Frühromantische Dichtungstheorie [Reprint 2019 ed.] 9783110829396, 9783110027037


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German Pages 232 [236] Year 1970

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
I. DER NEUE GEIST
II. PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
III. WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
IV. KUNST
V. DICHTUNG
VI. DER ROMAN
VII. ROMANTIK UND ROMANTISCH
LITERATURVERZEICHNIS
NAMENREGISTER
SACHREGISTER
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Frühromantische Dichtungstheorie [Reprint 2019 ed.]
 9783110829396, 9783110027037

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NIVELLE/FRÜHROMANTISCHE

DICHTUNGSTHEORIE

ARMAND N I V E L L E

FRÛHROMANTISCHE DICHTUNGSTHEORIE

WALTER D E G R U Y T E R & CO B E R L I N 1970

© Ardiiv-Nr. 495670/1 Copyright 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung —• J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer -— Karl J. Trübner —• Veit & Comp., Berlin 30 —• Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, der Ubersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Drude: Thormann & Goetsch, Berlin

Fur André und Eveline

INHALT Seite

Vorwort

1

I. Der neue Geist

11

II. Philosophische

Grundlagen

23

III. Wunderschrift

der Endlichkeit

71

ZV. Kunst V. Dichtung

81 111

Vi. Der Roman

146

VII. Romantik und romantisch

165

Literaturverzeichnis

199

Namenregister

217

Sachregister

219

VII

VORWORT Das vorliegende Buch ist aus Interesse an der dichtungstheoretischen Reflexion der Frühromantik entstanden und als Fortsetzung meiner Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik gedacht. Nach der dort behandelten Periode, die sich von 1750 bis 1790 erstreckt, verzweigt sich die deutsche Poetik in verschiedene Richtungen. Manche setzt die vorigen Theorien ziemlich getreu fort, auch wenn sie ihnen im Laufe der Entwicklung eine eigene Färbung gibt und ab und zu von ihnen abweicht. Das gilt besonders für die Klassik. Man denke zum Beispiel an die recht eindeutige Kontinuität zwischen der Kritik der Urteilskraft und den ersten bedeutenderen Aufsätzen Schillers. Dieser ist zwar bald eigene Wege gegangen; Ausgangspunkt und Grundlage seines kunsttheoretischen Denkens sind und bleiben aber die Kantschen Thesen, und seine poetologischen Einsichten verdanken ihre historische Tragweite und Eindringlichkeit nicht zuletzt einer langen Auseinandersetzung mit Kant. Bei Goethe bietet sich das Problem mit einer beträchtlich größeren Komplexität, und auch nach den äußerst wertvollen Beiträgen der zeitgenössischen Forschung bleibt noch viel Raum für eine synthetische Zusammenschau seiner ästhetischen Ansichten und für eine Ergründung der Prinzipien, auf die er seine Kunsturteile stützt. Dennoch steht fest, daß auch er, wie in den letzten Jahren mit Recht betont wurde, sich trotz des Anscheins und trotz mancher scharfen Kritik der Einwirkung des ästhetischen Kritizismus nicht ganz verschließen konnte. Insofern sie also mit der Kantschen Lehre zusammenhängt und sie abwandelt, ist die ästhetische Reflexion der deutschen Klassik eine Fortsetzung der vorigen Epoche der Poetik. Das Problem der Kontinuität stellt sich auch bei Hölderlin und Jean Paul auf vielseitige Art, und nicht weniger verwickelt ist die historische Einordnung der theoretischen und werkimmanenten Poetik Heinrich von Kleists. Ich hegte ursprünglich die Absicht, diese drei Dichterpersönlichkeiten, soweit sie sich theoretisch zu den Grundfragen der Poetik geäußert haben, in diesem Zusammenhang zu behandeln, kam jedoch bald zu der Einsicht, daß dies so viel Fragen aufwerfen und so viel Diskussionen, Einzelerörterungen und begründete Stellungnahmen erfordern mußte, daß es den Rahmen gesprengt und die Einheit des Buches zerstört hätte. 1

Nivelle

1

VORWORT

Schon die Problematik ihres Anschlusses an die Frühromantik bzw. ihrer Abhebung davon liefert Stoff zu einer besonderen Untersuchung. Auch die frühromantische Dichtungstheorie, die hier dargelegt wird, bildet eine Fortsetzimg der ersten großen Epoche der deutschen Ästhetik. Freilich ist der Begriff Fortsetzung in diesem Fall von anscheinend zweifelhafter Richtigkeit. Es handelt sich nämlich nicht um ein Fortschreiten im Sinne eines Kontinuums, sondern in der Form eines dialektischen Widerspruchs. Am Schluß des ersten Bandes wurde auf die Kluft hingewiesen, die zwischen der Kritik der Urteilskraft und den ersten romantischen Äußerungen liegt. Die Romantiker selbst haben ihre Abhebung von Kant betont, wobei sie allerdings nicht verhehlen konnten, daß der ihren Anschauungen zugrunde liegende Idealismus ohne ihn nicht möglich gewesen wäre. Trotz dieser gelegentlichen Anerkennung seiner Leistung haben sie ihn jedoch grundsätzlich abgelehnt und leidenschaftlich bekämpft, so daß die Frühromantik eher im Gegensatz zu Kant als in Fortführung seiner Gedanken entstanden ist. Ihren Sinn erblickte sie sogar in der Uberwindung des kantischen Kategoriensystems und der damit zusammenhängenden scharfen Trennungen und Fixierungen. *

Ebensowenig wie der erste erstrebt dieser zweite Band eine rein geschichtliche Darstellung. Er bietet keine Rekonstruktion der Vergangenheit in ihrem chronologischen Ablauf. Nicht der Historiker kommt hier zu Wort, sondern der poetisch und philosophisch Interessierte. Ich weiß, daß ich mich mit solcher Einstellung und Arbeitsweise unausweichlich in die Polemik — die ich gerne vermeiden möchte — begebe. Petersen, Schlagdenhauffen und manche anderen haben die Möglichkeit einer Wesensbestimmung der Romantik, die nicht auf dem Weg der historischen Darstellung gewonnen wäre, geleugnet. Freilich hat Petersen recht, wenn er behauptet, die von den Frühromantikern aufgestellten Definitionen der Romantik seien widerspruchsvoll und ziemlich willkürlich, und ihre Nebeneinandersetzung ergebe nur eine unzusammenhängende und unzuverlässige Vorstellung. Es stimmt auch, daß der Forscher mehr Aussicht hat, ein richtiges Gesamtbild zu bekommen, wenn er den historischen Werdegang der Anschauungen verfolgt. Es wäre töricht, diese Tatsache in Frage stellen zu wollen. Nur die angebliche Alleinberechtigung der historischen Sehweise erweckt meine Bedenken und fordert meine Ablehnung heraus. Auch diese Arbeit will ein kohärentes Romantikbild herausstellen, und dafür kann sie sich tatsächlich nicht nur auf die romantischen Definitionen der Romantik stützen. Sie verzichtet aber nicht a priori darauf, diese noch so widerspruchsvollen Bestimmun2

VORWORT

gen in ihren gedanklichen Zusammenhang einzufügen. Gewiß gilt es dabei, die Widersprüche zu erklären und gegebenenfalls ins gesamte Weltbild einzubeziehen. Ich bin aber der Meinung, daß das sehr umfangreiche kritische und theoretische Material, das heute dem Forscher zur Verfügung steht, ihm die Gewähr bietet, daß er in der Deutung nicht ganz und gar fehlgehen kann, solange er das Ganze im Auge behält. Wer wollte schon die Romantik allein auf Grund der damaligen Definitionen interpretieren? Weshalb soll sich die Forschung so willkürlich beschränken und ihrer Waffen berauben lassen? In den Schriften der Frühromantiker begegnen auf Schritt und Tritt Belege, die — das sei hier schon gesagt — ein im wesentlichen einheitliches Bild ergeben. Bei seiner Nachzeichnung kann zwar die Geschichte beträchtliche Hilfe leisten, nicht weniger hilft aber eine synthetische Zusammenschau, die das geistige Klima der Zeit, die Denkgewohnheiten, die philosophischen Grundbegriffe und nicht zuletzt die zahlreichen systematischen Schriften der Frühromantik berücksichtigt. Das konsequente Durchhalten eines rein geschichtlichen Gesichtspunkts würde übrigens nur dazu führen, die Romantik auf ein historisches Phänomen zu reduzieren; das scheint mir nicht geeignet, den zeitlosen Problemwert und die fortdauernde Anregungskraft der romantischen Thesen ins Licht zu stellen. Dies ist indessen das — wohl nur sehr unvollkommen erreichte — Ziel dieses Buches. Weder die Genesis der frühromantischen Anschauungen noch ihre spätere Entwicklung sind für den Zweck dieser Arbeit relevant. Daß Friedrich Schlegel erst auf dem Umweg über das 'Objektive' der griechischen Kunst zu seiner Auffassung des Romantischen gelangte, mag eine historisch anerkannte Tatsache sein; hier sollen aber nur die romantischen Ansichten Schlegels in Betracht kommen, und von den früheren Überzeugungen kann nur das berücksichtigt werden, was zu einem angemesseneren Verständnis dieser Ansichten verhelfen kann. Es ändert auch nichts, wenn er nach zwanzig Jahren seine Lucinde und etwa seinen 'Republikanismus' verleugnet hat; Hauptsache bei unserer Perspektive ist, daß er sich einmal in einer Lage befand, in der er glaubte, die Lucinde schreiben zu müssen, und sein Denken durch gewisse Grundanschauungen Fichtes, an denen nach Minors Worten sein Republikanismus „seinerzeit groß geworden war" 1 , bestimmen ließ. Dies nur als Beispiel für zahlreiche ähnliche Vorgänge. Ebensowenig wie das Werden und Wirken der Jenaer Schule als solcher wird uns der Werdegang jedes einzelnen Mitglieds beschäftigen. 1

1*

Prosaische Jugendsdiriften, hg. v. Minor, I, S. VI. In allen Zitaten sind die Orthographie modernisiert und die Abkürzungen ausgeschrieben worden.

3

VORWORT

Auf die Unterschiede und Widersprüche der individuellen Anschauungen muß selbstverständlich hingewiesen werden, aber mein Augenmerk bleibt auf die Frühromantik als Ganzes gerichtet, und ich frage nach ihrer typischen Geistesverfassung in Sachen Poetik. Ich ignoriere die Abweichungen von Person zu Person, von Theorie zu Theorie nicht im geringsten, weigere mich indessen, vor lauter Einzelansichten die verbindende Mitte zu übersehen. Mancher Leser, der Antworten sucht auf Fragen, die nicht einmal gestellt werden, wird enttäuscht sein. Das gilt zum Beispiel für die gesellschaftlichen Voraussetzungen der romantischen Poetik. Auch hier ist meine Einstellung alles andere als negativ, und ich würde es begrüßen, wenn auf Grund einer unvoreingenommenen Forschung — nicht etwa in dogmatischer Anwendung irgendeiner willkürlichen Lehre — die romantischen Positionen im Bereich der Poetik mit Hilfe einer Darlegung der gesellschaftlichen Voraussetzungen erhellt würden. Eine solche Untersuchung liegt freilich außerhalb meiner Befugnisse. Sutor, ne ultra crepidam! Ich glaube jedoch, daß man zuerst wissen soll, worin die frühromantische Theorie besteht, ehe man sich an die historische, gesellschaftliche, philosophische oder auch politische Deutung, Rechtfertigung oder Verurteilung heranwagt.

Die Poetik der Frühromantik ist ein eifrig bearbeitetes Feld. Ich erhebe keinerlei Anspruch auf unbedingte Originalität. Es hat sich in ihrer Darstellung eine Art Tradition gebildet, und manche Ansichten und Urteile sind landläufig geworden. In dieser Hinsicht besteht ein wirkliches Gemeingut der Forschung. Man kann es in Frage stellen — was ich öfters nicht unterlasse; wegleugnen und übersehen läßt es sich nicht. Ein jeweiliger Hinweis darauf erübrigt sich. Das würde die Lektüre unnötig erschweren und dem Kenner nichts Neues bringen. Ich möchte die Anschauungen darstellen, die mir das Wesentliche an der Poetik der Frühromantik zu sein scheinen. Dafür eignet sich eine enzyklopädische Bestandsaufnahme nicht. Diese Arbeit ist eine synthetische. Es gibt eine frühromantische Stellungnahme zu den Problemen der Ästhetik und der Poetik: so könnte meine Arbeitshypothese lauten. Auf die Heraushebung dieser charakteristischen Position kommt es mir an. In der ersten Rede über die Religion erläutert Schleiermacher mit bemerkenswerter Klarheit, wie eine menschliche Begebenheit unter zwei grundverschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden kann: einmal von ihrem „Mittelpunkt" aus, nach ihrem „inneren Wesen", anderer4

VORWORT

seits von ihren „Grenzen" her, nach der „bestimmten Haltung und Gestalt, die sie hie und da angenommen hat". Das eine Mal erscheint sie als ein „Produkt der menschlichen Natur", das andere Mal als ein „Erzeugnis der Zeit und der Geschichte". Mich interessiert vor allem der erste Gesichtspunkt, und ich halte ihn bis auf weiteres — den Ansprüchen des Historismus zum Trotz — für fruchtbarer als den zweiten. Schelling mag in dieser Hinsicht keine Autorität sein — was liegt aber an Autorität? Ein Zitat aus seiner Betrachtung der Göttlichen Komödie möchte ich jedoch anbringen, weil es mir Gelegenheit gibt, meinen Blickwinkel genauer zu definieren. Er meint: „Unsere Absicht ist es nicht, (das Gedicht) in seiner unmittelbaren Zeitbeziehung, sondern vielmehr in seiner Allgemeingültigkeit und Urbildlichkeit... zu fassen"2. Es wäre eine überhebliche Anmaßung meinerseits, wenn ich von der vorliegenden Darstellung der romantischen Poetik auch nur Annäherndes zu schreiben wagte. Die Versuchung liegt mir auch fem. Dennoch scheint mir der Schellingsche Satz ganz besonders geeignet, die Tendenz dieser Studie anzudeuten. Ich möchte nämlich an Hand der romantischen Dichtungsanschauung auf eine in ihrem Wesen zeitlose Art der menschlichen Einstellung zur Kunst hinweisen. Eine lebendige Romantik, wie sie um 1800 bestanden hat, in ihrer Ganzheit zu rekonstruieren, ist trotz der äußerst zahlreichen Dokumente, über die wir verfügen, unmöglich. Ausgerechnet für eine Bewegung, die auf Geselligkeit so viel Wert legte und die dem mündlichen Austausch von Ideen so Wesentliches verdankt, wäre ein solcher Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Wirkung des gesprochenen Wortes, durch das sich die Persönlichkeit direkter und ungehemmter ausdrückt als durch bestimmten Moden und Imperativen unterworfene Schriften, ist äußerst schwer einzuschätzen und angemessen zu würdigen. Abgesehen von ein paar allerdings sehr aufschlußreichen Zeugnissen sind wir auf Geschriebenes angewiesen. Nun weiß jeder, daß die beste Schrift unter Umständen nur ein blasser Abglanz der Persönlichkeit ist. Die Tonalität des geistigen Austausches bleibt für Fremde und Nachkömmlinge ein Geheimnis. Die Einsicht, die wir in die romantische geistige Tätigkeit gewinnen können, ist eine Einsicht aus zweiter Hand. Die Umund Irrwege der Forschung beweisen es zur Genüge. Ich habe mich also methodisch auf gedruckte und handschriftliche Texte beschränkt und das Historisch-Biographische bewußt zurückgestellt. Mir kam es nicht darauf an, zu zeigen, was um 1800 in der literarischen Welt vor sich ging; das haben andere getan. Mein Anliegen war die Darstellung einer typischen kunsttheoretischen Gesinnung, die sich 2

Schelling, Über Dante in philosophischer Beziehung, Rd. III, S. 573.

5

VORWORT

gerade in der Frühromantik prägnant und charakteristisch vergegenwärtigt. Die ewige Bedeutung der Romantik und ihre Relevanz für spätere Zeiten haben mich bei der Untersuchung geleitet. Dafür ist es belanglos, ob ein Text, der 1802 verfaßt wurde, damals unbekannt blieb oder etwa nur im Manuskript existierte und demnach keinen Einfluß ausüben konnte. Ein solcher Text war mir im gleichen Maße wichtig wie ein berühmter Traktat und ein epochemachendes Werk, weil er genau wie diese von der damals herrschenden Mentalität Zeugnis ablegt. Auf Grund solcher methodischer Einstellung habe ich mich ohne Bedenken auf die Frühromantik beschränkt. Der bekannte, von S. Elkuß und anderen vorgebrachte Einwurf, es sei willkürlich, sich auf die paar Jahre um 1800 und somit auf Schriften, die meist nur Entwürfe, Fragmente, Skizzen und Versuche seien, zu begrenzen, konnte mich von meiner Absicht nicht abbringen. Mir geht es zum Beispiel nicht darum, zu ergründen, was Friedrich Schlegel von seinen Jugendansichten in seine Wiener Zeit hinübergerettet hat, obschon ich selbstverständlich nicht prinzipiell darauf verzichte, spätere Äußerungen eines Verfassers zur Erläuterung einer Jugendansicht heranzuziehen, wenn ich die Gewähr habe, daß die grundsätzlichen Positionen ähnlich geblieben sind. Ich trage nur meine Auffassimg von der poetischen Grundhaltung in der ersten Blütezeit der literarischen und philosophischen Romantik vor. -i*

Meine Darlegung stützt sich hauptsächlich auf Schelling, Novalis und die Brüder Schlegel. Auch Schleiermacher liefert wichtige Bausteine. Tieck kommt wenig zu Wort. Das sieht ungerecht aus und fordert eine Erklärung. Das Studium von Tiecks kritischen Schriften ist unerläßlich, wenn man sich mit den Einzelformen der Dichtung befaßt: hier hat er vieles und Wichtiges zu sagen. Weniger interessant ist er, wo es wie hier in erster Linie auf den allgemeinen Begriff der Poesie ankommt. Für diese Frage stellt sidi heraus, daß die Relevanz seiner Theorie sehr ungleichmäßig ist. Viel bedeutender sind — auch in bezug auf die Poetik — seine Dichtungen. Ich habe der Versuchung nur schwer widerstanden, seine 'werkimmanente Poetik' zu behandeln. Der Einheitlichkeit wegen hätte mich das zu ähnlichen Interpretationen bei den anderen Frühromantikern verleiten müssen, was der Anlage dieses Buches nicht entsprach und jede Kontinuität mit dem ersten Band aufgehoben hätte. Ich wollte mich prinzipiell auf die ausdrückliche Theorie konzentrieren. Nur dort, wo es unbedingt sein mußte, d. h. wo es galt, Mißverständnisse zu beheben oder meines Erachtens falsche Meinungen zu widerlegen, bin ich auf die Dichtungen eingegangen. Da bei Tieck praktisch nur die 6

VORWORT

Dichtungen in Betracht kommen, hat mich ein derartiges Ungleichgewicht abgeschreckt. Auch zum Fall Wackenroder muß einiges gesagt werden. Er wird als Zeuge herangezogen, wenig mehr. Ob man sich auf ihn als Gewährsmann für die romantische Dichtungstheorie in dem Maße verlassen kann, wie mancher das tut, scheint mir sehr fragwürdig. Zwar findet sich bei ihm eine Stimmung, die dem Entstehen einer romantischen Kunstauffassung günstig war; seine 'theoretischen' Ansichten decken sich jedoch nur spärlich mit den Grundpositionen der Jenaer. Ein paar Formulierungen sind ihm freilich gelungen, und er spricht öfters romantisches Gedankengut aus. Dennoch stimme ich W. Kohlschmidt zu, wenn er zeigt, wie zusammengesetzt und wenig linienfest seine Ästhetik ist3. Auf Wackenroder ist für eine sichere Belegung romantischer Ansichten kein Verlaß; höchstens stößt man in seinen Schriften auf Zeugnisse und Bestätigungen für Anschauungen, die in der Luft lagen und von den anderen Jenaern nicht mit der gewünschten Deutlichkeit geäußert wurden. In diese Fragwürdigkeit sind indessen nur die 'theoretischen' Aufsätze eingeschlossen: der D i c h t e r Wackenroder ist ebenso genial wie verkannt.

Wenn ich den Jenaer Kreis als Frühromantik bezeichne, so geschieht das mehr aus Gründen der Bequemlichkeit als aus polemischer Einstellung. Auf die Frage, ob die Frühromantik in der Spät- bzw. Hochromantik ihre Fortsetzung gefunden habe oder ob etwa mit der jüngeren Romantik ein origineller „Neueinsatz" erfolgt sei, wird nicht eingegangen4. Der Versuch zur Erhellung des Begriffs Romantik wird hier allein mit Rücksicht auf die erste Generation unternommen. Ob der Begriff auf sie paßt oder nicht, ist ein terminologisches Problem, das meine dichtungstheoretische Arbeit nicht zu erörtern braucht. Inwiefern die Jenaer Schule der letzte Ausleger, die Überhöhung der vorangegangenen Epoche oder ihre Überwindung ist, wird aus der Darstellung ersichtlich sein. Die Problematik, die sich vor etwa hundert Jahren um den Gebrauch und die Reichweite des Begriffs Romantik entsponnen hat, soll uns hier nicht in geschichtlicher Sicht, sondern nur in bezug auf eine Wesensbestimmung der Poetik innerhalb der Jenaer Gruppe angehen. So glaube ich am besten der Empfehlung nachzukommen, die Dilthey in seinem Novalis-Aufsatz von 1865 äußerte, als er eine Klärung des Begriffs verlangte und vor dem Unfug im Gebrauch des Terminus warnte. 3 4

W. Kohlsdimidt, Wackenroder und die Klassik, in Unterscheidung und Bewahrung (Kunisch-Festschrift), S. 175 ff. Vgl. E. Ruprecht, Der Aufbruch der romantischen Bewegung, Einleitung.

7

VORWORT

Mir kommt es mehr auf die Darstellung einer poetischen Haltung als auf terminologische Diskussionen an. Ob Novalis einer 'Romantik' oder einem poetischen Idealismus' zuzuordnen ist, scheint mir gegenüber der Darstellung seiner Poetik eine zweitrangige Frage. Mit dem Gebrauch des Wortes Romantik soll jedoch keine Position zugunsten einer einheitlichen romantischen Bewegung bezogen, noch irgendwelche Abwertung der Spätromantik verfochten werden. Daß die Lebenssphäre und das Lebensgefühl der jüngeren Romantik von der geistigen Atmosphäre der Jenaer Schule grundverschieden waren, steht fest. Daß die Jüngeren eine Romantik „darlebten", während die Älteren sie nur als „geahntes Ideal" anstrebten, dürfte — allerdings bei bedeutenden individuellen Unterschieden und ohne allzu enge Festlegung der Begriffe — großenteils zutreffen. Daß das Kunstwollen der beiden Generationen den veränderten Umständen und Forderungen des Tages zufolge nicht gleich orientiert war, unterliegt auch keinem Zweifel. Die Behauptung, daß die Frühromantik sich mehr durch Haltung und Gebärde, Wissen und Wollen als durch Leben und Besitz charakterisiere, enthält viel Wahres. Aber das sind Probleme, die, so interessant sie auch für eine Literatur- und Geistesgeschichte sind, uns in diesem Zusammenhang nicht beunruhigen sollen. Die 'sogenannte' Frühromantik soll hier in ihren poetischen Anschauungen erhellt werden: darauf beschränkt sich meine Absicht. *

Manch einer dürfte fragen, warum die Frühromantik ausgerechnet bei einem romanisdien Literaturwissenschaftler so viel Interesse wachruft, daß er sich vornimmt, darüber ein Buch zu schreiben. Wird doch nicht selten gerade die Frühromantik als eine typisch deutsche Erscheinung ausgegeben, zu der ein Nichtdeutscher keinen Zugang habe. Aus nicht so ferner Zeit klingt dein romanischen Forscher viel Derartiges in den Ohren nach. Aber er weigert sich, den 'Zufall der Geburt' als höheres Gesetz anzuerkennen, und weiß — nicht zuerst weil er aus der Romania stammt, sondern hauptsächlich weil er Lessing gelesen hat —, daß es eine 'Wahl der Vernunft' gibt. Nicht die Vernunft allein war jedoch an seiner Wahl beteiligt, sondern in höherem Maße noch das poetische Gefühl. Beide haben freilich Grenzen, aber keine politischen! Die Frühromantik hat ihn durch ihr hochgespanntes Dichtungsideal verlockt. Die Begegnung eines Romanen mit der deutschen Frühromantik verläuft auf eine Art, die ihn paradoxerweise nicht mit Fremdheit überrascht, sondern im Gegenteil mit einer unerwarteten Vertrautheit. Es tauchen manche halbvergessenen jugendlichen Dichtungserlebnisse in ihm auf, die den Weg ebnen und das Verständnis erleichtern. Er besinnt 8

VORWORT

sich auf gewisse Vorreden zu den ersten Gedichtzyklen des jungen Victor Hugo, er holt Gedanken Jouberts aus seinem Gedächtnis hervor und erinnert sich wieder, daß er vor Jahren für Rousseau geschwärmt hat. Baudelaires Schatten dämmert auf, und von überallher spuken „correspondances" in seiner Träumerei. Rimbaud winkt im Hintergrund, und viel Dunkles, das der Fremde nur geahnt hatte, wird heller. Mallarmés unverstandener Zauber öffnet ihm das Tor zur grauen Theorie. Und die Sprachmagie der Surrealisten überwältigt ihn aufs neue. Der Fremde aus der Romania wundert sich: steht er in der Frühromantik an der Quelle, aus der sich die Macht des lyrischen Wortes in der französischen Dichtung speist? Hat es denn in Frankreich eine 'dargelebte' Romantik gegeben, zu der Deutschland das gedankliche Fundament hergab? Nicht alles stimmt miteinander überein, beileibe nicht. Aber mancher Riegel ist weggeschoben, und der Weg ist freier, als man dachte. Der Fremde begibt sich auf die Fahrt ins deutsche romantische Land. Seit je haben ihn seine Erzieher gelehrt, daß eine klare Idee einen klaren Ausdruck fordere, womöglich sogar eine Formel, die schön klinge und den Gedanken bildlich zusammenfasse. Immer wieder hat er gehört, daß die Formelfindung ein Zeugnis der geistigen Überlegenheit sei. Nun liest er deutsche Bücher über die Romantik, wissenschaftliche, streng durchdachte, sorgfältig verfaßte, und findet darin praktisch keine Formel oder nur solche, die zuviel zugleich sagen wollen und deshalb lang und schwer sind. Er stutzt, liest sich tiefer ein, gewöhnt sich daran, denkt darüber nach und lernt um: er sieht das Fragwürdige 'seiner' bildlichen und bündigen Formulierungen ein, wird ihnen gegenüber skeptisch, überskeptisch sogar und bemüht sich, sie fortan zu meiden. Gefahr und Verführung bedeuten sie ihm nun, und er zieht die schwerfälligere Differenzierung vor. Es kann aber vorkommen, daß er in einem deutschen Buch auf eine Formel der sonst ihm vertrauten Art stößt: Weite des Wunders, Wunder der Weite. Da spitzt sich sein Ohr. Er hat Vertrauen in den Autor, den er liest5. Er fühlt, daß dieser die frühromantische Poetik von innen erlebt hat, daß seine Darstellung ein tiefes Verständnis und einen ausgeprägten Sinn für gedankliche Zusammenhänge bekundet. Er beneidet fast den, der seine Einsichten dermaßen formelhaft zu sagen weiß; eine so bündige Zusammenraffung des Wesentlichen imponiert ihm wieder. Dann wird freilich die angelernte Skepsis wach, er fragt sich, ob der Autor nach der Findimg der Formel nicht zum Gefangenen der Formel geworden ist, ob sie ihm nicht die Sicht versperrt und den Weg verbaut, ob sie seinen Blick nicht fälscht. Die Weite des Wunders präge vorzüglich die Frühromantik; die jüngere sei eher dem Wunder der Weite verfallen. s

B. Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. III, S. 198 ff.

9

VORWORT Nun scheint dem Fremden ein wesentliches Grundstreben der Frühromantik dahin zu zielen, das Wunder in jeder Hinsicht und in jeder Form aufzuheben und ins Alltägliche zurückzuführen. Der Bereich des Wunders liegt nicht in weiter Ferne, sondern im banalen Alltag. 'Entwunderung' der Welt scheint dem Fremden die Frühromantik ebenso leidenschaftlich anzustreben wie das Gegenteil. Und der Autor selbst bringt ihm den Beweis für die eigene Vermutung: der Geniebegriff zerdehne sich in der Frühromantik so sehr und nehme so viel Bewußtheit in sich auf, daß er jede Wundersubstanz einbüße. Das liest er bei seinem Autor nach, und er denkt bei sich: auch die besten Bücher sind nicht so vollkommen, daß kein Platz mehr für einen neuen Versuch wäre. Da macht er sich an die Arbeit. *

Es wäre ungerecht, wenn ich dieses Vorwort beschließen wollte, ohne meine Erkenntlichkeit für die Unterstützung, die mir von verschiedenen Seiten zugekommen ist, auszudrücken. Frau Dr. Ingeborg Sauer-Geppert und Herrn Dr. Ludwig Völker gebührt mein aufrichtigster Dank für ihre stets förderlichen und geschickten Ratschläge. Auch der mir von der Humboldt-Stiftung und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst gewährten Hilfe soll hier dankbar gedacht werden.

10

I. DER NEUE GEIST Uberblickt man die erste große Periode der deutschen Ästhetik, die von Baumgarten bis Kant reicht, und vergleicht man sie mit dem Zustand um die Jahrhundertwende, so fallen zunächst bedeutende Unterschiede auf. Im Mittelpunkt der ästhetischen Bemühungen eines Baumgarten, eines Winckelmann und auch noch Kants stand das Problem der S c h ö n h e i t . Entweder suchte man nach einer philosophischen Definition dieses Begriffs, oder man war bestrebt, eine vom Zeitgeschmack bzw. von individueller Vorliebe eingegebene Auffassung des Schönen kritisch zu fundieren. Ausgegangen war der Wunsch nach einer philosophischen Grundlegung von Leibniz und seinen Schülern. Die berühmte Formel von der Einheit in der Mannigfaltigkeit hatte die meisten Diskussionen ausgelöst: bewußt lehnten sich die verschiedensten Denker an Leibniz an und trugen sich mit der Absicht, ihn zu ergänzen und zu systematisieren. Baumgartens Grundbegriff der cognitio sensitiva, der bekanntlich den Ausgangspunkt und die materielle Grundlage der Aesthetica von 1750 bildet, ist eine Leibnizische Vorstellung. Die Wesensbestimmung der Schönheit als Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis oder besser des anschaulich Wahrgenommenen wäre ohne Leibnizens grundsätzliche Unterscheidung der Vorstellungen nicht denkbar gewesen. Aber auch die sonstigen Formeln, die mehr ins Psychologische als ins Erkenntnistheoretische gehen, rühren großenteils von Leibnizisdhen Erkenntnissen her. Recht verschieden war die Einstellung der 'Kritiker'. Winckelmann, Lessing, Herder und die Stürmer wollten nicht so sehr die Schönheit philosophisch definieren, als sich mit der herrschenden Geschmacksrichtung, die sie durchweg leidenschaftlich ablehnten, auseinandersetzen. Sie beriefen sich dabei auf alle möglichen 'Autoritäten und werteten — manchmal sehr willkürlich — alle ihnen zur Verfügung stehenden 'Quellen' aus, gleichviel ob diese nun zur Kunsttheorie oder zur Kunstpraxis gehörten. Die meisten ihrer Stichworte und Hinweise hatten polemischen Charakter und sollten eine persönliche Auffassung der Kunst und die Reaktion gegen den Zeitgeschmack unterstützen: das gilt für die Plastik des Altertums genauso wie für Shakespeare, für Aristoteles 11

DER NEUE GEIST

und Ossian, für Raffael und Diderot oder etwa für Young und die Bibel. Das schließt natürlich nicht aus, daß die 'Kritiker' ab und zu sehr zusammenhängende Ansichten erarbeitet haben, deren innere Kohärenz ich. in meinen Kunst- und Diditungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik herauszuheben versuchte, aber ihr Interesse lag nicht primär auf dem Gebiet der objektiven Erkenntnis der Schönheit. Auf Grund ihrer Überzeugungen verfochten sie vielmehr neue Ideale und predigten neue Kunstwerte, d. h. sie wollten die herrschende Auffassung der Schönheit durch eine andere ersetzen und neue Kunstregeln und -muster aufstellen. Mit der Kantschen Urteilskraft werden die Grundanschauungen des Jahrhunderts in einem System vereinigt, das nur mit Hilfe der Ergebnisse vorhergehender Forschung Zustandekommen konnte. Im Kantschen Denken erfahren die Schönheit und dementsprechend die Gemütskräfte, die sie wahrnehmen und schaffen, eine gewaltige Steigerung und erlangen eine Autonomie, die im Vergleich mit früheren Theorien viel systematischer und fester begründet ist. Zwar bleibt die Kantsche Schönheitsidee — im Gegensatz etwa zum Moralisch-Guten — im subjektiven Bereich; durch den ihr beigemessenen Symbolwert erhebt sie sich jedoch auf eine Ebene, zu der sie bis dahin — von spärlichen Ausnahmen abgesehen — noch keinen Zugang gewonnen hatte. Parallel zu diesen Bemühungen um die Festsetzung des Wertes der Schönheit werden in der ganzen Periode Überlegungen angestellt über die geistigen Organe des Menschen, die spezifisch auf den Genuß und die Schöpfung von Schönheit gerichtet sind. Im allgemeinen hat man für diese Organe Bezeichnungen benutzt, deren strenge und eigentliche Bedeutimg sich erst allmählich entwickelt hat. Das Beurteilungsvermögen hieß fast immer 'Geschmadc'; der Terminus war jungen Datums, hatte sich aber schon um 1750 so gut wie eingebürgert. Das Schöpfungsvermögen hieß 'Genie', ein Wort, das jedoch erst später einigermaßen allgemeingültig wurde und das im Grunde bis in die Romantik hinein Begriffe deckte, über die man sich nicht im klaren war. Auch hier hat Kant Wesentliches zur Klärung der Terminologie beigetragen, wenngleich seine Definitionen von seinen Nachfolgern wieder in Frage gestellt wurden. Mit dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus erklimmt die Idee der Schönheit plötzlich den höchsten Rang, greift ins Gebiet des Objektiven über und wird zum Mittelpunkt des neuen Weltbildes. Mit diesem Vorgang beginnt eine neue Epoche der deutschen und europäischen Ästhetik. Solch großartiger und folgenreicher intellektueller Gewaltstreich darf indes nicht einfach als die endgültige Überwindung des von der vorhergehenden Periode gestellten Problems aufgefaßt werden. 12

DER NEUE GEIST

Wie die meisten Entdeckungen des 18. Jahrhunderts wirft er im Gegenteil mehr Fragen auf, als er Lösungen bringt. Seine Problematik erhellt namentlich aus der Tatsache, daß in frühromantischer Zeit so gut wie keine eigentlichen Schönheitslehren mehr entwickelt werden. Fast jeder frühere Denker hatte sich mit Definitionen der Schönheit gequält und um die richtige Formulierung und Begründung gerungen. Nach dem Wortlaut der frühromantischen Schriften zu urteilen, scheint das Schöne paradoxerweise nur noch eine nebensächliche Rolle zu spielen, und man sucht vergeblich nach Reminiszenzen früherer Positionen. Es ist nämlich mit der 'Schönheit' das gleiche geschehen, was mit anderen Kerngedanken der Poetik zu geschehen pflegt: wenn man zu einer klaren Auffassung ihrer Bedeutung und ihrer Funktion gelangt, paßt der alte Terminus nicht mehr in das neue Denkschema. Die „Schönheit" der Frühromantik ist gleicherweise ein traditioneller Begriff für ein neues Ideal. Im Augenblick, wo sie den höchsten Rang im Wertsystem erhält, ist sie keine Schönheit im alten Sinne mehr. In vielen romantischen Aussagen bezeichnet das Wort allerdings noch die Haupt- und Grundvorstellung, der der ganze ästhetische Bereich zugeordnet bleibt; sie wird aber immer mehr zum rein philosophischen Terminus — „in höherem platonischen Sinne genommen", wie es im Systemprogramm heißt — und verliert in entsprechendem Maße ihre Relevanz für die eigentliche Kunsttheorie sowohl in bezug auf die Beschaffenheit des Werkes als auch im Hinblick auf die inspirierenden Kräfte des Künstlers. In seinem Buch Poesie und Nicht-Poesie meint O. Walzel sehr richtig, die Schönheit bleibe als übergeordnete Idee bestehen, verliere jedoch jede Gültigkeit im Bereich der praktischen Kunstausübung. Hier büße sie ihren Wert zugunsten des Poetischen ein. Walzel zitiert in diesem Zusammenhang Worte von Novalis, nach denen die Bezeichnungen schön, romantisch, harmonisch nur Teilausdrücke des Poetischen seien1. Bemerkenswert und typisch für die neue Einschätzung des Begriffs ist zum Beispiel, daß der früher so unentbehrliche 'Geschmack' als Organ für die Wahrnehmung der Schönheit nicht die gleiche Steigerung erfährt wie die Schönheit selbst. Er wird im Systemprogramm nicht einmal erwähnt, was in keiner Weise durch die individuelle Einstellung des Verfassers zu erklären ist, denn auch in der übrigen romantischen Poetik spielt der Begriff keine bedeutendere Rolle. Waren Schönheit, Geschmack und Genie die Leitsterne der früheren Epoche, so werden sie von nun an verdrängt durch 'Poesie' und 'Einbildungskraft'. Schon im Systemprogramm erreicht die 'Poesie' die höchste Stufe innerhalb der menschlichen 1

Walzel, Poesie und Nicht-Poesie,

S. 89.

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Tätigkeiten, und ein paar Jahre später wird sie sogar zu einem der Grundelemente der Welt. Das wirklich Neue in der frühromantischen Anschauung ist nicht die 'Schönheit', sondern die 'Poesie'. Mit der Hervorhebung der sogenannten Schönheit als einer allen andern überlegenen Idee ist jedoch eine wichtige Voraussetzung der frühromantischen Dichtungstheorie gewonnen, nämlich die absolute Autonomie der Kunst. Das ist freilich keine grundsätzlich neue Position. Schon immer haben Dichter und Künstler in der praktischen Ausübung ihrer schöpferischen Tätigkeit ein solches Prinzip implizite angenommen und imbewußt angewandt. Auch der typisch klassische Dichter hat sich beileibe nicht immer das prodesse et delectare vorgenommen, wenn er sich an seinen Arbeitstisch gesetzt hat, und das lange Zögern eines Racine zwischen „infortunés" und „misérables" hat bestimmt andere Gründe gehabt als den Willen zur Belehrung und zur Besserung der Menschheit. Erst die Theoretiker haben in diesem Problem Unfug gestiftet, indem sie meistens Wirkung und Zweck miteinander verwechselten. So ist in ihren glänzenden Epochen die Kunst schon immer eine von jedem fremden Imperativ unabhängige Erscheinung gewesen, und nur ärmere Zeiten haben sie bewußt einem fremden Zweck untergeordnet. Anders war es aber mit der Reflexion über die Kunst bestellt, und bekanntlich hat die Vormundschaft der Moral und der Logik die meisten Theorien bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts und sogar beträchtlich darüber hinaus belastet. Ästhetiker wie Meier, teilweise auch Sulzer, sind die besten Beweise dafür. Manchen Theoretikern der unmittelbar vorhergehenden Zeit hat freilich der Begriff der Autonomie der Kunst vorgeschwebt, nur fehlte ihnen die gedankliche Basis, auf der sie hätten bauen können. Ein guter Teil ihrer Bemühungen galt eben der Suche nach einer philosopischen Fundierung, der erst Kant mit Hilfe seines zusammenhängenden Systems stabile Elemente beisteuern konnte. Vor ihm war alles gutgemeinter Versuch und halbwegs richtige Ahnung. Wenn auch von Zeit zu Zeit ein klares Denkbild zum Vorschein kam, das zu einer eingehenden Grundlegung hätte verhelfen können, ermangelte es immer des begrifflichen Zusammenhangs und konnte zu nichts Endgültigem führen. Das, was also mit großer Mühe bis Kant erarbeitet wurde, ist den frühromantischen Theoretikern eine Selbstverständlichkeit, ja sogar ein Eckpfeiler ihrer Kunstanschauung. Die früheren Unterscheidungen zwischen schöner, angenehmer, mechanischer Kunst sind ihnen gegenstandslos geworden. Alles, was auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist, verdient nicht mehr die Bezeichnung Kunst, auch wenn seine Herstellung Talent und 'Kunstfertigkeit' erfordert. Das 'Bedürfnis', d. h. die prakti-

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sehe Bestimmung, ist ein Element, das am eigentlichen Wesen der Kunst gar keinen Anteil hat und das die Kunst als solche aufhebt, wenn es die Absicht und die Arbeit des Urhebers bestimmt. Der Zweck eines Gebäudes, seine Verwendung als Wohnhaus oder Kirche, darf in der ästhetischen Beurteilung keine Rolle spielen. Solcher Zweck ist bloß die „bestimmte Form der Erscheinung", an die jede Kunst mehr oder weniger gebunden ist und die transzendiert werden muß, wenn ein Werk von Menschenhand zum Bereich des Ästhetischen gehören soll. Es muß in diese Form „der Abdruck und das Bild der Schönheit" gelegt werden, damit das Produkt ein Werk der Kunst wird2. Dieses Beispiel aus dem Gebiet der Architektur zeigt deutlich, daß man jetzt von vornherein bestrebt ist, das Kunstphänomen in seiner ganzen Reinheit zu fassen und die Grenzen scharf und endgültig zu ziehen. Es wird nach dem Prinzip, nach dem Ewigen der Kunst gesucht unter strenger Ausschaltung alles dessen, was zwar notwendiger Bestandteil des Kunstwerks ist, aber nicht zum Ästhetischen gehört. Nach August Wilhelm Schlegels Rezension der Tieckschen Volksmärchen zielt das frühromantische Interesse auf die Dichtung in der Dichtimg und nicht auf die Zufälligkeiten der jeweiligen Erscheinung3. Die Kunst lehnt jeden äußeren Zweck ab. Weder der Nutzen noch das Vergnügen, weder die Moral noch das Wissen haben den geringsten Anteil an ihrem Wesen. Sie ist in sich absolut, völlig autonom, rein, unabhängig von jeglicher fremden Bestimmung. Schon vor dem Ältesten Systemprogramm und vor jeder Darlegung der idealistischen Kunstauffassung wußte der junge Friedrich Schlegel um die Eigengesetzlichkeit der Kunst und den Eigenwert der Schönheit. In einer Epoche, in der er noch völlig im Banne seiner Gräkomanie stand, gab es für ihn schon kein Problem der Zugehörigkeit und der Unterordnung des Schönen und der Kunst mehr; die Frage scheint er als ein für allemal gelöst zu betrachten. Das Schöne behält seine volle Selbständigkeit neben dem Wahren und dem Guten; es ist „ein echtes erstgeborenes Kind der menschlichen Natur und hat mit jenen ein gleiches vollgültiges Recht, niemand zu gehorchen als sich selbst". Dieser eindeutige Ausspruch findet sich in einer seiner allerersten Schriften, im Aufsatz Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie aus dem Jahr 17944. Um die gleiche Zeit bekräftigt er seine Meinung in der Studie Über die Grenzen des Schönen. Dort sieht er Aufgabe und Wesen der Kunst darin, daß sie die unendliche Fülle der Natur mit der Freiheit und der Liebe 2 3 4

Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 226. Beiträge zur Kritik der neuesten Literatur, Athenäum, I, S. 168. Prosaische Jugendschriften, hg. v. Minor, I, S. 13.

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des Menschen in ein neues, einheitliches Ganzes zusammenfasse, das keiner fremden Gesetzgebung unterworfen sei, sondern sein eigenes Gesetz in sich selbst habe. Im selben Zusammenhang stellt er sogar eine der Grundthesen seiner romantischen Dichtungstheorie auf, nach der die so aufgefaßte Kunst als Vermählung von Natur und Freiheit, von Sinnlichem und Geistigem, von Welt und Ich, von Universalität und Individualität die „Vollendung des Daseins" darstelle5. Die Kunst als höchste Tätigkeit des Menschen und Krönung des Lebens im Dienste der selbständigen Schönheit als eines der drei Grundwerte ist eine rein romantische Position, die also schon im Jahre 1794 von Friedrich Schlegel vertreten wird. Das Prinzip der Autonomie der Kunst ist der Romantik gelegentlich streitig gemacht worden mit der Begründung, daß der ständige Hinweis auf das Transzendente, das Göttliche, das Übersinnliche eine neue Dienstbarkeit der Kunst zuwege gebracht habe. Die Nähe zur Religion scheint eine solche Auffassung auf den ersten Blick zu bestätigen und legt den Eindruck nahe, als hätte sich die Kunst von der Moral und dem Gebot des Unterrichtens nur befreit, um sich in den Dienst einer Verkündung der Transzendenz zu stellen. Es kann aber nichts irriger und verwirrender sein als diese Ansicht, insofern sie die eigentliche Jenaer Schule betrifft. Daß die Kunst und insbesondere die Dichtung den Romantikern ihrem Wesen nach als eine Offenbarung des Unendlichen erscheint, bedeutet noch lange nicht, daß sie sich einer fremden Gesetzlichkeit und Zweckmäßigkeit unterwirft. Das Unendliche, das sie auszudrücken hat, läßt sich nicht auf ein Dogma, ein festes System, ein Lehrgebäude zurückführen, das es zu propagieren gilt. Es kennt keine Gebote und keine praktischen Anweisungen. Schleiermacher errichtet eine unumstößliche Wand zwischen der Religion, die in seinem Sinn tatsächlich mit der romantischen Poesie so gut wie zusammenfällt, und jeder Form von Moral, d. h. von Gesetzen. Die Offenbarung des Unendlichen stellt einen inhärenten Wesenszug der Kunst dar und nicht etwa ein Gebot, das ihr von außen auferlegt wird. Mit dem Verfechten eines fremden Zwecks und dem Predigen irgendwelcher feststehenden Werte hat sie nichts zu tun. Die Behauptung einer absoluten Autonomie der Kunst hat auf die frühromantische Poetik die folgerichtige Wirkung, daß das Problem der Nachahmung der Natur in den Hintergrund tritt. Schon im oben erwähnten Aufsatz Über die Grenzen des Schönen meint Friedrich Schlegel: „Wer die Kunst nur für Erinnerung an die schönste Natur hält, der spricht ihr alles selbständige Dasein ab. Hätte sie nicht ihre eigene Gesetzmäßig5

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Ebd., I, S. 23 ff.

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keit, wäre sie nur Natur, so wäre sie nicht viel mehr als ein dürftiger Behelf des Alters6." Nun hatte sida bis hin zu Kant das vorige Zeitalter immer wieder mit diesem Problem auseinandersetzen müssen. Der Begriff der Naturnachahmung war bekanntlich in sehr auseinandergehenden Bedeutungen verstanden worden, die sich ab und zu bei einem und demselben Denker belegen lassen. Als extreme Auffassungen kann man einerseits die treue Wiedergabe der 'Naturdinge' und andererseits das der natura naturans so weit wie möglich folgende Prinzip einer organischen Kunstschöpfung bezeichnen. Das eine und das andere wurden vertreten und dazu noch alle erdenklichen Zwischenstufen. Nie war der Begriff eindeutig festgelegt und allgemein anerkannt worden, obgleich jeder das Wort von der Natumachahmung im Munde geführt und als einen Kanon der Kirnst hingestellt hatte. Aber schon Kant hatte das Problem entschärft, und die Romantik widmet ihm nur noch eine zweitrangige Aufmerksamkeit. Wie ist das auf Grund der verkündeten Autonomie der Kunst zu erklären? Auf diese Frage mag ein Hinweis auf den bei den Frühromantikern beliebten Hemsterhuis einiges Licht werfen. Der holländische Philosoph unterscheidet in der Welt der Dinge die Naturelemente von den menschlichen Erzeugnissen. Daraus zieht er zwar selbst keine ästhetischen Schlußfolgerungen, und von einem möglichen Quellenwert für die Romantik kann keine Rede sein. Aber die Unterscheidung an sich ist aufschlußreich. Die Stelle befindet sich im Traktat Aristée ou de la Divinité7. Dort heißt es, alles Menschenwerk sei nur Mittel, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, während das „Naturwerk" an sich sei, unabhängig von seiner Wirkung. Seinen Gedanken verdeutlicht Hemsterhuis am Beispiel der Uhr: ohne Bezug auf ihre Bestimmung als Zeitmessungsgerät ist sie nur ein sinnloser Haufen heterogener Teile, während ein Baum nichts von seinem Wesen verliert, wenn seine möglichen Wirkungen außer acht gelassen werden. Hemsterhuis war weit davon entfernt, diese Unterscheidung als Grundlage für eine Definition der schönen Kunst benutzen zu wollen, denn unter den angegebenen Beispielen begegnen uns außerdem die Feile, deren Wesen in ihrer Qualität als Werkzeug, also als Mittel, liegt, und das Gedicht, das ebenfalls als Mittel zur Belustigung und zur Belehrung angesehen wird. In Sachen Ästhetik bleibt er also in herkömmlichen Schablonen befangen, aber seine Idee von der unterschiedlichen Beschaffenheit des Menschenwerks und des Naturelements führt möglicherweise zur Lösung des Problems von der Naturnachahmung, insofern es vom Prinzip der Autonomie der Kunst her gesehen wird. Die Kunst ist für die Romantiker nämlich • Ebd., I, S. 23 f. 7 Œuvres philosophiques, Paris, 1792, II, S. 37 ff.

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nicht ein Werk von Menschenhand wie andere mehr, ihr Zweck liegt nicht außerhalb ihrer selbst: sie hat ihren Zweck in sich und i s t voll und ganz, unabhängig von ihrer möglichen Wirkung. Dadurch unterscheidet sie sich grundsätzlich und wesentlich von den sonstigen menschlichen Produktionen und stellt sich auf die Seite der Naturdinge. Wenn der Begriff der Nachahmung der Natur für die Romantik noch irgendeinen Sinn hat, so kann er nur darin liegen, daß die unbedingte Seinsweise der Kunst mit derjenigen der Natur identisch ist. Die Kunst ist im 'Idealischen1 das gleiche, was etwa der Organismus im natürlichen Bereich ist. Durch solche Aufwertung erlangt die Kunst die gleiche Würde wie die andere rein geistige Tätigkeit des Menschen, nämlich die Ausübung der praktischen Vernunft, die 'Tugend', die ja auch ein Selbstzweck ist; sie geht sogar über die Tugend hinaus, was aber erst später begründet werden kann. Der Parallelismus von Kunst und Natur hat manchen Forscher dazu verleitet, sich die Frage vorzulegen, ob die Jenaer in ihrer Ablehnung der Naturnachahmung konsequent gewesen seien. Die Natur wird ja von ihnen als ein Gedicht der Gottheit gedacht, und die Frage scheint berechtigt, warum sie denn die Nachahmung eines göttlichen Gebildes grundsätzlich verwerfen. Wieder einmal liegt hier eine Verwechslung vor. Natur und Kunst sind zwei in ihrer Zwecklosigkeit wesensgleiche Schöpfungen, die eine von Gott, die andere vom Menschen. Die Natur ist Ausdruck der Gottheit, die Kunst ist Offenbarung der vom Menschen entdeckten Urbilder, die auch göttlich sind. Der Umweg über die Naturnachahmung erscheint demnach als überflüssig und irreführend: sie würde eine Mittelbarkeit zum Unendlichen verursachen, die dem Wesen der romantischen Kunst und Dichtung grob widersprechen müßte. Nicht auf die Widerspiegelung eines schon Geschaffenen kommt es den Jenaern an, sondern auf die 'Einbildung' des Unendlichen ins Endliche, wobei das Unendliche primär ist. Die Nachahmung der Natur kann wohl den Stoff der Kunst liefern, macht aber weder ihren Geist noch ihr Wesen aus. Es ist ja alles in der Natur Chiffre, Zeichen, Hieroglyphe, Figur, Symbol des Unendlichen. Die Kunst erstrebt eine ähnliche Offenbarung mit anderen Mitteln. Die Aufwertung der Kunst als Gegenstand der Reflexion bringt eine erhebliche Wandlung dieser Reflexion selbst mit sich. Die Perspektive ändert sich beträchtlich. Trotz der zahlreichen Versuche, die seit Baumgarten unternommen wurden, Kunst und Schönheit dem Stoff der philosophischen Betrachtung anzugliedern, war man eigentlich doch bei einer mehr oder weniger tiefgehenden phänomenologischen Beschreibung der Kunst stehen geblieben, und zur Klarstellung des Schönheitsbegriffes hatte man sich hauptsächlich auf psychologische und logische Grundlagen 18

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berufen. Einen wesentlichen Teil der vorhergehenden Ästhetik bildeten die Aufstellung von Regeln und Mustern — auch wenn eine solche Absicht geleugnet wurde — und die Darlegung der Mittel, die dazu benutzt werden sollten, das jeweilige Kunstideal zu erreichen. Das gilt für Baumgarten so gut wie für Winckelmann, für Sulzer wie für Lessing und trotz des gegenteiligen Anscheins auch für Herder. Diese gemeinsame Tendenz näherte die Reflexion über die Kunst einer Disziplin, aus der sie übrigens teilweise entsprungen war und von der sie sich bis dahin nicht ganz zu befreien gewußt hatte, nämlich der Rhetorik. Die Ästhetik war eine Einzelwissenschaft, und daß sie es werden konnte, war schon eine wichtige Eroberung und ein großes Verdienst ihrer Taufpaten. Auch noch bei Kant hat sie diesen Charakter großenteils behalten: sie entspricht einem besonderen Fach der Seele, das von den anderen qualitativ und modal verschieden ist, obschon es auf dem Umwege der — allerdings noch etwas stiefmütterlich behandelten — Symbolik mit der praktischen Vernunft in Beziehung steht. Die Konzentration auf das r e i n e Kunstphänomen — auf die Dichtung in der Dichtung — und auf die I d e e der Schönheit, die die idealistische Frühromantik kennzeichnet, mußte notwendigerweise eine andere Einstellung hervorrufen. Kunst und Schönheit sind nämlich von nun an nicht mehr auf einen Aspekt der Welt und eine menschliche Tätigkeit unter anderen beschränkt, sondern die Schönheit wird zur Zentralidee des geistigen Universums, und die 'Poesie* bezeichnet einen Urzustand der Welt und die Grundtätigkeit des menschlichen Gemüts. Schon im Systemprogramm wird die Schönheit bezeichnet als die Idee, „die alle vereinigt", und der höchste Akt der Vernunft, „in dem sie alle Ideen umfaßt", wird als ein ästhetischer Akt dargestellt. Die platonische Idee der Schönheit erscheint demnach als der Urgrund und der Mittelpunkt des Seins; nur in ihr sind Wahrheit und Güte „verschwistert". Dementsprechend erklimmt die Poesie den Gipfel der geistigen Tätigkeit und „überlebt" alle Künste und Wissenschaften, indem sie in den alten Rang einer „Lehrerin der Menschheit", den sie in mythischen Urzeiten innegehabt habe, wieder eingesetzt wird. Der Dichter versteht die Welt besser als der wissenschaftliche Kopf, wird Novalis kühn und zugespitzt behaupten. Ähnliches war früher selbstverständlich nicht ganz unbekannt; es genügt, die Namen Hamann und Herder zu erwähnen, um sich dessen zu vergewissem. Die Romantiker haben denn auch reichlich aus diesen Quellen geschöpft, wenn sie gleich mit entsprechenden Hinweisen und Andeutungen befremdlicherweise sehr sparsam sind. Hamann und Herder sind aber Einzelerscheinungen geblieben und konnten außerdem nicht auf zusammenhängenden Gedankengängen und systematisch Fun-

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diertem aufbauen; erst der Idealismus lieferte die philosophische Basis, an der Herder jedoch aus verschiedenen, hier nicht zu erörternden Gründen verständnislos vorbeiging. Mit der Erhebung ihres Gegenstandes zum Mittelpunkt der Philosophie mußte die romantische Ästhetik ihr Gebiet unermeßlich erweit e m und eigentlich alle philosophischen Probleme umgreifen. Die Ästhetik wird zur Philosophie, ohne deswegen dazu gezwungen zu sein, ihren Gesichtspunkt zu verschieben; die Grundfragen der Philosophie sind nun einmal ästhetische Probleme. Die Theorie der Kunst umfaßt also die Theorie der Welt, des Geistes und des Lebens. Lang ist der Weg, den sie seit Baumgarten zurückgelegt hat, der die ästhetische Tätigkeit dem Bereich der „unteren Erkenntnis" zugewiesen hatte. Bei den Romantikern kann von irgendeiner Angliederung der Kunst an die sinnliche Erkenntnis nicht mehr die Rede sein. Sie verläßt endgültig das Seelenfach, in das sie von den früheren Generationen geschoben worden war, und wird zum Gegenstand einer 'universellen' Wissenschaft, d. h. einer Disziplin, die alle anderen umfaßt. Diese sogenannte Universalisierung ist mit dem Begriff Romantik unzertrennlich verbunden. Neben anderen hat Friedrich Schlegel diese Tendenz häufig vertreten, und unter den zahlreichen Formeln, die er benutzt hat, findet sich in den Philosophischen Lehrjahren folgende: „Jede der klassifizierten Wissenschaften — Logik, Ethik, Poetik, Politik, Historie — behauptet ihre Rechte (und Individualität), wiewohl jede dieser Wissenschaften, progressiv behandelt, universell ist und also alle übrigen umfaßt 8 ." Nun ist eine solche progressive Behandlung jeder Wissenschaft eine Forderung der Zeit, die ihr Leitbild nicht mehr im in sich selbst ruhenden Sein, sondern im ewigen Werden erblickt. In bezug auf die Ästhetik scheint solche Forderung besonders berechtigt und die erstrebte Universalität besonders leicht erreichbar, weil die Kunst sich in romantischer Sicht an den ganzen Menschen und nicht etwa an gesonderte Seelenvermögen richtet: „Die Ästhetik ist die Philosophie über den ganzen Menschen" 8 . Diese Anschauung zieht wichtige Folgen für die Bedeutung der Kunst nach sich: einerseits wird die 'Poesie' die unbedingte Voraussetzung zum Verständnis jeder menschlichen Tätigkeit und Wissenschaft, andererseits läuft jede geistige Bemühung darauf hinaus, die 'Poesie' zu erhellen und die Menschen zur Poesie zu bilden. Den „innersten Geist" etwa der Grammatik „kann man nicht verstehen ohne Poesie" 10 . Auch der Zugang 8 9 10

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Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, Kritische Ausgabe seiner Werke (abgekürzt KA), Bd. XVIII, S. 81, Nr. 618. Ebd., S. 207, Nr. 132. Ebd., S. 376, Nr. 675.

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zur Philosophie ist ohne sie unmöglich: „Ohne Poesie wird hinfüro niemand den Eingang zu Spinoza und Plato finden und auch zu Böhme"11. „Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter", heißt es im Systemprogramm; „die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie". Zum echten Selbstverständnis der Menschen verhilft nur die Poesie als „intellektuelle Anschauung der Menschheit"12. Ähnliches gilt für die Natur und das Universum: „Das Universum ist nur ein Gegenstand der Poesie, nicht der Philosophie"13. „Selbst über Geschichte kann man nicht geistreich räsonieren — ohne ästhetischen Sinn"14. Die Poesie ist das A und O der Welt und des Menschen. Diese Novalis'sehe Formel drückt die tiefste Überzeugung der Frühromantiker aus. Poesie ist Ursprung und Ziel, Voraussetzung und Endzweck jeder geistigen Tätigkeit. Bildlich ausgedrückt: „Die Poesie ist die Sonne, in die sich alle Planeten der Kunst und Wissenschaft auflösen"15. Sie ist der Mittelpunkt, um den sich alles dreht, der einzige wahrhaft lohnende Gegenstand menschlicher Bemühung, der alle anderen in den Schatten stellt. Als Friedrich Schlegel 1802 in Paris an einer französischsprachigen Darlegung seiner Philosophie arbeitete, überkam ihn der grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit solcher Darstellung: „Es wird doch immer Poesie vorausgesetzt, und es kann selbst nichts anders sein als Bildungsmittel zur Poesie. Was also sollte es hier?"18 Sonach zwingt sich die Poesie den Frühromantikern immer wieder als das Zentrum ihrer Welt auf. Alles geht von Poesie aus und führt dahin zurück. Die Theorie der Poesie ist demnach die Theorie vom gesamten Menschen und vom tieferen Wesen des Universums. „Am Ende wird alles Poesie", meint Novalis. Das ÖVTWC; ÖV, die Quintessenz, das absolutum der Welt kann nur die Poesie enthüllen und darstellen17. Solcher Blickpunktwechsel in der Ästhetik hat sich obendrein auch auf die praktische Ausübung der Kunst ausgewirkt. Die Kunst und vorzüglich die Dichtung wird zum „Schlüssel der Welt und des Lebens", zum Spiegel, in dem sich die Lebensfragen abbilden, was sie befähigt, zur Lösung der Existenzprobleme beizutragen. Nicht zufällig ist die romantische Zeit zugleich die Epoche des Wiederauflebens des großen, umspannenden Entwicklungsromans — Goethe hat hauptsächlich durch seinen Wilhelm Meister die Romantik beeinflußt. Gerade die Suche nach dem 11 12 13 14 15 18 17

Ebd., S. 391, Nr. 348. Ebd., S. 208, Nr. 146. Ebd., S. 141, Nr. 231. Systemprogramm. Fr. Sdilegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 569, Nr. 84. Ebd., S. 487, Nr. 155. Vgl. ebd., S. 345, Nr. 288.

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Sinn des Lebens und der Wunsch zur totalen Entfaltung des individuellen Daseins haben die Romantiker angezogen. Nicht mehr Zeitvertreib der gebildeten Gesellschaft, gelehrtes Spiel mit Formen oder etwa spontaner Ausdruck der Leidenschaften darf die Dichtung sein. Sie bekommt eine existenzbezogene Aufgabe, und sie schreckt sogar nicht vor abstrakten Einschaltungen zurück, die eine Reflexion auf ihren Inhalt, d. h. auf das Leben, zum Zweck haben. Das Buch, und besonders der Roman, wird zur „Bibel", zur „Enzyklopädie", zur Gesamtschau des Lebens. Und da die Kunst zum notwendigen und wesentlichen Lebenselement geworden ist, wird sie auch zum Hauptthema der romantischen Kunst selbst. Romantische Dichtung ist auch 'Poesie der Poesie'; der romantische Dichter wird zum 'Dichter des Dichters', wie es Heidegger im Blick auf Hölderlin formuliert hat. Das ist Dichtung in der zweiten Potenz; und die Idee der Potenzierung ist aus der romantischen Dichtungsschau nicht auszuklammern, auch wenn sie nur von Schelling mit strenger Konsequenz dargelegt wurde. 'Reine' Dichtung ist in romantischer Sicht sehr oft Dichtung, die sich selbst zum Gegenstand hat. Vielleicht ein poetischer Irrweg, aber eine unleugbare historische Tatsache.

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II. PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN Obgleich die deutsche Romantik ihre Entstehung nicht so unbedingt und prinzipiell wie etwa die französische einem Widerspruch zu den Tendenzen ihrer Zeit verdankt, hat sie sich doch zu den Idealen der Aufklärung und der Klassik von vornherein antithetisch verhalten. Im Falle der Aufklärung läßt sich die polemische Einstellung der Romantiker eindeutig nachweisen. Die Angriffe gegen den damals in breiten Schichten noch herrschenden Rationalismus begegnen in Hülle und Fülle in jeder romantischen Zeitschrift und bei jedem romantischen Theoretiker und Kritiker. Ob diese Polemik geistesgeschichtlich fruchtbar war, muß man freilich von einer heutigen Perspektive aus bezweifeln, und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits ist wohl kein überzeugter Aufklärer auf Grund der romantischen Einwände am Rationalismus irregeworden. Aufklärung und Romantik wenden sich nun einmal nicht an die gleiche Menschenart, und ein echter Übertritt vom Rationalismus zur Romantik ist kaum denkbar. Daß die meisten Frühromantiker in ihrer Jugend die Ideale der Aufklärung geteilt haben, ist kein Gegenargument; sie atmeten eben aufklärerische Luft, die Aufklärung war ihr Lebenselement, ihre natürliche Umgebung. Nicht auf freier Wahl und bewußter Überzeugung beruhte ihre damalige Geistesrichtung; sobald sie ein ausreichendes Selbst- und historisches Bewußtsein erlangten, auf Grund dessen sie sich frei entscheiden konnten, haben sie vielmehr alle der Aufklärung, die ihrem Wesen nicht entsprach und es geistig vergewaltigte, Valet gesagt. Das dürfte bei einem überzeugten Aufklärer wohl nie der Fall gewesen sein, und insofern ist die Polemik nach außen hin unergiebig gewesen. Andererseits hat diese Polemik der Ausarbeitung des romantischen Ideals nur spärliche positive Elemente beigesteuert. Der Kampf zwischen den beiden Welt- und Kunstanschauungen, so zwangsläufig er sich nach den Gesetzen der menschlichen Psychologie abwickeln mußte, war von vornherein zu einem unentschiedenen Ausgang verurteilt. Die Gegner bedienten sich dabei so verschiedenartiger Waffen, daß eine richtige Begegnung ausgeschlossen war. Ein Austausch von Argumenten und Gegenargumenten, Beweisen und Gegenbeweisen war naturgemäß unmöglich, weil die Parteien mit demselben Wort einen anderen Begriff 23

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meinten. So blieb eigentlich auf beiden Seiten nur die Zuflucht zur Ironie und zur Satire übrig, und die Gegner haben es tatsächlich daran nicht fehlen lassen. Solche negative Polemik konnte aber für die Festigung und Grundlegung der romantischen Weltschau um so weniger fruchtbar werden, als die beiden Parteien über ihren Fehden und Voreingenommenheiten die teilweise Ähnlichkeit zwischen ihren Bestrebungen völlig übersahen. Im Grunde kennzeichnet derselbe anspruchsvolle Optimismus die beiden Bewegungen; beide wollen das Universum erkennen und „überall zu Hause sein". Nur sind ihre Methode und ihre Geistesrichtung verschieden. Während die Aufklärung die verstandesmäßige Eroberung des Weltmechanismus und die rationale Gestaltung des menschlichen Schicksals anstrebt, versucht die Romantik die Errungenschaften und die Methoden der Vernunft auf die Erhellung des Irrationalen und des Unbewußten anzuwenden. Sie erhebt den Anspruch, die „Nachtseiten" des Universums und des Menschen an den Tag zu legen, d. h. sie in der Kunst und vornehmlich in der Dichtung zu enträtseln. Beide Bewegungen entspringen einem großen Vertrauen in die Macht des menschlichen Geistes. Was den Widerspruch zur Klassik anbelangt, erweist sich der Sachverhalt als viel differenzierter. Von einem Gegensatz zur deutschen Klassik kann — wenigstens am Anfang der romantischen Bewegung — nicht die Rede sein. Freilich haben die Angriffe nicht übermäßig lange auf sich warten lassen. Bis zu dem Augenblick jedoch, in dem Goethe von Novalis der Antipoesie bezichtigt wurde und von August Wilhelm Schlegel den Vorwurf hören mußte, er begehe immer wieder die Sünde wider den heiligen Geist, haben sich die Frühromantiker vollkommen im Einklang mit ihm gefühlt und ihn als einen Gipfel der 'romantischen' Dichtung gefeiert. Und was die Jenaer Schule der Schillerschen Lehre von der naiven und sentimentalischen Dichtung und den Schillerschen Begriffen von Anmut und Würde verdankt, ist für die Romantik überhaupt so grundlegend, daß man sich ernsthaft fragen darf, ob eine romantische Dichtungstheorie ohne Schillers Vorgang hätte entstehen können. Die persönlichen Zerwürfnisse ändern nichts an diesem geschichtlichen Tatbestand. Nicht nur mit Rücksicht auf Goethe haben die Frühromantiker Schiller totschweigen wollen, sondern vor allem, weil sie nicht immer genau wußten, wo der Hebel anzusetzen war. Ein etwas ungelenker Griff hätte das eigene Gedankengebäude sehr beschädigt. Genau das gleiche gilt, wie schon oben gesagt, für Herder. Jugendlicher Ubermut und kleinstädtischer Klatsch waren nie die besten Wege zum angemessenen Verständnis für anderer Verdienste. Nicht die deutsche Dichtung ist also gemeint, wenn bei der Entstehung der Romantik von einem Widerspruch zur Klassik die Rede ist, son24

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dem die griechische Antike und das sogenannte Klassizistische, d. h. die neuzeitliche Nachahmung des klassischen Altertums. Der Gegensatz zu diesem 'Klassizismus' ist rein dichtungskritisch und hat mit den philosophischen Grundlagen nicht viel zu tun. Er wird später behandelt. Die Antike aber wurde von den Romantikern als die große Antithese empfunden, oder, besser gesagt, die Frühromantik hat sich bewußt antithetisch zu der klassischen Antike entwickelt. Der frühromantische Grundbegriff, das Unendliche, ist in einem dialektischen Widerspruch zur Antike erarbeitet und begründet worden. Schon die negative Form des Wortes ist ein deutlicher Hinweis darauf. Es wäre eine äußerst schwierige, wenn nicht unmögliche Aufgabe, den Begriff des Unendlichen in der frühromantischen Terminologie ohne Beziehung auf das Korrelat des Endlichen als Inbegriff der antiken Kultur, wie die Jenaer sie verstanden, definieren zu wollen. Ein bei den Romantikern beliebtes Doppelsymbol zur Veranschaulichung des Unterschiedes zwischen der antiken und der eigenen Weltanschauung ist das Bild des Kreises und der Geraden. Der Kreis ist geschlossen, er geht in sich selbst zurück, und alle Punkte, die er streift, sind vom Zentrum gleich weit entfernt. Zugleich umfaßt er ein Feld, das er begrenzt und gegen die größere Fläche, von der es sich abhebt, hermetisch abschließt. Die Gerade geht in eine bestimmte Richtung, läßt jeden Punkt hinter sich zurück, kehrt nie um, sondern entfernt sich ständig von jedem Punkt, der auf ihr liegt, ohne daß dieser Entfernung ein Ziel gesetzt wäre. Der Kreis ist das Bild des Seins, das in sich ruht und sich in sich selbst gefällt, und zugleich das Symbol der Vollkommenheit. Die Gerade kennzeichnet das Werden, die unaufhörliche Entwicklung auf ein Ziel hin, das immer weiter wegrückt und in Wirklichkeit nie zu erreichen ist. Der Kreis ist das Sinnbild der antiken, die Gerade das der modernen, oder besser, wie erst später erklärt werden kann, der romantischen Kultur. Das Wesen des Menschen und der Welt wird also von den Romantikem als ewig unvollendbar aufgefaßt; es hat die Tendenz in sich, über alles Gegebene, alles Endliche hinauszustreben. Das Werden wird zum eigentlichen Sein des Menschen und des Universums. Wenn man die symbolische Bedeutung der Geraden weiter vertieft, wird die romantische Vorstellung noch eindeutiger. Die Gerade ist nämlich in beiden Richtungen 'unendlich': in der Richtung auf den Ursprung sowohl als auf das Ziel hin. Der Ursprung des Menschen und der Welt liegt demgemäß jenseits alles Endlichen genau wie ihr Ziel. Ursprung und Ziel hegen im 'Unendlichen', im Geistigen, im Ubersinnlichen, im Absoluten, in Bereichen, die dem Verstand als Vermögen des Endlichen unzugänglich sind. 25

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Das Lebenselement des Menschen ist das Unendliche im Sinne eines Über-Endlichen, einer Transzendierung der Welt der Dinge, eines 'Unbedingten'. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht eine Deutung des Begriffes 'absolut' durch Friedrich Schlegel. Absolut ist für ihn nicht etwa das von der Kontingenz 'Abgeschnittene'; er faßt die Vorsilbe rein negativ und stellt als Synonym von absolut das Wort 'unbegrenzt' auf. Die Stelle lautet: „Des konsequenten Eklektizismus Wesen und Anfang ist das willkürliche Vernichten des Absoluten (Unbegrenzten)"1. Solche Sinnverschiebung paßt in das romantische Weltbild gut hinein: das Absolute ist nicht etwa von den Dingen getrennt, sondern es umfaßt das Ganze des Universums, und jedes Ding bekommt erst dann seine rechte Ansicht, wenn es unter dem Gesichtspunkt des alles umspannenden Absoluten gesehen wird. Jedes Ding ist Träger des Absoluten; deshalb hat die romantische Poesie das Absolute, das Unbegrenzte, das Unendliche jeder Erscheinung zu offenbaren. Es ist willkürlich und unwahr, die Dinge, die Natur, die Geschichte, die Kunst als für sich seiend zu betrachten; ihr Sinn zeigt sich erst, wenn man sie als Offenbarungen des Übersinnlichen auffaßt. So ergibt sich die für die Romantik und besonders für die romantische Religionsanschauung folgenreiche Gleichung: Unendlich = Absolut. Gewiß konnte sich, wie E. Hirsch mit vollem Recht hervorhebt2, eine solche Weltansicht, wie überhaupt die idealistische Philosophie, erst aus einer christlich geprägten Mentalität entwickeln. Alle Frühromantiker bestätigen die Tatsache, daß das Christentum die Kluft zwischen Antike und Moderne aufgerissen hat. Davon wird noch die Rede sein. August Wilhelm Schlegel sagt z. B. mit klaren Worten in seinen Wiener Vorlesungen, daß die Welt der Antike, die Kultur des Endlichen, von der christlichen Anschauung des Unendlichen, die das wesentliche Dasein ins Jenseits transponiert habe, zerstört worden sei. Das Bemerkenswerte ist jedoch, daß die Romantik die Welt des Endlichen nicht einfach negiert und verachtet, sondern im Gegenteil etwa den menschlichen Körper als Mittler und Tempel des Göttlichen ehrt und heiligt. Von einer christlichen Weltnegation und -Verachtung kann bei den Romantikern keinesfalls die Rede sein; vielmehr erfährt bei ihnen die Welt als Spiegel des Unendlichen eine bedeutende Wertsteigerung. Nur deshalb konnten sie die Kunst als die höchste menschliche Tätigkeit ansehen. Mit einer solchen Welthaltung sind wir dem Pantheismus viel näher als etwa der lutherischen Lehre. Die romantischen Bezeichnungen für das Unendliche dürfen also nicht ohne weiteres 1

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Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 4, Nr. 7. Das Wort „Unbegrenzt" ist im Manuskript eine Randbemerkung. Die idealistische Philosophie und das Christentum, S. 540.

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im christlichen Sinne verstanden werden. Wenn eine Verwandtschaft gesucht werden soll, dann allenfalls noch eher mit Spinoza und seiner umfassenden Anschauung von Geist und Natur als Seinsformen des Göttlichen oder des Universums. „Das Universum ist der Inbegriff der övroog ÖVTCDV", schreibt Friedrich Schlegel in den Philosophischen Lehrjahren3; und im selben Zusammenhang meint er: „Das Streben nach dem ÖVTCÜ; öv, ins Unendliche fortgesetzt, führt auf Gott" 4 . Daher kann er sowohl die Idee des Universums als auch die der Gottheit als die „Idee aller Ideen" bezeichnen5. Trotzdem darf nicht übersehen werden, daß der Weg von Spinoza zur Frühromantik in den meisten Fällen über den philosophischen Idealismus führt. Die romantischen Unendlichkeitsbegriffe sind zunächst rein philosophisch zu verstehen. Nur vereinzelt, wie vorzüglich bei Novalis, und hauptsächlich erst im weiteren Verlauf der Entwicklung kommt ihnen mitunter eine pantheistische, mystische oder christliche Bedeutung zu. Diese darf nicht überall untergeschoben werden. Friedrich Schlegels Formel von der „Idee aller Ideen", die er auf das Universum und auf Gott, mithin auf das Unendliche und Absolute bezieht, will wie die in der frühromantischen Theorie häufig vorkommenden ähnlichen Wendungen wörtlich verstanden sein. Es handelt sich dabei nicht um eine Intensivierung des Ausdrucks, um die Verstärkung des Begriffs, wie etwa in den Redensarten: das Herz des Herzens, die Seele der Seele, die bloß auf den innersten Grund des Herzens oder der Seele hindeuten. Die Romantiker fassen solche Ausdrücke anders auf: die „Poesie der Poesie" ist nicht zuerst der intimste Kern der Poesie, sondern eine Poesie, die die Poesie zum Gegenstand hat, ein richtiger genetivus objectivus; das gleiche gilt für die „Ironie der Ironie", womit also die Ironie gemeint ist, die sich gegen die Ironie richtet. Die Idee aller Ideen ist demnach die Idee, die alle anderen erzeugt und umfaßt, die ihnen zugrunde liegt, die Uridee, aus der alle geschöpft sind, etwa im gleichen Sinne, wie Gott der Grund der Gründe oder die Ursache der Ursachen genannt wird. Die Idee aller Ideen ist die höchste, die alle anderen bedingt, indem sie vom Menschen als die Quelle und die Möglichkeit der Ideen überhaupt gedacht wird. Somit deckt diese Schlegelsche Umschreibung des Unendlichen auch den traditionellen Begriff des Absoluten, und daraus erhellt noch deutlicher die Gleichsetzimg des Unbedingten und des Unendlichen. » KA, Bd. XVIII, S. 326, Nr. 22. 4 KA, Bd. XVIII, S. 329, Nr. 55. 5 „Idee aller Ideen ist wohl die des Universums", KA, Bd. XVIII, S. 337, Nr. 168; die Idee der Gottheit ist die Idee aller Ideen", Ideen, KA, Bd. II, S. 257, Nr. 15.

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Die Romantik geht also von einem festen Glauben an das Absolute aus. Das Absolute ist der Ausgangspunkt ihrer Philosophie, das Element, aus dem heraus sie eigentlich philosophiert, die Triebfeder ihrer Dynamik, die ohne jede Skepsis hingenommene Grundlage ihrer Weltschau. Bei Friedrich Schlegel heißt es bestätigend: „der Grund des Bewußtseins = Ansicht des Unendlichen" 8 . Es gibt kein Bewußtsein, kein Denken und auch kein Sein, das nicht auf dem Absoluten beruht. Im Grunde und richtig verstanden ist jedes Ding und jeder Denkvorgang unendlichkeitshaltig; es schlägt alles seine Wurzeln im Absoluten. Aufgabe der romantischen Dichtung ist es, diese einzig 'wahre' Ansicht der Welt zu verkünden. Die Enthüllung des Unendlichen wirft aber schwierige Probleme auf, weil das Absolute eben kein Etwas ist, das man ein für allemal entdecken und offenbaren könnte. Es ist im Gegenteil in jedem Etwas das, was immer weiter weg liegt als das Faßbare, es ist das denkbar Innerlichste jedes Phänomens, das sich der gewöhnlichen Erkenntnis auf immer entzieht. Es kann wohl 'angedeutet' werden — und die Romantiker machen von dem Wort Andeutung in diesem Zusammenhang einen ausgiebigen Gebrauch —, aber ein Beweis ist unmöglich. Das Unendliche ist eben das begrifflich unfaßbare Innerste jedes Beweises. Es kann nicht bewiesen werden, aber erst von ihm her hat jeder Beweis seine Kraft. Es kann auch nicht gewußt werden, aber es ist die Voraussetzung jedes Wissens. Es kann nicht einmal wirklich gedacht werden, denn das Denken setzt schon eine Trennung von denkendem Geist und gedachtem Gegenstand, von Subjekt und Objekt voraus, die es im Absoluten nicht geben kann. Das Absolute ist gerade die Abwesenheit solcher Trennung; in ihm fallen Objekt und Subjekt zusammen und bilden eine Identität, deren Erkenntnis dem diskursiv arbeitenden Verstand unzugänglich ist. Die Suche nach dem Absoluten verlangt eine völlige Umkehr des normalen Denkverfahrens; sie führt nur dann zum Erfolg, wenn sie von jedem Objekt, das außerhalb des Denkens selbst liegt, absieht und so das Denken selbst in seiner reinsten Tätigkeit zum Gegenstand des Denkens erhebt. Das ist die Quelle und das Prinzip der anschauenden Erkenntnis. Die Identität von Subjekt und Objekt kann sich naturgemäß in keinem Ding, in keinem seienden Etwas finden, denn solches Ding ist notwendigerweise Objekt oder Subjekt der Erkenntnis. Sie kann nur in einer Tätigkeit, in einem reinen Akt vorhanden sein. Dieser reine Akt ist die intellektuelle Anschauimg, in der das Ich sich seiner selbst vergewissert, indem es sich produziert, und mit der es eigentlich zusammenfällt. Das Ich ist also in romantischer Sicht nicht etwa ein bestehendes Etwas, eine tatsächliche Synthese » Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 415, Nr. 1127 (eine Randbemerkung).

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verschiedener empirischer Elemente, sondern eine reine Tätigkeit7. In der reinen Tätigkeit, die das Ich ausmacht, liegt demnach der vorzügliche Offenbarungsort des Unendlichen. Alles muß auf ein so verstandenes Ich zurückgeführt werden, damit ein gültiger Sinn erfaßt wird. Die Vorstellung, nach der das Absolute sich primär in der Tätigkeit des Geistes offenbart, der sich im Denken als denkender Geist erkennt und sich seiner selbst denkend bewußt wird, ist der ganzen Romantik gemeinsam. Fichte hat sie mehrmals ausgedrückt, etwa mit der Formel: „Man muß in eigener Person das Absolute sein und leben" 8 , und auch Friedrich Schlegel, der z. B. schreibt: „Es gibt kein Unendliches als ein Ich"*, und „alles Unendliche ist ein Ich und jedes Ich ist unendlich. Das Unendliche kann nur tätig, und das Ich nur in Wechselwirkung gedacht werden"10. Was das Wort Wechselwirkung bei Friedrich Schlegel bedeutet, ob die innere Tätigkeit des Geistes, der sich in seinem Akt anschaut, oder seine notwendige Korrelation zum Du, kann erst später erörtert werden. Wesentlich sind für jetzt die große Bedeutung, die dem Ich als intellektueller Anschauung beigemessen wird, und die Einsicht, daß man das Absolute nicht auf dem normalen Weg des Bewußtseins „erkennen", sondern nur „sein und leben" kann. Das Absolute läßt sich nicht wie ein beliebiges Objekt fassen; es manifestiert sich einzig und allein durch eine Handlung des Geistes, durch eine Tätigkeit, die „rein" ist, weil sie auf kein Objekt außer sich bezogen ist. Mit dieser Vorstellung hängt die romantische Dichtungsanschauung aufs engste zusammen, denn der — logisch freilich voreilige — Schluß liegt nahe, daß eine geistige Tätigkeit ohne fremdes Objekt als Ziel und Grenze aus dem Absoluten entspringe. Nun erblicken die Romantiker eine solche Tätigkeit nicht in den Handlungen des Verstandes, die sich ja immer auf ein Objekt beziehen, sondern — und darin folgen sie einer direkten Anregung Fichtes — in den Schöpfungen der Phantasie. Die schöpferische Einbildungskraft, sofern sie sich keinem bestimmten Zweck dienstbar macht, produziert Emanationen des Absoluten: Bilder, Märchen, Symbole, Mythen bekommen demnach im romantischen Universum den Stellenwert von Offenbarungen des Unendlichen. Weil das Absolute nicht rational erkannt, sondern eben nur „gelebt" und „gehandelt" werden kann, stehen diese seine Offenbarungen notwendigerweise auf der Ebene des Irrationalen. Daraus ergibt sich schon die Möglichkeit einer Wesensbestimmung der romantischen Poesie, der es abwechselnd um ein Untertauchen ins Irrationale und um ein BeVgl. Sdielling, System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 369. Werke XI (3. Band der nachgelassenen Werke), S. 360; zitiert von Hirsch, a.a.O., S. 548. • Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 301, Nr. 1282. 10 Ebd., S. 409, Nr. 1069. 7

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PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN wußtmachen des unbewußten Phantasieschaffens durch die Reflexion geht. Die großen romantischen Mythen und Symbole sind fast durchweg Ausdrücke des Irrationalen und des Unbewußten: die Nacht, der Schlaf, der Traum, das Wasser, der Orient, der Wald, der Einsiedler, der Goldgräber, die Höhle, die blaue Blume, usw. Die Bedeutung des Todes als eines romantisierenden Prinzips des Lebens ist in diesem Zusammenhang natürlich, gehört er doch in die gleiche Vorstellungssphäre wie die Bilder der Nacht. Und daß diese Symbole zum Teil in einer hymnischen Bildersprache vorgetragen werden, kann auch nicht wundernehmen, denn eine solche Sprache ist von jeher den Religionsstiftern und Sehern des Absoluten eigentümlich gewesen. Das Ich oder die intellektuelle Anschauung, dieses „geheime, wunderbare Vermögen", das uns befähigt, „uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes . . . zurückzuziehen" 11 , ist also die Identität von anschauendem Subjekt, angeschautem Objekt und Anschauung selbst. Als das Absolute ist das Ich die Grundlage jeder Erkenntnis und jedes Seins. Es ist die Urform jeder Erkenntnis, weil nur in ihm die Unmittelbarkeit des Wissens gesichert ist: Subjekt und Objekt sind im Gegensatz zu jedem sonstigen Erkenntnisakt durch kein Medium getrennt. Es ist der Urgrund jedes Seins, weil in ihm das Bewußtsein mit dem Sein zusammenfällt: das Ich hat kein anderes Sein als eben das Bewußtsein seiner Existenz. Nach dem Erlebnis dieses Urgrunds geht das Streben des geistigen Menschen. Die Romantik kennt nur dieses eine Ziel. Das Bewußtsein der ObjektSubjektspaltung ist der Ansatz, die Aufhebung dieser Spaltung das Ziel der romantischen Bemühungen. Das Wiederfinden der Identität, die Rückeroberung des Absoluten ist der Leitstern der geistigen Tätigkeit. „Das Notwendige im Menschen", schreibt Friedrich Schlegel, „ist gerade nur die Sehnsucht nach dem Unendlichen" 12 . Die N o t w e n d i g k e i t dieser Sehnsucht ist der Inbegriff der menschlichen F r e i h e i t , sie macht das Wesen des Menschen aus, das es zu erkennen, zu offenbaren und in die Praxis des Lebens umzusetzen gilt. Dazu führt jedoch nicht das diskursive Denken, das im Reich der Spaltung stattfindet und deswegen ein unvollkommenes Denken ist, dessen richtig verstandenes Ziel nur in seiner Selbstzerstörung, Selbstüberwindung und -transzendierung bestehen kann. D a z u führt nur das intuitive, anschauende Denken, in dessen Entfaltung die Romantik ihre wesentliche Aufgabe und den Grund zur zentralen Bedeutimg der Kunst im Leben erblickt. So geht der romantische W e g vom Absoluten als Ursprung zum Absoluten als Erfüllung. Das Schweben zwischen dem einen und dem 11

12

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Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, Bd. I, S. 242. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 420, Nr. 1200.

PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN andern bestimmt die Auffassung des Geistes und seiner Funktion. Der Mensch ist das Wesen, das sich an seinen unendlichen Ursprung dunkel erinnert und das sich zugleich danach sehnt, diesen unendlichen Ursprung wiederzufinden. So hängt er in einer ständigen Schwebe zwischen 'Erinnerung' und 'Ahnimg'. Sein irdisches Leben, sofern es sich seines Sinnes bewußt geworden ist, ist eine unaufhaltsame Bewegung von der Intuition des Absoluten zu seiner Verwirklichung. Der menschliche Geist ist das Mittelglied zwischen den beiden Polen, er ist wesentlich T e n d e n z nach dem Absoluten, ein „ursprüngliches Wollen" 13 . Ahnen und Wollen der Identität geschehen im Menschen uno actu; die intellektuelle Anschauung ist, um mit Fichte zu reden, eine Tathandlung, die Wissen und Handeln umgreift. Mit der Anschauung des Unendlichen wird zugleich und mit ihr unzertrennlich verbunden der Wille zum Festhalten und zur Verwirklichung dieses Absoluten geboren. Im bewußten Geist gibt es, so meint Novalis, eine Identität von Wissen und Tun, von Erkennen und Wollen. Darum ist der Geist in romantischer Sicht nicht etwa nur der Spiegel des Universums oder ein reines Erkenntnisorgan. Das Wesen des Menschen liegt nicht im Spekulieren, sagt Schelling, sondern im Handeln14. Schellings Schriften bieten eine Fülle solcher Formulierungen, in denen der dynamische Charakter des Geistes zum Ausdruck kommt. „Unser ganzes Dasein hängt an unserer Tätigkeit. Diese Tätigkeit aber äußert sich in beständigen Produktionen" 15 ; „Das Wesen des Geistes [besteht] in Aktivität" 16 , er ist „nichts anderes als ein ewiges Werden" 17 . Schon in ganz jungen Jahren war Schelling von dieser Idee durchdrungen, und er wollte sie sogar in den ältesten Mythen der Menschheit entdecken, deren symbolische Bedeutung er als „rastlose Begierde und ewige Unruhe" auslegte18. Der Geist ist demnach zugleich der Wille zur Wiederherstellung, zur 'Realisierung' des von ihm angeschauten Absoluten. Die Reflexion, und insbesondere die Reflexion auf die eigene Erkenntnis, die Kritik des Erkenntnisvermögens, ist nur eine Teilfunktion des Geistes. Sie wird durch das Bewußtsein der Spaltung ausgelöst und muß mit der Überbrückung der Spaltung aufhören. Sie kann also kein Zweck an sich sein, sondern nur ein Mittel zur Wiederentdeckung der Identität, aus welcher ja das wahre 13

Schelling, Abhandlungen

Bd. I, S. 319.

11 15

16 17 18

zur Erläuterung des Idealismus der

Wissenschaftslehre,

Vom Ich ah Prinzip der Philosophie (Autokritik), B d . I, S. 167. Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, B d . I, S. 3 0 8 ; v g l . auch Ideen zu einer Philosophie der Natur, B d . I, S. 663. Über Offenbarung und Volksunterricht, B d . I, S. 401. Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, B d . I, S. 291. Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Zeit, B d . I, S. 4 1 f.

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geistige Leben hervorgeht. Das diskursive Denken erfüllt eine untergeordnete Aufgabe, und die Reflexion als typisches Verfahren dieses Denkens ist im Grunde ein krankhafter Zustand 1 '. Sie soll fruchtbar gemacht werden, und zwar als Ansatz zum Streben nach der Realisierung des Unendlichen. Das höchste Gesetz lautet nicht etwa „Erkenne dich selbst", sondern in Ubereinstimmung mit der Doppelfunktion der intellektuellen Anschauimg als Wissen und Wollen: „Sei absolut identisch mit dir selbst". Und Sdiellings Kommentar dazu lautet: „Das letzte Ziel des endlichen Ichs ist also Erweiterung bis zur Identität mit dem Unendlichen"20. Erweiterung schließt nicht nur ein Erkennen, sondern auch ein Werden und Streben in sich ein. Das große Hindernis auf dem Weg der „Selbstbildung" — so nennt Schelling das Streben nach der Identität unseres Geistes — ist das Endliche, das Unbewußte, das Dunkle unserer irdischen Natur, vor allem das Triebhafte und das Träge. Nim wird der Geist durch seine Tendenz, „sich selbst anzuschauen", sich selbst „in seinem reinen Tun" zu ergreifen, wo er „nichts weiter anschaut als sich selbst in seiner absoluten Tätigkeit"", dazu angespornt, alles Endliche zu transzendieren und als solches aufzuheben, d. h. in ein Unendliches zu verwandeln. Die Selbstbildung besteht nun gerade darin, „das in uns bewußtlos Vorhandene zum Bewußtsein zu erheben, das angeborene Dunkel in uns in das Lidit zu erheben, mit einem Wort zur Klarheit zu gelangen"28. Klarheit gibt es für den Idealisten Schelling nur in der intellektuellen Anschauung, im Selbstbewußtsein des Geistes. Darum kann er schreiben: „Das ganze Leben ist eigentlich nur ein immer höheres Bewußtwerden", wobei in der irdischen Existenz jeweils ein dunkler Rest übrigbleibt 23 . Mit Novalis' Worten handelt es sich dabei um die geistige Vernichtung des Endlichen, um die Verwandlung des Unwillkürlichen in ein Willkürliches. Die Formeln, in denen dieses großangelegte Ideal der Frühromantik ausgedrückt wird, begegnen in Hülle und Fülle. 19 20 21

22 23

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Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, Bd. I, S. 663. Vom Ich als Prinzip der Philosophie, Bd. I, S. 124. Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, Bd. I, S. 307. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 325. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 325. Nicht immer hat Schelling das höchste Ziel der Selbstbildung mit dem Wort Bewußtsein bezeichnet. Das Bewußtsein überhaupt erschien ihm in seinen ersten Schriften als eine Tätigkeit des Geistes, der schon aus der Identität herausgefallen ist. Die intellektuelle Anschauung war ihm dann ein jedes Bewußtsein transzendierender Akt. Im System des transzendentalen Idealismus und späterhin hat er aber beide Begriffe gleichgesetzt: intellektuelle Anschauung und Selbstbewußtsein.

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Die lebendige, dynamische Kraft des Geistes, die ihn zum Bewußtsein der irdischen Beschränktheit und dadurch zum Willen zur Transzendierung des Endlichen anregt, nennt Schelling die Seele. In ihr liegt ein „notwendiges Bestreben zum ewigen Produzieren"; sie treibt den Geist dazu an, „in jedem einzelnen Moment ein Unendliches darzustellen", d. h. sich durch keine Beschränkung beirren zu lassen, sondern sich in allen Umständen als unendlich zu erweisen und jeder seiner Taten das Gepräge des Absoluten aufzudrücken. Wie gesagt, ist dies in der irdischen Existenz ein nie ganz erreichbares Ziel, weil dieser Existenz immer ein Endliches anhaftet. Aber eben diese Unfähigkeit, immer und überall als ein Unendliches zu handeln, ist ein weiterer Ansporn für die Seele: „so strebt sie notwendig über jede Gegenwart hinaus, um das Unendliche wenigstens sukzessiv, in der Zeit, darzustellen"24. Das Unendliche und die Zeit sind selbstverständlich antinomische Begriffe, das Unendliche übersteigt jede Zeit, die intellektuelle Anschauung befreit uns gerade vom „Wechsel der Zeit". Aber das Streben der Seele über jede Gegenwart hinaus ist der Beweis, daß sie aus dem Unendlichen heraus handelt, und die irdisch einzig mögliche Form einer Darstellung der Unendlichkeit25. Auch für Friedrich Schlegel ist die Seele „reizendes Leben, Regsamkeit des Gemüts"". Wie Schelling faßt er sie als das dynamische Prinzip auf, das den Geist dazu bewegt, über das jeweils gegebene Endliche hinauszustreben, sich „über alles Bedingte unendlich zu erheben" 27 . Solches Streben, das die wesentliche Tätigkeit des geistigen Menschen ausmacht, muß aufrechterhalten und unaufhörlich fortgesetzt werden, auch wenn das letzte Ziel sich als unerreichbar erweist. In der Sprache der Athenäumsfragmente heißt das: „Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke, 24

25

28 27

3

Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, Bd. I, S. 308. Solches Streben als Merkmal des Geistes hat übrigens zur landläufigen Auffassung der romantischen „Unendlichkeit", wie sie von Strich als Antithese zur klassischen „Vollendung" aufgestellt wurde, geführt. Das Wort ist leider nicht sehr glücklich gewählt und hat tatsächlich durch die Homonymität mit der philosophischen Unendlichkeit, wie die Romantiker sie dachten, viel Verwirrung gestiftet. Die Betonung der Unendlichkeit zählt vielleicht mit zu den Ursachen der angeblichen Nichtvollendung mancher romantischer Werke, aber Vollendung und Unendlichkeit, im Geiste der Urheber dieser Termini verstanden, liegen nicht auf derselben Ebene und können einander nicht ohne weiteres als repräsentative Begriffe entgegengesetzt werden. Der eine Begriff ist zunächst formal, wenn er auch, wie es selbstverständlich ist, einer bestimmten Kunstanschauung entspricht; der andere ist philosophisch und kann erst indirekt eine formale Gestaltungsweise andeuten. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 98, Nr. 831. Vgl. Behler in KA, Bd. XVIII, S. XVII (Einleitung).

Nivelle

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PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN die einerlei bedeuten". Mit solcher Anschauung hängt Schlegels zeitweilige Geringschätzung des 'Systems5 zusammen, das er durch die Geschichte des werdenden, fortschreitenden Geistes ersetzt wissen möchte. Diese Ansidit wird von allen Frühromantikern geteilt und läuft darauf hinaus, in Ubereinstimmung mit der dynamischen Auffassung des Geistes jede Philosophie zugunsten des Philosophierens aufzuheben. „Die Philosophie eines Menschen", schreibt Schlegel in der Charakteristik des Plato, „ist die Geschichte, das Werden, Fortschreiten seines Geistes, das allmähliche Bilden und Entwickeln seiner Gedanken" 28 . Diese Selbstgeschichte bildet die 'Eigentümlichkeit', die Individualität des Denkers. Schlegels philosophisches Leitbild ist in dieser Hinsicht eben Plato, an dem er den „immer weiter strebenden Gang seines Geistes nach vollendetem Wissen und Erkenntnis des Höchsten" bewundert. Die Philosophie definiert er übrigens als ein „Suchen, ein Streben nach Wissenschaft" eher denn als eine eigentliche Wissenschaft29, ein Gedanke, den er in den Philosophischen Lehrjahren unter der Form wiederaufnimmt: „Es gibt eigentlich keine Wissenschaft, sondern nur ein Wissen" 30 . Diese dynamische Auffassung der Erkenntnis ist selbstverständlich auch Schelling eigen. „Die Bewegung ist aber das Wesentliche der Wissenschaft", in der die Sätze, „abgesehen von der Bewegung, durch die sie erzeugt werden", keinen Wert haben: „Diesem Lebenselement entronnen, sterben sie ab" 31 . Die Wissenschaft ist nie fertig und vollendet, sondern in einem ständigen Werden und eigentlich nur, wie bei Schlegel, ein Trachten nach Wissenschaft, eine Philo-Sophie, ein „Streben nach dem Wiederbewußtwerden" 32 . Der Natur des Ich als Prinzip des Wissens gemäß ist jeder Begriff ein Akt des Denkens und nicht etwa das aus diesem Akt abstrahierte Produkt33. Abstrakte Begriffe können unmöglich das Ziel einer echten 'Wissenschaft' sein, denn das wahre, d. h. das intuitive Denken soll das Unmittelbare, das Einfache, das, „was sich nimmer auf Begriffe bringen läßt", enthüllen und offenbaren 34 . Dazu ist keine Abstraktion im Sinn der Logik erforderlich, sondern jeweils ein historisch-individueller Vollzug; man muß „sich selbst gleichsam seine eigene Geschichte erzählen" 35 . Jeder Begriff muß lebendig nachvollzogen werden; man erkennt nur das, woran das persönliche Denken unmittel28 29 30 31 32 33 34 33

34

Charakteristik des Plato, KA, Bd. XI, S. 118 f. Charakteristik des Plato, KA, Bd. XI, S. 120. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 405, Nr. 1009. Die Weltalter, Bd. IV, S. 584. Die Weltalter, Bd. IV, S. 577. Vgl. System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 366. Vom Ich als Prinzip der Philosophie, Bd. I, S. 80 und 110 (Zitat). Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Zeit, Bd. I, S. 30.

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bar teilhat. Man könnte dabei an eine Übertragung der Goetheschen Verse auf das Gebiet der Erkenntnis denken: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen". Jede wahre Erkenntnis ist ein individueller Schöpfungsakt, ihrer Natur nach der Selbstsetzung des Ich genau verwandt. Das Prinzip des Wissens ist „aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich"; jedes echte Wissen beruht auf einer „Mitwissenschaft der Schöpfung" 3 ', eben weil seine Quelle, das Ich, ein der göttlichen Schöpfung, d. h. der göttlichen Selbsterkenntnis, völlig analoger Akt ist. Diese Analogie zwischen dem reinen Akt menschlichen Erkennens und der göttlichen Schöpfungstätigkeit37 führt zu einer weiteren Denkposition, die sich auf die romantische Poetik mächtig ausgewirkt hat. Durch die Erfüllung seiner dynamischen Aufgabe, durch sein Streben nach dem Unendlichen fügt sich der Geist in die Weltordnung ein und arbeitet an der Weltschöpfung mit. Die Weltschöpfung ist nämlich immer noch im Gange; auch sie ist nicht abgeschlossen und fertig, denn sie ist nichts anderes als der Prozeß der Selbsterkenntnis, der Bewußtwerdung, der Tersonalisierung' Gottes. Gott setzt sich als Objekt, als Reales, Unbewußtes und zugleich als Subjekt, als Ideales, Bewußtes. Er selbst ist das lebendige Band des Realen und Idealen, die höchste Identität. Er ist also selbst ein Akt, ein Werdendes; er „m a c h t s i c h s e l b s t , und so gewiß er sich selbst macht, so gewiß ist er nicht ein gleich von Anfang Fertiges und Vorhandenes" 38 . Er „macht" und realisiert sich und die Welt, indem er das Unbewußte in sich zum Bewußtsein erhebt. Darin besteht die Weltschöpfung39. Da nun der Mensch das erste Wesen ist, bei dem der Prozeß der Schöpfung vorläufig stillsteht, weil Gott, indem er bei ihm das Bewußtsein aus dem Unbewußten erweckte, seinen Zweck teilweise erreicht hat40, soll er an der Bewußtwerdung Gottes und seiner Schöpfung mitarbeiten. Im Menschen wird sich Gott seiner selbst bewußt. Auch Friedrich Schlegel vertritt die gleiche Anschauung. „Die Welt ist unvollendet", schreibt er in den Philosophischen Lehrjahren. „Gott '« Die Weltalter, Bd. IV, S. 576. E . Hirsch geht so weit, daß er schreibt: „Der höchste Akt menschlichen Erkennens und das göttliche Sicherkennen ist eines und dasselbe", Die idealistische Philosophie und das Christentum, S. 548. 3 8 Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 324 ff. 39 In seinem Schellingbuch vertritt Jaspers eine andere These, indem er das von Schelling proklamierte universelle Werden zwar anerkennt, aber auf Gott als einzige Ausnahme nicht beziehen will. Der Schellingsche Wortlaut ist jedoch so eindeutig, daß eine Auseinandersetzung mit dieser mir unverständlichen Jasperssthen Position sich wohl erübrigt. Erst der alte Schelling hat die Gottheit dem allgemeinen Werden entzogen. 40 Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 327. 37

3'

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muß veränderlich und unvollkommen gedacht werden, wie in allen Mythologien. Wir sind seine Gehilfen" 41 . Gottes Gehilfen sind wir durch unser Bewußtsein, wie bei Schelling. Wir sind „Reflexionen Gottes auf sich selbst und in sich selbst. Wir sind Gottes Gedanken, sein Bewußtsein"42. Von der Entwicklung und Bildung unseres Bewußtseins hängt das Werden Gottes, seine „Vervollkommnung" ab, denn Gott „macht" sich eigentlich durch Vermittlung der Menschen. Er wird von uns „gemacht": „Gott ist eine Aufgabe der Geister, sie sollen ihn machen. Er ist nicht (in), aber er wird in der Welt" 43 . Die menschliche Selbstbildung liefert also einen direkten Beitrag zur Weltschöpfung und zum Werden Gottes. Die Energie, die zu dieser Mitwirkung anreizt, heißt bei Schlegel die Liebe; davon später. Das Mittel, dessen wir uns dabei bedienen, ist aber das progressive Selbstbewußtsein, das alle Kräfte in uns wachrüttelt: „Die allgemeine Liebe besteht in der Teilnahme an allem Leben. Aufgebot in Masse aller schlummernden Kräfte. Die Schöpfung ist noch nicht geendigt; wer tätig ist, nimmt teil an der Schöpfung"44. Solche Auffassung Gottes wirkt sich selbstverständlich auf die Anschauung der von ihm erschaffenen Welt, der Natur, aus. Auch die Natur läßt sich nicht auf eine Sammlung von Dingen zurückführen; ihr eigentliches Wesen ist gleichfalls die Bewegimg, die sie belebt und die ihren sichtbarsten Ausdruck in der Aufeinanderfolge von Systole und Diastole findet. Auf die ganze Natur angewandt, ergeben Spannung und Erschlaffung ein sich unaufhörlich gebärendes und wieder verzehrendes Leben. Und gerade dieser ständige Wechsel ist die 'Substanz' der Natur, das Bleibende an ihr, ihr beständiges Triebwerk45. Das Wesen der Natur ist demgemäß ein tätiges Prinzip, eine ewig schaffende Urkraft 4 '. Mit Schlegelschen Worten ausgedrückt, ist die Natur „kein Gewächs, sondern ein Wachsen. Masse ist fixierter Fluß" 47 . Die Natur ist das werdende Universum48, wobei die schaffende Urkraft, „Wurzel und Kern" der Natur, wieder einmal als Liebe dargestellt wird: die Natur ist „flüssig gewor41

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KA, Bd. XVIII, S. 421, Nr. 1222. Eine Zeitlang hat Friedrich Schlegel das Werden auf den Menschen beschränkt; auf Gott wollte er den Begriff der Veränderung nicht anwenden. Vgl. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 372, Nr. 624. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 152, Nr. 350. Ebd., S. 301, Nr. 1277. Vgl. auch „Die Gottheit kann nur im Werden gedacht werden", Transzendentalphilosophie, KA, Bd. XII, S. 53. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 217, Nr. 278. Schelling, Die Weltalter, Bd. IV, S. 606 f. Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, 3. Ergänzungsband, S. 393 ff. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 152, Nr. 344. Ebd., S. 157, Nr. 412.

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dene Liebe" 4 *, „Liebe zur (flüssigen) Materie geworden"50. Die Stellung der Natur im romantischen Weltbild wird uns noch beschäftigen. Hier soll lediglich darauf hingewiesen werden, daß sich die drei Elemente des Weltalls, Natur, Gott, Geist, ihrem inneren Wesen, ihrer tieferen Definition nach je als ein Akt, ein Werden, ein Unendliches herausstellen. Der romantischen Poesie wird es auf die Darstellung dieses Unendlichen ankommen. Die romantische Auffassung des Unendlichen als Tätigkeit und Werden beruht auf Fichtes Wissenschaftslehre. Fichte hat den ersten Anstoß gegeben; sein Ichbegriff war den Frühromantikern eine Offenbarung und zugleich ein brennendes Problem, das sie zum Nach- und Weiterdenken angeregt hat. Dies ist für Schelling, Friedrich Schlegel und Novalis eindeutig. Jeder kennt die Briefstelle, in der Novalis die konkreten Zeit- und Ortsumstände erwähnt, unter denen ihm das Fichtesche Ich klar geworden ist; die Freude über diesen Fund ist die beste Bestätigung dafür, wie intensiv er sich bis dahin mit dem Problem abgequält hatte. Die Bewunderung für Fichtes Leistung war im Jenaer Kreis allgemein. Bekannt sind in dieser Hinsicht eine ganze Anzahl von Äußerungen, deren Verzeichnung hier lästig wäre. Es genügt wohl der Hinweis auf Friedrich Schlegels Fragment, in dem die Wissenschaftslehre neben der französischen Revolution und dem Wilhelm Meister als eine der drei 'Tendenzen' des Zeitalters dargestellt wird, wobei das Wort Tendenz einer romantischen Lieblingsvorstellung entspricht und demgemäß ein unumschränktes Lob beinhaltet51. Es darf vielleicht auch daran erinnert werden, daß Novalis das philosophische Direktorium in Deutschland Fichte zuerkennt, den er in diesem Zusammenhang einen „zweiten Kopernikus" nennt. Schon diese Bezeichnung deutet zur Genüge an, wie ausgeprägt das Bewußtsein war, daß Fichtes Gedankengänge eine grundsätzliche und umwälzende Erneuerung des Weltbildes hervorgebracht hatten. Nichts in der Romantik wäre ohne Fichtes Vorgang so gewesen, wie es gewesen ist. Er ist das Fundament des frühromantischen Ideen" Ebd., S. 167, Nr. 515. 50 Ebd., S. 153, Nr. 359. 51 Die Begeisterung Fr. Schlegels für Fichte ist eindeutig und ausgiebig belegt, und es nimmt einen wunder, wenn Schlagdenhauffen das Wort Tendenz als „pas nécessairement louangeur" auffaßt (Frédéric Schlegel et son groupe, im Kapitel „Berlin et la première année de l'Athenäum"). Auch wenn Friedrich Schlegel sich tatsächlich von Fichtes Anschauungen distanzierte — und das mag, wie Schlagdenhauffen behauptet, schon vor 1798 geschehen sein — hat er ihn doch immer als den Anfang einer neuen Epoche der Geistesgeschichte angesehen. Das ist lobend genug, und gerade das meint das Wort Tendenz.

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gebäudes, auch wenn dieses Gebäude nicht ganz nach seinen Plänen errichtet wurde. Es entspricht nicht dem Zweck dieses Buches, den Wandlungen in der Stellung der verschiedenen Frühromantiker zu Fichtes Lehre im einzelnen nachzugehen. Nur der Zusammenhang dieser Lehre mit der frühromantischen Dichtungsschau soll hier erörtert werden, d. h. die Art und Weise, wie die Frühromantik sie für die Kunst- und Dichtungstheorie nutzbar gemacht hat. Nun erhellt diese dichtungstheoretisch relevante Interpretation paradoxerweise besonders deutlich aus den Einwänden, die Friedrich Schlegel und Novalis gegen Fichtes Positionen vorgebracht haben. Nach der Absage an seine einseitige Gräkomanie und Winckelmannverehrung hat Friedrich Schlegel auf eine lange Strecke seiner kritischen Laufbahn Fichtes Anschauungen übernommen. Seine Ubereinstimmung mit dessen Thesen war eine Zeitlang vollkommen. Die idealistische Lehre von der intellektuellen Anschauung scheint ihm „die wichtigsten Veränderungen und Revolutionen . . . in allen . . . Teilen des menschlichen Denkens und Bildens" hervorgerufen zu haben. Fichtes Vorzüge liegen für ihn in der wissenschaftlichen Konstituierimg der Prinzipien der Freiheit, in der Aufstellung der richtigen Methode in der Philosophie, die „das freie Selbstdenken zu einer Kunst organisiert", und in der Erschütterung des Bewußtseins in seiner „innersten schöpferischen Tiefe" 51 . Schlegel ist ganz von der „geistigen Revolution", die Fichte in die Wege geleitet hat, ergriffen, und er bejaht sie durchaus. Ihre eigentümliche Wirkung erblickt er darin, daß sie „das Innere zur Empirie und das Äußere zur Theorie" 53 gemacht und somit das Schwergewicht von dem Stoff auf den Geist verlegt habe. Er setzt diese idealistischen Errungenschaften denn auch ohne Zögern in Beziehung zur Dichtung: „Der Idealismus ist der Mittelpunkt und die Grundlage der deutschen Literatur.. . und die höhere Poesie als ein anderer Ausdruck derselben transzendentalen Ansicht der Dinge ist nur durch die Form von ihm verschieden"54. Solche Verkündigung der Wesensidentität von Idealismus und höherer, d. h. romantischer Poesie zeugt überdeutlich für die grundsätzliche Annahme der Fichteschen Philosophie durch Schlegel. Und doch ist das geistige Verhältnis Schlegels zu Fichte nicht so eindeutig und durchsichtig, wie es den Anschein hat. In zwei wesentlichen 52 53 54

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Literatur, in DNL, Bd. 143, S. 301. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 397, Nr. 915. Literatur, in DNL, Bd. 143, S. 300.

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Punkten setzt er sich von Fichte ab und nähert sich einerseits Schelling und der Naturphilosophie, andererseits Novalis und der mystischen Tendenz der Frühromantik. Zum ersten Punkt wäre folgendes zu sagen: ein berühmtes Fragment Schlegels drückt eine synthetische Vision der Philosophie aus, die für seine Stellung zwischen Fichte und Schelling aufschlußreich ist. Die Philosophie sei eine Ellipse, deren eines Zentrum das Selbstgesetz der Vernunft und deren anderes Zentrum die Idee des Universums sei55. So möchte Schlegel durch eine vielleicht geniale Intuition Fichtes rigorosen Idealismus und Schellings idealistischen Realismus miteinander versöhnen. Der Weg, der ihn zu diesem Einfall geführt hat, bleibt uns, vielleicht auch ihm, leider dunkel. Darum spreche ich von einer Intuition, die m. E. ihren Ursprung ebensowohl in Schlegels dichterischem Instinkt wie in einer philosophischen Einsicht hat. In Fichtes Lehre störte ihn bekanntlich die negative Vorstellung der Natur. Diese war für Fichte ein Nichtsein, wie etwa die Materie bei Plotin: „tote Sinnenwelt und bloßer Niederschlag der Reflexion", „Hemmung und Schranke des sich ins Unendliche fortentwickelnden Geistes". Für Schlegel war sie im Gegenteil „durchaus belebt und beseelt" und als solche „eine Darstellung der Gottheit" 58 , was ziemlich deutlich an Schelling erinnert. Er hat ausführlich versucht, Fichtes Anschauung mit Schellings Vorstellung der Natur in Übereinstimmimg zu bringen; dabei betonte er die Verschiedenheit des Naturbegriffs bei den beiden Philosophen. Die Darlegung dieser Bemühungen wäre von zweitrangigem Interesse und gehört nicht in diesen Zusammenhang, denn das Entscheidende an Schlegels Reaktion gegen Fichte liegt nidit auf philosophischem, sondern auf dichterischem Gebiet. Mit der Auffassung der Natur als Nichtsein fällt ihm nämlich der „wesentlichste Teil der Poesie und bildenden Kunst" weg, d. h. die Mythologie, die ja die Belebung und Beseelung der Natur voraussetzt und von der noch zu reden sein wird57. Dieses poetische Argument dürfte bei Schlegel von größerem Gewicht gewesen sein als alle rein philosophischen Bedenken und auch als die Entdeckung einer angeblichen Inkonsequenz in Fichtes Denken, in das sich ein „Etwas" als Anstoß der Vorstellungen eingemischt haben soll, nachdem anfangs alles aus dem Geiste abgeleitet worden sei58. Die Unmöglichkeit einer Mythologie stellte für Schlegel eine abschreckende Folge des Fichteschen Systems dar, die auf die Zerstörung der Kunst hinausgelaufen wäre. Und er mußte aufmerken, als er bei Fichte eine Defini65 56 57 58

Ideen, KA, Bd. II, S. 267, Nr. 117. Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 320. Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 325. Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, KA, Bd. XII, S. 147.

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tion der Kunst als „Darstellung des vernünftigen Lebens" las, obschon das im Grunde nichts anderes bedeutet als Darstellung des Unendlichen. Aber er war nun einmal auf der Hut vor der Einseitigkeit in Fichtes Denken und sah im „vernünftigen Leben" als Prinzip der Kunst eine willkürliche und ungerechtfertigte Einschränkung; darum wollte er sicher gehen und den Begriff 'Leben der Vernunft' weit aufgefaßt wissen, etwa im Sinne von 'in der Idee leben'59. Die „Idee des Universums" als das eine Zentrum der Philosophie ist um 1800 eine unmißverständliche und unübersehbare Reminiszenz an Spinoza. Mit Recht hebt Hirsch die Bedeutung Spinozas für die Entstehimg der Romantik hervor60. Die Vorstellung der Allnatur, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch Lessing, Herder und Goethe in Deutschland eindrang und die von Fichte ins Geistige erhoben wurde, findet sich bei Schlegel in ihrem Urzustand wieder, wohl im Zusammenhang mit dem Ichbegriff, aber doch als zweiter gleichwertiger Pol des Weltbildes davon wesentlich getrennt. Schlegel sehnte sich denn auch nach einer Philosophie, die zugleich dem spinozistischen Pantheismus und dem Idealismus gerecht würde, d. h. nach einer Ergänzung des Spinozismus in idealistischer Richtung. Solches Wunschbild trat ihm nun trotz etlicher Vorbehalte in Schelling entgegen, dessen „letztere Werke" (1804 bis 1805) ihm bezeichnenderweise als eine „Ergänzung des Spinozismus" erschienen61. Schellings Lehre verkündet nämlich für Schlegel das Dasein einer „Substanz", in der auf pantheistische Art Geist und Natur aufgehen. Die Natur ist also hier als Bestandteil des Universums anerkannt und wird nicht mehr dem Nichtsein gleichgesetzt. Verständlicherweise mußte Schlegel auf Grund dieser Einsicht zu Schelling hinüberneigen, obschon er sich immer weigerte, sich dessen Ansichten ganz und ohne Vorbehalt anzuschließen. Denn als wirklichen Idealisten betrachtet Schlegel weder Fichte noch Schelling, sondern nur sich selbst62. Auch nach der philosophischen Rehabilitierung Schlegels durch J. Körner ist das allerdings eine Behauptung, die eine ganze Anzahl von Bedenken erweckt, auf die hier freilich wegen ihrer rein philosophischen Natur nicht eingegangen werden soll63.

5' 60 61 62 93

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Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 325. Die Romantik und das Christentum, S. 28 ff. Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, KA, Bd. XII, S. 294. Vgl. u. a. Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, Bd. XII, S. 341 f. Es wird der Ehrfurcht vor Körners lebenslanger Beschäftigung mit Schlegel keinen Abbruch tun, wenn der Meinung Ausdrude gegeben wird, daß er sich, so will es mir scheinen, in zwei Punkten geirrt hat: einmal, indem er den Nachdruck auf Schlegels

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Spinoza war für Schlegel schon immer ein verlockendes Fragezeichen. Bereits in den ersten Jahren seiner Denktätigkeit hat er instinktmäßig den Gegensatz zwischen Fichtes 'subjektivem' Idealismus und einem pantheistischen Realismus überbrücken wollen. Dieser Wunschintuition ist er lange treu geblieben, indem er sie später rational zu unterbauen versucht hat. Solches Verfahren entspricht übrigens seiner Vorstellung von Philosophie. Schreibt er doch in den Philosophischen Lehrjahren: „Auch ganze Systeme werden erst gedichtet [d. h. in der Phantasie entworfen] und gemacht [auf Grund einer Gesamtintuition], dann schreibt man die Deduktion hintendrein" 64 . Schlegels Philosophie in frühromantischer Zeit kann tatsächlich als die Deduktion einer intuitiven Gesamtkonzeption angesehen werden. Nun hat er den erwünschten pantheistischen Realismus hauptsächlich in zwei Gestalten verwirklicht gefunden: in Goethe und in Spinoza. Er war also von vornherein zwischen Fichte und Goethe-Spinoza hin- und hergerissen, und die leidenschaftlich gesuchte Überbrückung hat seine ganzen Kräfte jahrelang in Anspruch genommen. Die ersehnte Synthesis hat er auf rein philosophischem Gebiet durchführen wollen, und dazu hat er sich bei aller Anerkennung gegen den allzu exklusiven Anspruch Fichtes wehren müssen. Zwei Wege hat er zu diesem Zweck eingeschlagen: er wollte zunächst Fichtes Philosophie bis in ihre letzte Konsequenz durchdenken, um den Nachweis zu erbringen, daß ihr etwas fehlte; und für die zu entdeckende Lücke hielt er seinen pantheistischen Realismus parat. Dann hat er ihm direkt einen Mangel an Sinn fürs Universum vorgeworfen: „Fichte hat unendlich viel Sinn für das Unendliche und doch keinen Sinn für das Universum" 65 . Zur Entdeckung der angeblichen Lücke ist er ebenfalls auf zweierlei Weise gelangt: erstens durch die Betonung eines fremden „Etwas", das sich in Fichtes Denken eingeschlichen hätte; zweitens durch die Hervorhebung einer angeblich willkürlichen

rein philosophische Schriften legte; zweitens, indem er sich von der Entdeckung und Veröffentlichung unbekannter Manuskripte eine wesentliche Bereicherung und Berichtigung des Schlegelschen Weltbilds versprach. Auch wenn Schlegels philosophische Schriften rein mengenmäßig „wichtiger" sind als seine meist recht fragmentarischen Kunstansichten, so hat er doch eben durch diese seine Kunstanschauung und nicht durch seine Philosophie Epoche gemacht und geistesgeschichtliche Bedeutung gewonnen. Die philosophischen Schriften erfüllen eigentlich ihre Funktion, wenn sie zur Begründung und Erklärung seiner ästhetischen Ansichten herangezogen werden; sie stellen manchen Begriff in den rechten Zusammenhang und erhellen ab und zu Schlegels eigentümlichen Wortschatz. Wesentlich Neues für Schlegels Bedeutung im Rahmen der Frühromantik bringen sie kaum. 04

85

KA, Bd. XVIII, S. 92, Nr. 752. Eingeklammerte Worte von mir. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 302, Nr. 1298.

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Trennung der Denkfunktionen 66 und eines Mangels an Einheit in Fichtes Weltbild67. Bei Fichte vermißte er also eine umfassende Weltdeutung auf der Grundlage einer einheitlichen, totalen Weltschau. Das ist gewiß eine ganz legitime philosophische Forderung, aber der Eindruck liegt nahe, daß sie vor allen Dingen auf poetischer Phantasie oder, wie die moderne Psychologie es ausdrücken würde, auf einem poetischen Tagtraum beruht. Schlegel hat den Kampf im philosophischen Bereich austragen wollen; ich wage es, zu behaupten, daß er einer solchen Aufgabe nicht gewachsen war. Doch kann seine philosophische Schwäche seiner poetischen Originalität nichts anhaben. Er hat übrigens selbst intuitiv gefühlt, daß die vorgenommene Aufgabe unerfüllbar sei und ihn notgedrungen aus dem Bereich der Philosophie entführte: „Gibt die Synthesis von Goethe und Fichte wohl etwas anderes als Religion?"68. Solche Frage ist überhaupt für die ganze Romantik relevant; erinnert sie doch genau an Novalis' Fragment: „Spinoza stieg bis zur Natur — Fichte bis zum Ich, oder der Person. Ich bis zur These Gott" 69 . Von Gott und der romantischen Religion wird unten die Rede sein. Hier soll jedoch schon darauf hingewiesen werden, daß die romantische Religion eine Ausflucht aus einem philosophischen Dilemma darstellt und daß im Grunde von ihr Lösungen und Antworten erwartet werden, die sich auf dem Terrain, wo die Fragen gestellt wurden, als unmöglich erwiesen hatten. Von vornherein mutet also die romantische Religion als eine zwittrige und fragwürdige Erscheinung an. Der zweite wesentliche Punkt, an dem Schlegel sich von Fichte distanziert, betrifft die Auffassung der Vernunft und ihrer Funktion. Wie sich aus der folgenden Darlegung ergeben wird, hängt er mit dem ersten eng zusammen. Schlegel lehnt es ab, die Vernunft als das oberste Vermögen anzuerkennen, und zwar sowohl als theoretisches als auch als praktisches Vermögen. Er stellt ein Prinzip auf, das ihr seiner Ansicht nach überlegen ist, insofern es die Wurzel, die „Quelle" der Vernunft und des Bewußtseins darstellt, und er nennt es „Liebe" 70 . Die Liebe erscheint ihm als die „Hypothese" des Idealismus, d. h. als die erste, grundlegende M

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„Unser Hauptunterschied besteht darin, daß bei mir die philosophische, moralische und ästhetische Anschauung nur ein und dieselbe ist, da Fichte sie trennt", Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S.433, Nr. 68. „Er hat Idealität und Realität; aber beides steht isoliert und roh da in ihm", ebd., S. 37, Nr. 201. Preitz, Friedrich Schlegel und Novalis, S. 140; vgl. Behler in KA, Bd. XVIII, S. XXXIV. Fragment 676 nach der Numerierung der Seelig-Ausgabe. Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 337 ff.

PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN Voraussetzung der Tätigkeit der Vernunft auf allen Gebieten. Heben wir, sagt er, Denken und Handeln „versuchsweise" auf, so bleibt das Unendliche und eine Intuition des Unendlichen übrig, und dieser Rest, der das Grundelement der Seele ist, heißt „Liebe" 71 . Sie tut sich im Menschen als Streben und Sehnen kund, die somit zu elementaren Seelenkräften erhoben werden. Die Liebe ist das Positive im Wesen des Menschen, das „dunkle Licht", das jede geistige Tätigkeit erst ermöglicht72. Der mystische Ausdruck „das dunkle Licht" deutet schon die Riditung an, in der die Erklärung dieser Anschauung zu finden ist: Jakob Böhme läßt nach Schlegels Interpretation „alles [sich] aus Liebe und Gefühl erzeugen" 73 . Der als Grundvermögen der Seele aufgefaßten Liebe gegenüber spielt die Vernunft die Rolle eines bloßen Werkzeugs der Erkenntnis. Auf sich selbst angewiesen und ohne die Führung der Liebe ist sie blind: sie kann die Wahrheit „ausbilden", nicht aber „finden" 74 . Sie ist unfruchtbar und unproduktiv; ihr müssen Anstoß und Richtung gegeben werden. W e r sich ihr allein anvertraut, gleicht einem Schiffer, der, „ohne Kompaß auf das stürmische Weltmeer" hinausgeworfen, nicht fähig wäre, „das Dunkel, welches das ferne Ziel und die Schranken gleich sehr umhüllt, zu durchdringen und die Richtung des einzigwahren Weges zu entdecken" 75 . Der richtungweisende Kompaß ist die Liebe. Noch in den Wiener Vorlesungen aus dem Jahr 1812 wird Schlegel an diesem Standpunkt festhalten. Das kommt besonders in seinem Urteil über Kant zum Ausdruck. An Kants philosophischer Erneuerung lobt er die Tatsache, daß der Kritizismus auf theoretischem Gebiet die Vernunft in ihre Schranken zurückgewiesen hat: die theoretische Vernunft ist nämlich an sich „leer und ohne Inhalt" und mithin nur in ihrer Anwendung auf die Erfahrung brauchbar und gültig. Kants großer Irrtum liegt für Schlegel dagegen in der Kritik der praktischen Vernunft. Hier soll Kant nicht konsequent gewesen sein, indem er der Vernunft nicht, wie es sein sollte, eine „dienende Rolle" zuerkannt, sondern sie „unter der Maske des Glaubens" wieder auf den Thron gesetzt habe. Auch auf praktischem Gebiet hält Schlegel nicht die Vernunft für das Primäre, sondern die „innere Wahrnehmung", aus der allein die Gotteserkenntnis entspringen kann 7 '. Die Vernunft spielt dabei nur eine regulative, keine konstitutive Rolle. Einen ähnlichen Vorwurf macht er Descartes, wenn er ihn darum 71 72 73 74 75 76

Vgl. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 404, Nr. 1000. Vgl. ebd., S. 374, Nr. 643. Vgl. ebd., S. 436, Nr. 98. Vgl. Philosophische Lehrjahre (Beilage VIII), KA, Bd. XVIII, S. 560, Nr. 5. Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer, in DNL, Bd. 143, S. 246. Geschichte der alten und neuen Literatur, KA, Bd. VI, S. 398.

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rügt, daß er durch den Erweis des Daseins Gottes aus der Vernunft Gott von der Vernunft abhängig gemacht bzw. ihn der Vernunft gleichgesetzt habe. Das Dasein der „ewigen Liebe", d. h. Gottes, fügt er hinzu, kann unmöglich mit Argumenten aus dem Bereich der „abstrakten Begriffe" bewiesen werden: es steht nur in Beziehung auf die „innere Wahrnehmung", das Gefühl und den Glauben". Die Aufgabe, an der die Vernunft hauptsächlich scheitert, ist das Bewußtwerden der Totalität des Menschen. Sie erkennt eigentlich nur sich selbst. Ohne Zweifel stimmt Schlegel der intellektuellen Anschauung als Urhandlung zu; ihren Inhalt aber muß er in Übereinstimmung mit seiner persönlichen Ansicht ändern: sie ist für ihn nämlich eine Anschauung nicht im Sinne eines Selbstbewußtseins, sondern eines Selbstgefühls. Nicht das Bewußtsein ist das Primäre, sondern die „innere Wahrnehmung", das Gefühl, dessen Inbegriff und wahres Wesen die Liebe ist. „Das Wesen des Bewußtseins überhaupt ist Liebe", schreibt er78. Nur das Gefühl setzt uns instand, uns „des ganzen Menschen bewußt" zu werden 79 . „Nur durch Liebe und durch das Bewußtsein der Liebe wird der Mensch zum Menschen"80; mit anderen Worten: „Nur durch Liebe wird man ein Individuum" 81 . Ohne sie ist der Mensch nur ein „Prätendent der Existenz", wie Schlegel sich in einem Athenäumsfragment ausdrückt. Nur sie verhilft zum Verständnis des Lebens, sie ist die „intellektuale Anschauung des Lebens" 82 und „Konstitution des echten Lebens" 83 . Ähnlich wie in Schlegels Auffassung der Seele erfüllt die Liebe in der Gestalt der Sehnsucht eine primäre Funktion in seiner Kosmogonie. Diese Anschauung hat Ernst Behler aus den von Windischmann veröffentlichten Vorlesungen deutlich herausgearbeitet 84 . Am Anfang war die Sehnsucht, sie erschuf die Welt in einer progressiven Mannigfaltigkeit von Formen, die sich in unendlichen Ubergangsstufen vom mineralischen zum menschlichen Bereich übersteigen. Das geistige Bewußtsein des Menschen ist der Gipfel der Schöpfung, und in diesem Bewußtsein soll die Quelle der schöpferischen Entwicklung, die liebende Sehnsucht, sich selbst offenbar werden. Der Mensch als Teil und Gipfel der Natur ist seinem Wesen nach die Offenbarungsstelle der universellen Liebe, der Punkt, an dem das Wesen des Weltalls in sich selbst zurückkehrt, das Geschöpf, das den Kreis " Ebd., S. 312. Philosophische Lehrjahre, Kröners Taschenausgabe, S. 181. 78 Ebd., S. 166. 80 Ideen, KA, Bd. II, S. 204, Nr. 83. 81 Literary Notebooks, Nr. 1549. 82 Ebd., Nr. 1471. 83 Ebd., Nr. 1510. 84 Jahrbuch der Sdiillergesellsdiaft, 1957, S. 246 ff. 78

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schließt. Durch einen richtigen Sinn für seine tiefere Natur findet der Mensch zur anfänglichen Liebe, zu Gott zurück. Denn Gott ist nicht Vernunft, sondern Liebe, ein „Universum von Liebe" und ein „Roman von Welten"85, das Immanente aller Reiche und Formen, das sich durch die unendliche Entwicklung der Natur progressiv „realisiert"86. Die Liebe ist also das Göttliche im Menschen, der Berührungspunkt und das Verbindungsglied zwischen Mensch und Gott und die Partizipation des Menschen am Universum, dessen Quelle und Wesen Liebe ist. Die Liebe ist die verbindende Mitte zwischen Gott, Welt und Ich. Diese Auffassung hat Friedrich Schlegel zu einer entscheidenden Erkenntnis verholfen. „Wir sind ein Teil der Natur", meint er in den Philosophischen Lehrjahren, und „daß wir uns von der Natur absondern, i s t . . . nur Schein und Täuschimg der Individualität"87. Das Wesen des Menschen und der Natur ist identisch und beruht auf Liebe. Es gibt also kein Nicht-Ich im eigentlichen Sinn, da die ganze Natur das große Ich darstellt, von dem wir ein Teil sind. Ein Nicht-Ich als ein vom Ich ganz unabhängiges und dem Ich fremdes Wesen ist für Schlegel eine sinnleere Vorstellung. Nicht-Ich und Ich lassen sich auf ein Ur-Ich zurückführen. „Nicht-Ich ein leeres Wort; es sollte Etwas heißen. Ich ist sehr gut, weil es das Sichselbstkonstituieren so schön bezeichnet. Die Synthese wäre dann ein Du" 88 ; und in einer Randbemerkung zum darauf folgenden Fragment heißt es: „Ich + Etwas = Du". Die Bezeichnung „Etwas", die Friedrich Schlegel vorschlägt, vermeidet das Trennende und die Betonung des Andersartigen. Jedes Etwas ist, wie wir, Teil der Natur, und das Ganze ist ein Du. Das Universum ist ein Du für jeden von uns, ein Verwandtes, ein Brüderliches, ein Wesensgleiches. Ausdehnimg und Bedeutung des Ich werden demgemäß auf das Individuelle eingeschränkt; das Ich ist nur eine Stimme im Dialog des Universums. Die Synthese von Mensch und Natur, die Schlegel „das große X, das ewig Unerreichbare" nennt8®, erscheint als ein weltweites Du, dessen sich der Mensch progressiv bewußt werden soll. An diesem Punkt kann man kaum noch von einer Auseinandersetzimg Schlegels mit Fichte reden; wir haben es mit einer einfachen Umschwenkung in pantheistische Richtung zu tun. Nicht das absolute Ich wie bei Fichte, sondern das Universum erscheint hier als das Umgreifende. „Der christliche Gegensatz der Natur ist das Reich Gottes; im Universum beides vereinigt"90. Geist und Natur, Gott und Welt beruhen auf 85

Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 327, Nr. 23.

» Ebd., S. 416, Nr. 1140. 87 Ebd., S. 377, Nr. 686. 89 Ebd., S. 299, Nr. 1253. 89 Ebd., S. 377, Nr. 686. oo Ebd., S. 259, Nr. 783. 8

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derselben „Substanz". Auch wenn Schlegel sich zeitweise von Spinoza entfernt, bleibt er doch dieser Grundanschauung treu. Es gibt für ihn nicht die Welt des Stoffes und die des Geistes, diese und jene Welt. „Die Menschheit [hat] einen Sinn für JENE WELT, für ein Jenseits. Warum aber diese Antithesis? Jene Welt ist schon hier. Solange man noch sagt: diese und jene Welt, hat man noch gar keinen Sinn für die Welt" 91 . Welt und Geist, Natur und Mensch sind nur Erscheinungen einer Grundeinheit, und eine richtig aufgefaßte „Bildung" soll darauf zielen, diese Einheit zu erfassen: „Bildung besteht in Verbindung von Natur und Menschheit. Dieser Begriff hat die größte Affinität auch mit Gott"92. Gott hat nämlich die gleiche Substanz wie Natur und Geist: „Das Mittlere zwischen Mensch und Welt ist Gott"93. Auf Grund des oben Ausgeführten dürfen wir in diesem letzten Satz das Wort Gott durch das Wort Liebe und auch durch das Wort Du ersetzen. Es bedeutet alles dasselbe. Außerdem sind Gott, Liebe, Du nur andere Bezeichnungen für das „Universum". Erst aus dieser Erkenntnis des Universums als eines liebenden, göttlichen Du ergibt sich der innere und wahrhafte Sinn jedes Gegenstandes. Deshalb heißt das Gefühl als Quelle dieser Erkenntnis die „unmittelbare Wahrnehmung des inneren Sinns", die geistige Anschauung der unendlichen Bedeutung der Gegenstände 94 . Das führt selbstverständlich direkt zur romantischen Poesie: das Gefühl eines Du stellt zwischen Ich und Welt, Idee und Wirklichkeit eine harmonische Verbindung her, die die innigste Durchdringung ermöglicht, und gerade in dieser gegenseitigen Durchdringung des Unendlichen und des Endlichen bis zur Wiederherstellung der Identität liegt das Wesen der romantischen Kunst. „Die Liebe ist auch der Quell aller Poesie"95. Dieser Aspekt der Liebe als schöpferischen Prinzips gehört äußerst folgerichtig in den Zusammenhang des Schlegelschen Denkens. Ähnlich wie die liebende Sehnsucht die Welt erschaffen hat, erfüllt sie auch im menschlichen Geist eine schöpferische Funktion: „Durch Liebe hat alles angefangen, durch Liebe wird es vollenden (sie!). Wer dieses Prinzip in sich erkannt hat, wer dadurch Schöpfer geworden ist, wird sich das Urfaktum begreiflich machen können. Die Liebe ist der Indifferenzpunkt, der Kern in uns"96. Die Liebe ermöglicht also nicht nur eine Schellingsche „Mitwissenschaft der Schöpfung", sondern zugleich eine Mitwirkung an 81

Ebd., S. 285, Nr. 1067. »2 Ebd., S. 269, Nr. 897. 93 Ebd., S. 299, Nr. 1260. 94 Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, KA, Bd. XII, S. 355. 85 Literary Notebooks, Nr. 1500. 96 Transzendentalphilosophie, KA, Bd. XII, S. 53.

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der Schöpfung. Sie ist das eigentliche Progressive im Menschen; als Streben und Sehnsucht löst sie das Werden im Sinne eines Fortschreitens, einer „progressiven Bildung" aus. Das bildet wieder einen grundsätzlichen Unterschied zur Vernunft. Nicht nur in bezug auf die wahre Erkenntnis, sondern auch mit Hinblick auf die Produktivität des Geistes ist die Vernunft unfruchtbar. Nur die Liebe hat Kausalität und ist schöpferisch. Sie vermittelt nämlich zwischen der Phantasie als produktivem Denken, als „Selbstschöpfung", „Begeisterung", „Erfindung", und der Vernunft als verneinendem Denken, als „Selbstvernichtung", „Selbstbeschränkung""7. Sie vermittelt ebenfalls zwischen der Ahnung der unendlichen Fülle und Mannigfaltigkeit und der Erinnerung an die unendliche Einheit der Welt98. Nur sie kann dem Menschen zur vollen Entfaltung seines Wesens verhelfen. Dieses Wesen definiert Schlegel einmal als „Fähigkeit ins Unbestimmte", und er fährt fort: „Im einzelnen Menschen nimmt diese sogleich eine bestimmte Richtung, und das ist eben Fertigkeit; durch Freiheit wird es Talent, durch Liebe werden viele Talente zum Genie"". Schlegels Charakter entsprechend mußte die von ihm heraufbeschworene Welt des Gefühls und der Liebe ihn fast zwangsläufig veranlassen, aus dem Gebiet des rein Philosophischen herauszutreten und sich in den Machtbereich der sogenannten 'Religion1 zu begeben. Schon sehr früh war sein Interesse für die Religion wach geworden. Die Ideen im Athenäum sind wohl der zeitlich erste massive Ausdruck dieses Interesses, aber schon im Jahre 1798 wimmeln seine handschriftlichen Notizen von Gedanken über Religion, und zwar nicht über Religion als kulturhistorische Erscheinung, sondern als persönliches Weltanschauungsproblem. In den Philosophischen Lehrjahren heißt es Ende 1798: „Die Religion ist keine Art der Bildung, kein Teil der Menschheit für sich, sondern der Mittelpunkt aller"100. Etwas später: „Religion ist Element, Luft des höheren Menschen"101. Derartige Äußerungen ließen sich beliebig belegen. Nur noch folgende aus derselben Zeit seien hier angeführt: „Die Religion hat keine Grenzen, ist schlechthin in allen Rücksichten und in allen Richtungen unendlich"102; „Alle Kunst und Wissenschaft soll in Religion verwandelt werden" 103 , was in einem historischen Prozeß geschehen soll, in dem die " Vgl. Strohsdhneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 81 ff. 98 Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, KA, Bd. XII, S. 388. »» Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 401, Nr. 966. 100 KA, Bd. XVIII, S. 313, Nr. 1439. 101 KA, Bd. XVIII, S. 316, Nr. 1482. 102 Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 339, Nr. 195. 103 Ebd., S. 396, Nr. 904.

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Religion „sich selbst konstituiert", denn sie ist „unendlich progressiv" und dehnt ihre Macht allmählich auf alle anderen Hoheitsgebiete aus104. Nun muß man sich selbstverständlich fragen, was Schlegel um die Jahrhundertwende mit Religion eigentlich meint. Daß es sich weder um das Christentum in seiner historischen und dogmatischen Erscheinung noch um irgendwelche positive Religion handelt, ist offensichtlich. Ohne Zweifel ließen sich auf seinen Begriff der Religion Schleiermachersche Denkschemata anwenden; Religion ist ihm tatsächlich mehr „Sinn und Geschmack für das Unendliche" als Annahme irgendeines Dogmas und Ritus, wobei allerdings, wie erwartet, die Bedeutung der Liebe stark betont wird: „Die Liebe Gottes ist das Zentrum der Religion"105. Die Handschriften der Philosophischen Lehrjahre erlauben jedoch eine genauere Beschreibung und liefern das Schlüsselwort zur Erklärung der Schlegelschen Religion. Diese ist keine kirchliche Lehre, die der Philosophie einfach den Rücken kehrt und ihre Richtlinien und Glaubensartikel von irgendeiner dogmatischen Autorität bezieht. Sie ist vielmehr eine mit Philosophie gemischte Religion, eine Religion, die sich erst aus philosophischer Reflexion entwickelt. In den Beilagen zu den Philosophischen Lehrjahren nach dem Aufenthalt in Paris im Jahre 1802 heißt es: „Religion + Philosophie = Theosophie. Dieses ist das Höchste und Grund alles übrigen; einzige Basis aller Enzyklopädie — die ohne sie nur skeptisch sein könnte"10". So lautet der späte Ausdruck einer Intuition, die Friedrich Schlegel jahrelang gehegt hatte und die sich bei ihm endgültig festlegte, nachdem er mit der Theosophie', d. h. in diesem Fall mit Jakob Böhme, näher vertraut geworden war. Die Pariser Handschriften strotzen von Bemerkungen über Böhme. Sie fangen bekanntlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1802 an, d. h. nach dem gemeinsamen Aufenthalt Schlegels und Tiecks in Dresden vom Januar bis zum Mai 1802. Aber schon früher, nämlich 1799 in Jena, hatte Schlegel geschrieben: „Die Religion oder T h e o s o p h i e enthält die Prinzipien aller Kunst und Wissenschaft. Philosophie muß diese Prinzipien nur konstruieren, Poesie sie darstellen"107. Dieses Fragment ist naturgemäß von grundlegender Bedeutung für Schlegels Weltbild. Böhmes Theosophie erscheint ihm als auf den gleichen Grundlagen aufgebaut wie seine eigene Weltschau; sie stellt die Liebe als oberstes Prinzip auf, und zwar in der dreifachen Gestalt als Sehnsucht der schöpferischen Natur, als Grundvermögen der menschlichen Seele und als Wesen Gottes. Das ist die primäre, elementare Gegebenheit. 101 105 1M 107

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Vgl. ebd., S. 298, Nr. 1239. Ebd., S. 270, Nr. 900. KA, Bd. XVIII, S. 566, Nr. 66. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 340, Nr. 222 (Sperrung von mir).

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Alles andere ist sekundär, also auch die Philosophie und die Poesie. Die Funktion der Philosophie in einem solchen Weltbild läßt sich dann genau umreißen: mit Hilfe der geistigen Kräfte des Menschen, namentlich der Vernunft, soll sie das „Urfaktum" der Liebe in rationale Prinzipien „konstruieren", d. h. gedanklich konsequent darlegen. Und in solchem Zusammenhang erscheint die Poesie als „Darstellung" dieses Urfaktums, als Offenbarung der Liebe. „Philosophie ist die konstitutive Macht, die Poesie die exekutive"108; die Philosophie konstituiert, bringt die Gegebenheiten der „inneren Wahrnehmimg" in einen strengen gedanklichen Zusammenhang, die Poesie vertritt sie anschaulich nach außen. Die Böhmesche Theosophie scheint also die Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit der Schlegelschen Religion um die Jahrhundertwende zu sein. Das wird in mehreren Fragmenten bestätigt, von denen ich nur zwei anführen möchte: „ T h e o s o p h i e gleich statt Idealismus?" 109 und „Für den höchsten Grad von Idealismus kein besserer Name als Theosophie"110. Wieder einmal führt diese Auffassung der Religion unmittelbar zur romantischen Poesie: „Religion haben, wie man das Wort bisher genommen hat, heißt Poesie leben"111. Friedrich Schlegels spätere Ansichten über die Religion, die sich infolge seiner Bekehrung zum Katholizismus entwickelt haben, können uns aus chronologischen Gründen für die unmittelbare Grundlegung der romantischen Poetik nicht mehr interessieren. Wohl aber müssen wir uns hier fragen, was der Theologe der Romantik, Friedrich Schleiermacher, zur Auffassung der Religion als einer gedanklichen Grundlage der Romantik beigesteuert hat. Auch für Schleiermacher ist die Liebe die lebendige Quelle dessen, was er Religion nennt. Adam verstand die Gottheit nicht, solange er allein auf der Welt war. Der Sinn für die Welt wollte ihm nicht aufgehen, bis er in Eva die „Menschheit" entdeckte und in der Menschheit die Welt. Erst „von diesem Augenblick an wurde er fähig, die Stimme der Gottheit zu hören". Die so gedeutete Genesis wiederholt sich in jedem von uns: „Um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe"112. Auch hier verhilft also erst die Gegenwart und das Gefühl eines Du zum richtigen Verständnis der Welt, indem es den Menschen über seine 108 108 110 111

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Ebd., S. 292, Nr. 1161. Ebd., S. 429, Nr. 33. Beilagen zu den Philosophischen Lehrjahren, KA, Bd. XVIII, S. 567, Nr. 75. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 383, Nr. 750. Sdileiennacher, Über die Religion, 2. Rede.

4 Nivelle

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„Menschheit", d. h. über seine unendliche, göttliche Bestimmung, aufklärt. Das sinnliche, besondere Du, das bei Schleiermacher als eine Person erscheint, offenbart durch immittelbare Anschauung und Gefühl seinen unendlichen Gehalt. Die menschliche, geschlechtliche Liebe ist der Funke, der die Seele für die Gottheit entfacht und aufschließt. Schleiermachers leidenschaftliche Verteidigung der Lucinde wurzelt in seiner tiefsten Uberzeugung. Die Liebe lehrt den Menschen die richtige Ansicht der Natur, sie führt ihn zur Aufdeckung ihres unendlichen Sinns. Die Vorstellung der Natur wird zur „Anschauimg der Welt" erst durch die polaren Begriffe der Liebe und des Widerstrebens, der Individualität und der Einheit. Und diese Begriffe leitet der Mensch nicht aus der Natur selbst, sondern aus dem „Innern des Gemüts" her113, wie es der idealistischen Lehre entspricht. Die Liebe und das Umgreifende des Du sind demnach auch für Schleiermacher unendliche Grundkräfte der Welt. Das Gefühl der irdischen Liebe hat also an sich schon eine unendliche Bedeutung. Die Liebe ist das Tor zur Religion, d. h. zum gefühlsmäßigen Verhältnis des Menschen zum Universum. Dieses Verhältnis unterscheidet sich wesentlich von dem der Metaphysik und der Moral. Sein spezifisches Charakteristikum ist die Irrationalität und die Passivität. Religion ist für Schleiermacher weder Denken noch Handeln; sie sucht nicht nach letzten Ursachen und Gründen, sie leitet keine Pflichten ab und regt den Menschen nicht zu moralischen Handlungen an. Sie führt weder zur Wissenschaft noch zum praktischen Leben. Sie wurzelt nicht in der eigentlichen Aktivität und Spontaneität des Menschen. Sie beruht ganz auf Gefühl, Ahnung, Sehnsucht, Ehrfucht, d. h. auf Seelenzuständen, die als Folge der Affiziertheit des Menschen durch das Universum auftreten. Damit Religion überhaupt entstehen kann, muß der Mensch die Fähigkeit haben, sich passiv vom Universum ergreifen zu lassen, und zwar nicht vom Universum als Wesen, als Substanz, sondern vom „Handeln" des Universums, von seiner Selbstoffenbarung in der Endlichkeit, vorzüglich in der menschlichen Person. Nur der ist religiös, der in allem Einzelnen einen Teil des Ganzen zu sehen und „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinzunehmen" vermag114; freilich nicht auf dem Wege des Nachdenkens und des Grübelns, sondern auf dem der „unmittelbaren Wahrnehmung". So nennt Schleiermacher die ursprüngliche Einheit von Anschauung und Gefühl, die erst von der Reflexion auseinandergerissen wird. Der erste Augenblick der Anschauung ist für ihn ebenso innig und ursprünglich mit Gefühl verquickt, wie Subjekt und Objekt in der intellektuellen Anschauung miteinander verschmelzen. Dieser erste 113 114

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Ebd., 2. Rede. Ebd., 2. Rede.

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Augenblick, der zwar unmitteilbar, aber unersetzlich ist, stellt eine vollkommene Kommunion mit dem Universum dar. Auf ihn kommt es an; er wirkt als gefühlsträchtige Offenbarung des Unendlichen in jeder endlichen Gestalt. Eine solche Anschauung entsteht demnach vor jeder Reflexion und vor jeder bewußten Handlung. Sie ist die spontane Antwort des religiösen Menschen auf das Universum. Sie veranlaßt kein Handeln, sie schafft nur eine Stimmung, eine Bewegung des Gemüts, ein Staunen. Offensichtlich läßt sich eine solche Religion weder lernen noch unterrichten: „Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer"115. Ein Gemüt, in dem sich keinerlei Ahnung des Unendlichen regt, ist ein für allemal der Religion und daher auch der wahren Liebe verschlossen. Echte Religion flieht Dogmen und Systeme, Glaubensartikel und abstrakte Vorstellungen. Sie gehört nicht zum Bereich des Verstehens wie die sonstigen Kenntnisse und Tätigkeiten des Menschen, sondern zu dem des „Sinnes". Nur der „Sinn" vermag ein Ganzes zu fassen, während das Verstehen alles „anatomiert" und den tiefen, übersinnlichen Zusammenhang verfehlt. Eine so aufgefaßte Religion besteht einzig und allein in den Regungen des Gemüts. Der Glaube z. B. hat keinen Anteil an ihrem Wesen. Der Glaube an eine Gottheit ist eine einzelne religiöse Anschauungsart, neben der es eine Unzahl anderer Anschauungsarten gibt; ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht, hängt mit der Richtung seiner individuellen Phantasie zusammen, ist aber in bezug auf echte Religion unwesentlich. Der christliche Glaube an die Unsterblichkeit der individuellen Seele ist sogar irreligiös. Der wahre religiöse Sinn gebietet eine andere Haltung, nämlich die Sehnsucht nach Erweiterung der Persönlichkeit über alles Individuelle hinaus ins Unendliche. Ein solches Streben ist gerade das Charakteristikum der religiösen Seele: diese will das Individuelle vernichten und im Universum, im Einen leben, und zwar schon, so gut es geht, im Laufe des irdischen Daseins. „Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion"116. Ähnliches sagt übrigens auch Novalis, wobei er allerdings nicht von der Religion, sondern von der Poesie ausgeht. Die Schleiermachersche Religion führt unmittelbar zur Poesie. In diesem Zusammenhang soll aber nur betont werden, daß sowohl Schleiermacher als auch Friedrich Schlegel die Unzulänglichkeit eines rein philosophischen Idealismus, wie Fichte ihn dargestellt hatte, empfunden haben. Der Entthronung der Vernunft durch die Liebe in Schlegels Anschauung und seiner Hervorhebung des religiösen Moments entspricht bei Schleier115



Ebd., 3. Rede. Ebd., 2. Rede (in fine).

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madier die Einsicht in die Notwendigkeit der Religion als Gegengewicht zum rein philosophischen Idealismus, von dem er befürchtet, daß er ohne Religion allzu leicht zu liebloser Wortspielerei und inhaltsleeren allgemeinen Begriffen entarten dürfte. Bei dem einen wie bei dem anderen Denker geschieht ein Umschlag vom Absoluten der Vernunft zum Absoluten des Universums, mit viel Zögern und mancher Inkonsequenz bei Schlegel, mit auffallender Gefühlssicherheit bei Schleiermacher. Auch Novalis übernimmt die Grundschemata des idealistischen Denkens und bewegt sich, ähnlich wie Friedrich Schlegel und Schleiermacher, in der Richtung auf das Gefühl und die Liebe zu. Das geschieht bei ihm jedoch auf einer anderen Ebene und in einer eigentümlichen Sphäre. Novalis' Stellung zu Fichtes Philosophie gleicht in mancher Hinsicht derjenigen Friedrich Schlegels: sie reicht von einer anfänglich begeisterten Aufnahme zu einer immer größeren Distanzierung, und zwar auf Grund von Vorbehalten, die wesentliche Punkte des Fichteschen Denkens betreffen. Seine grundsätzliche Bejahung der Fichteschen Gedankengänge unterliegt keinem Zweifel. Erst von Fichte wurde er zur philosophischen Meditation angeregt, und erst die Begegnung mit Fichtes Philosophie gab ihm den Mut zur abstrakten Formulierung seiner Weltanschauung. Er hat Fichte höher geschätzt als alle anderen Denker, mit denen er in Berührung kam, und er hat sich Fichtes Methode und Wortschatz so gründlich angeeignet, daß er auf weite Strecken seines theoretischen Schaffens den Eindruck erweckt, als wolle er nur „fichtisieren". Freilich ist bei ihm noch anderen Denkern gegenüber Ähnliches geschehen; auch Ritter, Baader, Brown und Hemsterhuis hat er zeitweilig in seine Gedankenwelt aufgenommen. Aber die Abhängigkeit von Fichte geht viel weiter und betrifft grundlegendere Anschauungen. In zahlreichen Fragmenten hat Novalis seiner Bewunderung Ausdrude gegeben. Vom „Fichte-Newton" bis zum „zweiten Kopernikus" und sonstigen positiven Bewertungen erstreckt sich die Skala seiner Begeisterung. Später setzt jedoch eine Reihe von Kritiken und Vorbehalten ein, die ständig wächst. Zunächst gelten die Vorbehalte der Unvollständigkeit und Inkonsequenz des Fichteschen Systems. Novalis spricht sogar von Fichtes „Vorurteilen", derentwegen der Wissenschaftslehre immer noch etwas Dogmatisches anhaften soll117. Er möchte Fichtes Versuch einer Universalisierung der Philosophie auf alle Wissenschaften ausgedehnt sehen118 und tadelt daran, daß dieser Versuch „noch nicht vollständig und genau dar117 118

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Fragment 1516 nach der Numerierung der Seelig-Ausgabe. Fragment 1618.

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gestellt" sei11®. Als Philosophie der Kantschen Kritik sei die Wissenschaftslehre „so unvollständig wie die Kritik selbst"120; sie sei „angewandte Logik — weiter nichts"121. In allen diesen Vorbehalten spielen, wie bei Friedrich Schlegel, die jugendliche Forderung nach einer radikaleren Absolutheit des Idealismus, das romantische Gebot der Universalität und nicht zuletzt die Rücksicht auf das Ästhetische eine nicht geringe Rolle. Ganz besonders diese Rücksicht kommt in manchem Fragment zum Vorschein, so z. B. wenn Novalis Kant und Fichte vorwirft, sie wüßten „nicht mit Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit zu experimentieren, ü b e r h a u p t n i c h t p o e t i s c h " 1 2 2 . Aus ähnlichen Gründen hatte auch Friedrich Schlegel an Fichtes Naturauffassung allerlei auszusetzen. Die zweite, tiefgreifendere Kritik richtet sich, wieder einmal wie bei Friedrich Schlegel, gegen einen Grundbegriff des ganzen Systems, diesmal freilich nicht gegen die Funktion der Vernunft, sondern gegen die Fichtesche Darstellung und Anschauung des Ich. Hier kommen Novalis' persönliche Ansichten deutlicher zum Ausdruck, und es springt sofort in die Augen, wie verschieden die Standpunkte der beiden Denker sind. Mit der Kritik des Novalis verlassen wir den erkenntnistheoretischen Bereich Fichtes, überspringen das Zwischengebiet der Lebensphilosophie und der Religion Friedrich Schlegels und geraten in die Nähe des gnostischen Wissens, das Jaspers dem späteren Schelling mit harten Worten vorgehalten hat, indem er diesen Ubergang zur Gnosis als einen Grundirrtum des menschlichen Geistes darstellte. Dem sei, wie ihm wolle; uns soll er hier ausschließlich in bezug auf die frühromantische Dichtungstheorie interessieren, für die er von beträchtlicher Bedeutung gewesen ist. Novalis' Kritik an Fichte läßt sich mit den Worten zusammenfassen: Fichte glaubt nicht an die Wirklichkeit des Ich. „Fichtes Ich ist ein Robinson — eine wissenschaftliche F i k t i o n zur Erleichterung der Darstellung und Entwicklung der Wissenschaftslehre"123; anders gesagt: ein denktechnisches Mittel, keine Grundrealität. Wie versteht nun Novalis das Ich? Es ist an sich schon aufschlußreich, daß er das Wort so gut wie nie als eine bequeme Bezeichnung für „Intelligenz" verwendet, wie Fichte es in der Einleitung der Wissenschaftslehre tut. Wenn er einen anderen Ausdruck dafür gebraucht, dann meistens Geist oder Individualität. Unter Individualität versteht er nicht etwa das Trennende und Absondernde, wohl aber die innere Einheit, den lebendigen Zusammenhang eines Wesens. Von seltenen Ausnahmen 119 120 121 122 123

Fragment 2093. Fragment 2118. Fragment 2642. Fragment 2093 (Sperrung von mir). Fragment 1894 (Sperrung von mir).

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abgesehen, entspricht dies übrigens dem romantischen Wortgebrauch. Es wurde fast immer der Nachdruck auf das indivisibile des Individuums gelegt und nicht auf das Vereinzelte der individuellen Erscheinung. Für das Individuum als Einzelwesen, als selbständige Einheit in der Gesellschaft und der Menschheit benutzen die Romantiker fast durchweg die Bezeichnungen Person, Persönlichkeit, Personalität. Wenn Novalis die Seele als das „individuelle Prinzip" beschreibt, versteht er darunter das, „wodurch alles zu einem Ganzen wird"124. Die Individualität ist das Einheitsmoment des menschlichen Wesens, der Mensch in seiner einheitlichen Ganzheit. Auch Friedrich Schlegel, der von dem Terminus Individualität einen ausgiebigen Gebrauch macht, teilt diese Auffassung. Bei ihm steht das Individuum gleichfalls im Zeichen der Ganzheit: „Ein Individuum ist ein bedingtes historisches Ganzes"125. Allerdings ist für ihn die Individualität eines Menschen nicht von vornherein gegeben: „Es gibt wenig Menschen, die Individuen sind"12"; sie stellt einen Wert dar, der angestrebt und erobert werden muß: „Die höchste Tugend ist, die eigene Individualität als letzten Zweck zu treiben"127. Als solche ist sie aber „das Ewige im Menschen"; nur sie „kann unsterblich sein. An der Personalität ist soviel nicht gelegen"128, wobei er unter Personalität gerade das Unterscheidende, das gesellschaftliche Einzelwesen versteht. Die Individualität ist „der eigene Genius", dessen Pflege und Entwicklung „die höchste Selbsterkenntnis" ermöglicht129. Was bildet nun für Novalis die individuelle Einheit des Menschen? Nicht der Körper, der, auf sich selbst angewiesen, den Gesetzen der Materie unterworfen ist und sich von ihr in nichts unterscheidet. Ein besserer Anhaltspunkt wäre schon der Organismus als „geheimnisvolles Band" zwischen Seele und Leib, das die ständige Wechselbeziehung und gegenseitige Beeinflussung von Seele und Körper ermöglicht. Zur Definition der menschlichen Individualität reicht der Organismus jedoch nicht aus, weil wir auf dieser Ebene immer noch im Reich des Animalischen stehen. E i n Prinzip transzendiert den Organismus und macht die differentia specifica des Menschen aus: der Geist. Der Geist ist der Bereich der Individualität. Novalis nennt ihn die kristallisierte Seele130; in ihm ist keinerlei Mischung mit der Materie, während die Seele „angewandter, unreiner, vermischter, praktischer" oder auch „gebundener, gehemmter, 124 125 126 127 128 129 130

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Fragment 891. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 88, Nr. 704. Ebd., S. 90, Nr. 725. Ebd., S. 134, Nr. 147. Ebd., S. 134, Nr. 146. Ebd., S. 348, Nr. 327. Fragment 2521.

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konsonierter" Geist ist131. Die Seele ist der Geist in seiner Gebundenheit an die Körperlichkeit, die Endlichkeit, die Zeitlichkeit. Der Geist ist von jeder solchen Bindung frei; er ist ewig, unendlich, und er bildet den Kern, den Mittelpunkt des Menschen, das Fundament der Individualität. Der so aufgefaßte Geist ist für Novalis das Ich. Es stellt sich dabei sofort die Frage nach der Beziehung des Geistes zum menschlichen Organismus. Hier treten wir aus der Fichteschen Philosophie heraus und geraten in einen Vorstellungsbereich, der im Zeichen des Geisterglaubens steht, nämlich in die Sphäre der Seelenwanderung. Der Mensch ist für Novalis — und das ist ausgiebig belegt — ein Geist, der für die Dauer des irdischen Lebens in einen Körper gebannt ist. Nach dem Tod des Körpers geht er zurück in das Reich der Geister, der „Dämonen und Genien", in dem er schon vor der irdischen Geburt beheimatet war. „Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist"132. Aufgabe des Menschen ist es, sich dieser seiner Bestimmung bewußt zu werden und demgemäß zu handeln, d. h. an der Vervollkommnung seines Geistes zu arbeiten, indem er durch seine Tätigkeit auf Erden die Loslösung des Geistes von der Bindung an den Körper betreibt. Wer in diesem irdischen Leben nicht zur Vollendung gelangt, d. h. wem es auf Erden nicht gelingt, seine Natur in Geist aufgehen zu lassen, der „gelangt vielleicht drüben oder muß eine abermalige irdische Laufbahn beginnen" 13 '. Man mag sich aus noch so tiefeingewurzelten Gründen gegen eine solche Auffassung des Lebens sträuben, die Formulierungen des Novalis, die man beliebig mehren könnte, sind in dieser Hinsicht klar und deutlich; weder läßt sich daran herumdeuteln, noch kann man sie etwa in irgendeinem übertragenen Sinn verstehen. Man mag solche Anschauungen als Hirngespinste und Wunschträume oder auch als philosophisch verbrämte Dichtung betrachten, man muß doch zugestehen, daß, wer einen solchen Glauben nun einmal hat, ihn notwendigerweise zum Fundament seiner Welt- und Lebensanschauung machen muß. Übrigens war Novalis nicht der einzige Frühromantiker, der solche Meinungen verfochten hat. Auch Friedrich Schlegel bekennt sich zu ähnlichen Uberzeugungen. In den Philosophischen Lehrjahren heißt es z. B.: „Wir haben vor diesem Leben existiert, und nach dem Tode wird uns das einfallen, wieder in unser Bewußtsein treten"134. Und im selben Zusammenhang begegnet auch die vorsichtigere Formulierung: „Die Wande131 132 133 134

Fragment 1728 und 1834. Fragment 1377. Fragment 1328. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 132, Nr. 127.

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rang der Seele von Menschen und Tieren ist nach der wahren Philosophie nicht ungereimt" 135 . Wie Novalis zu solchen Ansichten gelangt ist, ist eine historische Frage, die uns hier nicht beschäftigen soll. Er hat selbst mehrmals betont, daß seine Überzeugung nicht auf philosophischen Schlüssen und religiösen Dogmen, sondern auf persönlichen Erfahrungen beruht. Freilich mußte er auf solche Erfahrungen vorbereitet sein. Vielleicht haben die hermhutische Erziehung, die Atmosphäre auf dem Grüninger Schloß — Sophie glaubte bekanntlich an die Seelenwanderung — , das Interesse für Jakob Böhme, die Begegnung mit Schelling und Baader und überhaupt ein gewisser Zeitgeist, der sich in Gestalten wie Oetinger und Jung-Stilling offenbarte, zur Bildung seiner Meinving beigetragen. Wenn man nach geistesgeschichtlichen Anhaltspunkten suchen wollte, würden sich von Plato bis etwa Lessing so viele Möglichkeiten bieten, daß nur Verwirrung entstehen könnte. Zu den möglichen Quellen gehört m. E. die Lehre der Rosenkreuzer. Manche Gedanken des Novalis sind einfach unverständlich, wenn man das Rosenkreuzertum nicht zur Erklärung heranzieht. Ähnliches gilt auch für die Alchimie. Im Katalog von Novalis' Bibliothek 1 " 1 stößt man auf eine gewisse Anzahl von alchimistischen Traktaten, unter denen zwei Bücher von Eckartshausen besonders auffallen. E s handelt sich um die Entdeckungen über Licht, Wärme und Feuer und um die Ideen über das affirmative Prinzip des Lebens und das negative des Lebens. Die Aufschlüsse zur Magie sind nicht aufgeführt. Novalis hat sie aber zweifellos gekannt, wie die überzeugenden Parallelen, die von Kleeberg aufgedeckt worden sind 137 , eindeutig zeigen. Unter den Übereinstimmungen befinden sich der Glaube an die Seelenwanderung, die Idee von der Verkettung des Endlichen und des Unendlichen und die Anschauung des Gefühls als des einzigen fundamentalen Sinnes des Menschen, von dem die anderen Sinne nur Modifikationen sind. E s ist hier nicht meine Absicht, alle in F r a g e kommenden Quellen anzudeuten; ich möchte nur betonen, daß man sich in der Forschung viel zu oft mit der bloßen Erwähnung dieser geistigen Zusammenhänge zufriedengegeben hat, ohne ihnen den gebührenden Platz in Novalis' Werdegang anzuweisen. Der Geist ist für Novalis zunächst das Prinzip der Identifikation: er verwandelt „das Fremde in ein Eigenes"; Zueignung ist sein „unaufhörliches Geschäft". Solange er sich jedoch Fremdes aneignet, ist er ein „Naturgeist", ein „Geist aus Instinkt". Er soll ein „Vernunftgeist" werden, ein Geist aus Absicht, aus Besonnenheit, aus „Kunst", und zwar, 135 138 137

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Ebd., S. 133, Nr. 135. Manuskript im Frankfurter Hodistift. Kleeberg, Novalis und Eckartshausen (Studien zu

Novalis).

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indem er „sich selbst fremd" wird oder sich selbst fremd macht, sich als Objekt nimmt, um sich seiner selbst bewußt zu werden138. Das Selbstbewußtsein des Geistes ist der erste Schritt auf dem Wege zur Erkenntnis der Welt und des Schidisais. Wie soll das geschehen? Durch die intellektuelle Anschauung. Novalis bejaht diese Fichtesche und Schellingsche Urhandlung, stellt sie aber in einem eigentümlichen Lichte dar: sie ist ihm eine Ek-stasis, ein Heraustreten aus der Welt der Sinne, ein „inneres Lichtphänomen"I39, das einer „echten Offenbarung des Geistes" gleichkommt. Die Beschreibung dieses „Phänomens" ist aufschlußreich: „es ist kein Schauen, Hören, Fühlen; es ist aus allen dreien zusammengesetzt, mehr als alles Dreies: eine Empfindung unmittelbarer Gewißheit, eine Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens" 140 . Nie hätte Fichte solche Wendungen und Vergleiche gebraucht, um die intellektuelle Anschauung zu beschreiben. Das Wort bleibt dasselbe, der Sinn ist ein anderer. Wir haben es bei Novalis mit einer richtigen Ekstase zu tun, in der eine übersinnliche Wirklichkeit, eben der Geist, das Ich, geoffenbart wird, und zwar der individuelle Geist (das „eigenste Leben") im Gegensatz zum Fichteschen Vorgang, in dem das in der intellektuellen Anschauung tätige Ich als überindividuell erscheint. Bei Fichte ergreift der Geist sich selbst, bei Novalis begreift sich der Mensch als Geist: darin besteht die „Offenbarung". Nur auf Grund so unterschiedlicher Auffassung des gleichen Vorgangs ist etwa folgendes Fragment zu verstehen: „Die Hypostase [im scholastischen Sinn einer individuellen Substanz] versteht Fichte nicht; darum fehlt ihm die andre Hälfte des schaffenden Geistes [gemeint ist die Ekstase]. Ohne Ekstase, fesselndes, alles ersetzendes Bewußtsein ist es mit der ganzen Philosophie nicht weit her"141. Es dürfte somit klar sein, von welchem Gesichtspunkt aus Novalis kritisch an die Fichtesche Philosophie herantritt: die ganze Philosophie ist ihm wertlos, wenn sie nicht in der zwingenden, „fesselnden" Erfahrung des Geistes als einer individuellen Substanz ihren Ursprung hat. Wenn der Mensch sich einmal als Geist erkannt hat, erwacht in ihm das Gefühl für seine eigentliche Heimat, die Geisterwelt. Die Offenbarung des eigenen Geistes ist zugleich der Zugang zur übersinnlichen Welt, zum „Unendlichen". Auch dieses Wort hat bei Novalis eine andere Tönung als bei Fichte. Das Unendliche ist ihm die Heimat des Geistes und der Geister. Ob Friedrich Schlegel, der allem Anschein nach solchen Vorstellungen ziemlich fremd gegenübersteht, etwas Ähnliches meint, wenn er von einer „höheren Sphäre von Geistern" spricht, ist nicht mit 138 139 140 141

Fragment Fragment Fragment Fragment

1242. 2065. 22. 2528 (eingeklammerte Worte von mir).

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Sicherheit auszumachen, hat aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Er schreibt nämlich: „Die Sinnenwelt ist der Schatten von der Wechselwirkung der Geister; diese (d. h. alles) = Theosophie, und so ist die Natur also die Hieroglyphe der Gottheit. Sollte aber nicht in diesem Schatten noch etwas anderes angedeutet und reflektiert sein als wir selbst, nämlich die Schatten einer andern höheren Sphäre von Geistern als die unsrigen — so wie wir auch in uns einer höheren Menschheit uns bewußt sind als der jetzigen (Und also ist die Ahnung einer großen Wirklichkeit außer uns ganz auf dem rechten Wege)"142. Freilich spricht Schlegel von Ahnung, während Novalis in vergleichbaren Zusammenhängen von „Faktum" spricht, aber beider Gedankengänge scheinen sich in der gleichen Richtung zu bewegen und eine für sich und außerhalb der irdischen Sphäre bestehende Geisterwelt anzunehmen. Wie dem auch sei, das Wort „unendlich" — wie auch der Ausdrude „das Unsichtbare" — ist für Novalis keine bloße Bezeichnung des Abstrakt-Geistigen überhaupt, sondern ein zeitgemäßes Gewand für eine uralte und allgegenwärtige, aber ewig unzeitgemäße Vorstellung, nämlich die der Geisterwelt. So wollen Fragmente wie etwa folgende verstanden sein: „Nichts ist dem Geist erreichbarer als das Unendliche"143, oder „wir sind mit dem Unsichtbaren näher als mit dem Sichtbaren verbunden" 144 , oder auch „Das Höchste ist das Verständlichste, das Nächste, das Unentbehrlichste. Nur durch Unbekanntschaft mit uns selbst — Entwöhnung von uns selbst entsteht hier eine Unbegreiflichkeit, die selbst unbegreiflich ist"145. Die „Erreichbarkeit", „Verbundenheit" und „Nähe" der Geisterwelt bleibt nämlich für Novalis kein leeres Wort. Hier versteigt er sich sogar zu seinen kühnsten Behauptungen: dem Menschen ist der Umgang mit Geistern möglich. Gemeint ist nicht nur die Erscheinung von Geistern, die Novalis freilich bejaht und als ein wirkliches und erstrebenswertes „Faktum" darstellt148, dessen Voraussetzung er die Elastizität des Geistes nennt147. Gemeint sind, abgesehen von solch extremer Versinnlichung, Zustände, die sich in Novalis' Augen nur durch die Einwirkung von Geistern erklären lassen, so zum Beispiel die sogenannten „Dichtungen", d. h. Schöpfungen der Phantasie, imaginative Vorstellungen, die ohne jeden äußeren Grund „vom Gefühl der Notwendigkeit begleitet" sind und bei deren Hervorbringung der Mensch sich in einem Gespräch mit einem „unbekannten, geistigen Wesen" dünkt, das ihn zur Entwicklung 142

Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 396, Nr. 907. Fragment 1112. 144 Fragment 2360. 145 Fragment 11 der nachgelassenen Fragmente zum Blütenstaub. 14 « Fragment 800. 147 Fragment 1771. 143

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der „evidentesten Gedanken" veranlaßt. Dieses Wesen ist ein „höheres", aber „homogenes" Wesen, ein „Ich höherer Art", das den Menschen zur Selbsttätigkeit anregt148. In der „Inspiration" haben wir es mit einem ähnlichen Vorgang zu tun: sie ist nämlich „Erscheinung" eines höheren Geistes und „Gegenerscheinung", d. h. Selbsttätigkeit, Mitwirkung, aktives Auftreten des eigenen Geistes, sie ist „Zueignung" bzw. Verwandlung des Fremden in Eigenes, und „Mitteilung", d. h. Botschaft des höheren Wesens149. Sogar jede Denktätigkeit ist in diesem Sinne eine „Sympraxis": „Unser Denken ist schlechterdings nur eine Galvanisation, eine Berührung des irdischen Geistes — der geistigen Atmosphäre durch einen himmlischen, außerirdischen Geist"150. Wie ist nun auf Grund solcher Vorstellungen die Vollendung zu verstehen, die Novalis als Aufgabe des Menschen hinstellt? Sie besteht in der Vergeistigung des Lebens, in der Durchdringung der Natur durch den Geist. Diesen Vorgang nennt Novalis „Moralisierung", und damit meint er eine progressive harmonische Vereinigung des Geistes mit der Natur. Das Wesen Gottes ist eben „unaufhörliche Moralisierung"151. Mit dieser Auffassung stehen wir wieder im Mittelpunkt der romantischen Weltanschauung, die in der Vorstellung eines werdenden Gottes gipfelt, der sich selbst „macht", indem er das Unbewußte in sich zum Bewußtsein erhebt und uns dazu anregt, an diesem Prozeß der Bewußtmachung mitzuarbeiten (Schelling). Die Synthese von Natur und Geist im Universum und im Menschen ist ja auch für Friedrich Schlegel das unendliche Ziel der menschlichen und der göttlichen Tätigkeit. Für Novalis besteht also Gottes Wesen ebenfalls im Prozeß der Vergeistigung, an dem der Mensch aktiv teilnehmen soll. Es gilt die Trägheit, die Passivität unserer Natur, die auf dem Übergewicht des Körpers beruht, zu bekämpfen und womöglich aufzuheben; es gilt aktiv, produktiv zu werden und nicht passiv und rezeptiv zu bleiben. Das kann nur durch eine Betätigung aller unserer Kräfte geschehen, von denen die meisten „noch tiefen Schlummer" schlafen152. Aufgabe des Menschen ist zunächst, alle seine Sinne und Organe neu zu entdecken und produktiv werden zu lassen. Es liegt nämlich „nur an der Schwäche unserer Organe und der Selbstberührung [gemeint ist die oben geschilderte Selbstoffenbarung des Geistes], daß wir uns nicht in einer Feenwelt erblicken"153. Damit tritt Novalis offensichtlich 148 149 150 151 152 153

Fragment 800. Fragment 33. Fragment 1588. Fragment 1326. Fragment 1836. Fragment 956 (eingeklammerte Worte von mir).

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in den Hemsterhuis'schen Denkbereich und schließt sich der Forderung nach Erweckung neuer Sinne und unbekannter Sinnübergänge und -kombinationen an154. Die Notwendigkeit einer totalen Aktivität des Menschen ist jedoch darüber hinaus eine allgemein frühromantische Vorstellung. Auch für Friedrich Schlegel müssen alle Vermögen der Seele wach sein, damit die Welt verstanden werden kann; man muß „ein ganzer Mensch sein, ehe man Sinn fürs Universum bekommt"155. Ziel des menschlichen Strebens ist, „das irdische Körpergebilde" zum adäquaten, geschmeidigen, durchsichtigen „Ausdruck und Organ des innewohnenden Geistes" zu machen. Das ist für Novalis „der treibende Gedanke, der die Basis aller echten Gedanken wird"158. Aber eben nur die Basis. Denn, auf einer solchen Grundlage aufbauend, geht Novalis in der Analyse des Verhältnisses von Passivität und Aktivität im Menschen viel weiter als nur bis zur Aufstellung dieses Imperativs. Die Reflexion des Geistes über sich selbst spaltet die ontologische Identität des Ich auf, indem sie ein Subjekt und ein Objekt, eine Form und einen Stoff in dieser Identität entstehen läßt. Der Geist nimmt sich dabei einerseits als ein Subjekt wahr, das in einer Tätigkeit der Anschauung und der Reflexion begriffen ist, andererseits als ein Objekt, das „fühlt und empfindet"157. Das Subjekt ist der aktive, freie, „unendliche" Aspekt des Geistes, das Objekt ist der passive, unfreie, „endliche" Aspekt. Das erste denkt, das andere fühlt. Denken und Fühlen sind also die Komponenten des Ich, und sie verhalten sich zueinander wie Form und Stoff: das Gefühl ist der Stoff des Denkens, seine „bestimmte Handlungsweise"; das Denken ist die Form des Gefühls158. Diese Dualität hat Novalis auch mit einem anderen Begriffspaar beschrieben, nämlich mit dem Begriff Wollen für den aktiven und dem Begriff Vorstellen für den passiven Aspekt15*. Denken und Wollen haben ihren Ursprung in der freien Tätigkeit des Ich; Fühlen und Vorstellen setzen einen Reflex auf äußere Reize voraus. Nun stehen die beiden Aspekte des Ich in Verbindung mit je einem „System von Sinnen". „Ein System heißt der Körper, eins die Seele. Jenes 154

155 156 157 158 158

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In diesem Punkte liegt aber wieder einmal eine merkwürdige Übereinstimmung mit Eckartshausen vor. Audi für den Alchimisten bedingen unsere Sinne unsere Wahrnehmung der Welt: feinere Sinne entdecken mehr von der Welt als grobe Organe; daher ist es für den geistigen Menschen Pflicht, seine Sinne zu erweitem und zu verfeinem. So kann er sich höher entwickeln, d. h. sich vergeistigen und ungeahnter Offenbarungen fähig werden (vgl. Kleeberg, a.a.O.). Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 313, Nr. 1442. Fragment 112. Fragment 166. Fragment 544. Vgl. Fragment 688.

PHILOSOPHISCHE G R U N D L A G E N

steht in der Abhängigkeit von äußeren Reizen, deren Inbegriff wir die Natur oder die äußre Welt nennen. Dieses steht ursprünglich in der Abhängigkeit eines Inbegriffs innrer Reize, den wir den Geist nennen oder die Geisterwelt". Der Mensch soll die beiden Systeme, Natur und Geist, in seiner Person in „ein vollkommenes Wechselverhältnis", in eine „freie Harmonie" bringen160. Dazu muß das Ubergewicht des Körpers, die Passivität, durch eine Steigerung des Willens, der Aktivität, aufgehoben werden. Das freie, „idealische" Ich muß das unfreie, „wirkliche" Ich „erregen", damit es „sich besinnt" und „erwacht"161. Darin liegt das Geheimnis der „Selbstbesprechung"162, die zugleich ein „Akt der Selbstumarmung" ist: das freie Ich zeugt, das endliche Ich gebiert, und beide erziehen den „Geist". Erst durch diese „glückliche Ehe" wird der Mensch zum „vollständigen Ich"163. Die geistige Aufgabe des Menschen beschränkt sich jedoch nicht auf das innere Selbstgespräch. Das Verfahren, das der Mensch anwendet, um sein unbewußtes, rezeptives Ich durch das freie Ich zu erwecken, soll er auch auf die Welt beziehen. „Wir sollen alles in ein Du, in ein zweites Ich verwandeln — nur dadurch erheben wir uns selbst zum großen Ich, das Eins und Alles zugleich ist"164. Die Verwandlung des Nicht-Ich in ein Du erinnert an Friedrich Schlegel und stellt einen bedeutenden Schritt über Fichte hinaus dar. Zugespitzt formuliert erscheint diese Ansicht unter der Feder des Novalis öfters als „Vernichtung des Nicht-Ich". Der Dichter warnt jeweils vor dem Mißverständnis, das Nicht-Ich könnte „der sinnlichen Existenz nach" vernichtet werden; das erklärt er für unmöglich165. Die Vernichtung des Nicht-Ich bezeichnet den Zustand des Menschen, dem es gelungen ist, die Passivität zu überwinden und die Aktivität so zu steigern, daß er den äußeren Reizen entzogen ist und nur noch von sich selber affiziert wird168. Mit der Verwandlung des Nicht-Ich in ein Du, d. h. mit der Integration der äußeren Welt in das Ich durch die Aufhebung der Passivität, stehen wir mitten im sogenannten magischen Idealismus. Was dieser Begriff genau bedeutet, läßt sich nicht so leicht auf eine klare und einfache Formel bringen. Ein System im strengen Sinn des Fragment 885. Fragment 800. 182 Fragment 800 und 1183. 163 Ygj Fragment 849. Audi hier decken sich Novalis' Ansichten mit alchimistischen Vorstellungen. Der Mensch als Bürger zweier Welten, dem Körper nach ein Höhepunkt der Natur, der Seele nach am untern Ende der Leiter stehend, ist ja eine Grundanschauung Einartshausens (Vgl. Kleeberg, a.a.O.). 164 Fragment 1826. " 5 Fragment 311. 1 , 6 Fragment 311. 160

161

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Wortes bezeichnet er nicht, eher eine philosophisch unterbaute Tendenz und Denkeinstellung. Der Platz, den Novalis ihm in der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie zuweist, kann zu seiner Erhellung beitragen. Für Novalis hat nämlich die Philosophie mit dem reinen Empirismus angefangen, der ein passives, von der Außenwelt durchaus abhängiges Denken ist; als solches ist er immer noch aktuell und stellt eine der Grundformen des menschlichen Denkens dar, die sich z. B. in Voltaire konkretisiert. Uber den „transzendenten Empirismus" erhebt sich das philosophische Denken zum Dogmatismus, der sich in den falschen Glauben an die Erkennbarkeit des Dinges an sich verstrickt. Dieser entwickelt sich dann zum „transzendenten Dogmatismus", den Novalis bisweilen als Schwärmerei bezeichnet. Dies muß jedoch nicht notwendigerweise als ein abschätziges Urteil angesehen werden, denn unter die Vertreter dieser Geistesrichtung rechnet er ab und zu Spinoza, in dessen „realistischem Idealismus" er versucht ist, die „wahre Philosophie" zu erblicken1". Darauf folgt der Kantsche Kritizismus als Umkehrung der philosophischen Methode und grundsätzliche Revolution im philosophischen Bereich. Der Kritizismus führt zu Fichtes Idealismus und „endlich" zum magischen Idealismus von Novalis selbst168. Ähnlich wie Friedrich Schlegel, der sich als den einzigen konsequenten Idealisten ausgab, betrachtet sich Novalis als den Vollender der Philosophie. Diese jugendliche Uberzeugimg gründet sich auf das Gefühl, die Prinzipien des Idealismus bis in ihre letzten Konsequenzen durchdacht zu haben, nämlich bis zur völligen Befreiung des Ich vom Nicht-Ich, in welcher ja das Magische im Sinn von Novalis beruht. Magisch ist ihm in der Tat die spontane und „allmächtige" Aktivität des Geistes, die sich an keiner äußeren Bestimmung mehr orientiert und sich somit jeder Form von „Empirismus", d. h. von Passivität, entgegensetzt. Der Geist soll ganz schöpferisch, „Totalgenie" werden; er zaubert sich im Grunde seine Welt selbst hervor, die ihm dann wie eine „fremde, selbstmächtige Erscheinung" vorkommt169. Er gestaltet und regiert sie aber nach seinen eigenen Vorstellungen, so daß „sich nach den Dingen oder die Dinge nach sich richten" eins ist170. Das läuft auf eine völlige Umkehrung der empirischen Weltauffassung hinaus und erhellt die ganze Stellung des Novalis im Bereich der Naturwissenschaften: „Aus Gedanken erklärt sich die Entstehung der Schwere"; nicht die Schwere macht die Sensibilität verständlich, sondern „aus der Sensibilität erklärt sich die Schwere". Konsequent heißt es weiter: „Der Geisterwelt gehört 187

Vgl. Fragment 3048. Fragment 1152. i«9 Vgl. Fragment 1184. 170 Fragment 1044. 188

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das erste Kapitel in der Physik"171. Die Denkoperationen des magisdien Idealisten zielen darauf, entweder Gedanken in „selbständige, sich von [uns] absondernde und nun [uns] fremd, d. h. äußerlich vorkommende Seelen", oder die äußeren Dinge in Gedanken zu verwandeln172. Die Voraussetzung dieser Einstellung zur Welt will Novalis schon im Kritizismus sehen, der „uns beim Studium der Natur auf uns s e l b s t . . . und beim Studium unsrer selbst auf die A u ß e n w e l t . . . verweist". Dabei „ahnen" wir die Natur als ein menschenähnliches Wesen, das wir erst auf Grund der Selbsterkenntnis verstehen können. Die Möglichkeit eines Verständnisses der Außenwelt ergibt sich aus der Selbstbeobachtung, durch die wir uns für uns selbst zum Objekt, d. h. zur Außenwelt machen. Daraus entsteht eine vierfache Verbindung: die Geisterwelt ist mit unserem Geiste wie die Natur mit unserem Körper verbunden, der ja nur ein Glied der Außenwelt und demnach im Wesen mit ihr identisch ist; andererseits ist der Geist mit dem Körper wie die Geisterwelt mit der Natur verbunden173. Durch die Selbsterkenntnis entdecken wir die Seele der Natur, die Weltseele. Dann erscheinen alle Phänomene der Welt als Wirkungen dieser einen Kraft, die „überall und nirgends" ist und die sich je nach den „Bedingungen, Verhältnissen und Umständen" verschieden offenbart und konkretisiert174. Eine solche „animistische" Einstellung beruht auf der Überzeugung von der Aktivität des Geistes und entsprechend auf einer starken Hervorhebung des Willens. Der Mensch steht vor der Welt und dem Leben wie der Historiker vor der Geschichte. Er findet eine formlose „Masse" vor, die er zu ordnen und zu gestalten hat: er gibt ihr eine Form, indem er sie belebt175. Das Leben ist eine Reihe von „Zufällen", die der Mensch als „Materialien" betrachtet und die er zu sinnvollen Elementen macht. „Wer viel Geist hat, macht viel aus seinem Leben"; ihm wird jeder Zufall zum sinnerfüllten Erlebnis178. Auch die Welt „hat eine ursprüngliche Fähigkeit, durch mich belebt zu werden. Sie ist überhaupt a priori von mir belebt — eins mit mir. Ich habe eine ursprüngliche Tendenz und Fähigkeit, die Welt zu beleben" 177 . Der Mensch soll sich dieser seiner geistigen Fähigkeit bewußt werden und sie dermaßen aktivieren, daß die Welt wird, „wie ich will", und daß der Mensch als Zweck der Welt erscheint178. 171 172 173 174 175 176 177 178

Vgl. Fragment 1404. Fragment 1768. Vgl. Fragment 1992. Fragment 1962. Fragment 93. Fragment 66. Fragment 898. Fragment 897.

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PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN

Das ist eine andere Form der Vernichtung des Nicht-Ich: „Der Mensch kann alles werden, worauf er reflektieren oder was er sich vorsetzen kann"179; mit anderen Worten: „Was ich will, das kann ich. Bei dem Menschen ist kein Ding unmöglich"180. Die Hervorhebung des Willens, die Behauptung der Allmacht des Menschen gegenüber der Welt, die Auffassung des Menschen als des Zweckes der Welt sind Positionen, die in der praktischen Vernunft gründen. Dank der Freiheit seines Willens ist der Mensch Sinn- und Formgeber der Welt und des Lebens. Diese bei Novalis sehr beliebte Vorstellung begründet die Funktion der Moral im magischen Idealismus und ihre Eigenschaft als vorzüglicher Anwendungs- und Bewährungsbereich der Lehre vom schöpferischen Geist. Insofern ist sie „das eigentliche Lebenselement des Menschen"181. Diese Auffassung, die dem magischen Idealismus seine Grenzen zu setzen scheint und ihn als im Grunde wenig neu und umwälzend erscheinen läßt, bedarf jedoch einer Korrektur, die erst bei der Interpretation des Begriffs Willkür erfolgen kann. Weil der moralische Sinn uns dazu anregt, gut zu handeln, d. h. uns von keinem persönlichen Interesse bestimmen zu lassen, sondern dem kategorischen Imperativ in seiner vollen Reinheit zu gehorchen, glaubt sich Novalis berechtigt, unseren reinen Willen dem Willen Gottes anzugleichen: „Unser reiner sittlicher Wille ist Gottes Wille"182. Durch den moralischen Sinn spricht Gott zu uns und in uns; wir sind wahre Kinder Gottes, wenn die reine Sittlichkeit in unserem Verhalten und Denken den Ausschlag gibt. „Indem wir seinen Willen erfüllen, erheitern und erweitern wir unser eignes Dasein, und es ist, als hätten wir um unsrer selbst willen, aus innerer Natur so gehandelt" 189 . Moralisch handeln heißt göttlich sein, das Irdische abstreifen, im reinen Geist leben, die Passivität ganz überwinden. Der moralische Sinn ist der göttliche Kern unserer Individualität. Der Wille als Werkzeug des moralischen Sinnes ist „nichts als magisches, kräftiges Denkvermögen" 184 . Wollen und Denken sind ja der aktive Aspekt des Ich im Gegensatz zu Fühlen und Vorstellen. Nun erweist sich das Ich als aktiv und schöpferisch, magisch und wundertätig hauptsächlich in der Moral: „Der Wunder höchstes ist eine tugendhafte Handlung, ein Aktus der freien Determination" 185 . Darum werden wir „in dem Augenblick, wo wir vollkommen moralisch sind, Wunder tun können", aller179 180 181 182 183 184 185

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Fragment 724. Fragment 2988. Fragment 3049. Fragment 3049. Fragment 3049. Fragment 2537. Fragment 1949.

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dings keine Wunder im landläufigen Sinn, sondern Wunder der Freiheit, geistige Verwandlung der Welt188. Dem moralischen Menschen ist das Leben ein Priesterdienst an der „heiligen und geheimnisvollen Flamme" 187 . Erst um dieser Flamme, des Geistes, willen hat das Leben einen unendlichen Wert. Das Leben soll zu einem vollkommenen Werkzeug des Geistes gemacht werden; es soll die Befehle und Absichten des Geistes treu ausführen, ohne daß geistesfremde Elemente sich einmischen. „Alles Unwillkürliche soll in ein Willkürliches verwandelt werden"188. Die Freiheit des Geistes soll die Notwendigkeit der Natur überwinden und sich ihr aufprägen. Die erste Pflicht des Menschen ist es demnach, seine „produktive Freiheit", sein „schöpferisches Vermögen", seine „unendliche Personalität", seinen „Mikrokosmos", die „eigentümliche Divinität in uns" zu entwickeln18'. Das Magische im Sinne des Novalis ist also die Fähigkeit und das Talent, sich selbst frei zu bestimmen, nur von sich selbst affiziert zu werden, wie es oben hieß, oder, mit anderen Worten, das ungehemmte Walten des moralischen Sinnes, die Aufhebung der Trägheit durch eine unbegrenzte Aktivität des Geistes. Folgerichtig heißt es dann: „Wir müssen Magier zu werden suchen, um recht moralisch sein zu können. Je moralischer, desto harmonischer mit Gott, desto göttlicher, desto verbündeter mit Gott. Nur durch den moralischen Sinn wird uns Gott vernehmlich""0. Der magische Idealismus bezieht sich also an erster Stelle auf die Vervollkommnung und auf die Ausdehnung der Herrschaft des Geistes über die Trägheit der Natur in uns. Sein Ziel ist ein „Wundersubjekt", eine „Wunderbewegung", nicht etwa ein „Wunderobjekt" oder eine „Wundergestalt"1*1, was das Ziel des magischen Realismus wäre, der auf die Außenwelt wirken will, indem er „die Sinnenwelt willkürlich gebraucht"1®2. Davon kann bei Novalis nicht die Rede sein. Der magische Idealist konzentriert seine Kräfte ganz auf den eigenen Geist, den er durch den tätigen Gebrauch aller Organe „allmächtig" zu machen sucht. Er trachtet danach, sie ohne jede Abhängigkeit von der Außenwelt und ohne jede Unterwerfung unter die Passivität in der Gewalt zu haben. Er ist der Sieger im Kampfe zwischen der Natur, dem Zufälligen, dem Vergänglichen und dem Geist, dem Bleibenden1'5. Novalis ist fest davon m vgl. Fragment 1949. 187 Fragment 1169. 188 Fragment 1049. 189 Fragment 3023. 1 , 0 Fragment 1519. 191 Fragment 2307. 192 Fragment 883. 193 Fragment 682. S Nivelle

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überzeugt, daß der Mensch den Triumph der „Kunst" über die „rohe Masse" erringen wird. „Die Ideen erheben zu sich, sie lassen sich nicht herab": darauf beruht das „Prinzip der Vervollkommnung in der Menschheit" 184 . Der Geist soll jeden Einfluß der Natur auf die Bestimmungen der Menschen ausschalten; dafür muß er den Körper vollkommen beherrschen. „Unser Körper soll willkürlich... werden" 195 ; „wir müssen den Körper wie die Seele in unsre Gewalt bekommen" 196 . Der Geist soll den Leib beeinflussen, nicht umgekehrt. Das tut er schon im Falle von Gefühlen wie Furcht, Trauer, Zorn, Neid, Scham, Freude, die sich alle auf den augenblicklichen Zustand des Körpers auswirken. Auch wenn solche Gefühle meist Reaktionen auf äußere Anlässe sind, so deuten sie doch mindestens die Möglichkeit einer Modifikation des Körpers durch geistige Regungen an. Es kommt darauf an, ähnliche Wirkungen mit bewußten und gewollten geistigen Zuständen zu erzielen. Nun ist für Novalis „unser ganzer Körper schlechterdings fähig, vom Geist in beliebige Bewegung gesetzt zu werden" 197 . Herrschaft über den Körper bedeutet naturgemäß auch Herrschaft über die Sinne, und zwar sowohl in ihrer Funktion als Wahrnehmungs- und Vorstellungsmedien als auch in ihrer Rolle als Werkzeuge unserer Wirkung auf die Welt. „Wir müssen also unseren Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres Werkzeugs ist Modifikation der Welt" 198 . Die Unfähigkeit, die Sinne zu beherrschen, die „NichtWirksamkeit auf das Gefäß meines Daseins" führt zu einer Herrschaft der Natur über den Geist, die des geistigen Menschen nicht würdig ist199. „Der Mensch soll ein vollkommnes und totales Selbstwerkzeug sein" 200 . Wenn der Geist frei über die Sinne verfügt, produzieren sie „die Gestalt, die er verlangt", und ermöglichen ihm, „im eigentlichsten Sinn in seiner Welt zu leben"; „er wird sehen, hören und fühlen, was, wie und in welcher Verbindung er will" 201 . Solche Gedankengänge bilden den unmittelbaren Übergang zu den „Visionen" und „Fiktionen", die Novalis als charakteristisch für den Idealismus bezeichnet202, und machen außerdem gewisse Äußerungen verständlich, etwa die berühmte Briefstelle über die ersehnte Erscheinung Sophies203. 194 195 199 107 193 199 200 201 202 203

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Ebd. Fragment 846. Fragment 1032. Fragment 1023. Fragment 1032. Vgl. Fragment 1257. Fragment 1751. Fragment 1023. Fragment 3110. Gesammelte Werke, Bd. V, S. 132.

PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN

Aus alledem geht deutlich hervor, daß bei der Verwandlung des Weltbildes nicht allein der Wille tätig ist, sondern auch die produktive Einbildungskraft. Der mit der Einbildungskraft zusammenwirkende Wille führt bei Novalis den Namen 'Willkür' 204 . Die Distanzierung von der Kantschen Vernunft geschieht bei ihm nicht so eindeutig und systematisch wie bei Schelling. In seiner Suche nach dem obersten Vermögen der Seele schwankt er immer wieder zwischen der praktischen Vernunft als moralischem Sinn und der produktiven Einbildungskraft. Bald wird das eine, bald das andere Vermögen hervorgehoben. Dieses Hin und Her stellt in philosophischer Hinsicht ohne Zweifel eine Schwäche dar, ermöglicht es aber andererseits unserem Dichter, eine richtige Poetik zu entwickeln. Wenn nämlich die Betonung auf die Einbildungskraft fällt, führen seine Überlegungen unmittelbar zu einer Dichtungstheorie. Der Versuch, die beiden Vermögen in der Willkür zusammenzufassen, ist vielleicht eine Verlegenheitslösung, öffnet jedoch zugleich den Zugang zu einer Kunstlehre, und gerade das soll uns hier besonders interessieren. Die immer wieder hervorgehobene Notwendigkeit der Aktivität ist nicht nur ein moralisches Gebot, sondern auch eine Wirkung der produktiven Einbildungskraft. Der Idealismus läßt sich für Novalis als Sthenie, d. h. als kräftige selbständige Tätigkeit, definieren; der Realismus erscheint ihm dagegen als Asthenie, ein Begriff, den er dem „Gefühl" gleichsetzt205. Das Gefühl als passiver Aspekt des Ich ist uns bekannt; der Gegensatz dazu sind eben die Visionen und Fiktionen, von denen auch die Rede war und die doch nichts anderes bedeuten als eine freie Tätigkeit der Einbildungskraft. Damit tut sich eine neue Dichotomie des Ich kund: eine aktive Phantasie und ein passives Gefühl. Tätig sein, das Gegenteil von „bloßem Mechanism", wird manchmal mit der Formel umschrieben: „seine produktive Einbildungskraft brauchen" 206 . Der „tätige Gebrauch der Organe", der das Genie kennzeichnet, besteht darin, „Geisterwelt beliebig darzustellen" 207 . 204

Über die Bedeutung des Wortes Willkür um 1800 schreibt Hans Eichner in der Einleitung zum 5. Band der Kritischen Ausgabe von Friedrich Schlegels Werken (S. XXXVII): „. . . das Wort Willkür darf nicht mißverstanden werden; es hatte damals nicht immer die heutige negative Bedeutung. Schelling definiert Willkür als ,mit Bewußtsein freie Tätigkeit', als ,Freiheit zu wählen' und als .freie Wahl zwischen entgegengesetzten Maximen, die sich wechselseitig ausschließen und in einem und demselben Willen nicht bestehen können'. Schlegel definiert sie als ,absoluten Entschluß, als absolute Wahl einer Bestimmung aus unendlich vielen' und als .absolutierte Freiheit'. Bei Kant ist jeder Willensakt Willkür, Freiheit dagegen ,eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt'."

205

Fragment 3110. Fragment 1900. Fragment 1025.

208 207



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PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN

Die Uberwindung der Passivität erstreckt sich demnach auf Bereiche, die mit der praktischen Vernunft nicht notwendigerweise verbunden sind. Ein paar Zitate mögen genügen: „Das echte Denken erscheint wie ein Machen und ist auch ein solches"208; „Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman sein"209; „alles zu beleben ist der Zweck des Lebens"210; „Philosophieren ist dephlegmatisieren — vivifizieren"211; „nur durch meine Tätigkeit ist ein Sein für mich möglich" 2 "; „die Darstellung der Philosophie... ist nur für selbsttätige Wahrheitsfreunde" 213 ; und schließlich das berühmte Fragment: „Das Fatum, das uns drückt, ist die Trägheit unsers Geistes. Durch Erweiterung und Bildung unsrer Tätigkeit werden wir uns selbst in das Fatum verwandeln. Alles scheint auf uns hereinzuströmen, weil wir nicht herausströmen. Wir sind negativ, weil wir wollen, je positiver wir werden, desto negativer wird die Welt um uns her — bis am Ende keine Negation mehr sein wird, sondern wir alles in allem sind. Gott will Götter"2U. Die schöpferische, belebende, produktive Tätigkeit des Geistes gipfelt in dem, was Novalis im allgemeinsten Sinn des Wortes K u n s t nennt. Das ist ein unscheinbarer, aber äußerst bedeutender Schritt. Denn solche „Kunst" stellt das Gemeinsame, das Umgreifende der praktischen Vernunft, des Denkens überhaupt und der eigentlichen künstlerischen Tätigkeit dar. Die Moral ist eine „Kunst", denn die sittliche Idee, die der Mensch konzipiert und nach der er sein Leben gestaltet, ordnet und vereinigt „die Masse innerer und äußerer Handlungen (innere sind die Gesinnungen und Entschließungen) kunstmäßig zu einem idealischen Ganzen"215. Und das philosophische Denken ist die Kunst, „unsere gesamten Vorstellungen nach einer absoluten, künstlerischen Idee zu produzieren und ein Weltsystem a priori aus den Tiefen unsers Geistes herauszudenken — das Denkorgan aktiv, zur Darstellung einer rein intelligiblen Welt zu gebrauchen"216. Damit haben wir eine erste, vorläufige Definition der Kunst in diesem weiteren Sinn: sie ist die Gliederung eines Ganzen nach einer Idee, die der Geist hervorbringt. Das ist zwar die Bestimmung eines allgemeinen Kunstbegriffs, des Kunstprinzips schlechthin; wir werden sehen, inwieweit sie zur Definition der Kunst im engeren Sinn reicht. Hier bezieht sie sich, wie gesagt, auf jede menschliche „Tätigkeit" 208

Fragment 1887. Fragment 962. Fragment 938. 211 Fragment 794. 212 Fragment 683. 21 » Fragment 782. 214 Fragment 1024. 215 Fragment 1009. Fragment 1009. 2M

210

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im Novalis'schen Sinn. Ihr Wesen und Ziel ist die geistige Gliederung einer „rohen Masse", das Ordnen eines „Chaos" und seine Verwandlung in „eine freie Verbindung", in „eine mannigfaltige Welt" nach den Bestimmungen einer Idee217. In dieser Idee liegt das Schöpferische der Kunst. Es kommt nicht darauf an, daß man etwas absolut Neues schafft" 8 , sondern daß man auswählt, ordnet, ausscheidet, gliedert, trennt und vereinigt nach einem schöpferischen Prinzip, das bei Novalis Idee heißt. Diese Idee nun kommt nicht aus der Vernunft, sondern aus der Einbildungskraft. „Hätten wir auch eine Phantastik, wie eine Logik, so wäre die Erfindungskunst erfunden"21®. Die Erfindimg in diesem Sinn ist die freie, beliebige, 'willkürliche' Schöpfung von Ideen. Von dieser Novalis'schen Idee wird bei der Behandlung des romantischen Dichtungsbegriffs wieder die Rede sein. In diesem Zusammenhang soll sie nur als das schöpferische Merkmal des Geistes dargestellt werden. Insofern ist sie „magisch" und „wunderbar" und erhebt die Geisteshandlungen, die sie hervorbringen, zu wunderbaren Tätigkeiten, wie z. B. die Mathematik220, die „poetische Philosophie"221, den Witz222. Und diese Wunderbarkeit wurzelt in der produktiven Einbildungskraft. Unter diesem Aspekt erscheint demnach die Bildung der Phantasie als ein Gesetz des geistigen Menschen. Dieser soll „Totalgenie" werden, d. h. schöpferisch in jeder Hinsicht. Aus dieser Totalität des „Genies", auch hier das Wort in der allgemeinsten Bedeutung gebraucht, ist sogar das Gefühl, das an sich den passiven Aspekt des Ich darstellt, nicht ausgeschlossen. Es wird neben dem „Selbstdenken" ein „Selbstempfinden" gefordert, das Novalis mit dem Ausdruck „aktives Empfinden" umschreibt. „Man bringt das Empfindungsorgan wie das Denkorgan in seine Gewalt"223. Nicht passiv soll sich also der Mensch gegenüber den Empfindungen verhalten; die Kraft, die von ihnen ausströmt und den Körper beeinflußt, soll er für sich in Anspruch nehmen und mit ihr willkürlich verfahren, um gewollte Ziele zu erreichen, um positiv zu wirken, statt negativ zu leiden. Leidenschaften, Passionen, Affekte sind Zustände, die beim Totalgenie nicht denkbar sind224. Solche Zustände gehören unserem „Beiwesen" an, das wir in dem Maße ablegen, in dem wir tätig werden; wir nähern uns dann „dem 217 218

219 220 821 222 225 221

Vgl. Fragment 95. „Absolut machen können wir nichts, weil das Problem des absolut Machens ein imaginäres Problem ist", Fragment 2461. Fragment 2449. Fragment 1933 und 3013. Fragment 1933. Fragment 1909. Fragment 1160. Vgl. Fragment 1173.

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PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN

durchaus reinen, einfachen Wesen unsers Ich"225, wir nähern uns dem Absoluten. Denn „das einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann", ist die „unendliche freie Tätigkeit in uns"226; frei im Sinne der Willkür, d. h. der praktischen Vernunft und der produktiven Einbildungskraft.

225 228

70

Fragment 681. Fragment 342.

III. W U N D E R S C H R I F T DER E N D L I C H K E I T Das Ich, als Identität, reiner Akt und Urgrund des Seins und des Wissens betrachtet, bedingt eine bestimmte Einstellung zur Welt. Trotz ihrer so gut wie einmütigen Weigerung, Fichte in seiner Auffassung der Natur als Nichtsein zu folgen, suchen die Romantiker die Wirklichkeit der Natur nicht in den Erscheinungen, sondern nur in ihrem Geist, in ihrer „göttlichen Bedeutung". Das Wesen der Natur ist ihnen geistig und göttlich1 und im Grunde mit dem Wesen des Geistes identisch. Das Reale der Natur und das Ideale des Geistes sind untergeordnete Formen desselben Urwesens2, das die Substanz ist, in der sie miteinander verschmelzen wie Objekt und Subjekt im Ich. Die intellektuelle Anschauung als die Urhandlung, durch die Gott oder das absolute Ich sich selbst als Subjekt und Objekt setzt, behält auch in der Betrachtung der Natur ihre grundlegende Bedeutung. Das Wesentliche, die Wahrheit der Natur ist für Schelling ihre „werktätige Wissenschaft"; darunter versteht er wieder einmal die Identität von Wissen und Sein, von Begriff und Form, Seele und Leib, Entwurf und Ausführung. Weder die Erscheinung noch die Idee machen das Wesen der Natur aus, sondern erst das Band zwischen beiden, ihre Identität. Nur durch dieses Band, d. h. durch das Vorhandensein eines „Verstands", einer „Wissenschaft" in den Erscheinungen, kann die Natur Objekt unserer Erkenntnis werden, denn „das, worin kein Verstand wäre, könnte auch nicht Vorwurf des Verstandes sein, das Erkenntnislose selbst könnte nicht einmal erkannt werden" 3 . Aus solcher Stellung zur Natur ergeben sich zwei wichtige Positionen: das Unendliche ist nur in der Endlichkeit zu finden, und es gibt eine Analogie zwischen Mensch und Natur. „Nirgends tritt das Unendliche als unendlich hervor, es ist überall da, aber nur in dem Gegenstand — dem Stoff verbunden"4. Das Unend1 2 3

4

Vgl. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 333. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 314. Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, 3. E r g ä n z u n g s -

band, S. 399. Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 440.

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WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT

liehe ist in der Endlichkeit allgegenwärtig; es muß nur erkannt, gedeutet, angeschaut und dargestellt werden. Und es gibt keinen anderen Weg zum Unendlichen als den, der über die Endlichkeit führt. Das Endliche hat demnach einen unendlichen Sinn, und das Unendliche ist jeweils dem Endlichen verbunden. Beides hat eine Beziehung zur Natur. „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen l i e g t . . . durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten . . . Die Natur ist dem Künstler nicht mehr, als sie dem Philosophen ist, nämlich nur die unter beständigen Einschränkungen erscheinende idealische Welt, oder nur der unvollkommene Widerschein einer Welt, die nicht außer ihm, sondern in ihm existiert"5. Auch Schleiermacher hält es bekanntlich für eine Täuschung, das Unendliche außerhalb des Endlichen zu suchen®. Das Unendliche ist zwar allgegenwärtig, kann vom Menschen aber nur durch die Anschauung der wirklichen Welt geahnt werden. Der geistige Mensch hat es gerade zur Aufgabe, in allem Einzelnen das Unendliche aufzuspüren, alles Endliche als eine symbolische Darstellung des Absoluten anzusehen. Schleiermacher vertritt eine solche Ansicht nicht nur in bezug auf die Natur, sondern auch auf den Menschen. In jedem Individuum muß der geistige Mensch mehr als das Individuelle entdecken, nämlich ein „Kompendium der Menschheit"7, genau wie er in der Geschichte mehr als eine Aufeinanderfolge von Begebenheiten erblickt, nämlich „den Geist, in dem das Ganze geleitet wird"8. Nur in dieser letzten Hinsicht ist ihm die Geschichte „der höchste Gegenstand der Religion"". Das Unendliche existiert also im Endlichen als sein Widerschein und nicht außer ihm. Wenn der Geist sich außerhalb der Endlichkeit sucht, ist er auf einem Irrweg, und in Wirklichkeit flieht er sich10. Folgerichtig ist dann der Schluß: je mehr wir das Zeitliche erkennen, desto mehr erkennen wir das Ewige; mit Schellings Worten ausgedrückt: „Kommet her zur Physik und erkennet das Ewige!" 11 . Das Endliche bietet eine universelle Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 628. • Sdileiermadier, Über die Religion, 3. Rede. 7 Ebd., 2. Rede. 8 Ebd., 2. Rede. 8 Ebd. Hier muß wieder einmal hervorgehoben werden, daß der unendliche Sinn der endlichen Erscheinungen eine Grundansicht der Alchimie darstellt. Dem Adepten ist das Universum der siditbare Ausdrude göttlicher Gedanken, die Natur eine mittelbar wirkende Kraft der Gottheit. Die Körperwelt besteht aus Expressionen der Geisterwelt. Das alles haben die Jenaer mit Novalis u. a. bei Eckartshausen nachlesen können (vgl. Kleeberg, a.a.O.). 10 Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 628. 11 Schelling, Von der Weltseele, Bd. I, S. 446. 5

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WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT

Analogie des Unendlichen; die Natur ist das sichtbare Analogon des Geistes. Durch die spekulative Physik gedeutet, also im Lichte der Naturphilosophie, enthält sie die Grundlage einer neuen Mythologie, einer allgemeinen Symbolik12. In jedem Organismus ist etwas Symbolisches; jede Pflanze ist sozusagen „der verschlungene Zug der Seele" 1 '. Nur muß man dazu die Welt richtig verstehen, „lebendig fassen"14. Dem geübten Auge erscheinen z. B. die regelmäßigen, stereometrischen Formen der Natur als dem Reich der Begriffe zugehörig, sie sind etwas Geistiges im Materiellen15. Es gilt, eben dieses Geistige in der Natur zu entdecken, und so wird sie zum Ausdruck des gleichen Bandes wie jenes, „das in der Vernunft ist", nämlich „der ewigen Einheit des Unendlichen mit dem Endlichen"1". Somit erweist sich das Wesen der Natur als mit dem des Geistes identisch, und daraus erhellt der symbolische Wert der Naturerscheinungen, die herauszuheben und darzustellen dem Romantiker obliegt". Daß die Natur erst als werktätige Wissenschaft dem menschlichen Geist erkennbar ist, beruht auf einer weiteren Idee: der Analogie zwischen Mensch und Kosmos. Der Mensch ist ein Mikrokosmos und die Welt ein Makroanthropos. „Die Vorgänge des menschlichen Lebens . . . [müssen] mit den Vorgängen des allgemeinen Lebens übereinstimmen... Wer die Geschichte des eigenen Lebens von Grund aus schreiben könnte, [hätte] damit auch die Geschichte des Weltalls in einen kurzen Inbegriff gefaßt" 19 . Die Grundverwandtschaft von Welt und Mensch darf nie aus dem Bewußtsein des Naturbetrachters schwinden; dieser verirrt sich, wenn er über die Natur als bloßes fremdes Objekt reflektiert. „Die Natur [spricht] umso verständlicher zu uns, je weniger wir über sie bloß reflektierend denken"; zu der wahren Einsicht führt ein anderer Weg, „die reine Anschauung oder vielmehr die schöpferische Einbildungskraft" 1 '. Solange wir die Natur von außen, d. h. als ein uns fremdes und zu uns 12

Sdielling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 466. Sdielling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, Bd. I, S. 310. 14 Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, 3. Ergänzungsband, S. 399. 15 Ebd., S. 400. " Sdielling, Von der Weltseele, Bd. 1, S. 428. 17 Daß alle physischen Gesetze Gleichnisse geistiger Wahrheiten seien und daß eine allgemeine Analogie zwischen Endlichem und Unendlichem walte, war bekanntlich eine Uberzeugung der Alchimisten. „Was oben ist, ist unten. Was im Kleinen ist, ist auch im Großen", heißt es bei Einartshausen. Es steht nidits einzeln da, alles ist Glied und mit allem verbunden (vgl. Kleeberg, a.a.O.). 18 Schelling, Die Weltalter, Bd. IV, S. 583. w Sdielling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, Bd. I, S. 697.

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in keinerlei Beziehung stehendes Ganzes ansehen, bleibt der Weg zu ihrem Wesen versperrt. Die wahre Erkenntnis der Natur ist unmittelbar, ein inniges Eindringen in ihr Wesen mit Hilfe der Einbildungskraft, die sich so als die Enthüllerin der symbolischen Bedeutung herausstellt. Die Vorstellung der Natur als eines Gedichts in verschlüsselter Schrift, das entziffert werden muß, war nicht nur Schelling, sondern auch Friedrich Schlegel geläufig. Es gehört zum wahren Verständnis der Natur eine „höhere idealische Ansicht"20, die sie als eine Reihe von „Bruchstükken eines großen untergegangenen Dichters", nämlich Gottes, erscheinen läßt21. Abgesehen von Schlegels religiösem Sprachgebrauch entspricht ein solcher Satz genau der Schellingschen Meinung. Auch für Schlegel ist Gott bzw. das Unendliche der Sinn der Natur, den es zu entdecken gilt. Alles Sichtbare hat für den „Geistlichen" nur die Wahrheit einer Allegorie22. „Alle Materie ist Peripherie, das Zentrum hegt in der Geisterwelt" 23 ; „die Materie ist ein Niederschlag des Geistes"24. Es herrscht im Universum eine Grundeinheit, und daher entspricht sich alles: „Der wahre Mensch sieht in jedem Gegenstand ein Analogon der Welt" 25 . Der Mensch selbst hat an beiden Bereichen, dem Endlichen und dem Unendlichen, teil. „Denke dir ein Endliches ins Unendliche gebildet, so denkst du einen Menschen"26. Daher taucht auch bei Schlegel die Idee des Mikrokosmos auf: „Der Mensch ist ein Mikrokosmos; zur Charakteristik des Individuums gehört Charakteristik des Universums"27. Weitere Fragmente wären zu erwähnen, wie etwa: „Wir werden den Menschen kennen, wenn wir das Zentrum der Erde kennen" 28 , oder: „Luft, Wasser, Erde und Feuer müssen ihre Analoga im Menschen haben" 29 . Die Idee von der Analogie zwischen Mensch und Natur wird auch von Schleiermacher vertreten. In den Monologen heißt es allgemein und programmatisch: „Die äußere W e l t . . . strahlt in tausend zarten und erhabenen Allegorien... das Höchste und Innerste unsers Wesens auf uns zurück"30. Ein solcher Satz könnte von jedem Jenaer stammen, ebenso wie die Vorstellung vom Ich als Schlüssel zum Ganzen und von der „großen 20

Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 323. Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 156, Nr. 402. 22 Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 256, Nr. 2. 23 Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 155, Nr. 382. 24 Fr. Schlegel, ebd., S. 155, Nr. 383. 25 Fr. Schlegel, ebd., S. 233, Nr. 485. 2 « Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 266, Nr. 98. 27 Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 229, Nr. 418. 28 Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 266, Nr. 100. 28 Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 156, Nr. 397. 30 Schleiermacher, 1. Monolog. 21

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Analogie"31. Der Begriff, den Schleiermacher in die Mitte seiner einschlägigen Anschauungen stellt, ist der der Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt. Erst das Bewußtsein der Wechselwirkung befreit den Menschen vom unfruchtbaren In-sich-gekehrt-sein, d. h. wohl von der trockenen philosophischen Spekulation und den „Spitzbergen der reinen Vernunft". Diese Wechselwirkung wird dadurch ermöglicht, daß der Mensch zugleich Schöpfer und Geschöpf ist: er kann auf die Welt wirken, wie die Welt auf ihn wirkt, weil „alles der Widerschein seines Geistes, so wie sein Geist der Abdruck von allem ist"32. Indem er die Welt betrachtet, betrachtet der Mensch also nur seinen Widerschein: „alles liegt in ihm"33. Auch dem Weltbild des Novalis liegt die universelle Entsprechung von äußerer und innerer Welt, Nicht-Ich und Ich, Makro- und Mikrokosmos zugrunde. Die Kontinuität der Welt gehört zu seinen Grundüberzeugungen. Universum und menschliches Wesen sind ihm Emanationen derselben Substanz: jenes ist ihre Elongatur, dieses ihre Abbreviatur. In jeder Hinsicht sind beide einander analog. Der menschliche Körper ist ein Glied der Welt und als solches selbständig, aber „diesem Glied muß das Ganze entsprechen"34. Verständnis und Erkenntnis der Welt geschehen ebenso wenig wie bei Schelling auf Grund einer Reflexion über die Welt als Objekt, sie beruhen nicht auf äußeren Gegebenheiten, sondern ergeben sich allein aus „Inzitamenten des Organismus", aus einer organischen Entwicklung der Keime der Weltelemente, die wir in uns haben und die von der Außenwelt lediglich erregt werden 35 . Der menschliche Geist hat „Analogie mit den Bestandteilen und Naturkräften" 36 . Er ist ein „Kosmometer" 37 . Die Idee vom Mikrokosmos ist übrigens „die höchste für den Menschen"38. Das Äußere ist „ein in Geheimniszustand erhobenes Innere (vielleicht auch umgekehrt)" 39 und „gleichsam nur ein verteiltes, übersetztes Innre ein höheres Innre" 40 . Die Untersuchung des einen befähigt zu Schlüssen über das andere: „Die Physik ist nichts als die Lehre von der Phantasie" 41 . Novalis bedauert es, daß man bisher die Physik zur Erkenntnis des Gemüts und das Gemüt zum Verständnis der Außenwelt so wenig 31 32 33 34 35 38 37 38 39 40 41

Schleiermacher, Über die Religion, 3. Rede. Ebd., 3. Rede. Ebd., 3. Rede. Fragment 1256. Fragment 18. Fragment 1972. Fragment 1091. Ebd. Fragment 1727. Fragment 1879. Fragment 2635.

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benützt hat. Er verspricht sich von solchen Vergleichen wichtige Aufschlüsse, namentlich in bezug auf die Selbsterkenntnis, die ihm bislang dürftig und unzureichend erscheint. Nur die groben „Fachwerke" wurden notdürftig erforscht und benannt; von ihren „wunderbaren Vermischungen, Gestaltungen, Ubergängen" hat man noch keine Ahnung"; in dieser Hinsicht könnte die symbolisch orientierte Erforschung der Außenwelt wichtige Geheimnisse erschließen. Mit der Anschauung von der Substanzeinheit von Welt und Mensch hängt auch die ganze Symbolik des Novalis zusammen. Alle Elemente der äußeren Welt haben eine symbolische Bedeutung in bezug auf die innere Welt. „Die Welt ist ein Universaltropus des Geistes, ein symbolisches Bild desselben"43. „Signaturen" nennt er manchmal die symbolischen Andeutungen der Natur44, durch die „das Universum spricht"45. Eine solche „Wechselrepräsentation des Universums" geht bei ihm jedoch weiter als bei Schelling und Schlegel; sie ist ihm das Fundament der Magie 4 ', die er auch als „Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten" und als eine „mystische Sprachlehre" definiert47. „So versteht man das Ich nur, insofern es vom Nicht-Ich repräsentiert wird. Das Nicht-Ich ist das Symbol des Idi und dient nur zum Selbstverständnis des Ich. So versteht man das NichtIch umgekehrt nur, insofern es vom Ich repräsentiert wird und dieses sein Symbol wird" 48 . Auf Grund dieses lebhaft empfundenen Prinzips geht Novalis von allen Romantikern am weitesten in der Auswertung der Symbolik. Alles wird ihm zum Symbol: Kleidung49, Staat50, Essen und Blut51, Gestirne", Licht5®, Gesichtszüge54, Körper55. Schönheit und Güte, Leben und Geist, Organismus und Philosophismus „symbolisieren sich einander" 56 . Er verlangt eine „symbolische Behandlung der Naturwissenschaften"57: „das System der Wissenschaften soll symbolischer Körper 42

Fragment 2924. Fragment 1126. 44 Fragment 1606,1645. 45 Fragment 1606. 49 Fragment 1600. " Ebd. 48 Fragment 1507. 4 » Fragment 2349. 50 Fragment 2370. 51 Fragment 1217. 52 Fragment 1396. 5S Fragment 1210. 54 Fragment 2699. 55 Fragment 2694. M Fragment 2354,1878. 57 Fragment 1131. 43

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(Organsystem) unseres Innern werden" 58 . Alles, was der Mensch tut und läßt, ist „symbolische Philosophie seines Wesens"5". Und Novalis pflichtet Ritter bei, dessen Grundansicht er u. a. folgendermaßen umschreibt: „Alle äußeren Prozesse sollen als Symbole und letzte Wirkungen innerer Prozesse begreiflich werden" 60 . Extrem zusammengefaßt, lautet seine Anschauung: „Ich — Nicht-Ich — höchster Satz aller Wissenschaft und Kunst""1. Im Symbolbegriff gründet die romantische Naturauffassimg und zugleich die romantische Dichtungstheorie. Es zeigt sich aber im Gebrauch des Wortes Symbol bzw. Sinnbild ein Sachverhalt, dem man in allen ähnlichen Fällen der Geistesgeschichte begegnet. Gerade da, wo das Neue sich herauszubilden und zu kristallisieren sucht, herrscht fast durchweg eine große Unklarheit im Wortgebrauch, wobei Widersprüche und Verwechslungen nicht selten sind. Ähnlich wie Lessing um einen passenden Ausdruck für seine Dichtungstheorie gerungen hat und den Kern seiner Anschauungen nicht mit der gewünschten Genauigkeit und Folgerichtigkeit hat formulieren können, versuchen die Frühromantiker oft vergeblich, das erahnte und erfühlte Prinzip ihrer Poetik mit Worten zu umreißen. Wie alles bei Lessing sich um den Begriff des Mitleids dreht, auch dort, wo er das Wort nicht gebraucht oder es zu gebrauchen zögert, so kreisen bei den Romantikern die meisten Bemühungen um den Begriff des Sinnbilds. Wenn auch die größte Unordnung und Inkonsequenz im Terminologischen herrscht, so ist doch die Richtung der Gedanken deutlich. Im Hinblick auf diese Inkonsequenz stört uns heute besonders die häufige Verwendung des Wortes Allegorie für den Begriff Symbol, besonders bei Friedrich Schlegel. Auch hier hat erst Schelling Klarheit geschaffen, diesmal allerdings mit einer so extremen Konsequenz, daß sie zunächst fragwürdig anmutet, bei genauerem Zusehen aber sich als typisch für die ganze romantische Geisteshaltung erweist. Symbol ist für Schelling ein Grenzbegriff, eine Grenzsituation des Geistes und des Fassungsvermögens. Die Definition, die er von diesem Begriff gibt, läßt sich auf die Wirklichkeit der Natur und der Kunst nur äußerst selten anwenden, stellt aber ein Ideal dar, dem nachzustreben man sich als Romantiker so gut wie gezwungen fühlen mußte, auch wenn die Aussicht auf Erfüllung nur gering war. Das Absolute läßt sich im Besonderen nur symbolisch erkennen. In Friedrich Schlegels Sprache: „man kann von Gott nicht anders als allego58 Fragment 1527. " Fragment 1512. 60 Fragment 3035. 41 Fragment 858.

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lisch reden" 62 . Was ist aber ein Symbol? Schelling unterscheidet drei Erscheinungen, die auf den ersten Blick miteinander verwandt scheinen, sich in Wirklichkeit jedoch als sehr verschieden erweisen. Er nennt sie: Schematismus, Allegorie, Symbol. Unter Schematismus versteht er eine Darstellung, in der das Allgemeine das Besondere bedeutet oder in der das Besondere durch das Allgemeine 'angeschaut' wird. Als Beispiele führt er an: die Begriffe des Denkens und die Geometrie. Allegorie ist ihm eine Darstellung, in der das Besondere das Allgemeine bedeutet oder in der das Allgemeine durch das Besondere 'angeschaut1 wird. Die Beispiele, die er angibt, sind das Handeln und die Arithmetik. Ausschlaggebend bei der Definition des Schematismus und der Allegorie ist, daß die Darstellung eben nur ein Zeichen ist, daß sie also etwas anderes als sich selbst bedeutet. Das Symbol unterscheidet sich nun dadurch von Schematismus und Allegorie, daß es nichts außer sich Bestehendes veranschaulichen will, sondern daß es zugleich ein Allgemeines und ein Besonderes ist. Sein und Bedeutung fallen in ihm zusammen: „Die Bedeutung ist hier zugleich das Sein selbst, übergegangen in den Gegenstand, mit ihm eins"63. Das konkrete Bild, das dem Symbol zugrunde liegt, ist „in sich absolut", unabsichtlich, unbefangen, nach außen unzweckmäßig, läßt aber die Bedeutung durchschimmern, ja ist diese Bedeutung selbst. Das Bild ist ein Sinn-Bild, in dem Sinn und Bild zur Einheit verschmelzen, in dem das Besondere zugleich das Allgemeine ist. So aufgefaßt, erscheint in Schellings Augen das Symbol folgerichtig als die Synthesis von Schematismus und Allegorie. Wenn nun der Schematismus die Tätigkeit des Denkens und die Allegorie das Gebiet des Handelns charakterisiert und wenn andererseits das Symbol die Synthesis von Schematismus und Allegorie darstellt, so muß es eine Kraft des Geistes geben, die geeignet ist, das Symbol zu fassen, und die daher Denken und Handeln in sich vereinigt. Dieses geistige Organ des Menschen ist die E i n b i l d u n g s k r a f t . Sie ist demnach der Schlüssel zu einer richtigen Auffassung der Natur im romantischen Sinn, weil erst sie die Natur als das, was sie ist, d. h. als ein allgemeines Symbol, begreifen kann. Was ist nun für Schelling die Einbildungskraft? Die Kraft der „Ineinsbildung" der unendlichen Idealität und der endlichen Realität. „Sie ist die Kraft, wodurch ein Ideales zugleich auch ein Reales, die Seele Leib ist, die Kraft der Individuation, welche die eigentlich schöpferische ist"64. 62 63 64

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Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 347, Nr. 315. Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 431. Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 406.

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Der schöpferische Aspekt der Einbildungskraft ist schon im vorigen Kapitel erwähnt worden, und er kommt bei der Behandlung des Kunstbegriffs wieder zur Sprache. Hier soll nur der Wert der Phantasie als Vermögen des Naturverständnisses betont werden. Erst durch die Einbildungskraft kann ein Bild zum Symbol werden, weil sie allein dazu fähig ist, das Widersprechende zu denken und „einen unendlichen Gegensatz in einem endlichen Produkt aufzuheben" 65 . Nur der Einbildungskraft erschließt sich der unendliche Sinn eines besonderen Gegenstandes, so wie es nur ihr gelingt, Unendliches in Endliches zu bannen, vorzüglich in der Kunst. Der Verstand muß dabei versagen, weil er „an der Begrenzung haftet"; die Vernunft ebenfalls, denn sie kann keine Synthese zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen in einem besonderen Objekt herstellen; ihr gelingt das nur „ideell, urbildlich", nicht zugleich real, im Nachbild68. Die Einbildungskraft erscheint demnach wieder einmal als eine Synthese des Verstands und der Vernunft, des Denkens und des Wollens: sie hat die Spontaneität der Vernunft und die Fähigkeit, sich auf konkrete Dinge anwenden zu lassen, wie der Verstand; sie verbindet das Ding und den Sinn in einem Akt des Geistes. Sie ist für den Romantiker das höchste Vermögen des menschlichen Gemüts. Nicht die Vernunft, sondern die 'Fantasie' ist das Göttliche im Geist, meint Fr. Schlegel67, und er erblickt in ihr das Organ für die Religion' 8 und die Grundlage der Genialität 69 . Die Unzulänglichkeit des bloßen Verstehens der Natur mit Hilfe des wissenschaftlichen Denkvermögens wird auch von Schleiermacher proklamiert. E r möchte den Verstand durch den „Sinn" ersetzt wissen, wenn es auf die Erkenntnis eines Ganzen, wie z. B. das der Natur, ankommt. Dieser „Sinn" ist eben nichts anderes als „die anschauende Kraft", die „von ihrem ganzen Reich Besitz nehmen soll", damit jedes Organ „sich auftut" 70 . Eine solche Zurückweisung des Verstandes auf seine bloß mechanisch-wissenschaftliche Funktion, die Ablehnung seiner Zuständigkeit auf dem Gebiet der tieferen Naturbetrachtung und die Hervorhebung des anschauenden Denkens als eines überlegenen und ursprünglicheren Erkenntnisvermögens sind gemeinsame romantische Positionen. In ihrem Wesen läßt sich vielleicht die Romantik als die Aufwertung der Anschauung in jedem Sinne definieren. Eben als Faktor des Anschauungsvermögens im weiten Sinn erfüllt die Einbildungskraft eine so bedeu65

67 88 69 70

Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 626. Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 415. Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 313, Nr. 1447. Fr. Schlegel, ebd., S. 329, Nr. 57. Vgl. Fr. Schlegel, ebd., S. 475, Nr. 40. Schleiermacher, Über die Religion, 3. Rede.

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tende Funktion im romantischen Weltbild. Wer geneigt wäre, die wesentlichen Positionen der Frühromantik allgemein auf Schillersche Gedankengänge zurückzuführen, nämlich auf die Kernsätze des Aufsatzes über naive und sentimentalische Dichtung, müßte haltmachen vor der Diskrepanz, die sich gerade in diesem Punkt kundtut. Muß bei Schiller der Dichter unumgänglich zwischen Individualität und Idealität wählen, so kennzeichnet sich der romantische Dichter ausgerechnet dadurch, daß er die Idealität nur in der Individualität entdecken und aufzeigen kann. Das vermag er nur durch die Betätigung des anschauenden Denkens, namentlich der Einbildungskraft, weil nur dieses Denken fähig ist, den Symbolwert einer Erscheinung und nicht bloß ihre allegorische Bedeutung zu fassen. Die anschauende Erkenntnis wird die Einheit von Sinn und Bild gewahr, während sich sonst der Sinn einer Erscheinung erst aus der diskursiven Reflexion über sie ergibt, was ein wissenschaftlich-philosophisches, aber kein poetisches Denkverfahren darstellt. Schleiermacher geht so weit, den Begriff W u n d e r zu definieren als eine Begebenheit, die eine „Andeutung des Universums" in sich birgt. Eine solche Andeutung kann nur das intuitive Denken wahrnehmen. Eben als eine Funktion des intuitiven Menschen ist ihm die Phantasie „das Höchste und Ursprünglichste im Menschen, und außer ihr ist alles nur Reflexion über sie"71. Die Intuition ist primär und liefert die wesentlichen Elemente der Erkenntnis; die Reflexion kann nur mit den von der Intuition beigesteuerten Erkenntniselementen arbeiten.

71

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Schleiermacfcer, ebd., 2. Rede.

IV. KUNST Ein Kapitel in Wackenroders Herzensergießungen fängt mit einer Lobrede auf die menschliche Sprache an, die eine himmlische Gabe, eine ewige Wohltat des Schöpfers sei und den Menschen befähige, über den ganzen Erdkreis zu herrschen. Wenn es jedoch auf die Erfassung des „Unsichtbaren" ankomme, sei die Sprache der Worte ohnmächtig: „Das Unsichtbare, das über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüt herab" 1 . Gemäß dieser radikalen Mißtrauenserklärung soll die menschliche Sprache zwar dazu dienen, die „Dinge" und die „geistigen Bilder" der Seele zu benennen; zur Ergründung und Mitteilung des Höchsten wäre sie dagegen unfähig. Es fragt sich, was dieses Höchste sei. Begriffe sind es nicht, denn diese werden als „geistige Bilder" bezeichnet und dem Bereich der Sprache zugeordnet. Als Beispiele für das jeder Sprache spottende Unsichtbare führt Wackenroder die Allmacht und Allgüte Gottes und die Tugend der Heiligen an, d. h. Vorstellungen, die sich auf das Gebiet der praktischen Vernunft erstrecken und den Kantschen Ideen verwandt sind2. Nicht so sehr die genaue Definition solcher überbegrifflichen Vorstellungen ist jedoch für ihn wichtig, sondern eher die Art und Weise, wie sie in uns entstehen. Sie dringen nämlich nicht in das Gehirn, sondern in das Herz, das sie „bewegen und erschüttern". Darüber hinaus scheinen sie, so heißt es, „alle Teile unseres (uns unbegreiflichen) Wesens zu einem einzigen, neuen Organ zusammenzuschmelzen, welches die himmlischen Wunder . . . faßt und begreift" 3 . Mit solchem Fassen und Begreifen hat es eine ziemlich unerwartete Bewandtnis, denn diese undifferenzierten Wahrnehmungen werden dunkle Gefühle der Geheimnisse des Himmels genannt4, mit „verhüllten Engeln", die zu uns heruntersteigen, verglichen 1 2

s 4

6

Wackenroder, Herzensergießungen, S. 67. Mit Recht bemerkt Walzel (Die Sprache der Kunst, S. 5 f.), daß Wackenroder vom Kunstgefühl richtig — in diesem Falle romantisch — spreche, obschon er den Zweck der Kunst immer noch für sittlich zu halten scheine. Walzel warnt davor, Worte des Klosterbruders jeweils als Überzeugungen Wackenroders anzusehen. Dieser lege den göttlichen Eigenschaften und religiösen Tugenden, die er mehrmals erwähnt, den Wert von „Beispielen" für das Göttliche überhaupt bei. Das Göttliche — nicht die Moral — sei für ihn Zweck und Inhalt der Kunst. Wackenroder, Herzensergießungen, S. 70. Ebd., S. 69.

Nivelle

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und als „echte Zeugen der Wahrheit" angesehen 5 . Diese Gefühle und Gesinnungen, „oder wie man es nennen mag", offenbaren das Unsichtbare, läutern das Gemüt und stimmen den inneren Sinn „tugendselig". Die höchste Erkenntnis — und darunter versteht Wackenroder die Erkenntnis Gottes und der „religiösen Tugend" — erfolgt also nicht etwa auf dem Wege der „irdischen Beleuchtung", d. h. der wissenschaftlichen Forschung und der philosophischen Reflexion, sondern mit Hilfe der „dunklen Gefühle", an denen unser ganzes Wesen teilnimmt. In der Sprache Schleiermachers ist die Tätigkeit des ungeteilten Gemüts eine Funktion des „Sinnes". Das Wackenrodersche Gefühl für das Unsichtbare scheint also mit Schleiermachers Sinn für das Unendliche eng verwandt. Daneben erinnert es eindeutig an Wilhelm Schlegels Auffassung des Gefühls, „insofern es nicht bloß sinnlich und leidend ist", d. h. an „unsern Sinn, unser Organ für das Unendliche, das sich uns zu Ideen gestaltet" 6 . Das Wort Ideen gebraucht Schlegel im Kantschen Sinn für das verstandesmäßig Unfaßbare, zu dem uns Gefühle und Ahnungen den Weg weisen; in diesen scheint sich nämlich „das dunkle Rätsel unseres Daseins" aufzulösen7. Gefühle, Gesinnungen, Ahnungen lassen sich nun in keine Verstandesbegriffe hineinzwängen und in keiner menschlichen Wortsprache voll und angemessen ausdrücken. Sie müßten ewig im Labyrinth der Brust befangen bleiben, wenn der Mensch nach Wackenroders Meinung nicht über zwei Möglichkeiten verfügte, sie unter gewissen Umständen stärker zu empfinden und indirekt auch auszudrücken. Diese beiden Möglichkeiten sind die „zwei wunderbaren Sprachen" der Natur und der Kunst. Die Natur ist für Wackenroder „das gründlichste und deutlichste Erklärungsbuch über [Gottes] Wesen und Eigenschaften" 8 , sie spricht zu uns wie „abgebrochene Orakelsprüche aus dem Munde der Gottheit"'. Die Kunst ihrerseits ist eine Hieroglyphenschrift, die das Übersinnliche in sichtbare Gestalten hineinschmilzt10. Kunst und Natur erfüllen demnach eine ähnliche Funktion in bezug auf die Erkenntnis des Höchsten. Die Bedeutung der Natur für den Menschen liegt nach Wackenroder darin, daß sie Gefühle für die Gottheit erweckt, die nun einmal bessere Zeugen der Wahrheit sind als irgendwelche Vernunftschlüsse. Das Wie solcher Erweckung bleibt notwendigerweise geheimnisvoll, da sie in 5

Ebd., S. 69. A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. VI, S. 20 f. 7 A. W. Schlegel, An Fouque, Bd. VIII, S. 145. 8 Wackenroder, Herzensergießungen, S. 68. » Ebd., S. 71. 10 Ebd., S. 69. 6

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menschlicher Sprache nicht voll sagbar ist. Wie das Säuseln in den Wipfeln des Waldes und das Rollen des Donners „Dinge von Gott" erzählen, wie „ein schönes Tal, von abenteuerlichen Felsgestalten umschlossen, oder ein glatter Fluß, worin gebeugte Bäume sich spiegeln, oder eine heitere grüne Wiese von dem blauen Himmel beschienen" den Geist mit der Allmacht und Allgüte Gottes innig erfüllen und die Seele erheben, ist ein individuelles Erlebnis Wackenroders, das für ein verwandtes Gemüt vielleicht nachvollziehbar ist, sich jedoch nicht im ursächlichen Zusammenhang darlegen läßt11. Dabei handelt es sich nicht so sehr um wirkliche Bilder, sondern eher, mit Friedrich Schlegels Worten, um Andeutungen des Göttlichen. Ob nun die Bedeutung der Natur als das Göttliche oder das Unsichtbare, das Unendliche, das Übersinnliche, das Himmlische, das Absolute, das Unbedingte bezeichnet wird, ist im Grunde einerlei und spielt jedenfalls für die Richtung des romantischen Geistes überhaupt keine Rolle. August Wilhelm Schlegel hat alle diese Begriffe für gleichbedeutend erklärt, und in der Hinsicht kann man ihm vertrauen12. Nicht das Objekt ist interessant, sondern die Richtung des Geistes auf das Ubernatürliche und Uberbegriffliche hin. Wackenroder und den Jenaern kommt es auf die „wunderbaren Regungen" der Seele an, denen ein Objekt untergeschoben wird. Daß dieses Objekt bei Wackenroder Gott heißt, hat trotz der Worte von der Allmacht und der Allgüte mit einer streng religiösen Vorstellung nichts gemein. Es wird ganz einfach ein herkömmliches Gottesdenken auf eine Erregung individueller Nervenzustände angewendet. Der Wackenrodersche Gott ist nichts anderes als die romantische Poesie. Die zweite wunderbare Sprache, die Wackenroder für fähig hält, das Unsichtbare auszudrücken, ist die Kunst, eine Hieroglyphenschrift, die Geistiges und Ubersinnliches in endliche Zeichen, in „sichtbare Gestalten" bannt 13 . Mit dieser Definition ist die romantische Grundanschauung der Kunst formuliert und die Funktionsverwandtschaft von Kunst und Natur klar herausgestellt. Die Kunst erzielt auf ihren Betrachter eine ähnliche Wirkung wie die Natur auf ihren Liebhaber. Sie stellt das Unendliche symbolisch dar; sie bewirkt nach Schellings Worten eine „Darstellung des Absoluten oder des Universums in einem Besonderen"14. Im Kunstwerk fällt das Besondere des Gegenstandes mit dem Allgemeinen der Idee zusammen, das Ding ist zugleich der Begriff, das Individuum die Gattimg. Es vollzieht sich eine „Einbildung des Unendlichen ins Endliche", und damit wird ein unendlicher Gegensatz in einem endlichen 11 12 13 14

6'

Ebd., S. 68. Vgl. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 77. Wackenroder, Herzensergießungen, S. 69. Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 285.

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Produkt aufgehoben. Das Kunstwerk ist so „real" wie ein Naturelement und so „ideal" wie die romantisch gedeutete Natur. In ihm herrscht eine vollkommene Einheit von Sinn und Bild, von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Idee und Gegenstand; es bringt eine „reale Darstellung der Identität des Subjektiven und des Objektiven" 15 und ist insofern das konkrete Ebenbild der intellektuellen Anschauung, ihr Ausdruck im Reiche des Sichtbaren. Die Kunst läßt sich demnach als eine Darstellung des Ich definieren: das Ich als Identität von Objekt und Subjekt im Akt der intellektuellen Anschauung findet im Kunstwerk seine sichtbare Entsprechung. Das Kunstwerk ist demnach die ins Konkret-Sinnliche übertragene intellektuelle Anschauung. Einer solchen Definition liegt die romantische Auffassung des Symbolbegriffs zugrunde. Um ihre Funktion zu erfüllen, muß die Kunst im strengen Sinn des Wortes symbolisch sein und darf es nicht etwa bei der Allegorie oder dem Schematismus bewenden lassen. Damit wird das Symbolische zum Wertmaßstab erhoben: ein Kunstwerk kann nur dann als solches betrachtet werden, wenn es zugleich einen konkreten, individuellen Gegenstand und die unendliche, geistige Bedeutimg dieses Gegenstandes darbietet, wenn der Sinn sich unmittelbar aus dem Bild ergibt, wenn die Idee durch die besondere Darstellung hindurchschimmert. Im Gegensatz zur Allegorie, die beim Begriff stehen bleibt, erhebt sich das Symbol auf die Ebene der Idee. Das Sinnbild hat jeweils eine „göttliche" Bedeutung, während Allegorie und Schematismus im Reiche des Begrifflichen bleiben. „Enthüllerin der Ideen", „Verkünderin göttlicher Geheimnisse" kann die Kunst nur dank dem Symbolwert ihrer Darstellungen genannt werden. Ihre konkrete Gestalt läßt sie andererseits als das „Organon" bzw. das „Dokument" der Philosophie erscheinen: sie zeigt im Bereich des Realen, was die Philosophie im rein Idealen vollzieht16. Indem sie in ihrem jeweiligen Gegenstand die Idee herausstellt, erhebt die Kunst ihre Produkte auf die Ebene der Ewigkeit. Jeder Augenblick des Daseins, der von ihr verklärt wird, erhält einen ewigen Bestand; er erscheint in „seinem reinen Sein"17. Die Kunst ermöglicht es, das Ewige „gleichsam in sichtbarer Gestalt" anzuschauen. Der Symbolwert, der jeder Kunstschöpfung innewohnen muß und der ihr über alle Zeitbestimmungen hinaus zur Ewigkeit verhilft, liefert, wie gesagt, den wichtigsten Maßstab der Kunst und schließt eine ganze Reihe menschlicher Leistungen aus ihrem Gebiet aus. Das Gefühl, vor Ewigem zu stehen, die Urbilder der Gegenstände anzuschauen, wird zum 15 16 17

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Ebd., S. 231. Sdielling, System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 627. Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 403.

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Kriterium des gültigen Kunstwerks. Diesem Kriterium werden zum Beispiel solche Werke nicht gerecht, in denen die Form das Hauptanliegen und der Ausgangspunkt gewesen ist und die deswegen „als Merkmal ihres Ursprungs eine unausfüllbare Leere [zeigen] an eben der Stelle, wo wir das Vollendete, Wesentliche, Letzte erwarten" 18 . An sich ist die Form kein schöpferisches Kunstprinzip; sie reicht nicht aus, das 'Wunder' der Kunst hervorzubringen, das eben darin besteht, daß das Zufällige zum Notwendigen, das Endliche zum Unendlichen verwandelt wird. Die Einschränkung der Form auf die untergeordnete Rolle eines Mittels im Dienste der unendlichen Bedeutung ist ein gemeinsamer Glaubensartikel der Frühromantik. Wenn die Form zur Hauptsorge oder zum Hauptzweck erhoben wird, führt sie zwangsläufig zur Bedeutungslosigkeit des Kunstwerks. Der Betrachter darf es der Schönheit der Ausführung nicht anmerken, daß sie um ihrer selbst willen angestrebt wurde und in der Konzeption und der Arbeit des Künstlers an erster Stelle gestanden hat; sonst verliert das Werk seine Zugehörigkeit zum Reich der Kunst19. Ebensowenig kann der Inhalt an sich das Wunder der Kunst bewirken. Eine Darstellung, die bis zur Täuschung „wahr" anmutet, eine getreue Nachahmung der Natur, die den Schein der Wirklichkeit hervorruft und eine noch so vollkommene Illusion zuwegebringt, ist in bezug auf die Funktion der Kunst nebensächlich und kann zu leblosen Bildern führen. Die Nachahmung hat keinen Anteil am eigentlichen Wesen der Kunst. Nicht einmal in den bildenden Künsten darf sie die Hauptrolle spielen. Das dargestellte Bild ist jeweils nur „Chiffre, Ausdruck, Werkzeug der Reproduktion". Die Kunst des Malers liegt nicht etwa in der treuen Wiedergabe des Gegebenen, sondern im „aktiven Sehen", wie die des Musikers im „aktiven Hören", im Heraus- und Hineinhören, im umgekehrten Gebrauch der Sinne besteht. Der Künstler darf kein bloßer Spiegel der Wirklichkeit, keine bloße camera obscura sein. Der Musiker hört seine Idee aus sich heraus und in die Noten hinein; der Maler sieht sie aus seiner Seele heraus und in sein Bild hinein. Jeder echte Künstler muß zuerst seine Organe aktivieren, den „Keim des selbstbildenden Lebens" in ihnen zur Entfaltung bringen, um sie zu Werkzeugen seiner selbstkonzipierten Idee und nicht nur der passiven Aufnahme der Welt zu machen20. „Tätiger Gebrauch der Organe" heißt dieses Phänomen in der Sprache des Novalis. Damit verliert die Mimesis-Theorie jede Gültigkeit für die romantische Kunstanschauung. Die Nachahmung der Wirklichkeit stellt bloß die eine konkrete Hälfte der Kunst dar, deren tieferes 18 19 20

Ebd., S. 396. Vgl. Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 134. Vgl. Novalis, Fragment 1000.

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Wesen nicht in irgendeiner Mimesis, sondern im Hervorbringen und im Ausdrücken von Ideen besteht. Die in der Kunst dargestellte Wirklichkeit gewinnt den Wert einer Hieroglyphe. Im Hieroglyphischen, nicht in der Mimesis, wurzelt der romantische Kunstbegriff21. Ebensowenig wie die bloße Wiedergabe der Wirklichkeit darf die Mitteilung von „einzelnen abstrakten, also bestimmten und beschränkten Begriffen" der Zweck der Kunst sein. Nicht die Begriffe als Inhaltselemente sind entscheidend, sondern das, was Friedrich Schlegel die „Bedeutung des Ganzen" nennt. Und diese Bedeutung darf ihrerseits keine bloß begriffliche sein, sonst ist das Werk ein „Gebild der Absicht", der „Leiter eines Zwecks". Eine Dichtung, deren Bedeutung sich in einen Begriff zusammenfassen ließe, wäre „künstliche Poesie, zur Poesie gewordene Philosophie", und schon deshalb ginge ihr die Eigenschaft als Kunstwerk ab. Sie wäre das, was Novalis mit dem Worte 'technisch' charakterisiert: mittels einer eigens zu diesem Zweck erdichteten Gegebenheit wolle sie einen „beabsichtigten Gedanken" im Leser erwecken und habe eine „verständliche Mitteilung" zum Ziel22. Wenn ein sogenanntes Kunstwerk sich auf Begriffe zurückführen läßt, fällt es aus dem Bereich der schönen Kunst heraus. Es entspricht dann nicht der Forderung nach einer 'unendlichen1 Bedeutung, die jeden Begriff transzendieren und ins Reich der Ideen hinauftragen soll. Poesie und Philosophie sind zwar miteinander verwandt, aber in einem anderen Sinn und auf einer anderen Ebene. Der unendlichen, symbolischen Bedeutung haben alle einzelnen formalen und inhaltlichen Elemente zu dienen. Weder die Form noch der Inhalt können den Zweck der Kunst erfüllen; sie müssen von einem dritten Moment, das über beiden steht, bestimmt werden. Dieses dritte Moment — bei Friedrich Schlegel Bedeutung des Ganzen genannt — trägt verschiedene Namen: Idee, schaffende Idea, lebendiger Begriff. So heißt es bei Schelling: „Wir verlangen . . . nicht das Individuum, wir verlangen mehr zu sehen, den lebendigen Begriff desselben"; alles übrige sei nämlich „wesenlos und eitler Schatten"23. Erst durch die Herausstellung dieses lebendigen Begriffs wird das Individuum zu „einer Welt für sich, einer Gattung, einem ewigen Urbild". Der Künstler hat dieses Urbild symbolisch darzustellen; er läßt es den Stoff des Werkes von innen heraus bilden und beleben. Das theion der Kunst liegt gerade darin, daß die „schaffende Kraft" oder die „tätige Wissenschaft" durch die besondere Darstellung hindurchschimmert. 21

22 23

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Vgl. Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 150 f. Novalis, Fragment 989. Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 402 und 404.

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Die gefährlichste Klippe, die in der Kunstschöpfung unbedingt gemieden werden soll, ist die Allegorisierung des Inhalts, d. h. die Trennung von Bild und Sinn. Daher ist die Einheit des Kunstwerks die erste, unumgängliche Voraussetzung seiner Vollkommenheit. Dabei ist Einheit zunächst gemeint als Einheit von Idee und 'Leben, von Idee und konkreter Darstellung. Diese Einheit soll schon die 'innere Form' des Werkes prägen, und sie bedingt seine 'Bedeutung'. Friedrich Schlegel ist davon überzeugt, daß die Vollkommenheit der Kunst sich nur da findet, „wo die Idee und das Leben völlig eins sind in einem Werke . . . Die Idee, wenn sie allein vorherrschend ist, gebiert Werke, die kalt und tot sind oder in geringerem Maße wenigstens den Vorwurf der Kälte auf sich laden. Wer auf der anderen Seite nur nach dem Leben hascht in der Kunst, der kann wohl Effekt machen.. ., aber mit der Idee fehlt dem Werke auch die tiefere Bedeutung, ja alle innere Form, welches doch die erste und wesentlichste Bedingung der Kunst ist"24. Schon die innere Form eines Werkes besteht demnach in der Durchleuchtung des Inhalts durch die Idee, in der Vermählung, ja in der Identität des Realen und des Idealen, in „jener mysteriösen Vereinigung entgegengesetzter Elemente". In der echten Kunst „durchdringen sich widersprechende Kräfte bis zur Sättigung, und da wird immer auch ein neues Lebendiges hervorgehen" 25 . Dieses neue Lebendige ist nichts anderes als das Symbol, „das höhere Symbolische, die Andeutung des Göttlichen in einem Ganzen" 26 . Eben in einer solchen Andeutung liegt die sogenannte Bedeutung des Ganzen, in der die „Würde" der Kunst erblickt wird27. Das eigentliche Wesen der Kunst liegt mithin in der sinnvollen Verklärung der dargestellten Gegenstände, einem Vorgang, den Novalis mit dem Worte Romantisierung bezeichnet28. Friedrich Schlegel stellt das Prinzip u. a. am Beispiel der Malerei auf: auch sie bezweckt eine „höhere Bedeutung", ohne die „Landschaft und Stilleben in bloße Künstlichkeit und Uberwindung des Schwierigen... oder aber vollends in täuschende Nachahmung des bloß Gefälligen und gänzliche Plattheit sich verirren"2®. Die Bedeutung des Gemäldes ergibt sich wie die des Dichtwerks aus dem Ganzen. Das setzt die Einheit dieses Ganzen voraus; es muß „ursprünglich und ewig eins sein". Schon in der Konzeption müssen alle materiellen und geistigen Komponenten zusammenhängen und sich gegenseitig bestimmen, und die Einheit der inneren Form muß sich der endgültigen 24 25 28 27 28 29

Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 248 f. Ebd., S. 134 f. Ebd., S. 135. Ebd., S. 25. Vgl. Fr. Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, KA, Bd. VI, S. 276. Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 72.

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Gestalt des Werkes aufprägen. Alle Elemente, wie Zeichnung, Ausdrude, Komposition, Kolorit usw., sollen den Eindruck erwecken, als könnten sie nicht in einer anderen Zusammenstellung bestehen und als wären sie nicht voneinander zu trennen. Sonst entflieht der „höhere Geist"30, dessen Verkündung die eigentliche Aufgabe des Künstlers darstellt. Der Maler muß seinen Gegenstand „eigentümlich sich denken und ordnen, seine eigene Bedeutung ihm leihen, sonst trag' er nicht diesen Namen und sei bloßer Kopist"31. Diese Forderung führt zum Gesetz der Individualität, von dem unten die Rede ist. Die Bedeutung des Gemäldes ergibt sich aus der Grundeinheit von Darstellung und Idee, und diese Bedeutung ist das Göttliche. Auf die Frage, was denn das Göttliche in der Natur sei, das es im Kunstwerk auszudrücken gelte, antwortet Friedrich Schlegel: „Nicht das Leben und die Kraft allein, sondern das Eine und Unbegreifliche, der Geist, das Bedeutende, die Eigentümlichkeit. Und dieses, so glauben wir, ist die eigentliche Sphäre der Malerei"32. Ohne göttliche Bedeutung gibt es kein Kunstwerk im eigentlichen Sinn des Wortes: „es gilt nur dieses: wessen Bedeutung nicht göttlich ist, das ist nichtig oder unbedeutend" 33 . Allein die göttliche Bedeutung ist es, die „die Schönheit zur Schönheit und das Ideal zum Ideal macht". Das Wesen der Kunst liegt gerade in der Vermählung von Schönheit und Ideal durch das Medium der Bedeutung 34 . Nur die Bedeutung hat „Dasein und Realität" 35 ; nur sie zeigt „die Natur der Natur, das Leben des Lebens, den Menschen im Menschen"36. Alles andere ist nur „Mittel, dienendes Glied und Buchstabe"37. Den „Buchstaben", die materiellen Bilder des Inhalts, kann die Kunst selbstverständlich nicht entbehren. Ihre Eigentümlichkeit besteht gerade darin, daß sie sich des Konkreten bedient, um eine unendliche Bedeutung zu verkünden. Es kann nicht ihre Aufgabe sein, das Göttliche anzudeuten, wie ©s sich „rein von allen Verhältnissen und in heiterm Frieden" denken und ahnen läßt. Im Gegenteil, sie offenbart es „in seinem beschränkten Verhältnis, wie das Göttliche selbst im irdischen Dasein noch durchbricht und auch da erscheint"38. Romantische Kunst besteht also im Herausfühlen einer göttlichen Bedeutung aus der Welt bzw. im 30 31 32 33 34 35 38 37 38

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Ebd., S. 74 f. Ebd., S. 75. Ebd., S. 77. Fr. Schlegel, Philosophische Vorlesungen (Windischmann), II, S. 439 f. Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 203. Fr. Schlegel, Über Lessing, KA, Bd. II, S. 414. Ebd. Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 150 f. Ebd., S. 92.

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Hineinlegen einer solchen Bedeutung in die Welt. Jede gelungene 'Nachbildung' der Natur enthält eine Andeutung des Göttlichen. Als Beispiel wird von Friedrich Schlegel die gotische Baukunst herangezogen, die „das Unendliche gleichsam unmittelbar darstellt und vergegenwärtigt durch die bloße Nachbildung der Naturfülle" 39 , wobei das Wort 'unmittelbar' im strengen Sinn zu verstehen ist. Die Kunst verwirklicht die Identität des Inhalts (der Nachbildung) und der Idee (des Unendlichen) ohne jeden Umweg über bestimmte Begriffe oder abstrakte Vorstellungen. Ein solches Überspringen der verstandesmäßigen Bedeutung kennzeichnet das künstlerische Symbol in romantischer Sicht. Genau wie für Schiller in seinem Aufsatz über naive und sentimentalische Dichtung fällt für die Romantiker das Gebiet des Verstandes aus dem Hoheitsbereich der Kunst heraus, in dem der Begriff als solcher nichts zu suchen hat. Die Bedeutung eines Kunstwerks geht über alle möglichen Begriffe hinaus und kann nur im Bereich der Idee, des Göttlichen liegen. Die Kunst erstreckt sich auf das Gebiet des Sinnlichen und des Übersinnlichen; sie versöhnt diese beiden Extreme miteinander im Werk. Ihr eigentlicher Mittelpunkt liegt freilich im Übersinnlichen, aber sie unterscheidet sich von dem reinen Denken dadurch, daß sie das Übersinnliche im Sinnlichen ausdrückt und durch ihr symbolisches Verfahren Ideen veranschaulicht, die das reine Denken nicht zu fassen vermag. Alles Endliche ist für den Künstler ein Gleichnis des Unendlichen; der Wert des Endlichen liegt überhaupt in diesem seinem Gleichnischarakter. „Das Zentrum der Poesie liegt im Supernatürlichen", meint Friedrich Schlegel, „aber sie beschreibt den ganzen Umkreis"40. Den ganzen Umkreis der sichtbaren Welt zu umfassen und darzustellen, ist die materielle Aufgabe der Kunst; die „Nachahmung des Einzelnen" gehört mit in ihre Definition41. Das Einzelne ist aber jeweils nur Mittel zum Zweck, und eine Verwechslung von Mittel und Zweck ist verhängnisvoll. Im Kunstwerk steht alles im Dienste der unendlichen Bedeutung des Ganzen. Durch das Gewicht, das auf die Bedeutung gelegt wird, gewinnt die frühromantische Kunsttheorie ab und zu den Anschein, als wäre die unumgängliche konkrete Darstellung ein kleineres Übel und als bedauere es der romantische Künstler, den Umweg über konkrete Anschauungen machen zu müssen. Auch wenn dieser Anschein von manchen frühromantischen Schöpfungen bisweilen bestätigt wird, wäre es ein grundsätzlicher Irrtum, ihn für die tiefere romantische Ansicht zu halten. Diese vernachlässigt den sichtbaren Inhalt nicht, auch wenn er den Zweck der Kunst 39 40 41

Ebd., S. 180. Fr. Schlegel, in Schriften und Fragmente (Kröners Taschenausgabe), S. 136. Vgl. Fr. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, S. 125 u. a.

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nicht ausmacht. Im Gegenteil, die konkrete Darstellung ist ein Vorzug der Kunst gerade auch im Hinblick auf die unendliche Bedeutung. Liegt doch das Wesen der Kunst im Gegensatz zur Philosophie nicht in der abstrakten Darlegung eines Gedankensystems, sondern in der Entdeckung des Ubersinnlichen im Sinnlichen. Das Sinnliche, „die Natur und die Menschheit", um mit Friedrich Schlegel zu sprechen, ist der „eigentliche" und „nächste" Gegenstand der Kunst, ihr „körperlicher Boden", die „Hülle", der „irdische Stoff", aus dem die höhere und geistige Welt hervorschimmert42. Und diese übersinnliche Welt, die sich aus der konkreten Darstellung ergibt, fällt nicht mit derjenigen zusammen, auf die die metaphysische Reflexion sich richtet. Das Bildliche der Kunst eröffnet vielmehr Aussichten in eine existenzbezogene geistige Welt, in das Geheimnis des individuellen Gemüts, in das Geranke der Seelenkräfte, deren Urgründigkeit es offenbart. Nicht von ungefähr erscheint das Gefühl in romantischer Sprache als der Sinn für Ideen. Das Unendliche, das die Kunst 'andeutet', ist nicht etwa nur ein Begriff von Gott, sondern eine Ahnung der eigenen Bestimmung, eine Offenbarung der eigenen Seele und der Urkräfte, die sie beleben. Das Unendliche darf man sich nicht als eine Vorstellung denken, die im Reiche der Theologie oder etwa der Kosmogonie beheimatet wäre. Es ist viel eher die ewige Welt der Seelenkräfte, mit deren Hilfe wir die Gegenständlichkeit des Universums wahrnehmen und auf deren Entsprechungen in der äußeren Welt der Künstler sein Augenmerk richtet. Am aufschlußreichsten ist in dieser Hinsicht das Märchen im neunten Kapitel des Heinrich von Ofterdingen, in dem die Welt der Seele mit den Kräften des Weltalls in Berührung gebracht wird, was die Neugeburt des goldenen Zeitalters zur Folge hat. Das Novalis'sche Märchen enthält insofern die Mythologie der Romantik, als es den Sinn für die universelle Entsprechung der äußeren und der inneren Welt bekundet und zu veranschaulichen sucht. Die allgemeine Entsprechung zwischen den Kräften, die das Weltall beseelen, und denen der menschlichen Seele bildet die Grundlage des romantischen Symbolbegriffs und damit zugleich der romantischen Kunstauffassung. Die Einzeldinge und Einzelerscheinungen der äußeren Welt sind endlichreal, indem sie in Raum und Zeit existieren, und zugleich unendlich-ideal, indem sie auf die Kräfte hinweisen, aus denen sie entstanden sind. Die einzelnen Handlungen und Seelenzustände der inneren Welt sind endlich-real, insofern sie zu der Welt der Erscheinungen gehören, und zugleich unendlich-ideal in dem Maße, in dem sie die ewigen Urkräfte der Seele als ihre Auswirkungen nach außen hin konkretisieren. Da nun die Kräfte des Weltalls und die der Seele einander entsprechen und sogar zu42

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Fr. Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, KA, Bd. VI, S. 276.

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sammenfallen, kann ein Einzelding der äußeren Welt, das als Gegenstand der Kunst, als Bild im Kunstwerk fungiert, das Unendlich-Ideale der Seele symbolisieren. Insofern sind alle echten Bilder, die der Künstler schafft, in der eigentlichen Bedeutung des Wortes Sinnbilder. Die Symbolkraft der Bilder gibt der Kunst ihren Vorsprung vor der Philosophie bei der Erhellung der inneren Welt. Während der Philosoph gezwungen ist, in rationalen Kategorien zu denken und alles, was sich nicht in Begriffe fassen läßt, im Dunkel zu lassen, drückt der Künstler Ideen aus, die, um mit Wackenroder zu sprechen, in unser Herz eindringen, d. h. er erweckt Vorstellungen, die nicht ausschließlich Gegenstand der Vernunft sind, sondern das ganze Gemüt angehen. Die Kunst drückt das aus, „was nicht in einen Begriff zusammengefaßt werden kann", sagt Friedrich Schlegel43. Darin besteht ihre spezifische Aufgabe; sie stellt den symbolisch-anschaulichen Weg der Erkenntnis dar. So kann sie mit Recht als Erkenntnis des philosophisch Unerkennbaren, als Enthüllerin des begrifflich Unergründlichen, als Aussage des rational Unaussprechlichen definiert werden. „Das Höchste kann man eben, weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen", meint Friedrich Schlegel44, wobei er wie gewöhnlich „allegorisch" schreibt, wo andere „symbolisch" sagen würden. Die Kunst erscheint demnach als eine Steigerung der Philosophie: ihre eigentliche Funktion fängt da an, wo die Philosophie aufhört. Sie offenbart das Nichtbegriffliche, und zwar sowohl im Reiche der Gefühle, der Ahnungen, der Gesinnungen als auch im Reiche des Imaginären und Phantastischen, des Irrationalen und Unbewußten. Die Andeutung der lebendigen Kräfte durch die Sinnbilder der Kunst, die Offenbarung der 'Wahrheit des Ewigen' durch den 'Schein des Endlichen' soll bis zur Enthüllung der Grundkraft reichen, die dem Weltall und der Seele gemeinsam ist und die Friedrich Schlegel als Liebe bezeichnet. Das Wort 'das Höchste' hat in seiner Sprache keine andere Bedeutung als die Liebe, die ihm bekanntlich ein Synonym für Gott ist. Die Liebe als Grundkraft ist das „überall Eine", das nur durch die Kunst „in seiner ungeteilten Einheit" dargestellt werden kann. Die Offenbarung dieser Grundkraft ist das letzte und höchste Ziel der romantischen Kunst. Alles Bildhafte im Kunstwerk, Personen, Begebenheiten, Situationen, Neigungen, Konflikte, ist „Hieroglyphe der einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der liebenden Natur" 45 . Liebe als Urgrund der schöpferischen Natur entspricht der „höheren idealischen Ansicht der Dinge", in welcher „unstreitig" das Wesen der Kunst gipfelt48. Wer also 43 44 45 48

Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 9. Fr. Sdilegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 324. Ebd., S. 334. Ebd., S. 323.

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fähig ist, die Welt als eine Schöpfung der göttlichen Liebe anzusehen und in ihr die Spur des Schöpfers zu entdecken, hat die Anlage zum romantischen Künstlertum. Die Welt erscheint ihm als eine Reihe von „Bruchstücken eines großen untergegangenen Dichters. Dieser Dichter ist Gott"47. Und alle Kunstwerke als jeweilige Antworten des Menschen an Gott (Wackenroder) sind „nur Bruchstücke der ersten Offenbarung des Menschengeschlechts — Bestrebungen, dieses einzige, große, ursprüngliche Gedicht ganz auszusprechen und darzustellen" 48 . Der romantische Künstler rekonstruiert das fragmentarisch auf ihn gekommene Weltgedicht. Ein wirklicher Nach- und Neuschöpfer, trägt er Überbleibsel der ursprünglichen Offenbarung zusammen und ordnet sie nach seiner Idee. Dem wahren künstlerischen Gefühl wird die Welt durchsichtig, ihm enthüllt sie ihr inneres Leben. Mit Freude notiert sich Friedrich Schlegel eine glückliche Formulierung dieser Grundanschauung in einem Gedicht Lamartines: „Ce monde, qui te cache, est transparent pour moi"49. Die künstlerisch angeschaute und dargestellte Welt verrät ihren unendlichen Sinn. Ihr wohnt dieser Sinn inne; es gilt nur, ihn zu entdecken. Die sichtbare Natur und mit ihr der menschliche Körper sind nur Hüllen des ewigen Sinnes; sie unterscheiden sich nicht wesentlich von der unsichtbaren Welt, sie haben vielmehr an ihr teil. Das Unendliche findet sich nur im Endlichen, das Jenseits ragt ins Diesseits hinein, das Unsichtbare verquickt sich mit dem Sichtbaren. Es gibt nur eine Welt; zu Unrecht trennt man sie in Dies- und Jenseits; es herrscht eine Grundeinheit im ganzen Weltall50. Alles ist in allem und mit allem verbunden. Der Teil wird nur durch das Ganze verständlich, jeder Gegenstand enthält das Prinzip des Ganzen, das Ganze der sichtbaren Natur bekommt erst durch seine geistige Bedeutung seinen vollen Sinn. Es hängt alles zusammen, und das Prinzip dieses universellen Zusammenhangs ist für Friedrich Schlegel die Liebe. Aus solchen Vorstellungen ergibt sich das Gesetz der allgemeinen Entsprechung fast zwangsläufig. „Der wahre Mensch", schreibt Friedrich Schlegel, „sieht in jedem Gegenstand ein Analogon der Welt" 51 . Das beste Beispiel für den Weltzusammenhang ist jedoch der Mensch selbst. Er hat an beiden Bereichen, dem sichtbaren und dem unsichtbaren, teil: „Denke dir ein Endliches ins Unendliche gebildet, so denkst du einen Menschen"52. Die bei allen Romantikern anzutreffende Idee des Mikrokosmos weist auf eine ähnliche Anschauung. Sie besagt nämlich nicht nur, daß der 47 48 49 50 51 52

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Fr. Fr. Fr. Fr. Fr. Fr.

Schlegel, Schlegel, Schlegel, Schlegel, Schlegel, Schlegel,

Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 156, Nr. 402. Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 136. Über Lamartines religiöse Gedichte, in Concordia, S. 313. Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 173, Nr. 55. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 233, Nr. 485. Ideen, KA, Bd. II, S. 266, Nr. 98.

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Mensch nach Novalis' Worten die Abbreviatur und die Welt die Elongatur derselben Substanz sind, sondern zugleich, daß die im Universum tätigen Kräfte, gleichviel ob es sich um geistige oder stoffliche handelt, ihre genaue Entsprechung im Menschen haben. Das Universum ist ein ins Größere übertragenes Individuum, ein Makroanthropos, dessen Untersuchung zur Erkenntnis des Menschen führt, wie die Erkenntnis des Menschen Aufschlüsse über die Welt bewirkt. Der Glaube an diese große Analogie ist in der Romantik allgegenwärtig. „Wir werden den Menschen kennen", meint Friedrich Schlegel, „wenn wir das Zentrum der Erde kennen" 53 . Und umgekehrt: „Willst du ins Innere der Physik dringen, so laß dich einweihen in die Mysterien der Poesie"54. Das Gefühl für den universellen Zusammenhang und die allseitigen Entsprechungen (endlich-unendlich, stofflich-geistig, zeitlich-ewig und Bruchstück-Ganzheit, Teil-Einheit) ist der poetische Sinn. In der eigentlichen Bedeutung des Wortes ist er der Sinn für das Umgreifende und die dem trennenden Verstände unzugänglichen Verknüpfungen aller Art, der Sinn für die Einheit und das Ganze. Man darf ihn sich nicht als ein besonderes Organ unserer Menschheit vorstellen wie etwa das moralische Organ bei Hemsterhuis. Seine Tätigkeit geht nicht auf die Erfassung bestimmter Ideen wie Kants praktische Vernunft. Er setzt vielmehr alle einzelnen Seelenkräfte voraus und bildet das Resultat ihres Zusammenwirkens. In ihm drückt sich die Einheit des menschlichen Wesens aus, die sich als die Bedingung der einheitlichen Apperzeption des Ganzen erweist. Nur die ungeteilte Seele kann die Fülle und die Einheit in einem fassen, nur sie vermag es, den Dingen eine höhere, allgemeinere Bedeutung als die von Einzelerscheinungen abzugewinnen; mit einem Wort, sie ist die einzige Möglichkeit, Symbole zu finden und zu verstehen. Als Identität unserer Seelenkräfte ist der poetische Sinn der Sinn für das Symbolische. Er wertet die Realien und Begebenheiten der Welt auf, indem er ihnen eine symbolische Bedeutung verleiht. Der so aufgefaßte poetische Sinn gibt den Romantikern das Mittel, sich dem philosophischen Idealismus anzuschließen und ihre Kunsttheorie auf dieser gedanklichen Grundlage aufzubauen. In den Vorlesungen über Transzendentalphilosophie meint Friedrich Schlegel: „Das Wesentlichste des Idealismus ist in der Annahme einer absoluten Intelligenz, die die Realität in sich vereinigt und die wir nur symbolisch kennen" 55 . Die Erschließung der Sinnträchtigkeit der Realität, die Entdeckung des Absolu53 54 55

Ebd., S. 266, Nr. 100. Ebd., S. 266, Nr. 99. Fr. Schlegel, Vorlesungen über Transzendentalphilosophie, KA, Bd. XII, S.96.

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ten im Endlichen erfolgt im Bereich der Kunst auf dem Wege der symbolischen Erkenntnis. Diese Einsicht in das eigentümliche Wesen der künstlerischen Allnäherung an das Absolute veranlaßte die Frühromantiker, Jakob Böhmes Bemühungen um eine symbolische Auslegung der irdischen Phänomene als mit ihren eigenen Absichten verwandt zu empfinden. In Friedrich Schlegels Sprache heißt das: „Böhme enthält die innersten Prinzipien der Allegorie (und eben damit der Poesie)". Daher die zugespitzte Formulierung im gleichen Zusammenhang, nach der Böhme die Poesie erfunden haben soll56. Für Schlegel gilt Böhme übrigens als „reiner Idealist" 57 . Das romantische Kunstwerk ist also Symbol, materieller Hinweis auf Geistiges, ein nach außen scharf begrenztes Ganzes, „innerhalb der Grenzen aber grenzenlos und unerschöpflich" 58 , und zwar weil es auf Ewiges hindeutet, nämlich auf die rational nicht zu ergründenden Kräfte der Seele, die zugleich die Kräfte des Weltalls sind. Jedes echte Kunstwerk, enthält Bruchstücke vom Geheimnis der Schöpfung und zeigt nach Friedrich Schlegels Worten „die tiefen Schmerzen der in die Sterblichkeit eingeschlossenen . . . höchsten Liebe" 5 9 . In der Kunsttätigkeit wird also der ganze Mensch aktiv. Seine sämtlichen Seelenkräfte von der irrationalen, unbewußten Intuition bis zur genauesten Reflexion werden rege. Sein ganzer Mikrokosmos gerät in eine schöpferische Handlung, und dadurch stellt sich die Verwandtschaft zwischen dem schaffenden Künstler und dem Weltschöpfer her. Wackenroders Gedanke, wonach die Kunst die Antwort des Menschen an Gott sei, findet auf Grund dieser schöpferischen Entsprechung eine noch prägnantere Bedeutung im Sinne der frühromantischen Ästhetik. Nicht alle Frühromantiker haben den gleichen Weg eingeschlagen, um zu demselben Ziel zu gelangen. Bei Friedrich Schlegel und Novalis hat das eigene Kunstgenie einen der philosophischen Spekulation mindestens gleichwertigen Beitrag geliefert. Beim älteren Schlegel gab die Reflexion über die Arbeit, die Einsichten und die fragmentarisch ausgedrückte Poetik der anderen Mitglieder der Schule den Ausschlag. Bei Schleiermacher hat eindeutig die religiöse Intuition die größte Rolle gespielt. Jedoch ist auch er trotz seines geringeren Interesses an der eigentlichen Kunstschöpfung zu ganz ähnlichen Formulierungen gelangt. Für 56

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Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, in Schriften und Fragmente (Kröners Taschenausgabe), S. 181. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KA, Bd. XII, S. 256 ff. Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 215, Nr. 297. Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 92.

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ihn liegt bekanntlich das höchste Ziel des philosophischen Nachdenkens im gedanklichen Erlebnis der Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt: der Mensch soll sich seines Geschöpfseins und zugleich seines Schöpferseins bewußt werden. Mit anderen Worten: er soll sich zum Begriff der in ihm vorhandenen Identität von Subjektivem und Objektivem, von Geist und Natur erheben und damit das Gefühl seines Mikrokosmos empfinden. Dann ist „die ängstliche Scheidewand" eingerissen; „alles außer ihm ist nur ein anderes in ihm, alles ist der Widerschein seines Geistes, so wie sein Geist der Abdruck von allem ist""0. Das Höchste ist dem Menschen nicht fremd, sondern „liegt in ihm", ist ihm wesensverwandt, mit seinem tieferen Wesen identisch. Durch seinen „Sinn", der ihm die Anschauung des Ganzen ermöglicht, entdeckt der Mensch sich als den Schlüssel zu diesem Ganzen. Wie gesagt, geschieht das bei Schleiermacher weniger auf dem Wege der poetischen Schöpfung und des künstlerischen Erlebnisses als vielmehr spekulativ, „durch große Analogie und kühnen Glauben" 81 . Das Ergebnis ist jedoch dasselbe: auf Grund der tieferen Erkenntnis seiner selbst, die nur durch die Betrachtung des inneren Handelns erfolgen kann, entdeckt der Mensch die Identität seines Wesens mit der Welt und findet seine eigentliche Heimat. Durch die Selbsterkenntnis verwandelt der Mensch die Welt und erkennt sich in ihr als in seinem Element. Seine Seele wird ihm zum Schlüssel des Universums. Diese Erkenntnis, die den Menschen zum Priester des Höchsten und zum Mittler zwischen Erde und Himmel erhebt, wird auch von Schleiermacher als das Vorrecht des Künstlers, des Dichters, des Sehers, des Redners angesehen, d. h. solcher Persönlichkeiten, in denen zu einer glücklichen Synthese der beiden Seelentriebe, der selbstsüchtigen Begierde und des Enthusiasmus, eine „mystische und schöpferische Sinnlichkeit" hinzukommt62, worunter nichts anderes zu verstehen ist als die sogenannte anschauende Kraft, die „von ihrem ganzen Reich" Besitz ergriffen hat". Die anschauende Erkenntnis erweist sich für Schleiermacher als das spezifische Merkmal des Künstlers, das ihm zur Erkenntnis und zur Darstellung der Identität von Ich und Welt verhilft. Das Erleben dieser Identität gewährt dem Frühromantiker die ersehnte Teilnahme am orphischen Gesang, der die ganze Welt durchtönt und dessen begeisterte Wahrnehmung den Künstler erst zum Künstler macht. Es befähigt ihn, die Stimme der Natur zu vernehmen und die Gegenwart Gottes in ihr aufzuspüren. Erst durch dieses Erlebnis werden ihm die begrifflich nicht aussprechbaren Naturstimmungen zugänglich, 60 81 62 63

Schleiermacher, Über die Religion, 3. Rede. Ebd. Ebd., 1. Rede. Ebd., 3. Rede.

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für die Tieck und Wackenroder so anfällig waren, und auch erst auf Grund dieser Identitätswahrnehmungen vermag er es, sein schöpferisches Selbst auszudrücken, indem er „die Natur nachahmt". Hier zeigt sich, wie müßig es ist, sich immer wieder die Frage vorzulegen, ob die romantischen Kunstschöpfungen subjektiv oder objektiv sind und sein wollen. Die Subjektivität des Künstlers entspricht nun einmal im Selbstverständnis der Romantik der Objektivität des Universums. Die Seele ist nach den gleichen Prinzipien aufgebaut wie das Weltall. Es ist eine kurzsichtige Deutung des romantischen Kunstwollens, wenn behauptet wird, es gründe sich auf eine Verlagerung des Objektiven zum Subjektiven, und romantische Kunst sei Ausdruck des subjektiven Selbst und nicht Wiedergabe des Äußeren. Es ließe sich mit ebenso viel Recht das Gegenteil sagen. Zwar ist die Individualität stets eine unbedingte Forderung der frühromantischen Kunsttheorie gewesen. Es hieße aber eine solche Forderung gründlich mißverstehen, wollte man sie auf die bloße Subjektivität zurückgeführt wissen. Die Romantik zielt auf eine poetische Deutung des Universums. Ihr Charakteristisches liegt eben in der Annahme einer Identität von Ich und Universum. Dabei gehen die Jenaer sowohl von der Analyse des Ich als auch von der Betrachtung des Universums aus. Das berühmte Fragment von Friedrich Schlegel mit dem Bild der Ellipse besagt nichts anderes als diesen doppelten Ausgangspunkt und drückt in seiner scheinbaren Paradoxie das Wesentliche der frühromantischen Ästhetik aus. Der Traum von der großen Einheit des Weltalls war der damalige Traum von großer Magie, dem sich jeder Romantiker anheimgegegeben hat. Einheit haben die Romantiker überall groß geschrieben. Auch die Einheit, die im Kunstwerk gefordert wird, hängt mit dem Lebensgefühl der Jenaer Schule zusammen. Sie entspricht der Grundeinheit von Ich und Universum. Schon die zentrale Funktion des Symbols, wie es von den Romantikern aufgefaßt wird, verbietet eine Trennimg von Bild und Sinn. Was dem Kunstwerk seine Einheit und seinen Wert gibt, ist, wie oben gesagt, die I d e e . Die Kunst nimmt alle Seelenkräfte in Anspruch, und die romantisch definierte Idee ist gerade der Ausfluß der vereinigten Vermögen des Gemüts, der ungeteilten Menschheit. In den Berliner Vorlesungen hat sich Wilhelm Schlegel darüber beklagt, daß die Ideen im strengen Sinn des Wortes von der Aufklärung verkannt worden seien. „Selbst die Idee einer Idee war verlorengegangen", schreibt er64. Er will das Wort in „seinem höheren eigentlichen Sinn", in seiner ursprünglichen platonischen Bedeutung verstanden wis,4

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A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 49.

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sen. Was soll nun Plato nach Wilhelm Schlegels Ansicht mit diesem Terminus gemeint haben? „Die Urbilder der Dinge im göttlichen Verstand, in welchem Denken und Anschauen eins sind, denen allein wahres Sein zukommt, und worin Allgemeines und Besonderes nicht, wie in der Erscheinungswelt Begriff und Individuum, getrennt, sondern unzertrennlich verknüpft ist""5. Damit kommt Wilhelm Schlegel dem Wunschtraum der Frühromantiker entgegen, der eben in der ungeteilten Erkenntnis nach dem Muster der intellektuellen Anschauung besteht. Eine solche Erkenntnis ergreift die Ideen unmittelbar, die Wilhelm Schlegel an anderer Stelle als „notwendige und ewig wahre Gedanken und Gefühle, die über das irdische Dasein hinausgehen", umschreibt". Sie führen „in der inneren Anschauung unmittelbare Uberzeugung ihrer Notwendigkeit und ewigen Gültigkeit" mit sich67. Wie das Licht im physischen Bereich setzen sie „die äußerlichen Erscheinungen in ihr wahres Verhältnis untereinander" 68 . Den Frühromantikern hat das Ideal der ansdiauenden Erkenntnis vorgeschwebt, obwohl alle eingesehen haben, daß es auf dem normalen Weg der menschlichen Geistestätigkeit nicht zu erreichen ist. Aber genau wie Fichte trotz seines Bewußtseins von dem Ausnahmecharakter und der Schwierigkeit der intellektuellen Anschauung diese zur Grundlage des menschlichen Handelns und Wissens gemacht hat, so suchen die Jenaer sich dem praktisch unrealisierbaren Ideal der anschauenden Erkenntnis durch die Kunst zu nähern. Das vollkommene Kunstwerk erscheint ihnen tatsächlich als eine ungeteilte Einheit von Bild und Sinn, von Begriff und Individuum, von Allgemeinem und Besonderem; es weist also die wesentlichen Merkmale der anschauenden Erkenntnis auf. Und was dem Kunstwerk diese Einheit verleiht, ist eben die Idee, der „Geist", die „Poesie", die der Künstler „in sich trägt" 6 '. In der Idee, wie sie vom Geiste des Künstlers konzipiert wird, herrscht eine Identität von Denken und Anschauen, die der ganzen menschlichen Tätigkeit ein unerreichbares, göttliches Vorbild ist. Die Idee in diesem Sinne ist nämlich „etwas, worauf unser Geist mit einem unendlichen Bestreben gerichtet ist"70. Der Betrachter des Kunstwerks soll diese Idee anhand der künstlerischen Darstellung rekonstruieren und nacherleben; sie erscheint ihm dann als das zusammenhaltende Band heterogener Elemente. 65 66 67

Ebd.

A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. V, S. SO. A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 64.

88 Ebd. «• A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 94. 70 Ebd., S. 39.

7 Nivelle

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Von der besonderen Erscheinungsform der Idee in der Dichtung wird im nächsten Kapitel die Rede sein. Hier soll uns nur ihre allgemeine Darstellung interessieren. In dieser Hinsicht ist wie gewöhnlich Wilhelm Schlegel in der Formulierung am treffendsten gewesen; in der Genauigkeit und Ausführlichkeit der Darlegung aber übertrifft Novalis die übrigen Jenaer bei weitem. Ein Fragment des Novalis kann uns die Richtung andeuten, in der wir eine Definition der künstlerischen Idee suchen müssen. „Träumen und Nichtträumen zugleich, synthesiert, ist die Operation des Genies, wodurch beides sich gegenseitig verstärkt" 71 . Daß dieses Fragment sich unmittelbar auf unser Problem bezieht, erhellt eindeutig aus der Tatsache, daß Novalis selbst das Produkt der fraglichen „Operation" als Idee bezeichnet72. Und bekanntlich ist für ihn die Kunst ein Wollen „einer Idee gemäß" 73 . Das gibt uns die Gewißheit, am Quell der schöpferischen Tätigkeit, der „Wirksamkeit" des Künstlers zu sein, wie Novalis sie sich vorstellt. Damit das angeführte Fragment voll und richtig verstanden werden kann, muß der romantische Begriff der Potenzierung herangezogen werden. „Träumen" steht in diesem Fragment für die irrationalen Tätigkeiten des Geistes überhaupt. Träume sind „Symptome des entzündlichen Vernunftmangels" 74 . Novalis bezeichnet diese irrationalen Tätigkeiten manchmal mit dem Ausdruck „direktes Träumen", dem er dann ein „reflektiertes Träumen" entgegenstellt 75 , worunter er die vernunftgemäße Betrachtung des Traumes, die rationale Reflexion über das Irrationale verstanden wissen will. In unserem Fragment bezeichnet der Begriff „Nichtträumen" eben nichts anderes als das reflektierte Träumen. Die gegenseitige Verstärkung, von der die Rede ist, erscheint im Fragment 1331 als „potenziertes Träumen". Was das in der Sprache des Novalis heißt, ist nicht schwer zu ermitteln. 'Potenziert' ist der Traum, wenn er sich als irrationale Tätigkeit mit einer bewußten Reflexion über diese Tätigkeit verbindet und so eine Synthese von Irrationalem und Rationalem, von Unbewußtem und Bewußtem, von Anschauen und Denken bewirkt. Eine solche Synthese ist die Operation des Genies. In der psychologischen Terminologie entspricht sie dem sogenannten Tagtraum, der für Novalis' ganzes Schaffen von wesentlicher Bedeutung ist76. Sie erwächst aus der Verbindung einer Handlung des Gemüts mit dem Bewußt71 72 73 74 75 76

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Novalis, Fragment 1329. Vgl. Fragment 1030. Fragment 399. Fragment 1329. Fragment 1331. Vgl. darüber R. Leroy, Der Traumbegriff des Novalis.

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sein dieser Handlung und erscheint damit als ein Analogon der intellektuellen Anschauung, wie sie von Fichte und Schelling dargestellt wird. Sie wirkt auf den Betrachter wie eine Synthese zweier Momente, während sie in Wirklichkeit e i n e Operation ist, die zwei in der Erscheinung getrennte Elemente miteinander verbindet, also eine Identität von Anschauen und Denken. Nun fällt das Künstlertum mit der Fähigkeit zusammen, „Ideen nach Belieben, ohne äußere Sollizitation durch [die Organe] herauszuströmen — sie als Werkzeuge zu beliebigen Modifikationen der wirklichen Welt zu gebrauchen" 77 . Die Kunst entspringt also aus der spontanen schöpferischen Tätigkeit des Menschen und weist demnach einen apriorischen Charakter auf, dessen Erkenntnis Novalis dazu bringt, den echten Künstler als „durchaus transzendental" aufzufassen 78 . Die Problematik der anschauenden Erkenntnis wiederholt sich in noch stärkerem Maße im Bereich der Kunstpraxis. Auf Grund ihrer Einheit von Anschauung und Bedeutung ermächtigt die Idee den Künstler zur Entdeckung des Unendlichen im Endlichen; dafür aber erweist sich ihre Darstellung im Kunstwerk als nicht ohne weiteres durchführbar. Ihr angemessenstes Darstellungsmittel ist bekanntlich das Symbol; das romantische Sinnbild ist jedoch, wie oben gezeigt wurde, ein Grenzbegriff, der dem Künstler große praktische Schwierigkeiten bereitet. Der ausgiebige Wortreichtum der Frühromantiker, wenn es um die Aufstellung von Prinzipien und Definitionen geht, und ihr sehr auffälliger Mangel an konkreten Beispielen sind an sich schon sehr aufschlußreich. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die gerade die Jenaer Schule kennzeichnet, gibt ihr neben ihrer Eigentümlichkeit zugleich auch ihren bleibenden Wert im Bereich der Ästhetik. Die Romantik stellt jeweils ideale Grenzfälle auf, hinter denen die Praxis notwendigerweise zurückstehen muß. Ihre theoretische Bedeutung wird dadurch jedoch nicht im geringsten geschmälert. Im Gegenteil, gerade durch ihre Undurchführbarkeit hat diese Theorie eine große Unruhe gestiftet, die bis zum heutigen Tag andauert; sie ist ein Ferment des Geistes geworden wie kaum eine zweite. Der zeitgenössische Künstler hat sich immer noch, bewußt oder unbewußt, mit der romantischen Ästhetik auseinanderzusetzen. Sie hat der Kunstschöpfung ein anscheinend grundlegendes Ziel gesteckt, und bei jeder Selbstbesinnung der Kunst wird sie zwangsläufig immer wieder auf den Plan gerufen. Sie bildet den Kern aller Bestrebungen, die sich jeder Form des sogenannten Realismus widersetzen und die je nach Zeit und Raum unter verschiedenen Namen auftauchen. 77 78

7*

Novalis, Fragment 1000. Fragment 816.

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Die Auffassung der Kunst als eines Wollens gemäß einer Idee ermöglicht es Novalis, eine Klassifikation der Kunsttätigkeiten vorzunehmen, die einiges Licht auf seinen Begriff der Kunst werfen kann. Für ihn gliedert sich diese zunächst in zwei wesensverschiedene Tätigkeiten: eine bestimmte und eine unbestimmte. Das Wort „bestimmt" umschreibt er mit dem Ausdruck „durch Begriffe determiniert"; unter „unbestimmter Kunst" versteht er eine „freie", „selbständige", „reine Ideen realisierende, von reinen Ideen belebte" 79 . Auf Grund dieser Zweiteilung erscheint die bestimmte Kunst als ein Mittel zum Zweck, die unbestimmte als ein Selbstzweck. Innerhalb der bestimmten und der unbestimmten Kunst unterscheidet Novalis wiederum eine „wirkliche" und eine „eingebildete". Die wirkliche, vollendete, durchgeführte ist in diesem Zusammenhang diejenige, die sich in Kunsterzeugnissen ausdrückt, während die eingebildete sich nicht in konkreten Schöpfungen nach außen manifestiert, sondern „in den inneren Organen" aufgefangen wird. Bestimmte Kunst ist nun, wenn sie „wirklich" ist, das Gebiet des Handwerkers, und wenn sie „eingebüdet" ist, der Bereich des Gelehrten. Unbestimmte Kunst ist die Tätigkeit des Künstlers im eigentlichen Sinn, wenn sie in konkreten Gestaltungen zum Ausdruck kommt, und die des Philosophen, wenn sie sich nicht in Werken, sondern in gedanklicher Spekulation ausdrückt. Demnach weisen für Novalis Künstler und Philosoph eine engere Verwandtschaft auf als für die übrigen Mitglieder der Schule. Beide gehen von reinen Ideen aus, die sie entweder in einem Kunstwerk oder in abstrakter Reflexion aussprechen, und entfernen sich vom Reich der Begriffe, die den Handwerker in seiner Arbeit und den Gelehrten in seiner Forschung leiten. Sie sind beide „unbestimmt", insofern sie sich selbst bestimmen und sich ihr Ziel und ihren Weg nicht durch von vornherein bestehende und „von anderwärts bestimmte" Begriffe aufzwingen lassen80. Der Künstler hebt sich vom Philosophen dadurch ab, daß er fähig ist, Ideen nicht nur „nach Beheben" und „ohne äußere Sollizitation" zu produzieren, sondern diese Ideen auch als „Werkzeuge zu beliebigen Modifikationen der wirklichen Welt", d. h. zu künstlerischen Schöpfungen, zu gebrauchen81. Diese teilweise Angleichung von Künstler und Philosoph soll uns hier nicht aufhalten. Vielmehr müssen wir uns fragen, was im Menschen die für den Künstler in Betracht kommenden Ideen hervorbringt: nicht die von Kant als grundlegend anerkannten Seelenvermögen, Verstand und Vernunft, und zwar letztere weder als theoretisches Vermögen der 78 80 81

Fragment 1029. Fragment 1028. Fragment 1000.

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Ideen noch als praktisches Vermögen, d. h. als freier Wille82. Das Eigentümliche der romantischen Ästhetik besteht darin, daß den beiden genannten Seelenkräfte eine dritte mit voller Ebenbürtigkeit an die Seite tritt, nämlich die schöpferische Phantasie. Im endlichen Bereich herrscht der die Gegebenheiten der Sinnlichkeit verarbeitende Verstand, im freien, unendlichen Bereich herrschen Vernunft und Einbildungskraft. Wesentlich ist zunächst für die Einbildungskraft als schöpferisches Vermögen, daß sie die für die Romantik so wichtige Potenzierung gewährleistet. Sie stellt die Verbindung her zwischen dem Irrationalen und dem Rationalen, zwischen Traum und Reflexion. Indem sie über den Polen schwebt, bewerkstelligt sie die Synthese, die der Betrachter wahrnimmt, und zugleich die Identität von Anschauen und Denken im Geiste des Künstlers. Darüber hinaus verquickt sie Theorie und Praxis, d. h. in diesem Fall Denkkraft und künstlerische Schöpfung, miteinander und büdet damit ein Grundkennzeichen des romantischen Künstlers, der ja „die Synthese des Theoretikers und Praktikers" sein soll83. Die Phantasie ist der Urquell der Ideen im ästhetischen Sinn, das Prinzip ihrer Produktion und ihrer Darstellung. Ohne sie gibt es keine wahre Kunst. Wer sich auf die bloße Wiedergabe von Gegebenheiten beschränkt, ohne ihre unendliche Bedeutung anzudeuten, ist ein Stümper. „Der Chronikschreiber ist der Stümper in der Geschichte — er will alles geben und gibt nichts"; er liefert den Buchstaben und geht am Geist vorbei; er stellt „Tabellen und Register" auf, wie es im Ältesten Systemprogramm heißt, und schafft nicht aus der Idee heraus; er gibt Bilder ohne Sinn84. In ihrem Lobpreis der Einbildungskraft konnten sich die Frühromantiker kaum genug tun. Schleiermacher bezeichnet sie als „das Höchste und Ursprünglichste im Menschen"85, und darin pflichten ihm alle Mitglieder der Jenaer Schule bei. Novalis meint: „Das größte Gut besteht in der Einbildungskraft" 88 , und Wilhelm Schlegel bestätigt diese Auffassung, indem er die Phantasie als „die Grundkraft des menschlichen Geistes" umschreibt87. Es erübrigt sich wohl, auf parallele Äußerungen bei den sonstigen Mitgliedern der Gruppe zurückzukommen. Das Lob ist so gut wie einstimmig; die wenigen individuellen oder zeitweiligen Unterschiede können an dieser Grundanschauung nichts ändern. Bedeutsamer ist hier die Frage, wie sich die Frühromantiker Wesen und Funktion der Einbildungskraft vorgestellt haben. 82 83 81 85 89 87

Vgl. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 65. Novalis, Fragment 2136. Fragment 1057. Schleiermacher, Über die Religion, 2. Rede. Novalis, Fragment 373. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 282.

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Für Novalis fällt gewöhnlich die reine, d.h. durch keine äußeren Reize affizierte Einbildungskraft mit der Vernunft zusammen88. Wie die Vernunft zeichnet sie sich durch Freiheit aus: „Freiheit bezeichnet den Zustand der schwebenden Einbildungskraft" 89 . Auch für Wilhelm Schlegel bilden Vernunft und Phantasie, „aus einem höheren Gesichtspunkte betrachtet", eine gemeinschaftliche Grundkraft, die in der Freiheit und in der Unendlichkeit beheimatet ist80. Eine Grundkraft ist die Phantasie in mehrfacher Hinsicht. Zunächst, weil ihr „ursprünglichster Akt" dahin zielt, „unserer eigenen Existenz und der ganzen Außenwelt" Realität zu verleihen". Diese von der idealistischen Philosophie übernommene Ansicht wird von der ganzen Schule geteilt. Die Phantasie ist weltschöpferisch: außer ihr gibt es kein Mittel, sich der Wirklichkeit der Welt zu vergewissern. Sie befreit uns von der Solipsität unseres Wesens und versetzt uns in die Welt, indem sie uns an deren Wirklichkeit teilhaben läßt. Dank ihrer Freiheit verdient sie, wunderbar und magisch genannt zu werden. Sie hat die Quelle ihrer Tätigkeit in sich und hängt in keiner Weise von äußeren Reizen ab. Das meint Novalis, wenn er schreibt, sie sei eine „außermechanische Kraft" 92 und stehe nicht unter mechanischen Gesetzen93. Konsequent betont er den „Magismus der Phantasie" 94 . Auf Grund der universellen Analogie sehen die Romantiker in der Phantasie nicht nur die Grundkraft des menschlichen Gemüts, sondern auch das schöpferische Prinzip der Welt, die sich ja für Novalis als eine „sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft" definieren läßt95. Die schöpferische Freiheit hat sich in der von ihr geschaffenen Welt zu mechanischen Gesetzen degradiert und will wieder entdeckt werden. So entspricht die menschliche Einbildungskraft der Freiheit des Weltschöpfers, während die „endlichen" Vermögen des Menschen, Sinnlichkeit und Verstand, ihre Entsprechung in der Welt und deren mechanischen Gesetzen haben. Bekannt ist in dieser Hinsicht der etwas abseitige Weg, den Friedrich Schlegel geht, indem er als Grundkraft des Universums und des Menschen nicht die Phantasie, sondern die Liebe nennt, ohne jedoch an der poetischen Bedeutung der Einbildungskraft zu rütteln. Noch auffälliger 88 89 90 81 92 9J 94 95

Novalis, Fragment 481. Fragment 263. A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 45 und 65. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 282. Novalis, Fragment 1996. Fragment 1252. Fragment 1996. Fragment 1528.

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sind gewisse Bemerkungen des Novalis, die den eben skizzierten Anschauungen geradezu widersprechen und der Phantasie einen nur geringen Wert zuschreiben. Ob solche Aussprüche wohlüberlegte, endgültige Stellungnahmen widerspiegeln oder vielmehr zeitweilige, durch augenblickliche Zustände eingegebene Palinodien darstellen, ist fraglich. Auch wäre zu überprüfen, ob an solchen Stellen96 das Wort immer in der gleichen Bedeutung genommen wird und inwiefern diese Äußerungen auf entsprechenden Sinneswechseln beruhen. Neben der Fülle anderslautender Uberzeugungen macht jedoch die geringe Anzahl der Rückzieher eine derartige Prüfung überflüssig, wenn das Ganze der Novalis'schen und überhaupt der frühromantischen Anschauungen und nicht etwa ihr chronologischer Werdegang zur Diskussion steht. Als schöpferischer Ursprung der Ideen wird die Phantasie von Novalis „Erfindungkraft" genannt", und Wilhelm Schlegel bezeichnet den Dichter als ein Geschöpf der dichtenden Phantasie98, wobei er meint, die erfindungsreiche Einbildungskraft des Dichters sei die Quelle seiner Kunst. Unter echter dichterischer Phantasie versteht Wilhelm Schlegel nun nicht etwa nur die Erfindung des Wunderbaren, des Außerordentlichen, des vom gewöhnlichen Lauf der Natur Abweichenden. Er nimmt das Wort „in höherem Sinn" und gibt ihm die Bedeutung einer „inneren Anschauungskraft dessen, was nicht dem Grade oder der Zusammensetzung, sondern der Art nach, alle äußere Wirklichkeit übersteigt". Er umschreibt den Begriff mit den Worten: „Ein lichtvolles Träumen in der stillen Nacht des inneren Sinnes, bei dem Künstler mit der Gabe verbunden, die geheimnisvollen, nie von der Seele, ihrer Geburtsstätte, ganz abzulösenden Bilder durch eine ebenso zauberische Darstellung mitzuteilen". Die so aufgefaßte Einbildungskraft nennt er eine „Seherphantasie". Dante habe sie im höchsten Maße besessen99. Was meint aber die Formel „der Art nach"? Der Gegenstand der dichterischen Phantasie soll jede äußere, endliche Wirklichkeit übersteigen. Nun ist das Endliche die Welt, in der alles isoliert besteht und für die symbolische Deutung nicht durchsichtig ist. Die Einbildungskraft erfaßt intuitiv „die große Wahrheit, daß eins alles und alles eins ist"; sie „versenkt uns in das Universum, indem sie es als ein Zauberreich ewiger Verwandlungen, worin nichts isoliert besteht, sondern alles aus allem durch die wunderbarste Schöpfung wird, in uns sich bewegen läßt"100. Damit ist 96 07 98 99 100

Zwei in den Fragmenten (871 und 2972) und eine in den Briefen (Bd. V, S. 157). Fragment 3048. A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. Bd. VII, S. 98 f. A. W. Schlegel, Rezension von Gries' Übersetzung des Rasenden Roland, Bd. XII, S. 278 ff. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 83.

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die wesentliche Funktion der Einbildungskraft ausgesprochen. Sie ist es, die die universelle Analogie aufspürt und die alles durch alles symbolisiert. Die Idee von der allgemeinen Entsprechung und der Symbolträchtigkeit jeder Einzelerscheinung ist im künstlerischen Bereich die eigentliche 'Urhandlung' der Phantasie, durch die sie die Gegebenheiten der endlichen Welt dem Wesen nach übersteigt. Diese umfassende Grundidee der Einbildungskraft erfüllt im Leben und besonders im künstlerischen Schaffen eine doppelte Funktion. Zunächst macht sie die Phantasie zum dynamischen und produktiven Element des Geistes, zum Antrieb der Seelenvermögen. Gefühl, Verstand, Vernunft sind „gewisserweise passiv" und können nur in Verbindung mit der Einbildungskraft tätig werden101. Nur diese ist schöpferisch, bildend, schaffend, bewegend, tätig, wirkend, hervorbringend, und wie es sonst in den Fragmenten des Novalis heißt. Je nach dem angestrebten Ziel verbindet sie sich mit einer besonderen Seelenkraft. Von sich aus ist kein Seelenvermögen fähig, sich an einem psychischen Vorgang aktiv und frei zu beteiligen; jedes bedarf des Anstoßes durch die Einbildungskraft. So ist die Anschauung keine bloße Tätigkeit der Sinne, sondern an erster Stelle eine Tätigkeit der Einbildungskraft, die sich der Sinne bedient. Die Vorstellung ist nicht das Ergebnis der Inanspruchnahme der Sinnlichkeit durch die Kategorien des Verstandes, sondern umgekehrt die Wirkung der Einbildungskraft auf den Verstand. Anschauung und Vorstellung wurzeln beide in der Einbildungskraft; ihr Unterschied ist einzig dem verschiedenen Mittel, dessen sich die Phantasie jeweils bedient, zuzuschreiben. Deshalb sind Anschauung und Vorstellung im Grunde eins102, und von jeder Erkenntnisart kann man das gleiche sagen. Die Einbildungskraft ist immer das Primäre und Ursprüngliche. Sie ist die Quelle aller Tätigkeit des Geistes. Sogar die Sinneswahrnehmungen, der „äußere Sinn", werden von ihr bestimmt: „Wie sieht man denn körperlich? Nicht anders wie im Bewußtsein: durch produktive Einbildungskraft" 108 . Verallgemeinernd schreibt Novalis: „Aus der produktiven Einbildungskraft müssen alle inneren Vermögen und Kräfte und alle äußeren Vermögen und Kräfte deduziert werden" 101 . Sie kann „alle Sinne ersetzen"105 und entscheidet souverän über unsere jeweilige Weltsicht, unsere Lebensweise, unsere Aktivität. Als Prinzip des tätigen Gebrauchs der Organe ist sie zugleich das Prinzip der Kunstschöpfung. „Durch Bemeisterung des Stimmhammers unseres höheren Organs" könnten wir „unser Leben nach 101 102 103 104 105

Novalis, Fragment 278. Fragment 279, 282. Fragment 701. Fragment 1921. Fragment 1252.

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Belieben poetisieren"108. Wer denkt dabei nicht an Friedrich Schlegels Glauben an die Möglichkeit einer willkürlichen Stimmung unseres Gemüts? Die Phantasie ist die lebendige Quelle der Geistestätigkeit. Neben ihrer dynamischen Antriebsfunktion bewirkt die Einbildungskraft die zur künstlerischen Schöpfung erforderliche Synthesis der Geistestätigkeiten. Sie ist die verbindende Mitte des anschauenden und des diskursiven Denkens. Auf ihre einfachsten Elemente zurückgeführt, weist die Tätigkeit des menschlichen Geistes zwei deutlich entgegengesetzte Verfahrensmodi auf: das diskursive Denken, das die Welt aus Gesetzen aufbaut und in einen „unendlichen Automaten" verwandelt, und das intuitive Dichten, das jede Gesetzmäßigkeit negiert, alles belebt und überall Wunder und Willkür erblickt. Diese extremen Geistesformen erscheinen selten in ihrer ganzen Reinheit. Sie vermischen sich miteinander mehr oder weniger vollkommen, mehr oder weniger „imbeschränkt". Die unvollkommene, beschränkte Verbindung erfolgt im Eklektiker; die vollkommene, unbeschränkte im Künstler. Der Künstler weiß, daß beide Denktätigkeiten „notwendige Glieder seines Geistes" und daß sie „in einem gemeinsamen Prinzip vereinigt" sind. Dieses gemeinsame Prinzip ist eben die produktive Einbildungskraft, die über den beiden Polen „schwebt" und sie zur harmonischen Einheit verschmelzen läßt. Als „lebendige Reflexion" bildet sie den Kern eines geistigen Universums, einer „alles befassenden Organisation" und „den Anfang einer wahrhaften Selbstdurchdringung des Geistes, die nie endigt"107. In ihr ist Anschauen gleich Denken, Bild gleich Begriff, Einzelnes gleich Allgemeinem. Sie gewährleistet das unmittelbare Ineinandergreifen von Idee und konkreter Anschauung, eine Synthese von Elementen, die sich sonst fliehen und auseinanderklaffen. Wie gelingt es der Einbildungskraft, die Kluft zwischen konkretem, endlichem Einzelnem und unendlicher Idee zu überbrücken? Durch die Potenzierung. Der Gegensatz endlich-unendlich erscheint in romantischen Augen nicht als letzthinniger Widerspruch, sondern als Polarität. Besonders Novalis und Schelling haben einen scharfen Sinn für das, was Jaspers das Umgreifende nennt. Sie fühlen in sich den Hang zur Überwindung aller Schranken und aller Grenzen. „Alle Schranken", schreibt Novalis, „sind bloß des Übersteigens wegen da" 108 . Eine solche Ausgangsposition veranlaßt zu einer unendlichen Dialektik. Der Geist, der in seinem Streben und in seiner Selbstdurchdringung nie gesättigt und beruhigt werden kann, entdeckt immer wieder neue Ansichten, deren jeweils 108 107 108

Fragment 981. Fragment 792; vgl auch 789 und 12. Fragment 1614.

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zuletzt errungene die vorhergehende, vielleicht antithetische, nicht notwendigerweise aufhebt, sondern mit ihr in einem „höheren Moment", einer „höheren Einheit" aufgehen kann. In diesem höheren Moment werden dann die alte und die neue Ansicht „subaltern", und die Einheit der beiden ist nun das Neue, dem seinerseits auch eine Ubersteigung durch den nächsten Schritt des Denkens bevorsteht109. Das gleiche Gesetz muß, ganz idealistisch, auch im Bereich der Ontologie gelten: die eigentliche Substanz eines Wesens ist jeweils ein höheres Wesen, das Prinzip eines Wesens ist diesem Wesen selbst übergeordnet. „Kraft ist die Materie der Stoffe, Seele Kraft der Kräfte, Geist ist die Seele der Seelen, Gott ist der Geist der Geister"110. Die Potenz eines Wesens ist seine Substanz. Gott als Potenz des Geistes ist das Prinzip des Menschen, seine Substanz111. Zu dieser Erkenntnis verhilft die produktive Einbildungskraft. Sie erscheint demnach als ein synthetisierendes Prinzip in doppeltem Sinn: sie einigt die Seelenvermögen und die Welt der Gegenständlichkeit. Auf ihrem Hintergrund erweisen sich alle Tätigkeiten des Geistes als ein „unzertrennter Akt", der im Wesen eins ist und nur „nach den Gegenständen oder der Direktion" unterschiedliche Formen annimmt112. Wissen und Wollen, Wissen und Tun, Betrachten und Machen fallen in der produktiven Einbildungskraft als ihrem gemeinsamen Ursprung zusammen und machen nur eine Operation aus113. Aber auch in der gegenständlichen Welt läßt die Phantasie die Einheit des scheinbar Entgegengesetzten zutage treten. In ihrem Lichte übersteigen Natur und Geist ihre Gegensätzlichkeit in einem höheren Prinzip, das den eigentlichen Gegenstand der idealistischen Philosophie bildet114. Natur und Kunst nähern sich gleichfalls auf Grund eines gemeinsamen Schaffungsprinzips und streben eine vollkommene Harmonie an115. Kunst und Moral fallen im Künstler zusammen116. Alle Wissenschaften steuern ihre Vereinigung als letztes Ziel an und sollen e i n e Wissenschaft werden117. Leben und Tod stehen nicht mehr in Widerspruch zueinander, sondern ergänzen und verstärken sich gegenseitig118 und bilden eine Einheit: „Leben ist der Anfang des Todes"119. Der Tod zerstört die Individualität in keiner Weise, er unter109

Fragment 1344. Fragment 802. Fragment 282. 112 Fragment 1330. 113 Fragment 891, 1508, 2817. 114 Vgl Fragment 1509. 115 Fragment 1537. 118 Fragment 2367. 117 Fragment 795. 118 Fragment 2647. 119 Fragment 14. 119

111

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bricht den Wechsel zwischen Seele und Welt, innerem und äußerem Reiz120, bringt aber eine „nähere Selbstverbindung" zustande121. In dieser Uberzeugung fordert Novalis die „Aufhebung des Unterschieds zwischen Leben und Tod" und die „Annihilation des Todes"122. Die Einbildungskraft ermöglicht es also den Jenaern, die Einheit des Menschen und der Welt zu erfassen. Sie bildet die Brücke zwischen den Erscheinungen sowie zwischen Erscheinung und Idee. Nun sind, nach den Worten Wilhelm Schlegels, die Phantasie, „wodurch uns erst die Welt entsteht, und die, wodurch Kunstwerke gebildet werden, dieselbe Kraft, nur in verschiedenen Wirkungsarten" 123 . Die Phantasie enthüllt also den Sinn der Welt — sie ist nämlich auch das Organ für die Religion124 — und befähigt, diesen Sinn in symbolischen Kunstwerken auszusprechen. Die obigen Ausführungen legen es nahe, die produktive Einbildungskraft als das Wesentlichste des romantischen Kunstgenies anzusehen. Und doch liegen die Verhältnisse nicht so klar und einfach, wie es den Anschein haben könnte, denn auch hier spielt die Potenzierung eine bedeutsame Rolle. Das Genie entspringt nicht bloß einer stark entwickelten Phantasie, sondern einer Synthese von Phantasie und Selbstbewußtsein. Wir wollen versuchen, den Vorgang darzustellen; zuerst aber muß darauf hingewiesen werden, daß auch an diesem Punkt die romantische Terminologie weit davon entfernt ist, eindeutig und konsequent zu sein. Die Genieauffassung der Jenaer ist nicht frei von Widersprüchen. Der Leser stößt z. B. öfters auf einen Wechsel der Begriffe Talent und Genie. Das gilt u. a. für Novalis, für den das Talent meistens in der genauen Beobachtung und zweckmäßigen Darstellung besteht; ab und zu wird jedoch die Fähigkeit, das Gegebene zu beobachten und wiederzugeben, nicht mit dem Wort Talent, sondern mit dem Begriff Genie definiert, wobei dann das Genie im engeren Sinn als „Genie des Genies" bezeichnet wird125. Der Klarheit wegen wollen wir uns hier auf diese engere Genieauffassung beschränken. Offenbar ist das Genie durch die volle und harmonische Entwicklung der Einbildungskraft bedingt. Novalis umschreibt es mit den Worten: „das Vermögen, von eingebildeten Gegenständen wie von wirklichen zu handeln und sie auch wie diese zu behandeln" 126 . Andererseits erscheint 120 121 122 123 124 125 126

Fragment 1827. Fragment 14. Fragment 1235. A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 77. Ebd., S. 69. So z. B. in Fragment 21. Fragment 21.

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es im gleichen Zusammenhang als die Fähigkeit, „dreist und sicher" zu sagen, „was es in sich vorgehen sieht". Auf den ersten Blick scheinen beide Definitionen identisch; bei näherer Betrachtimg erhellt aber bald, daß die erste durch die zweite ergänzt wird. Denn das Genie kennzeichnet sich nicht nur durch eine lebhafte Tätigkeit der Phantasie, sondern zugleich durch die Selbstbeobachtung. Es liegt sogar nahe, es als die Fähigkeit des Menschen, sich in der Ausübung seiner Einbildungskraft zu beobachten, zu verstehen. Das wäre jedoch nur eine sehr vorläufige und unvollkommene Definition, denn gerade das, was das Genie spezifisch auszeichnet, ist in ihr nicht vertreten. Wilhelm Schlegel gibt uns einen Wink, wenn er schreibt, das Genie sei der Mensch, in dem „die ursprüngliche Entzweiung sich aufhebt, worin er als ein endliches Wesen sich endlos befangen sieht"127. Solange die Tätigkeit der Einbildungskraft und die bewußte Selbstbeobachtung zwei getrennte Momente sind, ist der Mensch entzweit. Das Genie transzendiert diese Entzweiung, indem es die gewollte Selbstbeobachtung zu einem Instinkt umwandelt, der dann mit der Tätigkeit der Einbildungskraft notwendig verschmilzt. Das Genie darf an keiner „Teilung der Kraft" leiden, sonst ist es geschwächt und unharmonisch128. Es befindet sich dann immer noch im Zustand der Spaltung. Diese soll überwunden und aufgehoben werden durch die Wiedererweckung des Instinkts. „Mit Instinkt hat der Mensch angefangen — mit Instinkt soll der Mensch endigen. Instinkt ist das Genie im Paradiese vor der Periode der Selbstabsonderung (Selbsterkenntnis)" 12 '. Dieses goldene Zeitalter ist nun bekanntlich nicht nur ein mythischer Urweltzustand, sondern auch ein Zukunftstraum und das Ziel der Sehnsucht und des Strebens. Wieder einmal entschleiert sich auch der romantische Geniebegriff als eine Grenzvorstellung, die praktisch unerreichbar ist, die man aber durch eine ständige Annäherung zu verwirklichen bestrebt sein soll. Das romantische Geniebild entsteht also nicht durch die bloße Addierung der produktiven Einbildungskraft und des Selbstbewußtseins; es erwächst vielmehr aus der Synthese, der höheren Einheit dieser beiden Momente, aus ihrer Potenzierung. Beide Momente verstärken sich gegenseitig, indem sie sich in einer umgreifenden Synthese aufheben130. Folgerichtig wird das Genie von Novalis ein „synthetisierendes Prinzip" genannt131. In ihm erfolgt die „innigste Vereinigimg der bewußtlosen und der selbstbewußten Tätigkeit im menschlichen Geiste, des Instinkts und 127

A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 76. Novalis, Fragment 2072. 129 Fragment 1770. iso Vgl. Fragment 1329. 131 Fragment 1289. 128

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der Absicht, der Freiheit und der Notwendigkeit" 132 . Das Genie hat zwar einen „inneren Plural", ein „wahrhaft innerliches Du", mit dem es Umgang zu pflegen weiß; in Wirklichkeit ist es jedoch nicht dieser Plural selbst, sondern „das Resultat eines solchen inneren Plurals", die Synthesis von unbewußter Einbildungskraft und bewußter Selbstbeobachtung 1 ". Mit anderen Worten: „Genie ist ein Verhältnis zwischen Seele und Geist"134, also weder Seele noch Geist, sondern — eine echt Schellingsche Vorstellung — schwebender Übergang vom einen zum anderen, Wiederherstellung der Identität, Rüdeeroberung der ungeteilten Menschheit. „Es umfaßt den ganzen Menschen", schreibt Wilhelm Schlegel135, es besteht in der „innigsten Eintracht" der selbständigen, unbeschränkten Vermögen der Sinnlichkeit und der Geistigkeit, der Phantasie und der Vernunft. Auf Grund des eben Ausgeführten erscheint ein anderer Ausdruck des Novalis zur Definition des Genies geeigneter als der Begriff der Synthese, nämlich das „transsubstantiierende Prinzip"138. Wie im katholischen Gottesdienst geschieht im Genie eine „Wandlung" der getrennten Vermögen in eine lebendige Einheit, ein Vorgang, der auch an alchimistische Prozesse erinnert. Und das Eigentümliche dieser Einheit ist, daß sie die eigene Fassungskraft des Genies selbst geheimnisvoll übersteigt. Wilhelm Schlegel bestätigt diese Ansicht, indem er schreibt: „Man kann sagen, daß es ein charakteristisches Kennzeichen des dichtenden Genies ist, viel mehr zu wissen, als es weiß, daß es weiß"137. Das Genie bringt „lebendige Gedanken" hervor138. Das sind nicht etwa nur Vorstellungen von besonderer Prägnanz, sondern Ideen zur Deutung der Welt und des Lebens, die durch die künstlerische Darstellung lebendig werden, d. h. eine konkrete Realität bekommen. Solche Ideen wurzeln alle in der Grundidee, die dem Genie durch die Einbildungskraft eingegeben wird, d. h. in der allgemeinen Analogie und der Symbolhaftigkeit alles Endlichen. Das Genie besitzt eine „wunderbare Fähigkeit, den Sinn der Natur zu treffen und in ihrem Geist zu handeln"139. Das Werk des Genies ist eine Offenbarung: es macht das Unmögliche möglich, das Mögliche unmöglich, das Unbekannte bekannt und das Bekannte unbekannt140. Das „Unmögliche", d. h. das Irreale der 132

A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 75 f. U3 Vgl, Novalis, Fragment 2962. 131 Fragment 1842. 135 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 76. Novalis, Fragment 1289. 137 A. W. Schlegel, Fragmente aus dem Athenäum, Bd. VIII, S. 15. 139 Novalis, Fragment 1263. 13 » Fragment 1421. 140 Fragment 1289.

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Imagination, wird „möglich", weil die Idee der Einbildungskraft in der genialen Darstellung zugänglich ist; das „Mögliche", d. h. die landläufige Auffassung der äußeren Welt, wird durch die Einwirkung der Phantasie „unmöglich": die von der Idee beleuchtete Wirklichkeit erscheint in einem neuen Licht. Darin besteht die Romantisierung der Welt.

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V. DICHTUNG Die Frage nach der frühromantischen Dichtungsanschauung läßt sich nicht auf die gleiche Weise behandeln wie das entsprechende Problem der übrigen Kunstarten. Es verhält sich damit nicht etwa so, daß man die Wesenszüge der Kunst überhaupt aufzählen und ihnen die Eigentümlichkeiten der besonderen Kunstart Dichtung einfach hinzufügen könnte. Daraus entstünde kein angemessenes Bild. Vor jeder Beschäftigung mit der romantischen Dichtungstheorie muß geklärt werden, wie sich die Dichtung zur Poesie verhält. Es gibt nämlich in frühromantischer Zeit keine Gleichung Dichtung = Poesie. Inhalt und Ausdehnung der beiden Begriffe decken sich nicht. Die Poesie erstreckt sich auf Gebiete, die der Dichtung fremd sind, und es gibt Dichtungen, allerdings schlechte, die mit Poesie nichts zu tun haben. Was ist zunächst Poesie? Die Antwort muß einigermaßen differenziert ausfallen; eindeutig und einfach kann sie schon wegen der Komplexität der Frage selbst nicht sein. Das Problem entzieht sich fast jeder begrifflichen Annäherung. Was in den Anschauungen der Frühromantik zuerst auffällt, ist, daß der Begriff Poesie den Rahmen jeder Kunstdefinition sprengt. Poesie ist nicht zunächst eine Kunst unter anderen, sondern ein kaum bestimmbares kosmisches Element, das vor jeder Kunst und jedem Kunstwollen besteht. Am deutlichsten spricht sich wohl Friedrich Schlegel darüber aus, und zwar auf den ersten Seiten seines Gesprächs über die Poesie. Die „erste, ursprüngliche" Poesie erblickt er in der „formlosen und bewußtlosen, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht". Die ganze Erde ist ihm „ein Gedicht der Gottheit" 1 . Diese Urpoesie als Ingrediens der Schöpfung muß, um vom Menschen wahrgenommen und empfunden zu werden, auf eine entsprechende Fähigkeit der menschlichen Seele wirken können. Nach dem romantischen Gesetz der universellen Analogie muß auch in den Tiefen des Gemüts eine Urkraft vorhanden sein, die der kosmischen Urpoesie entspricht. Friedrich Schlegel schreibt in dieser Hinsicht: die Poesie „blüht von selbst 1

Fr. Schlegel, Gespräch, über die Poesie, KA, Bd. II, S. 285.

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aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet"2. Ähnlich meint sein Bruder: „Unser Dasein ruhet auf dem Unbegreiflichen, und die Poesie, die aus dessen Tiefen hervorgeht, kann dieses nicht rein auflösen wollen"®. Der Anfang der Poesie fällt für ihn mit der ersten Regung des menschlichen Daseins zusammen4. Die Poesie als Urkraft der Menschheit und als Emanation der unbegreiflichen Tiefen des Daseins steht in ständiger Wechselwirkung mit der Poesie als kosmischem Element. Die Poesie ist mithin allgegenwärtig, sowohl im Weltall als auch im Menschen, und zwar einerseits als Fluidum, das in jede Erscheinung dringt, und andererseits als geheimnisvolle Seelenkraft, die auf dieses Fluidum reagiert. Sie entsteht in actu aus jeder wahrhaften Begegnung der Seele mit der Welt; sie bildet die Mitte zwischen Ich und Welt, das Band zwischen den verborgenen Kräften des Weltalls und der unruhigen Seele, die sich nicht mit wissenschaftlicher Erkenntnis begnügt, sondern sich nach einer mystischen Kommunion sehnt. Sie ist „durchaus Zentrum in jeder Hinsicht"5, das wirklich Reale jeder Erscheinung, das Tiefgründige jedes Erlebnisses, der unsichtbar-fühlbare Kern jeder Tätigkeit. Jede Handlung, die um ihrer selbst willen erfolgt und nicht auf einen fremden Zweck gerichtet ist, ist poesieträchtig6. So sind die „innersten Mysterien aller Künste und Wissenschaften" ein „Eigentum der Poesie" 7 . Solche Anschauungen führen uns zum Ältesten Systemprogramm zurück, in dem die Poesie als das A und O gepriesen wird. Fast wörtlich nimmt Wilhelm Schlegel das Systemprogramm wieder auf, wenn er in seinen Berliner Vorlesungen sagt, die Poesie sei das Ursprünglichste, die Ur- und Mutterkunst aller übrigen und auch die letzte Vollendung der Menschheit, der Gipfel der Wissenschaft, die Dolmetscherin der himmlischen Offenbarung8. Sie erscheint ihm als das Unentbehrlichste, das Erste, das Ursprünglichste in allem menschlichen Tun und Denken®, als das Allgegenwärtigste und das Alldurchdringendste10. Sie fließt „aus einer ursprünglichen Hauptanlage des menschlichen Gemüts" hervor11. Das gleiche meint Ebd. A. W. Schlegel, Bürger, Bd. VIII, S. 77 f. 4 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 231. 5 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1827. • Vgl. Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 304; Literary Nr. 1800. 7 Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 324. 8 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 227. » E b d . S. 231. 1 0 Ebd., S. 227. 11 A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 19. 2 3

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auch Friedrich Schlegel mit den einfachen Worten: „Jeder Mensch ist von Natur ein Dichter"12. Der Urgrund unserer Menschheit ist poetisch. Nur ist diese Poesie in uns durch die Kruste des Alltags verdeckt. Wenn es uns gelänge, uns von den Hemmungen der Gewohnheit und der Trägheit zu befreien, würde die Poesie hervorleuchten. „In einem idealischen Zustande der Menschheit würde es nur Poesie geben"13. Mit dieser Darstellung der „form- und bewußtlosen" Poesie ist der Inhalt des Begriffs jedoch noch lange nicht erschöpft. Daneben zeigt sich eine Auffassung, die die Beziehung zur Dichtung und zur Kunst in größerem Maße berücksichtigt. Freilich ist auch diese Auffassung nicht im Handumdrehen zu erläutern. Sie gliedert sich in zwei Hauptmomente, deren Zusammenhang nicht immer deutlich ans Licht tritt. Zunächst wird die Poesie „im allgemeinen Sinn" als das „allen Künsten Gemeinsame, was sich nur nach der besonderen Sphäre ihrer Darstellungen modifiziert", beschrieben14. Sie ist die „Repräsentantin aller Künste und bildet sie gleichsam vor"15. Wo findet sich das Gemeinsame der Künste in dieser Beziehung? In der Produktion von Ideen durch die Phantasie. In jeder Kunst, schreibt Wilhelm Schlegel, gibt es zwei Teile: einen mechanisch-technischen, der je nach Kunstart und Gattung verschieden ist, und einen „poetischen", der allen Künsten gemeinsam ist. Dieser poetische Teil beruht auf der „freien schaffenden Wirksamkeit der Phantasie", einer schöpferischen Tätigkeit, die mit dem Wort poiesis bezeichnet wird16. Den Begriff poiesis versteht Wilhelm Schlegel demnadi im etymologischen Sinn als Hervorbringung, und zwar als Hervorbringung einer Phantasiewelt, die uns „über die gewöhnliche Wirklichkeit" erhebt. „Poesie bezeichnet also in diesem Sinne überhaupt die künstlerische Erfindung, den wunderbaren Akt, wodurch dieselbe die Natur bereichert"17. Eine Bereicherung der Natur im romantisdien Sinn kann selbstverständlich nicht nur darin bestehen, daß ein Werk von Menschenhand zu den schon vorhandenen hinzukommt, sondern vielmehr darin, daß durch die „wunderbare" künstlerische Erfindung die Natur einen unendlichen Sinn bekommt, indem sie sich der symbolischen Deutung durch die Einbildungskraft erschließt. Poesie wäre also das schöpferische Moment der Einbildungskraft und als solches „gleichsam der in allen Künsten überall gegenwärtige Universalgeist"18. Insbesondere bezeichnet 12

Fr. Sdilegel, Literary Notebooks, Nr. 255. Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 324. 14 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 15. 15 A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 14. 18 A. W. Sdilegel, Kunstlehre, S. 15. " Ebd., S. 225. 18 Ebd. 13

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sie die Fähigkeit, den Sinn der konkreten Erscheinungen aufzuspüren, die unendliche Bedeutung des Individuellen, Eigentümlichen zu entdecken. Das ist genau das, was Novalis „poetischen Sinn" nennt, wovon schon im vorigen Kapitel die Rede war. Der zweite Aspekt, unter dem die Poesie im Rahmen dieser mehr kunstbezogenen Auffassung auftritt, läßt sich am besten im Gegensatz zur Kunst im engeren Sinn des Wortes darlegen. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sie das unbewußte Moment in der Entstehimg des Werkes dar, während die 'Kunst' das bewußte Verfahren des Künstlers bei der Ausführung meint. Schelling nimmt in jeder Kunst zwei Komponenten an, eine unbewußte und eine bewußte. Unwillkürlich fühlt sich der echte Künstler zur Schöpfung getrieben; mit der Hervorbringung seines Werkes befriedigt er einen unwiderstehlichen Trieb seiner Natur. Er fühlt, daß er unter einer Macht steht, die ihn Dinge auszusprechen zwingt, über deren Bedeutung er sich nicht immer im klaren ist. Erst diese „bewußtlose Wissenschaft" verleiht dem Werk eine „unergründliche Realität". Eine solche Schaffensfähigkeit hält Schelling für angeboren: sie kann weder gelernt noch gelehrt, noch durch Übung erlangt werden. Er nennt sie 'Poesie' im strengen Sinn, während die 'Kunst' die bewußte Tätigkeit des Künstlers bezeichnet, welche freilich ebenso erforderlich ist wie die unbewußte. Die so aufgefaßte Kunst bezieht sich auf alle Probleme der Formgebung, der äußeren Gestaltung des von der Poesie Eingegebenen. Hier treten Überlegung, Reflexion, Erfahrung, Übung auf den Plan. Diese bewußte Seite der Kunst ist lern- und lehrbar. Was bei Schelling die Namen Poesie und Kunst führt, heißt bei Friedrich Schlegel Instinkt und Absicht. „Form und Stil ist absichtlich; nicht so Geist, Ton und Tendenz", schreibt er19. Geist, Ton und Tendenz entstammen dem sogenannten Instinkt. Das gelungene Kunstwerk stellt zwischen den beiden Phasen der Kunstschöpfung eine vollkommene Harmonie her: „In jedem guten Gedicht muß alles Absicht, und alles Instinkt sein"20. Gehalt und Gestalt müssen miteinander verschmelzen, damit das Werk alles mitteilen kann, was der Urheber hineingelegt hat. Wenn an einer der Komponenten gerüttelt wird, wird auch das Ganze entstellt oder zerstört. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Gedicht in eine fremde Sprache übersetzt wird: „Was in gewöhnlichen, guten oder vortrefflichen Ubersetzungen verloren geht, ist grade das Beste"81. Das wußte übrigens schon Herder. 19 !0 21

Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 445. Fr. Schlegel, Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 149, Nr. 23. Ebd., S. 156, Nr. 73.

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Auch Wackenroder war schon davon überzeugt, daß die absichtliche Arbeit nicht ausreicht, um ein gültiges Kunstwerk zu schaffen, und daß die unbewußte Komponente, bei ihm göttlicher Beistand oder göttlicher Funken genannt, unbedingt nottut 22 . Wilhelm Schlegel wußte ebenfalls, daß ein Kunstwerk organisch entsteht und daß alle erdenkliche bewußte Arbeit kein Gedicht gut macht, das nicht schon „im Mutterleibe" gut war. Er unterscheidet in der Kunst Geist und Buchstaben, „einen schaffenden und einen ausführenden Teil", die aufeinander abgestimmt sein müssen, wobei jedoch der „Geist" der entscheidende Faktor ist, denn er läßt sich nicht willkürlich behandeln und in eine beliebige Form gießen. Die äußere Form kann nur der „getreue Abdruck" der inneren sein23. Der Anteil des Unbewußten kann individuell verschieden sein, ein Verhältnis von Unterbewußtheit und Bewußtheit ist aber in allen Fällen da24. Das vollkommene Kunstwerk erfordert also in romantischen Augen beide Aspekte der schöpferischen Tätigkeit, und ihr harmonischer Zusammenhang, die Identität von Besonnenheit und instinkthafter Inspiration, kennzeichnet das Genie. Poesie in diesem letzten Sinn des Wortes bezeichnet demnach die angeborene unbewußte Tätigkeit, die sich in der Seelentiefe des Dichters als Produkt eines Instinkts entfaltet und die ihm den eigentlichen Gehalt und die innere Form seines Werkes eingibt, eine irrationale Kraft, die in der schöpferischen Phantasie wurzelt und zum Ausdruck drängt. Ihr angemessenster Ausdruck ist die Dichtung. Als einzelne Kunstart hat die Dichtung am allgemeinen Wesen der Kunst teil, und alles, was die Kunst definiert, bestimmt naturgemäß zugleich auch die Dichtung. Im Prinzip sucht sie also wie jede andere Kunstform eine Darstellung des Unendlichen in einem Besonderen, eine symbolische Durchleuchtung konkreter Erscheinungen. Jedoch hebt sie sich von den übrigen Künsten beträchtlich ab, und zwar zunächst durch das Mittel, dessen sie sich bedient: die Sprache. Dichtung geschieht im Bereich der Sprache, und die Worte der Sprache unterscheiden sich von den Ausdruckmitteln der anderen Künste durch ihre abstrakte und 'unendliche' Bedeutung. Auf Grund ihrer doppelten Eigenschaft als konkrete Zeichen und Bedeutungsträger eignen sich die Worte für den Reflex des Unendlichen, der zum Wesen der Kunst gehört, ganz besonders und lassen diesen Reflex in der Dichtung viel unmittelbarer erscheinen als etwa in den bildenden Künsten. Schelling schreibt, die Dichtung behalte „in dem Gegenbild selbst noch die Natur und den Charakter des Idealen, 22 23 21



Wadcenroder, Herzensergießungen, S. 15, 19, 52. A. W. Schlegel, Bürger, Bd. VIII, S. 121 ff. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 30.

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des Wesens, des Allgemeinen bei"25. Auf Grund der Art ihrer Zeichen muß die Dichtung fast notwendigerweise Bild und Begriff zugleich mitteilen. Dieser Zwang ist manchmal als eine zusätzliche Belastung angesehen worden. Novalis hat von einer rein musikalischen Dichtung geträumt, in der die abstrakte Bedeutimg der Worte ausgeschaltet wäre. Im großen und ganzen kommt aber dieser doppelte Aspekt der Sprache der romantischen Poetik sehr entgegen. Behauptet doch Friedrich Schlegel, die Sprache sei, „ursprünglich gedacht, identisch mit der Allegorie"26, wobei noch einmal auf seinen eigenwilligen Sprachgebrauch, der Allegorie für Symbol setzt, hingewiesen sei. Sprache als Symbol ist „ihrer Natur nach nichts anderes als die Bezeichnung des Unendlichen" und daher „ihrer ursprünglichsten, natürlichsten Form nach Poesie"27. Als Identität von endlichem Zeichen und unendlichem Sinn entspricht die Sprache dem romantischen Symbolbegriff und stellt sich demnach als das geeignetste Mittel heraus, das Unendliche anzudeuten. „Die Sprache, welche sich bloß mit göttlichen Dingen beschäftigt, wäre die natürlichste des Menschen, und nicht die Sprache des gemeinen praktischen Lebens" 28 . Wilhelm Schlegel nennt sie „die wunderbarste Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens" und faßt sie auf als „das große, nie vollendete Gedicht, worin die menschliche Natur sich selbst darstellt" 28 . Wie läßt sich, so könnte man fragen, die übergroße Diskrepanz zwischen diesem begeisterten Zujubeln und der eindeutigen Verurteilung der Sprache als Instrument des Unendlichen durch Wackenroder, der in seiner abschätzigen Meinung auch noch von Schleiermacher unterstützt wird, erklären? Die Antwort muß ganz einfach ausfallen: es geht nicht um dieselbe Sprache. Die Sprache, die die schroff negative Stellungnahme Wackenroders hervorlockt, ist das Verständigungsmedium „des gemeinen praktischen Lebens", während hier ihre künstlerische Potenz betrachtet wird. Einerseits wird sie als ein vom Verstand geprägtes zweckgebundenes Mitteilungsmittel angesehen; andererseits tritt sie in ihrer „ursprünglichen Kraft" auf, „die im notwendigen Zusammenhang zwischen den Zeichen der Mitteilung und dem Bezeichneten liegt"30. Das — wenn auch unerreichbare — Ideal der Sprache als Ausdruck der Kunst wäre die völlige Identität von Zeichen und Bedeutung, von Bild und Sinn. Das Begriffliche stellt hier wie gewöhnlich das störende und hemmende Moment dar. Aufgabe des Dichters ist es, sich von der Sprache als einer 25

Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 282. Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 348. 27 Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 113. 28 Ebd. 2 » A. W. Schlegel, Briefe über Philosophie, Silbenmaß und Sprache, Bd. VII, S. 104. 30 Ebd., S. 105.

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„Sammlung logischer Ziffern" zu befreien und sie zur „Darstellung", d. h. zur Andeutung, von Ideen zu machen. Daher die Forderung nach größtmöglicher Bildlichkeit im poetischen Ausdruck, der als eine „Wiederschöpfung der Sprache" zu gelten hat31. Die poetische Sprache soll eine „Kombination des inneren und äußeren Sinnes" sein und „das ganze Gebiet des menschlichen Geistes" umfassen32. Für Wilhelm Schlegel fällt die Ursprache mit der Elementarpoesie zusammen33; die Dichtung ist für ihn eine Sprache in der höheren Potenz34. Um poetisch zu wirken, müssen die modernen Sprachen ihren ganzen Reichtum an Ausdruckskraft und Bildhaftigkeit aufbieten 35 . Zum vollkommenen Ausdrucksmittel der Dichtung gehört ein Maximum an Anschaulichkeit und an Sinnträchtigkeit zugleich. Die dichterische Sprache, die sich dem Ideal der Anschaulichkeit und der gleichzeitigen unendlichen Bedeutung nähert, fällt im Grenzfall aus dem Bereich des Begrifflichen heraus und stellt somit einen ausgezeichneten Reflex des Unendlichen dar, wie er der romantischen Kunstdefinition entspricht. Das dichterische Wort erhebt sich zum Symbol von Ideen und erfüllt mithin die Aufgabe der poiesis als Ideenschöpferin. Noch weniger als die übrigen Künste ist die Dichtung an die gegenständliche Wirklichkeit gebunden; ihr Gebiet ist das des Möglichen. „Was poetisch möglich ist, ist eben deswegen schlechthin wirklich, wie in der Philosophie, was ideal — real"36. Die poetische Idee braucht keine Bestätigung aus dem Reich des Wirklichen — ebensowenig wie der kategorische Imperativ. Ihre Wirklichkeit fällt mit ihrer Möglichkeit zusammen. Sie gewinnt schon dadurch Realität, daß sie in der Einbildungskraft entsteht. „Je poetischer, je wahrer", sagt Novalis. Eine solche Anschauung stützt sich unmittelbar auf die idealistische Philosophie, für welche die Idealität des Ich mit seiner Realität identisch ist. Wer die Realität von der Idealität abgesondert sieht, kann von Poesie nichts verstehen. Der Empirismus, der nur das, was in der Erfahrung liegt, als wahr zu erkennen vermag, ist das Prinzip der Unpoesie. In Wilhelm Schlegels Sprache, die in dieser Hinsicht noch an die traditionelle Terminologie gebunden erscheint, stellt sich die Dichtung nicht die Nachahmung der Natur als Aufgabe, sondern sie will Schönheit erschaffen. Die Poesie, „im weitesten Sinn genommen", ist für ihn „die 31 32 33 34 35 38

A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 83. Ebd., S. 103. Ebd., S. 231, 242. Ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 247. Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 282 ff.

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Fähigkeit, das Schöne zu ersinnen und es sichtbar oder hörbar darzustellen", und als solche eine „allgemeine Gabe des Himmels"37. Die Schönheit versteht Wilhelm Schlegel im platonischen Sinn als die sinnliche Erscheinimg einer Idee38, also als Symbol. Ein Kreis oder ein Kubus, schreibt er, können an sich höchstens vollkommen sein; schön sind sie erst, wenn sie als Symbole betrachtet werden3'. Das ist der Punkt, an dem er sich in der Ästhetik von Kant distanziert, bei dessen Definition der Schönheit er jede Beziehung auf ein Unendliches vermißt40. Erst der Idealismus bringt seiner Meinung nach eine gültige Antwort, indem er das Sdiöne mit der Fähigkeit des Menschen gleichstellt, sich im Zustand des Endlichen und in der Spaltung seines Wesens seiner ursprünglichen Einheit bewußt zu werden41. Die Schönheit versetzt uns jenseits des Sündenfalls in den Stand der Unschuld, in das goldene Zeitalter zurück, da Geist und Materie, Intelligenz und Natur, Freiheit und Notwendigkeit noch nicht auseinander klafften, sondern eine vollkommene Einheit ausmachten42. Nun soll die Kunst als Schöpferin von Schönheit in jedem Betrachter diesen Zustand der ursprünglichen Einheit wiederherstellen, nicht auf rein abstraktem Wege wie die Philosophie, sondern durch Sinnbilder, in denen Idee und Anschauung eins sind43. „Die Poesie ist eine künstliche Herstellung jenes mythischen Zustandes, ein freiwilliges und waches Träumen" 44 . Damit wird die klassische Forderung nach Wahrscheinlichkeit über den Haufen geworfen. Wahrscheinlich im eigentlichen Sinn kann etwas nur für den Verstand sein. Auf das Kunstwerk läßt sich diese Kategorie nicht ohne weiteres anwenden: der Dichter kann uns glauben machen, was er will, er kann uns in fremde Welten versetzen, die uns heimisch vorkommen, er kann in seiner Schöpfung nach den ureigensten Gesetzen seiner Phantasie handeln, wenn der „Zauber" seiner Darstellung dazu ausreicht45. Das tut der Wahrheit seiner Dichtung keinerlei Abbruch, denn diese hegt nicht in der Ähnlichkeit mit dem Gegebenen oder in der Anwendung physikalischer und moralischer Gesetze, sondern einzig und allein im Symbolwert der Bilder. Alles, was die menschliche Natur mit Notwendigkeit schafft, ist wahr, also auch die Schöpfungen der Phantasie, sofern sie spontan und unabsichtlich sind46. Ihre Wahrheit liegt freilich A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. V, S. 5. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 39; vgl. S. 68 und 81. 3 9 Ebd., S. 68. 4 0 Ebd., S. 65,71. 4 1 Ebd., S. 52. 4 2 Ebd., S. 78. 4 3 Ebd., S. 52. 4 4 Ebd., S. 283. 4 5 Ebd., S. 87. 4 « Ebd., S. 282 f.

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nicht im Inhalt der Vorstellungen, sondern in ihrer symbolischen Bedeutung. Jede dichterische Schöpfung der Einbildungskraft beruht auf Wahrheit. Die Dichtung erschöpft sich also ebensowenig wie die anderen Künste in der Wiedergabe der Wirklichkeit; sie „bildet" das Unendliche ins Endliche, das Ideale ins Reale, den Geist in die Natur, das Wesen in die Erscheinung, die Ideen in das Leben „ein". Sie „pflanzt die idealistischen Gottheiten in die Natur"47; sie madit die Ideen real und veranschaulicht sie als Götter48. Ihrem Wesen nach hat die poetische Idee am allgemeinen Charakter der künstlerischen Idee teil. Sie belebt das Kunstwerk als sein schöpferisches Prinzip, und auf Grund dieser Vorrangstellung bildet sie mit der sie hervorbringenden Phantasie den Zentralbegriff der frühromantischen Dichtungstheorie. Auf ihr beruht die immer wieder geforderte und gepriesene Einheit des Werkes, die — wenn auch mit unterschiedlicher Begründung — von allen Romantikern zum Dogma erhoben wird. Wilhelm Schlegel macht sich über diejenigen lustig, die an einem dichterischen Kunstwerk nur einzelne „Schönheiten" schätzen, während das Ganze für sie „gar nicht vorhanden" ist. Eine künstlerische Vollkommenheit, meint er, kann es nur dann geben, wenn alles bis ins kleinste Detail aufs Ganze bezogen ist, und nichts ist falscher, als in einem Kunstwerk ein Mosaik, eine „Zusammenfügung toter Partikelchen" zu erblicken. Das Einzelne existiert nur vermittels des Ganzen49. Das Ganze muß erst „absolut gesetzt", es kann nicht aus einzelnen Elementen „zusammengestückt" werden; vielmehr müssen alle Einzelheiten aus ihm entwickelt werden50. Am ausführlichsten wird die Einheit und die ihr zugrunde liegende Idee von Novalis dargestellt. Eine Dichtung kann kein echtes Kunstwerk, sondern nur ein „Sack voll Kunstfragmente" sein, solange sie keine auf einer Idee beruhende Einheit aufweist. Die Idee selbst heißt bei Novalis Kern, inneres Leben, Mittelpunkt, Plan, große Verteilung, Sinn, Geist, Einheit des Mannigfachen, organischer Keim usw.51. Sie erscheint zunächst als eine Dissonanz, die sich allmählich zur Harmonie entwickelt, als „ein Mißverhältnis, was sich nachgerade ausgleichen soll". Sie „begreift die Wechselglieder in einem Verhältnis, das nicht so bleiben kann". Um sie zu veranschaulichen, beruft sich Novalis auf das Beispiel des Wilhelm Meister, in dem schon „im ersten Moment" zwei gegensätzliche Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 469. Ebd., S. 471. 49 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 27. s° Ebd., S. 251. 51 Novalis, Fragment 382, 467. 47

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Tendenzen einander aufzuheben suchen: einerseits der Kaufmannsstand, das Geschäftsleben, der „Nutzen"; andererseits das Streben nach dem Höchsten, der Sinn für Kirnst, die „Schönheit". Die beiden Tendenzen werden in einer Reihe von Gestalten und Episoden verkörpert, und eine von beiden müßte die andere überspielen, wenn sie nicht durch Natalie zu einer synthetischen Übersteigung des Gegensatzes geführt würden 52 . Ein solcher Gegensatz und seine Überwindung machen zusammen die sogenannte „Vereinigungsidee" oder, wie Novalis auch sagt, die „ideenreiche Idee" des Werkes aus. Diese poetische Idee erscheint als ein organischer Keim, „der sich frei zu einer unbestimmte Individuen enthaltenden, unendlich individuellen, allbildsamen Gestalt entwickelt, ausbildet" 53 . In ihr kreuzen sich „mannigfaltige Gedanken, Welten und Stimmungen"; je zahlreicher sie sind, desto „gediegener, individueller und reizender" ist die Idee54. Die so aufgefaßte poetische Idee stellt demnach eine dialektische Einheit dar, die aus einer Thesis, einer Antithesis und einer Synthesis besteht. Thesis, manchmal auch Gefühl oder Stoff genannt, und Antithesis, auch als Reflexion oder Form bezeichnet, treten in eine Spannung, die durch ihre Auflösung die Idee verwirklicht. Im Wilhelm Meister tritt das thetische Wirkliche in Widerspruch zum antithetischen Möglichen (Kaufmannsstand einerseits, Streben nach dem Höchsten andererseits), und die Spannung löst sich im Notwendigen auf, das sich aus den beiden ersten Momenten ergibt55. Diese Synthesis gebietet der „Zentrifugaltendenz" der sonstigen Elemente Einhalt und zwingt diese, „sich zu einer Bildung zu vereinigen, um einen Punkt her zu konsolidieren". Erst sie gibt dem Ganzen eine Richtung und einen Sinn; sie enthält die eigentliche Bedeutung des Werkes, gibt ihm seine tiefere Einheit, ordnet sich alle Momente zu und wird zum Kern einer geistigen Welt. Sie „bildet eine Welt aus nichts" 5 '. Die enge Verwandtschaft zwischen der poetischen Idee als sinngebender Einheit und der intellektuellen Anschauung als philosophischer Grundoperation fällt ohne weiteres in die Augen. In beiden Fällen handelt es sich um ein Schweben über zwei Polen, die darüber hinaus mit denselben Termini bezeichnet werden: Gefühl und Reflexion. Diese Ähnlichkeit bildet einen der wesentlichen Gründe, warum in Novalis'scher Sicht Philosophie und Poesie zusammenfallen. Nur der Ausdruck unterscheidet sie voneinander. Philosophie ist, wie oben ausgeführt, eine 52 53 54 55 56

Fragment 1018. Fragment 1030. Fragment 1178. Vgl. Fragment 589. Vgl. Fragment 1018.

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Kunst, die im Inneren der Seele aufgehalten wird und darum nicht zur künstlerischen Gestaltung gelangt, die aber auf der gleichen Uroperation wie die Dichtung beruht. Das besagt das Novalis'sche Fragment 2171: „Der Philosoph wäre am Ende auch nur der innere Dichter." Mit dem Verhältnis zwischen Poesie und Philosophie haben sich die Frühromantiker ausgiebig befaßt. Obschon das Problem bereits im Systemprogramm gelöst zu sein scheint, indem der Poesie der Vorrang vor der Philosophie zugestanden wird, bleibt die Begründung dieser vorläufigen Lösung eine ständige Sorge der Jenaer Schule. Der hauptsächlich von Friedrich Schlegel immer wieder benutzte Ausdruck „Transzendentalpoesie" kann ein gewisses Licht auf die einschlägigen Gedankengänge der Schule werfen. „Es gibt eine Poesie", schreibt Schlegel, „deren Eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte" 57 . In deutlicher Anlehnung an die idealistische Philosophie unterstreicht er hier eine Dichtungsauffassving, die zweierlei voraussetzt: erstens ist der Gegenstand der Dichtung nicht das Reale, das Gegebene, das Vorhandene, sondern ein Verhältnis zwischen diesem Realen und dem dazu Gedachten, Gewollten, Erstrebten; zweitens soll die Dichtung nicht nur einen Gegenstand darstellen, sondern zugleich sich selbst und somit „Poesie der Poesie" werden. Die erste Voraussetzung entspricht der Novalis'schen Idee und deren Dialektik. Das Reale wäre im Wilhelm Meister der Kaufmannsstand, das Ideale das Streben nach dem Höchsten, und das Verhältnis der beiden die Synthese der „Wechselglieder". Da sich Schlegel spontan im Dichtungstechnischen bewegt und mehr in Dichtungskategorien denkt als Novalis, kostet es ihn wenig Mühe, für das in Frage stehende Verhältnis die Schillersche Dichtungstypologie zu übernehmen und drei Grundtypen zu unterscheiden: die Satire, in der es eine „absolute Verschiedenheit des Idealen und des Realen" gibt, weil der vorhandene Zustand oder die gegebene Tatsache dem dazu Gedachten entgegengesetzt ist; die Elegie, die „in der Mitte schwebt" und die Idylle, bei der eine „absolute Identität" des Idealen und des Realen zu verzeichnen ist, weil in ihr der dargestellte Zustand mit dem Willen und der Reflexion des Darstellers vollkommen übereinstimmt58. Jedoch gilt das Verhältnis des Realen und des Idealen nicht allein für das Ganze und die Gesamtkonzeption eines Werkes, sondern auch für jeden einzelnen Teil desselben: „Nicht bloß das Ganze in der modernen Poesie muß idealisch sein, sondern auch jeder Teil, jeder Punkt muß noch aus dreien Bestandteilen konstruktibel sein", 57 58

Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 204, Nr. 238. Ebd.

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wobei die Bedeutung des Wortes idealisch aus dem Zusammenhang erhellt 5 '. Der zweiten Voraussetzung entsprechend soll sich die Dichtung „mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung" vereinigen, damit am Ende eine „poetische Theorie des Dichtungsvermögens" entsteht*0. Mit anderen Worten: die Dichtung soll die in ihr tätige Dichtungskraft irgendwie widerspiegeln und zur Darstellung bringen. Poesie der Poesie meint ja hauptsächlich die Dichtung, die sich selbst zum Gegenstand nimmt und eine Selbstoffenbarung anstrebt. Ein anderer Ausdruck dafür ist „spekulative" 81 oder eben Transzendentalpoesie. Ob dieser zweite Punkt in Schlegels Definition eine von vornherein gegebene Position der romantischen Poetik ist oder aber erst auf dem Umweg über Schlegels persönliche Anlage und sozusagen zufällig gewonnen wurde, ist schwer zu entscheiden. Gewiß ist, daß diese Idee einer Poesie in der zweiten Potenz sich auf die frühromantische Theorie fruchtbar ausgewirkt und ihr ein eigentümliches Gepräge aufgedrückt hat; ihr Ursprung könnte aber in Friedrich Schlegels poetisch-schöpferischer Schwäche liegen. War doch die sogenannte Transzendentalpoesie für ihn das Mittel, sich für einen Dichter zu halten, indem er mit diesem Begriff das ihm vertraute Feld der kritischen Reflexion und der philosophischen Spekulation mit scheinbarem Recht ins Reich der Poesie einbezog. Er war sich seiner Grenzen bewußt und hat dies mehrmals ausgedrückt. Er schreibt unter anderm: „Geschichte meines poetischen Gefühls. Sinn für negative Transzendentalpoesie (für absolut Satirisch-Polemisches).. ."'2. Das Wort negativ bezeichnet in diesem Zusammenhang einen Uberfluß an 'Ideal', an Reflexion, an Geist und einen Mangel an 'Realem', an Stoff, an eigentlich dichterischer Substanz; daneben weist es auf die eine Seite der Poesie hin, die Schlegel mit dem Begriff polemisch-satirisch umschreibt und die bei einer vollgültigen Dichtung bloß das Pendant zur positiven Seite, zum sogenannten 'Mystischen1 ausmachen sollte, von dem Schlegel wußte, daß er es nicht genügend beherrschte". Offenbar lauerte hinter einer solchen Position die Gefahr eines Uberhandnehmens der Reflexion und einer dadurch verursachten Ausschaltung des Gefühls und eben des 'Mystischen'. Wilhelm Schlegel hat diese Gefahr gesehen und davor gewarnt, indem er zu zeigen versuchte, daß die Koexistenz von Gefühl und Reflexion einem ewigen Gesetz des menschlichen Seins entspricht. „Es soll und darf nichts an unserem Gefühl 59 60 61 62 63

Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 456. Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 204, Nr. 238. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 556. Ebd., Nr. 1043. Vgl. ebd., Nr. 766.

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selbst mit Willkür verändert werden", schreibt er, „sondern wir müssen nur frei darüber reflektieren, unsere Empfänglichkeit selbst zum Gegenstande unserer Selbständigkeit machen"84. Diese Koexistenz von Sein und Bewußtsein, Verlorensein im Objekt und Selbständigkeit der Distanz und der Reflexion fließt notwendigerweise aus dem „beständigen Pulsieren" unseres Daseins zwischen einer „nach außen hin sich verbreitenden" und einer „in sich selbst zurückgehenden Tätigkeit", das sich schon in der bloßen Sinneswahrnehmung zeigt und „in einer höheren Potenz" in der Poesie aktiv werden soll65. Spekulation ist für Wilhelm Schlegel nichts anderes als die Selbstanschauung des Geistes, das Selbstbewußtsein. Damit bestätigt er die oben genannte Definition der spekulativen Poesie als einer Dichtimg, die sich selbst zum Gegenstand nimmt". Mehrfach hat er dieser Tätigkeit, „durch welche zuerst etwas Poetisches zustandegebracht wird" und die sich dann „auf ihr Resultat zurückwendet", ihre Stellung in dem „inneren Organismus" des Geistes angewiesen und sie auf allgemeine Gesetze des geistigen Lebens zurückgeführt". Er nennt sie auch Spekulation der Phantasie68 und versteht darunter die Handlung der Einbildungskraft, die etwas schafft und sich auf das Geschaffene besinnt. „Man hat vortreffliche Gedichte über die Dichtkunst", schreibt er, „allein wie weit höher konnte ein Dichter sich schwingen, der sein eigenes Genie gleichsam in der Werkstatt seiner Schöpfungen belauschte" 6 '. Der Produzierende, hätte sein Bruder gesagt, muß mit dem Produkt zugleich dargestellt werden. Im Gebrauch des Wortes Transzendentalpoesie ist Novalis sparsamer als Friedrich Schlegel; seine Dichtungsanschauung beruht jedoch gleichfalls auf diesem Begriff, wenn es auch den Anschein hat, als spiele bei ihm die erste Voraussetzung eine größere Rolle als die zweite. Im Reiche der Dichtung unterscheidet Novalis zwischen Poesie und Nicht-Poesie. Letztere umschreibt er gelegentlich mit dem Ausdruck „poetische Musik und Malerei", und er warnt davor, sie mit echter Poesie zu verwechseln. Einzelne „Schönheiten" machen aus einer Dichtung noch lange kein poetisches Kunstwerk. Tieck verfalle immer wieder dieser Gefahr, und auch Goethe gerate manchmal auf diese falsche Spur. Der Dichter, schreibt Novalis, „hat bloß mit Begriffen zu tun", und alle Schönheiten in seinem Werk haben als einzige Funktion, „Begriffszeichen" zu sein70. Was er hier 84

A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 26. Ebd. «« Ebd., S. 49. " Ebd., S. 226. «8 Ebd., S. 251. 99 A. W. Schlegel, Über die Künstler, ein Gedicht von Schiller, Bd. VII, S. 6. 70 Novalis, Fragment 3008. 65

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unter Begriff versteht, ist nichts anderes als das, was er gewöhnlich Idee nennt, allerdings in der schon bei Friedrich Schlegel festgestellten Bedeutung des Wortes, die seine Anwendung auf einzelne Bestandteile der Dichtung mit einbezieht. Daß es sich nicht um Begriffe im landläufigen Sinn handelt, erhellt aus vielen ausführlicheren Fragmenten, in denen der Begriff in der gewöhnlichen Bedeutung aus dem Reich der Poesie verbannt wird. Ideen als Synthesen von Stoff und Reflexion „transzendieren" die beiden „Wechselglieder" und erheben somit die Dichtung zur Transzendentalpoesie im Schlegelschen Sinn. Für das Verhältnis von Poesie und Philosophie läßt sich daraus schließen, daß Reflexion und Synthese beiden Bereichen angehören und daß der Dichter, der das „Denken" aufgibt, d. h. auf die Produktion von Ideen verzichtet, der falschen, unechten Poesie zum Opfer fällt und als Dichter versagt. „Die Trennung von Poet und Denker ist nur scheinbar und zum Nachteil beider"; sie ist „das Zeichen einer Krankheit und krankhaften Konstitution". „Dichter ist nur der höchste Grad des Denkers" 71 . Dichtung ist anschauliches Denken, und Philosophie geht von einer denkerischen Anschauung aus. In Novalis'scher Sicht ist Dichtung gleichsam der Exponent der Philosophie, ihre Vertreterin im Reiche des Realen, des Objektiven, ihr sichtbarer Ausdruck, ihr „Held". Die Philosophie ist ihre Wurzel und ihre Grundlage, die „Theorie", die sie „zum Grundsatz erhebt" und vor einer Verzettelung in Zeitvertreibskünste und bloß angenehme Gesellschaftsspiele schützt. Erst die Philosophie zeigt, „was die Poesie sei, daß sie eins und alles sei"72, denn „die transzendentale Poesie ist aus Philosophie und Poesie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transzendentalen Funktionen und enthält in der Tat das Transzendentale überhaupt" 73 . Nicht nur als Held und Exponent steht aber die Poesie mit der Philosophie in Verbindung, sondern auch als deren „Zweck", „Bedeutung", „Schlüssel"74 und paradoxerweise zugleich als ein Mittel zu ihrer Mitteilung. Die Philosophie verhält sich zur Dichtung wie das Mögliche zum Wirklichen; sie „bereitet die Welt zu dem wirksamen Einfluß der Ideen", während die Poesie diesen Einfluß direkt ausübt. Letztere gibt der Philosophie „anmutiges Leben"; sie führt sie ins konkrete Menschendasein hinein, macht sie zugänglich und fruchtbar. Die Dichtung erweckt den Sinn für das Ganze, das Universum; sie hebt das Individuum aus 71 72 73 74

Fragment Fragment Fragment Fragment

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1894. 1056. 823. 751, 807.

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seiner stumpfen Isoliertheit heraus und stellt die Verbindung mit dem Unendlichen her: „das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im Individuum" 75 . Sie schafft „die höchste Sympathie und Koaktivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und des Unendlichen" 76 . In einer solchen verbindenden, synthetisierenden Funktion bestehen das Wesen und die Wirkung der Poesie77. „Der Dichter löst alle Bande auf", seine Worte sind „Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen" 78 : das dichterische Wort ist eine Analogienquelle, seine evozierende Kraft ist weltschöpferisch. Unter diesem Aspekt ist Dichtung gewissermaßen ein technisches Mittel, die Philosophie lebendig und konkret zu machen, sie ist „ein Teil der philosophischen Technik". Freilich hat die Dichtung vor der Philosophie den Vorzug, daß sie sich nicht ausschließlich wie diese auf die Vernunft bezieht; sie ist „unter den Empfindungen, was Philosophie in Beziehung auf Gedanken ist"79. Sie erreicht ihr philosophisches Ziel auf dem Umweg der Gemütserregung. Sie ist „Gemütserregungskunst" 80 . Sie stimmt das Gemüt harmonisch und bewirkt, daß in dem von ihr geschaffenen Gemütszustand „jedes Ding seine gehörige Ansicht, alles seine passende Begleitung und Umgebung findet". Sie erweckt Ahnungen und Erinnerungen, erweitert die Seele, läßt uns mit allem in Kommunion geraten81, „löst fremdes Dasein in eignem auf"82, mutet natürlich und notwendig an und ist doch wunderbar 83 . Sie öffnet allen magischen Zaubern die Tore des Gemüts, und die eigentliche Einheit und Bedeutung eines dichterischen Kunstwerks liegt in dem Seelenzustand, den es erweckt84. Sie versetzt das Gemüt „in ein mannigfaches Spiel von Bewegungen" 85 , bringt „innere Stimmungen und Gemälde oder Anschauungen" hervor86. Dennoch ist in Novalis' Augen die direkte Gemütserregung kein absolutes Erfordernis der Dichtung; die Rührung kann auch indirekt erfolgen, nämlich durch das Symbol. „Alle Darstellung des Dichters muß sym75

Fragment 807. Fragment 751, 807. 77 Vgl. Fragment 1932. 78 Vgl. Fragment 808. 79 Vgl. Fragment 1955. 80 Vgl. Fragment 2907. 81 Vgl. Fragment 2638. 82 Vgl. Fragment 822. 83 Vgl. Fragment 2638. 84 Vgl. Fragment 3010. 85 Vgl. Fragment 2857. 8 » Vgl. Fragment 2907.

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bolisch o d e r rührend sein"87. Das Symbolische einer Dichtung kommt ihm einer mittelbaren Rührung gleich: es „veranlaßt Selbsttätigkeit", bringt ein „Handeln des Geistes" zuwege, leitet „vom Schein aufs Sein", von der „Anschauung zur Vorstellung" über88. Dies gilt besonders für Naturschilderungen, denen der echte Dichter einen symbolischen Sinn abgewinnt. Dadurch erhebt er sich zum „Vorstellungspropheten der Natur" und zur „Stimme des Weltalls"89, wozu die bloße Nachahmung der Natur ihn nie befähigen könnte, denn diese Nachahmung ist „durchaus das Gegenteil" der Poesie90. Diese besteht in einer „freien, selbständigen Tätigkeit" und in einem „Sieg über die rohe Natur" in und außer uns91. Sie ahmt nicht nach, sie beseelt „mit besonderm, eigentümlichen Sinn" alle Dinge und Vorgänge, die sie sich zum Thema wählt; sie ist der „redende Geist" ihrer Gegenstände 92 . Ihre Schöpfungen sind eigentümlich, individuell, konkret, und doch ist ihr eigentliches Gebiet das Allgemeine, das Unendliche oder wie es sonst heißt93. Sie bietet eine „Wechselvollendung des Bildes und des Begriffs", bringt den konkreten Gegenstand und zugleich seine symbolische, universelle Bedeutung zum Ausdruck94, und das Finden dieser Bedeutung erfüllt den Leser mit einer Genugtuung, die der Gemütserregimg gleichkommt. Auch Wilhelm Schlegel meint, die Welt werde erst dadurch lebendig, daß sie in der Dichtung eine symbolische Deutung erfährt. „Dichten", sagt er, „ist nichts anderes als ein ewiges Symbolisieren; wir suchen entweder für etwas Geistiges eine äußere Hülle oder wir beziehen ein Äußeres auf ein unsichtbares Inneres"; und dabei nimmt er das Wort dichten in seinem weitesten Sinn, d. h. als die allen Künsten zugrunde liegende Tätigkeit95. Der Glaube an die Erkennbarkeit der Welt durch den Verstand ist ihm eine „unpoetische" Ansicht der Dinge, bei der der Geist an der Oberfläche bleibt und sich mit der wissenschaftlichen Deutung der Erscheinungen begnügt, während die poetische Symbolisierung der Welt in Bildern und Zeichen die Unerschöpflichkeit jeder Erscheinung, ihre unendliche Sinnträchtigkeit veranschaulicht, was den Geist dazu anregt, immer weiter zu forschen und aktiv zu bleiben". 87 88 89 60 91 92 93 94 95 98

Vgl. Fragment 3083. Ebd. Ebd. Novalis, Briefe, Bd. V, S. 294. Novalis, Fragment 412. Fragment 3069. Vgl. Fragment 3066. Vgl. Novalis, Briefe, Bd. V, S. 247 f. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 81 f. Ebd.

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Die poetische Symbolisierung schützt die frühromantische Dichtungstheorie vor jeder Verwechslung zwischen echter und rhetorischer Poesie. Während die echte Dichtung im Bereich der Ideen erfolgt, wird die rhetorische vom Verstand „entworfen", der sich dann der Phantasie bedient, um seine Begriffe darzustellen97. Eine solche Poesie, in der der Verstand die Rolle der schöpferischen Erfindungskraft usurpiert, ist eigentlich Prosa. Novalis definiert sie als „beschränkte Rede", indem er sie als Mittel darstellt, das auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist und im Gegensatz zur echten Poesie nie zum Selbstzweck werden kann98. Sie ist eine „künstliche" Poesie, deren Wesen darin besteht, einer fremden Absicht zu dienen: sie bezweckt eine „bestimmte Mitteilung, Erregung eines bestimmten Gedankens" 99 . In der romantischen Poesie dagegen führt der Verstand als „Inbegriff der Talente" die Anregungen der setzenden Vernunft und der entwerfenden Phantasie aus. In dieser Zweiheit der Ziele und Verfahren liegt für Novalis der Unterschied „zwischen Dichten und ein Gedicht machen"190. Die Darstellung der Novalis'schen Poetik kann sich gewöhnlich von gewissen Formeln nicht losreißen, die in ihrer aphoristischen Kürze und durch ihren Ton unumstößlicher Uberzeugving das Fundament und die Eckpfeiler dieser Poetik zu bilden scheinen. Die Idee von der Poesie als dem absolut Reellen, die ab und zu für den Kern der Novalis'schen Philosophie gehalten wird und in dem Gedanken gipfelt: „je poetischer, je wahrer" 191 , oder etwa die Vorstellung von der Allwissenheit des Dichters192, der die Natur besser verstehe als der wissenschaftliche Kopf19®, stehen freilich nicht in Widerspruch zu den sonstigen Ansichten des Dichters, sind aber dermaßen zugespitzt formuliert, daß sie leicht einen falschen Eindruck erwecken dürften. Gehört doch die „originelle, wunderliche, neue" Formulierung zum selbstgewählten Kanon des Novalis104, und die Gefahr des Mißverständnisses oder der Gewichtsverlagerung ist ausgerechnet in den geglückt und prägnant anmutenden Formeln besonders groß. Wie überall soll auch hier der Zusammenhang mit dem Ganzen als Prüfstein dienen. 87 88 88 100 101 102 103 104

Novalis, Fragment 873. Novalis, Briefe, Bd. V, S. 249. Novalis, Fragment 989. Fragment 873. Fragment 1247. Fragment 1072. Fragment 2555. Novalis, Briefe, Bd. V, S. 294.

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Gewiß entsprechen diese Definitionen der Poesie der großen Bedeutung, die ihr von Novalis verliehen wird. Die Gefahr besteht nur darin, daß man sich auf Grund der radikalen Formulierungen dazu verleiten lassen könnte, die Poesie als eine einmalig privilegierte Funktion ohne jede Gemeinsamkeit mit den übrigen Tätigkeiten des Geistes anzusehen. Eine solche Ansicht wäre falsch, denn die Poesie ordnet sich bei Novalis in den Zusammenhang seines Weltbildes ein und ist mit den anderen Funktionen des Geistes wesensverwandt. Sie wird einmal definiert: „Dichtkunst ist wohl nur willkürlicher, tätiger, produktiver Gebrauch unserer Organe und vielleicht wäre Denken selbst nicht etwas viel anderes — und Denken und Dichten also einerlei"105; oder auch: „Die ganze Poesie beruht auf tätiger Ideenassoziation"106. Ähnliche Ausdrücke werden von Novalis auch für andere Tätigkeiten benutzt und machen die Kontinuität seiner Dichtungsauffassung mit seinem allgemeinen Weltbild deutlich. Der spezifische Hauptunterschied zwischen Poesie und reinem Denken liegt in der verschiedenen Betonung des Individuellen. Die Darstellung des Individuellen kennzeichnet die Poesie im Gegensatz zur Philosophie, die sich von vornherein im Bereich des Absoluten und Allgemeinen bewegt. Die beste Umschreibung des poetischen Sinnes wäre vielleicht: Sinn für die Unendlichkeit des Individuums. In dieser Hinsicht hebt sich der Sinn für Poesie von den anderen Funktionen des Gemüts beträchtlich ab, und Novalis scheint ihn manchmal für angeboren zu halten, so wenig wahrscheinlich ist es ihm, daß er gelehrt und gelernt werden könnte. Deshalb drückt sich Novalis ab und zu im Blick auf die Möglichkeit einer Definition der Poesie sehr negativ aus: man müsse „unmittelbar wissen und fühlen", was Poesie sei, sonst werde man es durch keine Erklärung verstehen. Die Poesie kommt ihm bisweilen „indefinissabel" vor107. Trotzdem läßt er sich an mancher Stelle auf Approximationen ein, die wichtige Fingerzeige sein können. Den Sinn für Poesie faßt er auf als den „Sinn für das Eigentümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende, das Notwendig-Zufällige" 108 . Die Aneinanderreihung dieser Adjektive, die offenbar der gleichen Bedeutungssphäre angehören, ist sehr aufschlußreich. Das Unbekannte und Geheimnisvolle, das Nichtoffenbare, das offenbart werden soll, i s t das Eigentümliche (im romantischen Sprachgebrauch ein anderes Wort für das Individuelle), das Personelle, das Zufällige, das notwendig zufällig, d. h. von jedem Geistes105 106 107 108

Novalis, Fragment 2674. Fragment 2416. Fragment 3028, 2053. Fragment 3056.

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gesetz unabhängig ist. Individuum est ineffabile, so lautet eine althergebrachte philosophische Uberzeugung. Die Darstellung des Individuellen hat in der Philosophie und im reinen Denken keinen Raum. Sie gehört entweder in die historischen Wissenschaften oder in die Poesie, und die immer wieder hervorgehobene Verwandtschaft dieser Bereiche gründet sich für romantische Augen hauptsächlich auf die gemeinsame Wiedergabe des Individuellen. Das ineffabile, das Unsagbare, Undarstellbare wird durch die Poesie dargestellt. Sie dringt ins Reich des rational Unerkennbaren, „sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare" 10 *. Auf Grund dieser Fähigkeit, die Unendlichkeit des Individuellen wahrzunehmen, hat der Sinn für Poesie „viel mit dem Sinn für Mystizism gemein" und weist eine „nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt" auf110. Ihm kann ein beliebiger Gegenstand „Weltorgan" werden: „Jedes Willkürliche, Zufällige, Individuelle kann unser Weltorgan werden. Ein Gesicht, ein Stern, eine Gegend, ein alter Baum usw. kann Epoche in unserem Inneren machen"111. Die Evokationskraft der Gegenstände gehört mit zu ihrer Unendlichkeit. Wird doch das Individuum von Novalis als „ein magisches Prinzip" definiert112. Im poetischen Gemüt zaubert ein zufälliger Gegenstand eine poetische Stimmung und eine poetische Weltansicht hervor, wenn er im richtigen Augenblick erscheint. Die Fähigkeit, die Gegenstände als Anlässe zur poetischen Anschauung der Welt aufzunehmen, ist wohl ein Teil der „höchsten Empfänglichkeit für eigentümliche Natur", die Novalis als den höchsten Sinn bezeichnet113. Sinn für Poesie wäre also, genauer betrachtet, die Fähigkeit, das Individuelle in seiner Eigenschaft als Evokation einer unendlichen Bedeutung und als Erregung einer Affektwirkung wahrzunehmen und darzustellen. Damit erreicht die Poesie ihren „Zweck der Zwecke": sie erhebt den Menschen über sich selbst114, sie „poetisiert", „moralisiert", „romantisiert" die Welt, indem sie das Einzelne im Lichte des Universalen, des Geistigen erscheinen läßt, die irdische Welt verklärt und an ihrer „Gemütwerdung", am Sieg der Aktivität des Geistes über die Trägheit der Natur, am Triumph der „neuen, gebildeten, poetischen" Weltperiode über das prosaische Zeitalter des Nutzens arbeitet116. ,0

» Ebd. Ebd. Fragment 3050. 112 Fragment 2531. 113 Fragment 73. 114 Fragment 818. 115 Fragment 1820, 2715. 110 1,1

9 Nivelle

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Das Gesetz der Individualität betrifft in romantischer Sicht sowohl den schaffenden Dichter als auch das geschaffene Kunstwerk. Am eindringlichsten erklingt die Forderung nach der Individualität des Dichters bei Friedrich Schlegel. Erst die „Eigentümlichkeit" des Urhebers verleiht dem Werk seine Bedeutung und bildet den eigentlichen Gegenstand der literarischen Kritik, deren Aufgabe darin besteht, „das tiefe individuelle Gefühl des Ganzen" 116 und die „individuelle Absicht eines Werkes" 117 klar herauszustellen und zu „charakterisieren". Auch Wackenroder vertritt die Ansicht, die Kunst sei Ausdruck der individuellen Natur ihres Schöpfers118, und er singt in dieser Beziehung das Lob der Originalität 119 . Wilhelm Schlegel verficht eine ähnliche Meinung, wenn er schreibt: „Mich deucht, dasjenige Gedicht, in welches die Individualität des Dichters am meisten verwebt ist, sei, wenn das Übrige gleich ist, immer das bessere" 120 . Freilich betont er gewöhnlich das „Übrige" und verlangt vom Dichter, daß er sich „seiner Individualität zu entäußern" und dem Werk zu unterwerfen wissen soll; darin erblickt er eine „Annäherung an Vollendung" 12 '. Hier liegen offenbar klassische Ansichten über die Verbannung der Manier vor, an die Wilhelm Schlegel anknüpft, wenn er von der „selbständigen Eigentümlichkeit" die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen der willkürlichen Manier und der anonymen Schulübung erwartet. Schleiermacher schließt sich dieser Meinung an, wenn er die „Menschheit" hervorhebt, die ihm über alles Individuelle hinausgeht; zugleich betont er jedoch, daß jeder Mensch die Menschheit auf eigene Art darstellt, und diese geistige Eigentümlichkeit eines jeden ist ihm ein nicht zu übersehender Faktor des menschlichen Daseins 122 . Nicht nur der Dichter soll sich aber durch seine Individualität auszeichnen, auch das dichterische Kunstwerk muß ein einheitliches Ganzes und als solches ein „lebendiges Individuum" sein. Der Kristallisation einer ganzen Welt um einen individuellen Gegenstand, wie sie von Novalis gefordert wird, soll die innere Organisation des Werkes entsprechen. Dieses soll sich auf eine „einzelne Erscheinung" konzentrieren, um die sich die anderen Vorstellungen in einer „individuellen Kombination" gruppieren 123 . „Alles Schöne ist ein selbsterleuchtetes, vollendetes

Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 25. Ebd., S. 54. Iis Wackenroder, Herzensergießungen, S. 29. Ebd., S. 87. 1 2 0 A. W. Schlegel, Über die Künstler, ein Gedicht von Sdiiller, Bd. VII, S. 5. 121 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 94. 122 Schleiermacher, 2. Monolog. 1 2 3 Novalis, Fragment 812. 116

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Individuum" 124 : einfach im Ganzen, aber mannigfaltig im Detail125. Ein Kunstwerk ist um so vollkommener und nähert sich dem „Zentrum der Poesie" um so mehr, als es „persönlicher, lokaler, temporeller, eigentümlicher" ist. Je individueller die Darstellung, desto evozierender und unerschöpflicher das Kunstwerk: „Ein Gedicht muß ganz unerschöpflich sein wie ein Mensch oder ein guter Spruch"126. Aus dieser zentralen Bedeutung, die dem Konkret-Individuellen beigemessen wird, ergeben sich praktische Anweisungen für die poetische Darstellung: im Gegensatz zu der „vollständig deduzierenden" wissenschaftlichen Beschreibung begnügt sich die dichterische Schilderung mit „einem durchaus individuellen Zug — ex ungue leonem"127. Eine Dichtung bildet eine Welt für sich und findet ihr Gesetz in sich selbst. Das ist Schellings Überzeugung. „Gedicht ist überhaupt ein Ganzes, das seine Zeit und Schwungkraft in sich selbst hat und dadurch von dem Ganzen der Sprache abgesondert, vollkommen in sich beschlossen ist"128. Der auffälligste Ausdruck dieser Absonderung ist der Rhythmus, durch den sich das Gedicht seine eigene Bewegung schafft und sich damit die Zeit unterwirft. Durch den Rhythmus hebt es sich aus dem Fluß der Zeit heraus und wird eine autonome Erscheinung. Rhythmus ist ja Einbildung der Identität in die Differenz, um mit Schelling zu sprechen: er zwingt der Zeit sein Gesetz auf und grenzt das Werk gegen die übrige Welt ab129. Diese Funktion des Rhythmus im dichterischen Kunstwerk wurde auch von Wilhelm Schlegel mehrfach hervorgehoben. Auch wenn er sich nicht wie Schelling auf konsequent durchdachte Argumente stützen kann, erblickt er doch darin „die Bedingung aller selbständigen Existenz für die Poesie"130 und zugleich einen der wesentlichsten Beweise dafür, daß die Kunst nicht auf Nachahmung beruht. Der Rhythmus soll nämlich eine menschliche Schöpfung sein; die wenigen natürlichen Erscheinungen, die etwas Ähnliches aufweisen wie z. B. Herzklopfen, Atemholen, Rudern, Dreschen, Mähen, reichen zur Erklärung dieses Phänomens nicht aus131. In der Dichtung wie im Gesang und Tanz ermöglicht er nicht nur einen natürlichen Ausdruck der Affekte, vielmehr bewirkt er eine „freie umbildende Darstellung" dieses Ausdrucks132. Er löst das Kunstwerk aus dem allgemeinen Zeitlauf heraus, hebt die wirkliche Zeit auf und versetzt den 124 125 126 127 128 126 130 131 132



Fragment 111. Fragment 1570. Fragment 3018. Fragment 928. Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 288. Ebd., S. 286 f. A. W. Sdilegel, Kunstlehre, S. 231 f. A. W. Schlegel, Briefe über Philosophie, Silbenmaß und Sprache, Bd. VII, S. 130 f. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 86.

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Leser in eine „imaginative Zeitreihe", in den individuellen Raum des jeweiligen Kunstwerks, das somit den Rang einer selbständigen Erscheinung gewinnt133. Übrigens ist der Rhythmus nur eine besondere Anwendimg des allgemeinen Gesetzes der Dichtimg, nach dem eine literarische Schöpfung nur dann als Kunst zu betrachten ist, wenn sie sich selbst das Gesetz gibt und sich keiner fremden Autorität, und sei es auch nur dem herrschenden Sprachgebrauch, beugt134. Ähnlich wie die anderen Künste, die ja alle ein Unendliches in einem Endlichen darzustellen haben, greift die Dichtung zum Symbol als dem einzig angemessenen Mittel des künstlerischen Ausdrucks. Sie läßt es aber nicht beim einzelnen Sinnbild bewenden, sondern schreitet weiter zur Schöpfung eines symbolischen Weltzusammenhangs, der in der Sprache der Frühromantiker M y t h o l o g i e heißt. Die Ideenwelt als eine Welt der Götter anschaulich zu machen, ist eine Grundforderung Schellings135, mit der Friedrich Schlegel vorbehaltlos übereinstimmt und die Novalis in die Tat umzusetzen versucht. Die Mythologie ist für Schelling der „allgemeine Stoff", in dem das Symbol als Identität von Sinn und Bild verwirklicht ist. „In der Mythologie ist [das Besondere] zugleich selbst das Allgemeine"136, heißt in seiner Sprache, was Wilhelm Schlegel mit den Worten ausdrückt, die Gottheiten der Mythologie hätten die Allgemeingültigkeit von Ideen und die lebendige Gegenwart von Individuen137. Im Gegensatz zur Allegorie gewährleistet die Mythologie die „poetische Unabhängigkeit" der Gestalten und zugleich einen sinnvollen, unendlichen Gehalt. Unter den ganz wenigen Beispielen, die überhaupt in der Frühromantik angeführt werden, sei auf das von Schelling evozierte Bild der Magdalena hingewiesen, das die Reue nicht nur bedeute, sondern selbst sei138. So aufgefaßt entsprechen die mythologischen Figuren und Handlungen der romantischen Definition der Kunst als Darstellung der Identität des Besonderen und des Allgemeinen im Besonderen oder als „Darstellung des Absoluten in Begrenzung ohne Aufhebung des Absoluten". Konsequent kann dann Schelling schreiben: „Mythologie ist die notwendige Bedingung und der erste Stoff aller K u n s t . . . Sie ist die Welt und gleichsam der Boden, worin allein die Gewächse der Kunst aufblühen und bestehen können"13". Der 135 134 135 138 137 138 189

Ebd., S. 104. Ebd., S. 244. Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 471. Ebd., S. 429. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 288. Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 206. Ebd., Bd. III, S. 425 f.

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Stoff der Kunst besteht ja aus Ideen, „sofern sie als real angeschaut werden"140, d. h. sofern sie als mythologische Götter und Taten erscheinen. Diese sind also das im Besonderen real oder objektiv angeschaute Absolute141. Nur durdi ihre „bleibenden und bestimmten Gestalten" können ewige Begriffe ausgedrückt werden142. Die Mythologie ist demnach die urbildliche Welt, die erste allgemeine Anschauung des Universums, die Grundlage der Philosophie145. Indem sie die Mythologie in ihren Werken verwertet und mitgestalten hilft, erhebt sich die Kunst zu einem „magischen und symbolischen Spiegel" des inneren Wesens der Philosophie144. Auch für Wilhelm Schlegel erstreckt sich die Tragweite der Mythologie „über alles, was Objekt des menschlichen Geistes werden kann", und ermöglicht somit eine vollständige Weltansicht. Aus ebendem Grunde muß sie als die Grundlage der Philosophie gedacht werden: sie hat die ersten Denker zur Reflexion über den Sinn des Universums angeregt145. Jeder echte Dichter steht vor der Aufgabe, sidi aus den Gegebenheiten seiner Zeit, seiner Lebensumstände, seiner Bildung eine Mythologie zu schaffen, die seine geistige Welt in ihrem Zusammenhang erscheinen lassen soll. Er ist dazu berufen, die passende Mythologie für sein Werk zu finden. Dante und Shakespeare sind deshalb groß und ewig, weil sie sich ihren eigenen umfassenden mythologischen Kreis geschaffen haben146. Nach Friedrich Schlegel ist die Mythologie der poetische Ausdruck des Idealismus. „Der Kern, das Zentrum der Poesie ist in der Mythologie zu finden, und in den Mysterien der Alten". Zugleich mit diesem Glaubensbekenntnis gibt er seine Auffassung der Mythologie: „Sättigt das Gefühl des Lebens mit der Idee des Unendlichen, und ihr werdet die Alten verstehen und die Poesie"147. Mythologie soll also der adäquate Ausdruck eines mit dem Bewußtsein des Unendlichen durchtränkten Lebensgefühls, eines ideenhaltigen Gefühls des unendlichen Lebens sein. Sie ist das Bild der ewigen Beseelung der Welt, des unendlichkeitsträchtigen Natur- und Geisteslebens, dessen Sinn so wenig wie die „Seele in dem umgebenden Leib" rational zu fassen ist. Dieser Sinn „flieht das Bewußtsein" und muß indirekt aufgedeckt und dargestellt werden. Nun ist er eben in der Mythologie „sinnlich geistig zu schauen und festgehal140

Ebd., S. 390. Ebd., S. 390 und 417 f. 142 Ebd., S. 425 f. "» Ebd., S. 436 f. 144 Ebd., S. 373. 115 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 295. 149 Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. Ili, S. 465. 147 Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 264, Nr. 85. 141

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ten"148. Die Mythologie ist „ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur" in einer Verklärung von „Phantasie und Liebe" und deshalb die „eigentliche Seele aller Poesie" 1 ", deren „Mittelpunkt" 150 . „Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich"151. In diesen Ausführungen Friedrich Schlegels tut sich ein gewisser Unterschied gegenüber den Schellingschen Anschauungen kund. Während Schelling in der Mythologie hauptsächlich den Stoff der Kunst erblickt, sieht Schlegel in ihr eher die Seele der Poesie. Sie scheint ihm weniger ein Reservat von real angeschauten Ideen zu sein als vielmehr eine dynamisch gefühlsmäßige Ansicht des Naturlebens, die sich auf Einfühlung und Sympathie gründet, eine poetische Ansicht der Welt, gleichsam der naive Zustand der Poesie vor der Erfindung der Kunst152. Ähnlicher Meinung ist übrigens auch sein Bruder, der die Mythologie als die dritte Stufe der Naturpoesie, die der Kunstpoesie vorangegangen sein soll, ansieht. Die erste Stufe ist für ihn die Elementarpoesie der Ursprache; die zweite die Absonderung der poetischen Vorstellungen durch ein besonderes Sprachgesetz, den Rhythmus; die dritte die Mythologie als Zusammenfassung der poetischen Vorstellungen zu einer allgemeinen Weltschau153, die sich auf die Belebung der mechanischen Kräfte und die Vermenschlichung der Natur gründet154. Solche Akzentverschiebungen verraten jedoch nicht notwendigerweise einen wesentlichen, grundsätzlichen Unterschied zwischen den Auffassungen. Der Ton ist verschieden, das Prinzip ist identisch. Die Aufstellung einer neuen Mythologie hat für Schlegel wie für Schelling vom Idealismus aus zu erfolgen. Es gilt auch für ihn, die Mythologie „durch den Geist der Physik" zu verjüngen155, d. h. sie anhand der neuen naturphilosophischen Ideen zu erneuern. Die alte Mythologie ist endgültig vorbei; sie war „die erste Blüte der jugendlichen Phantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt"156. Sie war damals exoterisch im Gegensatz zu den Mysterien, der eigentlichen Religion der Griechen, die esoterisch waren. Im heutigen Weltzustand geschieht genau das Umgekehrte: die Religion der Ungebildeten ist exoterisch geworden 148

Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 318. "» Ebd., S. 318. 150 Ebd., S. 312. 151 Ebd., S. 313. 152 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1695. 153 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 231. 154 Ebd., S. 242. 155 Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 350. 158 Ebd., S. 312.

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und bildet einen Ersatz für Poesie, Philosophie, Ethik und Physik; die neue Mythologie soll — mindestens anfangs — esoterisch sein und nur den Eingeweihten ihren tieferen Sinn offenbaren 157 . In der Einschätzung der altgriechischen Mythologie, die eine „realistische" gewesen sein soll, pflichtet Wilhelm Schlegel seinem Bruder bei: in ihr habe sich der Mensdi als bloß irdisches Wesen dargestellt, während die christliche und auch die brahmaistische Mythologie den Menschen in seinem Streben nach Unabhängigkeit von Erde und Natur ausdrücken und darum 'idealistisch' sind. Freilich haben sich auch die Griechen nach einer idealistischen Mythologie gesehnt; einen Beweis dafür sieht Wilhelm Schlegel in ihren Orgien. Und andererseits haben die Christen das Irdische als Bestandteil ihres Wesens nicht übersehen: die von ihnen eingeführten Sakramente erinnern an die irdische Gebundenheit des Geistigen159. Anders als die des Altertums kann die moderne Mythologie keine naive Schöpfung sein, vielmehr muß sie „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein"15'. Es wäre allerdings möglich, die alte Mythologie mit Hilfe der Begriffe der modernen Wissenschaft und Philosophie neu zu beleben: „Versucht es einmal", schreibt Friedrich Schlegel, „die alte Mythologie voll vom Spinoza und von jenen Ansichten, welche die jetzige Physik in jedem Nachdenkenden erregen muß, zu betrachten, wie euch alles in neuem Glanz und Leben erscheinen wird"160. Friedrich Schlegel meint, es stecke alles so „unendlich voll Mythologie", daß man keine neue Mythologie im eigentlichen Sinn schaffen könne; man könne nur „sichtbar machen die unsichtbare, befreien die gebundene" 161 . Die unsichtbare Mythologie in Schlegels Zeiten ist das idealistische Weltbild; die neue poetische Mythologie, die er fordert, soll dazu dienen, den Idealismus zu einem „neuen Realismus" zu erheben162, den Idealismus als theoretische Weltschau durch poetische Schöpfungen zu veranschaulichen. Wenn die neue Mythologie sichtbar gemacht worden ist, wird der Mittelpunkt und der Urquell der Poesie wieder entdeckt sein. Dann gilt das gleiche Weltbild für alle. Die ganze moderne Poesie wird, wie die alte, ein „einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht" werden, in dem das Höchste „wirklich gebildet", d. h. objektiv gestaltet, und alles zu allem 157

Vgl. Fr. Schlegel, Phüosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 336, Nr. 165. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 284. 15 » Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 312. 100 Ebd., S. 319. 161 Fr. Schlegel, in Schriften und Fragmente (Kröners Taschenausgabe), S. 133. 162 Ygj Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 57 f. Daß bei dieser Forderung auch gewisse Vorstellungen aus der naturmystischen Tradition eine Rolle spielen, hat Sorensen deutlich nachgewiesen (Symbol und Symbolismus...). 158

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in Beziehung stehen wird 1 ". Die Einheit der geistigen Welt ist dann wiederhergestellt. Eine neue, allgemeingültige Mythologie als symbolische Deutung des Universums würde die Universalität der Poesie gewährleisten. Die berühmte Formel von der progressiven Universalpoesie würde hier ihre Anwendung finden. Universal wäre in diesem Zusammenhang ein Zeitund ein Raumbegriff, oder besser: das Wort bezeichnete die Uberwindung von Zeit und Raum. Gegenstand der echten Dichtung ist nämlich jeweils das Ewige, die sogenannte unendliche Bedeutung einer Erscheinung, nicht diese Erscheinung selbst. Die Poesie ist an keine Zeit gebunden: „Was in der Poesie geschieht, geschieht nie oder immer. Sonst ist es keine rechte Poesie. Man darf nicht glauben sollen, daß es jetzt wirklich geschehe"164. Auch Novalis hatte bemerkt, daß die Poesie im Reich des Möglichen zu Hause ist. Echte Poesie transzendiert alle Zeit und spielt sich im Ewigen der Idee ab. Auch eine Universalität im Raum ist der Poesie eigen. Auf Grund der universellen Analogie hat sie nämlich „einen unbeschränkten Umfang" 165 : „jedes Naturwesen ist Symbol des Ganzen". Sonach soll „jedes Gedicht das Universum darstellen"166. Solche Dichtung nennt Friedrich Schlegel manchmal esoterische Poesie: Sie strebt, „die Welt und die Natur zu umfassen", während die exoterische sich auf den Menschen beschränkt. Wie man dazu gelangt, den symbolischen Sinn einer Erscheinung aufzudecken, was dazu an Vorkenntnissen und Reflexion erforderlich ist, haben die Frühromantiker nicht sehr klar dargelegt. Wilhelm Schlegel hat sich in dieser Hinsicht sogar gründlich widersprochen. Er geht von der Tatsache aus, daß die Poesie „die umfassendste und vielseitigste" aller Künste sei, weil sie durch ihr Darstellungsmittel, die Sprache, an keine bestimmten Gegenstände gebunden sei, sondern das ganze „äußere und innere Dasein" des Menschen darzustellen vermöge167. Von dieser Position aus beschreitet er zwei Wege, die einander diametral entgegengesetzt sind, obschon sie sich beide bereits in den Berliner Vorlesungen abzeichnen. Einerseits fordert er vom Dichter ein enzyklopädisches Wissen: nicht nur die alte und die moderne Poesie soll dieser „umfassendst" studiert haben, sondern auch Philosophie, Physik und Geschichte168! Andererseits behauptet er, die enzyklopädische Allseitigkeit tue nur dem Kenner, nicht dem Dichter not, denn dieser dürfte durch eine 165

1.5 1.6 167 168

Fr. Sdilegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 313, 318. Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 180, Nr. 101. Fr. Sdilegel, Über das Studium, der griechischen Poesie, S. 128 f. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 2013. A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 14. Ebd., S. 82.

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allzu große Verbreiterung seiner Kenntnisse eher geschwächt werden. „Es ist genug", schreibt Wilhelm Schlegel, „wenn er seinen Geist mit Energie in einer bestimmten Richtung bewegt" 169 . Durch Vertiefung, nicht durch Verbreiterung erlange man Universalität. Es gelte ja nur, die universale Tragweite der Einzelerscheinungen herauszustellen, nicht etwa die Welt enzyklopädisch zu beherrschen. Dem Leser bleibt die Qual der Wahl. Eine solche Frage dürfte in bezug auf die wichtigste Gattung der romantischen Dichtung, den Roman, der von Friedrich Schlegel als eine der Hauptformen der esoterischen Poesie bezeichnet wird, besonders interessant sein, denn gerade der Roman wird als das geeignetste Mittel zur Poetisierung der Welt angesehen. Sein Zweck ist nämlich, „das der Poesie entgegengesetzte Element des gemeinen Lebens zu poetisieren und sein Entgegenstreben zu besiegen"170. Das ist die besondere Art und Weise, in der er zur missionarischen Sendung der Poesie beiträgt, die ja alles in den „ursprünglichen Zustand" zurückverwandeln171, alles poetisieren soll172. Als solcher ist der Roman die Universalgattung par excellence. Die Folge der Universalität der Dichtung ist ihr Ernst. In der Diditung ein unverbindliches Spiel zu sehen, bedeutet für Friedrich Schlegel das „abgeschmackteste und tiefste Vorurteil"173, und sie für einen „Festtagsschmuck des Geistes" zu halten, reicht für seinen Bruder ebenfalls nicht aus, ihr Wesen zu bestimmen174. Schon deshalb nicht, weil sie eine „erhabene Trösterin in den Drangsalen" des Gemüts sei175, hauptsächlich aber, weil die richtig, d. h. romantisch verstandene Poesie über sich selbst hinausführe und durch ihre Universalität in der doppelten Bedeutung des Wortes zur Weltanschauung und zur Religion werde. Die echt romantische Poesie nennt Friedrich Schlegel eine „durch Enzyklopädie und durch Religion reformierte und zentrierte" 176 . Er meint: „Die Bestimmung der deutschen Literatur ist, durch Universalität zur Religion zu gelangen und eine Palingenesis derselben zu bewirken"177, wobei der Begriff Religion, wie oben ausgeführt, nicht etwa als Dogma und Kirchendienst zu verstehen ist, sondern, und zwar nicht nur bei Schleiermacher, als „Trieb nach dem Unendlichen", „nie befriedigte Sehnsucht", „geheimer geistiger Schauer", um an ein paar Formeln Wilhelm Schlegels zu erin"» A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 31. 170 Fr. Schlegel, Literatur, in DNL 143, S. 308. 171 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, S. 1786. 178 Fr. Schlegel, Athenaums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 205, Nr. 239. 173 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1870. 174 A. W. Schlegel, An Fouqu6, Bd. VIII, S. 144. 175 Ebd. 178 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1864. 177 Ebd., Nr. 1924.

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nern178. Die Verquickung von Religion und Poesie bis zur Identität beider gehört zu den Grundlagen der frühromantischen Poetik: dabei gibt die Religion ihre dogmatische und moralische Komponente auf, und die Poesie übernimmt die Rolle eines kosmischen Elements, sie wird zur weltlichen Mystik 1 ". Die allmähliche Poetisierung der Welt, die sich die Poesie der Frühromantik in ihrer Universalitätsforderung vornimmt, setzt ein weiteres, hauptsächlich Schlegelsches Postulat voraus: die Progressivität. Dieser Begriff stellt für Friedrich Schlegel einen Wesenszug der 'fortschreitenden' romantischen Dichtung dar im Gegensatz zur klassischen, die „regredierend", „stillstehend", zyklisch sein soll. Das Ideal der klassischen ist Einheit, das der romantischen Ganzheit180. Es dürfte nicht viele Begriffe geben, die die Forschung zu gründlicheren Mißverständnissen verleitet haben als dieser Begriff der Progressivität. Die damit scheinbar zusammenhängende sogenannte 'Unvollendung' ist fast durchgehend auf das einzelne dichterische Kunstwerk bezogen worden, und so konnte die Illusion entstehen, als hätten die Frühromantiker eine Art non finito als poetologisches Ideal aufgestellt und verkündet. Es liegt auf der Hand, daß eine Auffassung der Poesie als eines überall gegenwärtigen kosmischen Elements notwendigerweise andere formale Imperative zur Folge haben muß als eine streng klassische Anschauung. Es leuchtet ebenfalls ein, daß das dichterische Kunstwerk jeweils Abbild eines im Geiste erschauten Urbilds ist und daß ein solches Abbild immer vervollkommnungsfähig ist. Nicht weniger klar ist, daß die frühromantische Poetik keine erschöpfende Definition der Poesie anhand konkreter historischer Vorbilder und Muster bieten, sondern nur eine Tendenz angeben konnte, weil es solche Vorbilder und Muster noch nicht gab und weil sie sich gerade als theoretische Vorbereitung solcher Werke verstand181. Nichts von alledem besagt jedoch, daß der Frühromantik die Nicht-Vollendung des Kunstwerks als Ideal vorgeschwebt hätte. Die Schlegelsche 'Unvollendung' bezieht sich nicht auf das einzelne Werk, sondern auf die Poesie schlechthin, und d a s entspricht dem Gesetz der Progressivität, das übrigens nicht nur für die Dichtung, sondern für alle menschlichen Tätigkeiten relevant ist. Wenn Friedrich Schlegel schreibt: „Die Unvollendung der Poesie ist notwendig. Ihre Vollendung = das Er178 179 180 181

A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 285. A. W. Sdilegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 47. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 144, 186 (comment.), 293, 309. „Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist", Fr. Sdilegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 181, Nr. 114.

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scheinen des Messias, oder die stoische Verbrennung" 182 , so fordert er nicht im geringsten, daß dichterische Schöpfungen unvollendet bleiben, sondern er proklamiert, daß die Poesie eine ewige Komponente des menschlichen Daseins ist und daß sie sich, wie alles im menschlichen Leben, in einem ewigen Werden befindet. Mehr darüber im Schlußkapitel. Was aber stimmt, ist, daß die Frühromantik eine andere Auffassung von ästhetischer Vollkommenheit hat als z. B. die Klassik. Sie kommt u. a. zum Ausdruck in einem Fragment Friedrich Schlegels, in dem es heißt, in der Poesie möge „alles Ganze halb und alles Halbe doch eigentlich ganz sein"183. Solche Äußerungen zeigen überdeutlich, daß die Frühromantik sich von der Organismusästhetik, die die Form des Kunstwerks als eine natürlich gewachsene definiert, mit aller Entschiedenheit löst. Der Inhalt der Dichtung mag der Naturorganismus und das Ganze der Schöpfung sein, die Form untersteht anderen Gesetzen, die nicht die Gesetze der Natur sind. Andeutung, Hinweis, Suggestion, Evokation werden großgeschrieben; Demonstration, Erweis, umständliche Darstellung, ursächlicher Zusammenhang, konsequente Motivierung werden in die „Prosa" verwiesen. Diese und ähnliche Gedankengänge haben die Frühromantiker und besonders Friedrich Schlegel dazu gebracht, über den dichtungstheoretischen Wert der I r o n i e nachzudenken oder wenigstens die schon immer erahnte Bedeutung der Ironie in das Lehrgebäude der frühromantischen Poetik einzubeziehen. Schon in den Lyceums-Fragmenten ist die Ironie für Schlegel die Form des Paradoxen184. Auch wenn er später von seiner ursprünglichen Auffassung der Ironie im sokratischen Sinn — wohl weniger grundsätzlich, als man behauptet hat — abwich und die Tragweite des Phänomens erweiterte, bleibt diese erste Definition für den ganzen Schlegel gültig. Was ist aber Paradoxie? Zusammenfassend könnte man sagen: das Bewußtsein des ewigen Widerstreits zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, begleitet von dem Gefühl der Notwendigkeit einer Uberbrückung dieses Widerspruchs. „Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern die Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend oder Genialität; im Äußeren, in der Ausführung die 182 183 184

Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 2090. Fr. Schlegel, Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 148, Nr. 14. Ebd., S. 153, Nr. 48.

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mimische Manier eines gewöhnlichen guten italienischen Buffo" 185 . Diese frühe Meinung aus den Kritischen Fragmenten läßt einerseits die Spaltung der romantischen Dichtung und Theorie zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Unbewußtem und Bewußtem, Notwendigkeit und Freiheit, Begeisterung und Kunst im strengen Sinn, andererseits jedoch auch die Uberbrückung dieser Spaltung durch die Ironie hervortreten. Diese „enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung"188. Logische Unmöglichkeit der Synthese und ontologische Notwendigkeit der gleichen Synthese sind Merkmale der Paradoxie; so ist es verständlich, daß sie „die conditio sine qua non, die Seele, Quell und Prinzip" der Ironie genannt wird187, denn diese ist für Schlegel eben nichts anderes als „Analyse der These und Antithese"188. Der Begriff Ironie bezeichnet also eine Haltung des Geistes, der sich des Grundzwiespalts der Welt bewußt geworden ist und sich die Aufgabe gestellt hat, diesen Zwiespalt in der Kunst und in der Philosophie zu überwinden. Ironie ist „überwundene Selbstpolemik", heißt es bei Friedrich Schlegel18', und daher ist sie „gleichsam die emöeiii? der Unendlichkeit"180, d. h. das Mittel par excellence, die Unendlichkeit, besonders die des Subjekts, in der endlichen Welt darzustellen und damit Göttliches anzudeuten. Die Koppelung zweier Begriffe oder zweier Elemente, die sich logisch nicht vertragen, deutet auf ein Höheres, das den beiden zugrunde liegt, rational aber unaussprechlich ist. In diesem Spiel zwischen Extremen liegt die romantische Haltung: „Ironie ist klares Bewußtsein der ewigen Agilität"1"1. Sie bedeutet nicht etwa eine vorläufige Einstellung zur Welt, sondern eine reife Frucht des romantischen Geistes: „Bei der wahren Ironie muß nicht bloß Streben nach Unendlichkeit, sondern Besitz von Unendlichkeit... da sein"192. Ironie ist freies Spiel mit der Welt auf Grund einer dämonischen Gewißheit1'3. Auch wenn sie den „Schein" der Selbstvemichtung hat, ist sie eben dadurch „Erscheinung der unbedingten Freiheit, der Selbstschöpfung"194. Darum darf es heißen: „Ironie ist Pflicht"195. 185 186 187 188 189 190 181 192 193 194 195

Ebd., S. 152, Nr. 42. Ebd., S. 160, Nr. 108. Fr. Sdilegel, Literary Notebooks, Nr. 1068. Ebd., Nr. 802. Ebd., Nr. 506. Fr. Sdilegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 128, Nr. 76. Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 263, Nr. 69. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 500. Fr. Sdilegel, Philosophische Lehrjahre. KA, Bd. XVIII, S. 217, Nr. 279. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 204. Ebd., Nr. 481.

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Das Wort 'selbst' in Selbstpolemik, Selbstvernichtung, Selbstsdiöpfung bezeugt den Abstand der romantischen von der sokratisdien Ironie. Während der platonische Sokrates sich seinem Gesprächspartner gegenüber verstellt, um ihn ad absurdum zu führen und eines Besseren zu belehren, wendet sich der Romantiker nicht an einen Fremden, sondern an sich selbst: er läßt seine Stimmung, sein Gefühl, seine Begeisterung, seine Ahnung bedeutende Ausmaße annehmen (genau wie der Partner des Sokrates sich in die Ausweglosigkeit seiner Haltung immer mehr verirrt), dann kommt der Augenblick der Reflexion und der Zerstörung des ersten Zustands, und dieser Wechsel steht am Anfang einer langen Reihe ähnlicher Vorgänge, die sich entweder sukzessiv (z. B. in der Erzählung) oder gleichzeitig (durch die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt) manifestieren. Darum ist die Unendlichkeit, die die Ironie 'andeutet', zunächst und wesentlich die des ironischen Subjekts, das sich durch die Vernichtung seines Werkes, d. h. eines Teils seiner selbst, als der Freiheit teilhaftig erweist. Es verwirklicht sich als freies Wesen, indem es sich zerstört. Das ist die „Form der Paradoxie". Der Gegensatz der romantischen zur sokratisdien Ironie darf allerdings nicht allzusehr übertrieben werden. In manchen Punkten berühren sie sich ziemlich eng. Nehmen wir als Beispiel den Hippias-Dialog. Darin ist und bleibt Sokrates derselben Meinung wie sein Gesprächspartner. Nur glaubt dieser, seine Ansicht mit logischen Argumenten erweisen zu können: darin besteht seine Illusion. Sokrates läßt ihn diese Argumente entwickeln, um schließlich festzustellen, daß sie ins Nichts oder ins Absurde führen. In bezug auf die Meinung, die auf dem Spiel steht, ändert das jedoch nichts, denn 'etwas' in uns bezeugt die Richtigkeit dieser Meinung. Das Fehlschlagen der rationalen Argumente bedeutet also nur die Unfähigkeit der Vernunft, alles zu demonstrieren, und das Mitspracherecht des 'Gefühls' im Reich der Wahrheit. Romantisch gesprochen, könnte man in einem solchen Fall sagen: die Selbstschöpfung ist hier das Irrationale, das sich trotz des Zukurzkommens der Vernunft durchsetzt, während die Selbstvernichtung im Bewußtsein des Scheiterns der rationalen Erklärung liegt. Die Zugehörigkeit der Ironie zum Bereich der Freiheit im höheren philosophischen Sinn scheint mir die „rückwärtige Verwurzelung" im Rokoko und bei Wieland, wie sie Markwardt für möglich hält, fragwürdig zu machen. Wohl konnten sich die Romantiker dort auf gewisse stilistische Haltungen und Formulierungen berufen; der große Abstand zwischen dem jeweils verfolgten Zweck und dem respektiven Lebensgefühl macht jedoch eine bewußte und konsequente Anlehnung sehr unwahrscheinlich. Romantische Ironie bezweckt ja eine Bewährung der Freiheit des Indivi-

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duums, das sich größer und'unendlicher weiß als sein Werk; die Ironie des Rokoko erfaßt dagegen an erster Stelle den dargestellten Stoff und bewegt sich hauptsächlich im Reich der Begriffe. Mit Recht unterscheidet Frau Strohschneider-Kohrs zwei Bedeutungen des Wortes Ironie: einmal bezeichnet es eine psychische Verhaltensweise, zum andern die Stilphysiognomie literarischer Erscheinungen, d. h. den dichterischen Ausdruck der ironischen Welthaltung 198 . Grundlage des ironischen Stils ist die Distanz des Urhebers zu seinem Werk: „Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß man sich nicht mehr für ihn interessieren" 197 . Die stilistische Erscheinung der ironischen Haltung ist die besonnene Mitteilung. Damit die Besonnenheit möglich wird, muß die Begeisterung sich verflüchtigt haben, der Dichter muß sich beschränken und kontrollieren können. Damit zeugt er eben von seiner Schöpfungskraft. Hier könnten die Worte Wilhelm Schlegels über die Aufgabe des Epikers herangezogen werden, nach denen der Dichter „eine solche Herrschaft über den Stoff ausüben müsse, als wenn ihm die einzelnen Teile desselben wirklich gleichgültig wären", was sich durch eine „ruhige Besonnenheit" erweise198. Die dichterische Schöpfungskraft tut sich also vorzüglich in der Dissonanz zwischen der dargestellten Leidenschaft und der nüchternen Darstellung kund, in der Intensität der Gefühle und dem kühlen Ton und auch darin, daß der Verfasser sich nicht vom Inhalt seines Werkes mitreißen läßt, daß er außerhalb der Geschichte steht und sie daher 'objektiv' betrachten kann. Eine solche 'Objektivität 5 hat jedoch, entgegen der Meinung M. Joachimi-Deeges, mit dem gleichlautenden Begriff im Studiumaufsatz nichts gemein199, denn der letzte Begriff hat die ganz bestimmte Bedeutung des Allgemeinmenschlichen und Universalen und nicht die einer stilistischen Haltung. Mit Recht bemerkt übrigens Frau Strohschneider-Kohrs, daß eine wirkliche Objektivierung in gegenständlicher Darstellung dem Zweck der Schlegelschen Ironie widersprechen würde 200 . Diese ist eher ein Spiel mit der Objektivität, wobei der Dichter immer mitredet und nie ganz verschwindet. Sie hält die Kunst „in der Anerkenntnis der nur fernen Nachbildung eines Unendlichen, niemals voll Aussagbaren" 201 . Das Streben nach Objektivität ist wichtiger als das Resultat, die Tendenz wichtiger als das Ergebnis: der Leser muß das Gefühl haben, daß das Kunstwerk mehr bedeuten soll, als es ausdrücken 186 197 188 199 200 801

Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, F r . Schlegel, Lyceums-Fragmente, KA, B d . II, A. W . Schlegel, Kunstlehre, S. 312. M . J o a d i i m i - D e e g e , Die Weltanschauung der Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, E b d . , S. 69 f.

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S. 1 ff. S. 151, Nr. 37. deutschen S. 37.

Romantik,

S. 175.

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kann, daß sein Sinn über die Einzeldarstellung hinausgeht, daß der Dichter „sich über sich selbst erhebt aus Freiheit" 202 . Mit der Ironie als Bewußtsein des allgemeinen Zwiespalts ist der romantische W i t z verwandt. Beide Begriffe fallen jedoch nicht zusammen, und die Annahme liegt nahe, der Witz sei entweder das positive Gegenstück der Ironie oder ihre Grundlage. Der herkömmlichen, im 18. Jahrhundert allgemein angenommenen Definition nach ist der Witz das spezifische Vermögen des Geistes, das die Ähnlichkeiten zwischen den Erscheinungen wahrnimmt, im Gegensatz zum Scharfsinn, der sein Augenmerk auf die Verschiedenheit richtet. Schlegels Auffassung setzt immer noch diese Bedeutung des Witzes voraus. So kann er zum Beispiel schreiben, der Grund des Witzes sei der „Imperativ der Synthetik"203. Der Witz vollzieht tatsächlich eine Synthese zwischen verschiedenartigen Elementen. „In Beziehung auf das Wissen, oder überhaupt auf alle anderen Tätigkeiten kann man den Witz als das Vermögen, die Ähnlichkeiten zwischen den Gegenständen aufzufinden, die sonst sehr unabhängig, verschieden und getrennt sind, und so das Mannigfaltigste, Verschiedenartigste zur Einheit zu verbinden, den kombinatorischen Geist nennen", ohne den alles menschliche Wissen „trocken, dürre und leer" wäre. Im selben Zusammenhang schreibt Schlegel weiter: der Witz „ist mit einem Wort die Kraft der Erfindsamkeit, das erfinderische Genie"204. Als eine Kraft, die das Verschiedene zur Einheit kombiniert, erscheint der Witz nicht nur als das schöpferische Prinzip des Wissens, sondern auch als ein Ausführungsprinzip der romantischen Poesie205, die sich durch „eine kühne, freie Versetzung aller jener Elemente, eine schöne phantastische Unordnung" auszeichnet. Dies kann nur geschehen „durch das Medium des Witzes". „Der Hauptcharakter des Witzes ist, daß er ein Gedankenspiel, das Wissenschaftliche hingegen eine Gedankenarbeit ist". Und worin liegt das Wesen des Spiels im Gegensatz zur Arbeit? In der „absolut freien, von allen ängstlichen Regeln und Gesetzen unabhängigen Tätigkeit" 208 . Soll das heißen, daß der größten Willkür Tür und Tor offen sind und daß im Kunstwerk kein Aufbauprinzip mehr anerkannt wird? Eine solche Annahme wäre falsch, denn der Witz selbst ist ein Konstruktionsprinzip. Nicht die „einzelnen Fälle" sind sein Anwendungsbereich, sondern die „Konstruktion des Ganzen", die keine willkürliche Verwirrung, wohl aber 202 803 204 205 206

Ebd., S. 23. Fr. Schlegel, Fr. Schlegel, Fr. Schlegel, Fr. Schlegel,

Literary Notebooks, Nr. 537. Philosophische Vorlesungen (Windischmann), Bd. II, S. 103 f. KA, Bd. XI, S. 319 f. (Anmerkung 322). Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 147.

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eine „künstlich geordnete Verwirrung" sein soll: kein Chaos von Gegensätzen und verschiedenartigsten Elementen, sondern „eine reizende Symmetrie von Widersprüchen", ein „wunderbarer ewiger Wechsel von Enthusiasmus und Ironie", von „naivem Tiefsinn" und „Schein des Verkehrten und Verrückten oder des Einfältigen und Dummen" 207 . Gewiß setzt dieses Konstruktionsprinzip eine viel freiere Auffassung der dichterischen Form voraus als das Ideal der Klassik; die romantische Form soll gerade das Bunte und sogar Chaotische der menschlichen Natur und der Welt zur Anschauung bringen, „den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufheben" und uns in die Welt der Phantasie versetzen208. Aber das geschieht alles nicht ohne Zweck; die schöne Unordnung lenkt die Aufmerksamkeit auf das Absolute, „aller wahre Witz bezieht sich auf das Spiel mit dem Absoluten"209. In dieser Beziehung ist der Witz „die Erscheinung, der äußere Blitz der Fantasie. Daher seine Göttlichkeit, und das Witzähnliche der Mystik"210. „Die Fantasie strebt aus allen Kräften, sich zu äußern, aber das Göttliche kann sich in der Sphäre der Natur nur indirekt mitteilen und äußern. Daher bleibt von dem, was ursprünglich Fantasie war, in der Welt der Erscheinungen nur das zurück, was wir Witz nennen" 211 . Der Witz ist also die konkrete Erscheinungsform der Phantasie, und diese ist das Organ für das Göttliche. In einem Kunstwerk deutet demnach der Witz auf ein Höheres, das die Bedeutung und der Zweck des Werkes ist. Richtig verstanden ist der Witz jeweils Mittel zum Zweck, nie Selbstzweck der Dichtung — dies trotz gewisser früherer Behauptungen Friedrich Schlegels212. Deshalb darf sein Wesen nicht etwa in der Nähe des Humors gesucht werden, denn Humor ist für Schlegel ein „absolutierter, falsch tendenzierter romantischer Witz", Witz als Selbstzweck und daher falscher Witz213. Humor ist Spiel mit dem Witz, „unechter Witz", in dem „bloß absolute Antithesen synthesiert werden, ohne daß etwas thesiert wird"214. Nun muß bei jedem echten Witz etwas thesiert werden, nämlich „ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern läßt"215. Ohne diese feste Voraussetzung ist der Witz Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 318 f. Ebd., S. 319. 209 Fr. Schlegel, in Schriften und Fragmente (Kröners Taschenausgabe), S. 133. 21 ® Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 258, Nr. 26. 211 Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 334. 212 Wie z. B. in Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 154, Nr. 59. 213 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 514. 211 Ebd., Nr. 540. 215 Fr. Schlegel, Gesprädi über Poesie, KA, Bd. II, S. 319. 207

208

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nur Schein seiner selbst. Er ist nämlich in Wahrheit Spiel mit Ernst, nicht Spiel mit Spiel. Der wahre Witz ist „échappée de vue ins Unendliche"21®; darum kann er die „Kraft der Allegorie" genannt werden217. Wenn man die Welt wie Friedrich Schlegel als eine Allegorie des Göttlichen auffaßt, kann man meinen: „Alles ist Witz und überall ist Witz"218. „Der Witz hat ein größeres Gebiet als Kunst und als Wissenschaft"21*.

216 217 2,8 219

Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 200, Nr. 220. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1813. Ebd., Nr. 782. Ebd., Nr. 1030.

10 Nivelle

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VI. DER ROMAN Im Roman meinten die Frühromantiker ihr Dichtungsideal am besten verwirklichen zu können. Er bildet denn auch das Lieblingsthema ihrer gattungstheoretischen Bemühungen. Als eine Erscheinungsform der epischen Gattung hat er viele Wesenszüge mit dem Epos gemein, weicht aber doch in manchen Punkten davon ab. Eine der besten Darlegungen des klassischen Epos in romantischer Sicht bietet Wilhelm Schlegels Rezension von Goethes Hermann und Dorothea aus dem Jahre 1797. Diese Schlegelsche Theorie wird Schelling — unter ausdrücklichem Hinweis auf seine Quelle — dem einschlägigen Kapitel seiner Philosophie der Kunst zugrunde legen; richtiger gesagt: er wird Schlegels Begriffe in seine idealistisch-philosophische Fachsprache übertragen. Beide sind zunächst bestrebt, das Epische gegen den Bereich des Tragischen, gelegentlich auch des Lyrischen abzugrenzen. Und schon der erste von Schlegel festgestellte Unterschied zur Tragödie deutet auf die Relevanz der epischen Gattung für eine romantische Dichtungstheorie: im Gegensatz zur Tragödie richtet das Epos sich nicht an die Vernunft, sondern an die Phantasie. Seine Bedeutung wird vorzüglich von der Einbildungskraft wahrgenommen. Das Epos kennt nämlich keine Handlung im strengen Sinn des Wortes, d. h. keine durch freien Entschluß bestimmte Tätigkeit, sondern vielmehr ein Geschehen, das nicht durch eine vollständige, die Vernunft befriedigende Einheit zusammengehalten wird. Anfang und Ende werden nicht durch die Notwendigkeit einer Abrundung des Ganzen bedingt, sondern zufällig und willkürlich vom Dichter gewählt, so daß das Epos gleichsam in der Mitte anfängt und in der Mitte aufhört. Eine solche Zufälligkeit der äußeren Begrenzung bringt es mit sich, daß das Epos keine in sich abgeschlossene Intrige und ebensowenig eine auf einen Punkt drängende Spannung aufweist. Es hat eine „leichte Fülle", bietet abwechselnd kleinere Verwicklungen und Auflösungen, Spannungen und Befriedigungen, wie es in Schlegels Sprache heißt, in einer gleichmäßig verteilten Anordnung und in klaren Umrissen1. 1

Ähnlich erscheint auch in der Frühromantik der Unterschied zwischen Roman und Novelle. Vgl. dazu Walter Bausch, Theorien des epischen Erzählens in der deut-

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DER ROMAN Es hält den Zuhörer nicht in Atem, sondern gönnt ihm die Muße und die Freiheit der besonnenen Betrachtung, während die Tragödie ein auch von der Vernunft zu lösendes Problem zum Gegenstand hat und deshalb auf rigorose Motivierung und Vollständigkeit angewiesen ist. Die Tragödie drängt das von ihr gestellte Problem dem Zuschauer geradezu auf und erlaubt es ihm nicht, geistig und moralisch passiv zu bleiben. Das wird von Schelling damit begründet, daß der tragische Konflikt in einem Widerstreit zwischen der Freiheit des Individuums und der Notwendigkeit des unter irgendeiner F o r m erscheinenden Schicksals besteht. E i n solcher Konflikt ist im Epos ganz aufgehoben: Freiheit und Notwendigkeit verschmelzen dort zur „Identität", so daß sogar die Idee des Schicksals aus dem Begriff des Epos ausgeschlossen ist. Nun kann ein dichterisches Werk, in dem dieser Streit nicht stattfindet, unmöglich an die Vernunft appellieren; es wendet sich an die Phantasie 2 . Die Aufhebung der vemunftmäßigen Implikationen hat eine bestimmte Haltung des Epikers gegenüber seinem Werk zur Folge. Wilhelm Schlegel und Schelling beschreiben nämlich das Epos als eine „ruhige Darstellung des Fortschreitenden". Alles Leidenschaftliche, Unruhige, Vorwärtsdrängende wird in den Gegenstand der Erzählung, in die

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10»

sehen Frühromantik, S. 7 ff. Der Novelle ist wie der Tragödie — wenn audi aus anderen Gründen — die Konzentration auf ein „Hauptfaktum" eigen; sie legt größeren Wert auf die gedrängte und konsequente Entwicklung des Geschehens als der Roman, der sich von ihr durch eine weiter ausholende und differenzierendere Darstellungsweise abhebt und die Begebenheiten nicht primär um ihrer selbst willen erzählt, sondern als „äußere Zurüstungen" hauptsächlich dazu verwendet, die „inneren Verhältnisse", die Ideen, die Gesinnungen zu veranschaulichen und zu entfalten. Die Hervorhebung des Charakters als Zweck und Sinn der Begebenheiten durch W. Bausch scheint mir allerdings der frühromantischen Theorie zu widersprechen. Siehe unten. Die Schicksalsfreiheit des Romans ermöglicht es dem Dichter, den Helden einer Vollendung und Erlösung zuzuführen. Daß der typische Roman der Frühromantik, Heinrich von Ofterdingen, der eine solche Entwicklung ins Auge gefaßt hatte, unvollendet geblieben ist, kann vielleicht ein Argument gegen die Durchführbarkeit dieser Absicht abgeben, spricht aber nicht im geringsten gegen die so aufgefaßte Absicht selber. Das Problem der „Vollendung" in bezug auf das romantische Kunstschaffen wirft schwierige Fragen auf, von denen einige im letzten Kapitel dieses Buches erörtert werden. Sicher ist, daß der romantische Roman sich von einer tragischen Weltanschauung radikal entfernt, um — nach Hans Heinrich Borcherdts Worten — ganz „poetische Weltschau" zu sein. Mit Recht hat Borcherdt darauf hingewiesen, daß der romantische Roman den innerseelischen Konflikten absagt und in eine „phantasiemäßige Sphäre" hinüberspielt (Der Roman der Goethezeit, S. 363). Eine theoretisch fundierte und problembewußte Analyse bringt der während der Druddegung dieses Buches erschienene Aufsatz Paul Böckmanns Der Roman der Transzendentalpoesie in der Romantik. 147

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Helden und Taten hineingelegt, der Dichter aber bleibt davon unberührt und ist Herr des Gegenstandes; er mischt sich nie in das Geschehen ein. Darum heißt das Epos eine objektive Gattung. Der Dichter bleibt von dem Strom der Aufeinanderfolge unbewegt, wie Schelling sagt, er beweist seine Unparteilichkeit, indem er sich von vornherein weigert, einen teilnehmenden Bezug zwischen sich und dem Erzählobjekt herzustellen. Er schwebt über allem und tritt nie in den Kreis seiner Darstellung ein. Er schaut ruhig auf alles herab, erscheint überhaupt nicht in der Erzählung und behält ein ewiges Gleichgewicht der Seele, das bis zur Ironie gehen kann. Er läßt sich von keinem Vorfall mitreißen, er verweilt umständlich bei allem, was ihm des Erzählens wert scheint, überschlägt das für ihn weniger Interessante oder gleitet flüchtig darüber hinweg, wenn es ihm beliebt. Nicht die Größe eines Gegenstandes erfordert eine ausführliche Behandlung, sondern das Interesse des Gegenstandes für die Erzählung. Das Kleinste kann ebenso umständlich dargestellt werden wie das Größte, das Unbedeutende erfährt mitunter eine ausführlichere Behandlung als das Wichtige. Das nennt Schelling die „Stetigkeit" des Epos. Das Dauernde kann zum Augenblick werden, während das Transitorische ganze Gesänge in Anspruch nimmt. Die erzählte Zeit steht also nicht notwendigerweise im Verhältnis zur Erzählzeit. Die wirkliche Zeit wird zugunsten der Zeitlosigkeit (Schelling) oder, was dasselbe ist, der ständigen Gegenwart aufgehoben. Der Epiker will lebendige Gegenwart in jedem Punkte der Erzählung, er eilt nicht fort, sondern verweilt beim Augenblick, wodurch dieser seinen vollen selbständigen Wert bekommt. Epische Dichtung ist Gegenwartsdichtung, auch wenn sie das Tempus der Vergangenheit benutzt. In ihr hat alles eine relative Autonomie: die Dialoge verlieren ihre Spannung und werden episiert, die Gleichnisse haben ein Leben in sich selbst, die zahlreichen Episoden, die die Handlung immer wieder unterbrechen, beweisen die Gleichgültigkeit des Dichters gegenüber dem Gegenstand der Erzählung. Wo diese Selbständigkeit der einzelnen Teile, die Trenn- und Vermehrbarkeit des Ganzen (Schlegel) aufgehoben wird, ist das Epos schon durch das Drama infiziert. Das ist der Fall bei Virgil, der deswegen die Epiker der Neuzeit, wie Milton und Klopstock, irregeleitet hat. Die tragische Verwicklung, die Teilnahme am Gegenstand, die zweckgebundene Festsetzung von Anfang und Ende, der lyrische Dialog kennzeichnen und entstellen das Epos des Virgil, das dadurch den Neueren zum Verhängnis geworden ist. Zu der verweilenden Ruhe der epischen Haltung hat das antike Versmaß wesentlich beigetragen, denn der Hexameter ist der ruhigste Vers der griechischen Dichtkunst; er hat einen „verweilenden und zurückhaltenden" Rhythmus und gewährleistet die Indifferenz des Fortschrei148

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tens und des Verweilens (Schelling). Er ist am besten geeignet, die „Beharrlichkeit" im Wechsel auszudrücken (Schlegel). Mehrere Merkmale der homerischen Epik blieben charakteristisch und wesensbestimmend für das sogenannte romantische Epos, das Schelling auch Rittergedicht nannte. Das einzige gute und typische Beispiel für diese Gattung ist der Orlando furioso des Ariost. Camoens könnte vielleicht auch in Betracht kommen, Schelling gesteht jedoch, daß er ihn nicht kennt. Wie bei Homer bleiben bei Ariost Anfang und Ende willkürlich; der Held steht nicht immer im Mittelpunkt, so daß der Dichter sich von seinem Gegenstand befreien kann. Nur die Art und Weise, wie er seiner Erzählung gegenübersteht, hat sich gewandelt: seine Subjektivität tritt deutlicher hervor, weil er immer wieder in das Geschehen eingreift, einerseits durch Reflexion, andererseits durch „Mutwillen" in der Anordnung des Ganzen, d. h. durch eine nicht vom Gegenstand her bestimmte Erzählstruktur. Das impliziert aber nicht, daß dabei die richtige epische Haltung verlorengegangen wäre, denn Ariost hat die epische Gleichgültigkeit des Homer in der Form einer „Schalkhaftigkeit" zu wahren gewußt, die sich in der Ironie, im schmucklosen Vortrag, in der Leichtigkeit des Tons bekundet. Die eigentlich romantische Form des Epos ist aber nicht Ariosts Rasender Roland, sondern der Roman. Freilich werden von Schelling und Wilhelm Schlegel nur zwei vollgültige Beispiele anerkannt: Don Quijote und Wilhelm Meister. Zur Charakterisierung des Don Quijote benutzt Schlegel fast dieselben Worte wie für das Epos: dieser Roman biete nämlich eine harmonische Reihe von Erscheinungen, die die Phantasie festhalte, und er sei aus lauter Episoden aufgebaut, wie ja überhaupt im echten Roman alles Episode sein solle oder nichts. Dies nur als Beispiel dafür, daß eine enge Verwandtschaft zwischen Epos und Roman empfunden wird. Zum Roman als typischer Form der romantischen Dichtung haben sich so gut wie alle Frühromantiker geäußert. Die Beziehung des Romans zum antiken Epos wurde allerdings vor allem von Schelling und Wilhelm Schlegel herausgestellt. Roman und Epos sind Abarten derselben Gattung, und die Gemeinsamkeiten zwischen beiden sind zahlreich, aber das Epos ist charakteristisch für das klassische Altertum, der Roman ist repräsentativ für die romantische Dichtung: er „tingiert die ganze moderne Poesie", sagt Wilhelm Schlegel. Auch wenn Schelling — wohl mehr aus Systemzwang als aus eigener Überzeugung — das Drama als Gipfel in der Welt der Dichtung gelten läßt, ist es über allen Zweifel erhaben, 149

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daß der Roman dem romantischen Dichtungsideal am angemessensten entspricht, wenn nicht bloß das theoretisch spielende, sondern das echte und tiefere Kunstwollen der Romantik auf den Plan tritt. Es wäre nach Schelling falsch, sich die Entwicklung des modernen Romans vorzustellen, als hätte sie einen Umweg über das romantische Epos des Ariost gemacht. In vielen wesentlichen Punkten bildet der Roman geradezu das Gegenstück des sogenannten Rittergedichts, ja er kehrt die Gesamtkonzeption dieser Gattung um. Während die Form des romantischen Epos individuell und sein Stoff universell ist — die Begriffe stammen von Schelling —, verhält es sich im Roman anders: der Stoff, den er sich zum Thema wählt, ist individuell und „beschränkt", er hat Anfang und Ende, ist in sich geschlossen und umfaßt nicht notwendigerweise eine ganze Welt — obschon die größtmögliche Universalität erwünscht ist, sofern sie der Abrundung des Ganzen keinen Abbruch tut. Dadurch nähert sich der Roman dem Drama. Seine Form ist jedoch, nach Schellings Worten, objektiv, allgemeingültig oder universell, in diesem Zusammenhang drei synonyme Begriffe, und dieser Charakter bezeugt die Verwandtschaft mit dem alten Epos — wobei freilich die Abhebung vom romantischen Epos nicht allzu deutlich herauskommt. Die Objektivität des Romans, d. h. die Unparteilichkeit und Teilnahmlosigkeit des Verfassers, seine bis zur Ironie reichende Gleichgültigkeit gegenüber dem erzählten Gegenstand, ist sogar noch größer und radikaler als im klassischen Epos. Der Romandichter bindet sich in keiner Weise an seinen Helden und unterwirft ihm nicht die ganze Erzählung. Er steht ihm vielmehr ironisch gegenüber, nimmt ihn als „Objekt" seiner Ironie, was nach Schelling das beste Mittel ist, die subjektive Schöpfung des Dichters objektiv zu gestalten. Diese Haltung des Romandichters gibt einen Hinweis auf die notwendige Beschaffenheit des Romanhelden: damit Ironie und Distanz möglich sind, darf er nicht vollkommen sein. Zudem ist er mehr symbolisch als persönlich. Zwar hält er nach Schellings Ansicht das Werk zusammen, aber nur wie das Band die volle Garbe, d. h. äußerlich. Jede Person, jede Begebenheit, jedes Element des Romans bleibt im Grunde selbständig, und der Roman könnte ohne diese Mannigfaltigkeit des Inhalts nicht bestehen. Das Zurücktreten des Helden gegenüber der Vielfalt des Erzählten entspricht dem Begriff der Arabeske, den Friedrich Schlegel immer wieder benutzt, um das Aufbauprinzip des Romans zu bezeichnen. Die lockere Komposition und die Freiheit der schöpferischen Phantasie, die damit gemeint sind, schaffen die Grundlage für die romantische Erzählhaltung im Sinne der Originalität und des freien Spiels des Dichters mit seiner Schöpfung®. 3

Vgl. dazu W. Bausch, Theorien des epischen Erzählens, S. 118 ff.

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Die Relativierung der Funktion des Helden drüdct sich in einem weiteren Merkmal aus, nämlich in der „retardierenden Kraft", die ihm innewohnen soll. Darunter versteht Schelling das SpannungsfeindHche des Romans, der im Gegensatz zum Drama nicht zur Auflösung drängt, sondern wie das klassische Epos bei jedem Augenblick verweilt und in einer ewigen Gegenwart spielt. Das bewegt Schelling dazu, Goethes Meinung, wie sie im Wilhelm Meister zum Ausdruck kommt, zu übernehmen: nicht Charaktere, sondern Gesinnungen, nicht Taten, sondern Begebenheiten sind für den Roman geeignet. Und wenn zufällig der Mittelpunkt eines Romans eine Tat ist, die einen Charakter zum Ausgangspunkt hat, zum Beispiel im Don Quijote, so liegt die ganze Kunst des Dichters darin, diese Tat durch die Umstände der Erzählung zur Begebenheit zu machen. Kaum etwas anderes hat Wilhelm Schlegel wohl gemeint, als er sagte, es solle im Roman alles Episode sein, d. h. selbständiges, nicht nach vorne drängendes Element; sonst sei eben nichts Episode, und der Roman sei ein Drama. Die retardierende Kraft des Helden bringt eine weitere, dem Epos und dem Roman gemeinsame Eigenschaft mit sich: das Verweilen, die ruhige Darstellung des Fortschreitenden, die harmonische und überschaubare Verteilung und Struktur des Ganzen, welche eine besondere Wirkung auf den Leser hervorbringen, der sich statt im dramatischen Hinund Hergerissenwerden vielmehr in der ruhigen Betrachtung und statt in der Befriedigung der Vernunft eher in den Freuden der Phantasie gefällt. Jeder Teil soll gleich golden sein, sagt Schelling. Hier ist es freilich nicht mehr der Hexameter, der die Ruhe und Besonnenheit des Dichters bezeugt, sondern die Prosa. Da auch diese als Ausdrucksmittel des Romans gerechtfertigt sein will, bemüht sich Schelling, zu zeigen, daß die künstlerisch gestaltete, leise rhythmische und periodenhaft gebaute Prosa das beste Medium darstelle, weil sie die „höchste Indifferenz" sei: sie dränge sich dem Ohr nicht gebieterisch auf wie ein Silbenmaß, dafür habe sie aber keine Spur von Gezwungenheit. Diese Schellingsche Deduktion ist wenig zwingend; er hätte wahrscheinlich ebensogut die Berechtigung jeder beliebigen Form demonstrieren können, wenn der Zufall sie als Romansprache bestimmt hätte. Diesem 'Nachweis' ist nicht allzuviel Bedeutung beizumessen. Abgesehen vom Gebrauch der Prosa decken sich die bisher angeführten Eigenschaften des Romans mit denen des Epos. In zwei Punkten jedoch weichen für Schelling und Wilhelm Schlegel die beiden Kunstformen voneinander ab: in ihrer 'Mythologie* und in ihrem Anspruch auf die 'Eigentümlichkeit' des Dichters. Die Mythologie des homerischen Epos mag zum Teil auf freie Er151

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findung Homers zurückzuführen sein; in ihren wesentlichen Bestandteilen lag sie jedoch fest, ehe Homer oder wer auch immer sich mit der Iliade befaßte. Und diese Mythologie barg eine einheitliche Weltanschauung in sich, die fürs ganze Volk — die damalige Menschheit im Bewußtsein der Griechen — gültig war. Das ist im modernen Roman nicht so: er soll erst seine Mythologie schaffen, indem er sich zu einem Spiegel des Zeitalters entwickelt und den realen Dingen, die er in der Erzählung verwertet, einen symbolischen, überzeitlichen Sinn verleiht. Das ist zum Beispiel Cervantes gelungen, dessen Helden zu mythologischen Personen und dessen 'Begebenheiten' zu mythischen Sagen geworden sind. Diese allgemeine Symbolik erhebt den Don Quijote zum Rang eines echten romantischen Romans, dem nur der Wilhelm Meister ebenbürtig ist. Außerdem kann der Roman, wie Schelling sagt, nur die Frucht eines reifen Geistes, die letzte Läuterung und die letzte Blüte eines Gemüts sein4. Er „legt den Ertrag Eines Lebens und Geistes in Erfindungen nieder, die . . . die Gewalt einer Mythologie gewinnen" 5 . Er ist also höchst individuell in seiner geistigen Konzeption, Ausdruck der persönlichen Eigentümlichkeit des Dichters, erlebtes und symbolisch dargestelltes Weltbild eines Individuums. Darum setzt der echte Roman für Wilhelm Schlegel einen umfassenden und von einem interessanten Leben befruchteten Geist voraus, der die Geheimnisse seines Gemüts in klaren und zugleich rätselhaften Sinnbildern ausspricht6. Ähnliche Ansichten kehren in zugespitzter Form bei seinem Bruder wieder, und es lohnt sich, der Auffassung des letzteren etwas ausführlicher nachzugehen. Die Schlüsselstellung des Romans in der Poetik der Frühromantik ergibt sich für Friedrich Schlegel aus zwei allgemeinen Forderungen, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, in Wirklichkeit jedoch einander ergänzen. Einerseits soll Dichtung die individuelle Persönlichkeit des Verfassers ausdrücken, andererseits soll Poesie „Sympoesie" sein. Das „Eigentümliche der Tendenz der romantischen Poesie im Gegensatz der antiken", heißt es im Gespräch über die Poesie, Hegt darin, daß sie keine Rücksicht nimmt „auf den Unterschied von Schein und Wahrheit, von Spiel und Ernst", während die alte Poesie sich hauptsächlich in der Sphäre des Scheins und des Spiels bewegte. Sogar die antike Tragödie war ein Spiel mit der Mythologie und mied jeden eigentlich historischen Stoff, der das Volk „ernstlich" hätte angehen können. Leben und Dichtung waren voneinander getrennt und machten wesent4 5 6

Sdielling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 327. Ebd., S. 324. A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 25.

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lieh verschiedene Ansprüche auf den Menschen geltend. Mehr als für die Antike jedoch gilt diese Ansicht für jede Form des „Antikischen", des Klassizismus, d. h. der Nachahmimg der Antike. Die Trennung von Leben und Poesie kennzeichnet also vorzüglich die Nachahmungen, in denen die Kunst ein ganz unverbindliches Spiel geworden ist. Der Klassizismus besteht für Schlegel in einem bloßen Spiel der Phantasie, einem technischen, gelehrten Experiment oder auch in einer leblosen Nachahmung gegebener Muster. Jede Flucht in eine allegorische Gedankenpoesie, in die Darstellung einer sagenhaften und mythischen Vorzeit als solcher oder in die Konstruktion einer künstlichen Welt gehört in dieselbe Kategorie und hat in romantischen Augen keinen Wert. Die romantische Poesie dagegen beruht „ganz auf historischem Grunde, weit mehr als man es weiß und glaubt" 7 . Die Modernen haben die Historie in die Poesie einbezogen, sagt Wilhelm Schlegel8. Die Dichtung bekommt für die Romantiker einen vorzüglich existenz- und wirklichkeitsbezogenen Wert. Sie sagt dem bloßen Schein und Spiel ab und begreift sich als Wahrheit und Ernst. Zu solchem Zweck erscheint ihr der Roman als die angemessenste Gattung. „Historisch" ist der Roman9, insofern er sich „an das Leben anschließt", und zwar an das persönliche Leben des Dichters. „Wahre Geschichte ist das Fundament aller romantischen Dichtung" 10 ; persönliche Erfahrungen und Reflexionen sind der eigentliche Inhalt des romantischen Romans. Er läßt sich beschreiben als ein „mehr oder weniger verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers", als die „Quintessenz seiner Eigentümlichkeit"11. Mit anderen Worten: „Die meisten Romane sind nur Kompendien der Individualität" 12 , bzw. „Enzyklopädien des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums" 13 . Auch Schelling hat ähnliche Ansichten geäußert. Friedrich Schlegel meint, jeder progressive Mensch — und darunter versteht er einen Menschen, der gebildet ist und sich bildet14 — trage „einen notwendigen Roman a priori in seinem Inneren, welcher nichts als der vollständigste Ausdruck seines ganzen Wesens" sei15. Deshalb erscheint es ihm als überflüssig, „daß man mehr als Einen Roman schreibt"16. 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 334. A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 313. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 339. Fr. Schlegel, Gesprädt über die Poesie, KA, Bd. II, S. 337. Ebd. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 103. Fr. Schlegel, Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 156, Nr. 78. Ebd. Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 572. Ebd., Nr. 288.

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Dichtung ist jedoch nicht nur Ausdruck der tieferen Persönlichkeit, Bekenntnis, Selbstrechenschaft des Individuums, sondern zugleich Mitteilung. Freilich nicht im banalen Sinn, als sollte der Inhalt der Rede vom Hörer rational und sachlich aufgenommen werden, sondern in der gefühlsmäßigen Bedeutung des Wortes als Partizipation, innige Anteilnahme und seelische Kommunion, mit einem Wort als „Sympoesie". Schon im Studium-Aufsatz erblickt Friedrich Schlegel in der „Gemeinschaft" eine der vier Bedingungen aller menschlichen Bildung neben der Kraft, der Gesetzmäßigkeit und der Freiheit". Auch wenn es ihm damals mehr um Äußerliches ging, nämlich um das Offenlegen der ästhetischen Mysterien, d.h. um die Bildung eines gemeinsamen Geschmacks und Interesses an der Kunst, so ist der Wunsch nach „Gemeinschaft" doch vielsagend für seine späteren Anschauungen. E r bedauert das Fehlen jeder Geselligkeit in der damaligen deutschen Gesellschaft und zeigt die üblen Folgen, die die Mangelhaftigkeit der menschlichen Kontakte nach sich zieht: üble Laune, höhnenden Stolz, saure Mienen, „seltsame Grillen" der Einsamkeit. Es kommt ihm darauf an, den Weg aus dieser Einsamkeit heraus und den Zugang zum anderen, zum Du, zur echten Mitteilung zu weisen. Mit Recht schreibt Minor18: „Friedrich Schlegel war es, der aus dem Fichteschen Grundsatz 'das Ich soll sein' den Satz ableitete 'das Ich soll sich mitteilen'." Dieser Gedanke wird Friedrich Schlegel während seiner frühromantischen Zeit nie verlassen; immer wieder wird darauf angespielt, und er erscheint als ein Schlüssel zu jeder echten Poesie. „Folgendes sind allgemeingültige Grundgesetze der schriftstellerischen Mitteilung: 1. Man muß etwas haben, was mitgeteilt werden soll; 2. man muß jemand haben, dem mans mitteilen wollen darf; 3. man muß es wirklich mitteilen, mit ihm teilen können, nicht bloß sich äußern, allein; sonst wäre es treffender, zu schweigen"1®. Erst in dieser Sympoesie erfüllen sich das Wesen der Dichtung und die Aufgabe des Dichters. „Nur in der Antwort des Du fühlt das Ich seine ganze Einheit — vorher ist Chaos — Ich und Welt" 20 . Dies bedeutet ein Hinausgehen über die Fichteschen Voraussetzungen der romantischen Poetik ähnlich demjenigen, das der Liebe im Bewußtseinsakt das Ubergewicht über die Vernunft gab. Ich und Welt — der Fichtesche Ausgangspunkt — sind Chaos; Ordnung und Wesenserfüllung kommen erst mit der menschlichen Nähe und dem menschlichen Dialog. Einsamkeit ist unfruchtbar und tödlich für Mensch und Kunst. „Im17 18 19 20

Fr. Fr. Fr. Fr.

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Schlegel, Schlegels Schlegel, Schlegel,

Über das Studium der griechischen Poesie, S. 191 f. prosaische Jugendschriften, Bd. I, S. V. Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 158, Nr. 98. Literary Notebooks, Nr. 1481.

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perativ: die Poesie soll gesellig und die Geselligkeit poetisch sein"21, wobei die zweite Hälfte der Aussage als eine Folge der ersten aufgefaßt werden muß. Fruchtbar sind die freundschaftliche Mitteilung und die Gemeinsamkeit der Gefühle: „Das Höchste ist, wenn zwei Freunde zugleich ihr Heiligstes in der Seele des anderen klar und vollständig erblicken und ihres Werkes gemeinschaftlich froh ihre Schranken nur durch die Ergänzimg des anderen fühlen dürfen. Es ist die intellektuale Anschauung der Freundschaft", und das steht viel höher als die Selbstbetrachtung22. Dementsprechend spielt auch im Prozeß der dichterischen Schöpfung das Du eine entscheidende Rolle, freilich nicht notwendigerweise als materielle Gegenwart des „Freundes", sondern eher als Vorstellung des Lesers, an den sich das Werk wendet. Gerade das fruchtbare Vorhandensein dieser Vorstellung unterscheidet den „synthetischen Schriftsteller", der sich „einen Leser, wie er sein soll, konstruiert und schafft", vom „analytischen", der nur einen Effekt auf das Publikum zu erreichen sucht. Dieser Leser, wie er sein soll, wird nicht als „ruhend und tot" vergegenwärtigt, sondern als „lebendig und entgegenwirkend", damit er mit dem Dichter, der sich ihn vorstellt, „in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie" treten kann23. Die Sympoesie vermittelt die Fühlung mit dem „Genius des Zeitalters", der als der „höchste Genosse des Bundes, der Meister der Meister" bezeichnet wird24. Er „deutet leise an, was schicklich sei und was nicht"25. „Niemand weiß, was er ist, wer nicht weiß, was seine Genossen sind" 26 , und „niemand versteht sich selbst, der seine Genossen nicht versteht"27. Die ganze Kraft der Dichtung kann sich nur ausdrücken, wenn der Dichter die Gewißheit hat, daß er mit den Tendenzen seiner Zeit und seiner Mitmenschen im Einklang steht. Erst dann wird die Poesie zu dem, was sie eigentlich ist, zur Magie. „Zur Magie kann der isolierte Mensch sich nicht erheben"; nur „in der Mitte der Freunde" fühlt man den „geistigen Hauch" wehen, der magisch ist28. Erst die Sympoesie entfaltet die volle Kraft der Dichtung. Nun ist die Form, in der die Sympoesie sich am besten verwirklichen kann, wieder einmal der Roman. In ihm wird der doppelten Forderung 21 22 23 24 25 29 27 28

Ebd., Nr. 613. Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 226, Nr. 342. Fr. Schlegel, Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 161, Nr. 112. Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 270, Nr. 139. Ebd., S. 268, Nr. 124. Ebd., S. 270, Nr. 139. Ebd., S. 268, Nr. 124. Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 310.

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des Ich als existenziellen Wesens und des Du als Zeitgeist am genauesten entsprochen. Trotz seiner Anlage als ein zur einsamen und nachdenklichen Lektüre bestimmtes Buch kann der Roman den besten Ausdruck des Zeitalters in seiner Gesamtheit darstellen. Er soll „wie Homer ein Inbegriff der ganzen Zeitbildung sein" 29 , und oft ist er „wie das epische Gedicht, nicht bloß das Werk des Künstlers und seiner Absicht, sondern das gemeinschaftliche Erzeugnis des Dichters und des Zeitalters, dem er sich und sein Werk widmet" 30 . Der Roman ist also die literarische Form, die, wie das Epos die Antike, das Ganze der modernen Welt am besten repräsentiert. Damit ist er zugleich die Gattung, die das gemeine Leben poetisiert und die dazu beiträgt, die „Geselligkeit" poetisch zu machen. Unter seinem doppelten Aspekt als Poetisation des Lebens und als Ausdruck des Zeitgeistes steht er obenan in der romantischen Wertskala. Auch bei Novalis bildet der Roman den Mittelpunkt der Reflexionen über die dichterischen Gattungen. Eine Gattungslehre hat Novalis freilich nicht entwickelt, wenigstens nicht systematisch. Abgesehen von ein paar allgemeinen Betrachtungen über den Gattungsbegriff selbst und verstreuten Ansichten über die Lyrik gilt seine Aufmerksamkeit hauptsächlich dem Roman, daneben freilich auch dem Märchen. Wie in allen Dichtungsarten sieht Novalis im Roman ein Mittel, „Poesie hervorzubringen". Dazu benutzt der Roman Begebenheiten, Dialoge, Reflexionen und Schilderungen, während z. B. die Lyrik das gleiche Ziel mit Empfindungen, Gedanken und Bildern zu erreichen sucht31. Das Adjektiv zu Roman ist bei Novalis durchweg „romantisch", und auch der Romandichter wird sehr oft Romantiker genannt, wie auch die Romankunst mitunter Romantik heißt 32 . Merkwürdigerweise spricht sich Novalis über die Ambivalenz dieser Termini nirgendwo aus, was vielleicht für den Wert, den er in seiner Poetik dem Roman zuschreibt, das beste Zeichen ist. Schon der Name scheint anzudeuten, daß der Roman im Mittelpunkt der Bestrebungen der romantischen Schule steht. Trotz der gemeinsamen positiven Bewertung des Romans gehen Novalis' und Friedrich Schlegels Anschauungen über sein Wesen manchmal auseinander. Besser gesagt: der Schwerpunkt des Romans liegt für jeden von ihnen an einer anderen Stelle.

29 30 31 32

Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 363. Fr. Schlegel, Goethes Werke (Heidelbergische Jahrbücher), in DNL 143, S. 398. Novalis, Fragment 2853. So z. B. in Fragment 1545, 1632, 2022, 2535, 2714, 2718, 3087.

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Die „Anschließung an das Leben" ist für beide Voraussetzung. Die Betonung des Individuellen aber, die bei Friedrich Schlegel immer wieder auftaucht, fehlt bei Novalis so gut wie ganz. Stoff des Romans ist ihm zwar das Leben33, aber dieses Leben ist weniger das Dasein und die Erfahrung eines Individuums als vielmehr das Leben überhaupt. Der Roman ist nicht so sehr der individuelle Ausdruck einer progressiven Persönlichkeit als die „Realisierung", d. h. die anschauliche Ausführung, einer poetischen „Idee". Eine solche Idee bedeutet für Novalis die schwebende Synthese mehrerer Gegebenheiten, die „sich nicht in einen Satz bringen" läßt, weil sie eine „irrationale Größe" ist, die man nicht begrifflich festzulegen vermag, sondern von der man nur „das Gesetz ihrer Fortschreitimg" ermitteln und veranschaulichen kann. Und dieses Gesetz bildet zugleich das Gesetz des Romans34. Das Wesen des Romans liegt also für Novalis in der progressiven Entwicklung der ihm zugrunde liegenden Idee, nicht im Resultat dieser Entwicklung, das sich in einem moralischen oder sonstigen Satz ausdrükken ließe. Der Roman ist nicht „Bild und Faktum eines Satzes", er will nicht gottschedianisch einen Gedanken mit konkreten Beispielen veranschaulichen35, sondern besteht ganz in seiner Entwicklung selbst und transzendiert jede begriffliche Inhaltsangabe. Das in der Fortschreitung erblickte Wesen des Romans bildet einen Berührungspunkt mit Friedrich Schlegels Theorie. Für Schlegel sollen nämlich „alle Personen im Roman fortschreitend sein; Maximum von Progressivität ist sein Ideal" 36 , und er definiert den Wilhelm Meister als einen „Stufengang der Lehrjahre der Lebenskunst" 37 . Die „Fortschreitung" erhält jedoch bei Novalis eine deutlichere Bestimmung als bei Friedrich Schlegel. Sie soll nämlich o r g a n i s c h sein. Damit stoßen wir auf einen Versuch, den Stoff des Romans in Abhebung von dem des antiken Epos zu charakterisieren, ähnlich demjenigen, den auch Schelling unternimmt. Novalis und Schelling drücken praktisch das gleiche mit verschiedenen Begriffen aus. Der „beschränkte", „individuelle" Charakter des Romanstoffes erscheint Schelling als dem Drama verwandt, weil er in sich abgeschlossen ist und im Gegensatz zum klassischen Epos, das in der Mitte anfängt und auch in der Mitte aufhört, Anfang und Ende hat. Nun ist für Novalis eine Erzählung „ohne Anfang, Mittel und Ende" ein „primitives Gedicht", das eine „bloß dynamische Belebung des Vorstellungsvermögens" auslöst. Das klassische 33 34 35 36 37

„Sorgfältiges Studium des Lebens macht den Romantiker", Fragment 2535. Fragment 986. Vgl. Fragment 986. Fr. Schlegel, Phüosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 23, Nr. 58. Fr. Schlegel, Über Goethes Meister, KA, Bd. II, S. 136.

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Epos betrachtet er als eine bloße Veredlung dieses primitiven Gedichts, mit dem es im Wesen identisch sei. Beide „dauern nur fort", während der Roman „fortwächst"38. Dieser Begriff des Wachstums und des Organischen will, so verlangt es Novalis, streng auf den Stoff des Romans angewendet sein, denn die Form des Romans ist bei ihm ebensowenig wie bei Schlegel der Organismusästhetik verhaftet. Die poetische Idee entwickelt sich wie ein organischer Keim, und darin sieht Novalis einen Vorzug der „künftigen transzendentalen Poesie" vor den „bisherigen Poesien", die meistens bloß dynamisch, nicht organisch gewesen seien". Die Idee als organischer Keim hat selbstverständlich den Vorrang vor allen sonstigen Stoffelementen, namentlich vor dem Helden. Diese Vorstellung deckt sich wieder einmal mit Schellings Ansicht, nach der dem Helden nicht alles unterworfen werden soll. Er ist „das Organ des Dichters im Roman", schreibt Novalis, sein Blickpunkt, sein Wortführer, aber weder das Einheits- noch das Gestaltungsprinzip des Werkes: deshalb soll er passiv sein40. Das geht über Schelling hinaus, der im Helden noch ein gewisses Prinzip der Einheit, wenn auch einer lockeren und äußerlichen, erblickt. Die eindeutige Verlegung des Schwergewichts auf die Idee läßt Novalis konsequenter romantisch erscheinen als Schelling. Auf Grund seiner Einsicht in das Wesen des Romans kann er Goethes Forderung der Passivität des Helden ohne weiteres übernehmen: er verfügt über die erforderlichen Kategorien, um diese Passivität zu rechtfertigen. Der Roman zeichnet sich auch für Novalis dadurch aus, daß er das Leben poetisiert. Er hat etwas „Heimliches", Unbegreifliches, Wunderbares an sich, das den Leser in eine andere Welt versetzt und seiner prosaischen Umgebung entfremdet 41 , indem er ihm neue Augen schenkt, um diese prosaische Welt poetisch anzuschauen und Leben und Schicksal als einen „kolossalen Roman" zu begreifen 42 . Die Welt ist dadurch poetisiert, sie hat einen dichterischen Sinn bekommen. Wieso kann eine „freie poetische Erfindung" einen neuen Sinn schaffen und die Welt geistig umwandeln? Indem sie „die Wirklichkeit sehr mannigfaltig symbolisiert". Eine die Wirklichkeit symbolisierende Dichtung aber ist ein Mythus, und „der Roman ist gleichsam . . . die Mythologie der Geschichte"43. Er bietet in anschaulicher Form die ewigen Urbilder des Lebens44. Auch dies erinnert an Schelling und an seine Forde38 38 40 41 42 43 44

Novalis, Fragment 810. Fragment 819. Fragment 2911. Fragment 2681, 2911. Fragment 2022. Fragment 3023. Vgl. Fragment 101.

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rang einer partiellen Mythologie als Spiegel des Zeitalters im romantisdben Roman. Friedrich Schlegel sprach ja von der Notwendigkeit, der Form des Romans die Gestalt des Märchens zu geben, nicht zuletzt darum, weil das Phantastische des Märchens von sich aus die Tendenz hat, zur Mythologie überzugehen, wie er es am Beispiel des Heinrich von Ofterdingen feststellen kann45. Die „Rückkehr zur Mythologie" gehört übrigens für ihn zu den wesentlichen Merkmalen des Romans, und er hält es sogar für möglich und wünschenswert, mehrere Mythologien in einem Roman miteinander zu kombinieren46. Die Progressivität des sich bildenden Individuums als Helden bedingt für Schlegel die literarische Erscheinungsweise des Romans: offene Form, Undeutlichkeit der Umrisse, Freiheit der Darstellung. Im Grunde ist der Roman keine endgültig festgelegte Gattung, er liegt „außerhalb der natürlichen Grenzen der Poesie"; jeder Roman ist „ein eigenes Individuum für sich"47, ein „Mischgedicht", eine „Art für sich"48. Historisch gesehen ist der Roman „bloß aus der Auflösung der Poesie" (d. h. der Versdichtung) entstanden, und zwar in der Zeit, in der man die „Ritterbücher" in Prosa übertrug, und er ist immer mehr zur „literarischen Manufaktur" geworden, die mit Poesie „wenig oder nichts" zu tun hat 4 '. Um historische Belege für seine Auffassung zu finden, bezieht sich Schlegel durchweg auf die spanische Romanform, wie sie von Cervantes geprägt wurde, gelegentlich auch auf Boccaccio. Der Roman, heißt es, ist die „ursprünglichste, eigentümlichste, vollkommenste Form der romantischen Poesie"50. „Ein poetisches Buch ist Roman"51. Er ist „ein romantisches Buch, eine romantische Komposition", und sein Hauptmerkmal ist die Vermischung und Verschlingung aller Formen und Gattungen: historische, rhetorische, dialogische Prosa wechselt mit lyrischer, epischer, didaktischer, romanzenhafter Poesie (Versdichtung) in „bunter Fülle und Mannigfaltigkeit". Daneben mischen sich in ihm Phantasie, Gefühlsergießungen und Humor, Ernst und Scherz. Parodie und Witz sind ebenfalls in ihm heimisch. Kunst- und Naturpoesie verbinden sich in ihm miteinander, wie auch Poesie und Wissenschaft52. Er kann sogar als die Wissenschaft der Poesie, „gaya ciencia" definiert werden53. 45 48 47 48 48 50 51 52 5S

Fr. Schlegel, Literatur, in DNL 143, S. 308. Fr. S