach! das
239 Raimund und Volks erstaunten nicht wenig, daß ihr stummer
Gefährte so plötzlich zur Sprache gelangt war; dieser aber fuhr
fort zu schmatzen und zu schwatzen, und Volks freute sich darüber, weil er nun, meinte er, jemand hätte, mit dem er sich unterhalten
könne,
wenn sein Herr nicht auf ihn hören wollte.
Allein ferne
Freude verkehrte sich bald in Verdruß: so oft er ansing zu sprechen,
ließ ihn jener gar nicht mehr
zu Worte kommen, ja er wurde
bald gewahr, daß sie die Rollen gänzlich mit einander vertauscht hatten; denn anstatt daß sein Ebenbild bisher ihm alle seine Be wegungen nachgemacht hatte, so fühlte er sich jetzt im Gegentheil zu seinem großen Schrecken gezwungen, selbst alles zu thun, was jenes that.
Davon erhielt er bald den deutlichsten Beweis.
nämlich Raimund
sich anschickte in
die Höhle hinab zu
Als
steigen,
grausete Bolkon vor der Finsterniß darin, und er wäre hier gern
zurückgeblieben, hatte auch bereits die Erlaubniß dazu von seinem Herrn: allein da Bolko Nummer 2 immer munter vorwärts schritt, fühlte Bolko Nummer 1 trotz aller Gegenrede, trotz allem Fluchen
und Schimpfen, seine Füße wider Willen fortgezogen, und mußte jenem folgen in den schwarzen Schlund hinab.
Hier gingen sie nun im Finstern wohl eine Stunde lang im
mer steil bergab.
Endlich wurde es heller um sie her; ein bläuliches
Licht erfüllte die ungeheuren -Gervölbe, ohne daß sie sahen, wo es herkam; und bei diesem Schimmer wurden sie inne, daß die Wände
neben ihnen, und die Decke über ihrem Haupt, und der Fußboden, auf welchem sie gingen, ganz und gar aus Lodtengebeinen bestanden.
Große Hausen davon lagen überdies noch hier und da am Wege.
240 „Hier liegt die alte Heidenwelt begraben!" sagte Bolko der Zweite.
Und fie gingen immer weiter bis an ein hohes eisernes
Thor, das Raimund nicht zu öffnen vermochte.
Schwert und schlug dagegen.
Er zog daher sein
Es gab einen lauten Klang, der
weithin durch die Klüfte dröhnte, und im Augenblicke kam Leben
in die Todtenbeinhaufen um sie herz sie fingen sich an zu bewegen,
rasselten und klapperten durch einander und setzten sich endlich in
unzählige Gerippe zusammen, die von allen Seiten drohend auf Raimund und seine Gefährten eindrangen.
Bolko schrie laut auf
vor Entsetzen und wollte sich hinter seinen Herrn verbergen; allein
Bolko der 2te zog den Degen und warf sich keck der andringenden Schaar entgegen, und so mußte jener trotz seiner Todesangst ihm
nach und wacker einhauen auf den Feind.
Dabei ging es nun
ohne manchen tüchtigen Puff und Schlag und ohne manche klap
pernde Ohrfeige von den Knochenhänden nicht ab, und Bolko schrie, so oft er getroffen ward, wie ein Gespießter und bat die gestrengen Herrn Todtengerippe, sie möchten doch barmherzig seyn und es ihn nicht entgelten lassen; er könne ja nicht dafür, und müsse thun,
was jener verdammte Kobold thäte!
Indeß fing zu Raimunds Füßen der Boden an zu wanken,
und theilte sich empor, und aus der Tiefe stieg ein bleiches Riesen haupt mit einer eisernen Krone, das schüttelte sich die Erde aus
den grauen struppichten Haaren, that die Augenlieder auf, starrte Raimunden mit halb gebrochenen Augen an und sprach mit dumpfer, heiserer Stimme: „Warum störst du mich im Schlaf?"
Und da
R-imund, doch ein wenig entsetzt, nicht gleich zu antworten ver-
241 mochte, ho- sich die Gestalt immer höher aus ihrem Grabe, und
er sah, daß sie mit einem Panzerhemd von Lodtenbeinen and eiser nen Wetten bekleidet war;
in ihrer Rechten trug sie einen Wurf
Raimund ermannte sich und rief: „Gieb das Schwert her
pfeil.
aus, das hier verborgen liegt, denn ihm ist bestimmt zu herrschen auf der Erde!" und drang
dabei muthig auf die Gestalt ein.
Doch als er sie mit der Spitze seines Schwerts berührte, fühlte er plötzlich seinen Arm gelähmt, es ward ihm dunkel vor den Äu
gen, seine Knie zitterten, er bebte zurück, und die Gestalt schwang hohnlachend den Wurfpfeil, um ihn zu durchbohren; da war ihm
plötzlich, als hörte er die Stimme seiner Mutter, die ihm Muth
einsprach, und schnell riß er die Alpenrose von ihrem Grabe aus der Schärpe;
Muth
und Leben kam in seine Brust zurück,
er
unterlief den geschwungenen Pfeil, berührte die Gestalt mit seiner
Rose,
und im Augenblick war sie versunken und verschwunden;
rasselnd stürzten zu gleicher Zeit die Gerippe hinter ihm zusammen
und vor ihm sprang die eiserne Pforte weit auf.
Er trat in eine weite Halle von grauen Basaltpfeilern ge bildet und sah in der Mitte derselben eine eherne Truhe stehen,
worin, wie er wußte, das Schwert verwahrt lag, das er suchte. Schnell ging er darauf zu und faßte den Deckel.
Doch in dem
Augenblick erschallte ein über alle Maaßen entsetzliches Wehgeschrei von allen Seiten, rothe Blitze fuhren prasselnd aus dem Boden
und sprangen von der Decke herab,
Donnerfchläge krachten um
ihn her, die Erde bebte, gräßliche Gestalten rauschten an ihm vor über und gellten ihm ihr furchtbares Weh! in die Ohren.
Fast
242 wollten ihm die Sinne vergehen, dennoch aber hob er muthig den
Deckel auf, und faßte nach dem Schwert, das wie ein Kreuz ge
bildet war, und auf seiner Klinge gleichfalls ein goldenes Kreuz eingeschlagen trug; indem er es aber ergriff, geschah ein gewaltiger Schlag, der Boden versank rings um ihn, die Gewölbe stürzten ein, er stand in schwarzer Finsterniß und dumpfer und dumpfer
scholl das Krachen der Felsentrümmer zu ihm herauf, die in den Abgrund hinabrollten.
Endlich ward es ganz still, still, daß er
das Klopfen seines Herzens hören konnte. —
So stand er eine
Weile fast betäubt; dann fühlte er mit dem Schwerte nach allen Richtungen um sich her und ward gewahr, daß er auf einer schrof fen Felsenspitze stand, rings um ihn herum der Abgrund, so daß
er an der Möglichkeit verzweifelte von hier zu entkommen, und
dem langsamen, qualvollen Tode entgegen sah in dieser gräßlichen Einöde.
Da fing auf einmal die Alpenrose, die er noch in der
Hand trug, mit einem rosenfarbenen Schimmer zu
leuchten an,
und bei dem Schimmer sah er, daß in geringer Liefe unter ihm zwei Basaltpfeiler beim Zusammenstürzen sich aneinander gelehnt hatten, und so eine schmale Brücke über den Abgrund bildeten.
Freudig und muthig stieg er hinab, und betrat die Brücke, die
kaum einen Fuß breit war.
Unten in der Liefe begann es von
neuem zu rauschen und zu toben, graue Schatten schwirrten vor ihm hin und her,
langten und schnappten nach ihm, und suchten
seine Blicke zu verwirren, und zu gleicher Zeit war es ihm, als
hörte er Wolfgangs und Thorhildens Stimme, die ihn drunten
um Hülfe riefen.
Er ließ sich aber nicht irre machen, hielt die
243 Augen fest auf seinen schmalen Pfad geheftet, und gelangte so glück
lich auf die andere Seite.
Dort war er nicht lange gegangen,
als er seine beiden Gefährten antraf, die ihn schon verloren ge
geben hatten.
Sie erreichten den Ausgang der Höhle, sanden ihre
Roffe wieder und trabten nun wohlgemuth ihren Weg gerade nach der Burg des Königs Giselherr.
Achtes Kapitel.
Beschluß. Als Raimund das stattliche Gebäude auf seinem Hügel vor sich liegen sah,- da schlug ihm das Herz vor freudigem Muth und Er
wartung. Thorhilda empfing ihn, und indem sie ihn zum Könige führte, erzählte sie, daß es ihr zwar gelungen sey durch die wundervollen
Töne der Laute ihres Vaters Schmerzen zu lindern, ja sogar ost
ihn damit in einen kurzen Schlummer zu lullen, daß aber nach wie vor die beiden Schlangen sich jede Nacht einstellten zu dem
entsetzlichen Mahl, und der alte König mit Sehnsucht ihm entgegen sehe, als auf den seine letzte Hoffnung gestellt sey. Raimund fand
den König beim Banket von vielen Rittern
und Frauen umgeben.
Der Becher ging fleißig um und eine lustige
Musik ließ sich dazu hören z
denn auf diele Weise suchte der Kö
nig sich zu betäuben und die schrecklichen Nächte zu vergessen, die
seiner harrten.
Mit Thränen hieß er seinen Kämpfer willkommen
und eine freudige Nöthe stieg auf seine bleichen-abgezehrten Wan16*
244 gen, indem er Raimunds jugendliche und doch so stolze kräftige Gestalt betrachtete und das Schwert mit dem Kreuze in seiner
Hand sah.
Er verlangte, daß er erst einige Tage ausruhen und
Kräfte sammeln sollte zum Kampfe, allein Raimund, den die Thrä nen des Königs auf dem Herzen brannten und der wieder an Wolf
gangs Sprüchlein dachte:
Selbst, Hintereinander und Behend
Die bringen alles wohl zu End'.
Raimund setzte gleich dieselbe Nacht dazu fest. Und als
es begann finster zu werden, da wurden auch die
Gäste in der Halle immer stiller, und als Mitternacht heran kam,
schlich einer nach dem andern sich davon, die Musik verstummte,
die Halle ward leer, selbst die Diener des Königs verließen die Burg, und alle mit einander begaben fich auf einen nahen Hügel,
dort den Ausgang zu erwarten, und endlich war niemand mehr bei dem König als Thorhilda und Raimund.
Dieser aber ging
jetzt hinaus und befahl Bolkon, ihm seine Rüstung anzulegen, und
als dies geschehen, ging er in die große Waffenhalle, die an des Königs Gemächer stieß und die mit vielen Fackeln hell erleuchtet war: denn hier wollte er seinen Feind erwarten.
Er trat an ein Fenster,
welches die Aussicht über den Hof
hinweg in das freie Feld gab.
Dunkle Wolken zogen langsam am
Himmel hin; dazwischen schaute der Mond dann und wann- Aar
und freundlich herab.
Und als
er jetzt eben wieder hell in die
Gegend schien, wurde Raimund zwei glänzende Streifen gewahr,
245 die
neben einander über das Feld her
wie zwei
schnellrinnende
Wafferbäche auf die Burg zu kamen, und indem er noch zweifelte,
was dies seyn möchte, zeigte es sich schon ganz nahe, und er merkte nun, daß es die Schlangen waren, die ungestüm herbeischossen und
deren Schuppenhaut so im Mondlicht glänzte.
Es dauerte auch
gar nicht lange, da sah er ihre gräulichen Häupter, die sich hoch
über die Burgmauer erhoben, dann sich auf der andern Seite herab senkten, und den langen Leib schleppend nach sich zogen. hatte kaum Zeit
von
dem Fenster zurück zu treten,
Und er und sein
Schwert mit dem Kreuze zur Hand zu nehmen, da hörte er sie
schon die steinerne Treppe heraufrauschen,
als ob es eine Schaar
gewappneter Männer wäre, und auf sprang die Thür, und in
hundertfachen Ringen sich durcheinander schlingend und sich drän
gend, quollen die ungeheuren Leiber durch die Oeffnung, bäumten sich dann in die Höhe und schienen einen Augenblick zu stutzen über die ungewöhnliche Erleuchtung und über den Ritter, der sie festen
Fußes erwartete;
plötzlich aber schossen sie gräßlich zischend auf
Raimund ein, ihn zu umstricken.
Doch Raimund empfing sie mit
einem gewaltigen Kreuzhieb, der beide traf,
und obgleich sein
Schwert von ihrem Schuppenpanzer abprallte, ohne sie zu yerletzen, wichen sie dennoch allsogleich zurück, ringelten sich aber nun bald in weiten, bald in engen Kreisen mit Blitzesschnelligkeit im
mer um ihn herum, und zwangen ihn dadurch, daß er sich gleich falls rastlos bald da, bald dorthin drehen und wenden mußte, um überall mit dem Schwert ihrer
gewärtig zu seyn.
So dauerte
der Kampf lange Zeit unentschieden, bis Raimund seinen Arm matt
246 werden fühlte und immer matter; seine Brust keuchte, die Last der schweren Rüstung drückte ihn zu Boden, seine Bewegungen wur
den langsamer, und immer schneller und in immer engern Kreisen umringelten ihn die beiden Ungeheuer; endlich wurde es ihm ganz
dunkel vor den Augen, kalter Schweiß trat an seine Stirn, in
gänzlicher Erschöpfung sank er in die Knie, das Schwert glitt aus seiner Hand, wüthend schossen die Schlangen auf ihn los: er gab sich verloren.
Da, in dem Augenblick, erklangen aus dem Neben
gemach Thorhildens Lautentöne in mächtigen Akkorden; die Schlan gen horchten und standen still, und Raimund, dem die Töne neue
Lebensgluth in die Brust strömten, faßte sein Schwert, riß sich em
por, und mit starkem Willen die letzten Kräfte zusammenraffend, hieb er mit einem Streich den Ungeheuern die goldnen Kronen von den Häuptern, und hoch empor bäumten sie sich noch einmal
und stürzten dann prasselnd nieder, daß
die Mauern der'Burg
von dem Falle erbebten.
Freudig eilte Thorhilde herbei; auch Bolko,
den sein Eben
bild seit dem Eintritt in die Burg verlassen, und der sich jetzt in der Nähe versteckt gehalten hatte, kam hurtig gelaufen, und als er die Riesenleiber der Schlangen ohne Regung am Boden liegen sah,
riß er das Fenster auf, und verkündigte die frohe Mahr mit lau ter Stimme.
Da
strömten Herren
und
Diener, Männer und
Frauen mit frohem Getümmel herzu, und die ganze Burg er schallte von lautem Jubel, und so begleiteten sie Raimunden zum
König.
Dieser heftete seine Lippen voll Inbrunst auf das Schwert
mit dem Kreuze, umarmte dann seinen Ritter, legte Thorhildens
247 Hand in die stinige, und ernannte ihn vor allem Volke zu seinem
Erben und Nachfolger auf dem Throne. Doch auf einmal mitten in dem Jubel sprengten Eilboten in die Burg, traten vor den König und meldeten, daß ein feindliches
Heer in das Land gefallen, und bereits ganz in dir Nähe sey, und wie es überall seine Absicht verkünde, den König vom Throne zu
stoßen, den er widerrechtlich besitze. Auf diese Botschaft griffen Schreck und Bestürzung um sich
unter denen, die zugegen waren; und der König neigte sein Haupt auf die Brust und sprach: „DerHimmel ist noch nicht versöhnt!"
Raimund aber redete allen Muth ein und bat den König schnell
seine Mannen aufbieten zu lassen,
er selbst wolle mit den anwe
senden Rittern und allem, was in der Burg die Waffen zu tragen vermöge, sogleich hinausziehen dem Feinde entgegen, und sehen, was
vielleicht indeß mit Gott zu thun sey.
Es geschah so wie er gesprochen, und an der Spitze seines kleinen Häufleins zog er aus der Burg. Sie hatten nun eben erst die nächsten Anhöhen erreicht, da
sahen sie schon einen Theil des feindlichen Heers im Thale halten, und hinter demselben, und rechts und links zeigten sich große Staub
wolken, und daraus hervor blitzten in der Morgensonne die Waffen heranrückender Schaaren. Ein Herold ritt ihnen alsbald entgegen, und fragte an: ob sie
kämen, sich ihrem rechtmäßigen Könige zu unterwerfen? denn dieser sey im feindlichen Lager.
Und falls sie dort sich mit eigenen Au
gen und Ohren davon überzeugen wollten, biete er ihnen im Na-
248
men seines Herrn sicheres Geleit an. Doch Raimund entgegnete unwillig: „Auf eine Frage, die mit dem Schwert in der Hand an ihn gethan werde, wisse er auch nur mit dem Schwerte zu ant worten. Wenn dem feindlichen Heerführer danach gelüste, so möge er sich ihm stellen, Mann gegen Mann; dann wolle er ihm nach Kräften Bescheid thun. Den Weg aber ins feindliche Lager hoffte er bald auch ohne Geleit zu finden. Und der Herold war kaum bei den Seinigen wieder angelangt, da sprengte ein Ritter in schimmernder Silberrüstung ganz allein rasch aus dem Haufen hervor ins flache Feld zwischen ihnen und dem feindlichen Heer. Sogleich führte Raimund seine kleine Schaar die Anhöhen hinab, ließ sie am Fuße derselben Halt machen, und sprengte allein dem Ritter rasch entgegen. Er sah bald, daß dieser keine Lanze führte und es also auf einen Kampf mit dem Schwerte abgesehen sey, warf daher die seinige gleichfülls von sich, und so ritten sie in gestrecktem Laufe grade auf einander los. Doch als sie sich bis auf wenige Schritte nahe gekommen waren, hielten sie beide an, und wogen einander mit den Blicken, und Raimund freute sich der hohen, königlichen Gestalt des Gegners. Hierauf zogen sie beide rasch den Helmsturz herunter, und griffen zu den Schwertern, den Kampf zu beginnen. Da rief plötzlich der Rit ter: „Haltet ein!" und warf sein Schwert in die Scheide zurück. „Ihr blutet!" fuhr er fort. „Nicht Ehre brächt' es mir, mit einem schon Verwundeten zu kämpfen." Voll Verwunderung sah Raimund in der That das Blut an seinem Panzer herabrieseln, doch wurde er bald gewahr, daß es
249 aus der Schärpe kam, worin er seine Alpenrose verwahrt trug.
Er zog sie schnell hervor, und siehe! traurig neigte die Rose das
Haupt, und helle Blutstropfen standen auf ihren Blättern. In dem Augenblick vernahm er lautes Rufen von der Seite,
und zwei Reiter jagten herbei und schrien schon von weitem: „Hal
tet ein!"
Und Raimund erkannte in dem einem Meister Ezzelino,
in dem andern aber seinen Vater Wolfgang.
gleich zwischen die beiden Kämpfer, Gundibert, was willst du thun!
Sie warfen sich so
und Ezzelino rief: „Prinz
Es ist dein Sohn."
Wolfgang
aber faßte Raimunds Arm, nahm ihm das Schwert aus der Hand
und sprach: „Gegen wen streitest du, Raimund!
dein Vater, nicht ich." —
Dieser dort ist
Und dann sich zu dem Fürsten wendend,
der vom Pferde gesprungen war, und dessen Hand an seine Brust drückend: „So lebt ihr wirklich," rief er, „mein theurer Fürst
und Herr!
Und diese alten Augen sehen euch wieder, die euren
Tod so oft und so lange beweint!
Kommt nur! — Er ists- es
ist Raimund, euer Sohn, den ihr meinen Händen anvertraut, und den ich jetzt euch wiedergebe." „Und seine Mutter?" rief Prinz Gundibert. Sie hat« euch ihr Bild zurückgelassen, da sie ging!" ent
gegnete Wolfgang langsam und mit niedergeschlagenen Augen, und nahm Raimund den Helm vom Haupte.
Da sah der Vater seines
Sohnes herrlich blühende Gestalt, er erkannte der geliebten Mutter
theure Züge, und neben die freudige Gegenwart stellte sich weh müthige Erinnerung, und tief bewegt von Schmerz und Lust schloß
er den Sohn in seine Arme und hielt ihn lange schweigend fest.
250 Dann richtete er sich empor, reichte den beiden Freunden dankend
seine Hand, und erzählte ihnen mit kurzen Worten, Nachstellungen seines Bruders nur durch die Flucht übers Meer entgangen sey,
wie er nach vielen seltsamen
Abenteuern endlich
zurückgekehrt und Schutz und Hülfe gefunden bei dem König von
Burgund, der ihm ein Heer ausgerüstet habe, sich damit sein an gestammtes Königreich wieder zu erwerben. „Ihr kommt zu
spät!"
unterbrach ihn Ezzelino lächelnd,
„euer Sohn hat sichs bereits erworben.
Denn als ich ihm uiib
seiner Mutter und Wolfgang, dem treuen Diener, eine sichere Frei statt bereitete in meinen Bergen, da schwur ich es dem Andenken
an unsre alte Freundschaft zu, daß euer Sohn die Krone tragen solle, die für euch bestimmt war, doch sollte er sie sich erst vorher verdienen, und wahrlich! das hat er gethan mit Ruhm und Ehren."
Und nun, indeß sie mit einem frohlockenden Gefolge, das sich
um sie versammelte, der Burg zuritten, erzählte Meister Ezzelino, wie sich alles zugetragen, und Raimund erkannte wohl, daß seine
Vermuthung ihn nicht betrogen, und daß
Meister Ezzelino nie
mand anders sey, als der Berggeist, den er in Sagen und in Liedern von frühster Jugend an gekannt, und dessen Treiben und
Wirken er mit schauerlicher Lust sich ost so nahe geahnt hatte.
So waren sie bis vor das Thor der königlichen Burg ge kommen.
Da trat König Giselherr aus dem Thor, von seiner
Dienerschaft und unzähligem Volk umgeben, ging ihnen entgegen
und indem er^ sich vor seinem Bruder auf ein Knie niederließ,
nahm er die Krone von seinem Haupte und legte sie zu seines
251 Bruders Füßen.
Als Prinz Gundibert aber den König in dieser
demüthigen Gestalt erblickte,
und ihm in das bleiche abgezehrte
Gesicht sah, wie schwand Groll und Rache aus seinem Herzen z er
sprang vom Pferde, hob ihn auf und verzieh ihm, wollte auch die Krone nicht von ihm annehmen, sondern verlangte, daß Rai
mund und Thorhilde den Thron besteigen und mit einander herr
schen sollten.
Doch Raimund
rief mit lauter Stimme: „Da sey
Gott für, daß ich jemals zu herrschen begehre, so lange mein Va ter noch lebt!"
Und das ganze Volk jauchzte ihm Beifall zu,
und rief Prinz Gundibert zum König aus. König Giselherr aber bat seinen Bruder, daß er ihm vergönne
ein Kloster zu erbauen im Walde an der Stelle, wo er einst die
Schlangenhöhle gefunden, damit er dort, nachdem er ein Christ
geworden, den Rest seines Lebens dazu verwenden möge, sich mit dem Himmel zu versöhnen.
Darauf führte er sie alle in die Burg,
denn heute noch einmal sollten sie seine Gäste seyn. sie hineinzogen,
ward Meister
Ezzelino
Und indem
Freund Bolko
gewahr,
reichte ihm lachend die Hand ünd sprach: „Nun, Bruder Bolko
Nummer 1, gieb deinem Bolko Nummer 2 nur immerhin freund lich die Hand und halte mir den Scherz zu gut.
Jur Schad
loshaltung verehre ich das Dachsränzlcin dir und deinen Nach
kommen.
Halt' es in Ehren, und gebrauche es mit Verstand."
Und Bolko hielt das Dachsränzlein in Ehren und gebrauchte es mit Verstand, und es erhielt sich bei seiner Nachkommenschaft
lange Zeit, bis es endlich, man weiß nicht wie, abhanden gekom
men ist.
Ein Gleiches aber geschah auch mit dem Schwarte Rai-
LLS
munds, der nach seines Bakers Lode lange Jahre regierte als ein weiser, tapferer und gerechter König. Das soll, wie man sagt, in neuern Zeiten ganz verloren gegangen seyn. Und so können wir -um Schluß nichts Besseres wünschen, alallen wackern Dichtern und Sängern, daß sie das Dachsranzlein; allen wackern Königen und Fürsten aber, daß sie das Schwert wiedersindev mögen, sich selbst zu Nutz und Frommen und der Welt zum Heil!
Die Ku kka s ten
253
« Dic
Kuckkasten.
^Wahrscheinlich, lieben Kinder, habt Ihr schon von der wunder lichen Geschichte gehört, wie cinstmalen ein Rattenfänger in die Stadt Hameln gekommen ist, und die Leute von allen Ratten frei machte, nachher aber sehr schlecht bezahlt ward, und aus Rache dafür eine ganze Menge von Kindern durch eine zauberhafte Pfeife sich in einen Berg nachlockte, so daß Niemand von der Gesellschaft wieder zum Vorschein gekommen ist. Habt Ihr davon gehört? — Ich denke wohl. Wenn aber auch nicht, so könnt Ihr Euch aus diesen Worten genugsam ab nehmen, um das zu verstehn, was ich Euch von hier an erzäh len will. Der kleine Karl Grünbaum nämlich wußte die Geschichte vom hamelnschen Rattenfänger sehr gut, und hatte eine entsetzliche Angst vor dem Gedanken, ihn könne auch wohl einmal ein Rattenfänger hinter sich drein locken, in einen «fremden wundersamen Bekg hinein, und der thäte sich dann hinter ihnen wieder zusammen, und drinnen wohnten lauter abscheuliche kleine Kobolde und tanzten so häßlich
254 lustige Tänze, und grinzten so fürchterlich lachend mit den bösen
Angesichtern — hu! —
Dann pflegte er sich in verdoppelter Liebe und Innigkeit an Water und Mutter anzuschmiegen, — er war der
einzige Sohn
eines wohlhabenden Krämers in einer kleinen Stadt — und ihnen feierlich zu geloben: er
wolle nun und nimmermehr mit einem
Hexenmeister davon laufen.
Die Aeltern
lachten darüber,
und
meinten, es werde damit nicht eben große Noth haben. Einstmalen trat das Iahrmarktfest — etwa zum dritten oder
viertenmale, daß Karl sich ordentlich darauf zu besinnen wußte — in dem Städtchen wieder ein.
Durch die engen Straßen drängte
sich Alles lustig, wenn auch mitunter ein bischen zänkisch, hin und wieder, der Grünbaumsche Laden wimmelte von Käufern, und Karl mit einem guten, recht blanken Zweigroschenstück und einigen Pfef ferkuchen wohlausgestattet, trieb sich sammt mehrern Genossen, von denen er der allerreichste war, ganz vergnüglich umher.
Aus einem schönen Garten, ganz dicht am Strome gelegen,
scholl eine fröhliche Musik, und weil die Pforten offen standen,
tanzten bie Knaben nach der lustigen Weise mitsammen hinein. Da sahen sie einen wunderlichen Mann hinter einem seltsamen
Kästlein stehen;
das sahe wie gtn kleines Häuslein voller runder
Fenster aus, mit bunten Vorhängen da und dort überkleidet.
Mann selbst trug
einen ziemlich langen bunten Rock,
Der
und rothe,
weite, goldgestickte Stiefel drunter, und eine hohe, schief stehende, mit seltsam langen Federn.ausgeschmückte Mütze und dazu rief er
in Einem fort:
255 „ Heran, heran, herbei, Wer Schönes schauen will und kann!
Ich bin dazu der rechte Mann, Und die Entree so gut als frei!" Dieser
lockenden Versprechungen ungeachtet, schien
sich eben
Niemand herbeimachen zu wollen, und auch Karl Grünbaum wäre
wohl mit seinen Gefährten
ohne weiteres vorübergerannt, wenn
nicht der Fremde eine kleine Drehorgel zu spielen anhob, um welche
sich viele helle Silberglöcklein im besten Takte herdrehten, und die Weise der obigen Verslein recht zierlich wiederholten.
„Was," sagte Karl nach einer Weile, „die Entree ist fret?
Das nun eben gefällt mir nicht sonderlich; Vater sagt, ein tüch tiger Kerl müsse sich eben nichts schenken lassen ohne Noth.
Kommt,
Jungen! Wir wollen vorbeigehn und den Prahlhans stehen lassen!
Aergerts uns, daß wir seine Herrlichkeiten nicht sehn, i nun, so ärgert der Rothstiefel sich hoffentlich auch, daß er mein blankes Aweigroschenstück nicht zu
sehn kriegt.
Denn, wahrhaftig,
das
hätt' ich ihm für uns alle bezahlt, und zwei bis drei Pfeffer
kuchen — von den großen allenfalls! — noch obenein!"
Der Fremde, hinter dem bunten Kuckhäüslein hervortretend, sagte in einem ausländischen, aber recht anmuthig lautenden Tone: „Kommt herzu, liebe Knaben, kommt herzu!
Und wenn du
meine. Kunststücke nicht umsonst beschauen willst, du trotzig blonder Bursch mit. den großen blauen Augen, da vorn, so gieb mir dein
blankes Aweigroschenstück
behalten."
her!
Die
Pfefferkuchen aber sollst du
256 „Meinetwegen!" sagte Karl Grünbaum. schönes Iweigroschenstück.
„Da hast du mein
Aber wir müssen alle zusammen auf
einmal hineinkucken können, denn sonsten giebt es nur Jank, und
am Ende wohl gar eine Prügelei." „O," lachte der Fremde, „es ist überviel Platz vorhanden, wäret Ihr auch dreimal so viel, als Ihr seyd!"
Und wirklich zog er noch ein paar Vorhänge vor dem Häus
chen zurück, und es zeigten sich nun grade so viel Kucklöcher alS Jungen davor standen. „ Ach du Prahlhans von Rothstiefel!" rief Karl Grünbaum.
„Wenn wir nun wirklich dreimal so viel wären, als wir sind?
Jetzt reicht es ja nur eben hin!"
„Weißt du, wie viel Vorhänge noch aufrollen könnten?" ent gegnete der Fremde ernsthaft.
„Für jetzt, wenn ich dir rathen soll,
nimm fürlieb mit dem, was vorhanden ist, und grüble weiter
nicht." Es war dem kleinen Karl ordentlich zu Muth, als werde
er gewaltsam, aber wie aus sich selbst heraus, an das Kuckloch hingezogen, und den übrigen Knaben mochte wohl nicht viel an
ders zu Muthe seyn, denn plötzlich blickte durch jedwedes offne Fenster des Häusleins ein neugieriges Knabenauge.
Ei, was der
schönen und ganz unerhörten Dinge sie dort ansichtig wurden! Zuerst that sich eine bunte Hafengegend auf, sehr weit, sehr
leuchtend, alle Häuser mit Gold gedeckt, und oben auf den Dächern lauter goldblitzende Halbmonde, und in dem Hafen sehr viele, viele
Schiffe, und die Häuser im Halbkreise darum her, so daß alles zu-
— 257 — sammen wie ein einziger, in tausend Farben gewaltig leuchtender Halbmond anzuschauen war.
„Das ist wohl gar die große Türkenstadt Konstantinopolis?"
sagte einer der Knaben.
„Wenigstens hat unser Schulmeister sie
mir beinahe eben so herrlich beschrieben.
Aber es ist mir doch lieb
daß ich nicht wirklich dorten bin, denn da hauen sie den.Leuten ohne alle Barmherzigkeit die Hälse, ab,
mir nichts, dir nichts!
So'n Großvezier pfeift dir nur auf dem Daumen, und „Adje
Kopf!" hat es geheißen." „Ach was!" sagte Karl. lich feste sitzt.
Den Hut,
„EinKopf ist ein Ding, das ziem
— den hat mir wohl der Wind bis
weilen fortgeriffen, aber den Kopf noch in meinem ganzen Leben
nicht.
Nein, was das betrifft, da möcht'ich schon gern einmal
mit Leib und Seele in der schönen Stadt Konstantinopolis seyn?
wenn sie nämlich so hübsch aussieht, wie diese hier." „O," sagte
der Fremde, hinter dem Häuslein hervor, „du
brauchst dich ja nur auf eins , von diesen schön bunten Schifflein zu
setzen! das trägt dich alsbald eine Strecke flußab,
und immer so
weiter nach Konstantinopolis zu." „Für dumm mußt du mich eben nicht ansehn!" rief Karl
ärgerlich.
„Wenn ich auch nicht am besten die Vokabeln in der
ganzen Stadtschule zu lernen weiß, — so viel weiß ich ja doch, daß deine Schiffe nur Kuckkastenschiffe sind, und daß ein vernünf tiger Junge, wie ich, absolut nicht darauf fahren kann."
„Nun, das würde noch erst auf die Probe ankommen!" lachte
Rothstiefel
„Willst
du
denn
auf meinen Schiffen
17
fahren?
258 Willst du's so recht von ganzem Herzen?
Dann kannst dus, und
Ihr alle könnt es mit."
Aber die Jungen traten erbleichend von den KuÄfenstern zu rück, nur Karl ausgenommen.
Dem ward zwar auch so etwas
wunderlich ums kleine Herz; doch wollt er so was weder sich noch andern eingestehn,
sondern blieb
dicht an demselben Glast/ und
rief in Einem fort mit lauter, kecker Stimmer: „Nun ja, ich will fahren!
so fahr ich doch!
Ich will durchaus auf deinen
Und wenn alle die Andern sich fürchten,
blanken Schiffen fahren!
Hast du's wohl gehört, Rothstiefel?
Ich fahre
doch!" Da fing es auf einmal unter Karls Füßen so wunderlich zu
schwanken an; ehe ihm noch die Zeit gekommen war, recht aus
drücklich zu fragen: „nun was ist denn das für dummes Zeug? Nun wo bin ich denn eigentlich?" kam es ihm schon vor, als ob
er mitten in dem Kuckkasten stehe, und gehe seine Reist auf einem
blanken Schifflein recht eilig stromab. „Das ist ja doch der wunderlichste Kuckkasten von der Welt!"
sagte Karl.
„Sonst kuckt man von außen hinein bei solchen Din
gern, hier steh ich mitten drinnen, und kucke hinaus. Ich kucke nicht hinaus!
Oder nein!
Denn die Bilder sind so dicht- zusammen
geschoben, daß ich weder den Garten sehen kann, noch die Stromes
ufer, noch den Thurm der großen Kirche. — Hei, wie das Schiff lein rennt und rennt! —
Rothstiefel, du mußt es nicht so gar
gewaltig rasch umlaufen lassen, denn mich schwindelt schon ein Bis
chen. —
Itzid dann schieben sie mir von allen Seiten immer neue
259 Bilder vor. seyn! —
Aber hübsche Bilder bringen sie an.
Das muß wahr
O die große Stadt dorten mit ihren herrlichen Pal-
lästen und mit dem frisch grünenden Laubengarten daneben. — Nein, nein, die hättet Ihr nicht so überschnell von hinnen rücken sollen. —
Und dann wieder die Klippen mitten im Strome, — du, Fähr mann, wahre dich, wir schmeißen ja um! — nun, nun, ich weiß
ja wohl, das Alles macht sich nur so ganz natürlich- zum Spaß, und fürchten thu' ich mich eben nicht." —
„Heida, die schönen Weinberge mit reifen Trauben!
Heida,
von denen möcht' ich mir welche pflücken!"
„Nach Belieben!" sagte Rothstiefel, und winkte nur so ganz leise mit der Hand, und das Fahrzeug lief schnell ans Ufer, daß
der kleine Karl beinah umgefallen wäre, weil er sichs nicht so schnell versah.
Aber Rothstiefel hielt ihn in seinen Armen fest,
und trug ihn an das Ufer hinaus. „Das ist doch nun erst rocht wunderlich!" sagte Karl. „Warum
habt Ihr denn auch draußen vor dem Kuckkasten alles so fremd und seltsamlich herausgeputzt? macht haben.
Das muß Euch viele Umstände ge
Ist es doch wirklich, als ständen noch immer alle
die Weinberge vor mir, die ich vorher dadrinnen erblickte!
wo sind denn meine Gespielen geblieben? ganz dunkel.
Rothstiefel,
Und
ES ist ja nun schon
rufe sie doch, damit wir mitsammen
nach Hause gehn."
„Dunkel?" entgegnete
freilich!
Rothstiefel ganz verwundert.
Aber du hältst das doch wohl nicht für Ernst.
„Nun
Das
gehört ja mit zu den Kunststückchen, die ich dir für dein blankes
17*
260 Aweigroschenstück zeige.
Besinnst du dich denn nicht, daß, während
du im Kuckkasten standest, es unterschiedliche Male Nacht ward und Morgen und Mittag und Abend?
Aber bei alle dem ist es eigent
lich noch ganz erstaunlich früh an der Zeit."
„Ja, ja, so kommt es mir auch vor," sagte Karl auf eine etwas träumerische Weise.
„Aber kurios ist es doch, — Deine
Kunststücke haben mich wirklich ein bischen müde gemacht, — or
dentlich, als wäre ich in der That so Tag' und Nächte lang durch gefahren, und hätte dabei kein Auge zugethan."
„Hm," entgegnete Rothstiefel, „wenn dich schläfert, — da brauchst du ja nur deinen Platz hier in der Rebenlaube zu neh
men; oder, wenn es dir so besser behagt, in dem kleinen rothen Häuslein an der grünen Wiese, wo der große schöne Baum drü
ber hinschattet."
„In der Laube will ich schlafen," sagte der schon halbträu mende Karl — „in der Laube! —
Im Häuschen, da möcht' es
mir so fremd seyn, wenn ich andre Leute sähe, als meine Keltern,
und mir es am Ende vorkäme, als wäre das alles wirklicher Ernst."
Rothstiefel machte derweil dem Kinde mit großer Sorgfalt ein schönes Lager aus Weinblättern, duftendem Heu und bunten Blüthen zurecht, und steckte ihm dazwischen recht auserlesene Beeren in sein Mündchen. „Du magst wohl im Grunde recht gut seyn, Rothstiefel!"
lallte der Knabe.
„Das sind ja prächtige Weintrauben, — und
die, welche die grüne Ilse uns bisweilen ins Haus bringt, schmecken
dagegen wie Essig. —
Aber, Rothstiefel, daß du mich auch noch
261 Mutter will
vor demAbendbrodte weckst! — Hörst du wohl? —
heut Eierkuchen backen, — schönen Speckeierkuchen mit gebrühtem Salat, — Alles gar schön, — so recht." —
Und der Kleine versank heiter lächelnd in einen tiefen Schlaf. Mitten inne ward es ihm wohl bisweilen, als rühre eine leise,
schmeichelnde Hand seine Wangen an, und wenn er dann aufblickte, saß ein andres Kind, wie ein kleines, weißes Lichtlein, neben seinem
Lager. schlafen!
Aber Karl murrte unzufrieden: „I
Rothstiefel wird
Nachhausegehn ist." —
so laß einen doch
mich schon wecken, wenn es Zeit zum
Da war es endlich, als weiche der kleine
Gefährte mit ängstlicher Scheue von dannen. Ein Heller Strahl blitzte in des schlafenden Kindes Auge, eine
liebliche Musik von Glöcklein, Hörnern und Silberbecken schallte
darein.
Karl richtete sich fröhlich
Alles das,
staunend empor.
merkte er wohl, kam aus dem Kuckkasten, welchen ihm Rothstiefel ganz dicht vor das Lager gerückt hatte. „O Rothstiefel," rief er aus, „was du auch immer für ganz unaussprechlich hübsche Sachen zu zeigen hast!" —
Und mit an-
muthiger Gier hingen die Knabenaugen wieder an den Gläsern fest. Da gab es nun einmal des Herrlichen und Blanken recht viel
zu sehn!
Die Stadt von vorigesmal war wiederum
aufgestellt,
aber sie hatte sich um ein gutes Theil näher gerückt, und man konnte deutlich wahrnehmen, wie schön gerüstete Schaaren zu Roß
und zu Fuße daraus in das blühende Feld hinauszogen.
Und eben
mit den goldnen Hörnern, silbernen Becken und Glöcklein, die sie
bei sich führten, erhuben sie jenen unmuthigen Schall, und dazu
262 flatterten große schwarze Roßschweife über den Geschwadern und wieherten die Rosse, und blitzten die blanken Waffen, — es war
wirklich eine ganz ausnehmende Herrlichkeit!
Und als nun vollends ein junger, blanker Reitersmann auf einem schönen Apfelschimmel, im goldnen Schuppenküraß blank und hell, voraussprengte vor den Geschwadern, — da erst ging dem
kleinen Karl das ganze Herz in Freuden auf, und er klopfte in die Händchen und rief:
„Ach wenn doch auch ich nur ein einziges Mal auf solch einem Apfelschimmel reiten könnte! "
Und es war beinahe, als habe der Apfelschimmel im Kuckkasten das Rufen und Händeklatschen des Knaben gehört.
Denn er ward
ordentlich ganz scheu davor, sprang und stieg und bockte, und fing
überhaupt so gar viel tolles Zeug an, daß der blanke Reiter, zu seiner eigenen größten Verwunderung, schien es, auf einmal bügel-
und sattel - und pferdelos auf dem grünen Rasen da saß.
Hell
mußte der kleine Karl auflachen,
ward er ziemlich ärgerlich.
aber gleich darauf
„Wer heißt ihn denn," rief er aus,
„sich auf ein so herrliches Pferd setzen, wenn er es nicht reiten
kann?
Das ist, mit Erlaubniß zu sagen, ein recht dummer Kuck-
kastenspaß, und fängt's mich beinah um mein blankes Zweigroschen-
stück zu reuen an." „Hm," sagte Rothstiefel mit einem häßlichen Lächeln, dergleichen passirt ja auch wohl in der Welt, warum soll's denn
nicht in meinem Kuckkasten passiren!
Wenn du b.ich aber selbst
263
einmal mit einem Apfelschimmel versuchen willst, — ich habe just einen zur Hand." „Einen ordentlichen lebendigen?" „Freilich." „I das wäre hübsch! — Aber höre, — Vater sagt, ich müßte mich nicht mit Pferden abgeben; ich wäre kein Reiterskind, sondern ein Krämerskind." „Ja wohl!" rief der höhnende Rothstiefel, „das merkt man dir an. Zu schwatzen weiß er über Reiter und Pferde, aber sich selber einmal in dm Sattel zu wagen, dazu hat er absolut keine Courage." „Her da mit deinem Apfelschimmel," sagte der zornglühende Knabe, „wenn da selber Courage hast!" Da winkte Rothstiefel, und ein zierlich geputzter Bursch, nicht eben größer als Karl, aber ein bischen sehr häßlich aussehend — halb wie eine Fledermaus im Gesicht und halb wie eine Heu schrecke, — brachte einen kleinm, schönen Apfelschimmel an silber blauen Zügeln geführt, und auf dem Pferdchen lag eine blausammtne Decke mit silbernen Frangen, und goldne Steigbügel mit bunten Steinen kuckten daraus hervor. „Das Thierlein ist sanft und lenksam," sprach Rothstiefel, „und weil du so ein muthiger Knabe bist, will ich selber neben Dir herrxiten, und dein Pferd an einen Leitzügel nehmen, damit dir ganz gewiß nichts Uebles widerfahren kann." Und auf einen zweiten Wink des wunderlichen Mannes kam ein großes, schwarzbraunes Roß ganz mit feuergelben Seidendecken
264 überhangen, an der Hand eines riesigen Mohren
herangewiehert«
Da fuhr doch Karl ein wenig zusammen, aber der Mohr war
so prächtig herausgeputzt, in eitel Goldstoff, mit vielen Ketten aus Edelstein behangen, — „man kann nicht anders als seine Lust dran haben!" dachte Karl.
Da kam ein keines blondes Knäbchen sehr scheu und ängstlich gelaufen und schüttelte immer sein kleines, blasses Angesicht, und
drohte warnend mit dem Zeigefingerchen nach Karl hinüber, und stammelte: „du! reit' nicht, reit nicht! du!"
„Ach was willst du denn immer von mir!" entgegnete Karl.
„Nun kenn ich dich schon.
Du bist derselbe, der mich letzte Nacht
nicht schlafen lassen wollte, und nun willst du mich auch nicht rei
ten lassen.
Du Bruder Neidhart, mache dich fort."
Und der kleine Fremdling rannte sogleich ängstlich von dannen. Des furchtbaren Blickes, den Rothstiesel ihm zuwarf, hätte es,
um ihn zu verscheuchen, gar nicht einmal bedurft. Leicht von Rothstiefel in den Sattel gehoben trabte Karl Grün baum auf dem Apfelschimmel dahin.
Das war einmal eine Lust!
Zwar sehr wild brausete der Schwarzbraune beiher, aber Rothstiefel zügelte ihn leicht mit der gewaltigen Linken, und hielt mit der andern Hand den kleinen Karl recht sanft und sorgfältig unter
dem Arme fest.
„Du," sagte der Knabe, „das ist eine prächtige Lust! Könn
ten wir nicht mit einander so vorreiten vor Vaters Haus?" „Gegen Abend, mein Bub, gegen Abend, wann erst der Markt
vorüber,ist.
Jetzt drängen die Marktleute sich da noch allzudicht
265 zusammen.
Gegen Abend, mein Bub, wenn das Drachengestirit
über deines Vaters Schornstein funkelt."
„Ja, das weiß ich nicht, wenn das funkeln thut.
Aber ge
wiß, der Schornstein raucht schon lange, wegen des Speckeierkuchens und des Brühsalats. —
Reiten wir auch nicht zu weit?"
„Ei, sieh doch mein Bub, ei sieh doch! Wir reiten ja nur
immer um Eure Stadt herum." „Um unsre Stadt herum? —
denn da der
Ach, Rothstiefel, wo kommt
große, wunderliche Steinberg
her?
Den hab' ich
doch nun und nimmermehr bei unsrer Stadt erblickt!" „Ei Bub, mein Bub,
neuestes Lusthaus!
das ist ja des dicken Bürgermeisters
Er hat sichs nur seit gestern weiter ausbauen
lassen, weil ihm seit gestern sein dicker Bauch so sehr gewachsen ist." „Aber,
Thürme?
Rothstiefel, was sind
denn
das
dorten
für
spitze
Das sieht ja aus, als wären es sieben gewaltige Städte
aus einmal!"
„Ei Bub, mein Bub, kennst du denn nicht des Herrn Amt manns Siebenstädter neues Vorwerk, das er für des angrenzenden
Kammerherrn Güter seit gestern zu bauen angefangen hat?" „Ach, und Rothstiefel, da steigt ja nun gar ein ganzer Feuer
pallast in die Luft empor, von mehr gewiß als siebenmalhunderttausend Lichtern funkelnd!
Und ist es,
als würden dabei recht
blutige Opferfeste gehalten, und sängen dabei siebenmalhunderttausend Hexenmenschen ein abscheuliches Chor!"
„Ist ja des Lichtziehers Götzemann kleines Sommerquartierchen, mein Bub, und hält nebenan der Fleischer Blutebursch seinen
266 Scharren;
Ist es ja weiter gar nichts,
als das!
Gar nichts
weiter, als nur das!"
„Rothstiefel, du fängst so abscheulich
ich werde so recht, von Herzen müde.
zu schnarren an, und
Wär' es nicht besser, nun
ritten wir nach Haus, oder säßen doch wenigstens ab?"
„Absitzen,
mein
„Absitzen recht gern!
Kind?"
entgegnete
Und willst nicht
Rothstiefel
freundlich.
vor dem Nachhausegehn
nochmal in meinen Kuckkasten schauen?" Und damit hatte er den Kleinen windschnell vom Pferde ge
hoben, und ihn mit dem Auge dicht vor ein Fensterlein des wunder samen kleinen Schaugebäudes gestellt. Hei, was nun da erst Schönes zu erblicken war!
Da mochte
alles Vorige nur als Spaß und Kinderei dagegen gelten.
Stieg
doch ein prächtiger Luftball, ganz gold- und purpurfarben in die
Wolken empor, und schwebte an goldfarbnen Stricken ein Schiff lein drunterhin!
Und in dem Schifflcin saßen ausnehmend ver
gnügte Kinder, und hatten die herrlichsten Spielsachen zur Hand,
die man sich nur irgend vorstellen kann.
In der That, dagegen
konnte man die Reisegelegenheit auf dem frühern Wafferschifflcin oder auf dem Apfelschimmel für nicht viel besser als gar nichts gelten lassen.
„Nun,
mein Herr Karl Grünbaum,"
lächelte Rothstieftl,
„wär es dir gefällig, auch auf diese Manier einmal um Eure Stadt herumzufliegen?
Ich habe grade so ein Luftschifflein zur
Hand, und über deines Vaters Schornstein funkelt nun auch das
267 Drachengestirn recht hell.
Nun wär' es grad' an der rechten Zeit
zu einem prächtigen Spaß." Und Ja zu sagen, stand der kleine Karl im Begriff.
Aber
da tauchte jenes kleine, unbekannte Knäbchen mit dem blassen An gesicht und den blonden Locken furchtsam aus einem nahen Gebüsch
empor, und hatte eine schöne blanke Zither zur Hand, in deren Saiten schlug es, und sang ein wundersames, an Worten ganz un-^ vernommenes Lied.
Davor fielen dem Karl die Augenlieder zu;
er konnte das „Ja," welches er sprechen wollte, nicht sprechen.
Vielmehr sank er in einen tiefen Schlummer zurück, und merkte
nur noch kaum, daß Rothstiefel ihn auf etwas verdrießliche Weise
in ein schön-gepolstertes, damastenes Ruhebette trug. Es währte indessen nicht lange, so ward Karl wieder aus
seinem Schlummer geweckt.
Und neben ihm saß der kleine, furcht
same, freundliche Knabe von vorhin.
Karl aber blickte ihn unwillig an, und sagte:
„Nicht schlafen lassen, nicht reiten lassen, — so weit du's hin dern konntest, — und
dann wieder einschläfern, und dann wieder
aufwecken, — ist das denn eine vernünftige Manier?
Und du wun
derlicher Blondkopf, du hast das Alles hintereinander gethan.
Sage
mir denn nur, was fällt dir eigentlich ein? „Karlchen,
liebes Karlchen," flüsterte das blasse Kind ganz
leise, „ich mein' es ja ganz ausnehmend gut mit Ihnen, und mit Ihrer ganzen werthgeschätzten Familie, aber ich kann immer damit
nicht so recht zur Sprache kommen.
Was ich Ihnen für diesmal
vorzustellen hätte, wär' gleichfalls ein Kuckkasten, aber ein viel
268 andrer, als in den der Rothstiefel Sie
immer hineinkucken läßt»
Ach, liebes Karlchen, kucken Sie doch nur dies einzige Mal hin
ein!
Aber stille, ganz stille, muß ich bitten.
St! St! " —
Und ein kleines, ganz kleines weißes Kästchen hatte der blaffe Knabe unter seinem grünen Mäntelchen hervorgezogen, ein einziges Kucklöchlein dran: das hielt er vor Karl Grünbaums rechtes Auge,
und sagte: „Nun sieh!" Ach, was bekam da der arme Karl Grünbaum zu sehn! In die Schlafstube seiner Aeltern blickte er hinein, das Nachtlicht war schon fast heruntergebrannt, aber Vater
und Mutter saßen noch
unausgekleidet einander gegenüber, und weinten recht bitterlich. „Was ist ihnen denn?" fragte Karl ganz ängstlich.
„Ach
was weinen sie denn?"
„3/ sie weinen ja über dich!" entgegnete der sonst so blöde
Knabe wie ganz im Aerger. „ Sind es ja nun seit dem Jahrmärkte
drei Nächte her, daß sie vergeblich auf dich warten.
Ach, und sie
hatten dich doch so lieb!" Da fuhr der kleine Karl erschrocken in die Höh', und sprang
auf seine beiden Beine; aber gleich darauf sich besinnend, sagte er:
„Dummer Junge, wie du einen nur so erschrecken kannst! Drei
Nächte sollen sie um mich geweint haben, und es ist noch nicht mal wirklicher, vernünftiger Abend geworden, seit ich von Hause
weggegangen bin! —
Und schlimmsten Falls, — ei, da geh ich
um die Mauer herum ins Steinthor hinein, und laufe die Stein straße hinauf, und klopfe an meiner Aeltern Haus, Marthe macht auf, und Alles ist gut."
und die lange
269 Aber der kleine blonde Junge schüttelte sein blasses Angesicht
chen wieder sehr bedenklich, und sagte zuletzt: „Ich muß dir nur ganz reinen Wein einschenken.
Vermeinst
du denn wirklich, unfern des Steinthores zu stehn, und überhaupt gar nicht weit von deiner Vaterstadt?
Liebes, armes Karlchen,
du stehst ja wirklich mit deinen Füßlein schon in der Türkei, ja sogar eine beträchtliche Strecke über die Gränzen des Ungarlandes
hinaus.
An das deutsche Land ist vollends nicht mehr zu denken.
Denn der abscheuliche Rothstiefel hat dich auf eine ganz schänd liche Weise hinter das Licht geführt."
Da fing der arme kleine Karl Grünbaum gar bitterlich zu
weinen an. Aber der kleine blonde Junge winkte mit den Händchen, und
sagte:
„Sey stille, Karlchen, sey stille, damit uns der böse Roth stiefel nicht etwa hört.
Karlchen, liebes Karlchen, ich bringe Sie
noch ganz gewiß in das Haus ihres werthgeschätzten Herrn Vaters,
des Materialisten Ehrenfried Grünbaum, zurück, wenn es auch
freilich mehr als hundert Meilen von hier entfernt ist.
Aber nur
stille jetzt, liebes Karlchen, nur stille!" Und Karl Grünbaum machte sich ganz leise mit seinem neuen Freunde in die sternenklare Nacht hinaus, und ging ihm geduldig
nach.
Aber wie Alles um ihn her so helle war, hub er an zu
Puffern: „Höre, nun fängt uns Rothstiefel gewißlich wieder ein; denn
270 ich
denke, bei diesem Sternenlichte müßte man auf meilenweit
schauen." Aber das andre Kind meinte, das habe nicht eben viel zu sa gen; Rothstiefel sehe bei dunkler Wolkennacht am besten, gleich
wie ein Kater, im Klaren aber könne man ihn an Blindheit oft mals mit den Maulwürfen vergleichen.
So gingen denn die Kinder, und gingen, bis sie endlich nah hinter sich einen lauten, raschen Stiefeltritt vernahmen.
„Da kommt dennoch der Rothstiefel wahrhaftig!" seufzte der
kleine, blonde Junge, „es muß ihm ganz besonders viel an Ihnen liegen, liebes Karlchen.
Ich lebe noch
Aber kommen Sie nur!
immer in der besten Hoffnung, uns durchzubringen.
Nur halten
Sie doch ja das Vertrauen zu mir in allen Nöthen fest.
Hören
Sie, Karlchen —- fest!" Und somit stampfte der fremde Knabe auf den Boden, und ein paar ungewöhnlich große Maulwürfe singen zu scharren an, und scharrten plötzlich einen kleinen Höhlengang frei, in -dem die
beiden Kinder sich recht gut verbergen konnten.
Dann scharrten
die dienstfertigen Thiere den Eingang wieder zu, ließen aber ein
Löchlein offen, durch welches Karl und sein Genosse in die Mond nacht hinausblicken konnten.
„Siehst du?" flüsterte der blonde
Knabe; „das ist abermals eine Art von Kuckkasten!"
Rothstiefel rannte vorüber, wie ohne Sinn und Verstand. „Weißt du," sagte Karl in seines Gefährten Ohr, „was mir
beim Rothstiefel am allermeisten zuwider ist? das sind seine rothen Stiefel selbst.
Sie kamen mir schon von Anfang her verdächtig
271 vor, aber wie ich nun Gelegenheit hatte, sie hier von untenauf zu
betrachten, da ward es , mir ganz klar, sie schneiden wirkliche Ge sichter, blinzeln häßliche Augen dazu, kurz, es sind ordentliche, - aber
ganz abscheuliche Leute.
O Kamerad,
ich kann dir gar nicht
genugsam danken, daß du mich von diesem Rothstiefel und seinen
noch viel schlimmern rothen Stiefeln errettet hast." „So, sagte der kleine Blonde, noch habe ich dich nicht ganz und gar errettet, aber es wird nun, denk' ich, schon gehen.
Die
Hauptsache ist nur, daß du dich vor meinen unterirdischen Keller gängen nicht scheuen mußt." „I, sprach Karl, ich bin ja schon ost mit Vatern in den
Keller gegangen.
Und da drunten gab es wohl gar bisweilen ein
Schlückchen süßen Weins.
„Nun, lachte der kleine Blonde: süßen Wein wollen wir wohl auch noch finden, vorzüglich hier im Ungarlande, wo viele Burgen über den Kellern zusammengefallen sind!"
Und somit ging die
Reise fort. Ei was sie der seltsamen, unterirdischen Abenteuerlichkeiten,
fanden, und des edlen Weines und der guten Speise kosteten!
Ich
hätte Euch viel davon zu erzählen, lieben Kinder, aber die Zeit
läuft mir unter den Händen fort.
Nur wer der kleine blonde
Junge eigentlich war, und wie er hieß, das möchtet ihr vermuthlich
gerne wissen wollen, und da kann ich Euch Folgendes berichten. Die beiden Kinder hörten eines Tages recht gewaltig über sich stampfen und lärmen.
272 „DaL sind gewiß die rothen Stiefeln;" flüsterte Karl Grün
baum und schmiegte sich angstvoll zusammen. „Die rothen Stiefeln," flüsterte der
kleine Blonde zurück,
„die sind es nun wohl eigentlich nicht, — aber Rothstiefet ist es dennoch.
Der muß Spur von uns erhalten haben und schlägt nun
mit einer gar gewaltigen Hexengerte den Boden.
schon noch tiefer unterducken.
Da müssen wir
Aber du mußt dich auch nicht etwa
fürchten, liebes Karlchen, hörst du?"
Und der Fußboden machte ordentlich Platz, und sie sanken langsam in ein Felsengewölbe hinab; da hüpften seltsame Lichter
auf dem Boden herum, Schätzen erblicken soll.
wie man
sie bisweilen
bei vergrabnen
Auch ließen sich große, große Haufen von
Gold und Silber schauen, und daneben hockten kleine, schwarze Männer nicht viel höher als die Ratten, aber noch viel häßlicher.
Da hub Karl Grünbaum an zu weinen, und sagte: „Wo führst du mich denn hin, du unartiger Reisegesell du?
Das hier ist am Ende das Land, wo die Kinder mit dem Ratten fänger von Hameln hin versunken sind, und wo ich meinen lieben
Aeltern versprochen habe, mich mein Lebtag nicht hineinverlocken zu lassen."
Die kleinen Rattenleute begannen wilder und immer wilder um die Kinder herzutanzen, und der Blondkopf hielt seinem Ge sellen mit ängstlicher Gewalt, damit er schweigen solle, den Mund
zu, sprechend: „Ach Karl, hier darf ich ja nur ganz allein reden! 2ch ganz allein! Ach glaube mir doch nur!" Aber Karl brummte
.widerwärtig durch seines Gefährten Finger: „Ich will aber nicht
273 schweigen! Ich will aber nicht!
Oder du mußt mir erst aus
führlich sagen, wer du bist, und warum die Reise so tief unten
geht, und ob du hier zu Lande was zu befehlen hast!"
Und immer wilder tanzten die kleinen Rattenleute, und wä
ren beinah mit grinzenden, bissigen Zähnen auf Karlchens Schul ter hinaufgehüpft, — da nahm der kleine Blondkopf ein großes Waschbecken mit einem ungeheuern Schwamm und vieler, vieler
Seife aus der Felsenwand, und that, als wolle er die Rattenleute damit waschen.
Das mußten sie nun eben nicht wohl leiden kön
nen, und hier kroch ein schwarzes Männlein in eine Felsenspalte,
und dort wieder eins, und in Kurzem waren fie alle davon
gelaufen. Da lachte der kleine Blondkopf recht herzlich, sprechend: „Das
Waschen ist ihnen doch ganz in den Tod zuwider!" —
Dann
aber fuhr er ernsthaft fort: „Sie, liebes Karlchen Grünbaum, brummen Sie ja nicht weiter, ich will Ihnen gerne Auskunft ge
ben; vor allen Dingen aber hören Sie, was der häßliche Rothstiefel eigentlich mit Zhnen vorgehabt hat."
„Tief, tief im innersten Lande Afla giebt es noch einige
Leute, die bösen Geistern dienen, damit ihnen die recht viel Gold
und Silber und Edelgestein aus den Abgründen der Erde heraus schürfen sollen, und dazu schlachten die geizigen Menschen vorzüglich
recht liebe, fröhliche Kinder gern.
Und siehst du, Karlchen Grün
baum, eben dazu warf Rothstiefel seine wunderlichen Kuckkasten
netze aus, und hatte eben dich liebes, stöhliches Kind zu solch einem
Schlachtopfer ersehen."
274 „I, das ist ja ein ganz infamer Rothstiefel!" sagte Karl,
unb ballte die Händchen recht zornig gegen die Decke des Gewöl
bes empor, von wo man wieder so etwas wie rothe Stiefeln und Hexengerte tapsen und klopfen hörte.
„ Und du, Freund Reisekum
pan, fuhr er, sich unwillig gegen den kleinen Blondkopf wendend,
fort, was hast du mir es denn nicht gleich rein heraus angesagt,
was der verrückte Rothstiefel mit mir im Sinne hatte?
Hel —
Was hast du dich denn immer in jämmerlicher Furchtsamkeit verkro
chen, mir nichts, dir nichts? dummer Knabe? Da hätt' ich ja drüber
geschlachtet werden können, und hätte keine Maus darnach gequiekt."
Mäuse schienen hier nicht quieken zu wollen, auch nicht eben gradezu Ratten,
aber die
kleinen häßlichen Menschlein mit den
Rattenangesichtern blickten wieder von allen Seiten hohngrinzend hervor, und kaum nur, daß der kleine Blondkopf sie abermals mit
Waschgeräthschasten in die Flucht jagen konnte:
Dann aber bat
er recht herzinniglich: „Ach Karlchen, liebes Karlchen, halten Sie sich doch ja nun
ganz ausnehmend still! die verwünschten Rattenleutlein wachsen mir
sonsten noch ganz und gar über den Kopf.
Warum ich aber hier
etwas zu befehlen habe, und warum grade Sie mir so ganz aus nehmend lieb sind, das will ich Ihnen ausführlich erzählen, mit
unter auch, warum ich seit ein paar hundert Jahren sehr furcht sam geworden bin, denn früher war ich ein überdreister Bursche.
Wahr und wahrhaftig!"
„Ach Karlchen Grünbaum, es hat einmal wunderschöne Zeiten gegeben, noch lange bevor Ihres Herrn Vaters Kramladen stand,
275 und ehe an tyren lieben Herrn Vater selbst gedacht worden ist!
Man stellt sich das nicht mehr auf der Welt so recht lebendig vor.
Aber glücklicherweise hab ich meinen Kuckkasten mit herunter transportiren lassen, und darin will ichs Ihnen einmal vergnüglich zei gen, lieber Musje Grünbaum! "
Und Karls Auge hing an dem Glase, und ach, was stiegen ihm
da für Herrlichkeiten empor. Eine Burg auf grünen, blühenden Auen, auf goldnen Feldern,
umrauscht von fröhlichen Wäldernl
Und zwischendurch, — da sah
man viel herrliche Ritter und Frauen; die spielten zur Zither,
und lachten hold; die ritten zum Streiten; die sah man Segel
ausbreiten nach fernen Küsten, auch wohl nach mohrischen Wü sten, — und alle blitzten die Ritter in Stahl und Gold.
O es
war euch ein Leben, ein Leben! — Aber da rollte des Kuckkastens Vorhang zu. „Du," flüsterte Karl, „wo sind denn nun alle die Herrlich
keiten geblieben?" „Für jetzt," entgegnete Blondkopf, „stehtIhres werthgeschätz ten Herrn Vaters Laden auf selbiger Stelle der Burg, die ich Ihnen
so eben nur zeigte. Und eben davon, Karlchen, bin ich so scheu und furchtsam geworden.
Denn sonsten, als noch die fröhlichen Burg
herrn dorten hausten, — hei, da hieß man mich den guten Kobold Hütchen, oder auch wohl das Gütchen, wenn ich etwas Gutes zu
Stande gebracht hatte.
Seitdem aber die Burg eingerissen und
eingeschmettert war von einem großen Geschütze, das man zum
Spaß die träge Ilse nannte, — viele Burgen ringsumher find
276 durch die Ilse untergegangen, — da wollte man auf meines Glei chen nicht sonderlich Acht mehr geben.
Ja, seitdem Ihr Herr
Großvater sich dorten angebaut hat, bekam ich, wenn ich einmal
auftauchte und mit den Kindern des Hauses spielen wollte, wohl
gar recht grobe Schimpfreden zu hören.
Liebes Karlchen Grün
baum, dergleichen verträgt unser einer ausnehmend ungern, und da
wird man lieber furchtsam aus lauter Ambition.
Aber von der
allen Lieb' und Anhänglichkeit für Jeden, der auf derselben Stelle wohnt, wo meine alten Burgherren wohnten, vermocht ich dennoch nicht zu lassen, und so hab' ich denn immer ganz still, ganz still
unter der Erden gelauert, ob sich nicht endlich einmal eine Gele genheit zeigen würde, der jetzt regierenden Hausherrschaft einen so
recht eminent großen Dienst zu leisten. Und, Karlchen, wie mirs vor kommt, ist nun schon ein solcher Dienst beinahe mehr als halb gethan."
„Ja freilich, Hütchen!" sagte der — „ja freilich! Und man k-nnte dich auch dafür nun wohl billigerweise Gütchen nennen." „Ach nein, Musje Karlchen," entgegnete jener, „lassen Sie'S
nur beim Hütchen bewenden.
Der Name Gütchen möchte Ihren
Herrn Vater einigermaßen irritiren, denn Herr Grünbaum scheint
mir von verletzbarer Natur zu seyn, weit mehr, als jene allen, erschlagenen Ritter.
Da könnte ihm so ein Gütchen anmaßend vor
kommen, ein Hütchen läßt er vielleicht eher passiren, denn eine Art
von Hut muß ja doch wohl jeder Tagelöhner auf dem Kopfe tra gen, und läßt sich auch wohl allenfalls darnach nennen.
Also
„Hütchen," wenns beliebt, heiß ich, Lieber Musje Grünbaum."
Der Vertrag ward abgeschlossen, und durch einen feierlichen
Handschlag besiegelt, wobei Hütchen noch nebenbei qusmachte, es
müsse ihm von jetzt an vergönnt seyn, in der Handlung zu helfen, beim Ein- und Auspacken und so weiter, denn das Helfen sey nun
ein und für allemal seine schönste Herzenslust. Karl sprach auch dazu ein freudiges Ja, und nun ging die seltsame Wanderung weiter, indem Hütchen noch unterweges dem kleinen Grünbaum erzählte, die Rattenleute und was eS noch son
sten des Volkes hier unten gebe, hätten für' seines Gleichen ganz ausnehmenden Respect; andre Personen jedoch dürften sich nicht allzu
sehr moviren. Von da an hielt sich auch Karlchen Grünbaum sehr still.
Hütchen sorgte derweilen aufs
beste für ihn.
Sum Schlum
mer verstand er ihm so feines und zartes Moos herbeizuschaffen, daß niemand die
schönsten Betten dabei hätte vermissen dürfen,
zum Mittagstische gab es gewöhnlich vortreffliche Krebse und Fische,
die sich in die unterirdischen Gänge der Stromgewässer
verirrt
haben mochten, und als Karl endlich nach schönem Kuchen lüstern ward, schaffte ihm Hütchen auch den herbei; „denn," sagte Hüt chen, „während du schläfst, fahre ich nach den Speisekammern
hinauf, und hole Mehl und Mandeln und Rosinen, und das backt sich hier bei den unterirdischen Gebirgsflammen von selber zu ganz ausnehmend vortrefflichen Kuchen."
Diese Behauptung
ward
durch
deß
kleinen Karls Gaumen
und Eßlust vollkommen bestätigt, und auch an einem Schlückchen
guten fügen Ungarweins, so sehr ein Kind dessen vertragen kann, fehlte es den kleinen Wanderern nimmermehr, und eben so wenig
an krystallnen kleinen Bechern, um daraus zu trinken.
278 „Schade," sagte eines Tages der kleine Karl, „daß ich das wunderschöne Ungarland
kann!
nicht auch einmal
von
oben betrachten
Hier von unten herauf gefällt es mir zwar recht gut mit
seinen edlen Speisen und Weinen, aber hübscher anzusehn ist es
doch wohl gewißlich von der andern Seite her, von der Seite her, wo die Sonne drauf scheint!"
„Ja," sagte Hütchen, „das ist gar keine Frage.
Aber, Karl-
chen, jene Seite haben Sie schon im Kuckkasten gesehen, und übri
gens
wohl sonder Zweifel der Rothstiefel
trampelt jetzt
dorten
herum." Da ward Karlchen wieder sehr still, Genossen
auf dem
und ging mit seinem
gcheimnißreichen, aber sonst ganz behaglichen
Wege folgsam fürder.
Der Ungarwein ward für die Beköstigung der zwei kleinen Reisenden nach und nach seltner, und wo er noch zum Vorschein
kam, sing er endlich an, sehr deutlich nach Rosinen zu schmecken. „O!" sagte Karlchen Grünbaum, — und konnte sich des lauten
Jauchzens gar nicht mehr enthalten, — „o nun merk' ich es ja deutlich, daß wir ganz dicht an Papas Laden hinan seyn müssen."
„So ganz dicht, lieber Musje," entgegnete Hütchen, — „das
wäre wohl vielleicht etwas gar zu viel behauptet.
Denn es giebt
in Deutschland unterschiedliche Herrn Krämer, die mit Ihrem Herrn Vater seine Gesinnungen in Betreff des Ungarweins theilen.
Aber
in Deutschland sind wir doch wirklich schon, und ganz absonder lich viel kann uns Rothstiefel nicht' mehr anhaben."
Sie legten auch in der That von da an ihre bedenkliche Kel-
279 Irrfahrt ohne sonderlichen Anstoß zurück, und stiegen endlich eines
schönen Morgens zwischen den Ungar- und Malagaflaschen des Herrn Grünbaum herauf.
Im Durchgehen sagte Karl: „Nun Hütchen,
will ich dir auch einmal von. unserm Ungarweine zu kosten geben.
Vater, gewiß, gönnt dir eine solche Erquickung gern, und ich will es schon bei ihm zu verantworten wissen." —
Aber: „ach nein,
ach nein!" erwiederte Hütchen ängstlich; „er könnt' es wohl den
noch übelnehmen, der gute Herr Grünbaum, und überhaupt, — ach, wenn ich danken dürste, wäre mir's doch wohl hundertmal
lieber.
Ach nein, liebes Musje Karlchen, ach nein!"
Wie sie nun an das helle Tageslicht herauskamen, — wer vermöchte die Freude der Aeltern zu beschreiben, als sie ihren lie
ben, einzigen, verloren geglaubten Karl wieder hatten!
Auch wur
den natürlich in der ersten Fröhlichkeit alle Bedingungen, welche
Karl gegen Hütchen cingegangen war, vollkommen bewilligt. Späterhin
ward das dem Krämer Herw Grünbaum wohl
manchmal zuwider,
vorzüglich da
es
ihm
bisweilen
nach dem
Mittagsschlafe vorkam, als sey Hütchen eigentlich gar nicht da, und es ihn dann ordentlich erschreckte, wenn der kleine fremde Gesell
mit Geldbriefen, oder wohl gar unter fremde, kostbare Waarenballen schwergebückt mit Lachen hereingestolpert kam.
Das hätte
er ihm aber noch gern vergeben, denn sein Haus gedieh dabei ganz
sichtbarlich; nur daß Hütchen immer in den Freistunden mit Karl Soldaten spielte, und ihn ordentlich zu einem tüchtigen Kriegs manne ausexerzierte, — das schien denn doch allzu toll, und hätte
wohl, ohne den bestimmt eingegangenen Vertrag, Hütchens plötz-
280 liche Verabschiedung bewirkt. Nun mußte man sich es jedoch schon gefallen lassen. Warum der kleine Hütchen sich das Alles herausgenommen hatte, erfuhr man im Jahre Dreizehn. Da ward Karl, ein Jüng ling schon dazumal von zwanzig Jahren, zum Landwehr-Lieute nant erwählt. Niemand wußte besser, als er, die Compagnie zu exerzieren, und nachher Niemand besser, als er, mit ihr in den Feind zu rücken. Und wenn er dabei oftmals in große Fährlichkeiten gerieth, hieb und stieß ein ganz kleiner, mürrisch aussehen der Kerl ihn rettend heraus, und wenn man ihn nach Namen und Stand fragte, pflegte er gewöhnlich zu antworten: »Ich bin der kleine Tirailleur Hut, vom Bataillon Alten burg." — Als Karl nach der rühmlichen Heimkehr die Handlung des alternden Vaters übernahm, soll bei ihm ganz auffallender Weise nur immer durchaus ächter Ungarwein, ohne die mindeste Rosinen beimischung, verkauft worden seyn.