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German Pages 384 [381] Year 2014
Sarah Ruth Sippel Export(t)räume
2014-05-26 14-29-19 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367524745656|(S.
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Sarah Ruth Sippel (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig. Sie forscht aus geographisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive zum globalen Agri-Food-System.
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Sarah Ruth Sippel
Export(t)räume Bruchzonen marokkanischer Landwirtschaft
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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sarah Ruth Sippel Lektorat & Satz: Sarah Ruth Sippel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2115-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2115-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Einleitung | 7
ZUGÄNGE | 23 Neue Räume | 24 Globale Agri-Food-Systeme | 31 Sicherheit | 42 Handlungsspielräume | 50 Analyserahmen | 54
KONTEXTE : DER SOUSS | 57 Aufschwung zur Boomregion | 60
Das Erbe des französischen Protektorats | 60 Entkolonialisierung und Bewässerungspolitik | 64 Liberalisierung und Großkapital | 73 Zentrum der Exportproduktion | 85
Bekenntnisse: Privatisierung und Freihandel | 85 Regionale Netzwerke: Anbau, Verpackung, Export | 99 Machtkonzentration: Produktion und Vermarktung | 111 Natürliche Ressourcen: Überausbeutung und Akkumulation | 116 Fazit: Der Souss im globalen Agri-Food-System | 125
INTEGRATIONEN | 129 Aufwärtsmobilitäten: Gründungsgeschichten im Export | 134 Familienbetrieb: ›Wir haben klein angefangen‹ | 135 Jungunternehmer: ›Ein Bürojob, das war nicht mein Fall‹ | 147 Investoren: Exportlandwirtschaft als Kapitalanlage | 159 Europäische Akteure: Auslagerung von Produktionen | 164 Einbindungen: Handlungsmacht im Export | 172 Zulieferer: Anschluss an starke Partner | 174 Kooperative: Stärke durch Zusammenschluss | 182
Exportgruppe: Administrative und logistische Dienstleister | 191
Partnerschaft: Wechselnde Koalitionen und Anteile | 198 Vertikale Integration: Kontrolle über mehrere Ebenen | 204 Ausdifferenzierungen: Strategien und Konfliktlinien | 207 Absatzmärkte und Konkurrenz | 208 Verlagerungen und Machtpolitik | 213 Fazit: Mechanismen der Integration | 221
EXKLUSIONEN | 225 Heterogenitäten: Einblicke ins Lokale | 234 Chtouka: Transformationsbrüche im Plastikmeer | 234 Lagfifat: Hybride Nutzungen des Arganwalds | 259 Ahmar: Landtransaktionen am Fuß des Hohen Atlas | 273 Ländlicher Souss: Sozioökonomische Sicherheit | 283 Ausdifferenzierungen: Querschnittsperspektiven | 286 Interregionale Differenz: Die Bedeutung des Orts | 290 Lokale Landwirtschaft: Die Bedeutung von Ressourcen | 293 Partizipation: Die Bedeutung von Märkten | 306 Ländlicher Souss: Typen lokaler Landwirtschaft | 310 Fazit: Mechanismen der Exklusion | 312
BRUCHZONEN MAROKKANISCHER LANDWIRTSCHAFT | 315 Anmerkungen | 327 Literatur | 347 Verzeichnisse | 377 Dank | 381
Einleitung
Einblicke Erste Zugänge September 2006. Um den marokkanischen Tomatenexport zu erkunden, bin ich in den Souss gekommen. Wer baut in dieser Ebene im Südwesten Marokkos Tomaten für den Export an, von wem und wie werden sie exportiert und wie sind Produktion und Export organisiert? Das sind die Fragen, die sich mir anfangs stellen. Schnell kristallisiert sich heraus, dass es hier um mehr als Tomaten geht, und mich vor allem die Exportlandwirte selbst interessieren, ihre Hintergründe, Erfahrungen und Strategien. Doch wie konnte ich sie kontaktieren? Zwar ist die intensive Landwirtschaft durch ihre Gewächshäuser und Plantagen sehr präsent im Souss, doch nur selten wohnen auch ihre Besitzer in der Nähe der Felder. Meine ersten Anlaufpunkte sind daher das ORMVA/SM (Office Régional de Mise en Valeur Agricole du Souss Massa), das EACCE (Etablissement Autonome de Contrôle et de Coordination des Exportations) und die Produzentenorganisation APEFEL (Association Marocaine des Producteurs et Producteurs Exportateurs de Fruits et Légumes). Studenten aus Marokko, aber auch aus Europa, die ihre Abschlussarbeiten zum Exportsektor im Souss – meist mit Fokus auf den politisch sensiblen Tomatenexport – schreiben, sind für die Mitarbeiter dieser Institutionen nichts Ungewöhnliches. In der Regel geben sie bereitwillig ein paar Basisinformationen heraus – überwiegend Statistiken zur landwirtschaftlichen Produktion im Souss und zur Entwicklung der Frühgemüseexporte. Kontakte zu Landwirten jedoch, die hätten sie nicht, so erfahre ich. Eine Mitarbeiterin der APEFEL empfiehlt mir stattdessen, die Exportgruppen zu kontaktieren, und gibt mir eine Liste mit Adressen und Telefonnummern. Dies tue ich und erhalte schließlich einen ersten Termin mit dem Vertreter einer Exportgruppe – unser Gespräch verläuft allerdings nicht ganz so, wie von mir erhofft. Statt dass ich dazu komme, meine im Vorfeld zusammengestellten Fra-
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gen zu stellen, werde ich vielmehr selbst auf meinen Wissensstand hin geprüft und – nachdem dieser für mangelhaft befunden wird – darüber belehrt, was ich alles noch nicht über den marokkanischen Exportsektor weiß. Schließlich erfahre ich, dass es uninteressant sei, mit Landwirten zu sprechen, denn diese könnten meine Fragen sowie nicht beantworten. Zum Glück sind jedoch noch weitere Telefonnummern auf meiner Liste und bei einem der darauffolgenden Anläufe habe ich mehr Erfolg. Der Geschäftsführer dieser Exportgruppe, Herr S.M., ist etwa Mitte vierzig, recht beleibt, hat eine leise Stimme und geht auf meine Fragen ein. Unter anderem erläutert er mir Struktur, Organisation und Aufgabenbereich der Gruppe. Sie seien sehr professionell, betont er mehrmals, viele der angeschlossenen Landwirte seien ausgebildete Ingenieure und Agrarwissenschaftler. Diese hohe Professionalität sei notwendig, um die zunehmend anspruchsvollen Märkte zu bedienen – denn die Märkte seien sehr anspruchsvoll geworden, zu anspruchsvoll! Auf mein Anliegen hin, Gemüseexportlandwirte zu treffen, gibt er mir tatsächlich die Handynummern von zwei an die Gruppe angeschlossenen Landwirten – ein erster Zugang zur Zielgruppe ›Exportlandwirt‹ war geschafft, der mir weitere Türen öffnen sollte. Netzwerke und Kontaktlinien werden sich als entscheidend herausstellen, um mit den Akteuren der Exportproduktion im Souss ins Gespräch zu kommen und den Sektor und seine Protagonisten sukzessive kennenzulernen. Um in die unterschiedlichen Subkontexte und Cliquen innerhalb der Exportlandwirtschaft vorzudringen, muss ich jedoch an vielen Stellen anklopfen und versuchen, möglichst unterschiedliche Türen zu öffnen. Denn es existieren Gruppen, die einander nicht kennen oder nicht mögen und neben den Akteuren, die auf Außendarstellung setzen andere, die es bevorzugen, weniger sichtbar zu bleiben. Mal hilft mir der Zufall – doch ein paar Türen werden mir bis zuletzt verschlossen bleiben. Das Netzwerk, das ich mir nach und nach erschließe, verlangt zugleich auch mir selbst eine Positionierung ab – wen genau will ich treffen? Worüber möchte ich sprechen? Und warum? Gespräche können – das hatte mich meine erste Erfahrung gelehrt – heikel sein, nicht nur die Legitimität meiner Forschung, auch meine Qualifikation wird infrage gestellt. Repräsentativität Eine der Handynummern von Herrn S.M. ist die von Fathallah Abbad,1 studierter Wirtschaftswissenschaftler und Präsident einer Frühgemüse exportierenden Kooperative. Als ich ihm berichte, wer mir seine Telefonnummer gegeben hat, ist er sofort zu einem Treffen bereit. Wir vereinbaren als Treffpunkt das Büro der Exportgruppe. Auch Herr S.M. ist wieder da und wir setzen uns in den Konferenzraum, der mit dunklen Möbeln und einem großen ovalen Tisch ausgestat-
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tet ist, an dem leicht um die 30 Leute Platz finden. »Dies ist mein erstes Interview«, sage ich zu Fathallah Abbad und berichte, dass es nicht einfach sei, an ›echte‹ Landwirte wie ihn heranzukommen. »Na klar«, entgegnet er und lacht, »Sie gehen den Leuten auf die Nerven, denn Sie halten sie von der Arbeit ab!« Rund eine Stunde lang sprechen wir über seine Herkunft, Ausbildung und Betriebsgründung, die für ihn, so berichtet er, vor allem eine Möglichkeit war, ›seinen Chef loszuwerden‹. Er erläutert auch die Struktur der Kooperative, die er gemeinsam mit einer Gruppe gleichgesinnter Landwirte gegründet hat – Exportlandwirte, die ebenso wie er selbst ursprünglich nicht aus dem Souss stammen. Die Stimmung ist herzlich, Fathallah Abbad und Herr S.M. scheinen sich gut zu kennen, sie scherzen oft und viel. Zwei Mal wird Fathallah Abbad auf seinem Handy angerufen, hält die Telefonate jedoch kurz. Auch mit seinen finanziellen Einkünften sei er sehr zufrieden, antwortet er schließlich auf meine letzte Frage hin, natürlich, sonst würde er etwas anderes machen! Auf dem Weg nach draußen wirkt er nachdenklich: »Wissen Sie«, sagt er schließlich, »innerhalb von 20 Jahren hat sich die Zahl der Produzenten im Souss stark verändert. Von 3.500 sind heute vielleicht noch, sagen wir 500 Exportproduzenten im Gemüsesegment übrig. Früher, da waren die Gemüsebetriebe hier in der Region 2, 3 oder 4 Hektar groß – heute sind es viele sehr große Betriebe, 300 oder 400 Hektar! Das sind sehr große Unternehmen ... und vor allem die Bevölkerung hat sich verändert ... die Bevölkerung hat sich sehr verändert.« Er selbst und seine Kollegen seien nicht repräsentativ: »Versuchen Sie, auch die zu treffen, die nicht studiert haben, die nicht so gut integriert sind wie wir.« – »Was habe ich ihnen gesagt«, bemerkt Herr S.M. zum Abschied und wirkt zufrieden, »er ist ein Intellektueller – ein ehrenwerter, gestandener Mann!« Deshalb habe er ihn für mein Interview ausgewählt. Familienaufstieg Nach zwei oder drei Telefonaten gelingt es, ein Treffen mit Khalid Taoufiqui zu vereinbaren – auch seine Handynummer ist eine der Abzweigungen im Netz meiner Kontaktlinien. Er ist der erste Exportlandwirt, den ich treffe, dessen Familie aus dem Souss stammt. Unser Treffpunkt ist die Verpackungsstation des Familienbetriebs in Ait Melloul. Vom Türwächter werde ich auf das Gelände der Station gelassen und in einen Empfangsraum geführt, in dem ich auf meinen Interviewpartner warte. Nach einer guten halben Stunde kommt Khalid Taoufiqui zur Tür herein – ein groß gewachsener, schlanker Mann Anfang dreißig, in Jeans und kurzärmligem karierten Hemd – und entschuldigt sich für die Verspätung. »Gar kein Problem«, entgegne ich und beteuere, wie sehr ich mich freue, dass er sich für dieses Treffen Zeit genommen hat. Ich skizziere mein Forschungspro-
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jekt und betone mein Interesse an seiner Geschichte in der Exportlandwirtschaft. »Ich bin noch nicht so alt«, witzelt er, »meine Geschichte ist noch nicht so lang!« Routiniert skizziert er seine Laufbahn – das Studium der Agrarwissenschaft am Institut Agronomique et Vétérinaire Hassan II in Agadir, Marketingstudium in Frankreich, verschiedene Praktika, die er absolvierte, um ein wenig, wie er sagt, ›ein Gefühl für den Handel und das Geschäft‹ zu bekommen. Dann der Einstieg in den Familienbetrieb mit Mitte zwanzig, den er zunächst ein wenig ›auf Vordermann‹ gebracht und an die neuen Anforderungen im Obst- und Gemüsehandel angepasst habe. Zu seinen Projekten, so zählt er auf, gehörten die Gründung der Familienkooperative, dann die Diversifizierung der Produktion durch Investitionen in Zitrusfrüchte ebenso wie die Umsetzung des lange gehegten Plans der Familie, den Bau der familieneigenen Verpackungsstation. »Wie sah denn der Familienbetrieb vorher aus?«, frage ich, »wie haben Ihre Eltern und Großeltern in der Landwirtschaft angefangen?« »Kein Vergleich mit heute!«, lacht er und erzählt vom einfachen bäuerlichen Leben seiner Großeltern und wie auch sein Vater ›von ganz unten‹ angefangen habe. Weil sein Vater von klein auf hätte arbeiten müssen, besuchte er nur kurz die Koranschule. Zunächst habe er als Landarbeiter gearbeitet, dann nach und nach seinen eigenen Betrieb aufgebaut und schließlich begonnen, zu exportieren. »In den 1990er Jahren«, kommt seine Erzählung in Schwung, »da setzte die wahre Verwandlung ein! Das war intensive Landwirtschaft. Wir haben 15 Hektar bepflanzt, im Gewächshaus, alles im Gewächshaus, dann 20 Hektar, dann 30, 40 ... und heute sind wir bei 85 Hektar Tomaten, nur Tomaten. Und vor drei Jahren sagte ich: Wir müssen ein bisschen diversifizieren! Und so haben wir ein Projekt von 60 Hektar Zitrusfrüchten auf die Beine gestellt.« All das, sagt er, und zeigt um sich, sei nun das Eigentum der Familie Taoufiqui, all dies hätten sie in den letzten Jahrzehnten aufgebaut und eines könne er mir versichern: »Das ist Eigentum der Familie und finanziert, das kann ich Ihnen sagen, 100 Prozent vom Geld der Familie, wir haben nie bei einer Bank angeklopft, wir haben nie auch nur einen Centime Kredit aufgenommen, das ist ... « er lacht und führt den Satz nicht zu Ende. »Aber«, so fügt er an, »wir haben langsam angefangen, immer nach und nach, nach und nach.« Unternehmerleidenschaft Für das Treffen mit dem Stationsleiter eines der größten Exportunternehmen im Souss bin ich ins südlich von Agadir gelegene Chtouka gefahren. Vermittelt wurde mir dieses Treffen von Mouna, einer jungen Marokkanerin, die für das Unternehmen arbeitete und die ich per Zufall kennengelernt hatte. Auch wenn er kein Landwirt sei, G.C. kenne den Export wie seine Westentasche, sagte sie mir,
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daher solle ich ihn unbedingt treffen. Als ich in der Station ankomme, stellt mich Mouna Herrn G.C. vor. »Ach ja, das Interview«, erwidert dieser, gerade sei er sehr beschäftigt, aber in einer Dreiviertelstunde würde es vielleicht klappen. Mouna führt mich unterdessen durch die Station, erklärt mir die verschiedenen Arbeitsschritte und ihren eigenen Aufgabenbereich, die Qualitätssicherung. Schließlich erwischen wir Herrn G.C. noch einmal, diesmal bittet er mich in sein Büro. Er ist ein nüchterner Typ und in seinen Antworten auf das Wesentliche beschränkt. Nach einer knappen halben Stunde haben wir die zentralen Eckpunkte des Unternehmens besprochen, Größe und Portfolio der Produktion, Struktur und Organisation der Arbeit, Ablauf des Exports – unaufgeregt berichtet er von den aktuellen Projekten des Unternehmens, der Produktion in Dakhla und den Investitionen in Zitrusfrüchte in Zentralmarokko. Dann verabschieden wir uns und er verschwindet schnell zurück in Richtung Station. Auf dem Weg nach draußen studiere ich noch die Pläne von Station und Produktion, die an den Wänden hängen, und unterhalte mich kurz mit einer jungen Frau, die ebenso wie Mouna in der Qualitätskontrolle arbeitet. Wir stehen vor der halb geöffneten Tür eines Büros, in dem ein älterer, kräftiger Mann sitzt und raucht. Als er mich sieht, steht er auf, kommt aus seinem Büro und schaut mich neugierig an. Wer ich denn sei und was ich hier machen würde? Ich erzähle kurz von meiner Forschung. »Interessant«, entgegnet er, »ich bin Charles Bertrand.« Charles Bertrand! »Sie sind doch der Chef hier«, sage ich, ein wenig überrumpelt, »ich wusste gar nicht, dass Sie da sind! Gerade habe ich ein Interview mit Ihrem Stationsleiter, Herrn G.C. geführt!« »Er hat hoffentlich auf alle Ihre Fragen geantwortet!«, lacht er. »Haben Sie Zeit für ein Gespräch?«, frage ich spontan. Er nickt und bittet mich in sein Büro. »Was mich an Ihnen interessiert ist Ihre Persönlichkeit!«, eröffne ich das Interview. »Meine Persönlichkeit?!«, fragt er erstaunt. »Nun ja ... wie hat es sich ergeben, dass sie hierherkamen, nach Marokko, was haben Sie vorher gemacht und wie sind Sie überhaupt zur Landwirtschaft gekommen?«, erläutere ich. Eine gute Stunde und zahlreiche Zigaretten später habe ich erfahren, dass Charles Bertrand nun seit mehr als 30 Jahren in Marokko ist, die meiste Zeit davon als Teilhaber einer marokkanisch-französischen Partnerschaft. Ursprünglich kam er in den Souss, um in einem Rosenbetrieb zu arbeiten, nachdem er zuvor für das gleiche Unternehmen im Senegal war. Davor war er auch mal in Frankreich tätig, aber nur kurze Zeit. Geboren und aufgewachsen ist er in Algerien als Kind von Kolonialfranzosen. Neben diesem kleinen Einblick in seine Lebensgeschichte habe ich auch etwas über das Denken von Exportunternehmern gelernt: ihren Blick auf Ressourcen, ihre Bewertung von Märkten und Handelsabkommen – und was sie antreibt. Es sei nicht nur der Profit, versicherte mir Charles Ber-
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trand, sondern auch eine Leidenschaft, dem Traum von der Produktion in der Wüste und dem Export in die USA. – »Da hattest Du aber ganz schön Glück«, raunt mir Mouna zum Abschied zu, »dass Du den großen Chef hier erwischt hast, das kommt selten vor!« Gegenstand und Anliegen Tomaten aus Marokko, grüne Bohnen aus Kenia, Erdbeeren aus Spanien – beim alltäglichen Gang in den Supermarkt sind sie ein ebenso selbstverständliches wie unspektakuläres Bild. Frisches Obst und Gemüse aus aller Welt sind Teil eines alltagsglobalisierten Einkaufserlebnisses geworden, das Komfort und Genuss mit dem Versprechen auf Gesundheit und Vitalität vereint. Die ›Obst- und Gemüsetheke‹ im Supermarkt präsentiert Obst und Gemüse losgelöst von zweien ihrer ehemals zentralen Merkmale: ihrer Saisonabhängigkeit und ihrer Verderblichkeit. Unabhängig von der Jahreszeit ist stets ein einheitliches Sortiment verfügbar, erzielt durch ein sekündlich ineinandergreifendes globales System der Abstimmung zwischen Produktion, Transport und Verkauf und Technologien der Kühlung und Haltbarmachung. Dieses System beruht maßgeblich auf der Einbindung von Regionen, die sich auf die gegensaisonale Belieferung des europäischen Markts spezialisiert haben. Auch Marokko gehört zu den Ländern, die seit Jahrzehnten eine exportorientierte Landwirtschaft fördern. Die marokkanische Exportlandwirtschaft, die in sie verflochtenen Akteure und die Bruchzonen, die diese Landwirtschaft hervorbringt, sind der Gegenstand dieses Buchs. Gegenwärtig ist Marokko einer der größten außereuropäischen Lieferanten und bevorzugten Handelspartner für mediterranes Obst und Gemüse in die EU. Diese Position soll auch in Zukunft gefördert und ausgebaut werden, wie die 2008 lancierte und auf das Jahr 2020 hin ausgerichtete nationale Agrarstrategie Marokkos, der Plan Maroc Vert, unterstreicht. Innerhalb Marokkos konzentriert sich die exportorientierte Obst- und Gemüseproduktion auf eine Region, und zwar die im Südwesten zwischen Hohem und Anti-Atlas gelegene und an den Atlantik angrenzende Souss-Ebene. Bereits während der französisch-kolonialen Erschließung als fruchtbare, mit reichen Grundwasservorkommnissen ausgestattete Ebene identifiziert, fand hier im Anschluss an die Unabhängigkeit ein kontinuierlicher, exportlandwirtschaftlicher Boom statt. Es entstand einer der dynamischsten Standorte der intensiven Obstund Gemüseproduktion im südlichen Mittelmeerraum. Seit den 1990er Jahren ist die Ebene zugleich zur Zielregion von Auslagerungen europäischer, vor allem französischer und spanischer Produktionen geworden. Der Souss gilt als Vorzeigeregion einer modernen Landwirtschaft, die auf höchstem Produktionsniveau
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betrieben wird und zahlreiche Qualitätsnormen und Standards erfüllt. Er steht symbolisch für die erfolgreiche Umsetzung der nationalen Exportstrategie, die Erfüllung von ›Exportträumen‹: den Aufstieg Marokkos in die Liga wettbewerbsfähiger Lieferanten für europäische Einzelhandelsketten, die Partizipation am äußerst lukrativen globalen Obst- und Gemüsehandel, das Ergreifen der ›Fresh Business Opportunities‹, mit denen die Fruit Logistica, eine der jährlich stattfindenden Messen für frisches Obst und Gemüse, wirbt. Der Erfolg der nationalen Exportstrategie spiegelt sich in der Erfüllung der Exportträume einzelner Individuen und Familien wider, denen es gelang, die politische Vision individuell zu verwirklichen und so am kollektiven Exporttraum teilzuhaben. Diese Akteure und ihre Perspektiven zu portraitieren ist eine zentrale Zielsetzung dieses Buchs. Einige Facetten dieser Träume zeigten sich bereits in den eingangs geschilderten Begegnungen mit diversen Protagonisten des Exportsektors. So konnte Fathallah Abbad, der in Casablanca und Toulouse Wirtschaft studierte, im Souss seine Vorstellungen von Exportqualität innerhalb einer Gruppe geistesverwandter Landwirte umsetzen und auf diese Weise sowohl sein eigener Chef werden als auch zu Wohlstand gelangen. Als junger, dynamischer Nachfolger in einem Familienexportbetrieb aus dem Souss war Khalid Taoufiqui bereits mit Mitte zwanzig in der Position, große landwirtschaftliche Projekte in Angriff zu nehmen. Dies war ihm möglich, weil seine Familie zu den sozialen Aufsteigern im Export gehörte, der der Familie zu einer beträchtlichen Erweiterung ihrer Möglichkeitsräume verholfen hatte. Charles Bertrand schließlich, in Algerien geborener und aufgewachsener Franzose, baute im Souss in Kooperation mit einem marokkanischen Partner eines der größten Exportunternehmen Marokkos auf, das seit Mitte der 2000er Jahre darauf abzielt, neben dem europäischen auch den nordamerikanischen Markt zu erschließen. Diese Geschichten stehen stellvertretend für die vielfältigen Exportträume, die im Souss in die Tat umgesetzt wurden. Ihnen gemeinsam ist die Teilhabe an einem der lukrativsten Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion, dem Markt, der mit die höchsten zu realisierenden Gewinnspannen in Aussicht stellt. Der in den Exportträumen gleichfalls enthaltene Begriff der Exporträume greift die mit diesen Träumen in Verbindung stehenden räumlichen Dimensionen auf. Er bezeichnet erstens den Handlungsspielraum der Akteure. Dieser hat sich mitunter stark ausgedehnt, wenn über die Jahre aus Kleinbauern große Exportlandwirte und aus Familienbetrieben global agierende Familienunternehmen mit Handelspartnern in Europa, Russland und Nordamerika wurden. Landwirtschaftliche Handlungsspielräume wurden jedoch nicht nur erweitert, sondern zugleich auch beschränkt, was sich bereits in den Äußerungen Fathallah Abbads zur Repräsentativität seiner Person und den strukturellen Veränderungen der
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Landwirtschaft im Souss andeutete. Denn den Erfolg und Wohlstand verheißenden Träumen vom Export stehen existenzielle Risiken gegenüber: Nur der Minderheit der Landwirte ist es gelungen, längerfristig am Aufschwung der Obstund Gemüseproduktion zu partizipieren und dabei zu global agierenden Exportmanagern aufzusteigen. Die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung wurde nicht nur von einer Partizipation am Export ausgeschlossen, sondern auch aus der Landwirtschaft selbst verdrängt. Auch diese Akteure werden im vorliegenden Buch zu Wort kommen. Der Begriff der ›Exporträume‹ bezieht sich somit zweitens auf Prozesse der sozialräumlichen Fragmentierung, die die Souss-Ebene im Zuge der Verfolgung landwirtschaftlicher Exportträume erfasst und weitreichend transformiert haben. Die Verwirklichung von Exportträumen – auch das zeigt das Beispiel des Souss – geht mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Kosten einher, die ländliche Räume und ihre sozialen Landschaften nachhaltig verändern. Inmitten des Zentrums der erfolgreichen Partizipation am internationalen Obst- und Gemüsehandel entstehen neue Unsicherheiten, die für weite Teile der ländlichen Bevölkerung zu Prekarisierung und neuen Abhängigkeiten geführt haben und die mit möglicherweise irreversiblen Umbrüchen und Verwerfungen innerhalb der sozialen Gefüge verbunden sind. Diese Umbrüche aufzuzeigen und ihre Implikationen für die sozioökonomische Sicherheit der Akteure zu analysieren ist ein weiteres zentrales Anliegen dieses Buchs. Hierfür nehme ich eine akteurszentrierte Perspektive ein, die auf die Handlungsspielräume der unterschiedlichen, in den Export verflochtenen Akteure fokussiert und untersucht, auf welche Weise sich diese ausgebildet und verändert haben. An welchen Stellen und in welchen Momenten kommt es zur Ausdifferenzierung von Handlungsspielräumen, wo brechen Handlungsoptionen auseinander und was entscheidet über die Integration in oder die Exklusion aus Exportmärkten? Im Spannungsfeld fortwährender Transformationen innerhalb der globalisierten Agrarproduktion kommt es zu sozialen Verwerfungen und Umbrüchen, für die ich die der Geologie entlehnte Metapher der ›Bruchzone‹ verwende. Sie verweist auf das Auseinanderbrechen sozialer Gefüge und die teils eng verschachtelten, teils vielschichtig fragmentierten sozialen Räume, die ebendiese Verwerfungen und Umbrüche produzieren. Inmitten der globalisierten Obst- und Gemüseproduktion entstehen soziale Bruchzonen, die durch neue Formen von Abhängigkeit, Verwundbarkeit und Unsicherheit charakterisiert sind. Mit diesem Gegenstand nehme ich eine erhebliche Bandbreite von Akteuren in den Blick, deren Handlungsreferenzpunkte teils weit auseinanderklaffen. Es wird nicht allein eine Akteursgruppe – die der ›Gewinner‹ oder die der ›Verlie-
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rer‹ von Globalisierungsprozessen – untersucht, sondern beide Gruppen werden zusammengedacht. Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass sowohl Elemente der Eliten- als auch der Armutsgruppenforschung einfließen, da beide unmittelbar in die Exportlandwirtschaft hinein verwoben sind. Mit Hilfe beider Perspektiven möchte ich aufzeigen, auf welche Weise diese oftmals physisch ebenso wie sozialräumlich voneinander getrennten Akteursgruppen durch die Interaktion ihrer Handlungsspielräume miteinander verflochten sind. Positionierungen innerhalb dieses Systems, so zeige ich, verlaufen nicht immer eindeutig, vielmehr lassen sich vielfältige Grenzziehungen und Konfliktlinien identifizieren, anhand derer und an denen entlang sich soziale Bruchzonen innerhalb agroindustrieller Globalisierungen ausmachen lassen. Mit diesem Erkenntnisinteresse verortet sich das Buch an den Schnittstellen dreier Forschungsfelder: (1) den Neukonzeptualisierungen des Raumbegriffs im Rahmen des spatial turn und der handlungsorientierten Sozialgeographie, (2) der Analyse globaler Agri-Food-Systeme und (3) den Debatten zu Sicherheit, Existenzsicherung und Verwundbarkeit im ländlichen Raum. Mit seinem akteurszentrierten und handlungsbezogenen Fokus unterscheidet sich das Buch grundsätzlich von den bisher vorliegenden Studien zur Exportlandwirtschaft in Marokko, die sich fünf Forschungssträngen zuordnen lassen. Ein erster Schwerpunkt liegt auf der Organisation des Sektors und den Produktions- und Exportstrukturen. Im Vordergrund stehen hier die Exportgruppen und Produzentenkooperativen, deren Aufbau, Ausrichtung und Strategien untersucht werden (vgl. Belkadi 2003, Aznar Sánchez 2004, Chemnitz & Grethe 2005, Tozanli & El Hadad Gauthier 2007, Rastoin et al. 2008, 2009). Ein zweiter Strang analysiert die Wettbewerbsfähigkeit der marokkanischen Produktion, vor allem im Vergleich zur spanischen und französischen, wofür standortbezogene Produktionskosten und Preisbildungsmechanismen herangezogen werden (vgl. Redani 2003, Aznar Sánchez 2004, Desmas 2005, Rastoin et al. 2009). Die Analyse der EU-rechtlichen Bestimmungen des Imports von frischem Obst und Gemüse ist ein dritter Gegenstand (Chemnitz & Grethe 2005, van Berkum 2013), der mit den Auswirkungen von Qualitätsanforderungen und Zertifizierungen – allen voran der privatwirtschaftlichen Standards – auf marokkanische Exportproduzenten verbunden wird (vgl. Aloui & Kenny 2005, Chemnitz 2007). Viertens wurden das marokkanische Wassermanagement, Wasserkonflikte sowie Möglichkeiten der Konflikttransformation am Beispiel der Souss-Ebene aufgezeigt (Houdret 2010). Seit Jahren werden darüber hinaus Forschungsarbeiten an den agrarökonomisch ausgerichteten Instituten Marokkos (Rabat, Agadir, Meknès) angefertigt, die vorwiegend agrartechnische Themen wie verbesserte
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Anbauweisen und -sorten, Bewässerungssysteme oder Pflanzenschädlinge und ihre Bekämpfung zum Gegenstand haben. Die jüngsten sozialgeographischen Erhebungen im ländlichen Souss gehen hingegen auf die 1970er bis 1990er Jahre zurück und wurden maßgeblich von den Geographen Abdellatif Bencherifa, Herbert Popp und Mohamed Bouchelkha durchgeführt, auf deren Arbeiten im Kapitel ›Kontexte: Der Souss‹ ausführlich eingegangen wird (vgl. Bencherifa 1980, Popp 1983a, Bouchelkha 1995, 2003a, 2005). Die Verflechtung der marokkanischen Exportproduktion in den globalen Agrarhandel und die damit einhergehenden Prozesse der Integration in den Weltmarkt und der Exklusion aus landwirtschaftlichen Produktionszusammenhängen blieben bisher weitgehend unerforscht. Vor dem Hintergrund dieser Literaturlage und der nur begrenzt zugänglichen offiziellen Informationen zum Exportsektor beruht das Buch zu weiten Teilen auf eigener Empirie, auf deren Zustandekommen und Geschichte ich nun eingehen möchte. Empirische Zugänge Kernanliegen dieses Buchs ist eine empiriegeleitete, auf Verstehen ausgerichtete Forschung (Bourdieu 1998 [1993]). Im Vordergrund steht die Lebenswelt der Befragten, die vermittelt über ihre Selbstsicht analysiert und verstanden werden soll (Froschauer & Lueger 2003). Der Großteil der in diesem Buch präsentierten Ergebnisse beruht auf selbst erhobenen Daten, die eine Geschichte haben und durch die Methoden strukturiert wurden, die für ihre Generierung zur Anwendung kamen (Gertel 2005a). Es gilt daher, zunächst die empirischen Zugänge, das Zustandekommen der Interviewsituationen und den Prozess von Erhebung und Auswertung transparent zu machen. Das dem vorliegenden Buch zugrunde liegende empirische Material wurde während vier mehrmonatiger Feldaufenthalte im Souss erhoben, die insgesamt knapp ein Jahr umfassten. Der erste fand zunächst im Rahmen meiner Magisterarbeit im Herbst 2006 statt, die weiteren im Zuge der Arbeit an der Dissertation im Frühjahr und Herbst 2008 und im Frühjahr 2009. Die Feldforschung in Marokko wurde durch Interviews mit Obst- und Gemüseimporteuren und Beobachtungen auf Großmärkten in Südfrankreich und in Paris im Sommer 2007 ergänzt. Der Prozess der empirischen Datenerhebung war von mehreren Phasen der Zwischenauswertung begleitet, in denen Fragestellung, Erkenntnisinteresse und weiteres Vorgehen jeweils geschärft und fokussiert wurden. Während der Feldforschung kam ein Methodenmix aus qualitativen und quantitativen Elementen der empirischen Sozialforschung zur Anwendung, die als einander ergänzend betrachtet und entsprechend miteinander verschränkt
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wurden (vgl. Prein et al. 1993, Kelle 2007). Die empirische Vorgehensweise und die gewonnenen Zugänge zu Interviewpartnern spiegeln sich im Aufbau des Buchs und in der Präsentation der Daten wider. Beide reflektieren nicht nur inhaltliche, sich aus dem Untersuchungsgegenstand heraus ergebende Gegebenheiten, sondern auch die sukzessive erschlossenen Zugänge zu und Einblicke in Lebenswirklichkeiten im Souss, die teils auch ein Vordringen gegen Widerstände aus dem ›Feld‹ heraus beinhalteten (vgl. Flick 2005: 86 ff.). Ausgangspunkt und Basis meiner Feldforschung im Souss war meist die Küstenstadt Agadir. Diese Wahl war in zweifacher Hinsicht infrastrukturell begründet: der in Agadir gegebenen Infrastruktur für Wohnraum und ›Alltagsleben‹ während der Feldforschung einerseits und der im Großraum Agadir räumlich zu erschließenden Kontakte und Netzwerke in die Exportlandwirtschaft hinein andererseits. Viele der ›Schaltzentralen‹ der Exportlandwirtschaft wie Büros von Produzentenorganisationen, Exportgruppen und Kooperativen, aber auch Verpackungsstationen sind hier angesiedelt; auch befinden sich die Vertretungen öffentlicher Behörden wie ORMVA/SM (Office Régional de Mise en Valeur Agricole du Souss Massa) und EACCE (Etablissement Autonome de Contrôle et de Coordination des Exportations) sowie Lehr- und Forschungseinrichtungen wie das Institut Agronomique et Vétérinaire Hassan II/Complexe Horticole im Großraum Agadir. Darüber hinaus wohnt ein Teil der marokkanischen Exportproduzenten in Agadir ebenso wie die französisch und spanisch dominierten europäischen Communities, die auf diese Weise in Agadir kontaktiert und getroffen werden konnten. Während der ersten beiden Aufenthalte im Herbst 2006 und Frühjahr 2008, die vor allem der Analyse der Exportstrukturen dienten, bildeten diese Institutionen und Akteure wichtige Anlaufpunkte für die Herstellung von Kontakten, wobei der hohe Organisationsgrad des Exportsektors von Vorteil war. Am erfolgversprechendsten war dabei, wie eingangs geschildert, ein Vorgehen über ›Kontaktlinien‹. Ich versuchte, möglichst unterschiedliche Zugänge über verschiedene Institutionen und Akteursfelder herzustellen, um mir auf diese Weise nach und nach ein breites Netzwerk aus Informanten und Ansprechpartnern zu erschließen. Dies erforderte in der Regel mehrfache Anläufe und zahlreiche Telefonate – war jedoch einmal ein persönlicher Kontakt etabliert, so erschlossen sich darüber oft weitere Interviewpartner. Ob Kontaktaufnahmen sich als ›fruchtbar‹ oder vielmehr als ›Sackgassen‹ entpuppten, hing dabei nicht notwendigerweise von der Institution oder Organisation ab, sondern meist vom jeweils angetroffenen Individuum. Die über längere Zeitabschnitte und -phasen hinweg erfolgten Feldforschungsphasen erlaubten es schließlich, sukzessive ein breites Netzwerk aus Kontakten zu unterschiedlichen Untergruppierungen des Exportsektors zu eta-
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blieren und Interviewpartner und Kontaktpersonen auch mehrfach wiederzutreffen. Auf diese Weise konnte ich eine tiefere Vertrauensbasis herstellen und Prozesse über einen längeren Zeitraum hinweg begleiten und dokumentieren. Das ›Feld‹ der Exportproduktion im Souss ist dabei in den führenden Positionen maßgeblich männlich dominiert. Meine Feldforschung könnte in weiten Teilen als ›Männerforschung‹ charakterisiert werden, was sich in der von mir gewählten Sprache widerspiegelt. Ich verzichte weitgehend auf feminine Bezeichnungen, und zwar deshalb, weil Frauen in meiner Kernuntersuchungsgruppe ›Exportlandwirt‹ so gut wie nicht repräsentiert sind. In den wenigen Fällen, in denen Frauen interviewt wurden, mache ich dies entsprechend kenntlich. Diese Vorgehensweise soll dabei keineswegs suggerieren, dass Frauen nicht exportlandwirtschaftlich tätig sein können, sondern reflektiert lediglich die von mir angetroffene Realität. Frauen sind zugleich ohne Zweifel auf vielfältige Weise in die Exportlandwirtschaft verflochten, allen voran als bevorzugte Landarbeiterinnen für bestimmte Tätigkeiten. Auf diese Aspekte wird kontextspezifisch eingegangen. Das Datenmaterial umfasst drei Kernbereiche, auf denen die empirischen Teile des Buchs beruhen: (1) qualitative Interviews mit Exportlandwirten, (2) Erhebungen auf der Ebene einzelner Dörfer im Souss und (3) die Erfassung ergänzender Daten auf der Ebene der Verpackungsstationen. Die qualitativen Interviews mit (Export-)Landwirten wurden auf der Basis von Leitfäden (vgl. Flick 2005: 117 ff.) und zumeist in französischer Sprache geführt; nur einzelne Interviews erfolgten im marokkanischen Dialekt, dann mit der Unterstützung von weiteren Akteuren des Felds. Das zentrale Auswahlkriterium für diese Interviews war, dass der betreffende Interviewpartner (einer der) Betriebsinhaber und nicht als Angestellter tätig war. Die Betriebsgrößen der Interviewpartner variierten dabei stark, sie sind jedoch mehrheitlich den großen und sehr großen Betrieben und Unternehmen im Souss zuzuordnen. Die Interviews dauerten zwischen einer halben bis hin zu mehreren Stunden und wurden – das Einverständnis der Interviewpartner vorausgesetzt – aufgezeichnet. Sie fanden überwiegend entweder im beruflichen Umfeld des Interviewten (Verpackungsstation, Exportbüro) oder im öffentlichen Raum statt. Die Interviews folgten im Wesentlichen einem Leitfaden, der Fragen zu Geschichte und Status Quo des Betriebs, Einbindung und Organisation im Export und zur Familienstruktur beinhaltete. Je nach Gesprächspartner wurden dabei einzelne Elemente ausgebaut oder auch weggelassen. Struktur und Schwerpunkte der qualitativen Interviews veränderten sich über die verschiedenen Aufenthalte hinweg mehrfach, sie wurden dem Verlauf des Erkenntnisprozesses angepasst, teils modifiziert und reflektieren damit zugleich unterschiedliche Feldfor-
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schungsphasen, in denen Fragestellungen teils neu aufgenommen oder fallengelassen wurden. Problemzentrierte Elemente, die den ›Status Quo‹ des Betriebs, seine Einbindung in den Export sowie weitere im Zusammenhang mit der Exporttätigkeit stehende Aspekte erörterten, bildeten jedoch stets einen wichtigen Schwerpunkt der Interviews. Ein weiteres durchgängig zentrales Motiv war die ›berufliche Lebensgeschichte‹ des Produzenten, die sich zunächst aus reiner Neugier heraus speiste und dann in der Anwendung biographischer Methoden in Form narrativer Interviews systematischer verfolgt wurde (vgl. Chamberlayne et al. 2000, Völter et al. 2005). Im Fall der Familienbetriebe wurden daneben auch Familienportraits erstellt, beispielsweise um Zusammenarbeit und Aufgabenteilung ebenso wie hierarchische Strukturen innerhalb von Familie und Betrieb zu untersuchen (vgl. Miller 2000, Cheal 2002). Die Mehrheit der während dieser Phase interviewten Exportlandwirte verfügte über ein sehr hohes Bildungsniveau. Viele von ihnen hatten selbst studiert und in diesem Rahmen auch Abschlussarbeiten geschrieben, so dass sie häufig ihr Verständnis für ›Sinn und Zweck‹ meiner Forschungstätigkeit unterstrichen. Im Anschluss an die Gespräche habe ich jeweils Aspekte zur Interpretation der Interviewsituation festgehalten, so unter anderem zum Zustandekommen des Interviews, zu Umfeld, Rahmenbedingungen und Dynamiken im Gesprächsverlauf, der möglichen Bedeutung des Interviews für die befragte Person und zu den informellen Gesprächen vor und nach dem Interview (Froschauer und Lueger 2003: 74-75). Insgesamt wurden 37 der aufgezeichneten Interviews in die detaillierte Interpretation und Analyse einbezogen; drei der Interviewpartner sind dabei als Besitzer kleiner (< 10 Hektar), 23 als Besitzer mittlerer bis großer (10-65 Hektar) und 11 als Besitzer sehr großer Betriebe (100-1.000 Hektar) einzuordnen. Die zur Auswertung herangezogenen Interviews wurden transkribiert und, sofern sie im Buch wörtlich zitiert werden, ins Deutsche übersetzt. Die Auswertung und Präsentation der qualitativen Interviews beruht auf einer typenbildenden Vorgehensweise (Kluge 1999, Kelle & Kluge 2010), auf die zu Beginn des Kapitels ›Integrationen‹ ausführlich eingegangen wird. Parallel zu den qualitativen Interviews begann ich im Frühjahr 2008, Kontakte in ausgewählte Gebiete und Dörfer der Souss-Ebene auf- und auszubauen, um die sozioökonomischen Lebensbedingungen im ländlichen Souss, die landwirtschaftlichen Handlungsspielräume der dort ansässigen Landwirte und ihre Verflechtungen in die Exportlandwirtschaft hinein zu untersuchen (vgl. hierzu die Einleitung zum Kapitel ›Exklusionen‹). Die dabei angetroffenen Umbrüche sozialer Landschaften erforderten schließlich neben den qualitativen Elementen auch eine quantitative methodische Vorgehensweise, um die Konsequenzen der intensiven Exportlandwirtschaft und ihre Implikationen für ländliche Räume in
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ihrer Breitenwirkung zu erfassen. Die quantitative Kernerhebung erfolgte im Herbst 2008 und umfasste sechs Wochen, während derer ich in den jeweiligen Untersuchungskontexten lebte. In diesem Zeitraum wurde ich von drei marokkanischen Forschungsassistenten, ausgebildeten Agraringenieuren und Absolventen des Institut Agronomique et Vétérinaire Hassan II/Complexe Horticole d’Agadir, begleitet. Sie führten unter meiner Anleitung eine Betriebsbefragung durch und unterstützten mich bei Kontaktaufnahmen, Haushaltszählungen und Kartierungen. Zentrale Ansprechpartner und Vermittler zu Landwirten und Dorfbewohnern waren dabei insbesondere die im Souss flächendeckend anzutreffenden lokalen Entwicklungsorganisationen. Die qualitativen Elemente dieser Forschungsphase beinhalteten Gespräche und Gruppendiskussionen mit Landwirten, weiteren Dorfbewohnern und den Vertretern der Entwicklungsorganisationen sowie Beobachtungen. Die quantitative Erhebung umfasste erstens eine Betriebsstudie, in deren Rahmen 180 in den Dörfern ansässige Landwirte befragt wurden. Der standardisierte Fragebogen der Betriebsstudie bildete den quantitativen Kern der Erhebung und bestand aus drei Teilen, einem Produktions-, einem Vermarktungs- und einem auf die Familienstruktur bezogenen Teil. Die Betriebsstudie wurde zweitens durch Haushaltszählungen zur Vollerfassung der in den Dörfern ansässigen Familien ergänzt. Die Zählung der insgesamt 1.800 Haushalte erfolgte jeweils mit einem Ansprechpartner aus dem entsprechenden Dorf und fragte Haushaltszusammensetzung, Erwerbstätigkeitsfelder sowie Land- und Viehbesitz der im Dorf lebenden Familien ab. Die quantitativen Daten wurden in eine Datenmaske eingespeist und mithilfe des statistischen Datenauswertungsprogramms SPSS analysiert (vgl. Baur & Fromm 2008, Benninghaus 2007). Darüber hinaus wurden unter Rückgriff auf Ausgangsmaterial von google maps gemeinsam mit den Dorfbewohnern landwirtschaftliche Besitz- und Nutzungsstrukturen kartiert. Weitere Erläuterungen zum Prozess der Datenerhebung im ländlichen Souss und zur Auswertung der quantitativen Daten erfolgen im Kapitel ›Exklusionen‹. Die bis hierher skizzierten Erhebungen wurden schließlich mit einer semiquantitativen Befragung auf der Ebene der Verpackungsstationen im Frühjahr 2009 komplementiert. Diese letzte Forschungsphase erfolgte vor dem Hintergrund der Annahme, dass auf der Ebene der Verpackungsstationen – als wichtigste logistische Schnittstellen in den Export – zentrale Informationen zur Einordnung der bereits vorhandenen qualitativen und quantitativen Daten würden erhoben werden können. Auf diese Weise sollten zugleich indirekt die Akteure erfasst werden, zu denen kein persönlicher Zugang gewonnen werden konnte, sei es aufgrund ihrer geringen Präsenz im Souss oder ihrer gesellschaftspolitischen Position. Der semi-quantitative Fragebogen beinhaltete die folgenden As-
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pekte: Gründungsjahr der Station, ihre Besitzstruktur (u.a. Unternehmen, Kooperative, privat), gegebenenfalls erfolgte Änderungen der Besitzverhältnisse und Anschluss der Station an weitere Organisationen (wie Exportgruppen, Kooperativen). Sofern vorhanden wurden für die an die Station angeschlossene Produktion Produktportfolio, Größe und Lage sowie Zugänge zu Land (Kauf/Pacht) und Wasser (insbesondere Tiefe der Brunnen) erhoben. Ergänzend wurde nach der Zusammenarbeit mit Zulieferern, den dabei bestehenden Konditionen, Verträgen oder Vorauszahlungen sowie gegebenenfalls getätigten weiteren Zukäufen (wo, auf welche Weise, wie viel) gefragt. Schließlich wurden die Exporttonnage für das Agrarjahr 2007/08, die jeweiligen Exportzielländer und die Organisation des Exports (Exportgruppe, Unternehmen, individuell) sowie die in der Station beschäftigten Arbeitskräfte (Männer/Frauen, Qualifikation, fest/saisonal, Bezahlung) erfragt. Während dieser Phase führte ich 49 Interviews, 19 mit Angestellten von Zitrus- und 30 mit Angestellten von Gemüseverpackungsstationen; weitere 20 Gemüseverpackungsstationen konnte ich auf der Basis von zuvor geführten Interviews ergänzen, so dass die genannten Aspekte insgesamt für 95 Prozent der Zitrusfrucht- und zwei Drittel der Gemüseverpackungsstationen vorlagen. Auch diese Daten wurden in eine SPSSDatenmaske eingegeben und quantitativ ausgewertet. Sie dienten darüber hinaus der Erstellung der im Kapitel ›Integrationen‹ präsentierten Fallbeispiele. Aufbau Mit dem Ziel einer Operationalisierung der Fragestellung nach der Ausbildung, Veränderung und Ausdifferenzierung von Handlungsspielräumen wird im ersten Kapitel ein Analyserahmen erarbeitet, der es erlaubt, den Begriff der Handlungsspielräume konzeptionell zu fassen und einer empirischen Analyse zugänglich zu machen. Hierfür werden vier Theoriestränge – zu Raum, Agri-Food-Systemen, Sicherheit und Handlungen – aufgegriffen, vorgestellt und für die Zwecke des Buchs miteinander verschränkt. Auf dieser Basis werden die zentralen konzeptionellen Annahmen des Buchs formuliert und der Begriff der Handlungsspielräume präzisiert. Im zweiten Kapitel steht mit dem Souss die Untersuchungsregion im Zentrum. Der Fokus liegt auf der Herausbildung und Gegenwart der intensiven Exportproduktion, die jeweils abschnittsweise in den makroökonomischen Kontext eingeordnet werden. Das Kapitel liefert damit den Kontext zum Verständnis der sich anschließenden empirischen Teile des Buchs. Das dritte Kapitel analysiert die Akteure, die gegenwärtig institutionell in den Exportsektor eingebunden sind. Die Prozesse und Mechanismen der Integration werden dabei aus zwei Perspektiven analysiert: Zum einen wird die Geschichte
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der Integration der unterschiedlichen Akteure nachgezeichnet, zum anderen ihre gegenwärtig anzutreffende Einbindung in den Export untersucht. Daran anknüpfend werden die Dimensionen der Ausdifferenzierung der Handlungsspielräume dieser Akteure aufgezeigt. Im vierten Kapitel steht die Ebene des ländlichen Souss im Zentrum. Zwei Schritte werden dabei verschränkt: Im ersten Teil werden die sozioökonomische Sicherheit der ländlichen Bevölkerung und die Rolle selbstständiger Landwirtschaft für lokale Existenzsicherung betrachtet; darauf aufbauend werden die landwirtschaftlichen Handlungsspielräume der in den Dörfern ansässigen Landwirte untersucht und Typen lokaler Landwirtschaft herausgearbeitet. Das Fazit stellt schließlich drei Dimensionen der Verflechtung von Handlungsspielräumen innerhalb globalisierter Agrarproduktionen heraus, und zwar erstens das politisch-ökologische Gefüge, zweitens Marktzugänge im globalen Agrarhandel und drittens die Rekonfiguration regionaler Arbeitsmärkte.
Zugänge
Auf welche Weise lassen sich die Herausbildung, Ausprägung und Ausdifferenzierung der landwirtschaftlichen Handlungsspielräume der Akteure im Souss sowohl konzeptionell fassen als auch empirisch zugänglich machen? Ziel dieses Kapitels ist die Erarbeitung eines Analyserahmens, der es erlaubt, den Begriff der Handlungsspielräume zu konzeptualisieren und damit zugleich für eine empirische Untersuchung zu operationalisieren. Mit Blick auf die Ziele des Buchs werden hierfür vier Theoriestränge miteinander verschränkt. Dabei gehe ich davon aus, dass einzelne Theorien jeweils bestimmte, jedoch notwendigerweise eingeschränkte Erklärungsreichweiten besitzen. Eine adäquate Beschreibung und Analyse sozialer Realitäten ist also vielmehr durch eine Kombination unterschiedlicher Ansätze zu erreichen (Gertel 2010: 2). Die nachfolgende Darstellung zielt entsprechend nicht primär auf die Herausarbeitung theoretischer Unterschiede, sondern auf die Komplementarität der Ansätze ab. Zunächst wird auf die seit einiger Zeit aus geographischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive erfolgten Neukonzeptualisierungen des Raumbegriffs Bezug genommen. Insbesondere unter Rückgriff auf die Arbeiten der britischen Geographin Doreen Massey soll das Raumverständnis dieser ›frühen Verfechterin‹ der politischen Dimensionen geographischer Imagination herausgearbeitet und für die vorliegende Themenstellung fruchtbar gemacht werden. Diese Perspektive wird zweitens ergänzt durch Ansätze der Agri-Food-Systems-Literatur, die seit den 1970er Jahren landwirtschaftliche Produktions- und Konsumtionsbeziehungen unter Bedingungen einer globalen Ökonomie untersuchen. Daran anschließend liefert die Auseinandersetzung mit den Begriffskomplexen der ›Sicherheit‹ und der ›Handlungsspielräume‹ zwei weitere konzeptionelle Perspektiven: Der Begriff der Sicherheit wird im Kontext der in der geographischen Entwicklungsforschung zu verortenden Debatten zur Existenzsicherung und Verwundbarkeit sowie den Ansätzen zur menschlichen Sicherheit diskutiert. Die vorgestellten Sicherheitskonzepte stellen jeweils unterschiedliche Akteure in den
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Mittelpunkt und verankern die Herstellung von Sicherheit entsprechend auf unterschiedlichen Ebenen. Das Ziel besteht darin, ein auf das Individuum konzentriertes Sicherheitsverständnis zu erarbeiten, welches die handelnden Akteure und ihre Fähigkeit zur Herstellung von Sicherheit in das Zentrum der Betrachtung rückt. Im Anschluss daran wird argumentiert, dass die Möglichkeit von Akteuren, Sicherheit herzustellen, unmittelbar an ihre Handlungsspielräume geknüpft ist, die, so die Annahme, wiederum als rückgebunden an die Verfügung über Ressourcen aufzufassen sind. Das Kapitel endet mit einem Analyserahmen, der diese Überlegungen zusammenfasst und visualisiert. Neue Räume Die Auseinandersetzung mit dem traditionell in der Geographie verorteten Begriff des ›Raums‹ hat seit den 1980er Jahren einen deutlichen Aufschwung erfahren, der auf breite interdisziplinäre Resonanz gestoßen ist. In diesem Zuge wurden Diskussionen über ›Räumlichkeit‹ und ›Verräumlichungsprozesse‹ auch jenseits der Geographie von sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffen und vorangetrieben. Diese Neubestimmung des Raums als sozialwissenschaftliche Kategorie wird seit einigen Jahren unter das Schlagwort des ›spatial turn‹ gefasst und in eine Reihe weiterer, in den Sozialwissenschaften vollzogener ›turns‹ eingereiht (Bachmann-Medick 2007). Die (Wieder-)Entdeckung des (sozialen) Raums ist dabei zeitlich deutlich vor der Prägung des Begriffs spatial turn zu verorten, der auf das Jahr 1989 zurückgeht und eher beiläufig von Edward Soja in die Debatte eingebracht wurde (Döring & Thielmann 2009b: 7). Zwar war der sozialwissenschaftliche Diskurs tatsächlich durch eine lange und nachhaltige Vernachlässigung und Unterordnung der Kategorie des Raums unter die der Zeit charakterisiert, der erste Versuch seiner Neubewertung als sozialwissenschaftliche Kategorie erfolgte jedoch durch Vertreter der Chicagoer Schule und reicht bis in die 1920er Jahre zurück. Mit Beginn der 1960er Jahre prägten von französischer Seite aus Henri Lefebvre und Michel Foucault die Neudefinition des sozialen Raums aus sozialphilosophischer Perspektive, deren Ansätze anschließend von Geographen wie David Harvey und Edward Soja aufgegriffen und in den anglophonen Diskurs eingebracht wurden (Warf & Arias 2009b: 2-4). Die Debatte um den Raum als analytische ebenso wie politische Kategorie ›geographischen Imaginierens‹ entfaltete mit Beginn der 1980er Jahre eine Breitenwirkung und lässt sich in den Kreis der intellektuellen Bewegung aus Critical Geographers, Postmarxisten und Vertretern der Cultural Studies einordnen, die sich unter anderem als Opposition gegen die neoliberale Politik Margaret Thatchers in Großbritannien formierte. Im
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deutschsprachigen Nachkriegskontext stieß die Rückkehr von Raumkonzepten, wie Bachmann-Medick konstatiert, zunächst auf Skepsis und Vorbehalte (Bachmann-Medick 2007: 286). Diese führt sie auf die nationalsozialistische Ideologisierung und Funktionalisierung des Raumkonzepts für die Propagandaund Kriegspolitik des Zweiten Weltkriegs zurück, die sich in einer rassistischen Blut-und-Boden-Ideologie und der Zielvorstellung einer gewaltsamen Erweiterung des Lebensraums im Osten für ein ›Volk ohne Raum‹ niedergeschlagen habe. Bis in die Gegenwart bestehen markante Unterschiede zwischen anglophonen und deutschsprachigen Debatten rund um den Raumbegriff. Während die anglophone Raumdebatte maßgeblich von Geographen angestoßen und forciert wurde, erfolgten die deutschsprachige Rezeption und Aneignung neuer Raumbegriffe unter dem Label des spatial turn verstärkt im nicht-geographischen Kontext. Exemplarisch illustrieren dies zwei Ende der 2000er Jahre erschienene Bände zum spatial turn, die jeweils den deutschsprachigen bzw. anglophonen Diskurs reflektieren. Während Warf und Arias (2009a) sich in einem geographischen Umfeld verorten und den spatial turn selbstverständlich als Errungenschaft der Geographie auffassen, wurde der deutschsprachige Band von Kulturwissenschaftlern herausgegeben – auf Seiten der deutschen Humangeographen, so die Herausgeber Döring und Thielmann, habe nur ein geringes Interesse an einem derartigen Projekt bestanden. Döring und Thielmann (2009a) ordnen die geographischen Positionen zum spatial turn drei Kategorien zu: der emphatischen Position (als deren Vertreter sie insbesondere Edward Soja betrachten), der strategisch-neutralen Position (zu der sie u.a. die britischen Geographen Nigel Thrift und Mike Crang zählen) sowie der aversiv-souveränen Position (die sie u.a. von den deutschen Geographen Gerhard Hard und Benno Werlen vertreten sehen). Während Nichtgeographen gerade die ›Komplexität reduzierende, kontingenzunterbrechende, Naturzwang prätendierende, jedenfalls heillos reduktive Raumsemantik‹ mobilisieren würden, um ›dem von der time-space compression angedrohten Raumverschwinden etwas beglückend Physisches, Versammelndes und Integrierendes gegenüberzustellen‹, erkennen sie im Diskurs der deutschsprachigen Geographen, der – auf die Spitze getrieben von Hard (2009) – den ›spatialisierenden‹ Diskurs in seiner Funktionalität dem rassistischen oder sexistischen gleichsetze, ein lustvolles Element geographischen Selbsthasses (Döring & Thielmann 2009b: 32-38). Unaufgeregter liest sich im Gegenzug die Einführung von Warf und Arias (2009b). Ihrer Lesart nach entsprang der spatial turn vielmehr dem Herzen der Geographie selbst, verbreitete sich von dort aus in weitere Disziplinen, führte zu einer förmlichen Wiedergeburt der Humangeographie und transformierte diese
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in eine der dynamischsten, innovativsten und einflussreichsten Sozialwissenschaften der Gegenwart: »The discipline, which long suffered from a negative popular reputation as a trivial, purely empirical field with little analytical substance, has moved decisively from being an importer of ideas from other fields to an exporter, and geographers are increasingly being read by scholars in the humanities and other social sciences. As a result of the rebirth in scholarship in geography, other disciplines have increasingly come to regard space as an important dimension to their own areas of inquiry.« (Warf & Arias 2009b: 1)
Ziel des Bands ist es aufzuzeigen, wie die durch das geographische Denken neubestimmten Raumkonzeptualisierungen verschiedene Bereiche der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion durchdrungen haben und von diesen wiederum aufgegriffen und neuinterpretiert wurden. Auch Warf und Arias beobachten einen Prozess der Aneignung des Raumbegriffs in nicht-geographischen Disziplinen, interpretieren den Raumbegriff vor diesem Hintergrund jedoch vielmehr als Plattform und Träger eines fruchtbaren inter- und multidisziplinären Austauschs. Auf diese Unterschiede in der anglophonen und deutschsprachigen Raumdebatte verweisen auch Glasze und Mattissek (2009) und heben ihre jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen hervor: Die marxistisch informierte Critical Geography analysiere, wie sich Machtstrukturen räumlich niederschlügen und gesellschaftliche Beziehungen wiederum durch räumliche Strukturen (re-)produziert würden – ihre Zielsetzung sei entsprechend dezidiert gesellschaftskritisch. Die deutschsprachige Humangeographie – hier repräsentiert durch die Arbeiten von Werlen (Werlen 1999, 2007) – sei im Gegenzug stärker durch Ansätze der Handlungs- und Systemtheorie geprägt und durch die Fokussierung auf intentional handelnde Akteure und ihre (Re-)Produktion von Räumen in alltäglichen Handlungen geleitet. Neuere Arbeiten führten auf dieser Basis die Auseinandersetzung mit dem Theoriegebäude der Luhmann’schen Systemtheorie fort und fokussierten auf die Komplexität sozialer Beziehungen reduzierende Funktion von Raumsemantiken (vgl. Miggelbrink 2002, Miggelbrink & Redepenning 2004, Redepenning 2009). Glasze und Mattissek resümieren nichtsdestotrotz verbindend, dass beide Diskursstränge Räume als Ausdruck und Konsequenz gesellschaftlicher Praktiken und Strukturen und damit als sozial konstruiert betrachteten (Glasze & Mattissek 2009: 40-41). Mit dieser knappen Einordnung lässt sich das sozialwissenschaftliche Diskursfeld zum Raumbegriff aufspannen – im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden jeweils Teilaspekte aus beiden Diskurssträngen aufgegriffen. Damit wird nicht auf eine Synthese der unterschiedlichen Schwerpunkte abgezielt, sondern
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vielmehr vor dem Hintergrund der jeweils angebotenen analytischen Perspektiven das Ziel verfolgt, Begrifflichkeiten und Denkkategorien zu schärfen und – mit Blick auf den anglophonen Diskurs – implizite Annahmen räumlichen Denkens zu explizieren. Zunächst wird unter Rückgriff auf die Arbeiten der britischen Geographin Doreen Massey eine erste Bestimmung von ›Globalisierung‹ und dem Verhältnis zwischen dem ›Globalen‹ und ›Lokalen‹ vorgenommen. Im Abschnitt ›Handlungsspielräume‹ wird komplementär dazu auf Überlegungen zum Handlungsbegriff in der deutschsprachigen Debatte eingegangen. ›Geographische Imagination ist politisch‹ Nach Jahrzehnten kontinuierlichen Schreibens für den Raum1 erschien 2005 Doreen Masseys ausschließlich dem Raum gewidmete Monographie For Space, in der sich vier ineinandergreifende Argumentationsschritte unterscheiden lassen: (1) die kritische Diskussion philosophischer und sozialwissenschaftlicher Raumtheorien, (2) die Analyse impliziter Raumvorstellungen von Moderne und Globalisierung, (3) die Präsentation eines theoretischen Gegenentwurfs und (4) dessen politische Relevanz (Massey 2005). Eine Annäherung an Masseys Raumtheorie erschließt sich über die Auseinandersetzung mit den von ihr kritisierten Raumvorstellungen, die, so ihre Kritik, den Herausforderungen, die die Dimension des Raums bereithalte, nicht gerecht würden.2 Vielmehr handele es sich um Versuche, den Raum zu bändigen, anstatt ihn in seiner Komplexität an- und ernstzunehmen. Insbesondere lehnt sie die Assoziation des Raums mit Stillstand, Abgeschlossenheit und Repräsentation ab; sie wendet sich gegen Raummodelle, in denen Raum als ›Schnitt‹ durch die Zeit gedacht wird, als eine dem zeitlichen Ablauf entrissene Momentaufnahme zur Analyse sozialer Gegebenheiten. Den pulsierenden sozialen Raum auf einen kurzfristigen Zustand zu reduzieren, ihn quasi einzufrieren und damit seines kontinuierlichen Wandels zu berauben, kann nach Massey nur ein analytisches Zerrbild produzieren. Raum und Zeit bedingten sich vielmehr und seien nicht aufeinander zu reduzieren. Massey assoziiert Raum im Gegenzug mit Begriffen wie Offenheit, Prozesshaftigkeit, Gleichzeitigkeit, Vielfalt, Heterogenität, Aushandlung, Engagement und Veränderung und den Eigenschaften offen, relational, stets werdend, zufällig, weder hermetisch abgeschlossen noch einzig fließend. Der Raum, so ihre zentrale Annahme, sei die Bedingung des Sozialen, ein Produkt wechselseitiger Beziehungen, durch die er sich konstituiere. Er wird so zur »[...] sphere of the possibility of the existence of multiplicity in the sense of contemporaneous plurality; as the sphere in which distinct trajectories coexist; as the sphere therefore of coexisting heterogeneity« (Massey 2005: 9). Als Sphäre des Sozia-
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len ist Raum damit stets im Entstehen, er enthält die Möglichkeit von Überraschung, die Begegnung mit dem Unerwarteten, ein Element von Chaos. Die Vorstellung einer Vielzahl sich zeitgleich ereignender ›ongoing stories‹ oder ›stories-so-far‹ bringt Masseys Raumkonzept anschaulich auf den Punkt. Masseys Entwurf des Raums ist zugleich ein politischer Standpunkt, der sich durch alle ihre Argumentationsstränge zieht. Unter dem Blickwinkel der politischen Dimension – der auf das Soziale, das menschliche Zusammenleben gerichteten Dimension – wird deutlich, weshalb sie gegen bestimmte und für andere Raumassoziationen argumentiert: Unsere Raumauffassungen bestimmten unser Miteinander, sie wirkten sich auf unsere Positionierung gegenüber unseren Mitmenschen ebenso wie gegenüber anderen Gesellschaften, Kulturen oder Religionsgemeinschaften aus. Nur wenn Raum als offen und nicht vorgeschrieben interpretiert werde, sei es möglich, auch die Zukunft in Alternativen zu denken und damit politischen Wandel zu ermöglichen. Masseys Auseinandersetzung mit ›Globalisierung‹ sowie der Vorstellung des ›Globalen‹ und des ›Lokalen‹ verdeutlicht diesen Ansatz paradigmatisch (vgl. Sippel 2010a). Drei Argumentationsebenen lassen sich unterscheiden: (1) die Analyse der den vorherrschenden (politischen) Globalisierungsdiskursen implizit zugrunde liegenden sowie in ebendiesen aktiv (re-)produzierten Raumvorstellungen, (2) der sich aus Masseys Raumtheorie heraus ergebende Gegenentwurf zur Globalisierung sowie (3) ihre – über die Beschäftigung mit ›Orten‹ und dem Verhältnis von ›lokal‹ und ›global‹ – eng damit verknüpfte Frage nach gesellschaftspolitischer Verantwortung und letztlich der Möglichkeit einer anderen Globalisierung. Masseys Interesse liegt damit weniger in der Frage danach, was Globalisierung ausmacht, sondern vielmehr in der Analyse des Diskurses über Globalisierung als ›self-fulfilling narrative‹ und der darin implizit enthaltenen Raumkonzeptionen. Dass ein Phänomen, welches als ›Globalisierung‹ bezeichnet werden kann, stattfindet, ist für sie unstrittig – sie untersucht, wie Globalisierung aktiv gestaltet wird. Ihre Analyse von Globalisierung, Entwicklung und Räumlichkeit ist insofern auch als Ideologiekritik zu verstehen. In der Auseinandersetzung mit Globalisierung ist Masseys vordringlichste Frage die nach unseren Globalisierungsvorstellungen: Die Art und Weise, wie wir Globalisierung denken, wird beeinflussen, wie und in welcher Form Globalisierung tatsächlich stattfindet (vgl. Massey 1999). Vorherrschende Globalisierungsdiskurse (re-)produzierten allerdings eine Raumvorstellung, wie sie bereits der Moderne zugrunde gelegen hätte: die Interpretation des Räumlichen als Zeitliches. Verschiedene Orte würden als unterschiedliche Stadien einer zeitlichen Entwicklungsgeschichte gedeutet, in der Westeuropa als ›fortschrittlich‹ und andere Orte nicht als ›anders‹, sondern vielmehr als ›zurück‹, als rückständig und
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damit minderwertig betrachtet würden. Ebendiese, wie sie es nennt, ›NichtRäumlichkeit‹ identifiziert Massey in gegenwärtigen Globalisierungsdiskursen: Räumliche Differenzen würden als teleologische, als Entwicklungsdifferenzen auf einer objektiv gegebenen Entwicklungsskala interpretiert und die Weltgeschichte als Entwicklung mit nur einer Richtung konzipiert, über die es nur eine Geschichte zu erzählen gäbe. Die Möglichkeit, dass andere Gesellschaften, Länder oder Orte andere Richtungen einschlügen, sei nicht vorgesehen – ›Verschiedenheit‹ würde so zu einem früheren ›Zeitpunkt‹ in der Geschichte, zu einem ›noch zurück‹ hinter denen, die die Macht besitzen, jene eine Richtung vorzugeben. Zugleich würde Globalisierung, ebenso wie die Moderne, als unausweichlich präsentiert – mit weitreichenden Auswirkungen. Denn es sei keine ›neutrale‹, sondern vielmehr eine parteiische, neoliberale Form von Globalisierung, die die Welt gegenwärtig restrukturiere. Neoliberale Globalisierung meint dabei eine Globalisierung zu Gunsten multinationaler Konzerne, die von transnationalen Eliten und nationalen Regierungen, allen voran den USA und Großbritannien, vorangetrieben ihre Legitimation aus Wirtschaftsideologien wie der des Internationalen Währungsfonds bezieht (Massey 2004b). Während die Globalisierung des Neoliberalismus – im Gegensatz zur Moderne – anscheinend eine ›world of flows‹, eine grenzenlose und offene Welt verheiße, gelte es genauer hinzuschauen. Dieser Raum ohne Grenzen beziehe sich lediglich auf einige Aspekte, während er andere ausschließe. Die Globalisierungsdebatte werde durch eine doppelte, in sich widersprüchliche Raumvorstellung dominiert: Obwohl ›Raum‹ in der Proklamation von Freihandel und freien Geldflüssen als selbstverständlich entgrenzt konzipiert, ja sogar moralisch eingefordert würde, kippe der Diskurs bei Themen wie Migration schlagartig in die Verteidigung ›lokaler‹ Orte und Bevölkerungen, bei der vielmehr Nationalismen bemüht würden. Diese Form der Globalisierung als ›un-räumlich‹ (aspatial) bezeichnend, fordert Massey im Anschluss an ihre Raumtheorie die ›Verräumlichung‹ (spatialisation) von Globalisierung: »[R]eally ›spatialising globalisation‹ means recognising crucial characteristics of the spatial: its multiplicity, its openness, the fact that it is not reducible to ›a surface‹, its integral relation with temporality« (Massey 2005: 88). Damit fordert sie zugleich, die Brüche und Verwerfungen, Zerrissenheiten und tiefen Ungleichheiten einer globalen Welt anzuerkennen, die keine Frage ›nachholender Entwicklung‹ seien, sondern im Prozess des politischen (neoliberalen) Projekts der Globalisierung vielmehr oft selbst reproduziert und aufrechterhalten würden. Ziel kann es somit nur sein, die Akteure und Machtverhältnisse und damit die ›raum-zeitlichen Machtgeometrien‹ (power-geometries of time-space) dieses Projekts zu identifizieren (Massey
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1999). Nur über die Identifizierung der Machtverhältnisse, die der gegenwärtigen Form von Globalisierung zugrunde liegen, und der prinzipiellen Offenheit der Zukunft kann schließlich der dritte Schritt erfolgen: das politische Ziel einer anderen Globalisierung. In diesem Kontext hinterfragt Massey zugleich die Gegenüberstellung der Kategorien ›lokal‹ und ›global‹ und der ihnen im Antiglobalisierungsdiskurs häufig zugewiesenen Rollen als dem Globalen als ›Täter‹ und dem Lokalen als ›Opfer‹. Angelehnt an ihre theoretische Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Orten (vgl. Massey 1994, 2006, 2007) nicht als Dingen (nicht als ›Stadt‹, die man auf einer Landkarte zeigen kann), sondern als dem momenthaften Zusammenkommen spezifischer Konstellationen sozialer Interaktionen und Prozesse, könne das Lokale dem Globalen nicht entgegengehalten werden. Globalisierung käme nicht ›von oben‹, nicht von ›woanders‹, sondern sei, ebenso wie jedes andere soziale Phänomen, stets lokalen Ursprungs. Globalisierung würde an lokalen Orten gemacht, mehr noch, das Lokale würde nicht nur vom Globalen mit konstituiert, sondern das Globale vom Lokalen aus geschaffen (Massey 2004). Politische Veränderung – eine andere Globalisierung – ist somit nicht nur ›auch‹ aus dem Lokalen heraus möglich, sondern ist notwendigerweise Resultat lokalen politischen Handelns. Mit dieser ›Geographie der Verantwortung‹ richtet sie sich an jede/n einzelne/n in ihrer/seiner je individuellen Lokalität. Im Anschluss an Massey betrachte ich Globalisierung nachfolgend nicht als unausweichliches Naturphänomen, sondern vielmehr als politisches Projekt, welches von Menschen in bestimmte, intendierte Richtungen vorangetrieben wird – Globalisierungsprozesse in ihrer gegenwärtigen Form geschehen nicht ›neutral‹, sondern werden durch Interessen, und zwar maßgeblich die Interessen mächtiger Akteure, gesteuert. Diese Interessen und Akteure – die powergeometries of time-space – gilt es zu identifizieren, um Globalisierungsprozesse zu analysieren. Mehr noch, diese Analyse und der damit einhergehende Erkenntnisprozess bilden die Basis, um Globalisierung zu verändern, andere Formen von Globalisierung möglich werden zu lassen und Globalisierung in ihrem Verlauf politisch zu gestalten. Während Akteure ohne Zweifel durch unterschiedliche Machtpositionen und Handlungskapazitäten charakterisiert sind – die im Zentrum dieses Buchs stehen – wird politische Gestaltungskraft in Anlehnung an Massey nicht über den Gegensatz ›lokal-global‹ definiert. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Ebene des ›Lokalen‹ selbst wiederum durch unterschiedliche Handlungspotentiale von Akteuren konstituiert wird. Mit jeweils differenzierten Handlungsspielräumen ausgestattet können Akteure unterschiedliche Handlungen und damit verbundene Aspekte von Sicherheit realisieren – und zugleich Formen von Widerstand oder gesellschaftliche Alternativen anstreben.
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An dieser Stelle lassen sich Masseys Raumkonzept und die damit einhergehenden Implikationen zu Globalisierung und den Ebenen des ›Globalen‹ und ›Lokalen‹ mit den weiter unten ausgeführten Überlegungen zu Handlungsfähigkeit und der Ausdifferenzierung von Handlungsspielräumen verschränken. Bevor dies geschieht, soll jedoch zunächst auf einen weiteren Strang von Ansätzen zur Untersuchung von Globalisierungsprozessen, und zwar der Globalisierung des Agri-Food-Systems, eingegangen werden. Auch die nachfolgend vorgestellten Ansätze begreifen (ökonomische) Globalisierung als ein Projekt, welches durch Interessen und Akteure gesteuert wird, und entwickeln Konzepte zur Identifikation ebendieser Interessen, Akteure und Machtkonfigurationen innerhalb einer globalen Ökonomie. Globale Agri-Food-Systeme Weltweite Handelswege und Regionen übergreifende Austauschbeziehungen sind historisch kein neues Phänomen, sie haben jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts sowohl an Quantität als auch an Qualität hinzugewonnen. Länder, Regionen und Kontinente umspannende Produktions- und Konsumtionsnetzwerke sind zu einem zentralen Phänomen globaler, wirtschaftlicher Integration geworden. In den durch die politische, militärische und wirtschaftliche Vormachtstellung der USA gekennzeichneten Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1950-1970) verfünffachte sich der Welthandel im Zuge neuer politischer und technologischer Möglichkeiten – Produktionsprozesse selbst waren jedoch überwiegend innerhalb nationalstaatlicher Grenzen organisiert (Gereffi 1994: 207-208). Diese als ›Fordismus‹ bezeichnete Wirtschaftsform geriet Anfang der 1970er Jahre in eine tiefgreifende Krise. Es kam zur Neudefinierung zentraler Aspekte internationaler Produktions- und Austauschprozesse und einem grundlegenden Wandel der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Bonanno & Constance 2008a: 4-8): Waren wirtschaftliche Prozesse zuvor durch Aspekte wie Massenproduktion und -konsum, vertikale Integration und einen hohen Grad staatlicher Intervention gekennzeichnet, wurden diese sukzessive durch eine Politik der Deregulierung, Privatisierung und des Freihandels sowie zunehmend marktorientierte Formen sozialer Beziehungen ersetzt und politisch durch den Aufschwung libertärer Wirtschaftsideologien gerechtfertigt. Das hiermit umrissene neue Koordinatensystem weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen wurde zum Kern fortschreitender Prozesse ›ökonomischer Globalisierung‹ und beinhaltete zunehmende Flexibilisierungen – insbesondere von Kapitalflüssen – sowie die Dezentralisierung und Fragmentierung von Produktionsprozessen – allen voran industrieller Produktion – auf globaler Ebene.
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Landwirtschaftlichen Produkten kommt in diesem Zusammenhang ein besonderer Stellenwert zu, den Friedland als ›uneven development of agriculture‹ charakterisiert (Friedland 2005: 26): Landwirtschaftliche Prozesse und Erzeugnisse sind untrennbar an biologische Vorgänge geknüpft, so dass landwirtschaftliche Produkte insgesamt später sowie produktspezifisch von Dynamiken ökonomischer Globalisierung erfasst wurden. Mit Beginn der 1990er Jahre rückten diese Prozesse der globalen Restrukturierung des Verhältnisses zwischen landwirtschaftlicher Produktion auf der einen und dem Konsum von Agrargütern auf der anderen Seite zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus. Die bereits knapp einhundert Jahre zuvor von Karl Kautsky identifizierte ›Agrarfrage‹ gewann an neuer Aktualität und die Analyse der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen landwirtschaftlicher Produktion und Konsum auf globaler Ebene etablierte sich als interdisziplinäres Forschungsfeld (Watts & Goodman 1997).3 Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen zunächst Prozesse der Industrialisierung, Technologisierung und Konzentration von landwirtschaftlichen Produktionen, der damit einhergehende Rückgang von Familienbetrieben und familiärer Arbeitskraft zugunsten angestellter Arbeitskräfte sowie sozioökonomische Transformationen ländlicher Räume. In einem zweiten Schritt rückten die internationale Restrukturierung agroalimentärer Produktionsketten durch neue, mächtige und international agierende Akteure (transnational corporations) sowie Strategien des global sourcing in den Fokus (vgl. Bonanno et al. 1994, Rama 2005). In Ergänzung zu den klassischen landwirtschaftlichen Exportgütern Kaffee, Tee oder Zucker erlaubten und beförderten neue Infrastruktur und Technologien den Aufschwung von saisonabhängigen, verderblichen Produkten wie (frischem) Obst und Gemüse, Fleisch oder Milchprodukten, die sich als neue, hochwertige landwirtschaftliche Exportgüter etablierten (Fold & Pritchard 2005b, Bourlakis et al. 2011). Diese landwirtschaftlichen Transformationen und Umbrüche wurden begleitet, überlagert und forciert durch weitreichende agrarpolitische Agenden, deren Umsetzung und Implementierung auf nationaler und internationaler Ebene erfolgten.4 Innerhalb der wissenschaftlichen Debatte der damit skizzierten ›Globalisierung von Agri-Food-Systemen‹ entstanden aus unterschiedlichen disziplinären Kontexten heraus zahlreiche, sich teils überlappende, teils parallel ausgearbeitete Literaturstränge, die jeweils verschiedene Aspekte dieses umfassenden Untersuchungsgegenstands in den Blick nehmen. Sie können überwiegend der Soziologie und Geographie zugeordnet werden, während beispielsweise wirtschaftswissenschaftliche Beiträge weniger vertreten sind (Bernstein & Campling 2006: 242). Zur Beschreibung der beobachteten Phänomene griffen die Vertreter unterschiedlicher Strömungen auf ähnliche Begrifflichkeiten zurück: So lassen sich
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als zentrale Begriffe die der ›Kette‹ oder ›Branche‹ (chain, filière), der ›Ware‹ (commodity), des ›Systems‹ oder ›Regimes‹ (system, regime) und des ›Netzwerks‹ oder ›Kreislaufs‹ (network, circuit) identifizieren, die in unterschiedlichen Kontexten geprägt wurden. Friedland attestiert den Vertretern der AgriFood Studies darüber hinaus ein maßgeblich gegenstands- und empirieorientiertes und dabei weniger theoriegeleitetes Forschungsinteresse: »A peculiarity of commodity and commodity systems studies has been that they often begin with either an empirical or a social problem. It is the problematic that drives the research more often than theoretical preoccupations« (Friedland 2001: 84). Nachfolgend werden zunächst zwei Theoriestränge zur Analyse der Globalisierung der Landwirtschaft skizziert, die die Debatte bis Anfang der 2000er Jahre prägten. Sie lassen sich unter die Schlagworte Sociology of Agriculture and Food und food regimes subsumieren und entstanden überwiegend im Kontext der Global-Commodity-Chains-Ansätze (vgl. Raikes & Gibbon 2000: 53-59, Buttel 2001: 171-172).5 Die hiermit angesprochenen Debatten haben sich bis in die Gegenwart weiter ausdifferenziert und viele Autoren beziehen (mindestens) Elemente aus beiden Feldern in ihre Analyse ein; einzelne, für den vorliegenden Verwendungskontext zentrale Aspekte aus den Diskussionen seit Beginn der 2000er Jahre werden dann im Anschluss herausgearbeitet. Zeitlich am frühesten einzuordnen ist der Filière-Ansatz, der in den 1960er Jahren im Kontext der französischen Agrarforschungsinstitute Institut National de la Recherche Agronomique (INRA) und Centre de Coopération Internationale en Recherche Agronomique pour le Développement (CIRAD) sowie vor dem Hintergrund der französisch(-kolonial)en Agrarpolitik entwickelt wurde. Er umfasst Strömungen, die insbesondere der gemeinsame Bezug auf den überwiegend neutral-deskriptiv gebrauchten Begriff der filière und damit die Untersuchung eines bestimmten ›Zweigs‹ oder einer ›Branche‹ kennzeichnet. Er ist analytisch auf der Mesoebene anzusiedeln und dezidiert auf landwirtschaftliche Produkte ausgerichtet.6 In den 1970ern bildete sich im US-amerikanischen Kontext mit der Sociology of Agriculture and Food ein neues Interesse an den Schnittstellen zwischen Gesellschaft und Landwirtschaft heraus, deren Vertreter unter anderem den Begriff der filière aufgriffen (vgl. Bonanno & Constance 2008b). Inhaltlich forderten sie die Aufhebung der Trennung zwischen ›ländlichen‹ und den übrigen Teilen der Gesellschaft. Landwirtschaft und ihre Teilbereiche sollten vielmehr in den größeren Zusammenhang eines kapitalistischen Wirtschaftssystems eingeordnet werden. Die Forschungsschwerpunkte lagen auf ländlichem sozialen Wandel, Produktionsstrukturen und Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft, Nahrungsmittelverfügbarkeit und -qualität sowie sozioökonomischen Ungleich-
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heiten und Machtverhältnissen zwischen und innerhalb von Weltregionen. In diesen Zusammenhang ist die 1984 von Friedland vorgeschlagene Commodity Systems Analysis einzuordnen (vgl. Friedland 1984, 2001, 2005). Sie geht über die Betrachtung einzelner Waren bzw. Abschnitte von Warenketten hinaus und zielt auf die Analyse von Aspekten wie Arbeitskraft, Produzentenorganisation, staatliche Regulierung und kulturelle Elemente ebenso wie den Vergleich innerhalb von Warensystemen ab. Dezidiert auf die strategische Verknüpfung zwischen Landwirtschaft und (Agrar-)Politik sowie die zentrale Rolle von Lebensmitteln in einer globalen politischen Ökonomie ausgerichtet ist der 1989 von Friedmann und McMichael entworfene Food-Regime-Ansatz, der sowohl auf die Weltsystem-Theorie als auch auf regulationstheoretische Elemente zurückgreift (Friedmann & McMichael 1989). Er zielt auf eine historische Analyse landwirtschaftlicher Produktions- und Konsumtionssysteme ab und unterteilt diese in Perioden hegemonialer politischer Vorherrschaft, die durch zentrale Muster internationaler Lebensmittelproduktion und -konsumtion definiert sind. McMichael konstatiert rückblickend: »The ›food regime‹ concept historicised the global food system: problematising linear representations of agricultural modernisation, underlining the pivotal role of food in global political-economy, and conceptualising key historical contradictions in particular food regimes that produce crisis, transformation and transition. In this sense, food regime analysis brings a structured perspective to the understanding of agriculture and food’s role in capital accumulation across time and space. In specifying patterns of circulation of food in the world economy it underlines the agrofood dimension of geo-politics, but makes no claim to comprehensive treatment of different agricultures across the world. Its examination of the politics of food within stable and transitional periods of capital accumulation is therefore quite focused, but nevertheless strategic.« (McMichael 2009: 140)
Der Food-Regime-Ansatz entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Denkgebäude der Agri-Food Studies (Buttel 2001: 173), wurde jedoch auch für seine strukturalistische und funktionalistische Interpretation kapitalistischer Entwicklungen und Institutionen kritisiert (Goodman & Watts 1994). Die Grundannahme des Ansatzes, nämlich dass die Analyse der historisch-politischen Rahmenbedingungen während bestimmter zeitlicher Perioden Strukturen und Prozesse globaler Lebensmittelproduktion und -konsumtion erklären kann, ist jedoch nach wie vor zentral (Burch & Lawrence 2009: 268). Burch und Lawrence sehen food regimes und Warenkettenanalyse als einander ergänzend. Während erstere eine
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analytische Perspektive auf die historische Transformation von Agri-FoodSystemen bereitstelle, charakterisieren sie letztere vielmehr als Untersuchungsmethode denn als kohärentes Theoriegebäude (Lawrence & Burch 2007: 12). Auch McMichael selbst reiht den Begriff des food regime neben weitere Perspektiven auf Agri-Food-Systeme ein und hebt hervor: »The difference made by food regime analysis is that it prioritises the ways in which forms of capital accumulation in agriculture constitute global power arrangements, as expressed through patterns of circulation of food« (McMchael 2009: 140). Im Rahmen der Weltsystem-Theorie und unter Rückgriff auf die Begriffe der ›Ware‹ und der ›Kette‹ prägten Wallerstein und Hopkins in den 1970er Jahren das Konzept der ›commodity chain‹ (Wallerstein 1974, Hopkins & Wallerstein 1986, 1994). Dieses wurde von Gereffi und Korzeniewicz aufgegriffen, um den Aspekt des Globalen zur ›global commodity chain‹ erweitert und vorwiegend zur Analyse industrieller Warenketten angewendet (Gereffi & Korzeniewicz 1994, Gereffi 1994, 1999). Den Global-Commodity-Chains-Ansatz zeichnet aus, dass er Wirtschaft als eingebettet in und zu einem beträchtlichen Maße bestimmt durch spezifische, sich verändernde institutionelle Strukturen betrachtet (Raikes et al. 2000: 394). Der Fokus liegt auf den organisatorischen Aspekten internationalen Handels, den einzelnen Schritten von der Rohstoffgewinnung bis hin zum Konsum und den Verbindungen zwischen ebendiesen. Es gilt, ›Schlüsselakteure‹ zu identifizieren und zu verstehen, auf welche Weise sie die vielfältigen Ebenen und weiteren Akteure innerhalb von Warenflüssen koordinieren und kontrollieren. Der zentrale Begriff der Warenkette wird dabei wie folgt bestimmt: »A GCC [global commodity chain] consists of sets of interorganizational networks clustered around one commodity or product, linking households, enterprises, and states to one another within the world-economy« (Gereffi et al. 1994: 2). Globale Warenketten sind nach Gereffi durch vier Strukturmerkmale7 gekennzeichnet, von denen insbesondere der Aspekt der Steuerung (governance), das heißt die Analyse von Machtstrukturen innerhalb von Warenketten, umfangreich diskutiert wurde (vgl. Gereffi 1994, 1999, Raikes et al. 2000). Die globale Warenkette wird dabei als organisatorische Grundlage der Partizipation am Welthandel betrachtet, innerhalb derer Firmen versuchen, ihre Position zu verbessern und dabei miteinander konkurrieren. Ob ein Unternehmen konkurrenzfähig ist, so die Annahme, hängt grundsätzlich von seiner Teilhabe an der Warenkette ab. Darüber hinaus sei die Position innerhalb der Warenkette entscheidend, die als eine Form von sozialem Kapital ebenso wie als Mittel betrachtet werden könne, andere Akteure auszuschließen (Raikes et al. 2000: 396). Gereffi identifizierte zwei zentrale Formen von Steuerung innerhalb globaler Warenket-
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ten, die er idealtypisch in producer- und buyer-driven commodity chains unterschied: »Producer-driven commodity chains are those in which large, usually transnational, manufacturers play the central roles in coordinating production networks (including their backward and forward linkages). This is characteristic of capital- and technologyintensive industries such as automobiles, aircraft, computers, semiconductors and heavy machinery. [B]uyer-driven commodity chains refer to those industries in which large retailers, branded marketers, and branded manufacturers play the pivotal roles in setting up decentralized production networks in a variety of exporting countries, typically located in the Third World. This pattern of trade-led industrialization has become common in labor-intensive, consumer goods industries such as garments, footwear, toys, housewares, consumer electronics, and a variety of handicrafts.« (Gereffi 1999: 41-42)
Produzentengesteuerte Warenketten seien aufgrund der erforderlichen Investitionen durch hohe Hürden der Teilhabe gekennzeichnet, während Einstiegshürden im Fall der großabnehmergesteuerten Warenketten geringer seien. Damit verknüpft ist als weiteres Merkmal von Warenketten ihre institutionelle Einbettung, womit die Bedingungen gemeint sind, unter denen Schlüsselakteure durch die Kontrolle von Marktzugängen oder Informationen andere Akteure dominieren bzw. untergeordnete Akteure in die Warenkette integrieren (können). In diesem Zusammenhang wurde vor allem der Aspekt des ›upgrading‹, also die Möglichkeit, innerhalb der Hierarchie der Warenkette ›aufzusteigen‹, diskutiert (vgl. Gereffi 1999, Gibbon & Ponte 2005: 74-94). Die Literatur zu globalen Warenketten hat im Anschluss an die Ausarbeitung des Ansatzes Mitte der 1990er Jahre eine erhebliche Breitenwirkung entfaltet und vielfache Diskussionen ausgelöst (vgl. Bair 2009a). Über seinen ursprünglichen Verwendungskontext hinaus wurde der Ansatz auf zahlreiche Untersuchungsgegenstände übertragen, theoretisch weiterentwickelt und fand ebenfalls Eingang in die Analyse globaler landwirtschaftlicher Zusammenhänge. Allen voran lässt sich die zunehmend zentrale Rolle von Einzelhandelskonglomeraten als neue Dimension von buyer-driven commodity chains beschreiben, die in der jüngeren Vergangenheit als eine der weitreichendsten Transformationen des Agri-Food-Systems identifiziert wurde (vgl. u.a. Dolan & Humphrey 2000, Dobson et al. 2003, Konefal et al. 2005, Burch & Lawrence 2005, 2007, Burch et al. 2013). Hier fand eine Machtverschiebung von den ehemals in der Lebensmittelverarbeitung angesiedelten mächtigsten Akteuren des Agri-Food-Systems (wie Nestlé, Heinz, Kraft, Dr. Oetker) hin zu großen Einzelhandelskonglomeraten statt (Busch & Bain 2004). Die 30 weltweit größten Su-
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permarktketten (u.a. Walmart, Tesco, Carrefour, Edeka) kontrollieren schätzungsweise ein Drittel der gesamten globalen Nahrungsmittelverkäufe (Lawrence & Burch 2007: 21). Ihre Definitionsmacht reicht somit maßgeblich in die Handlungsspielräume von Produzenten als auch in die Kaufentscheidungen von Konsumenten hinein. Unmittelbar damit verknüpft ist der umfangreiche Literaturstrang, der die neue Funktion der durch Supermarktketten etablierten privatwirtschaftlichen Standards untersucht und vor diesem Hintergrund unter anderem die Konstruktion von Qualität, die Verschiebung von öffentlicher hin zu privatwirtschaftlicher Qualitätssicherung sowie die Auswirkungen dieser Prozesse auf Produzenten und Konsumenten problematisiert (vgl. Henson & Reardon 2005, Jaffee & Masakure 2005, Swinnen 2007, Marx et al. 2012, Lee et al. 2012, Dannenberg 2012). Burch und Lawrence interpretieren diese Entwicklungen nicht zuletzt als Wandel hin zu einem dritten food regime, welches durch die Vorherrschaft globaler privatwirtschaftlicher Konzernstrukturen charakterisiert ist und darüber hinaus durch Aspekte der Finanzialisierung überlagert wird (Burch & Lawrence 2005, 2009, 2013). Ein weiterer Themenkomplex innerhalb der Commodity- bzw. ValueChains-Debatten,8 der sich teils mit dem vorherigen verschränkt, fokussiert speziell auf das Verhältnis zwischen zunehmend globalisierten Märkten und ›Kleinbauern‹ (smallholders) im globalen Süden. Im Zentrum steht die Frage, unter welchen Bedingungen Kleinbauern in Entwicklungskontexten in exportorientierte Warenketten und damit in globale Märkte integriert bzw. von ebendiesen ausgeschlossen werden. Analysiert werden die Voraussetzungen und Arten und Weisen der Marktintegration, Machtbeziehungen und ihnen inhärente Dynamiken von Integration und Exklusion sowie die daraus folgenden Implikationen für ländliche Entwicklung. Drei Schwerpunkte lassen sich hervorheben: Ein erster Strang, der sich mit dem zuvor vorgestellten verschränkt, fokussiert auf die Rolle von Supermarktketten und die Etablierung neuer Sicherheits- und Qualitätsstandards. Im Vordergrund steht ihr Potential, zu neuen Marktzugangsbarrieren und damit zu Mechanismen der Exklusion aus exportorientierten Warenketten insbesondere für Kleinbauern zu werden (vgl. Dolan & Humphrey 2000, Swinnen 2007, Reardon et al. 2008, 2012, Henson & Humphrey 2010, Lee et al. 2012). Während Standards tendenziell als Exklusionsmechanismen zu identifizieren sind, ist ›contract farming‹ ein zentraler Mechanismus der Exportmarktintegration von Kleinbauern, der jedoch zugleich Risiken der Ausbeutung und neu entstehende Abhängigkeiten mit sich bringt, wie zahlreiche Studien aus unterschiedlichen regionalen Kontexten aufzeigen (vgl. Little & Watts 1994, Singh 2002, Miyata et al. 2009, Schipmann & Qaim 2011, Michelson et al. 2012).
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Globale Wertschöpfungsketten werden darüber hinaus als Instrumente ländlicher Entwicklung, verbesserter Möglichkeiten der Existenzsicherung und Reduzierung von Armut diskutiert und haben in diesem Kontext auch Eingang in Entwicklungspolitik und -projekte gefunden. Erörtert werden hier die Bedingungen einer erfolgreichen und gerechten Marktintegration von Kleinbauern und die Verbesserung von Marktzugangschancen, unter anderem unter dem Schlagwort des ›upgrading‹ (vgl. Ruben et al. 2006, McCullough et al. 2008, Markelova et al. 2009, van Dijk & Trienekens 2012). Bolwig et al. (2010) kritisieren dabei ein oftmals funktionales Verständnis von ›upgrading‹, das lediglich als Kompetenzoder Managementproblem betrachtet würde, während asymmetrische Machtbeziehungen oder die Bedingungen der Partizipation innerhalb von Wertschöpfungsketten unberücksichtigt blieben. Sie entwerfen einen konzeptionellen Rahmen, der darauf abzielt, ›vertikale‹ und ›horizontale‹ Elemente von Wertschöpfungsketten stärker zu verknüpfen. Einbezogen werden sollen vor allem die Auswirkungen auf und Wechselwirkungen mit Armut, Genderbeziehungen und der Umwelt. Ziel ist dabei, nicht nur Machtbeziehungen innerhalb der Kette selbst, sondern auch Macht und Ungleichheit in den jeweiligen lokalen Systemen und Beziehungen zu analysieren, in die die Akteure eingebunden sind: »[I]t requires a contextual analysis of local social process, teasing out the implications of power relations and resource access for participants’ social agency and empowerment« (Bolwig et al. 2010: 185). Die Aspekte der Integration in und Exklusion aus Wertschöpfungsketten werden dabei nicht statisch eindimensional, sondern vielmehr vielschichtig konzipiert. So könnten Akteure wie beispielsweise Wanderarbeiter unmittelbar in eine Wertschöpfungskette eingebunden, jedoch innerhalb dieser marginalisiert sein – Kosten und Nutzen von Integration müssten entsprechend in die Analyse einbezogen werden. Zugleich müsse eine Exklusion aus Wertschöpfungsketten nicht notwendigerweise von Nachteil sein, wenn dadurch beispielsweise Risiken minimiert werden könnten. In Ergänzung zu diesen Anwendungskontexten der Global-Commodity- und Value-Chains-Ansätze möchte ich zwei Kritikpunkte herausstellen, anhand derer sich zugleich weitere Diskussionsstränge innerhalb der Agri-Food Studies aufzeigen lassen. Während Machtbeziehungen ein konstantes Kerninteresse zahlreicher Untersuchungen darstellen, wurde erstens die Unterteilung in buyer- vs. producer-driven commodity chains vielfach kritisiert und eine bessere Differenzierung gefordert (Bair 2009b: 19-28). In jüngeren Arbeiten wurde diese Dichotomie zunehmend aufgebrochen. Kritisiert wird insbesondere die fehlende Berücksichtigung politischer Steuerungsmechanismen (Raikes et al. 2000, Gibbon & Ponte 2005, Kulke 2007, Talbot 2009).
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Zwar seien Unternehmen zentrale Akteure innerhalb der globalen Ökonomie, eine adäquate Analyse müsse jedoch ihre Einbettung in sich verändernde politisch-institutionelle Rahmenbedingungen beachten, die wiederum durch politische Institutionen gesteuert würden. Vor allem für agrarische Warenketten sei der ausschließliche Fokus des Ansatzes auf transnationale Konzerne nicht geeignet, denn landwirtschaftliche Produkte, so betont Talbot, zählten historisch wie gegenwärtig zu den am stärksten und unmittelbarsten durch politisch-institutionelle Vorgaben reglementierten Warenketten (Talbot 2009: 100-101). Vor dem Hintergrund der weitreichenden Einflüsse von nationalstaatlichen und internationalen Organisationen auf die Globalisierung der Landwirtschaft kann somit festgehalten werden, dass der Ansatz die nach wie vor zentrale Rolle von Nationalstaaten und internationalen politischen Institutionen – die im Fokus der FoodRegime-Ansätze stehen – weitgehend ausblendet und damit wichtige Aspekte der Steuerung landwirtschaftlicher Warenketten aus der Analyse ausklammert. Als weitere, neue Dimensionen der Steuerung entfaltende Akteursgruppe wurde daneben die Gruppe der Konsumenten in die Debatte eingebracht, die durch ihre zunehmend bewusster getroffenen Kaufentscheidungen als mit neuen (Macht-)Potentialen ausgestattet betrachtet werden. In diesem Kontext entstand eine lebhafte Debatte zu ›alternativen Agri-Food-Bewegungen‹ (wie Biologische, Solidarische oder Urbane Landwirtschaft, Fair Trade oder ›Slow Food‹) und ihren Potentialen des Widerstands gegen die Vorherrschaft von Lebensmittelkonzernen und Einzelhandelsketten (vgl. Goodman & DuPuis 2002, Kneafsey et al. 2008, Friedland 2008, Wright & Middendorf 2008, Goodman et al. 2012, Lemke 2012). Eine zweite Kritik am Global-Commodity-Chains-Ansatz bezieht sich auf den Begriff der ›Kette‹. In Abgrenzung zur Warenkette – verweisend auf die dem Begriff der ›Kette‹ inhärente, reduzierende unilaterale Konnotation (Gertel 2005b: 121) – wurden insbesondere aus geographischer Perspektive Ansätze vorgeschlagen, die die Beziehung zwischen Produzenten und Konsumenten unter Einbeziehung unterschiedlicher Theoriestränge nochmals neu ausloten (vgl. Hughes & Reimer 2004a, Fold & Pritchard 2005a, Stringer & Le Heron 2008). Fold und Pritchard beispielsweise sprechen von ›cross-continental food chains‹, die sie als ›subject area from which to apply varied theoretical and methodological approaches‹ interpretieren und womit sie auf eine diversifizierte und nuancierte empirisch-fundierte Herangehensweise an Agri-Food Studies abzielen (Fold & Pritchard 2005b: 13). Auch Hughes und Reimer fokussieren auf Dynamiken innerhalb des ›Nexus aus Produktion und Konsumtion‹ und plädieren in Ergänzung zum konzeptionellen Rahmen der Global-Commodity-Chains-
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Literatur dafür, Ansätze zu Kreisläufen oder Netzwerken in die Analyse einzubeziehen: »Rather than focusing upon beginning and end points in a chain, attention is directed towards the culturally inflected dynamics of relationships between moments of production, circulation and consumption. Embedded in a much broader literature on commodity cultures, the aim is to arrive at more contextual understandings of meanings attached to goods in different times, places and phases of commodity circulation.« (Hughes & Reimer 2004b: 3)
Vor diesem Hintergrund integrieren sie insbesondere Aspekte wie die Konstruktion von Qualität, die Repräsentation von Identität und Authentizität oder ethische Bedenken von Konsumenten (vgl. Crewe 2000, 2004, Morris & Young 2004, Hughes 2004, Reimer & Leslie 2004). Ein weiterer Ansatzpunkt fokussiert schließlich auf die Frage, wie sich AgriFood-Systeme mit Blick auf die vielfältigen Verflechtungen zwischen Nahrungsmittelproduktion und sozialer Reproduktion bis auf die Mikroebene von Haushalten und Individuen niederschlagen. Vor dem Hintergrund der Kopplungen von globalen Warenketten mit Risiken wie Klimawandel und Nahrungskrisen wird die theoretische Verknüpfung mit Livelihood-Security-Ansätzen gefordert (vgl. Kanji et al. 2005, Gertel 2005b, 2010, Turner 2007c, Challies 2008, Tugault-Lafleur & Turner 2009, Challies & Murray 2011). Um ebendiese Kopplungen in den Blick zu nehmen, verbindet Gertel Agri-Food-Systeme und Warenketten-Analyse mit Fragen nach Verwundbarkeit und der in die Körperlichkeit des Einzelnen eingeschriebenen Ungleichheit: »Inscribed bodies – the poor, hungry and starving, but also the overweight – are ultimately to be considered as an integral part of cross-continental food chains« (Gertel 2005b: 112). Aspekte der Risikoaussetzung und die Fähigkeit, Risiken zu bewältigen, siedelt er auf drei analytischen Ebenen an: der globalen landwirtschaftlichen Nahrungsproduktion, (städtischen) Markt-Austausch-Systemen sowie Nahrungsmittelkonsum und Reproduktion auf der Haushaltsebene. Agri-Food-Systeme, globale Agrarproduktion, -industrialisierung und -vermarktung werden also wechselseitig rückgebunden an Haushalte und die Fähigkeit ihrer Mitglieder (Ernährungssicherheits-)Risiken zu bewältigen. Hervorzuheben ist hier der Perspektivwechsel, bei dem das vorherrschende Denkschema der Agri-Food-Ansätze ›Produktion im globalen Süden – Konsumtion im globalen Norden‹ aufgebrochen wird und die weitgehend vernachlässigten ›Konsumenten des globalen Südens‹ als unmittelbar in Agri-Food-Systeme eingebunden betrachtet und, mehr noch,
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als maßgeblich gegenüber globalen Nahrungskrisen exponierte Gruppe identifiziert werden (Gertel 2010). Agri-Food-Ansätze, so lässt sich festhalten, analysieren die vielfältigen Beziehungen und Verflechtungen sowie räumlich diversifizierten Ebenen der globalen Nahrungsmittelproduktion, -verarbeitung und -vermarktung unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen, ökonomischen ebenso wie politischen Einbettung. Der Fokus auf die einzelne Ware, die diese Prozesse durchläuft, wurde vor diesem Hintergrund zu einer Denkfigur, die gerade aufgrund der ihr innewohnenden Reduktion ihren analytischen Gehalt zur Untersuchung von Prozessen ökonomischer Globalisierung entfaltete. In den sich anschließenden Debatten wurde diese Reduktion sukzessive aufgebrochen und Komplexität auf unterschiedlichen Ebenen integriert. Aspekte wie Macht und Steuerung, Zugänge zu Wissen und Informationen, Konstruktion von Qualität und Fairness und Mechanismen der Integration und Exklusion wirken in vielfältigen Dimensionen. Sie korrelieren und interagieren auf komplexe Art und Weise und lassen sich mit Begrifflichkeiten wie der des Netzwerks oder Kreislaufs schärfer fassen. Bewegungen im Rahmen ökonomischer Globalisierungsprozesse – sei es von Kapital, Gütern oder Personen – sind zugleich in ambivalente Prozesse aus Entgrenzungen und Grenzziehungen eingelassen, in deren Zuge sie territoriale Grenzen sowohl überschreiten, beseitigen als auch wieder hervorbringen (Berndt & Boeckler 2011, 2012). Bis hin zur Einbeziehung von Risiken, Verwundbarkeit und Existenzsicherung fand somit eine empirische und theoretische Erweiterung der Agri-Food-Debatten statt. Mit Blick auf das hier im Zentrum stehende Erkenntnisinteresse kann der Untersuchungsgegenstand – die (export-)landwirtschaftlich tätigen Akteure im Südwesten Marokkos – damit in einem zweiten, konzeptionellen Referenzrahmen verortet werden. Die (Export-)Landwirtschaft im Souss wird erstens als in die Transformationsprozesse des globalen Agri-Food-Systems eingebunden betrachtet und lässt sich zugleich in ihrer historischen Ausbildung über ebendiese Einbindungen rekonstruieren. Durch die Produktion von Ware für den Exportmarkt ist die landwirtschaftliche Produktion und Verarbeitung im Souss zweitens unmittelbar mit der Zielgruppe der Konsumenten in den Exportländern verknüpft. Das globale Austauschsystem von Produktion und Konsum ist drittens durch einander überlappende Machtverhältnisse sowie durch von unterschiedlichen Punkten aus steuernd eingreifende Akteure und Institutionen charakterisiert, die sich bis auf die Ebene individueller (export-)landwirtschaftlicher Handlungsspielräume der Produzenten im Souss niederschlagen; ihre Analyse wird damit zu einem notwendigen Bestandteil der Untersuchung.
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Während die Verfolgung der einzelnen Ware sich als eine Kette von aufeinander folgenden Arbeitsschritten konzeptualisieren lässt, manifestieren sich Wissens- und Informationsflüsse, Definitionen nationaler Zuschreibung und Qualität sowie Integrations- und Exklusionsmechanismen auf unterschiedlichen Ebenen und lassen sich präziser als Netzwerke charakterisieren, in denen mit unterschiedlichen Handlungsspielräumen ausgestattete Akteure miteinander interagieren. Mit dem Ziel, die Frage nach der Ausdifferenzierung von Handlungsspielräumen individueller Akteure und die Bedeutung dieser Verschiebung für die Generierung von (Un-)Sicherheit weiter zu bestimmen, werden die bis hierher vorgestellten Agri-Food-Perspektiven nun mit Überlegungen zu Sicherheit, Handlungsspielräumen und Ressourcen verschränkt. Sicherheit Was kennzeichnet Situationen der ›Sicherheit‹ bzw. ›Unsicherheit‹ und auf welche Weise kann Sicherheit hergestellt werden? Ziel des folgenden Abschnitts ist es, über die Analyse unterschiedlicher Sicherheitskonzepte den Begriff der Sicherheit einzugrenzen, um ihn anschließend mit Überlegungen zur Handlungsfähigkeit von Akteuren zu verbinden. Im Zentrum steht die Frage, auf welche Weise Sicherheit aus einer Akteurs-zentrierten Perspektive generiert werden kann und welche Voraussetzungen dafür als wesentlich betrachtet werden müssen. Zwei Diskursstränge lassen sich unterscheiden: Seit den 1980er Jahren wurden im entwicklungsgeographischen Kontext Ansätze zu Verwundbarkeit und Existenzsicherung erarbeitet, in deren Zuge zahlreiche, eng mit der entwicklungspolitischen Praxis verknüpfte empirische Arbeiten entstanden. Seit Anfang der 1990er Jahre kam parallel dazu das an der Schnittstelle zwischen entwicklungspolitischen, humanitären und Menschenrechts-orientierten Perspektiven angesiedelte Konzept ›menschlicher Sicherheit‹ auf. In diesem Rahmen wurden teils umfassende inhaltliche Entwürfe zur Bestimmung menschlicher Sicherheit vorgelegt. Ansätze zur menschlichen Sicherheit sind insgesamt weniger Empirie-orientiert und wurden akademisch vor allem im politikwissenschaftlichen Diskurs sowie daneben von staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen aufgegriffen und ausgearbeitet. Obgleich beide Diskursstränge weitgehend parallel verfolgt wurden und wenig oder gar nicht aufeinander Bezug nehmen, lässt sich argumentieren, dass sich Existenzsicherung und menschliche Sicherheit auf einen gemeinsamen Referenzrahmen beziehen, gegenseitig bereichern und somit als komplementär betrachtet werden sollten.
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Aus entwicklungsgeographischer Perspektive können in der Existenzsicherungsforschung zwei zentrale Ansätze unterschieden werden, und zwar Konzepte zur Verwundbarkeit (vulnerability) auf der einen und Livelihood-Konzepte auf der anderen Seite.9 Verwundbarkeitskonzepte zielen darauf ab, die gesellschaftlichen Ursachen und gruppenspezifischen Auswirkungen von Hunger- und Nahrungskrisen zu analysieren, und entstanden ursprünglich aus der Argumentation heraus, dass die Kategorie der ›Armut‹ einer begrifflichen Schärfung bedürfe (Chambers 1989). Eine Abgrenzung erfolgte durch die Einführung des Begriffs der ›Verwundbarkeit‹, der, so Chambers, nicht mit Armut gleichzusetzen sei, sondern sich vielmehr auf Aspekte wie Wehrlosigkeit, Unsicherheit und (externe) Risikoexponiertheit im Zusammenspiel mit mangelnden (internen) Bewältigungsstrategien beziehe. Watts und Bohle (1993) und Bohle et al. (1994) griffen diese Überlegung auf und entwickelten im Anschluss daran einen Erklärungsansatz, der auf die Analyse der gesellschaftlichen Ursachen von Verwundbarkeit abzielt und drei Aspekte (externer) Risikogenerierung herausstellt: (1) das Verhältnis zwischen Menschen und ihrer physischen Umwelt unter Bezug auf Theorien der Humanökologie und Politischen Ökologie, (2) gesellschaftliche Machtverhältnisse aus der Perspektive der Politischen Ökonomie und (3) Verfügungsrechte über Nahrung, Grundbedarfsgüter und weitere Ressourcen unter Einbeziehung der sogenannten Entitlement-Ansätze. Beim Verwundbarkeitskonzept handelt es sich entsprechend um ein dynamisches analytisches Gerüst, in das unterschiedliche Erklärungsansätze je nach Situation einbezogen werden können, um in empirischer Hinsicht orts-, zeit- und gruppenspezifische Bedingungen von Nahrungs- und Hungerkrisen zu untersuchen. Ausgehend vom Begriff der ›livelihood‹ – das heißt dem menschlichen Auskommen bzw. Lebensunterhalt – wurde in den 1990er Jahren die ebenfalls im anglophonen Kontext verankerte Debatte um Fragen der Existenzsicherung angestoßen, in deren Zuge ein umfangreicher Forschungs- und Literaturstrang entstand. Das Livelihood-Konzept geht auf Arbeiten am Institute for Development Studies (IDS) in Sussex zurück, in denen der Begriff der (nachhaltigen) Existenzsicherung wie folgt bestimmt wird: »A livelihood comprises the capabilities, assets (including both material and social resources) and activities required for a means of living. A livelihood is sustainable when it can cope with and recover from stresses and shocks, maintain or enhance its capabilities and assets, while not undermining the natural resource base.« (Scoones 1998: 5; basierend auf Chambers & Conway 1992)
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Es lassen sich fünf Teilaspekte identifizieren, die für die Analyse von livelihoods im Zentrum stehen, und zwar (1) der gesellschaftliche Kontext, (2) die aus dem gesellschaftlichen Kontext hervorgehenden Risiken bzw. der sogenannte Verwundbarkeitskontext, (3) die Vermögenswerte, Kapitalien oder Ressourcen, die zur Absicherung der Existenz mobilisiert werden können, (4) die Strategien, die zur Sicherung der Existenz unternommen werden sowie schließlich (5) das Ergebnis dieser gebündelten Aspekte und Handlungen. Livelihood-Ansätze fokussieren empirisch auf die Haushaltsebene, es werden jedoch zugleich stets die Wechselwirkungen zwischen lokaler und globaler Handlungsebene in die Analyse einbezogen. Für den marokkanischen Kontext aufgegriffen, fruchtbar und empirisch handhabbar gemacht wurde die Livelihood-Debatte in den Arbeiten von Breuer (2007), Gertel und Breuer (2007, 2012) und Werner (2006, 2007). Im Fokus steht dabei insbesondere der Zusammenhang zwischen Existenzsicherung und räumlicher Mobilität. Der Livelihood-Ansatz ist allerdings, so kritisiert Gertel, durch eine gewisse Theorieferne gekennzeichnet, in der Hinsicht, als dass zentrale Begriffe wie Vermögenswerte, Ressourcen und Kapital nicht trennscharf, sondern vielmehr ineinander aufgehend verwendet würden (Gertel 2010: 38-39). Auch Zusammenhänge zwischen Handlungen und Bedingungen bzw. deren unterschiedliche Ebenen würden weder getrennt noch als solche erkannt; durch die weitgehende Ausblendung gesellschaftlicher Strukturen und makroökonomischer Bedingungen würde auf diese Weise die Ursache von Entwicklungsproblemen implizit dem eigenverantwortlich handelnden Individuum zugeschrieben. Nicht zuletzt erfolge durch die Verengung der Analyse von Handlungsspielräumen auf ökonomische Möglichkeiten eine Reduzierung der Existenzsicherung auf monetäre Elemente. Darüber hinaus, so hebt Bohle hervor, würde in Livelihood-Ansätzen zwar wesentlich auf Aspekte von Sicherheit und Handlungsfähigkeit rekurriert, der Begriff der Sicherheit selbst jedoch grundsätzlich unbestimmt gelassen (Bohle 2007). Der Begriff der Sicherheit wiederum steht im Zentrum der Diskussionen zur menschlichen Sicherheit. Die Debatte um eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs im Konzept ›menschlicher Sicherheit‹ (human security) entstand Anfang der 1990er Jahre als im Anschluss an die Auflösung der Ost-West-Blöcke neue Dimensionen der Bedrohung menschlicher Sicherheit verstärkt in den (politischen und politikwissenschaftlichen) Blick gerieten (vgl. Altvater 2003b, Debiel & Werthes 2005). Ein erster Entwurf zur menschlichen Sicherheit wurde vom UNDP im Human Development Report 1994: New Dimensions of Human Security vorgelegt (UNDP 1994). Eine weitere Ausarbeitung des Konzepts erfolgte durch die Commission on Human Security, die 2003 ihren Bericht Human
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Security Now veröffentlichte (CHS 2003). Der Fokus verschob sich dabei im Wesentlichen weg von der Sicherheit von Nationalstaaten hin auf die Sicherheit des Individuums. Der Sicherheitsbegriff der menschlichen Sicherheit ist damit – ebenso wie seine Verwendung im Kontext der Verwundbarkeits- und Livelihood-Ansätze – abzugrenzen von weiteren Diskussionssträngen zum Begriff der ›Sicherheit‹10 und als Gegenbegriff zu den klassischen, staatszentrierten Sicherheitskonzepten zu verstehen. Menschliche Sicherheit soll dabei nicht nur darauf abzielen, Menschen gegenüber Bedrohungen zu schützen, sondern möchte sie zugleich ermächtigen, eigenständig ihre Sicherheit zu stärken (empowerment). Die Commission on Human Security definiert, das Ziel menschlicher Sicherheit sei es: »[...] to protect the vital core of all human lives in ways that enhance human freedoms and human fulfilment. Human security means protecting fundamental freedoms – freedoms that are the essence of life. It means protecting people from critical (severe) and pervasive (widespread) threats and situations. It means using processes that build on people’s strengths and aspirations. It means creating political, social, environmental, economic, military and cultural systems that together give people the building blocks of survival, livelihood and dignity.« (CHS 2003: 4)
Die im Bericht der Kommission behandelten Gefährdungen menschlicher Sicherheit umfassen eine Vielzahl von Aspekten wie gewaltsame Konflikte und Post-Konflikt-Situationen, Migration, Armut, Bedrohung der Gesundheit oder mangelnde Bildung. Sie enthalten darüber hinaus Elemente wie Freiheit, Liebe, Kultur, Glaube und Würde, die weltanschaulich neutral gefüllt werden sollen: »The vital core of life is a set of elementary rights and freedoms people enjoy. What people consider to be ›vital‹ – what they consider to be ›of the essence of life‹ and ›crucially important‹ – varies across individuals and societies. That is why any concept on human security must be dynamic. And that is why we refrain from proposing an itemized list of what makes up human security.« (CHS 2003: 4)
Zur Gewährleistung dieser vielfältigen Sicherheitsaspekte sind Akteure auf unterschiedlichen Ebenen angesprochen, und zwar dezidiert nicht alleine Staaten, sondern gleichermaßen regionale und internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und Akteure der Zivilgesellschaft im weiteren Sinne. Seit seiner Entstehung hat der Entwurf zur menschlichen Sicherheit sowohl vielfache Aufmerksamkeit als auch Kritik erfahren11 und wurde von zahlreichen nicht-staatlichen und internationalen Organisationen ebenso wie durch Staaten
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aufgegriffen und institutionalisiert (Krause 2008).12 Während im akademischen Kontext vordergründig die begriffliche Vagheit und Vieldeutigkeit des Konzepts als zu allumfassend und damit inhaltlich aussagelos kritisiert wurde, entfaltete es in der politischen Praxis – und unter Umständen aus genau diesem Grund, wie Debiel und Werthes (2005) anmerken – als begriffliche Projektionsfläche eine breite Basis für unterschiedliche Formen der Mobilisierung. Vor diesem Hintergrund sei es, so konstatiert Werthes, mittlerweile zum politischen Statement und selbstverpflichtenden Leitmotiv verschiedener politischer Institutionen und zivilgesellschaftlicher Organisationen geworden (Werthes 2008). Menschliche Sicherheit wurde dabei durch die jeweiligen (politischen) Akteure und Institutionen mit unterschiedlichen Akzentuierungen bestimmt.13 Die Debatte zur menschlichen Sicherheit lässt sich damit in einem Spannungsfeld aus drei Themenkomplexen verorten: einer sicherheitspolitisch-humanitären, einer menschenrechtlichen und einer entwicklungspolitischen Dimension, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen (Ulbert & Werthes 2008: 19-21). Je nach Bezugsrahmen werden wirtschaftliche und soziale Grundrechte, Persönlichkeitsrechte oder aber vielmehr legale, bürgerliche Grundrechte und Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in den Vordergrund gestellt, die über verschiedene Instrumente gewährleistet werden sollen. Die Gewährleistung und Herstellung von menschlicher Sicherheit wird jedoch überwiegend auf der Ebene des Staats bzw. der Ebene (inter-)nationaler Institutionen angesiedelt. Dies trifft auch auf den Vorschlag einer Präzisierung und Eingrenzung menschlicher Sicherheit von Debiel und Werthes zu (Debiel & Werthes 2005, Werthes 2008). Menschliche Sicherheit wird hier wie folgt bestimmt: »Menschliche Sicherheit bezieht sich sowohl auf die physische und psychische Integrität als auch auf die Würde des Menschen. Menschliche Sicherheit ist gegeben, wenn ein (menschenwürdiges) (Über-)Leben (dauerhaft ungefährdet) gewährleistet ist. Somit kann menschliche Sicherheit sowohl durch physische als auch psychologische Gewalt, aber ebenfalls durch Krankheiten/Seuchen, Unterernährung sowie durch Umweltzerstörung gefährdet werden.« (Werthes 2008: 193)
Mit dem Ziel, quantifizierbare Schwellen zu identifizieren, die Auskunft über das Ausmaß der Bedrohung bzw. der Unsicherheit geben, wird daran anknüpfend ein Modell vorgeschlagen, welches Schwellen der Empfindlichkeit, der Verwundbarkeit und der humanitären Krise beinhaltet. Menschliche Verwundbarkeit wird so zum einen im Kontext von menschlicher Sicherheit, Menschenrechten und menschlicher Entwicklung sowie zum anderen zwischen den Bereichen der Verantwortung und Fürsorgepflicht der internationalen Staatengemein-
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schaft und den individuellen Staaten angesiedelt (vgl. Abb. 1 und 2 in Werthes 2008: 196/198). Zusammenfassend lassen sich bis hierher zwei Aspekte hervorheben: Die Diskursstränge zur menschlichen Sicherheit werden, obgleich teils auf dieselben Begrifflichkeiten Bezug genommen wird, weitgehend parallel zu den entwicklungspolitischen und geographischen Ansätzen der Verwundbarkeit und livelihood security geführt. Unter anderem wird der Begriff der ›Verwundbarkeit‹ verwendet, seine Bestimmung ist jedoch im Vergleich zu den in der Verwundbarkeitsdebatte vorgenommenen analytischen Unterscheidungen unpräziser.14 Das Individuum und seine Fähigkeit zur Generierung von Sicherheit ist darüber hinaus im Laufe der Diskussion sukzessive in den Hintergrund gerückt und wird vielmehr als ›passiver‹ Empfänger von Sicherheit konzipiert, welche über nationale und internationale Institutionen gewährleistet werden soll. Der Aspekt der ›Freiheit‹, der für die Mehrheit der Definitionen menschlicher Sicherheit von zentraler Bedeutung ist, wird damit maßgeblich als ›Freiheit von‹ (Bedrohungen, staatlicher Repression, Risiken, Krankheit, Furcht, etc.) konzipiert. Damit ist die Frage nach der ›Freiheit zu‹ – also beispielsweise der Freiheit, bestimmte Handlungen ausüben zu können, wie sie 2003 im Bericht der Commission on Human Security noch enthalten war – in den Hintergrund gerückt. Doch auch in der Livelihood-Debatte bleibt nicht nur der Begriff der Sicherheit unterbestimmt, sondern es wird allgemein kein direkter Bezug zur menschlichen Sicherheit hergestellt: »Explicit links to this discourse [on human security], however, are curiously absent in the discussion on livelihoods« (Bohle 2007: 12). Dies sei, so Bohle, umso mehr verwunderlich, als da beide Diskursstränge auf ähnlichen normativen Annahmen zu zentralen Begriffen wie Rechte, Gleichheit, Nachhaltigkeit und Handlungsfähigkeit beruhten. Vor diesem Hintergrund plädiert er dafür, beide Ansätze vielmehr als komplementär, denn als konkurrierend zu betrachten: »The current discourse on human security brings together the ethics of capabilities, human needs, and human rights, just as the livelihood approach does. All these types of ethics are closely related and complementary, not competitive [...]. [T]he human security perspective on social vulnerability offers a normative framework for agency-based approaches, reducing social vulnerability by enabling the vulnerable to develop their capabilities to secure their livelihoods in a sustainable manner.« (Bohle 2007: 14)
Daran anknüpfend entwickelt Bohle einen Akteurs-orientierten Ansatz sozialer Verwundbarkeit, der soziale Verwundbarkeit als soziale Praxis bestimmt, in deren Kontext menschliche Bedürfnisse und menschliche Sicherheit fortwährend
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herausgefordert werden und umkämpft sind. ›Geographien der Verwundbarkeit‹ werden als Arenen konzeptualisiert, in denen Freiheiten und Rechte ausgehandelt, umkämpft, gewonnen und verloren werden. Die Gruppe der Verwundbaren wird jedoch nicht vordergründig als Opfer, sondern vielmehr als mit Handlungsmacht (agency) ausgestattet betrachtet. Diese erlaubt es ihnen, Bedrohungen ihrer Existenzsicherung abzuwehren, sich an neue Rahmenbedingungen der Verwundbarkeit zu adaptieren und neue Möglichkeiten zur Sicherung der Existenz zu erschließen.15 Die Analyse sozialer Verwundbarkeit müsse dabei sowohl die Perspektive derjenigen, die mit Verwundbarkeit umgehen müssen, einnehmen als auch diejenigen in den Blick nehmen, die innerhalb der Arenen der Verwundbarkeit zu den Gewinnern zählen. Menschliche Sicherheit sei entsprechend nicht einzig über die Absicherung von Einkommen, Nahrung oder Unterkunft zu fassen. Die Fähigkeiten der Gruppe der Verwundbaren mit Risiken umzugehen seien vielmehr an ihre Position innerhalb eines sozialen Felds gebunden, welches durch Macht- und Anerkennungsbeziehungen sowie Möglichkeiten der Partizipation an Entscheidungsprozessen und der Einforderung von Rechten konstituiert wird. Die Begriffe der Sicherheit und Unsicherheit, Existenzsicherung und Verwundbarkeit sind, so lässt sich resümieren, zwei oftmals parallel voneinander geführten Literatursträngen zuzuordnen. Sie sind zum einen in den Kontext der auf Armutsgruppen fokussierenden Ansätze innerhalb der Entwicklungsgeographie einzuordnen und zum anderen in den meist politikwissenschaftlich ausgerichteten Sicherheitsdiskursen verankert. Beide sind zugleich auf vielfache Weise mit entwicklungs- bzw. sicherheitspolitischen Ebenen verschränkt. Sie wurden durch staatliche und nicht-staatliche Akteure und Institutionen aufgegriffen, (weiter) ausgearbeitet und fanden darüber Eingang in die politische Praxis. In beiden Diskurssträngen lassen sich teils begriffliche Unschärfen, theoretische Unterdeterminierungen und mangelnde Abgrenzungen identifizieren. Zugleich sind deskriptive und normative Elemente vielfältig miteinander verwoben, was eine weitere Komplexitätsdimension hinzufügt. Gerade über die Schnittstelle der normativen Begrifflichkeiten sowie die wechselseitige Ausarbeitung ›unscharfer Stellen‹ lassen sie sich jedoch als komplementär betrachten. So liefert die Debatte zur menschlichen Sicherheit – neben den hier bei weitem nicht abschließend erörterten normativen Komponenten – Bestimmungen des Begriffs der Sicherheit, die diesen nicht auf Armuts- bzw. von Verwundbarkeit betroffene Gruppen beschränken. Ansätze der Verwundbarkeit und der livelihood security lenken die Aufmerksamkeit im Gegenzug verstärkt auf die Handlungsfähigkeit von Individuen und ihr eigenes Vermögen (Teil-)Aspekte von Sicherheit zu generieren. Damit rückt der in der Debatte zur menschlichen
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Sicherheit in den Hintergrund getretene Aspekt der ›Freiheit zu‹ wieder verstärkt in den Fokus. Durch die Rückbindung des Begriffs der Sicherheit an gesamtgesellschaftliche Prozesse, unterschiedliche Ebenen individueller Handlungsfähigkeit, gesellschaftlichen Kontext und dynamische Machtgefüge sowie die Referenzrahmen der zu berücksichtigenden Institutionen zur Herstellung menschlicher Sicherheit lässt sich zugleich eine implizite Zuschreibung von Verantwortung auf der individuellen Ebene vermeiden. Sicherheit ist auf diese Weise unmittelbar sowohl mit der Verantwortungs- und Fürsorgepflicht von staatlichen und internationalen Organisationen als auch mit den Handlungsfähigkeiten individueller Akteure verschränkt. Damit lässt sich für den vorliegenden Kontext ein Sicherheitsbegriff umreißen, den ich als ›sozioökonomische Sicherheit‹ bezeichnen möchte. Sozioökonomische Sicherheit wird zwischen den Polen der hier umrissenen Sicherheitsdiskurse angesiedelt: Sie geht über den auf Armutsgruppen und Verwundbarkeit fokussierenden Sicherheitsdiskurs der Existenzsicherungsansätze hinaus, indem sie auch die Akteure in den Blick nimmt, die (zeitweise, mittel- oder langfristig) von Prozessen (hier: Prozessen agroökonomischer Globalisierung) profitieren bzw. profitiert haben. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, auf welche Weise diese Akteure versuchen, ihre sozioökonomische Sicherheit aufrechtzuerhalten bzw. weiter auszubauen. In einem zweiten Schritt wird darüber hinaus nach der Funktion ebendieser Akteursgruppe für die sozioökonomische Sicherheit weiterer, auf unterschiedlichen Ebenen mit ihnen verflochtenen Akteure gefragt. Dieser Sicherheitsbegriff konzentriert sich auf die sozioökonomischen Teilaspekte des (all-)umfassenden Begriffs der menschlichen Sicherheit und klammert rechtliche, politisch-partizipatorische, ethische oder psychische Elemente weitgehend aus. Mit den sozioökonomischen Aspekten sind maßgeblich die in den Existenzsicherungsdebatten angesprochenen Ebenen der für die soziale Reproduktion von Haushalten und Familien essentiellen Grundlagen eines Einkommenserwerbs gemeint, wobei insbesondere die durch selbstständige landwirtschaftliche Tätigkeit erzielten Einkommen in den Blick genommen werden. In Abgrenzung zum Begriff der menschlichen Sicherheit wird darüber hinaus auf die Kapazität individueller Akteure zur Herstellung sozioökonomischer Sicherheit fokussiert (Haushalte, Familien, Familienbetriebe, Unternehmen); weitere mögliche Akteure wie der Staat oder zivilgesellschaftliche Organisationen stehen nicht im Zentrum der Untersuchung.
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Handlungsspielräume Die sich unmittelbar an dieses Verständnis sozioökonomischer Sicherheit anschließende Frage zielt auf Handlungen und Handlungsspielräume von Akteuren und dabei insbesondere auf die Voraussetzungen des Vermögens zu handeln ab: Wie lassen sich Handlungen bzw. die Handlungsfähigkeiten von Individuen eingehender bestimmen? Aus sozialgeographischer Perspektive ist diese Frage immer auch als Frage nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Handeln und Raum aufzufassen (Müller-Mahn 2001: 16). Im Anschluss an die von Werlen für die Sozialgeographie adaptierte Strukturationstheorie Giddens’ wurde diese sozialgeographische Kernfrage in dem Sinne neu definiert, als dass nicht mehr die Erklärung räumlicher Phänomene unter Bezug auf raumprägendes menschliches Handeln, sondern vielmehr die Erklärung des Handelns unter Bezug auf räumliche Faktoren selbst in den Mittelpunkt rückte und räumliche Strukturen die Funktion hermeneutischer Hilfsmittel zum Aufdecken sozialer Zusammenhänge erhielten.16 Während dieser Perspektivwechsel, so MüllerMahn, zu einem kreativen Schub in der sozialgeographischen Theoriebildung führte, bestand die zentrale Herausforderung darin, diese empiriefern geführte Diskussion in konkrete Forschungspraxis zu übersetzen. In diesem Abschnitt sollen nun einige, für die Zielsetzung meiner Fragestellung zentrale Aspekte der von Müller-Mahn und Gertel entwickelten Handlungsansätze herausgearbeitet werden.17 Mit Blick auf die Frage nach den Bedingungen und Folgen des Handelns der ländlichen Bevölkerung in Ägypten legt Müller-Mahn (2001) den konzeptionellen Fokus seiner Betrachtung auf die Erfassung der Sinnstrukturen und die ihnen zugrundeliegende Intentionalität von handelnden Subjekten. In Anlehnung an Giddens charakterisiert er Handeln als sowohl durch Intentionen – das heißt durch die internen Beweggründe und Interessen der handelnden Person – als auch durch externe Steuerungsfaktoren, Regeln und Gesetze bestimmt. Beweggründe für Handeln lassen sich damit sowohl in den bewussten Entscheidungen (Intentionen) eines Akteurs als auch in unbewusst befolgten Routinen verorten. Der Akteur selbst wird als in räumlich-sozialen Strukturen verankert betrachtet. Durch diese Verankerung wird sein Handeln in bestimmte Bahnen gelenkt, während er selbst diese Strukturen durch sein Handeln zugleich prägt und verändert. Dabei kann es zu Abweichungen zwischen Intentionen und Handlungsergebnis durch unerkannte Handlungsbedingungen und unintendierte Handlungsfolgen kommen. Zugleich ergeben sich Handlungsspielräume dann, wenn mehrere alternative Handlungsschemata auf eine Situation anwendbar sind und dem Handelnden so eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen ermöglicht
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wird. Um konkretes Handeln und seine räumlichen Ergebnisse auf der Basis dieser Überlegungen erklären zu können, müssten jeweils beide, sowohl die internen als auch die externen Gründe sowie ihre jeweiligen Wechselbeziehungen in die Analyse einbezogen werden. Diese beiden Perspektiven fasst Müller-Mahn als komplementär, jedoch über unterschiedliche methodische Herangehensweisen erschließbar auf. Handlungsverstehen ziele darauf ab, die innere Logik, die Kontext-Regeln und die Schemata des Handelns zu erkennen, die sich nur über die Intentionalität des Subjekts und seine handlungsleitenden Motive, Interessen und Bestimmungsgründe erschließen ließen. Die Erfassung der internen Beweggründe erfordere entsprechend ein Sich-Einlassen auf die subjektive Perspektive des Handelnden, während die Analyse der äußeren Verursachungszusammenhänge – über die dann eine Handlungserklärung erfolgen könne – einen anderen methodischen Zugang verlange, den er als ›objektive‹ Perspektive bezeichnet.18 Hinsichtlich der adäquaten Erfassung der Intentionalität des Handelnden stellt sich für ihn darüber hinaus die Problematik einer doppelten Diskrepanz zwischen erstens der subjektiven Handlungsbegründung durch den Handelnden selbst, die bewusst oder unbewusst von den wirklichen Handlungsmotiven abweichen könne, sowie zweitens der forschungspraktischen Überlegung, dass die faktischen Auskünfte der Befragten nicht mit ihren tatsächlichen (subjektiven) Handlungsbegründungen übereinstimmen müssen. Um dieser Problematik zu begegnen, schlägt er ein interpretatives Konzept vor, welches auf den von den Handelnden selbst angegebenen Motiven aufbaut und darüber hinaus Gründe aus der Handlungssituation (beispielsweise durch Kartierung des Umfelds und der Lebenswelt der Handelnden) in die Interpretation mit einbezieht. Auch Gertel (2010) konzeptualisiert Handlungen als an Raum und Zeit gebunden und hebt aus geographischer Perspektive die Ortsgebundenheit von Handlungen sowie den räumlichen Niederschlag sozialer Beziehungen hervor. Sein Fokus liegt auf den Voraussetzungen des Vermögens zu handeln, mit dem Ziel, Austauschbedingungen und Existenzsicherung von Armutsgruppen durch die Analyse der konkreten Ressourcenstruktur einzelner Haushalte zu bestimmen. Durch die Betonung der Handlungsvoraussetzungen wird die Bedeutung von Ressourcen in den Mittelpunkt der Handlungstheorie gerückt: Das Vermögen zu handeln wird durch den Zugriff auf Ressourcen überhaupt erst ermöglicht und im Gegenzug durch mangelnde Zugriffsmöglichkeiten auf Ressourcen in seinen potentiellen Spielräumen eingeschränkt (Gertel 2010: 3). Ressourcen fasst er dabei in Anlehnung an Giddens als in ›Regel-Ressourcen-Komplexe‹ eingebettet auf.19 Unter Rückgriff auf Elemente der Ressourcenkonzeption Giddens’ sowie Bourdieus Ausführungen zum erweiterten Kapitalbegriff entwi-
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ckelt Gertel ein Ressourcenkonzept, welches sowohl mit einer übergeordneten Gesellschaftstheorie kompatibel sein als auch Binnenaspekte von Bewältigungsstrategien auf der Haushaltsebene erklärbar machen soll.20 Das Ziel besteht darin, komplexe soziale und ökonomische Vorgänge der empirischen Analyse zugänglich zu machen. Konkret wird zwischen den folgenden vier Formen von Ressourcen unterschieden: »(1) Inkorporierte Ressourcen, die an den Körper gebunden sind; (2) Sozial institutionalisierte Ressourcen, die an Personen gebunden sind; (3) Allokative Ressourcen, die an Eigentumsrechte gebunden sind; (4) Monetäre Ressourcen, die ebenfalls an Eigentumsrechte gekoppelt sind, jedoch einfacher zwischen Personen ausgetauscht werden können.« (Gertel 2010: 43)
Die Unterscheidung zwischen diesen vier Formen von Ressourcen lässt sich wie folgt präzisieren: Inkorporierte Ressourcen nehmen direkten Bezug auf die Körperlichkeit einer Person und sind teils nicht, teils eingeschränkt21 übertragbar. Als inkorporierte Ressourcen werden insbesondere die physische und mentale Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit ebenso wie die Bildung einer Person betrachtet. Sozial-institutionalisierte Ressourcen lassen sich als das Ergebnis sozialer Beziehungen in Form von persönlichen oder institutionalisierten Netzwerken betrachten und sind an die spezifische Beziehung zu einer Person gebunden. Damit werden weitgehend die Aspekte angesprochen, die Bourdieu als ›soziales Kapital‹ bezeichnet: »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (Bourdieu 1983: 191; Hervorhebungen im Original)
Diese ›Beziehungsnetze‹ sind dabei keine natürliche oder soziale Gegebenheit, sondern sie werden durch Beziehungsarbeit in Form ständiger Austauschakte, durch die sich Gruppenmitglieder gegenseitig in ihrer Anerkennung bestätigen, reproduziert. Zugleich dienen sie auch der Abgrenzung einer Gruppe gegenüber anderen Gruppen (Bourdieu 1983: 191-192). Sozial-institutionalisierte Ressourcen können als unter bestimmten Umständen auf institutionell bekannte Dritte übertragbar charakterisiert werden. Zu den allokativen Ressourcen zählen schließlich Rohstoffe, Produktionsmittel und produzierte Güter. Sie sind ebenso wie monetäre Ressourcen – das heißt Geld – nicht über Körperlichkeit, sondern
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über Eigentumsrechte an eine Person gebunden und grundsätzlich sowie weitreichend übertragbar. Im Anschluss an die bis hierher skizzierten handlungstheoretischen Überlegungen können die folgenden, für dieses Buch zentralen Annahmen formuliert werden: Menschliches Handeln wird als intentional sowie durch interne und externe Dimensionen bestimmt aufgefasst. Zugleich sind Handlungen an die Voraussetzung der Möglichkeit zu handeln und damit an die Verfügung über Ressourcen gebunden. Intentionalität und Ressourcengebundenheit werden als gleichrangig betrachtet, sind jedoch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: Der Aspekt der Intentionalität zielt auf den Status der ›Handlung‹ ab und erlaubt eine Unterscheidung zwischen reinem ›Verhalten‹ und Handlungen. Auch reines Verhalten beruht auf Ressourcen, entbehrt jedoch des Kriteriums der Intentionalität. Ressourcen werden im Gegenzug als notwendige Voraussetzung jeder Form von Handlung betrachtet, ohne die weder eine Materialisierung von Handlungen noch eine Intentionalität erzielt werden kann. Handlungsspielräume ergeben sich vor diesem Hintergrund aus zwei Perspektiven: Und zwar erstens dann, wenn eine Situation prinzipiell unterschiedliche individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnet sowie wenn zweitens das handelnde Subjekt zugleich über die notwendige Ressourcenausstattung verfügt, um in einer Situation unterschiedlicher Handlungsoptionen verschiedene Handlungsziele anstreben zu können. Während sich Handlungsintentionen – unter der Berücksichtigung der oben erwähnten methodischen Problematik – über einen auf die interne Perspektive des handelnden Individuums abzielenden empirischen Zugang erschließen können, lassen sich Handlungsspielräume über einen ›doppelten Zugang‹ rekonstruieren. Der erste Zugang zielt auf die ›interne‹ (subjektive) Komponente, das heißt die individuelle Perzeption von Handlungsspielräumen ab und fragt, welche Handlungsspielräume das handelnde Individuum für sich selbst subjektiv identifiziert und ausschöpft. Zweitens wird davon ausgegangen, dass sich Handlungsspielräume mit Blick auf die Ressourcenausstattung von Individuen über eine ›externe Perspektive‹ erschließen lassen; damit ist ein alternativer, insbesondere quantitativer methodischer Zugang angesprochen, der auf die Erfassung der Ressourcenausstattung des Individuums abzielt und entsprechend aus externer Perspektive Rückschlüsse auf die Handlungsspielräume des Individuums zieht. Auch dieser zweite Zugang beruht auf einer sozialen Beziehung (der Interviewsituation), konstruiert jedoch methodisch eine andere Repräsentation des gleichen Untersuchungsgegenstands. Beide Zugänge kommen in diesem Buch methodisch zur Anwendung und werden mehrfach verschränkt.
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Analyserahmen Prozesse der ökonomischen Globalisierung – hier die Globalisierung der landwirtschaftlichen Obst- und Gemüseproduktion – sind kein Naturphänomen, sondern werden von Menschen und ihren Interessen in bestimmte, intendierte Richtungen vorangetrieben. Menschen sind in diesen raum-zeitlichen Geometrien durch heterogene Handlungskapazitäten und Machtpositionen zur Realisierung ihrer Interessen und damit unterschiedliche politische Gestaltungskraft definiert. Diese Interessen und Akteure gilt es zu analysieren und ihre Bedeutung empirisch aufzuzeigen. Die einleitend benannte Fragestellung nach der Ausbildung, Veränderung und Ausdifferenzierung der (landwirtschaftlichen) Handlungsspielräume der Akteure im Souss und den daraus erwachsenden Konsequenzen lässt sich damit präzisieren und in einen Analyserahmen fassen (vgl. Abb. 2-1). (1) Der Akteur und seine Handlungsspielräume stehen im Zentrum der Untersuchung. Menschliches Handeln wird als durch interne und externe Dimensionen bestimmt und an die Verfügung über Ressourcen gebunden aufgefasst. Handlungsspielräume von Akteuren ergeben sich dann, wenn eine Situation prinzipiell unterschiedliche individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnet und das handelnde Subjekt zugleich über die notwendige Ressourcenausstattung verfügt, um unterschiedliche Handlungsziele anstreben und materialisieren zu können. (2) Der Begriff der Handlungsspielräume wird als in doppelter Hinsicht dynamisch aufgefasst. Handlungsspielräume werden als zeitlich dynamisch begriffen und können sich vor dem Hintergrund einer möglichen Akkumulation von Ressourcenzugängen (historisch) herausgebildet haben; sie können zugleich unterschiedliche räumliche Reichweiten umfassen. Unter den Bedingungen der Knappheit von und Konkurrenz um Ressourcen wird davon ausgegangen, dass sich Handlungsspielräume individueller Akteure in einem Handlungs- und Möglichkeitsraum bewegen, innerhalb dessen Ressourcenzugriffsmöglichkeiten (und damit zugleich Handlungsspielräume) einander überlappen, insofern als dass die Erweiterung von Handlungsspielräumen von Akteuren sowohl mit einer Erweiterung als auch mit einer Beschränkung der Handlungsspielräume anderer Akteure einhergehen kann. (3) Akteure und ihre Handlungsspielräume werden zugleich als in gesellschaftliche Handlungsbezugsrahmen eingebettet betrachtet. Als zentraler Bezugsrahmen lässt sich für die vorliegende Fragestellung das globale Agri-FoodSystem identifizieren. Die Handlungsspielräume der (export-)landwirtschaftlich tätigen Akteure im Souss sind in die Transformationsprozesse dieses globalen Agri-Food-Systems eingebunden, haben sich historisch vor ebendiesem Hinter-
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Abb. 2-1: Analyserahmen zur Konzeptualisierung von Handlungsspielräumen &)%$")$# & $)&$#
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grund herausgebildet und beinhalten gegenwärtig verschiedene Möglichkeiten, sich innerhalb dieses Handlungsbezugsrahmens zu positionieren. (4) Hieraus erwachsen neue Formen sozioökonomischer Sicherheit ebenso wie unterschiedliche Möglichkeiten, mit Unsicherheit individuell oder gemeinschaftlich umzugehen. Diese werden schließlich mit Blick auf drei Dimensionen der Verflechtung untersucht: (1) das politisch-ökologische Gefüge im Souss, (2) Marktzugänge im globalen Obst- und Gemüsehandel und (3) die Rekonfiguration regionaler Arbeitsmärkte.
Kontexte: Der Souss
Für einige mediterrane Produkte zählt Marokko zu den größten Exportländern: Für Mandarinen ist es unter den ersten fünf, für Orangen und Tomaten unter den ersten zehn weltweit.1 Marokko liefert knapp 80 Prozent der aus Drittländern in die EU importierten Tomaten, mehr als die Hälfte der grünen Bohnen und ein Fünftel der Mandarinen.2 Landwirtschaftliche Agrarerzeugnisse machen dabei insgesamt 10 Prozent der marokkanischen Exporte aus (DEPF 2008: 21).3 Die im Südwesten gelegene Souss-Ebene ist gegenwärtig das Produktions- und Exportzentrum für Obst und Gemüse in Marokko: Seit einigen Jahrzehnten konzentriert sich die Exportproduktion auf die 5.750 Quadratkilometer große Ebene (Baroud 2002: 98), aus der zwei Drittel aller Zitrusfrucht- und mehr als 90 Prozent aller Gemüseexporte stammen (EACCE 2009a, 2009b). Mit einem Viertel der marokkanischen Obst- und Gemüseproduktion ist die Ebene zugleich auch für den nationalen Markt von Bedeutung (Belkadi 2003).4 Die Exportlandwirtschaft und die um sie herum entstandenen Strukturen von Verpackungsstationen über Zuliefererunternehmen, Forschungsinstitutionen bis hin zu Agrarmessen zählen zu den zentralen Faktoren, die die Region in den letzten Jahrzehnten zur Wirtschaftsboomregion werden ließen. Mit einem Anteil von 12,2 Prozent am Bruttoinlandsprodukt ist der Souss-Massa-Drâa – nach Casablanca – Marokkos zweitwichtigste Wirtschaftsregion (2000-2007, DEPF 2010: 34). Neben der Fischereiindustrie trägt die landwirtschaftliche Produktion hierzu einen wichtigen Anteil bei: Jeweils ein Drittel des nationalen Bruttoinlandsprodukts aus Landwirtschaft und Fischereiindustrie werden im SoussMassa-Drâa realisiert.5 Die Verteilung der Wertschöpfung ist zugleich heterogen: Während im interregionalen Vergleich Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Armutsrate in der Hinsicht korrelieren, als dass die Armutsrate mit zunehmendem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sinkt, hat der Souss-Massa-Drâa trotz hohem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf eine vergleichsweise hohe Armutsrate von knapp 20 Prozent (DEPF 2010: 40-41).
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Die Region Souss-Massa – benannt nach ihren beiden im Hohen und AntiAtlas entspringenden Hauptflüssen Oued Souss und Oued Massa – bildet den westlichen Teil der administrativen Region Souss-Massa-Drâa6 und beinhaltet die Präfekturen bzw. Provinzen Agadir-Ida Outanane, Inezgane-Ait Melloul, Chtouka-Ait Baha, Tiznit und Taroudant (vgl. Karte 3-1). Sie umfasst naturräumlich die Ausläufer des Hohen Atlas im Norden, des Anti-Atlas Gebirges im Süden sowie die sich zwischen den Gebirgsketten ausdehnende, trianguläre Ebene, die im Westen bis an den Atlantischen Ozean grenzt. Während mit ›Souss‹ in der Literatur ebenso wie im alltäglichen Sprachgebrauch unterschiedliche regionale Zusammenhänge benannt werden können,7 bezieht sich ›Souss‹ nachfolgend immer auf ebendiese von Osten nach Westen rund 200 Kilometer lange, an ihrer breitesten Stelle im Westen etwa 70 Kilometer breite und im Osten spitz zulaufende Ebene, auf die sich die intensive Agrarproduktion beschränkt. Die Souss-Ebene ist durch ein semi-arides bis arides Klima, eine hohe Anzahl von Sonnenstunden und schwache Niederschläge von um die 200 Millimeter gekennzeichnet, die starken interannuellen Schwankungen unterliegen (ABH/SM 2008b). Sie wurde historisch insbesondere von berberophonen Gruppen aus den umliegenden Gebirgsregionen des Hohen Atlas und Anti-Atlas besiedelt, die sprachlich dem Tachelhayt zuzuordnen sind. Daneben ließen sich in unterschiedlichen Zeitabschnitten immer wieder arabophone Gruppen wie die Haouaris – nach denen die Region Haouara um Oulad Teima bis heute benannt wird – in der Ebene nieder (Turner 1999, Berriane 2002b). Der Souss bildet historisch ein Mosaik aus sich räumlich überlagernden, lokalen und überregionalen soziopolitischen Einheiten, die teils über politische Zentralinstanzen (caids) verfügten, teils von kollektiven Gremien geleitet wurden (Turner 1999: 494). Die Einführung der wasserintensiven Zitrusfrucht- und Gemüsekulturen – heute abgesehen von Fisch die wichtigsten landwirtschaftlichen Exportgüter Marokkos – ist ein Ergebnis der landwirtschaftlichen Erschließung der Souss-Ebene während der späten Protektoratsjahre, deren Produktionsmuster sich bis heute prägend auswirken. Die Ebene unterscheidet sich erheblich von den sie umgebenden Bergregionen. Zugleich existieren deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen ineinandergreifenden und sich teils überlappenden natur- und sozialräumlichen Subregionen innerhalb der Ebene (Bouchelkha 2003a). Diese sind zum einen das südlich von Agadir beginnende und bis nach Tiznit reichende Gebiet Chtouka, heute das Zentrum der intensiven Gewächshausproduktion,8 sowie das dem Lauf des Oued Souss folgende Souss-Tal, welches sich in Souss Amont (Oberes Souss-Tal) und Souss Aval (Unteres Souss-Tal) untergliedert und vor allem
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Karte 3-1: Die Souss-Ebene
durch Zitrusfruchtplantagen gekennzeichnet ist. Die Souss-Ebene ist darüber hinaus in unterschiedlichem Ausmaß durch ihre teilweise noch vorhandene, ursprüngliche Vegetation, den Arganwald, charakterisiert. Der 1998 von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärte Arganwald kommt endemisch nur im Südwesten Marokkos vor und ist Gegenstand vielfältiger Nutzungen und Nutzungskonflikte (Turner 2007a). Die Fläche des Arganwalds, zu der insbesondere der sich östlich des Flughafens Agadir Al Massira erstreckende Forêt Admin zählt, ist als eine weitere Subregion zu identifizieren, die sich mit den anderen Gebieten – sofern Waldbestände anzutreffen sind, die unter die für den Arganwald geltenden rechtlichen Bestimmungen fallen – überschneidet. Die hiermit skizzierten Subregionen sind nicht als trennscharfe, abgeschlossene Einheiten zu verstehen, sondern dienen vielmehr einer differenzierteren Einordnung der auch innerhalb der Ebene durchaus heterogenen Kontexte.
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Neben der agrarischen Nutzung – und teils damit im Zusammenhang stehend – ist die Souss-Ebene durch Migrationsbewegungen und Prozesse der Urbanisierung charakterisiert. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts und bis in die 1970er Jahre hinein zählten die Souss-Ebene und der Anti-Atlas zu den wichtigsten Emigrationsregionen der internationalen marokkanischen Migration. Zugleich wurde die Ebene im Kontext der agroindustriellen Entwicklung zur Zielregion von Binnenmigration innerhalb Marokkos, in deren Zuge lokale urbane Zentren wie Oulad Teima ebenso wie peri-urbane Räume wie Sidi Bibi, Khmiss-Ait Amira und Biougra entstanden.9 Der Großraum Agadir – mit schätzungsweise 1 Million Einwohnern einer der größten urbanen Räume Marokkos – ist mit der Regionalverwaltung, dem Container-Hafen, dem nationalen Großmarkt für Obst und Gemüse Inezgane und seinen Hotelkomplexen und Stränden zugleich administratives, wirtschaftliches und touristisches Zentrum des Souss (UN-HABITAT 2004). Weitere urbane Zentren sind die östlich von Agadir gelegene ehemalige Provinzhauptstadt Taroudant sowie das im Süden gelegene Tiznit. Der Aufschwung des Souss zur agroökonomischen Boomregion Marokkos lässt sich von den Anfängen während des französischen Protektorats bis in die Gegenwart über seine Einbindungen in ein zunehmend globalisiertes Agri-FoodSystem nachzeichnen. Die unterschiedlichen Phasen und Formen der Einbindung sowie ihre regionalen Ausprägungen stehen im Zentrum dieses Kapitels, das die Untersuchungsregion dieses Buchs vorstellt und damit den historischen und gegenwärtigen Kontext zum Verständnis der nachfolgenden Kapitel liefert. Der Schwerpunkt liegt auf dem ländlichen Souss und den verschiedenen Phasen der Herausbildung der intensiven, exportorientierten Landwirtschaft, die jeweils abschnittsweise in makroökonomische Prozesse auf (inter-)nationaler Ebene eingeordnet werden.
A UFSCHWUNG
ZUR
B OOMREGION
Das Erbe des französischen Protektorats Die Zeit des französischen Protektorats (1912-1956)10 wirkte sich nachhaltig auf die marokkanische Landwirtschaft aus. Als Ergebnis der kolonialen Unterscheidung in ›Maroc utile‹ und ›Maroc inutile‹,11 in deren Rahmen insbesondere Gebiete mit ›agrarischem Potential‹ angeeignet und durch französische Siedler bewirtschaftet wurden, entstand eine Zweiteilung zwischen ›traditioneller‹ und ›moderner‹ Landwirtschaft, die in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit
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durch eine nur selektiv erfolgte Bodenbesitzreform und die Weiterführung der französischen Bewässerungspolitik fortgeschrieben wurde. Die französische Protektoratszeit ging mit einer massiven Transformation von Landeigentumsverhältnissen und Anbaukulturen sowie einer räumlichen Verlagerungen der landwirtschaftlichen Kerngebiete einher. Die französische Agrarpolitik war dabei von mächtigen Mythen geleitet (Swearingen 1987). Bis Anfang der 1930er Jahre stand dem Mythos Marokkos als ›Kornkammer Roms‹ folgend – und allen klimatischen Indikatoren zum Trotz – der Weizenanbau im Fokus. Nachdem sich der Weizenanbau als ökologisch ebenso wie ökonomisch fehlgeleitet erwiesen hatte, folgte eine Umorientierung auf den Anbau von Zitrusfrüchten, die wiederum maßgeblich von der Vision der Realisierung des ›Kalifornischen Traums‹ in Marokko getragen war. In Anlehnung an den Erfolg der kalifornischen Zitrusfruchtproduktion sollte Marokko zum ›Kalifornien Nordafrikas‹ werden. Die vollständige Erfassung und ›Inwertsetzung‹ der Wasserressourcen und daran anknüpfend das Vorantreiben der Bewässerungslandwirtschaft waren zentrale Bestandteile dieser Agrarpolitik, die 1938 in die Verabschiedung eines umfassenden Bewässerungsplans (Plan Noguès) mündete, der bereits implizit das Ziel der Bewässerung von 1 Million Hektar Land beinhaltete.12 Die politischen und ökonomischen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs durchkreuzten die Bewässerungsvorhaben jedoch, so dass bis Ende des französischen Protektorats nur ein Bruchteil der ursprünglichen Pläne umgesetzt war; infrastrukturell bestand allerdings bereits das Potential zur Bewässerung von weitaus mehr Flächen. Die Landwirtschaft war zugleich durch heterogene Landeigentums- und Bewirtschaftungsverhältnisse gekennzeichnet: Gegen Ende der Protektoratszeit besaßen europäische Siedler rund 1 Million Hektar Land, von denen 728.000 Hektar im Rahmen der ›privaten‹, durch individuelle Käufe, und 289.000 Hektar im Rahmen der ›offiziellen‹, durch die Protektoratsmacht selbst vorangetriebenen Kolonisierung erworben worden waren (Swearingen 1987: 143-145, Popp 1983a: 56). Während alleine 2.600 der insgesamt 5.900 Siedler 94 Prozent des europäischen Koloniallands und im Schnitt Betriebe von 365 Hektar Größe besaßen, verfügte ein durchschnittlicher marokkanischer Landwirt über weniger als 4 Hektar Land. Gleichzeitig waren etwa 500.000 Familien im ländlichen Marokko als landlos bzw. praktisch landlos zu charakterisieren, da sie weniger als 0,5 Hektar besaßen. Zu Beginn der nationalen Unabhängigkeit war Marokko von den drei nordafrikanischen Ländern, die von Frankreich besetzt gewesen waren, mit geschätzten 70 Prozent das Land mit der größten ländlichen Bevölkerung sowie auch dem höchsten Anteil praktisch landloser Bauern.13
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Die französisch-koloniale Erschließung des Souss Der Beginn der kolonialen Erschließung der Souss-Ebene wird durch die Einführung einer neuen Technik, der motorbetriebenen Pumpbewässerung markiert.14 Dieser durch die Franzosen induzierte Techniktransfer repräsentiert einen Wendepunkt in der jüngeren Vergangenheit, der vollkommen neue Möglichkeiten der landwirtschaftlichen Kultivierung eröffnete und zugleich einen weitreichenden Prozess der Neukonfiguration sozioökonomischer Strukturen anstieß. Die Souss-Ebene wurde während des französischen Protektorats vergleichsweise spät, infolge jedoch nicht weniger intensiv erschlossen (Popp 1983a, 1983b). Bis Anfang der 1930er Jahre zählte sie in der Kategorisierung der französischen Siedler zum ›Maroc inutile‹, was jedoch unter Umständen weniger durch die vielfach angeführten landwirtschaftlichen oder verkehrstechnischen Gründe als vielmehr durch die Tatsache bedingt war, dass die Region auch nach der Etablierung des Protektorats als ›Hort der Rebellion und des Widerstands‹ galt (Turner 2002: 76-77). Die Kolonisation erfolgte ab den 1940er Jahren ausschließlich auf der Grundlage privatwirtschaftlicher Initiativen, nachdem eine von der Protektoratsverwaltung in Auftrag gegebene Untersuchung der hydrogeologischen Verhältnisse das Vorhandensein reichhaltiger Grundwasservorkommnisse ermittelt hatte, die sich, so die Berechnung, für eine intensive Pumpbewässerung eignen würden. Die französische Landerschließung ist in den darauffolgenden rund 15 Jahren von einer Logik der kapital-orientierten Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen und ›Inwertsetzung‹ des agrarischen Potentials gekennzeichnet. Der ›koloniale Blick‹ auf Ebene, Natur und Bevölkerung und das Unternehmen ihrer Erschließung offenbaren sich unter anderem im Zeitzeugenbericht Raoul Faures15 aus dem Jahr 1954, der von der Geschichte der Ansiedlung der ersten Europäer über die Stadtentwicklung Agadirs bis hin zu naturräumlichen Merkmalen und landwirtschaftlichem Potential einen Überblick über die Region in den 1950er Jahren kurz vor Ende des Protektorats gibt (Faure 1954). Unter der Überschrift Quelques particularités de l’agriculture indigène dans la région beschreibt er unter anderem die landwirtschaftliche Tätigkeit der Landbevölkerung mit Hilfe der naoras, die ihm als Inbegriff ineffizienter Bewirtschaftungsformen erscheinen: »Ce qui surprend le plus le visiteur dans cette région, c’est d’apercevoir des milliers de ›naoras‹, utilisées pour les cultures irriguées de petites superficies. Près de chaque puits du bled, se trouve un plan incliné qui sert de chemin de halage à un animal chargé de monter l’eau dans une outre; un dispositif (deuxième corde) déclenche l’ouverture de l’outre
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lorsqu’elle arrive au sommet du puits pour déverser son contenu dans un petit bassin, utilisé pour l’irrigation d’une superficie variant de un quart à trois quarts d’hectare. Ce système, assez primitif, fait vivre une famille de fellahs qui ne compte ni son temps, ni son travail, ni celui de l’animal utilisé, sans quoi, le prix de revient du mètre cube d’eau apparaîtrait comme excessif.« (Faure 1954: 232)
Mit Beginn der 1940er Jahre setzt im Rahmen der privaten Kolonisation ein Boom an Grundstückskäufen und Erschließungsmaßnahmen landwirtschaftlicher Flächen ein, der maßgeblich auf dem Einsatz der Motorpumpe beruht: Bis 1956 erwarben Europäer im Souss etwa 28.000 Hektar Land, 6.700 Hektar wurden überwiegend für den Zitrusfruchtanbau durch Pumpbewässerung erschlossen (Popp 1983a: 168); die Zahl der Motorpumpen stieg von 1939 bis 1953 von 10 auf 400, aus 20 europäischen Betrieben wurden im gleichen Zeitraum 280 (Faure 1954, o.S.). Insgesamt fließen zwischen 5 und 6 Milliarden Francs aus privatem Kapital16 in die Erschließung der landwirtschaftlichen Ressourcen (Faure 1954: 246). Zu den Investoren in die Zitrusfruchtproduktion zählten insbesondere Aktiengesellschaften mit Sitz in Casablanca, die die Gewinnmaximierung des angelegten französischen Kapitals zum Ziel hatten. Das 1939 von der Protektoratsverwaltung erlassene Landverkaufsverbot von Marokkanern an Europäer, das ursprünglich die regionale Landwirtschaft schützen sollte, wurde systematisch durch Einbeziehung marokkanischer ›Strohmänner‹, die das Land im Auftrag der Kapitalgesellschaften erwarben, umgangen.17 Seitens der ländlichen Bevölkerung handelte es sich dabei maßgeblich um Notverkäufe in ausweglosen Situationen wie Dürren oder Epidemien im Kontext insgesamt prekärer sozialer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen (Turner 2002: 76-77). Als flächenmäßig größter Eigentümer trat mit knapp 1.000 Hektar die Société Agricole des Oulad Daho auf, deren Hauptanteilseigner wiederum die Banque de l’Indochine war (Popp 1983a: 198-199). Diese Phase der landwirtschaftlichen Erschließung des Souss war durch eine Modernisierungseuphorie gekennzeichnet: »La région ne fait que ›démarrer‹; de nombreux projets sont susceptibles de transformer la vallée du Souss en une plaine riche et fertile. De très gros progrès peuvent être réalisés dans les cultures ›bour‹ par l’emploi de charrues et d’attelages améliorés, par l’utilisation de semences sélectionnées et des engrais, par la recherche de techniques culturales mieux appropriées. Les terres sont profondes et fertiles et n’attendent que leur valorisation rapide pour donner des productions toujours accrues; la nappe phréatique semble abondante; l’équipement de la région se poursuit à une cadence accélérée; [t]out permet d’espérer qu’Agadir et le Souss, derniers venus au développement économique marocain constitueront dans quelques années, un des plus beaux fleurons du Maroc et une preuve
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tangible de l’œuvre grandiose et civilisatrice entreprise par la France, dans ce pays du Maghreb.« (Faure 1954: 245-246)
Zwei zentrale Aspekte, die die landwirtschaftliche Kolonisation im Souss auszeichneten, strukturieren die (Export-)Landwirtschaft bis heute: zum einen die Zweiteilung der Ebene in Zitrus- und Gemüsekulturen, die in der Erschließung der Umgebung von Inezgane und Ait Melloul für den Tomatenanbau und des Raums Oulad Teima und Sebt El-Guerdane für den Zitrusfruchtanbau bereits angelegt wurde. Zum anderen traten bereits während des Protektorats nicht wie in anderen Regionen Marokkos Familienbetriebe, sondern Großbetriebe französischer Kapitalgesellschaften als Hauptakteure der landwirtschaftlichen Produktion auf – Investitionsmuster, die die Exportproduktion bis in die Gegenwart dominieren. Als kontinuierliche Mechanismen über verschiedene Zeitphasen hinweg lassen sich darüber hinaus fehlende staatliche Vorgaben zu Landerwerb und Grundwasserentnahme oder, sofern vorhanden, ihre systematische Unterwanderung identifizieren, in deren Konsequenz frühzeitig Prozesse der Ressourcenakkumulierung und -überausbeutung sowie der sozioökonomischen Polarisierung und Differenzierung einsetzten. Entkolonialisierung und Bewässerungspolitik Mit der Unabhängigkeit Marokkos 1956 erfolgte keine sofortige Enteignung, sondern vielmehr eine schrittweise Entkolonialisierung von Ländereien, die erst 1973 abgeschlossen war (vgl. Popp 1983a: 56 ff.). Dabei gelangte insgesamt mehr als die Hälfte der rund 1 Million Hektar kolonialisierter Fläche auf unterschiedliche Weisen in die Hände der marokkanischen Elite (Swearingen 1987: 180). Ein großer Teil wurde von den französischen Siedlern direkt an wohlhabende Marokkaner verkauft. Weitere Landflächen wurden entweder verstaatlicht und überwiegend von den 1972/73 gegründeten halbstaatlichen Gesellschaften SODEA (Société de Développement Agricole) und SOGETA (Société de Gestion des Terres Agricoles) verwaltet oder aber im Rahmen der Landreform über Jahrzehnte hinweg durch das Königshaus nach machtpolitischen Aspekten ›verteilt‹ (vgl. Leveau 1985 [1976]).18 Dabei wurde zu einem geringeren Anteil auch Land an kleinere Landwirte und Landlose vergeben (Jouve 2002).19 Nachdem mit der Opération Labour (1957-60) eines der ersten Projekte zur Förderung des Regenfeldbaus aufgrund von Diskrepanzen zwischen Planung und Realität gescheitert war, verfolgte die Agrarpolitik in den nachfolgenden Jahrzehnten den Ausbau der intensiven Bewässerungslandwirtschaft – ein Kurs, in dem der marokkanische Staat von internationalen Organisationen wie der
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Weltbank beraten und durch Kreditvergaben unterstützt wurde (vgl. Swearingen 1987, Müller-Hohenstein & Popp 1990, Popp 1993). Die 1967 durch Hassan II lancierte politique des barrages (Staudammpolitik) strebte einen massiven staatlichen Ausbau der Bewässerungsflächen und damit die Realisierung der ursprünglich von den Franzosen geplanten Bewässerungsvorhaben an. Sie verfolgte zwei Ziele: die Gewährleistung der Versorgung der marokkanischen Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln über Importsubstitution sowie die Förderung der exportorientierten Produktion zur Generierung von Devisen, womit gleichzeitig die hohen Investitionskosten in die Bewässerungsinfrastruktur zumindest zum Teil refinanziert werden sollten. Gefördert wurde damit der Anbau von Zitrusfrüchten und Gemüse für den Export sowie Zuckerrüben, Zuckerrohr, Baumwolle, Sonnenblumen und Futterpflanzen für den Binnenmarkt und die intensive Viehhaltung für die Milchproduktion. Zentraler Akteur dieser Politik war der marokkanische Staat, der zu ihrer Implementierung eine Bandbreite wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischer Maßnahmen ergriff, die von einem umfangreichen Agrarsubventionssystem über eine Preispolitik zur Regulierung von Produzenten- und Konsumentenpreisen bis hin zur fast vollständigen Steuerbefreiung der Landwirtschaft reichten. Im 1969 erlassenen Code des Investissements Agricoles wurden hierfür die zentralen rechtlichen Grundlagen verabschiedet und mit den bis heute bestehenden Offices Régionaux de Mise en Valeur Agricole (ORMVA) insgesamt neun regionale Agrarbehörden geschaffen, die die staatlichen Vorgaben in den entsprechenden Bewässerungsgebieten umsetzen sollten. Innen- und Außenhandelsentwicklung, Vermarktungsprozesse, Produktionsentscheidungen sowie Imund Exporte unterlagen damit einer staatlichen Planpolitik. Zu den zentralen Organen zählten neben den ORMVA das Office Nationale Interprofessionnelle des Céréales et de Légumineuses zur Abwicklung der Getreideimporte und das für den Export zustände Office de Commercialisation et d’Exportation (OCE). Darüber hinaus existierten eine Vielzahl von Agrarsubventionen für Produzenten und Nahrungsmittelsubventionen, die Anfang der 1980er Jahre etwa 3,5 Milliarden Dirham jährlich, und damit fast 15 Prozent der Staatsausgaben erreichten (Arndt & Tyner 2003: 234). Von Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre wurden zwischen 50 Prozent bis hin zu zwei Drittel der jährlichen Agrarausgaben in Bewässerungsprojekte investiert, was jeweils zwischen einem Drittel und einem Viertel der Staatsausgaben entsprach (Akesbi 1997: 84). In zwei Jahrzehnten wurden an die 20 große Staudämme konstruiert und etwa 350.000 Hektar Bewässerungsfläche geschaffen, so dass Anfang der 1990er Jahre die Hälfte der angestrebten 1 Million Hektar erreicht war. Finanziert wurde dieses System bis Mitte der 1970er
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Jahre unter anderem über Einnahmen aus dem Phosphatexport. Als diese einbrachen, wurde die Finanzierung verstärkt über Kredite gewährleistet und auf Kosten einer zunehmenden Verschuldung aufrechterhalten (Arndt & Tyner 2003: 232-235). Die öffentlichen Bewässerungsflächen wurden bis in die Gegenwart kontinuierlich erweitert, so dass das Ziel der ›1-Million-Hektar-Bewässerungsfläche‹ 2001 (offiziell) erreicht war. Die Kosten dieser Politik werden auf insgesamt 100 Milliarden Dirham geschätzt (Akesbi 2006: 96). Über Jahrzehnte hinweg floss damit etwa ein Drittel aller öffentlichen Ausgaben in nur knapp 5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und die selektive Förderung ausgewählter Kulturen. Eine Studie der Weltbank aus dem Jahr 1981 ergab, dass die Investitionen in den Bewässerungssektor zwischen 1973 und 1977 insgesamt etwa 140.000 Personen und damit 1,3 Prozent der ländlichen Bevölkerung zugutekamen (Akesbi 2006: 105). Gleichzeitig wurden die nicht-bewässerte Landwirtschaft (wie der Anbau von Hartweizen, Gerste, Hülsenfrüchten oder Olivenbäumen im Regenfeldbau) und die extensive Tierhaltung finanziell und strukturell vernachlässigt. Die bereits zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit existierenden Ungleichheiten wurden damit nicht nur zementiert, auch die Zielsetzungen der Importsubstitution und Exportförderung konnten nicht realisiert werden, wie das wachsende Agrarhandelsdefizit vor Augen führte: Zwar wurden die Agrarexporte verdoppelt – in Anbetracht des Bevölkerungswachstums hatten sich die Agrarimporte jedoch fast verachtfacht (Swearingen 1987: 182). Zugleich kündigte sich mit dem Beitritt Spaniens zur EG eine empfindliche Reduzierung der Exportmarktchancen nach Europa und damit von Deviseneinkünften an, auf die die massiven Investitionen in die Exportkulturen maßgeblich abgezielt hatten. Entkolonialisierung und Bewässerungsprojekte im Souss Der Souss Aval – die etwa 80 Kilometer lange, von Osten nach Westen verlaufende Achse zwischen Taroudant und Agadir – war mit Beginn der 1940er Jahre zur wichtigsten Zielregion für den Anbau von Zitrusfrüchten durch französische Investoren geworden und wurde damit innerhalb der Souss-Ebene am intensivsten und nachhaltigsten durch die europäische Kolonisation geprägt (Popp 1983a, 1983b). Für die gegenwärtig in dieser Zone anzutreffenden Zitrusfruchtplantagen wurde hier der Grundstein gelegt, während das heute durch intensiven Gewächshausanbau geprägte Gebiet Chtouka erst nach Ende des französischen Protektorats im Rahmen des Massa-Projekts ab Beginn der 1970er Jahre für die intensive Bewässerungslandwirtschaft erschlossen wurde.
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Die Bewirtschaftung der Zitrusfruchtplantagen durch französische Kolonialisten wurde im Zuge der sich über knapp zwei Jahrzehnte erstreckenden Phase der Entkolonialisierung des Landeigentums vor allem durch eine sogenannte ›Absentistenlandwirtschaft‹ ersetzt. Zunehmende Probleme der Wasserversorgung sowie die Befürchtung, die 1963 begonnene Enteignung ausländischen Lands der ›offiziellen Kolonisation‹ könne auf den Souss übergreifen, führten dazu, dass zwischen 1965 und 1973 die meisten Aktiengesellschaften ihr Land an Marokkaner verkauften. Viele der Großbetriebe wurden von nicht vor Ort ansässigen, urbanen Akteuren, die Bouchelkha als ›marokkanische Kolonisten‹ bezeichnet, erworben: »Ce processus [de la colonisation des terres; SRS] qui, a été déclenché par les colons européens, allait se poursuivre par les nouveaux colons marocains venus des grandes villes comme Rabat, Casablanca, Fès« (Bouchelkha 2005: 60). Unter den Käufern befand sich unter anderem König Hassan II, der knapp 400 Hektar von der Société Agricole des Oulad Daho für 1,7 Millionen Dirham erwarb (Popp 1983a: 202). Die noch unerschlossenen Teile der Betriebe wurden in Einheiten von 2 bis 20 Hektar unterteilt und überwiegend an die lokale Bevölkerung verkauft. Im Rahmen der Enteignung des Lands der ›privaten Kolonisation‹ 1973 wurden schließlich alle Flächen, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Marokkaner verkauft worden waren, in staatlichen Besitz überführt und anschließend von der SODEA verwaltet (Popp 1983a: 60). Der Trend zur Expansion der von privater Seite über Grundwasserressourcen bewässerten Zitrusfruchtplantagen setzte sich nach der vollständigen Entkolonialisierung ungebrochen fort, wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit neuen Akteuren: Sowohl die Anleger aus den Städten intensivierten den Anbau, als auch lokal ansässige Landwirte, die Kleinbetriebe erworben hatten, begannen Zitrusplantagen zu pflanzen. Mitte der 1970er Jahre erreichten die Zitrusflächen rund 19.000 Hektar und der Souss wurde – neben dem Gharb – zum Hauptanbaugebiet für Zitrusfrüchte in Marokko (Popp 1983b: 99). Das räumliche Verteilungsmuster mit den Anbauzentren Oulad Teima und Sebt El-Guerdane blieb bis Anfang der 1980er Jahre weitgehend erhalten. Im Kontext zunehmender Grundwasserknappheit begannen erste Prozesse der Ausdehnung und Verlagerung von Produktionen in Richtung des Souss Amont östlich von Taroudant durch kapitalstarke Landwirte. Manmade Hazard im Souss Aval Ungeachtet der Auflagen und Verbote, die mit Beginn der Grundwasserausbeutung und der sich abzeichnenden Übernutzung schon in den 1940er Jahren erlassen worden waren, erfolgte die Ausbreitung der Pumpbewässerung überwiegend
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unkontrolliert. Eine Erhebung des Office Régional de Mise en Valeur Agricole du Souss Massa (ORMVA/SM) aus dem Jahr 1977 ergab, dass nur etwa 20 bis 30 Prozent der existierenden Pumpen genehmigt waren (Popp 1983a: 173). Die Expansion der Zitrusplantagen führte schnell zu einem Absinken des Grundwasserspiegels und es zeigten sich erste sozioökonomische Konsequenzen im ländlichen Souss, die Popp bereits Anfang der 1980er Jahre als manmade hazard bezeichnet. Am Beispiel des Perimeter Oued Issen bei Oulad Teima beleuchtet er die verschiedenen Handlungsoptionen der von zunehmender Wasserknappheit betroffenen Landwirte und trifft bereits hier auf Handlungsmuster, die auch gegenwärtig noch zu beobachten sind. Im untersuchten Gebiet führten als Folge des absinkenden Grundwasserspiegels rund zwei Drittel der naora- sowie auch einige der tieferen, mit Motoren betriebenen Brunnen kein Wasser mehr, was zur Austrocknung von Zitrusbaumbeständen und insgesamt zu einem Rückgang der Bewässerungsfläche führte. Während alle Landwirte vom Absinken der Grundwasserschicht betroffen waren, konstatiert Popp einen beträchtlichen Unterschied hinsichtlich ihrer Handlungsspielräume: Die Inhaber der großen Betriebe reagierten überwiegend mit Kapitalinvestitionen in die Wasserversorgung; darüber hinaus waren Grundstücksverkäufe und Reinvestitionen beispielsweise im Souss Amont zu beobachten. Landwirte mittlerer Betriebsgrößen verfolgten diverse, vor allem auf die (Teil-)Aufrechterhaltung des Bestands gerichtete Strategien, während sich für kleine Betriebe bereits hier eine Verschiebung von selbstständiger Landwirtschaft hin zu Lohnarbeit ankündigte: »Durch das Trockenfallen der Brunnen wurden die melk-Kleinbauern derart ihrer landwirtschaftlichen Ressourcen beraubt, daß sich die meisten von ihnen als Landarbeiter in den Großbetrieben verdingen oder in Oulad Teïma einer außerlandwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen mussten. [E]s ging nun bereits der zweite spekulativ ablaufende Diffusionsprozeß zu ihren Lasten: Nach dem Landaufkauf durch französische Kapitalgesellschaften ist es diesmal die exzessive Pumpbewässerung, die ihnen die landwirtschaftliche Ernährungsgrundlage entzieht.« (Popp 1983b: 106-107)
In den 1960er Jahren begannen im Rahmen der Bewässerungspolitik unter Hassan II auch im Souss die Planungen für eine Reihe staatlicher Bewässerungsprojekte, die in den nachfolgenden Jahrzehnten sukzessive realisiert wurden. Damit traten zusätzlich zu den staatlichen Institutionen und Investoren von privater Seite internationale Organisationen wie UNDP und FAO als neue, entscheidungsrelevante Akteure in den Aushandlungsprozess des Umgangs mit den (Grund-)Wasserressourcen der Souss-Ebene ein. Akteurskonstellationen und In-
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teressen, Planung und Realität der Bewässerungsvorhaben werden nachfolgend am Beispiel des Perimeters Issen bei Oulad Teima und des Massa-Projekts in Chtouka aufgezeigt. Das Bewässerungsprojekt Issen bei Oulad Teima Als Reaktion auf eine Kombination aus weitgehend unregulierter Wasserentnahme einerseits und zunehmenden Problemen vor allem der Kleinbetriebe in Anbetracht der Austrocknung der herkömmlichen Brunnen andererseits begann der marokkanische Staat in den 1960ern mit den Planungen für ein Bewässerungsprojekt im Souss Aval (Popp 1983a: 172-177). Mit der Anfrage um Finanzierung einer Vorstudie wandte er sich 1966 an den UNDP, der 1,5 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellte und die FAO mit der Durchführung von Studien beauftragte, die zwischen 1968 und 1974 umgesetzt wurden. Für das Jahr 1973 wurde für den Souss Aval eine Übernutzung der Grundwasserressourcen von 85 Millionen Kubikmeter jährlich bilanziert. Eine Prognose ging darüber hinaus für das Jahr 2007 von einer jährlichen Überpumpung von 110 Millionen Kubikmeter für den Souss Aval bzw. 50 Millionen Kubikmeter für den Souss Amont aus. Als Gegenmaßnahme wurde der Bau zweier Staudämme, einmal am Oued Issen bei Tamzaourt und einmal bei Aoulouz, vorgeschlagen. Während die Bewässerung des Perimeters Oued Issen bei Oulad Teima mit einer Fläche von insgesamt rund 8.900 Hektar aufgrund der bedrohten Zitrusfruchtbestände für 1978 geplant war, war der Staudamm bei Aoulouz erst für 2007 vorgesehen. Er sollte die bis dahin voraussichtlich durch die Erschließung weiterer 6.300 Hektar staatlich initiierter Bewässerungsfläche im Souss Amont aufgezehrten Grundwasserbestände regenerieren. Eine im Simulationsmodell berechnete weitere Grundwasserabsenkung um bis zu 33 Meter wurde dabei einkalkuliert. Die frühzeitige, massive Überausbeutung der Grundwasserressourcen im Rahmen der Zitrusfruchtproduktion entlang des Souss-Tals verlief also weder unbemerkt noch ungesteuert, sondern war das Ergebnis von durch internationale Entwicklungsorganisationen beratener staatlicher Planung und wurde als wirtschaftlich rentable Vorgehensweise betrachtet.20 Da sich die Fertigstellung des Perimeters Issen um einige Jahre verzögerte, führten die Erschließungsmaßnahmen jedoch vielmehr zur Verstärkung der Wasserknappheit. Im Rahmen der im Souss Amont über die Grundwasserbewässerung erschlossenen Flächen stieg die Wasserentnahme hier bereits an, während – auf die angekündigte öffentliche Wasserversorgung setzend – auch Landwirte im Souss Aval ihre Zitruspflanzungen ausgeweitet hatten. Bereits vor Beginn der Bewässerung war damit rund ein Drittel der vorhandenen Zitrusbäume bereits
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abgestorben. Popp bewertet das (Grund-)Wassermanagement vor diesem Hintergrund wie folgt: »Es ist mehr als nur wahrscheinlich, daß unter derartigen Entwicklungsperspektiven die Bedingungen der Grundwasserförderung, wie wir sie bisher nur im Raum südwestlich von Oulad Teïma vorfinden [...], auch auf weitere Bereiche des Sousstales übergreifen. Der manmade hazard der Überpumpung wird dann im Raum von Sebt Guerdane zu ähnlich katastrophalen Folgen auf der Ebene des Einzelbetriebes führen wie im Gebiet von Oued Issen. Es ist sehr daran zu zweifeln, ob das Konzept der FAO zur systematischen Übernutzung des Aquifers des Sousstales tatsächlich ökonomisch rentabel sein wird. Daß die Handlungssituation der einzelnen Betriebsinhaber ohne Berücksichtigung blieb, ja daß von den kleinräumigen Konflikten beim Kampf um das Grundwasser abstrahiert wurde, disqualifiziert das Projekt in sozialgeographischer Sicht.« (Popp 1983b: 108)
Planung und Realität des Bewässerungsprojekts Massa Das Massa-Projekt in Chtouka ist das umfang- und folgenreichste Bewässerungsprojekt im Souss (vgl. Bencherifa 1980, Popp 1981, 1982, 1987). Für den Aufschwung der Region zum wichtigsten Standort der exportorientierten Gemüseproduktion Marokkos spielte es – auch wenn es zunächst nicht so aussah – eine erhebliche Rolle. Im Gegensatz zum Souss Aval wurde das sich südlich von Agadir bis nach Tiznit erstreckende Gebiet Chtouka kaum durch kolonialfranzösische Einflüsse geprägt, da es aufgrund geringerer, tiefer liegender Grundwasservorräte und seiner Bodenqualität weniger attraktiv erschien. Zwei Protektoratsstudien hatten zwar die Errichtung eines Staudamms des Oued Massa in Betracht gezogen, waren aber aus Kostengründen verworfen worden. Knapp 20 Jahre später, 1967, wurde das Staudammprojekt wieder aufgegriffen und schließlich die halbstaatliche französische Agrarentwicklungsgesellschaft Compagnie Nationale d’Aménagement de la Région du Bas-Rhône et du Languedoc mit der Konzeption zur Erschließung des Bewässerungsgebiets beauftragt. Das Projekt zur Bewässerung von insgesamt rund 18.000 Hektar Land über den im Anti-Atlas liegenden Staudamm Youssef Ben Tachfine wurde 1976 abgeschlossen. Nach einer Flurbereinigung wurden die für die Bewässerung vorgesehenen Felder in vier Sektoren unterteilt und jeweils detaillierte Nutzungsvorschriften erlassen. Die Landwirte der Region waren allerdings sowohl mit den vorgesehenen Kulturen als auch mit den Techniken der Bewässerung zuvor nicht vertraut. Um den damit zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Projekts zu begegnen, wurden fünf Agrarberatungsstellen – die bis heute existie-
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renden Centres de Mise en Valeur (CMV) – zur agrartechnischen und finanziellen Unterstützung eingerichtet und Organisationsstrukturen in Form von Genossenschaften geschaffen. Nicht zuletzt wurde anfänglich ein generelles Verkaufsund Verpachtungsverbot erlassen, um ein etwaiges Aufkaufen oder -pachten der bewässerten Flächen durch kapitalkräftige Investoren zu verhindern. Aufgrund der günstigen klimatischen Bedingungen für die gegensaisonale Produktion war der Anbau im Bewässerungsprojekt von Beginn an auf den Export in die damaligen EG-Länder sowie Skandinavien ausgerichtet. Die Tomate wurde dabei als erfolgversprechendsten eingestuft. Für den von der staatlichen Exportgesellschaft OCE übernommenen Export der geplanten jährlich 100.000 Tonnen Gemüse war die Einrichtung von 40 Verpackungsstationen und Kühlhäusern sowie der benötigten Transportstrukturen über den Hafen von Agadir vorgesehen. Durch die aufwendige Planung und die Ausrichtung auf den Exportmarkt sollten die hohen Kosten des Projekts von knapp 240 Millionen DM gerechtfertigt werden, für die der marokkanische Staat im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit Kredite von internationalen Kapitalgebern, unter anderem der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau, erhielt (Popp 1983a: 171-172). Das MassaProjekt war damit in Nordafrika, neben dem libyschen Kufrah-Projekt, eines der aufwändigsten und teuersten Bewässerungsprojekte seiner Zeit und sollte, so Popp, zum ›Renommierstück der marokkanischen Bewässerungspolitik‹ werden (Popp 1982: 546). Die Anbaurealitäten, die Bencherifa und Popp nach Anlauf des Projekts antrafen, zeigten allerdings eine weitgehende Diskrepanz zwischen Planung und Realität. Die vorgesehenen Kulturen – insbesondere Tomaten – wurden so gut wie nicht angebaut. Unter den wenigen vorhandenen Gemüsesorten dominierten Sorten für den Eigenbedarf und die lokale Vermarktung, einzig der Anbau der Luzerne erfolgte wie vorgesehen. Darüber hinaus wurden die Anbauvorschriften nicht nur – wie auch in anderen Bewässerungsgebieten Marokkos – nicht befolgt, sondern ein Großteil der zur Bewässerung vorgesehenen Flächen lag brach: »Der Sektor wird nicht etwa anders genutzt als der Staat es vorschreibt, er wird zu einem Großteil überhaupt nicht genutzt« (Popp 1982: 550; Hervorhebung im Original). Diese Situation lag zunächst in Anlaufschwierigkeiten des Projekts begründet, da Finanzierungs- und Zuständigkeitsstreitigkeiten von staatlicher Seite den Export verzögerten. Zugleich erfolgte die Risikostreuung zu Ungunsten der betroffenen Landwirte, die bereits das erste Agrarjahr mit Verlusten beendeten und in finanzielle Überschuldung gerieten. Als Konsequenz wurden schon für das Agrarjahr 1975/76 die Anbauvorschriften zurückgenommen und das zunächst erlassene Verpachtungsverbot gelockert und 1977 de facto aufgehoben. Hinzu
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kamen systematische Fehlkalkulationen auf unterschiedlichen Ebenen, die in der Konsequenz zum Scheitern des Projekts führten. Zum einen wurden physischgeographische Faktoren (wie Frosthäufigkeiten oder Sandstürme) fehl- und die Wasserverfügbarkeit des Oued Massa zu hoch berechnet, so dass die zu bewässernde Fläche im Verhältnis zu groß ausfiel. Bencherifa und Popp kritisieren darüber hinaus vor allem die Missachtung der sozialen und ökonomischen Situation im Bewässerungsgebiet. Die staatlichen Institutionen trafen ihre Entscheidungen autoritär und ohne Berücksichtigung der Interessen der ländlichen Bevölkerung. Der Anbau der Gemüsekulturen erforderte ökonomisches Kapital, über das der Großteil der Landwirte nicht verfügte – es hätten Kredite aufgenommen werden müssen, denen viele ablehnend gegenüberstanden. Daneben fehlte auch das technische Wissen für den Anbau der vorgesehenen Kulturen. Ebenso vernachlässigt wurde die Tatsache, dass es sich um ein Gebiet mit hoher Emigrationsrate handelte21 und damit Arbeitskräfte fehlten, während zugleich das Interesse an einer Intensivierung der Landwirtschaft relativ gering war, da viele Familien ihre Einkünfte über Handel oder Migration sicherten. Da keine Mechanismen zur Abfederung der Preisschwankungen – zum Beispiel in Form garantierter Mindestpreise – vorgesehen waren, wurden die Anbau- und Vermarktungsrisiken nicht zuletzt zu Ungunsten der Produzenten verteilt und die Weltmarktpreise wirkten sich direkt auf die einzelnen Betriebe aus, so resümiert Bencherifa: »Cet échec spectaculaire résulte sans doute de l’ignorance du facteur humain et apparaît donc comme étant logique« (Bencherifa 1980: 178). Der Versuch, ›mit moderner Technik sozialen Wandel bewirken zu wollen, ohne dabei die Sozialstrukturen im Bewässerungsgebiet zu kennen‹, so konstatiert auch Popp, musste zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sein: »Einen Kleinbauern dem Risiko von Ernteeinbußen durch Witterungsereignisse und darüber hinaus auch noch den Schwankungen des Weltmarktpreises auszusetzen, muß auf einen Selektionsprozeß zugunsten größerer und kapitalkräftiger Betriebe hinauslaufen. Da dies der marokkanische Staat angeblich nicht will, muß er entsprechend handeln.« (Popp 1982: 552)
Da diese Form von Intervention jedoch nicht erfolgte, zeichnete sich bereits Anfang der 1980er Jahre der Beginn einer sozialen Stratifizierung im Bewässerungsprojekt ab. Der Anteil der verpachteten Flächen stieg und es traten nun auch in diesem Teil des Souss zunehmend urbane Akteure als Pächter auf, die verstärkt von staatlichen Krediten und Subventionen profitierten und für die es sich aufgrund niedriger Pachtpreise und langer Kreditlaufzeiten lohnte, Kapital zu investieren. Angesichts eines hohen Anbaurisikos und einer zunehmend kapi-
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talorientierten Gewächshausproduktion erwiesen sich Zugänge zu und Verfügbarkeit über ökonomische Ressourcen als Schlüsselfaktoren, die weitreichend über Partizipation oder Exklusion in Gewächshausproduktion und Exportsektor entscheiden sollten. Das Scheitern der ursprünglichen Planungen im Bewässerungsgebiet Massa schuf damit im Gegenzug günstige Ausgangsbedingungen für investitionsstarke Akteure, die den Aufschwung der Region zum Gemüseexportzentrum Marokkos einleiteten. Liberalisierung und Großkapital Die verfehlten Ziele der Bewässerungspolitik, insbesondere mit Blick auf die nationale Nahrungssicherheit, gerieten in den 1970er Jahren zunehmend ins öffentliche Bewusstsein und es entspann sich eine Debatte, in der ihre Zweckmäßigkeit in Frage gestellt und auf die zunehmende Diskrepanz zwischen Bewässerungsland und Regenfeldbau aufmerksam gemacht wurde (Akesbi 2006). Als Reaktion wurden ab 1975 für etwa eine Dekade insgesamt acht Projekte angeschoben, die neben den üblichen wirtschaftlichen und technischen Zielsetzungen auch soziale Dimensionen enthielten wie die Verbesserung der Trinkwasserversorgung, Elektrifizierung und Gesundheits- und Bildungsversorgung im ländlichen Marokko. Diese mit rund 4 Milliarden Dirham finanzierten projets de développement intégrés betrafen etwa 2,7 Millionen Hektar und 200.000 Landwirte und hätten, so Akesbi, das Potential einer ausgleichenden Wirkung entfalten können: »En somme, avec cette double inflexion, le modèle de développement agricole semblait à partir du milieu des années 70 évoluer en s’orientant vers une combinaison mieux équilibrée des stratégies de promotion des exportations et de substitution aux importations d’une part, et un arbitrage moins marqué en faveur des périmètres de grande irrigation et au détriment des zones d’agriculture pluviale et de la petite et moyenne hydraulique. Si cette orientation avait pu prendre le temps de s’affirmer, s’étendre de manière significative, et commencer à produire des résultats tangibles sur le terrain, probablement qu’elle aurait abouti à une situation meilleure que celle à laquelle nous avons abouti aujourd’hui…« (Akesbi 2006: 108-109)
Zu Beginn der 1980er Jahre geriet jedoch, ebenso wie zahlreiche andere Länder des Globalen Südens (vgl. Herman et al. 2010), auch der marokkanische Staat in einen Überschuldungskreislauf in dessen Konsequenz er gezwungen wurde, die von außen induzierten Systemtransformationen der sogenannten Strukturanpassungsmaßnahmen einzuleiten – und die ›integrierten Projekte‹ waren mit die ers-
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ten, die diesen Maßnahmen zum Opfer fielen. Der Beginn der Strukturanpassungsmaßnahmen leitete eine einschneidende Phase agrarischer Transformationen ein, in deren Zuge der Wandel von agrarischer Planpolitik hin zur Liberalisierung zahlreicher Bereiche der marokkanischen Wirtschaft erfolgte (vgl. Morrisson 1991a, 1991b, Denoeux & Maghraoui 1998, Arndt & Tyner 2003). Ende der 1970er Jahre führte das Zusammenkommen mehrerer Ereignisse zu einer tiefgreifenden Krise der marokkanischen Wirtschaft. Anfang der 1970er Jahre florierten die Einnahmen aus dem Phosphathandel und die marokkanische Regierung investierte massiv in öffentliche Ausgaben. Als die Phosphatpreise 1976 einbrachen, konnten die Ausgaben sowohl in Anbetracht der Kürze der Zeit als auch aus politischen Gründen nicht zeitnah angepasst werden, da sie unter anderem sensible Bereiche wie öffentliche Gehälter und Lebensmittelsubventionen betroffen hätten. Die Kürzung letzterer wurde insbesondere vor dem Hintergrund mehrerer Dürreperioden und sozialer Unruhen nicht in Betracht gezogen. Zeitgleich stiegen die Preise für wichtige Importprodukte, allen voran Getreide und Erdöl. Hinzu kamen in den 1970ern hohe Militärausgaben für den Krieg, den Marokko in der Westsahara führte. Eine Zeit lang wurden die Staatsausgaben über (leicht verfügbare) internationale Kredite weiter finanziert, was jedoch in einen Kreislauf zunehmender Überverschuldung mündete: Von 2,3 Milliarden US-Dollar 1976 stiegen die Auslandsschulden auf rund 12 Milliarden US-Dollar 1983 (Morrisson 1991b: 1633-1634). In Anbetracht einer drohenden Staatspleite war Marokko in den Verhandlungen um weitere Kreditvergaben mit den internationalen Kreditgebern Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) gezwungen, zahlreiche Wirtschaftsliberalisierungen zu akzeptieren. Diese verlangten auch in Marokko den Rückzug des Staats zugunsten der Privatwirtschaft und die Öffnung des Binnenmarkts gegenüber dem Welthandel. Das folgende Jahrzehnt war durch tiefgreifende ökonomische Transformationen gekennzeichnet: Verminderung von Preiskontrollen, Abbau von Subventionen und Importzöllen, Privatisierung staatlicher Institutionen, Exportförderung und Maßnahmen zur Anziehung ausländischer Direktinvestitionen. Die Liberalisierungsmaßnahmen erfolgten jedoch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Der Abbau von Preiskontrollen und Agrarsubventionen geschah relativ zügig und machte sich in den 1980er Jahren für die Bevölkerung in einem deutlichen Preisanstieg für Grundnahrungsmittel bemerkbar (Akesbi 2006: 110-111). Ebenso kam es schnell zur Reduzierung von Importund Exportrestriktionen und darüber hinausgehenden Exportanreizen. Die Privatisierung staatlicher Unternehmen hingegen wurde erst 1989 offiziell beschlossen und erfolgte im Wesentlichen zwischen 1992 und 1998 (Denoeux & Maghraoui 1998: 58-62).
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Die Liberalisierungsmaßnahmen betrafen auch den marokkanischen Agrarsektor, der 1985 noch zu den weltweit am stärksten staatlich regulierten Agrarsektoren zählte (Arndt & Tyner 2003: 234). Sie erfolgten von 1985 bis 1993 im Rahmen zweier Kreditvergaben durch die Weltbank und wurden im Anschluss im Rahmen weiterer Bewässerungs- und Investitionsprogramme fortgeführt.22 Im Kontext der Strukturanpassungen wurden die verschiedenen Teilbereiche der Landwirtschaft, des Binnenmarkts und des Außenhandels durch den Abbau oder die Reduzierung von Subventionen für Agrarprodukte, Preisregulierungen, Import- und Exportzöllen auf landwirtschaftliche Produkte sowie die Privatisierung von zuvor staatlichen Dienstleistungen, Institutionen und Monopolen liberalisiert. So kam es 1986 zur Liberalisierung des zuvor durch die staatliche Behörde des OCE kontrollierten Exportsektors, der von privatwirtschaftlichen Exportgruppen übernommen wurde. Mit dem Etablissement Autonome de Contrôle et de Coordination des Exportations (EACCE) wurde zugleich eine neue staatliche Institution geschaffen, die den Auftrag erhielt, die Qualität der Exportprodukte zu kontrollieren und den Export zu koordinieren.23 Auch wurden alle handelsund marktorientierten Dienstleistungen in den staatlich organisierten Bewässerungsgebieten sukzessive vom Privatsektor übernommen, während die ORMVA zunehmend nur noch für die Infrastruktur verantwortlich waren. Die Bewertung des Erfolgs der Strukturanpassungen in Marokko fiel unterschiedlich aus – gerade Anfang der 1990er Jahre wurde Marokko zeitweise zur ›IWF-Erfolgsgeschichte‹ hochstilisiert und als aufstrebende Wirtschaft im südlichen Mittelmeerraum gehandelt (Denoeux & Maghraoui 1998, Pfeifer 1999, Dillman 2001): »The economic achievements of Morocco since 1983 have been widely noticed by foreign investors and the international press. IMF [International Monetary Fund] and World Bank officials have praised the Moroccan government for its courageous and sustained implementation of painful economic reforms. They repeatedly have expressed their satisfaction with the overall results as well as their confidence in Morocco’s economic prospects. As of 1994, Morocco was one of only a handful of successful structural adjustment experiences in the Third World.« (Denoeux & Maghraoui 1998: 63)
Bereits Ende der 1990er Jahre sah eine kritische Analyse der Wirtschaftsbilanz jedoch ernüchternder aus. Zentrale außen- und binnenwirtschaftliche Ziele wie Exportwachstum, Verbesserung von Handels- und Leistungsbilanzen, Schuldenabbau, Bruttoinlandsproduktwachstum und Investitionssteigerungen wurden, wie Pfeifer aufzeigt, nicht erreicht (Pfeifer 1999: 24-25). In einigen Fällen lagen die Indikatoren sogar hinter denen vor Beginn der Strukturanpassungen zurück;
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so war beispielsweise die Verschuldung relativ zum Bruttoinlandsprodukt 1996 höher als 1980. Während die Strukturanpassungen keinen durchschlagenden wirtschaftlichen Erfolg verzeichnen konnten, führten sie zugleich zur Verschärfung sozialer Aspekte: Mitte der 1990er Jahre verzeichnete Marokko im Vergleich zu Ländern mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung sowie seinen Nachbarstaaten Algerien und Tunesien wesentlich schlechtere Indikatoren im Hinblick auf Einkommens- und Stadt-Land-Ungleichheit, Armutsentwicklung, Lebenserwartung und Kindersterblichkeit, Analphabeten- und Einschulungsraten (Denoeux & Maghraoui 1998: 80). Diese Problemlage blieb dabei weder undokumentiert noch unbemerkt. Soziale Defizite wurden vielmehr in zahlreichen internationalen und marokkanischen Dokumenten festgestellt und die Dringlichkeit ihrer Behebung hervorhoben (Akesbi et al. 2008: 57) – wobei es sich oftmals um dieselben internationalen Institutionen handelte, die zugleich weitere Strukturanpassungen und Liberalisierungen propagierten. Der agrarpolitische Diskurs in den 1990er Jahren drehte sich im Wesentlichen um vier zentrale Zielsetzungen, die in diversen Studien, strategischen Dokumenten und Berichten formuliert wurden: die Sicherstellung der Ernährungssicherheit (sécurité alimentaire), die Wettbewerbsfähigkeit des Agrarsektors im Kontext der Globalisierung, die Sicherstellung und Verbesserung der agrarischen Einkommen sowie eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen (Akesbi et al. 2008: 58). Obgleich alleine das Landwirtschaftsministerium zwischen 1993 und 1997 mehr als 150 Dokumente verabschiedete, mangelte es jedoch an ihrer Operationalisierung (Akesbi 2006: 121).24 Zugleich wurde die Einbindung der marokkanischen (Land-)Wirtschaft in den Welthandel vorangetrieben. Waren die Strukturanpassungsmaßnahmen zunächst von außen – durch die Institutionen der internationalen Gebergemeinschaft – oktroyiert worden, intensivierte sich das Bekenntnis der marokkanischen Eliten zur Reform von Binnenmarkt und Wirtschaftspolitik in den nachfolgenden Jahren. Bereits mit dem Beitritt zum GATT 1987 sowie im Laufe der 1990er Jahre war Marokko innerhalb der Reihen der ›Entwicklungsländer‹ zu einem ›Führungsland‹ der Uruguay-Runde der GATT-Verhandlungen geworden. Als Ausdruck dieser Führungsrolle wurde 1994 das Abschlussabkommen der Uruguay-Runde, in dessen Folge die WTO gegründet wurde, in Marrakech unterzeichnet. Eines der Schlüsselelemente in der Analyse der Intensivierung dieses politischen Kurses auch und gerade nach Ende der offiziellen Strukturanpassungen ist die Verknüpfung zwischen Liberalisierungsprogrammen auf der einen und den marokkanischen (Wirtschafts-)Eliten als deren maßgeblichen Gewinnern auf der anderen Seite. Bereits die Verschiebung des politischen Diskurses hin zu einer Liberalisierungsrhetorik Ende der 1980er Jahre wurde allen voran von König
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Hassan II betrieben und von den staatstragenden Eliten25 bereitwillig aufgenommen. Die Liberalisierungspolitik des marokkanischen Staats ist insofern nicht auf die Formel ›weniger Staat – mehr Markt‹ zu reduzieren (Davis 2006). Vielmehr handelt es sich um einen selektiven Rückzug des Staats aus dem Bereich öffentlicher Sozialausgaben, während die Kontrolle über zentrale Ressourcen – im Einklang mit den vorherrschenden ›Liberalisierungsforderungen‹ – ausgeweitet wurde. Wirtschaftsreformen dienten in diesem Prozess der Konsolidierung der regierenden Elite. So handelte es sich bei der Privatisierung zahlreicher staatlicher Unternehmen um eine faktische ›Personalisierung‹ zu Gunsten der Königfamilie und ihr nahestehender Unternehmer. Die Gruppe Omnium Nord Africain, an der die marokkanische Königsfamilie wichtige Anteile hält, trat dabei als zentraler Aufkäufer auf (Dillman 2001: 209). Dieser wirtschaftspolitische Kurs, in dessen Rahmen Liberalisierungen und Privatisierungen zur Konsolidierung von Machtstrukturen genutzt werden, setzt sich bis in die Gegenwart fort (vgl. ›Bekenntnisse: Privatisierung und Freihandel‹). Parallel zu diesen Entwicklungen wurden die Exportmöglichkeiten nach Europa ab den 1970er Jahren durch eine protektionistische Agrarpolitik seitens der EG bzw. EU maßgeblich eingeschränkt. Bis in die 1990er Jahre hinein bildete die sogenannte ›Gemeinsame Agrarpolitik‹ den Referenzrahmen der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Marokko und Europa.26 Dabei wurden mehrere Phasen unterschiedlicher Abkommen durchlaufen (vgl. White 1996, 2001, M’barek 2002, Akesbi 2002, Redani 2003, Dawson 2009). Das erste Abkommen zwischen Marokko und der EG nach Gründung der EG 1957 war das Assoziierungsabkommen von 1969. Es gewährte den Maghrebländern umfangreiche Zollpräferenzen für Industrieprodukte; die Agrarexportmöglichkeiten wurden jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zum vorherigen Zugang aufgrund von Interessenkollisionen mit französischen und italienischen Produzenten eingeschränkt. Nach Auslauf des Assoziationsabkommens 1974 wurden im anschließenden Kooperationsabkommen von 1976 eine breitere wirtschaftliche Kooperation, technische und finanzielle Unterstützung sowie Sozialpolitikvereinbarungen für marokkanische Migranten in Europa vereinbart. Die EG räumte Marokko in diesem Abkommen für fast alle Agrarexporte Zollsenkungen zwischen 20 und 100 Prozent ein, zugleich wurden jedoch nicht-tarifäre Handelshemmnisse errichtet, die faktisch mit Einbußen auf marokkanischer Seite verbunden waren (M’barek 2002: 54-59). Zu diesen zählten unter anderem die Einführung von Kontingenten zur Begrenzung der Exporte und eines Importkalenders, der Zollerleichterungen nur in bestimmten, nicht mit der Haupterntezeit der EG zusammenfallenden Perioden gewährte sowie diverse Klauseln zum Schutz des EG-Markts.
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Im Zuge der Aufnahme der Mittelmeerstaaten Griechenland (1981), Spanien und Portugal (1986) in die EG wurden die Exportbedingungen für die südlich angrenzenden Mittelmeerstaaten durch Zusatzprotokolle weiter eingeschränkt, während der Selbstversorgungsgrad der EG für Zitrusfrüchte von 51 auf 98 Prozent und der für Tomaten von 94 auf 99 Prozent anstieg (White 2001: 70-78). Das Zusatzprotokoll für Marokko von 1988 beinhaltete dabei ein zollfreies Importkontingent von 86.000 Tonnen Tomaten im Zeitraum vom 15. November bis 30. April, das ab 1992 schrittweise erhöht wurde (Redani 2003: 33). Erst im 1996 unterschriebenen und 2000 in Kraft getretenen Assoziationsabkommen wurde das Importkontingent auf 150.676 Tonnen innerhalb des vorgeschriebenen Zeitfensters ausgeweitet (Amtsblatt L 070 vom 20.03.2000: 64). Diese Entwicklungen spiegeln sich in den Exportzahlen wider (Redani 2003: 33): Während die Tomatenexporte zwischen 1968 und 1973 leicht anstiegen und im Schnitt bei 128.000 Tonnen lagen, sanken sie zwischen 1974 und 1983 und erreichten im Durchschnitt lediglich 100.000 Tonnen. Zwischen 1984 und 1993 stiegen sie wieder leicht und erreichten durchschnittlich 108.000 Tonnen – ohne jedoch an die ›Rekordtonnage‹ von 161.000 Tonnen im Jahr 1973 anzuknüpfen. Auf dieses Niveau stiegen sie erst wieder ab Mitte der 1990er Jahre (Redani 2003: 24). Als Reaktion auf diese Restriktionspolitik fanden von marokkanischer Seite aus eine Reihe von Anpassungen an die europäischen Exportvorgaben und Anforderungen statt: So wurden eine Verschiebung der marokkanischen Produktion auf die Herbst- und Wintermonate, eine Verlagerung hin auf Frühkulturen sowie Investitionen in Gewächshäuser, ausgewähltes Saatgut und neue Produktionstechniken forciert (Akesbi 2002). Es kam zur Verlagerung der ehemals in der Region Oualidia konzentrierten Gemüseexportproduktion in den Souss, womit der massive Ausbau der exportorientierten Frühgemüsekulturen und die Entwicklung der intensiven Produktions- und Vermarktungsstrukturen im Zuge der Liberalisierung des Exportsektors eingeleitet wurden. Liberalisierung und Anziehung von Großkapital im Souss Die Agrarproduktion im Souss wurde in den 1980er und 1990er Jahren durch die bis hierher skizzierten nationalen und internationalen agrarpolitischen Entscheidungen maßgeblich beeinflusst. Im folgenden Abschnitt sollen insbesondere die Implikationen des Bananenimportverbots und der Förderung der nationalen Bananenproduktion ab 1979, der zuvor bereits weitgehenden, ab 1984 vollständigen Steuerbefreiung der Landwirtschaft, der Liberalisierung des Exportsektors 1986 sowie des Beitritts Marokkos zum GATT 1987 und zur WTO 1995 heraus-
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Abb. 3-1: Entwicklung der Obst- und Gemüseproduktion im Souss (1985-1995)
1.400
Zitrusfrüchte
Freiland und saisonale Gemüse
Bananen
Gewächshausgemüse
1.200
Produktion
(in 1.000 Tonnen)
1.000 800 600 400 200
1995/96
1994/95
1993/94
1992/93
1991/92
1990/91
1989/90
1988/89
1987/88
1986/87
1985/86
0
Quelle: Belkadi (2003: 181)
gearbeitet werden. Die Obst- und Gemüseproduktion im Souss erfährt im Zuge dieser Entwicklungen eine kontinuierliche Intensivierung und Diversifizierung und steigt von rund 900.000 Tonnen Mitte der 1980er auf 1,5 Millionen Tonnen Mitte der 1990er Jahre (Belkadi 2003: 181) (vgl. Abb. 3-1). Ausgebaut werden sowohl die Zitrusfruchtproduktion, der Freilandanbau von Gemüse als auch die Gewächshauskulturen, es findet jedoch eine Verlagerung der Investitionsschwerpunkte statt. Während die Zitrusfrüchte über rund vier Jahrzehnte hinweg den Großteil des Kapitals angezogen hatten und der Souss neben dem Gharb bereits in den 1970er Jahren zum Zentrum der marokkanischen Zitrusfruchtproduktion geworden war, sind es ab den 1980er Jahren die Gewächshauskulturen, in die massiv investiert wird. Insbesondere das Bewässerungsgebiet Massa zieht Investitionen an und wird zum Zentrum einer intensiven, hochtechnisierten Landwirtschaft (Faqir 1997). Hier ist es zunächst die im Gewächshaus kultivierte Banane, in die kapitalstarke Anleger investieren, und die zur Vorbotin der Tomate wird, die die Banane ab den 1990ern als dominierende, nun auf den Exportmarkt ausgerichtete Gewächshauskultur ablöst. Innerhalb von zehn Jahren wird die Gewächshausgemüseproduktion verzehnfacht und erreicht ausgehend von 33.000 Tonnen 1985/86 im Agrarjahr 1995/96 382.000 Tonnen. Die Zitrusfruchtproduktion
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bleibt im Gegenzug verhältnismäßig konstant und bewegt sich zwischen 370.000 und 690.000 Tonnen; sie erfährt immer wieder witterungsbedingte Einbußen, wird jedoch in Spitzenjahren regelmäßig ausgebaut. Der Anteil des Souss an der nationalen Produktion liegt dabei jeweils um die 40 Prozent und die Zitrusfruchtflächen erreichen Mitte der 1990er Jahre 27.000 Hektar (Belkadi 2003: 181-185). Dynamiken eines staatlichen Einfuhrverbots oder: Die Banane als Vorbotin der Tomate Bis in die späten 1970er Jahre hinein wurde die Tropenkultur der Banane aus klimatischen Gründen nur vereinzelt in Marokko angebaut. Die im Land konsumierten Bananen waren zu 95 Prozent importiert (Bouchelkha 1995). Im Zuge des 1979 erlassenen Bananenimportverbots und der steuerlichen Begünstigung der Gewächshausproduktion wurde der marokkanische Bananenkonsum nationalisiert und es entstanden mehrere, an der Atlantikküste gelegene Zentren der Gewächshausbananenproduktion bei Kénitra, Rabat, Casablanca, El Jadida und Agadir. Der Standort Agadir kristallisierte sich als Anbauzentrum heraus: Von 2 Hektar 1981/82 stiegen die Bananenflächen im Souss bis 1990/91 auf 1.300 Hektar und damit auf die Hälfte der nationalen Produktionsfläche. Zunächst um Ait Melloul und Biougra angesiedelt, eroberte die Banane ab 1985/86 die Flächen im Bewässerungsgebiet Massa, die 1990/91 rund 400 Hektar erreichten und auf denen alleine ein Drittel der nationalen Bananenproduktion angebaut wurde (Bouchelkha 1995: 94). Damit war der Anteil der Banane im Bewässerungsgebiet zu diesem Zeitpunkt fast doppelt so groß wie der der Gewächshaustomate, deren Flächen von 1985/86 an ebenfalls anstiegen, aber noch 1990/91 erst rund 220 Hektar betrugen. Während die Bewässerung der wasserintensiven Bananenkultur an den Standorten außerhalb des Perimeters ausschließlich über das Grundwasser erfolgte, wurden auch im Bewässerungsgebiet bereits individuelle Brunnen zur Ergänzung des Staudammwassers gebohrt. Anfang der 1990er Jahre zählt Bouchelkha rund 300 private, motorbetriebene Brunnen, die maßgeblich der Bewässerung der Gewächshauskulturen dienten. Bouchelkhas Akteursanalyse der Bananenproduktion im Bewässerungsgebiet Anfang der 1990er Jahre zeigt, dass der Prozess der sozialen Stratifizierung der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung, der sich bereits Anfang der 1980er Jahre abgezeichnet hatte, deutlich voranschritt. Da die Finanzkraft der ansässigen Landwirte – mitunter jedoch auch der Finanzwille im Kontext der Erfahrungen während der Anlaufphase des Bewässerungsprojekts – gering war, wurde der Bananenanbau maßgeblich von
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externen Akteuren betrieben, für die das Scheitern der ursprünglichen Planungen im Bewässerungsgebiet günstige Voraussetzungen geschaffen hatte (vgl. ›Entkolonialisierung und Bewässerungspolitik‹). Die Bananenproduktion erforderte hohe, von kleineren Landwirten kaum zu leistende Investitionen: Alleine die Anfangsinvestition belief sich auf rund 400.000 Dirham pro Hektar, die sich aus 280.000 Dirham für die Installation des Gewächshauses und die Pflanzung der Bananenstauden sowie den Ausgaben für Dünger und Pflanzenschutzmittel à 100.000 Dirham und für Arbeitskräfte à 27.000 Dirham zusammensetzten.27 Die für die Bewässerung vorgesehenen Flächen wurden darüber hinaus – wie oben erwähnt – von der lokalen Bevölkerung nur marginal genutzt, so dass das öffentliche Bewässerungsland zu günstigen Preisen zwischen 60.000 und 80.000 Dirham pro Hektar erworben werden konnte. Alleine zwei Drittel der Bananenproduzenten waren urbane Akteure aus Rabat, Fès, Casablanca oder Marrakech, bei denen es sich überwiegend um Geschäftsleute und Unternehmer, Industrielle, höhere Staatsbeamte sowie Großgrundbesitzer handelte, die die Investition in die Landwirtschaft als Kapitalanlage betrachteten.28 Nur ein Drittel der Bananenproduzenten stammte aus dem Souss und von diesen wohnte wiederum der Großteil in Agadir. Umgerechnet auf die rund 1.300 Hektar Bananenproduktion wurden im Zeitraum von zehn Jahren alleine hinsichtlich der nötigen Anfangsinvestitionen – das heißt Kosten für Kauf oder Pacht des Lands sowie laufende Unterhaltskosten nicht eingerechnet – 520 Millionen Dirham privates Kapital im Souss investiert. Wie Popp (1983b) Anfang der 1980er Jahre für den Raum Oulad Teima beschreibt Bouchelkha die Entwicklung im Bewässerungsgebiet Massa als Prozess der sozialräumlichen Fragmentierung: »Absentéistes en majorité, ces citadins qui participent à des réseaux de relations et d’influences, réels ou supposés, inaccessibles à la majorité des agriculteurs locaux, sont perçus comme étrangers à cette société paysanne. De même, exerçant une activité individualiste, ils entretiennent des relations sociales très lâches comme leurs représentants en place, avec les paysans locaux. Ainsi ce phénomène de cultures spéculatives sous-serres a fait émerger de nouvelles structures socio-spatiales et des mentalités opposées.« (Bouchelkha 1995: 100)
Die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion im Gewächshaus löste zugleich einen erhöhten Arbeitskräftebedarf aus, der aufgrund der geringen lokalen Verfügbarkeit von Arbeitskräften zunehmend Saisonarbeiter aus anderen Regionen Marokkos anzog. Chtouka – eines der frühen Emigrationszentren Marokkos – wird damit ab den 1980er Jahren zur Zielregion von zunächst temporärer Binnenmigration. Die ersten Arbeitskräfte stammten insbesondere aus der
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Umgebung von Demnat im Haouz, dem Tafilalet sowie der am Atlantik gelegenen Region Abda (Bouchelkha 1995: 101). Temporäre sowie dann auch dauerhafte Zuwanderung werden in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einem zentralen, die Intensivierung der Landwirtschaft begleitenden Merkmal. Mit zunehmenden Investitionen sank jedoch der Verkaufspreis der vor allem zu Beginn hochgradig lukrativen Banane und bereits Ende der 1980er Jahre wurde die Rentabilität und Zukunft der Bananenproduktion in Marokko debattiert. Zwei Ereignisse Anfang der 1990er Jahre bremsten den Bananenboom weiter: zum einen eine zweiwöchige Hitzewelle im Juli des Jahrs 1994, die die agrarische Produktion nachhaltig beeinträchtigte und unter anderem weitflächige Schäden an den Gewächshäusern auslöste (Bouchelkha 2003b: 158-159). Zum anderen wurde im Nachgang des marokkanischen Beitritts zur WTO das Bananenimportverbot aufgehoben und es entstand eine beträchtliche Konkurrenz durch günstigere und qualitativ hochwertigere Importbananen aus Südamerika. Die Frage der Handelspolitik der Banane war in den nachfolgenden Jahren immer wieder Gegenstand zahlreicher Aushandlungsprozesse. Diese bewegten sich im Spannungsfeld zwischen den Forderungen der marokkanischen Produzenten die nationale Produktion zu schützen auf der einen Seite und den Interessen der Importeure sowie den internationalen Verpflichtungen Marokkos im Kontext der WTO auf der anderen Seite (Abouddahab 2002). Vor diesem Hintergrund sowie angesichts der Liberalisierung des Exportsektors 1986 stellten etliche Bananenproduzenten im Souss ihre Produktion auf den ebenfalls im Gewächshaus erfolgenden, nun jedoch auf den Export ausgerichteten Anbau von Frühgemüse um – die Exporttomate wurde zur neuen Kultur der Wahl.29 Privatisierung des Exports: Verlagerung des Tomatenexportzentrums nach Süden Während die Bananenhandelspolitik den nationalen Markt betraf, markiert das Jahr 1986 einen zentralen Wendepunkt in der Geschichte des marokkanischen Exports (Belkadi 2003: 196-201, Aloui & Kenny 2005: 8). Zur Zeit des französischen Protektorats privatwirtschaftlich und überwiegend von französischen Gesellschaften organisiert, war der Export ab 1965 verstaatlicht und vom OCE kontrolliert und verwaltet worden, was insbesondere hinsichtlich der Vermarktung zu Verwerfungen zwischen der Institution und den Produzenten, die zunehmend eine Liberalisierung des Sektors forderten, geführt hatte. Im Kontext der Strukturanpassungsmaßnahmen in den 1980er Jahren und den Beitritten Spaniens und Portugals zur EG wurde der Exportsektor 1986 liberalisiert. Die Exportlandwirtschaft im Souss profitierte von dieser Entscheidung nachhaltig.
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Die Produktions- und Exporttonnagen stiegen deutlich an, insbesondere der Tomatenexport, der 1985/86 noch 15.000 Tonnen betragen hatte, überschritt Anfang der 1990er Jahre die 100.000-Tonnen-Marke. Es entstand eine diversifizierte Landschaft professionell organisierter, privatwirtschaftlicher Exportgruppen und -unternehmen, die den Sektor bis in die Gegenwart weitreichend beeinflussen. Das ebenfalls am Atlantik, jedoch nördlicher gelegene damalige Zentrum des marokkanischen Tomatenexports Oualidia erfuhr im gleichen Zeitraum einen Niedergang. Stammte in den 1980er Jahren noch der Großteil der marokkanischen Exporttomaten aus der Region südlich von El Jadida, brach der Export mit Beginn der 1990er Jahre ein (Jamal 2007: 106). Gegenwärtig hat die Region nur einen geringen Anteil am marokkanischen Tomaten- und Frühgemüseexport (EACCE 2009a).30 Der Niedergang Oualidias und die Verlagerung des Tomatenexportzentrums nach Süden sind vor dem Hintergrund zusammenspielender ökologischer, sozioökonomischer und agrarpolitischer Faktoren zu sehen (Jamal 2007: 106-109). Ökologisch beruhte die Produktion in Oualidia – ebenso wie im Souss – zu einem Großteil auf Grundwasserbewässerung. Die Ausbeutung des Grundwassers und das Absinken der Grundwasserschicht führten in Oualidia jedoch frühzeitig zur Versalzung des Grundwassers, das sich infolgedessen nicht mehr zur Bewässerung der Frühgemüsekulturen eignete. Daneben war der exportorientierte Tomatenanbau in Oualidia sozioökonomisch durch kleinparzellige Eigentums- und Produktionsstrukturen gekennzeichnet: Zwei Drittel der Produzenten bewirtschafteten Flächen von weniger als 3 Hektar Größe. Hinzu kamen ein niedriges technisches Produktionsniveau, eine geringe Investitionskraft der im Nachgang von Weltbankkrediten31 von Überschuldung betroffenen Landwirte und eine nur gering ausgebaute Infrastruktur von Verpackungsstationen. Während diese Aspekte zur Zeit des OCE zumindest keinen Wettbewerbsnachteil bedeutet hatten, gelang es den ansässigen Landwirten im Anschluss an die Liberalisierung des Exportsektors nicht, das Produktions- und Exportniveau – vor allem im Kontext der sich im Souss entfaltenden privatwirtschaftlichen Konkurrenz – entsprechend anzupassen. Durch seine südlichere Lage – und damit jährlich um die 3.000 Sonnenstunden – kennzeichneten den Souss günstigere klimatische Produktionsbedingungen während der von der EG vorgegebenen Zeitfenster für den Gemüseexport. Anfang der 1990er Jahre waren darüber hinaus die Bedingungen hinsichtlich der natürlichen Ressourcen Land und Wasser insbesondere in Chtouka sehr vorteilhaft. Land war weitflächig vorhanden und günstig zu pachten oder zu erwerben, während zugleich die Grundwasserressourcen noch nicht übernutzt und mit einer entsprechenden technischen Ausstattung zugänglich waren (Bouchelkha 2003b:
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157-162). Die dynamische, privatwirtschaftlich organisierte Exportlandschaft der auf Initiative der Produzenten gegründeten Exportgruppen sowie im Zuge internationaler Partnerschaften entstandenen Exportunternehmen, die sich nach der Liberalisierung des Exportsektors 1986 im Souss entwickelte, gab schließlich den Ausschlag dafür, dass der Souss ab Mitte der 1990er Jahre zum unangefochtenen Tomatenexportzentrum Marokkos wurde. In diesem Kontext wird Chtouka und insbesondere das Bewässerungsgebiet Massa zum Agglomerationszentrum nationalen sowie – nach der Überholung der Investitionsgesetzgebung 1988 (Belkadi 2003: 199, DEPF 1996: 2) – nun zunehmend auch internationalen Kapitals, das in die Tomatengewächshausproduktion fließt. Internationales Kapital wird insbesondere im Rahmen marokkanisch-europäischer Joint Ventures investiert, die kapitalstarke Exportunternehmen von beträchtlicher Größe und mit vertikal integrierter Organisationsstruktur aufbauen. Wie die Bananenproduktion ist auch die expandierende Gemüseexportproduktion – so zeigt eine sozialgeographische Erhebung aus dem Jahr 1996 – in zweifacher Hinsicht durch externe Akteure gekennzeichnet: Ein großer Teil der Produzenten und die Mehrheit der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte stammen nicht aus der Region (Bouchelkha 2003b: 168-173) (vgl. Tab. 3-1). Lokale Produzenten aus dem Souss repräsentieren nur die Hälfte der Gewächshausproduzenten. Bei der anderen Hälfte handelt es sich vor allem um Investoren aus den urbanen Zentren Marokkos und auch bereits aus dem europäischen Ausland. 56 Prozent der befragten Produzenten bezeichneten sich dabei selbst als Landwirte, während die übrigen hauptberuflich Geschäftsleute, Unternehmer, Beamte oder Freiberufler waren. Daneben erwähnt Bouchelkha auch bereits die Gruppe der Agrartechniker, -ingenieure und ehemaligen Staatsangestellten, die sich als jeunes producteurs selbstständig machten (vgl. ›Jungunternehmer: ›Ein Bürojob, das war nicht mein Fall‹‹). Die externen Akteure bewirtschafteten darüber hinaus ein Vielfaches der Fläche der aus dem Souss stammenden Landwirte. Im Kontext der Expansion der Gewächshauskulturen entsteht zugleich eine enorme Nachfrage nach Arbeitskräften, die lokal nicht gedeckt werden kann – 1994/95 sind es 7 Millionen Arbeitstage und damit 43 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Arbeitskraftnachfrage im Souss, die im Rahmen der Gemüseproduktion, allen voran im Gewächshaus, geschaffen werden. Damit entfaltet sich zugleich ein überregionaler Sog nach Landarbeitern: Alleine vier Fünftel der landwirtschaftlichen Beschäftigten stammen nicht aus dem Souss, sondern kommen als Saisonarbeiter unter anderem aus den Regionen Azilal, Khénifra, Beni Mellal und Qalaât Sraghna. Im Umkreis der Gewächshausproduktion entstehen ›Landarbeiterdörfer‹, deren Namen auf die Herkunftsorte der Zugezogenen verweisen, und die von Beginn an durch prekäre Lebensbedingungen ge-
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Tab. 3-1: Gewächshausproduzenten im Souss: Herkunft und Betriebsgrößen (1996) Gewächshausfläche
Souss Andere Regionen Ausland Insgesamt
Produzenten
Fläche pro Produzent
Fläche (ha)
Anteil (%)
Anzahl
Anteil (%)
(ha)
429
22
153
50
2,8
1.064
55
134
44
7,9
435
23
17
6
25,6
1.928
100
304
100
6,3
Quelle: Bouchelkha (2003b: 169)
kennzeichnet sind. Auf der Ebene der Verpackungsstationen werden darüber hinaus insbesondere weibliche Arbeitskräfte nachgefragt, die ebenso wie die männlichen Landarbeiter zu mehr als 80 Prozent aus anderen Regionen Marokkos, vor allem den urbanen Räumen Casablanca, Safi und Essaouira stammen.
Z ENTRUM
DER
E XPORTPRODUKTION
Komplementär zum historischen Abriss im ersten Teil dieses Kapitels steht nun die Gegenwart der Exportlandwirtschaft im Souss im Zentrum der Betrachtung, deren Organisation und Bedeutung vorgestellt und in den nationalen und internationalen Kontext eingeordnet werden. Hierfür werden zunächst der 2008 lancierte Plan Maroc Vert, die Konditionen des Exports von frischem Obst und Gemüse in die EU sowie das seit 2006 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit den USA erörtert. Daran anschließend werden die Obst- und Gemüseproduktion im Souss, zentrale Arbeitsschritte im Export sowie Exportorganisation und -märkte vorgestellt. In Ergänzung dazu stehen schließlich die Machtkonzentration im Exportsektor und die Überausbeutung und Akkumulation natürlicher Ressourcen im Souss im Fokus. Bekenntnisse: Privatisierung und Freihandel Der neoliberale politische Kurs der marokkanischen Regierung wurde im Laufe der 2000er Jahre weiter intensiviert. Anknüpfend an die oben skizzierte politische Neuausrichtung in den 1990er Jahren sind die 2000er Jahre durch intensivierte Liberalisierungen, Privatisierungen und Restrukturierungen der Gesellschaft nach Prinzipien des Markts charakterisiert, die von einer weitreichenden Einbindung in den Weltmarkt und zunehmend größeren internationalen Verpflichtungen begleitet werden.
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Grünes Marokko? – Der Plan Maroc Vert Auf der Agrarmesse Salon International d’Agriculture au Maroc (SIAM) in Meknès im April 2008 stellte der marokkanische Landwirtschaftsminister mit dem Plan Maroc Vert die neue Strategie zur Entwicklung der marokkanischen Landwirtschaft vor (vgl. Akesbi 2011, 2012a, 2012b). Die marokkanische Landwirtschaft soll, so das Kernanliegen des Plans, eine neue dynamische Entwicklung und Modernisierung erfahren und auf diese Weise zum ›wichtigsten Motor für Wachstum und im Kampf gegen die Armut‹ bis 2020 werden (Akesbi 2012b: 13). Der Plan, der in nur fünf Monaten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit von der Unternehmensberatung McKinsey erarbeitet wurde, beruht auf zwei projektorientierten ›Grundpfeilern‹ und einem ›Sockel‹ parallel dazu vorgesehener Reformen. Der erste Grundpfeiler zielt darauf ab, durch privatwirtschaftliche Investitionen eine moderne, wettbewerbsfähige und marktorientierte Landwirtschaft zu entwickeln. Die hierfür notwendigen Investitionen sollen im Rahmen des neu entworfenen Konzepts der ›Aggregation‹ stattfinden: Dieses umfasst einen investierenden Großproduzenten mit Managementkapazitäten und mehr als 100 Hektar Produktionsfläche – den sogenannten ›Aggregator‹ – sowie zahlreiche kleinere und mittlere Landwirte, die ›aggregiert‹ werden. Auf der Basis einer doppelten Vertragsbeziehung – zwischen Großproduzent und aggregierten Landwirten auf der einen und Großproduzent und Staat auf der anderen Seite – werden diese in einem ›Win-Win-Modell‹ vereint. Ziel ist das Erreichen von economies of scale landwirtschaftlicher Produktionen im Umfang von 200 bis 2.000 Hektar Größe. Angestrebt sind 961 Projekte, die insgesamt 560.000 Betriebe erreichen sollen und für die ein Investitionsvolumen von 75 Milliarden Dirham im Zeitraum von zehn Jahren vorgesehen ist.32 Der zweite Grundpfeiler beruht im Gegenzug auf der ›solidarischen Begleitung‹ kleiner und mittlerer Landwirte. Drei Arten sozialer Projekte sind dabei geplant: erstens, Umorientierungsprojekte (projets de reconversion), in deren Zuge Landwirte, die sich bisher auf den Getreideanbau beschränkt haben, auf eine weniger niederschlagsabhängige Produktion (wie Oliven, Mandeln, Kaktus oder Johannisbrotbaum) umsteigen sollen; zweitens, Diversifizierungsprojekte (projets de diversification), die durch die Förderung regionaler Produkte zusätzliche Einkommen für verwundbare Landwirte schaffen sollen; und drittens, Intensivierungsprojekte (projets d’intensification), die es Landwirten erleichtern sollen, zur Erhöhung ihrer Erträge und größeren Inwertsetzung ihrer Produktion auf bessere Techniken zurückzugreifen. Der zweite Grundpfeiler sieht 545 Pro-
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jekte vor, die insgesamt an die 860.000 Landwirte erreichen sollen, und ist mit einem Investitionsvolumen von 20 Milliarden Dirham ausgestattet. Der ›Sockel‹ schließlich beinhaltet eine Reihe parallel zu den Projekten der Grundpfeiler ausgerichtete Vorhaben, die auf die Verpachtung von und Lizenzvergabe für Kollektiv- und Staatsland, verbessertes Wassermanagement, Verbesserung des Zugangs zu Exportmärkten, die Modernisierung von Vermarktungskanälen, die Verbesserung des Wirtschaftsklimas und der Wirtschaftsbranchen sowie Reformen des Landwirtschaftsministeriums und des Aufgabenbereichs des Staats abzielen. Der Plan Maroc Vert zeichnet sich entsprechend erstens durch seine Branchen-spezifische Herangehensweise (approche filières) aus; für jede Branche wurde ein Programm erstellt, das seitens des Staats und seitens der die Branche vertretenden Organisationen unterzeichnet wurde. Zweitens ist er durch die dezidierte Einbeziehung der unterschiedlichen Regionen Marokkos gekennzeichnet, für die 16 Regionale Landwirtschaftspläne (Plans Agricoles Régionaux) erarbeitet wurden. Zur Umsetzung des Plans wurden neue Institutionen, allen voran die Agence pour le Développement Agricole (ADA), geschaffen und die finanzielle Ausstattung sowohl des Landwirtschaftsministeriums als auch des in den 1980ern gegründeten Fonds de Développement Agricole aufgestockt. Das Budget des Landwirtschaftsministeriums wurde mehr als vervierfacht und betrug 2013 8,14 Milliarden Dirham, das des Fonds 2,8 Milliarden Dirham (Akesbi 2014a: 30). Weiterhin wurden die Subventionen für die landwirtschaftliche Produktion erhöht und ausgeweitet, insbesondere wenn sie im Rahmen der Aggregationsprojekte stattfinden oder eine der ›Wachstumsbranchen‹ betreffen. So wurde die Subventionsrate für Tröpfchenbewässerungssysteme von 60 auf 80 bzw. 100 Prozent angehoben, sofern sie Teil eines Aggregationsprojekts sind. Die Ausgabenstruktur des Fonds für das Jahr 2012 zeigt dabei, dass mit 42 Prozent des Budgets vor allem Bewässerungssysteme unterstützt wurden, gefolgt von Agrarmaterialien (20 Prozent) und Viehzucht (12 Prozent). Der Plan Maroc Vert hat damit den Stellenwert der Landwirtschaft innerhalb der marokkanischen Wirtschaft nicht nur diskursiv, sondern auch in Form konkreter struktureller und finanzieller Maßnahmen deutlich bestärkt. Welche Logik liegt dem Plan Maroc Vert jedoch zugrunde und was für eine Vision entwirft er für die Zukunft der marokkanischen Landwirtschaft? Im Anschluss an Akesbi (2012a, 2012b) sollen hier fünf Punkte herausgestellt werden. Obgleich der Plan betone, dass alle Produktketten gleichermaßen berücksichtigt würden und ›Erfolg haben sollen und müssen‹, bestehe doch eine klare Hierarchie zwischen den einzelnen Produkten: den ›Wachstumsbranchen‹ (Zitrusfrüchte, Oliven, Gemüse, Getreide, Zucker, Milch, Geflügel, Rinder, Saatgut) auf der
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einen und Branchen, die Gegenstand der ›solidarischen Begleitung‹ (Obst, Datteln, Arganprodukte, Honig, Kamelfleisch) sind auf der anderen Seite. Diese Hierarchie spiegele sich auch im finanziellen Ungleichgewicht zwischen den beiden Grundpfeilern wider – der zweite Pfeiler, so konstatiert Akesbi, wirke damit eher als eine Einrichtung zur Absorbierung der durch den ersten Pfeiler verursachten Schäden und ›Abstellgleis für die Vernachlässigten‹, denn als ein ernstzunehmendes Entwicklungsmodell. Mit dieser Schwerpunktsetzung folge der Plan nach wie vor einer technokratischen, produktivistischen und wettbewerbsorientierten Logik. Dieser Logik zufolge ist die Landwirtschaft als Wirtschaftssektor wie jeder andere zu betrachten, der lediglich der Investitionen bedarf, um zu prosperieren und Beschäftigung zu schaffen. Damit ignoriere er nicht nur die Multidimensionalität und die vielfältigen gesellschaftlichen Rollen der Landwirtschaft, sondern übergehe auch soziale, kulturelle und religiöse Elemente einer landwirtschaftlichen Lebensweise und die sich daraus ergebenden ›nicht-kommerziellen‹ Bedürfnisse. Durch die fortwährende Betonung einer exportorientierten Agrarproduktion perpetuiere er darüber hinaus Marokkos Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten, die in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist (Akesbi 2014b: 170). Nicht zuletzt müsse das Konzept der ›Aggregation‹ mit Blick auf die nach wie vor ungelöste Frage der Landbesitzstrukturen und die in der Aggregation liegenden Missbrauchsgefahren hinterfragt werden. Die inhaltliche und finanzielle Schwerpunktsetzung des Plan Maroc Vert bekräftigt damit die Förderung von Großbetrieben und exportorientierter Landwirtschaft – und verschränkt sich auf diese Weise mit der Erschließung internationaler Exportmärkte im Rahmen von Freihandelsabkommen. Wie in den nachfolgenden Abschnitten deutlich wird, sind jedoch sowohl der Export in die EU als auch der Export in die USA durch diverse Faktoren begrenzt. Der Plan ist zugleich als ein Bekenntnis zur intensivierten (Teil-)Privatisierung natürlicher Ressourcen zu lesen, die zunehmend in Form sogenannter Public-Private Partnerships organisiert werden. Dies betrifft sowohl Zugänge zu Land als auch zu Wasser, die gegenwärtig neu verhandelt und umverteilt werden. Ablauf und Umsetzung dieser Projekte zeigen, wie neue Instrumente – die, wie Houdret kommentiert, »dank des Vorwands der notwendigen ›Privatisierung‹ auch die Zustimmung internationaler Geber finden« (2010: 177) – der Konsolidierung bestehender Machtstrukturen dienen. Das Anfang der 2000er Jahre im Souss lancierte ›El Guerdane Projekt‹, das als Pilotprojekt einer Public-Private Partnership im Bereich der Bewässerungslandwirtschaft gilt, steht exemplarisch für diese Strategie der ›Privatisierung als Royalisierung‹ (vgl. Houdret 2010: 176 ff., 2012). Da das Gebiet um Sebt El-
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Guerdane, dem Zentrum der Zitrusfruchtproduktion im Souss, massiv von Grundwasserabsenkungen betroffen war, wurde bereits in den 1980er Jahren nach alternativen Bewässerungsmöglichkeiten gesucht. 2003 wurde schließlich ein in Kooperation mit der zur Weltbank gehörenden International Finance Cooperation erarbeiteter Projektvorschlag für eine öffentlich-private Partnerschaft ausgeschrieben, für den die Gruppe Omnium Nord Africain33 2004 den Zuschlag erhielt. Abgesehen von diversen Komplikationen bei der Umsetzung des Projekts und Konflikten zwischen den Landwirten im Bewässerungsgebiet zeigt Houdret auf, dass stärker als der Privatsektor vielmehr das marokkanische Königshaus über zwei Institutionen die Finanzierung und Umsetzung des Projekts dominiert und von Gewinnmöglichkeiten profitiert. Der Fonds Hassan II pour le Développement Economique et Social tritt dabei als ›öffentlicher‹ Geldgeber auf, untersteht jedoch nicht der parlamentarischen Kontrolle und ist unter anderem personell mit einer einflussreichen Produzentenfamilie im Souss verknüpft, deren Farmen im Bewässerungsgebiet liegen. Die Durchführung des Projekts wird wiederum weitgehend von Omnium Nord Africain kontrolliert, indem beispielsweise Aufträge bevorzugt an Tochterfirmen der Gruppe vergeben wurden. Public-Private Partnerships werden seit 2003 auch maßgeblich als neue Form der Verwaltung öffentlichen Landeigentums vorangetrieben. Im Rahmen des sogenannten ›Agripartenariat‹ betrafen sie zunächst die Teilprivatisierung der bis dahin von den Gesellschaften SODEA und SOGETA verwalteten 124.000 Hektar Staatsland (CdC 2012: 80 ff.). Die Teilprivatisierung geschah vor dem Hintergrund der Umstrukturierung der beiden Gesellschaften, die mehr als 10.000 Angestellte beschäftigten und mit 2.276 Milliarden Dirham hoch verschuldet waren. Bis Ende 2011 wurden insgesamt 97.372 Hektar in drei Runden öffentlich ausgeschrieben und ausgewählten Kandidaten für unterschiedlich lange Laufzeiten zugesprochen; weitere im Umfang kleinere Runden laufen seit 2013. Mit Lancierung des Plan Maroc Vert wurde das Agripartenariat in diesen integriert und die Zuständigkeit 2009 von der SODEA an die Agence pour le Développement Agricole übergeben. Das Modell des öffentlich-privaten Landmanagements wurde dabei zur zentralen Strategie der landwirtschaftlichen Entwicklung erklärt und soll bis 2020 auf 700.000 Hektar ausgeweitet werden. Damit sind nicht mehr allein die ehemals von SODEA und SOGETA verwalteten Staatsländereien Gegenstand von Teilprivatisierungen, sondern auch dem Innenministerium unterstehendes Kollektivland. Erste Analysen der erfolgten Teilprivatisierungen deuten dabei auf zahlreiche Unklarheiten hin, wie aus dem Jahresbericht für 2011 des für die Kontrolle der öffentlichen Ausgaben zuständigen Cour des Comptes ersichtlich wird, der
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sich ausführlich den ersten drei Vergaberunden widmet (CdC 2012). So wird unter anderem eine klare Strategie vermisst, auf welche Weise die Landvergabe zur landwirtschaftlichen Entwicklung und Ernährungssicherung beitragen soll, eine Vielzahl intervenierender Akteure und Institutionen moniert und auf teils fehlende rechtliche Grundlagen für die Partnerschaften hingewiesen. Eine lange Liste an Defiziten einschließlich ungeklärter Finanzflüsse wurde darüber hinaus auch für den Ausschreibungs- und Vergabeprozess erstellt und darauf hingewiesen, dass die ersten Ergebnisse, vor allem in der Saatgutproduktion, weit hinter den Erwartungen zurückliegen.34 Im Hinblick auf die erfolgreichen Bewerber für Landflächen im Rahmen von Public-Private Partnerships zeigen die Erhebungen aus dem Souss zugleich, dass vor allem die Kandidaten Land zugesprochen bekamen, die bereits über große Produktionsflächen verfügten und zur kleinen Elite der ›Megaproduzenten‹ zu zählen sind (vgl. ›Machtkonzentration: Produktion und Vermarktung‹). Offizielle Dokumente zu den Namen der Begünstigten existieren nicht – es kursieren jedoch Informationen zur Vergabe und teils auch Namen online und in der Presse (vgl. FLD Hebdo 2005, 2008, Malmasson 2008, Chaoui 2008). Europa: Etablierte Außenhandelsbeziehungen Die fortschreitenden Liberalisierungen und Privatisierungen der marokkanischen Wirtschaft werden zugleich von einer weitreichenden Einbindung in den Weltmarkt begleitet. Die Vielzahl der bilateralen Handelsabkommen, die der marokkanische Staat in diesem Zuge abgeschlossen hat, sind ein Ausdruck dieses wirtschaftspolitischen Bekenntnisses (vgl. Akesbi 2012a, 2014b).35 Die Länder der EU sind die wichtigsten Handelspartner Marokkos für Agrargüter. Wie oben aufgezeigt war die Agrarhandelspolitik der EU allerdings jahrzehntelang maßgeblich durch Protektionismus gekennzeichnet. Seit Beginn der GATT-Verhandlungen während der Uruguay-Runde unterliegt die Gemeinsame Agrarpolitik der EU einem Reformprozess, der sich im Rahmen der ›Agenda 2000‹ und der Luxemburger Beschlüsse von 2003 intensivierte und zu einem schrittweisen, jedoch nach wie vor nicht vollständigen Abbau von Schutzmaßnahmen führte (Maas & Schmitz 2007). Mit Beginn der Euro-Mediterranen Partnerschaft36 wurde das Kooperationsabkommen zwischen Marokko und der EG von 1976 durch das neu verhandelte, 1996 unterschriebene und 2000 in Kraft getretene Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen ersetzt (2000/204/EG, Amtsblatt L 070 vom 20.03.2000). Kernstück des wirtschaftlichen Bereichs ist die schrittweise Liberalisierung des Handels mit dem Ziel der Schaffung bilateraler Freihandelszonen zwischen der EU und den einzelnen Partnerstaaten.
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Seit 2011 werden die Freihandelsbestrebungen als Reaktion auf die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in den arabischen Ländern in Form von Deep and Comprehensive Free Trade Areas (DCFTA) vorangetrieben, die Anfang 2013 zwischen Marokko und der EU in eine erste Verhandlungsrunde starteten (EC 2013). Agrarprodukte werden jedoch nach wie vor besonders behandelt, und zwar allen voran als ›sensibel‹ eingestufte Obst- und Gemüsesorten, die Gegenstand des sogenannten EU-Einfuhrpreissystems sind (Goetz & Grethe 2009).37 Die EU hält also an Prinzipien des Protektionismus fest, um die europäischen Produzenten vor potentiell günstigeren Konkurrenzprodukten zu schützen, während zugleich Zugeständnisse in strikt reglementierten Grenzen in Form präferentieller Handelsregelungen gemacht werden. Marokko nimmt in diesem Kontext eine spezielle Rolle ein: Einige der wichtigsten Exportprodukte Marokkos zählen zu den aus europäischer Sicht ›sensiblen‹ Produkten, da sie in direkter Konkurrenz vor allem zur spanischen Produktion stehen. Zugleich profitiert Marokko innerhalb des EU-Einfuhrpreissystems von präferentiellen Handelsregelungen, die es wiederum gegenüber möglichen Konkurrenten wie beispielsweise der Türkei bevorzugen. Dies trifft insbesondere auf die Tomate zu, an deren Beispiel das EU-Einfuhrpreissystem im Folgenden erläutert werden soll. Nachdem die Exportmöglichkeiten für Tomaten in die EU ab den 1970er Jahren weitgehend eingeschränkt worden waren, kam es seit 2000 zu einer sukzessiven Ausweitung im Rahmen des Assoziationsabkommens, eines Protokolls (Amtsblatt L 343/121 vom 31.12.2003) und eines 2012 in Ergänzung zum Assoziationsabkommen speziell für Agrar- und Fischereiprodukte verabschiedeten Abkommens (Amtsblatt L 241 vom 07.09.2012). Marokko hat dabei gegenwärtig als einziges Land das Recht, ein bestimmtes Kontingent von Tomaten zu einem präferentiellen Einfuhrpreis – das heißt zu einem Einfuhrpreis, der unter dem regulären MFN-Einfuhrpreis (›Most Favoured Nation‹ bzw. ›Meistbegünstigungsprinzip‹ der WTO) liegt – in die EU zu exportieren. Die präferentielle Handelsregelung für Tomaten aus Marokko funktioniert dabei wie folgt (vgl. Chemnitz & Grethe 2005) (vgl. Tab. 3-2): Im Rahmen der MFN-Politik der EU kommen zwei Importpraktiken für Tomaten zur Anwendung; ein relativ niedriger Ad-Valorem-Zoll, der saisonal zwischen 8,8 und 14,4 Prozent variiert, sowie das EU-Einfuhrpreissystem für als ›sensibel‹ eingestufte Obst- und Gemüseprodukte. Letzteres wirkt sich faktisch wie ein MinimumImportpreissystem aus. Es existiert ein minimaler Einfuhrpreis, auf den lediglich der jeweilige Ad-Valorem-Zoll erhoben wird, der nicht unterschritten werden soll. Um dies zu verhindern, wird eine ›8-Prozent-Regel‹ angewendet: Ab einer Unterschreitung von bis zu 8 Prozent wird stufenweise ein weiterer Zoll erhoben, der die Preisdifferenz ausgleicht (›spezifischer Präferenzzoll‹); unterschrei-
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tet der Importpreis den Einfuhrpreis um mehr als 8 Prozent, wird der wesentlich höhere, im Rahmen der WTO konsolidierte ›spezifische Zollsatz‹ erhoben, der Importe faktisch verhindert. Im Rahmen der präferentiellen Handelsregelung wird Marokko ein Einfuhrpreiskontingent über eine bestimmte Exporttonnage innerhalb eines abgesteckten Zeitraums zu einem festgelegten Einfuhrpreis gewährt. Das ›Exportzeitfenster‹ des Einfuhrpreiskontingents beschränkt sich auf die Monate von Oktober bis Mai eines Agrarjahrs sowie jeweils festgelegte Monatskontingente. Der Einfuhrpreis, zu dem Marokko im entsprechenden Zeitraum und Umfang Tomaten in die EU exportieren kann, beträgt 461 Euro/Tonne, ohne dass ein zusätzlicher AdValorem-Zoll erhoben wird. Die präferentielle Handelsvereinbarung bewirkt somit, dass Marokko von Oktober bis Mai Tomaten zu einem Einfuhrpreis in die EU exportieren kann, der zwischen 26,4 und 59,1 Prozent unter dem MFNEinfuhrpreis liegt, der auf alle anderen außereuropäischen Exportländer angewendet wird. Die Bestimmungen im Abkommen von 2012 sehen dabei eine jährliche Erhöhung des Einfuhrpreiskontingents bis auf 285.000 Tonnen (einschließlich des Zusatzkontingents) bis 2015/16 vor (Amtsblatt L 241 vom 07.09.2012: 8-9). Der Import ist weiterhin nach dem ›Windhundverfahren‹ (first-come firstserved) geregelt, das heißt, die importierte Tonnage wird an der Grenze kontrolliert und der präferentielle Einfuhrpreis so lange angewendet, bis das jeweilige Monatskontingent erreicht ist. Demzufolge hätten marokkanische Tomatenexporteure ein Interesse daran, ihre Tomatenlieferungen jeweils auf den Anfang des Monats zu legen, um sicherzugehen, dass das Monatskontingent noch nicht ausgeschöpft ist. Lieferungen gegen Ende des Monats hingegen riskierten – wäre das Kontingent bereits überschritten – lediglich zum regulären Einfuhrpreis exportiert werden zu können. Faktisch, so Chemnitz und Grethe (2005), wird der Tomatenexport jedoch durch das 1986 infolge der Liberalisierung des Exportsektors gegründete EACCE dahingehend koordiniert, dass die exportierte Menge die monatlichen Einfuhrpreiskontingente nicht übersteigt und keine Lieferstürme zu Beginn des Monats zu erwarten sind. Reduzierte Einfuhrpreise im Rahmen von Einfuhrpreiskontingenten während bestimmter Zeitfenster existieren darüber hinaus auch für den Export von Artischocken, Aprikosen/Marillen, Clementinen, Gurken, Pfirsiche/Nektarinen, Süßorangen, Tafeltrauben und Zucchini aus Marokko (Amtsblatt L 241 vom 07.09.2012: 7-8/12). Im Fall der Zucchini liegt das Einfuhrpreiskontingent beispielsweise seit 2012 bei 50.000 Tonnen für den Zeitraum vom 1. Oktober bis zum 20. April zu einem reduzierten Einfuhrpreis von 424 Euro/Tonne, der sich im Februar und März nochmals auf 413 Euro/Tonne reduziert, während für Cle-
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Tab. 3-2: EU-Handelspräferenzen für Tomaten aus Marokko Ad-valorem-Zölle EPK (t) (2012/13)
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MFN (%)
Marokko (%) In Über EPK EPK
Einfuhrpreise
Spezifische Zölle
MFN (€/t)
Marokko von (€/t) % MFN
Anteil (%) MFN des MFN(€/t) Einfuhrpreises
Oktober
13.350
14,4
0,0
14,4
626
461
73,6
298
47,6
November
34.900
8,8
0,0
8,8
626
461
73,6
298
47,6
Dezember
39.450
8,8
0,0
8,8
626
461
73,6
298
47,6
Januar
39.450
8,8
0,0
8,8
846
461
73,6
298
35,2
Februar
39.450
8,8
0,0
8,8
846
461
54,5
298
35,2
März
39.450
8,8
0,0
8,8
846
461
54,5
298
35,2
April
20.700
8,8
0,0
8,8
1.126
461
40,9
298
26,5
Mai
6.250
14,4
0,0
14,4
726
461
63,5
298
41,0
Juni
--
14,4
--
5,76
526
--
--
298
56,7
Juli
--
14,4
--
5,76
526
--
--
298
56,7
August
--
14,4
--
5,76
629
--
--
298
56,7
September
--
14,4
--
5,76
526
--
--
298
56,7
EPK: Einfuhrpreiskontingent MFN: Most Favoured Nation (Meistbegünstigungsprinzip der WTO) 1 Das Einfuhrpreiskontingent für Marokko für das Wirtschaftsjahr 2012/13 betrug 225.000 Tonnen zuzüglich eines Zusatzkontingents von 28.000 Tonnen (vom 1. November bis 31. Mai). Marokko verpflichtet sich, dass die Ausschöpfung des zusätzlichen Kontingents innerhalb eines Monats 30 Prozent dieses zusätzlichen Kontingents nicht überschreitet. Quellen: Amtsblatt L 070 vom 20.03.2000, Amtsblatt L 241 vom 07.09.2012, Chemnitz & Grethe (2005: 3)
mentinen ein Einfuhrpreiskontingent im Umfang von 175.000 Tonnen von Anfang November bis Ende Februar zu einem reduzierten Einfuhrpreis von 484 Euro/Tonne existiert. Bestehen keine präferentiellen Handelsregelungen, so kommen das reguläre EU-Einfuhrpreissystem bzw. für die nicht zum Einfuhrpreissystem zählenden Obst- und Gemüsesorten die bestehenden Zollvorschriften zur Anwendung (vgl. Grethe & Tangermann 1999, Grethe et al. 2005). Werden Zollkontingente vollständig genutzt, können sie nicht zuletzt zur Entstehung einer ›ökonomischen Rente‹ führen (vgl. Chemnitz & Grethe 2005). Bei dieser handelt es sich um eine Differenz, die entsteht, wenn der Preis, zu dem die marokkanischen Exporteure ihre Ware gerade noch verkaufen würden, unter dem Einfuhrpreis liegt, zu dem sie aufgrund der oben beschriebenen Regelungen in die EU exportiert werden müssen. Diese Differenz ergibt sich unter zwei Bedingungen: Erstens muss das Einfuhrpreiskontingent bindend sein, das heißt es dürfen keine Exporte unterhalb des präferentiellen Einfuhrpreises in die EU stattfinden, und zweitens müssen die Grenzkosten des marokkanischen Angebots unterhalb des Verkaufspreises in der EU liegen. Chemnitz’ und Grethes Analyse zufolge treffen beide Bedingungen auf den Tomatenexport zu. Sie kommen zu dem Schluss, dass durch die EU-Importbestimmungen bedingt eine
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jährliche Rente in Höhe von zwischen 24 und 36,5 Millionen Euro entsteht, was einem Anteil von 17 bis 28 Prozent am Gesamtexportwert marokkanischer Tomaten in die EU entsprechen würde. Ein Großteil dieses Betrags falle dem marokkanischen Exportsektor zu, denn zum einen hätten die EU-Importeure durch das Windhundverfahren der Lizenzvergabe kaum Verhandlungsmacht, zum anderen würden sich die marokkanischen Exporteure so abstimmen, dass die Kontingente nicht überschritten werden. In diesem Prozess der Abstimmung komme wiederum dem EACCE eine zentrale Rolle zu: Drohe das monatliche Einfuhrpreiskontingent überschritten zu werden, tage ein Exportkomitee unter Leitung des EACCE, in dem Repräsentanten aller Exportgruppen, Vertreter des Landwirtschaftsministeriums sowie der zwei wichtigsten Produzentengruppen vertreten seien. Dieses Komitee entscheide per Konsens, wie die verbliebene Quote auf die einzelnen Exportgruppen verteilt werde. Diese Entscheidung würde – mit einem gewissen Verhandlungsspielraum – grundsätzlich auf der Basis des Gesamtexports im ersten Teil des Monats getroffen. Das EACCE kontrolliere daraufhin die Einhaltung dieses Beschlusses – und da alle Produzenten auch im nächsten Jahr wieder auf die Exportlizenzen des EACCE angewiesen sind, ohne die ein legaler Export nicht möglich ist, sei die Motivation der Produzenten, sich an die Beschlüsse zu halten, entsprechend groß. Chemnitz und Grethe resümieren: »The Moroccan side thus almost acts like a cartel and consequently European companies have hardly any negotiating power. Furthermore all members of an exporting group are informed about the prices the different commissioners obtained on the export market and the resulting transparency also adds to the negotiation power of Moroccan exporters. All this supports the assumption that much of the rent ends up on the Moroccan rather than at the EU side.« (Chemnitz & Grethe 2005: 13)
Diese Funktion des EACCE ist allerdings kein Geheimnis, sondern vielmehr Programm, wie dem folgenden Ausschnitt der Internetpräsentation des EACCE entnommen werden kann: »La mission de coordination confiée à l’EACCE a suscité au tout début de la libéralisation des exportations alimentaires en 1986, une réticence de la part des exportateurs qui ont craint l’ingérence de l’administration, dans un secteur à peine libéralisé. Mais, ces entrepreneurs ont très vite réalisé que l’initiative privée dans ce secteur hautement réglementé ne saurait trouver son épanouissement sans une harmonisation coordonnée de leurs actions pour susciter le résultat désiré, à savoir la juste récompense du travail fourni par une recette nette satisfaisante. Car une action en ordre dispersé selon les conceptions
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propres à chacun des exportateurs, est de nature à engendrer une auto-concurrence préjudiciable tant aux intérêts individuels des producteurs et des exportateurs, qu’à l’intérêt général de l’origine Maroc. Ceci est encore plus justifié par les réglementations de plus en plus sophistiquées des pays importateurs qui, cherchant des produits de grande qualité et dans les périodes souhaitées, ont développé une législation technique et commerciale rigoureuse adaptée à leurs intérêts.« (EACCE, eacce.org.ma, 14.02.2014)
Welche Perspektive ergibt sich vor diesem Hintergrund für zukünftige Agrarexporte in die EU? Grethe et al. (2005) gehen davon aus, dass die schrittweise Ausweitung der Agrarhandelspräferenzen zwischen der EU und den Mittelmeerländern auch in den kommenden Jahren ein wichtiges Element der gegenseitigen Beziehungen sein wird – so geschehen beispielsweise im Abkommen von 2012. Denn zum einen enthielten alle Europa-Mittelmeer-Abkommen Passagen, in denen weitere Handelsliberalisierungen vorgesehen seien, zum anderen bewege sich auch der Trend der EU-Agrarpolitik vom Instrument der Preisstützung weg. Folgende Faktoren spielten hier eine Rolle: Die fortschreitende Erweiterung der EU übe einen großen Druck auf das EU-Budget aus, doch auch die Beschränkungen aus den Verpflichtungen in der WTO trügen zur Reduktion der Agrarpreisstützung bei. Hinzu komme der fortschreitende Prozess einer bilateralen Handelsliberalisierung nicht nur mit den Mittelmeerländern, sondern auch mit anderen Exportländern typischer Südfrüchte (wie Südafrika und Südamerika), an deren Handelsliberalisierung für industrielle Waren die EU ein großes Interesse habe. Hier sei es zukünftig schwierig, eine Politik des Freihandels zu verfolgen und Agrarprodukte zugleich weiterhin von der Liberalisierung ausnehmen zu wollen. Vor diesem Hintergrund stelle sich insgesamt die Frage, inwieweit aufwendige Verhandlungen über die weitere Ausweitung der Agrarhandelspräferenzen für die Mittelmeerländer nach wie vor eine vernünftige Politik seien: »Die Transaktionskosten präferentieller Handelsregelungen sind hoch und treten auf verschiedenen Ebenen auf: In den bilateralen Verhandlungen, bei der Verwaltung unzähliger Zollkontingente und einer hohen saisonalen und geographischen Variation der Zölle sowie bei den Handelsunternehmen, die der aus den komplexen Außenhandelsregelungen resultierenden Intransparenz ausgesetzt sind und einen nicht unerheblichen Verwaltungsaufwand betreiben müssen[.]« (Grethe et al. 2005: 312)
Die Einbindung der Agrarexporte der Mittelmeerländer in eine Freihandelszone stelle somit eine überlegenswerte Alternative dar, insbesondere vor dem Hintergrund der Erwartung, dass der Einfluss eines solchen Schritts auf die EU-Märkte letztlich gering ausfallen könnte. Denn erstens sei die Agrarproduktion der Mit-
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telmeerländer verhältnismäßig klein sowie durch die Knappheit natürlicher Ressourcen, vor allem Wasser, limitiert; zweitens würde ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Transportkosten und steigende Qualitätsanforderungen entscheidend begrenzt. Während die Agrarpolitik der marokkanischen Regierung über Jahrzehnte hinweg maßgeblich eine Exportorientierung der Landwirtschaft förderte, wurden und werden, so lässt sich zusammenfassen, die Exportmöglichkeiten durch den wichtigsten Handelspartner EU nach wie vor beschränkt. In den sich mittlerweile über Jahrzehnte hinweg erstreckenden Verhandlungen wurde eine schrittweise Ausdehnung von Exportmöglichkeiten erzielt, als deren Resultat ein komplexes System von Kontingentierung, Einfuhrpreisen und Zollvorschriften existiert, das sowohl auf marokkanischer als auch auf EU-Seite mit hohen Verwaltungs- und Organisationskosten einhergeht. Die exportorientierte Warenkette von frischem Obst und Gemüse aus dem Souss kann somit als eine maßgeblich durch politische Institutionen gesteuerte Warenkette charakterisiert werden, als deren ›Hauptsteuerer‹ nach wie vor die EU fungiert. Als zweiter, an zentraler Stelle intervenierender Akteur kann mit dem EACCE auf marokkanischer Seite ebenfalls eine staatliche Institution identifiziert werden, innerhalb der allerdings auch privatwirtschaftliche Akteure Mitspracherechte haben. Die Institution des EACCE ist dabei als Reaktion auf die EU-Reglementierungen zu sehen, um ungewollte, für marokkanische Produzenten nachteilige Wettbewerbssituationen zu vermeiden. Die Komplexität dieser Regelungen und Qualitätsvorgaben zeichnet an dieser Stelle bereits vor, welche Akteure in der Lage sein können, als Produzenten am Export zu partizipieren und von diesem zu profitieren. Auf einer weiteren Ebene werden diese staatlichen Reglementierungen wiederum zunehmend von Qualitätsstandards überlagert. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden im Kontext von Lebensmittelskandalen verschiedene Standards etabliert, die in bindende und freiwillige, internationale, nationale und private Standards unterteilt werden können und als nicht-tarifäre Handelsbarrieren fungieren (Germanwatch/EED 2003). Innerhalb der Vorgaben der EU wirken damit weitere Akteure, und zwar insbesondere die europäischen Einzelhandelsketten (u.a. Carrefour, Casino, Rewe, Tesco) steuernd auf die Warenkette ein. Der 1997 von europäischen Einzelhändlern (Euro-Retailer Produce Working Group) entwickelte ehemalige EUREPGAP-, seit 2007 GLOBALGAP-Standard ist dabei der wichtigste private Standard auf der Ebene der Produktion für den marokkanischen Export von frischem Obst und Gemüse (vgl. globalgap.org). Die politische Steuerung wird damit durch die Dimension der buyer-drivenness – also die Steuerung seitens der Supermarktketten – ergänzt.
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USA: Neuausrichtung des Außenhandels Das Freihandelsabkommen zwischen Marokko und den USA, abgeschlossen im Frühjahr 2004 und seit 2006 in Kraft, steht für eine grundlegende Neuausrichtung der marokkanischen Außenhandelsbeziehungen (Akesbi 2008a, 2008b, 2012a, Hufbauer & Brunel 2009a). Bildeten jahrzehntelang die Beziehungen zu Europa, und dabei allen voran zu Frankreich, den Mittelpunkt der teils zähen außenpolitischen Verhandlungen, stellt das Freihandelsabkommen mit den USA eine deutliche Kehrtwende dar und fungiert als ökonomischer ebenso wie politischer Marker der künftigen außenpolitischen Orientierung Marokkos (Bensaid & Ihadiyan 2008). Im Gegensatz zu den Abkommen mit der EU umfasst das Freihandelsabkommen mit den USA alle Wirtschaftssektoren einschließlich der Landwirtschaft ebenso wie unter anderem den Dienstleistungssektor, die Vergabe öffentlicher Aufträge und intellektuelles Eigentum (vgl. Boubrahimi 2008). Je nach Sensibilität der Produkte und Dienstleistungen sind unterschiedlich lange Zeiträume für den Abbau von Protektionsmaßnahmen vorgesehen (Akesbi 2012a). So existieren für landwirtschaftliche Produkte Listen mit präzisen Terminplänen für den vorgesehenen Zollabbau, der für einige bereits vollständig erfolgte, sich für andere hingegen über einen Zeitraum von 25 Jahren erstreckt und zahlreiche Übergangsregelungen beinhaltet. Insgesamt soll der marokkanische Markt innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren vollständig für amerikanische landwirtschaftliche Produkte geöffnet werden, für einige zentrale Produkte wie Mais und Soja bereits nach fünf Jahren. Ausgenommen sind hiervon Importe von rotem Fleisch, die durch Quoten beschränkt sind, und von Weichweizen, für den, identisch zum Abkommen mit der EU, Kontingente in Abhängigkeit der inländischen Produktion bestehen. Im Gegenzug erhielt Marokko mit Inkrafttreten des Abkommens einen vollständigen Zugang zum amerikanischen Markt für die gesamte Bandbreite seiner Exportgüter. Marktzugänge werden allerdings faktisch über nicht-tarifliche Bestimmungen sowie nicht zuletzt die Frage der Realisierbarkeit reglementiert. Hierzu zählen unter anderem phytosanitäre Standards, beschränkte Zugänge zu amerikanischen Netzwerken und Vermarktungskreisläufen sowie die erforderlichen Kapazitäten, um Exporte in die USA umsetzen zu können. Hufbauer und Brunel stellen fest: »On the Moroccan side, firms have identified a series of obstacles for their exports to the United States: the burden of systematic scanning at the US border, high labor costs in Morocco, weak logistical support, lack of brand promotion and image, difficulty in meeting the size of orders, and low reliability of Moroccan shipments. Another impediment is that the dollar exchange rate has been unfavorable to Moroccan exports for
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most of the past three years; the reference point for Moroccan firms is the euro, which has generally been strong against the dollar.« (Hufbauer & Brunel 2009b: 239)
Die Hürden im Export von frischem Gemüse verdeutlichen dies exemplarisch: So wurde der Souss als Zentrum der exportorientierten Gemüseproduktion aus phytosanitären Gründen nicht für den Export in die USA freigegeben, stattdessen jedoch die Regionen Oualidia und Dakhla, die beide mit besonderen Herausforderungen verbunden sind. Während das ehemalige Tomatenanbauzentrum Oualidia unter anderem mit der Versalzung des Grundwassers konfrontiert und heute praktisch bedeutungslos ist (vgl. ›Liberalisierung und Großkapital‹), ist der Standort Dakhla durch seine Lage in der von Marokko besetzten Westsahara nur für einzelne Großproduzenten mit politischen Verbindungen eine Option (vgl. ›Verlagerungen und Machtpolitik‹). Der Export von frischem Gemüse in die USA stellt also gegenwärtig nur für eine kleine Elite einzelner Produzenten und Exporteure eine Alternative zum EU-Markt dar. Bewertungen des Freihandelsabkommens fallen insgesamt von skeptisch bis deutlich kritisch aus. So konstatiert Aloui (2009), dass das Abkommen auf einer asymmetrischen Grundlage beruht, die die Handelsinteressen auf US-amerikanischer Seite bevorzugt und voraussichtlich zu einem Anstieg des marokkanischen Handelsdefizits gegenüber den USA führen wird. Zugleich habe das zentrale Interesse auf marokkanischer Seite, Marokko für US-amerikanische Auslandsinvestitionen attraktiver zu machen, bislang keinen Erfolg gezeigt. Davis (2006) befürchtet darüber hinaus, dass das Abkommen vielmehr zu einem Armutsanstieg in ländlichen Regionen beitragen wird. Durch die Abschaffung oder wesentliche Reduzierung der Exportsubventionen und Preisstützung für Getreide verfolgten die USA das Ziel, in naher Zukunft einen Großteil des marokkanischen Weizenbedarfs bereitzustellen – mit gravierenden Folgen für die lokale Agrarproduktion und damit die Lebensgrundlage eines großen Teils der marokkanischen Bevölkerung. Akesbi (2012a) identifiziert dabei als zentrale verwundbare Gruppe insbesondere die große Anzahl von Familien im ländlichen Marokko, die Klein- und Kleinstbetriebe unter oder an der Schwelle zur wirtschaftlichen Existenzfähigkeit bewirtschaften. Er unterstreicht, dass die von Marokko übernommenen internationalen Verpflichtungen und der damit einhergehende Prozess der Handelsliberalisierungen das Land mit bisher ungekannten Fristen und konsequenzenreichen Bedingungen konfrontieren.
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Regionale Netzwerke: Anbau, Verpackung, Export Der Export von Gemüse und Zitrusfrüchten aus dem Souss lässt sich als ein Netzwerk verschiedener, teils parallel stattfindender Arbeitsschritte und Prozesse darstellen, in das zahlreiche Akteure eingebunden sind und in dem sowohl vielfältige Formen der Partizipation als auch Mechanismen der Exklusion existieren. Zur Einordnung der sich anschließenden empirischen Kapitel dieses Buchs werden nun zunächst die wichtigsten Ebenen dieses Netzwerks – Produktion, Vermarktung und Export – vorgestellt und quantitativ eingeordnet. Anbau Der marokkanische Obst- und Gemüseanbau ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen und wurde von Mitte der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre verdoppelt, wozu insbesondere die Gemüseproduktion mit einem Anstieg um 83 Prozent beitrug (Rastoin et al. 2008: 94).38 Gegenwärtig werden auf mehr als 1 Million Hektar und damit etwa 16 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Marokkos Obst und Gemüse unter Einsatz von jährlich 80 Millionen Arbeitstagen angebaut, was rund 20 Prozent aller in Marokko landwirtschaftlich beschäftigen Arbeitskräfte entspricht (Fellah Trade 2008, Rastoin et al. 2008: 27). Die SoussEbene ist durch eine intensive landwirtschaftliche Produktion gekennzeichnet, die sich deutlich von der Landwirtschaft anderer Regionen Marokkos abhebt. Dies zeigt sich bereits in einer einfachen Gegenüberstellung: Während mit 90.000 Hektar weniger als ein Zehntel der Obst- und Gemüseflächen in der Ebene liegt, wird etwa ein Viertel der insgesamt an die 10 Millionen Tonnen Obst und Gemüse hier produziert (ORMVA/SM 2007a, MAPM 2013). Was also kennzeichnet die Obst- und Gemüseproduktion im Souss und wie ist sie im marokkanischen Kontext zu verorten? Nachfolgend wird zunächst der Zitrus-, dann der Gemüseanbau vorgestellt, die sich auch räumlich auf unterschiedliche Provinzen konzentrieren.39 Die marokkanische Zitrusfruchtproduktion findet auf insgesamt 82.000 Hektar statt. 41 Prozent davon liegen in der Souss-Ebene,40 in der sich wiederum 94 Prozent der Flächen auf die Provinz Taroudant konzentrieren (RGA 2007, ORMVA/SM 2007a-e) (vgl. Tab. 3-3). Der marokkanische Zitrusfruchtsektor ist seit den 2000er Jahren durch eine mehrfache Dynamisierung gekennzeichnet: Von 2002 bis 2006 wurden im Schnitt jährlich 3.300 Hektar Neupflanzungen vorgenommen (davon 2.000 Hektar Mandarinen; RGA 2007: 26-27).41 Gleichzeitig stieg das technische Niveau: Während 1991 nur 8,6 Prozent der Zitrusflächen per Tröpfchenbewässerung bewässert wurden, war es 2006 bereits die
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Tab. 3-3: Zitrusproduktion und -export: Bedeutung des Souss Zitrusflächen Marokko (ha)
Zitrusproduktion
Souss (ha) (%)
Marokko (t)
Souss (t) (%)
Zitrusexport Marokko (t)
(t)
Souss (%)
Orangen
41.729
13.908
33,3
964.860
385.323
39,9
182.430
111.170
60,9
Mandarinen
34.141
15.514
45,4
566.605
299.134
52,8
293.510
200.171
68,2
5.680
3.606
63,5
109.730
96.809
88,2
7.208
5.690
78,9
81.550
33.028
40,5
1.641.195
781.266
47,6
483.148
317.031
65,6
Sonstige Insgesamt
Die Zahlen zur Zitrusproduktion wurden der letzten Vollerhebung der Zitrusfruchtproduktion in Marokko aus dem Jahr 2006 entnommen (RGA 2007); die Exporte beziehen sich auf das Agrarjahr 2008/09. Quelle: RGA (2007), EACCE (2009b)
Hälfte (49 Prozent). Ein Viertel der Flächen ist gemäß privatwirtschaftlicher Standards, allen voran EUREPGAP- bzw. GLOBALGAP-zertifiziert (20.900 Hektar; RGA 2007: 28-30). Im nationalen Vergleich liegt der Souss im Hinblick auf alle genannten Aspekte an der Spitze: Fast die Hälfte der Zitrusfruchtneupflanzungen wurde im Souss getätigt (1.500 Hektar/Jahr), in dem mit 80 Prozent auch der Anteil der über Tröpfchenbewässerung bewässerten Zitrusflächen am höchsten ist und in dem sich drei Viertel aller zertifizierten Flächen befinden. Das Zertifizierungsniveau erreicht im Souss fast die Hälfte aller Flächen (48 Prozent), während es in den übrigen Anbaugebieten höchstens ein Viertel beträgt (RGA 2007: 96). Der Souss ist damit die wichtigste Exportanbauregion und liefert zwei Drittel der aus Marokko exportierten Zitrusfrüchte (EACCE 2009b). Die marokkanische Gemüseproduktion findet auf insgesamt 260.000 Hektar statt (Fellah Trade 2008) (vgl. Tab. 3-4). Der überwiegende Anteil der Flächen dient dabei dem Anbau von saisonalem Gemüse (maraîchage de saison), das auf den nationalen Markt ausgerichtet ist. Die primär exportorientierten Frühgemüse42 werden auf einem Zehntel der Fläche, davon 15.200 Hektar im Gewächshaus, angebaut. Jeweils zwei Drittel der Frühgemüseflächen und der marokkanischen Gewächshausflächen befinden sich im Souss; auf weiteren rund 8.400 Hektar werden saisonale Gemüsesorten angebaut, so dass im Souss auf insgesamt 24.300 Hektar Gemüse produziert wird (ORMVA/SM 2007a). Die Hälfte der Gewächshausfläche dient alleine dem Tomatenanbau (4.400 Hektar). Die weiteren Gewächshausflächen verteilen sich überwiegend auf grüne Bohnen (2.000 Hektar), Paprika (1.100 Hektar), Zucchini (580 Hektar), Gurken (350 Hektar), Melonen (200 Hektar) und Peperoni (180 Hektar) (ORMVA/SM 2008). Die Gewächshausproduktion konzentriert sich insbesondere auf die Provinz Chtouka-Ait Baha, aus der 80 Prozent der gesamten Gewächshausproduktion stammen (ORMVA/SM 2007a-e).43
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Tab. 3-4: Gemüseproduktion: Bedeutung des Souss Gemüseflächen Marokko (ha)
Saisonales Gemüse Frühgemüse Davon Gewächshausgemüse
Insgesamt
Gemüseproduktion
Souss (ha) (%)
Marokko (t)
(t)
Souss (%)
233.000
8.435
3,6
5.440.000
279.667
5,1
27.000
15.904
58,9
1.300.000
1.189.987
91,5
15.200
8.997
59,2
--
1.001.448
--
260.000
24.339
9,4
6.740.000
1.469.654
21,8
Quellen: Fellah Trade (2008), ORMVA/SM (2007a)
Tab. 3-5: Gemüseexport: Bedeutung des Souss Gemüseexport Marokko (t)
Tomaten
(t)
Souss (%)
421.145
407.125
96,7
Paprika
53.847
52.674
97,8
Zucchini
43.922
40.269
91,7
Bohnen1
112.936
89.945
79,6
Frühgemüse (insgesamt)
673.771
621.702
92,3
1
Die Bohnensorten Haricot vert und Haricot helda, die in der Statistik des EACCE getrennt geführt werden, sind hier zusammengefasst. Quelle: EACCE (2009a)
Die Gemüseproduktion beläuft sich auf insgesamt 1,5 Millionen Tonnen, davon 1 Million Tonnen Gewächshausproduktion. Alleine 650.000 Tonnen entfallen auf die Tomatenproduktion, von denen etwa die Hälfte exportiert wird (ORMVA/SM 2007a). Im nationalen Vergleich liegt die Souss-Ebene damit ebenfalls an der Spitze der exportorientierten Gemüseproduktion: Jeweils mehr als 90 Prozent der marokkanischen Tomaten-, Paprika- und Zucchiniexporte stammen aus dem Souss sowie 80 Prozent aller Bohnenexporte (EACCE 2009a: 2-20) (vgl. Tab. 3-5). Ebenso wie die Zitrusfruchtproduktion ist auch die exportorientierte Gemüseproduktion durch hohe Zertifizierungsraten gekennzeichnet: Etwa 60 Prozent der Betriebe, die Gemüse im Gewächshaus produzieren, verfügen gegenwärtig über eine GLOBALGAP-Zertifizierung (Rastoin et al. 2008: 28). Zertifizierungen gemäß privatwirtschaftlicher Standards haben in den vergangenen Jahren im Souss stark zugenommen (Chemnitz 2007: 10). Die am weitesten verbreiteten Standards sind EUREP- bzw. GLOBALGAP44 für die Produktion sowie BRC (British Retail Consortium) für die Verpackung. Während die ersten Zertifizierungen im Zeitraum zwischen 2002 und 2005 erfolgten und nur von einzelnen Großproduzenten getätigt wurden, stiegen die Zertifizierungs-
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raten ab 2005 an und auch kleinere Produzenten traten in einen Zertifizierungsprozess ein. 2006 besaß ein Drittel der etwa 600 Tomatenexportproduzenten der Region eine EUREPGAP-Zertifizierung. Zugleich waren jedoch mehr als drei Viertel der Tonnage zertifiziert, da die zehn größten Tomatenexporteure (Unternehmen oder Kooperativen) alleine bereits über etwa 1.000 Hektar zertifizierte Anbaufläche und damit 140.000 Tonnen EUREPGAP-zertifizierte Tomaten verfügten. Durch die starke Konzentration der Exportproduktion besteht also eine große Diskrepanz zwischen zertifizierter Exporttonnage und zertifizierten Produzenten. Neben der exportorientierten Produktion ist der Souss nicht zuletzt auch eine der wichtigsten Regionen der auf den marokkanischen Binnenmarkt ausgerichteten Obst- und Gemüseproduktion. So werden auf einer Fläche von 2.300 Hektar Kartoffeln und auf 1.000 Hektar Wassermelonen angebaut. Daneben ist der Souss mit aktuell 4.000 Hektar Gewächshausfläche nach wie vor ein Bananenanbaugebiet. Die Bananengewächshäuser konzentrieren sich im Unterschied zu den Gemüsegewächshauskulturen auf die Provinz Taroudant (ORMVA/SM 2007a-e). Verpackung Die Verpackungsstation ist die zentrale Schleuse in den Export: Soll Obst oder Gemüse exportiert werden, so muss es diese Schleuse passieren, die eine zentrale Schnittstelle zwischen Exportlandwirten, Exporteuren und dem Exportmarkt, ebenso wie einen Kulminationspunkt komplexer sozioökonomischer Interaktionen repräsentiert (Aloui & Kenny 2005: 12). Die beim EACCE angemeldete und von diesem mit einer Exportnummer versehene Verpackungsstation ist eine notwendige Voraussetzung für den Export von frischem Obst und Gemüse aus dem Souss. In der Verpackungsstation passiert die Ware – im Idealfall – die Schranke vom lokalen ›hier‹ zum ›dort‹ des Exports, sofern sie den im Exportmarkt verlangten Qualitätsanforderungen und Normen entspricht. Ist dies nicht der Fall, so wird sie (spätestens) an dieser Stelle aussortiert und gelangt als écart de triage (Auslese) auf den nationalen Markt. Die exportierbare Ware wird anschließend für den Export aufbereitet, das heißt gereinigt, sortiert und verpackt, um dann, zumeist über geschlossene Kühlketten, in das entsprechende Exportland transportiert zu werden. Die Station ist zugleich die logistische Einheit, von der aus die zu liefernden Warenmengen koordiniert und mit den Handelspartnern im Exportland abgestimmt werden. Auf der Ebene der Verpackungsstation findet nicht zuletzt die Entnahme von Stichproben durch das EACCE statt, die anschließend in den EACCE-eigenen Labors auf Pestizidrückstände kontrolliert werden.
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Im Souss gibt es 20 Verpackungsstationen für Zitrusfrüchte und an die 100 für Gemüse (und teils auch weitere Früchte), die von natürlichen oder juristischen Personen (in der Regel Kooperativen, Exportgruppen oder Unternehmen) betrieben werden (AMFEL 2008). Die Bandbreite der anzutreffenden Stationen ist groß: Sie reicht von Verpackungseinheiten, die über eine Kapazität von mehreren 10.000 Tonnen Export pro Jahr verfügen und zahlreiche internationale Standards (wie BRC, HACCP) erfüllen, bis zur Hinterhausgarage, in der eine Handvoll Frauen Gemüse in Kisten verpackt. Je nach Produkt und den dafür benötigten Maschinen sind unterschiedliche Investitionen sowie hinsichtlich der Auslastung der Station auch eine an diese angebundene Produktions-, Zuliefererund Aufkaufstruktur erforderlich. Verpackungsstationen für Zitrusfrüchte setzen im Vergleich zum Gemüse eine deutlich höhere Investition und Tonnageauslastung voraus. Dies ist einer der Gründe für die zahlenmäßige Differenz zwischen Zitrus- und Gemüsestationen. Die Verpackungsstationen verteilen sich gleich einem Netz über die Souss-Ebene und weisen ein den intensiven Produktionszentren korrespondierendes räumliches Muster auf, das in seiner zeitlichen Entstehung zugleich die Exportgeschichte der Region dokumentiert. Seit den 1980er Jahren sind Anzahl und Verteilungsmuster der Stationen relativ stabil geblieben: Bereits 1983 existierten 23 Zitrus- und 69 Gemüsestationen, die entweder in der urbanen Industriezone des Großraums Agadir lagen oder sich auf Chtouka (für Gemüse) und Oulad Teima und Sebt El-Guerdane (für Zitrusfrüchte) verteilten (Hnaka 1995: 242). Ein ähnliches räumliches Verteilungsmuster zeigt sich auch heute noch (vgl. Karte 3-2). Abgesehen von der Station Zaouia, deren Grundsteinlegung bereits 1934 durch die Franzosen erfolgte, verteilen sich die Gründungsdaten der gegenwärtig exportierenden Zitrusstationen gleichmäßig auf die Jahrzehnte seit der Unabhängigkeit; die Eigentumsstrukturen haben in diesem Zeitraum jedoch meistens, teilweise auch mehrfach gewechselt. Die Gemüsestationen sind im Schnitt jüngeren Gründungsalters, was auf eine größere Fluktuation der Stationen hindeutet: Etwa die Hälfte wurde nach 2000 gegründet und besteht entsprechend erst vergleichsweise kurz. Die Gemüsestationen lassen sich darüber hinaus produktspezifisch weiter differenzieren (EACCE 2008e): 2007/08 exportierte nur knapp die Hälfte (48) Tomaten, 70 exportierten Paprika und 78 Bohnen; 85 der insgesamt 100 Stationen exportierten also (unter anderem) Tomaten, Paprika oder Bohnen.45 Dabei zeichnete sich eine Spezialisierung entweder auf Tomaten oder auf Bohnen als Hauptprodukt ab: Die Stationen, die Tomaten verpackten, exportierten tendenziell kleinere Mengen Bohnen und Paprika, während in den Stationen, in denen mehr als 1.000 Tonnen Bohnen verpackt wurden (27), wiederum in mehr als zwei Drittel der Fälle keine Tomaten verpackt wurden. Neben dem ›Klassiker‹
Tiznit
G
G
G
Khmiss-Ait Amira
GG GG G G Biougra G G G GG G G GG G G G
Z Z
Teima
Ait Baha
G
GG G ZG Z Z G Oulad G Z
Z
Sebt El-Guerdane
GZ ZG Z
Z
Z
COPAG
Taroudant
Karte 3-2: Intensive Landwirtschaft und Verpackungsstationen in der Souss-Ebene
N1
G G G
G
G G GG
G G G G GG G G G G GGG G G G G G
GG G
G
Z Z GG GG GGG G ZG Inezgane GGGG GGGGGG GZ Z Ait Melloul GGGZ GZ G G G G G
Großraum Agadir
A7
Marrakech
0
5
10 km
Asni/Marrakech
O
u
ed
S
o
u
Zitrusfrüchte Gemüse
s
s
Ouarzazate
© S.R. Sippel
Kartengrundlage: AMS (1958), Google Maps (2011), ABH/SM (2011), AMFEL (2008) Entwurf: S.R. Sippel, Kartographie: L. Bauer
Arganwald ›Admin‹ Massa-Bewässerungsgebiet Stausee Fluss
Topographie
Regionalhauptstadt Agadir (ca. 350.000 Einw.) Stadt (30.000-100.000 Einw.) Kleinstadt (5.000-30.000 Einw.) Hauptstraße Nebenstraße
Städte und Verkehr
G
Z
Verpackungsstationen
Zitrusfruchtplantage Gewächshausfläche
Intensive Landwirtschaft
N10
Oulad Berhil
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der Tomate sind also für einige Akteure mittlerweile Bohnen zum Hauptprodukt geworden oder aber waren bereits Zielprodukt der Investition – hier sind insbesondere die verstärkt seit 2000 im Souss anzutreffenden spanischen Investoren zu nennen. Daneben gibt es jedoch auch marokkanische Produzenten, die sich seit einiger Zeit auf den Bohnenexport spezialisiert haben. Die Ware, die in den Verpackungsstationen aufbereitet wird, ist meist ein Konglomerat unterschiedlicher Herkünfte, wobei diverse Kombinationsmöglichkeiten existieren: Sie kann überwiegend oder ausschließlich aus der Produktion des entsprechenden (Export-)Unternehmens, des Stationseigentümers (sofern er als Privatperson agiert) oder den über eine Kooperative oder Zuliefererverträge an die Station angeschlossenen Produzenten stammen; sie kann darüber hinaus auch von Aufkäufern auf einem der Großmärkte (vorwiegend Inezgane oder Oulad Teima) oder direkt vom Feld zugekauft werden. Es gibt sowohl Stationen, die ausschließlich die eigene, an die Station angeschlossene Produktion aufbereiten, als auch Stationen, die ausschließlich zukaufen und nicht über eine angegliederte Produktion im Souss verfügen. Am häufigsten ist gegenwärtig noch eine Mischform aus Eigenproduktion und Zukauf anzutreffen, wobei die Konzentration auf die Eigenproduktion im Kontext von Qualitätsstandards tendenziell zunimmt. Stationen, die ausschließlich zukaufen, sind hingegen eher untypisch und werden nur von einzelnen europäischen Akteuren im Gemüsesegment betrieben. Der Kontakt zur Verpackungsstation und den an sie angebundenen Akteuren ist gerade für mittlere und kleinere sowie weniger integrierte Produzenten hinsichtlich ihrer Teilhabe am Export entscheidend. Kontakte können auf vielfältige Weise zustande kommen: Aufkäufer von Verpackungsstationen sind beispielsweise auf den verschiedenen regionalen (Groß-)Märkten im Souss präsent um Ware aufzukaufen, kommen teilweise aber auch direkt zu Landwirten auf das Feld. Die Verpackungsstation fungiert hier als zentrale Informationsquelle im Hinblick auf neue Entwicklungen in der Produktion, die Nachfrage nach verschiedenen Produkten oder aber Tendenzen im Export wie die Einführung von und das Wissen um Qualitätsanforderungen und Standards (Chemnitz 2007: 11-12). Auf der Ebene der Verpackungsstation entscheidet sich darüber hinaus insbesondere für die nicht institutionell in den Export eingebundenen Produzenten, ob und auf welche Weise sie Zugänge zum Exportmarkt erhalten und an möglichen Gewinnen partizipieren. Die Stationen wiederum können selbst bereits eine unabhängige Exporteinheit bilden oder aber größeren Exportkonglomeraten, den Exportgruppen, angeschlossen sein. Einige Stationen bieten neben der Aufbereitung der für die eigene Vermarktung bestimmten Ware auch Verpackungsdienstleistungen für unabhängige Akteure an, um die Kapazitäten der Station auszulasten. Oft nehmen eu-
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ropäische Akteure, die über eine unabhängige Vermarktung verfügen, jedoch (zunächst) nicht in eine eigene Verpackungsstation investieren wollen oder können, diese Form der Verpackungsdienstleistung wahr. Diese vielfältigen Möglichkeiten der Zusammensetzung der in den Stationen verpackten Exportware erschweren ihre ›eindeutige‹ Zuordnung, Klassifizierung und Quantifizierung – auch für die Kontrollinstanz des EACCE. Anhand der Eigentumsverhältnisse von Stationen lassen sich nichtsdestotrotz Rückschlüsse auf die Verteilung von Export- und Marktanteilen und damit auf Machtkonstellationen innerhalb des Exportsektors ziehen (vgl. ›Machtkonzentration: Produktion und Vermarktung‹). Das räumliche Verteilungsmuster der Verpackungsstationen, Gewächshäuser und Zitrusfruchtplantagen im Souss reflektiert allerdings nicht nur den ökonomischen Aufschwung im Kontext der Exportproduktion, sondern ist auch Spiegel der damit einhergehenden ungleichen Entwicklung: Insbesondere im Umkreis der Gewächshauskonzentrationen und Gemüseverpackungsstationen in Chtouka haben sich peri-urbane Agglomerationsräume fortschreitender Prekarisierung der ländlichen Bevölkerung herausgebildet. Innerhalb weniger Jahre entstanden in der Gemeinde Ait Amira zahlreiche Landarbeitersiedlungen slumähnlichen Charakters, die sich – worauf eine eigens von der Kommunalverwaltung in Auftrag gegebene Studie (DRSMD 2007) hinweist – zu sozialen Brennpunkten entwickelt haben. Diese Prozesse, auf die auch Bouchelkha bereits aufmerksam machte (Bouchelkha 2003b), hängen unmittelbar mit der starken Nachfrage nach in der Regel zu Mindestlöhnen oder darunter bezahlten Arbeitskräften durch die exportorientierte Landwirtschaft zusammen, die insbesondere in der Gewächshausproduktion und auf der Ebene der Verpackungsstationen entsteht. Während der Hochsaison können mehrere hundert, in Einzelfällen bis zu tausend Arbeitskräfte in einer Station beschäftigt sein. Ausgehend von den laut ORMVA/SM in der Gemüse- und Zitrusfruchtproduktion des Souss entstehenden jährlich rund 23,4 Millionen Arbeitstagen (ORMVA/SM 2012) kann die Zahl der Beschäftigten bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von acht Monaten à 25 Tage auf mittlerweile etwa 117.000 geschätzt werden.46 Offizielle Statistiken zu Landarbeitern und Angestellten in den Verpackungsstationen des Souss liegen nicht vor – es muss darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass ein relativ großer Teil der Arbeiter unangemeldet beschäftigt wird. Die Journalistin Cécile Raimbeau zitiert in der Zeitung Le Monde Diplomatique den Gewerkschaftsvertreter der Union Marocaine du Travail wie folgt: »Selon M. Lahoucine Boulberj, le responsable régional du secteur agricole UMT, ›sur les 70 000 ouvriers agricoles de la région [dont 70 % de femmes], 15 000 sont déclarés. Et encore! Beaucoup d’employeurs trichent sur le nombre d’heure!‹« (Raimbeau 2009; Kursivstellung im Original).
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Viele Tätigkeiten in der Exportlandwirtschaft sind geschlechtsspezifisch organisiert. So werden in den Verpackungsstationen besonders für die Aufgaben der Verpackung und Sortierung der Ware größtenteils Frauen angestellt, da sie – so eine gängige Begründung – die ›sensibleren Hände‹ hätten. Während eines Gesprächs äußerte sich der Leiter einer großen Gemüseverpackungsstation hierzu wie folgt: »In der Station sind es etwa 70 Prozent Frauen, in den Farmen würde ich sagen immerhin Hälfte-Hälfte. Viele Frauen sind für die Arbeitsschritte im Kontakt mit den Pflanzen angestellt, für die Arbeiten, die Feingefühl verlangen. Die schweren Arbeiten, die Beladung der Lastwagen, das Tragen der Kisten – das alles machen natürlich Männer. Aber im Allgemeinen stellen wir, wann immer möglich, Frauen an, denn sie arbeiten besser, sie sind sorgfältiger.« (Stationsleiter G.C., 2006)
In den Stationen und Farmen vor allem der großen Exportunternehmen sind darüber hinaus Ingenieure und Techniker für Aufgaben wie Qualitätskontrolle und -sicherung angestellt, so dass bis zu einem gewissen Grad auch eine Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften entsteht – in diesen Positionen sind häufig Absolventen der marokkanischen, agrarorientierten Studiengänge, wie sie der Complexe Horticole d’Agadir des Institut Agronomique et Vétérinaire Hassan II in Ait Melloul anbietet, anzutreffen. Export Im Anschluss an die Liberalisierung des Exportsektors 1986 hat sich eine diversifizierte Landschaft privatwirtschaftlicher Exportgruppen herausgebildet, die einem kontinuierlichen Wandel im Hinblick auf ökonomische Machtpositionen und Exportanteile unterliegt. Als ›Exportgruppen‹ können zunächst die im Obstund Gemüseexportsektor agierenden Institutionen bezeichnet werden, die sowohl von natürlichen als auch von juristischen Personen gegründet sein können, unterschiedliche Eigentumsverhältnisse ebenso wie Gewinnausschüttungsmechanismen reflektieren und verschiedene Strategien im Hinblick auf die Organisation der Arbeitsabläufe und ihre Integration in oder Auslagerung aus der Unternehmensstruktur verfolgen. Die ›Exportgruppe‹ (groupe exportateur) ist dabei aus Sicht vieler Akteure die zentrale organisatorische Einheit im Export – und ist darüber hinaus auch als systematisierende Kategorie in die Literatur zum marokkanischen Exportsektor eingegangen.47 Hier werden eine Reihe in Größe und juristischer Form voneinander abweichende Organisationsstrukturen nach zum Teil unterschiedlichen Kriterien als ›Exportgruppe‹ bezeichnet. Ausgangspunkt
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für die Charakterisierung ist in der Regel die Frage, welche Art von Akteur die verschiedenen, zur Exportlandwirtschaft zählenden Arbeitsschritte auf welche Weise übernimmt. Die meisten Autoren unterscheiden zwischen drei Organisationsstrukturen: Belkadi (2003: 205-207) und Aznar Sánchez (2004: 96-97) beispielsweise identifizieren erstens integrierte (filière intégrée bzw. grupos integrados) Exportgruppen, die über eine eigene Produktion sowie eine ausschließlich der gruppeneigenen Ware dienenden Verpackungs- und Vermarktungsstruktur verfügen; zweitens gemischte Exportgruppen (filière mixte bzw. grupos integrados mixtos), die zusätzlich zur eigenen Produktion auch zugekaufte Ware verpacken und vermarkten; sowie drittens nicht-integrierte Exportgruppen (filière nonintégrée bzw. grupos intermediarios), die über die für den Export notwendige Infrastruktur aber keine gruppeneigene Produktion verfügen. Auf der Basis ebendieser Kriterien differenzieren Aloui und Kenny (2005: 10) drei Formen von Wertschöpfungsketten (integrated, semi-integrated und traditional channel), sie unterteilen die Organisationsstrukturen jedoch darüber hinaus nach ihren Besitzstrukturen in private (private), Kooperativen-ähnliche (cooperativelike) und halb-staatliche (semi-public). Rastoin et al. (2008: 29-30) wiederum unterscheiden im Wesentlichen zwischen Exportgruppen in Form vertikal integrierter Unternehmen und Exportgruppen auf genossenschaftlicher Basis sowie Handelspartnern, die auf die Exportvermarktung für einzelne Produzenten spezialisiert sind. Auch Chemnitz und Grethe (2005: 6-7) differenzieren für den Tomatenexport zwischen (voll-) integrierten, semi-integrierten und nicht-integrierten Exporteuren. In der (voll-) integrierten Variante sind Produktion, Verpackung und Export in eine Organisationsstruktur zusammengefasst; hierzu zählen sie Unternehmen, die alle Teile der Wertschöpfungskette integrieren, ebenso wie Genossenschaften, die sich zu Exportgruppen zusammengeschlossen haben. Die semi-integrierte Organisation unterscheidet sich bei ihnen von der (voll-)integrierten in der Hinsicht, als dass zusätzlich eine Vermarktung auf Kommissionsbasis erfolgt, während die nichtintegrierten Exporteure nur auf Kommissionsbasis arbeiten. Einig sind sich alle genannten Autoren darin, dass die nicht-integrierten Exportformen stark an Bedeutung verloren haben, während integrierte Organisationsformen den Sektor zunehmend dominieren. Einzelne im Export auftretende Akteure können jedoch – je nach Typisierung – in unterschiedliche Kategorien fallen. Nicht zuletzt basieren die verschiedenen Systematisierungen nicht nur auf unterschiedlichen Kriterien, sondern bilden auch die Dynamik des Sektors ab, in dem nach 1986 Exportgruppen neu gegründet und zum Teil wieder aufgelöst wurden und sich Markt- und Exportanteile ebenso wie Strategien deutlich ver-
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ändert haben – neue Akteurskonstellationen gaben entsprechend Anlass für unterschiedliche Systematisierungen. Auch im vorliegenden Kontext kann auf die Exporteinheit der ›Exportgruppe‹ nicht verzichtet werden, sie wird jedoch mit dem Ziel einer besseren Systematisierung und adäquaten Erfassung den vielfältigen zwischen 2006 und 2009 angetroffenen Exportformen angepasst. Als Exportgruppe werde ich ausschließlich zwei Organisationsformen im marokkanischen Exportsektor bezeichnen: Erstens den Zusammenschluss von mindestens zwei unterschiedlichen Exporteinheiten (natürlichen oder juristischen Personen) oder zweitens die Ausgründung durch eine juristische Person, die in beiden Fällen das Ziel verfolgen, die logistischen und administrativen Abläufe im Export sowie die Vermarktung der zu exportierenden Ware zu gewährleisten. Diesem Verständnis entsprechend existieren sechs im Exportsektor des Souss aktive Exportgruppen, die meist sowohl Zitrusfrüchte als auch Gemüse exportieren und von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre gegründet wurden (Stand 2009).48 Sie versammeln oder vertreten jeweils zwischen drei und dreizehn Verpackungsstationen, die sich im Eigentum von Privatpersonen, Unternehmen oder Kooperativen befinden können und als deren Dienstleister sie auftreten. Einige von ihnen übernehmen diese Funktion auch für Stationen oder Akteure, die nicht an der Gründung selbst beteiligt waren. Die Beziehung zwischen Exportgruppen und Verpackungsstationen gestaltet sich also flexibel und kann je nach Agrarjahr variieren. In Abgrenzung dazu werden die zumeist von einer oder mehreren natürlichen Personen gegründeten Unternehmen, die sich dadurch auszeichnen, dass die Ebenen der Produktion, Verpackung und Vermarktung sowie weitere logistische und administrative Abläufe weitgehend oder ausschließlich unternehmensintern organisiert sind, nicht als ›Exportgruppen‹, sondern als ›Exportunternehmen‹ bezeichnet. Hier existiert eine große Bandbreite von Unternehmensstrukturen und -strategien, die aus unterschiedlichen Kontexten und Akteurskonstellationen heraus entstanden sind und die insbesondere in den 2000er Jahren stark zugenommen haben. Die Organisation des Exports ist darüber hinaus nach Gemüse- und Zitrussegment zu unterscheiden. Im Zitrussegment existiert zusätzlich zu den Exportgruppen eine weitere Ebene des Zusammenschlusses, und zwar zu den Exportkonglomeraten Fresh Fruit und Maroc Fruit Board,49 die jeweils mehrere Exportgruppen oder Exportunternehmen im oben beschriebenen Sinne versammeln und die Abwicklung und Gewährleistung des maritimen Transports und die Vermarktung in Länder mit Vertragsmärkten50 garantieren. Mit einer Ausnahme sind alle Zitrusfruchtverpackungsstationen entweder einer Exportgruppe oder aber direkt einem der beiden Exportkonglomerate angeschlossen.51 Der Gemüseexport ist durch den überwiegend über Kühltransporter erfolgenden Transport
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insgesamt durch eine größere Flexibilität charakterisiert. Es gibt zahlreiche individuelle Akteure, die direkt von der Verpackungsstation aus exportieren und keiner darüber hinausgehenden organisatorischen Einheit angeschlossen sind. Dies trifft besonders auf die verstärkt seit 2000 im Souss anzutreffenden europäischen Akteure zu. Die bereits bekannte Zweiteilung zwischen Zitrusfrüchten und Gemüse auf den Ebenen der Produktion und der Verpackung setzt sich schließlich auch im Hinblick auf die Bedeutung der Exportmärkte fort. Der Export der Zitrusfrüchte erfolgt fast ausschließlich über den maritimen Transport per (Container-)Schiff vom Hafen in Agadir aus und Russland ist mit einem Anteil von 44 Prozent das Hauptzielland (215.000 Tonnen, EACCE 2009b: 57-58). An zweiter Stelle folgen die Länder der EU mit insgesamt 39 Prozent (188.000 Tonnen). Innerhalb der EU verteilen sich knapp 80 Prozent der Tonnage auf die Niederlande (39 Prozent), England (21 Prozent) sowie Frankreich (18 Prozent). Geringere Mengen (14 Prozent, 67.000 Tonnen) werden nach Nordamerika und hier vor allem Kanada exportiert (51.000 Tonnen).52 Für die überwiegend auf dem Landweg per Kühltransporter transportierten Gemüse sind die Länder der EU mit einem Anteil von 93 Prozent der wichtigste Exportmarkt (729.000 von 787.000 Tonnen); nur knapp 5 Prozent gehen nach Russland53 und 2 Prozent in die Schweiz (EACCE 2009a: 56). Innerhalb der EU ist Frankreich der traditionell etablierte und nach wie vor zentrale Handelspartner: 2008/09 wurden 60 Prozent aller Gemüsesorten nach Frankreich exportiert (469.330 Tonnen, EACCE 2009a: 56). An zweiter, aufstrebender Stelle folgt mit 17 Prozent Spanien (134.220 Tonnen), dessen Importtonnage von frischem Gemüse aus Marokko sich seit Mitte der 1990er Jahre mehr als verzehnfacht hat (EACCE 2008c). Weitere Exportländer der EU sind England, die Niederlande und Deutschland, die jeweils einen Anteil von zwischen 3 und 5 Prozent haben. Ein Blick auf die unterschiedlichen Produkte und ihre Exportentwicklung zeigt darüber hinaus, dass Frankreich nicht nur allgemein, sondern auch für die meisten Gemüsesorten individuell das Hauptzielland darstellt. Der Klassiker ist wiederum die Tomate: Seit den 1970er Jahren gehen im Schnitt 75 Prozent der marokkanischen Tomatenexporte nach Frankreich und dabei insbesondere über den Großmarkt St. Charles in Perpignan (Redani 2003). Da seit einiger Zeit eine Marktdiversifizierung angestrebt wird, hat der Anteil Frankreichs in den letzten Jahren leicht abgenommen. Die Tomatenexporttonnagen in die anderen EULänder sind jedoch nach wie vor verhältnismäßig gering: Spanien und Großbritannien haben jeweils einen gewissen Zuwachs erfahren und liegen zwischen 5 und 7 Prozent (EACCE 2008b, EACCE 2009a: 1). Daneben ist Frankreich unter anderem auch für Melonen (84 Prozent), Zucchini (80 Prozent), Peperoni (78
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Prozent) und Mais (65 Prozent) das Hauptexportland (EACCE 2009a: 22/31). Zwei Produkte allerdings – Bohnen und Paprika – bilden hiervon eine Ausnahme. In den vergangenen zehn Jahren wurde der Export von grünen Bohnen stark ausgebaut und die Exporttonnage mehr als verzehnfacht (von 9.000 Tonnen 1997/98 auf 113.000 Tonnen 2008/09; EACCE 2008d: 4, EACCE 2009a: 9-14). Gegenwärtig gehen mehr als 50 Prozent der marokkanischen Bohnenexporte nach Spanien, während der Anteil Frankreichs bei annähernd gleicher Tonnage auf 27 Prozent zurückgegangen ist. Die Verschiebung der Anteile ist damit auf den Ausbau des spanischen Markts zurückzuführen, dessen Exporttonnage sich innerhalb von fünf Jahren verdoppelte (von 28.000 Tonnen 2003/04 auf 60.000 Tonnen 2008/09). Daneben wurden kleinere Mengen in die Niederlande (15 Prozent) sowie nach England und Portugal exportiert (je knapp 3 Prozent) (EACCE 2009a: 11, 2008a: 14). Auch der Paprikaexport wurde innerhalb von fünf Jahren mehr als verdoppelt (von 22.000 Tonnen 2003/04 auf 54.000 Tonnen 2008/09) und auch hier liegt der spanische Markt (36 Prozent) vor dem französischen (28 Prozent); die Anteile blieben jedoch seit 2003/04 konstant. Machtkonzentration: Produktion und Vermarktung Die exportorientierte Landwirtschaft im Souss ist durch einen hohen Konzentrationsgrad gekennzeichnet. Zwei Ebenen lassen sich dabei unterscheiden: die der Produktion und die der Vermarktung. Der Konzentrationsgrad auf der Ebene der Vermarktung ist insgesamt größer, da sie durch nochmals weniger zentrale Akteure dominiert wird, während sich die Produktionsebene durch Zulieferer- und Aufkaufbeziehungen diversifizierter gestaltet. Der nachfolgenden quantitativen Annäherung an Konzentrationsgrade auf den Ebenen von Produktion und Vermarktung im Souss möchte ich an dieser Stelle folgende Anmerkungen vorausschicken: In den Exportsektor sind einige zentrale Persönlichkeiten der marokkanischen wirtschaftlichen und politischen Elite verflochten, die teils in großem Maßstab in die Exportlandwirtschaft investiert haben und nach wie vor investieren, während es daneben einer Reihe von Akteuren gelungen ist, sich mit Hilfe der Exportlandwirtschaft in den Kreisen der Elite zu etablieren. Die Forschung zum marokkanischen Exportsektor ist also in Teilbereichen als Elitenforschung zu charakterisieren und unterliegt den damit verbundenen Grenzen sowohl hinsichtlich der Datenverfügbarkeit als auch der Möglichkeiten der Datenerhebung. Während es sich teilweise bereits als schwierig erwies, von staatlichen Institutionen (wie ORMVA/SM, CMV oder DPA) Daten zur Anzahl oder Größe von Betrieben zu bekommen, kann es als ausgeschlossen betrachtet werden, offizielle Auskünfte zu Eigentums- und Besitzverhältnissen oder getä-
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tigten Investitionen zu erhalten. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass Auskünfte nicht nur nicht gegeben werden ›wollen‹, sondern auch tatsächlich nicht gegeben werden können, weil Informationen zu den genannten Aspekten an keiner Stelle gebündelt vorliegen (wenn sie sich beispielsweise auf Unterbüros verteilen oder gar aber nicht systematisch erfasst werden). Informationen zum Konzentrationsgrad mussten somit zu großen Teilen selbst erhoben werden und sind entsprechend durch die eigenen Kapazitäten auf der einen und Auskunftswille und -fähigkeit der Gesprächspartner auf der anderen Seite begrenzt. Zentrale Mechanismen lassen sich vor diesem Hintergrund nur anhand qualitativer Fallbeispiele rekonstruieren – ein wesentlicher Ansatzpunkt, auf dem dieses Buch beruht (vgl. ›Integrationen‹). Um jedoch auch eine quantitative Einordnung der qualitativen Daten vornehmen zu können, wurde komplementär zur qualitativen Vorgehensweise eine halbstandardisierte Erhebung auf der Ebene der Verpackungsstationen durchgeführt (vgl. ›Einleitung‹). Diese Erhebung, die im Gemüsesegment auf einen Teil der Verpackungsstationen beschränkt bleiben musste, bildet die Datenbasis für die nachfolgenden Ausführungen, die zum Teil auf Hochrechnungen basieren. Aufgrund der geringeren Anzahl von Stationen kann für die Zitrusfrüchte ein vollständigeres Bild gezeichnet werden.54 Da Zitrusfrüchte und Gemüse, wie bereits deutlich wurde, in der Regel zwei gesonderten Produktions- und Exportstrukturen unterliegen, werden sie auch hier zunächst separat auf ihren Konzentrationsgrad sowie zu identifizierende Schlüsselakteure untersucht. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beteiligten Akteure durchaus in beiden Bereichen zugleich tätig sein können. Machtkonzentration: Zitrusfrüchte Im Souss sind gegenwärtig etwa 400 bis 500 Zitrusfruchtproduzenten über eine Unternehmensstruktur, eine Kooperative oder über eine institutionalisierte, das heißt auf einer schriftlichen Vereinbarung basierenden Zuliefererbeziehung in den Export integriert. Nicht eingerechnet sind hier die flexiblen, von Jahr zu Jahr variierenden Zulieferer- und Aufkaufbeziehungen, die quantitativ nur schwer abzuschätzen sind (vgl. ›Exklusionen‹). Von diesen 400 bis 500 Produzenten produzieren etwa zehn auf Flächen im Größenmaßstab zwischen 500 und 2.000 Hektar und verfügen damit über rund ein Drittel der Zitrusfruchtplantagen im Souss. Zu diesen ›Megaproduzenten‹ zählt das who is who der marokkanischen Elite:55 Neben dem Königshaus selbst (Domaines Agricoles) sind unter diesen dem Königshaus nahestehende Personen, wie der Cousin des Königs, zentrale Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, wie der amtierende Bürgermeister
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Agadirs, große Familienkonglomerate aus dem Souss sowie Investoren aus urbanen Zentren Marokkos.56 Weitere 50 Produzenten, die als ›Großproduzenten‹ charakterisiert werden können, verfügen jeweils über Flächen zwischen 100 und 500 Hektar und damit über ein weiteres Drittel der Produktion. Hierzu zählen insbesondere große Familienbetriebe und Investoren. Der Großteil, das heißt um die 300 bis 400 der in den Exportsektor eingebundenen Produzenten bewirtschaftet weniger als 100 Hektar. Die Art und Weise der Einbindung in den Exportsektor gestaltet sich insgesamt differenziert – eine Vielzahl von Kombinationen ist möglich. Große Produzenten treten tendenziell häufiger als Unternehmenschefs auf, sie sind jedoch prinzipiell auch in Kooperativen oder als vertragliche Zulieferer anzutreffen. Produzenten mittlerer und kleinerer Größe sind überwiegend als Mitglieder einer Kooperative oder als Vertragslieferer in den Export eingebunden. Um eine Aussage zum Konzentrationsniveau auf der Ebene der Marktanteile treffen zu können, wird nun auf die Exporttonnagen der Verpackungsstationen sowie – soweit möglich – die dahinter stehenden Eigentumsstrukturen geschaut. Aus logistischen und vermarktungsorientierten Gründen sind die Exportgruppen in der Regel einem der beiden Exportkonglomerate Maroc Fruit Board oder Fresh Fruit angeschlossen.57 Fresh Fruit hat dabei einen Anteil von etwa 43 Prozent am Zitrusfruchtexport und vertritt vier Exporteinheiten, während acht Exportgruppen bzw. Unternehmen über Maroc Fruit Board exportieren und zusammen einen Anteil von 51 Prozent am Export aus dem Souss haben.58 Acht der Stationen befinden sich im Eigentum von Kooperativen und sind einer Exportgruppe angeschlossen, während die restlichen zwölf Stationen von Privatpersonen oder Unternehmen betrieben werden und teils über eine Exportgruppe, teils direkt über eines der Exportkonglomerate exportieren. Mit jährlichen Tonnagen von knapp 5.000 bis zu 40.000 Tonnen variieren die Anteile der Zitrusfruchtstationen am Gesamtexport aus dem Souss zwischen 1 und 12 Prozent. Die Exporttonnage der rund 360.000 Tonnen Zitrusfrüchte verteilte sich 2007/08 äußerst heterogen auf die Stationen: Mehr als ein Drittel wurde alleine von den vier größten Stationen exportiert (vgl. Tab. 3-6). Im Hinblick auf die Eigentumsstrukturen, die durch die Verpackungsstationen repräsentiert werden, bedeutet dies, dass insgesamt etwa zehn zentrale Persönlichkeiten bzw. Familienverbünde die Vermarktung von Zitrusfrüchten aus dem Souss dominieren. Mit wenigen Ausnahmen decken sie sich mit den Produzenten, die auch selbst über Flächen von mehr als 500 Hektar im Souss verfügen.59 Während ihre eigene Produktion etwa ein Drittel der Flächen betrifft, exportieren und vermarkten diese zehn Akteure über ihre Unternehmensstruktur insgesamt knapp zwei Drittel aller Zitrusfrüchte aus dem Souss. Gegebenenfalls
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Tab. 3-6: Zitrusfruchtexport nach Verpackungsstationen Stationen
Zitrusfruchtexport
Anzahl
Anteil (%)
∑ Tonnage (t)
Anteil (%)
≤ 5.000 t
2
10
7.927
2,2
> 5.000 - ≤ 10.000 t
4
20
30.631
8,5
> 10.000 - ≤ 20.000 t
5
25
79.048
22,0
> 20.000 - ≤ 25.000 t
5
25
111.170
30,9
> 25.000 t
4
20
130.607
36,4
Insgesamt
20
100
359.383
100
Quelle: EACCE (2008e)
zusätzlich zur eigenen Produktion benötigte Ware wird von an die Station angeschlossenen Zulieferern geliefert und über das Exportunternehmen exportiert, jedoch meist – im Vergleich zur Kooperative – zu fest vereinbarten Konditionen und mit geringerer Gewinnbeteiligung. Die vier größten Stationen, die von Zitruskooperativen betrieben werden, exportieren und vermarkten im Gegenzug zusammen knapp ein Viertel der Zitrusfrüchte (24 Prozent) und vereinen an die 200 Produzenten. Wie erwähnt sind jedoch auch in den Kooperativen sehr große Produzenten vertreten, so dass auch auf dieser Ebene nochmals Formen der Konzentrationen ausgemacht werden können. Machtkonzentration: Gemüse Der Gemüseexport aus dem Souss gestaltet sich insgesamt vielfältiger als der Zitrusfruchtexport. Das Gemüsesegment ist durch eine größere Bandbreite von Produkten charakterisiert und verschiedene Akteure verfolgen unterschiedliche Strategien der Diversifizierung oder Spezialisierung. Hauptexportgemüse im Souss ist mit mehr als der Hälfte der Gemüsetonnage (56 Prozent) nach wie vor die Tomate, doch haben, wie oben ausgeführt, weitere Produkte (insbesondere Bohnen, Paprika und Zucchini sowie die ebenfalls häufig im Gewächshaus kultivierten Melonen) in den letzten Jahren einen starken Aufschwung erfahren. Laut Auskunft des ORMVA/SM gibt es im Souss etwa 2.500 Landwirte, die zumindest einen Teil ihres Gemüses für den Exportmarkt vermarkten.60 Obgleich Exporttomaten mittlerweile fast ausschließlich aus der Gewächshausproduktion stammen, ist diese Zahl nicht mit Gewächshausproduzenten gleichzusetzen, da produktspezifisch, wie im Fall von Bohnen oder Zucchini, auch im Freiland angebautes Gemüse exportiert wird. Das Vorhandensein eines Gewächshauses lässt im Gegenzug nicht zwangsläufig auf eine exportorientierte Produktion schließen, da einige Produzenten auch für den nationalen Markt im
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Tab. 3-7: Gewächshaustomatenproduktion im Souss Betriebe Anzahl < 2 ha
≤ 5 ha > 5 - ≤ 15 ha > 15 ha Insgesamt
83
≥ 2 - ≤ 5 ha
198
> 5 - ≤ 10 ha
103
> 10 - ≤ 15 ha
63
Produktion
Anteil (%)
Fläche (ha) 89
Anteil (%)
672
17,4
1.435
37,3
13,2
1.744
45,3
100
3.851
100
281
54,6
166
32,2
583 694 741
68 515
Quelle: Persönliche Auskunft ORMVA/SM 2008, ohne Jahresangabe.
Gewächshaus produzieren. Detailliertere Angaben zum Verhältnis zwischen (Export-)Gemüseproduzenten und bewirtschafteter Fläche können an dieser Stelle nur für den Tomatenanbau vorgenommen werden. Etwa 500 Betriebe im Souss bauen (unter anderem) Tomaten im Gewächshaus an (ORMVA/SM 2008) und rund 400 von diesen produzieren (auch) für den Exportmarkt (Chemnitz & Grethe 2005: 6). Mehr als die Hälfte sind als kleine, knapp ein Drittel als mittlere und etwa ein Achtel als große Betriebe einzuordnen (vgl. Tab. 3-7). Etwas mehr als ein Zehntel der Betriebe verfügt damit gemeinsam über fast die Hälfte der Flächen, während mehr als die Hälfte nur knapp ein Fünftel bewirtschaftet. Der damit für die Tomatenproduktion angedeutete Konzentrationsgrad ist allerdings im oberen Segment nochmals unterdifferenziert. Obgleich eine Gewächshausproduktion von 15 Hektar bereits als ›groß‹ klassifiziert werden kann, existiert im Souss eine Reihe von Akteuren, die in nochmals wesentlich größerem Maßstab Gemüse im Gewächshaus produzieren. So besitzen rund 20 Exportproduzenten Gewächshausflächen zwischen mehr als 100 und bis zu 600 Hektar Größe und verfügen damit alleine bereits über die Hälfte der 9.000 Hektar Gemüsegewächshausflächen im Souss. Zu den führenden Akteuren in dieser Riege der ›Megagewächshausproduzenten‹ zählen unter anderem zwei aus einer marokkanisch-französischen Partnerschaft heraus entstandene Unternehmen, die im Souss gegenwärtig auf etwa 450 und 600 Hektar Gewächshausfläche produzieren. Daneben fallen auch bereits aus dem Zitrusbereich bekannte Akteure wie die Domaines Agricoles, marokkanische Investoren und Familienkonglomerate sowie – im Unterschied zur Zitrusproduktion – europäische Unternehmen und Produzenten, die teils in Kooperation mit marokkanischen Partnern, teils individuell in Gewächshausproduktionen investiert haben, in diese Kategorie. Wie gestaltet sich über die Produktion hinaus das Konzentrationsniveau auf der Ebene der Verpackungsstationen und damit im Hinblick auf die Vermarktung im Gemüseexport? Hierfür werden nun die Gemüse exportierenden Verpackungsstationen im Hinblick auf die drei Hauptprodukte Tomaten, Paprika und
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Tab. 3-8: Tomatenexport nach Verpackungsstationen Stationen Anzahl
≤ 1.000 t
14
> 1.000 - ≤ 5.000 t
Tomatenexport
Anteil (%)
∑ Tonnage (t)
29,2
3.393
Anteil (%) 1,0
16
33,3
52.088
15,8
> 5.000 - ≤ 10.000 t
8
16,7
52.587
16,0
> 10.000 - ≤ 15.000 t
3
6,3
36.105
11,0
> 15.000 - ≤ 20.000 t
3
6,3
47.541
14,4
> 20.000 t
4
8,3
137.896
41,8
Insgesamt
48
100
329.610
100
Quelle: EACCE (2008e)
Bohnen untersucht, die zusammen rund 80 Prozent der Gemüseexporte aus dem Souss repräsentieren (EACCE 2009a). Wie im Fall der Zitrusfrüchte verteilen sich auch die Gemüse sehr heterogen auf die Stationen: Auf die vier größten Stationen konzentriert sich insgesamt ein Drittel der Hauptgemüseprodukte, während das Gros der Stationen (67 Stationen bzw. 79 Prozent) zusammen nur knapp ein Viertel der Ware exportiert (23 Prozent). Die vier größten Tomatenstationen mit Exporttonnagen von jeweils mehr als 20.000 Tonnen exportieren zusammen mehr als 40 Prozent der marokkanischen Tomaten (vgl. Tab. 3-8). Drei von ihnen gehören zu einer Unternehmensgruppe, in der wiederum eine Person 75 Prozent der Anteile hält. Für den Bohnen- und Paprikaexport zeigt sich ein ähnliches Bild: Etwas mehr als ein Zehntel der Stationen exportiert knapp zwei Drittel der Paprikatonnage und alleine vier der Bohnenstationen haben einen Anteil von mehr als einem Viertel am Bohnenexport (vgl. Tab. 3-9). Natürliche Ressourcen: Überausbeutung und Akkumulation »Comment faut-il faire pour que les acteurs-consommateurs adoptent un comportement responsable, pour qu’ils prennent conscience que leur intérêt privé ne peut pas aller à l’encontre du développement durable?« (ABH/SM o.J.: 22). Diese Frage bildete den Ausgangspunkt einer breiten öffentlichen Diskussion um die zunehmende Wasserknappheit im Souss, die sich in die 2006 von offizieller Seite angestoßene Débat national sur l’eau einreiht (MATEE 2006). Ungleiche Machtverhältnisse im Kontext der intensiven Exportproduktion werden nicht nur in den Konzentrationsniveaus der Produktion und Vermarktung reflektiert. Die Exportlandwirtschaft geht zugleich mit heterogenen Verteilungsmechanismen natürlicher Ressourcen im Kontext von Ressourcenknappheit – insbesondere der natürlichen Ressource Wasser – einher.
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Tab. 3-9: Paprika- und Bohnenexport nach Verpackungsstationen Stationen
Paprikaexport
Anzahl Anteil (%) ∑ Tonnage (t) Anteil (%)
Stationen Anzahl Anteil (%)
Bohnenexport ∑ Tonnage (t) Anteil (%)
≤ 100 t
35
50,0
993
2,3
22
28,2
827
> 100 - ≤ 500 t
18
25,7
5.865
13,4
16
20,5
3.658
4,3
8,6
10,5
1,0
> 500 - ≤ 1.000 t
5
7,2
3.740
13
16,7
9.036
> 1.000 - ≤ 2.000 t
4
5,7
5.414
12,4
11
14,1
15.833
18,4
> 2.000 - ≤ 5.000 t
7
10,0
20.307
46,5
12
15,4
31.882
37,1
> 5.000 t
1
1,4
7.336
16,8
4
5,1
24.666
28,7
70
100
43.655
100
78
100
85.902
100
Insgesamt Quelle: EACCE (2008e)
Wie im historischen Abriss aufgezeigt, ist die Souss-Ebene seit der kolonialen Erschließung in den 1940er Jahren durch eine Geschichte der intensiven, vor allem privatwirtschaftlichen Bewässerung geprägt, die frühzeitig mit einer Überausbeutung von Grundwasserressourcen einherging. Die daraus resultierende Absenkung des Grundwasserspiegels, die massive Austrocknung von Brunnen zur Bewässerung ebenso wie zur Trinkwasserversorgung sowie parallel erfolgende neue und stetig tiefere Bohrungen sind Prozesse, die bereits ab den 1960er Jahren wissenschaftlich wie auch seitens internationaler Organisationen dokumentiert wurden. Spätestens jedoch seit der Gründung der Agence du Bassin Hydraulique du Souss Massa (ABH/SM) im Jahr 2000 wurden zahlreiche Studien zur prekären Wasserlage im Souss von staatlicher Seite in Auftrag gegeben, durchgeführt und – oft öffentlich zugänglich – publiziert.61 Durch eine Vielzahl von Initiativen und Informationsveranstaltungen ist das Thema Wasser in der öffentlichen Wahrnehmung sehr präsent. Gegensteuernde Maßnahmen werden vielfach gefordert und wurden teils bereits verabschiedet,62 so dass ohne Zweifel ein Bewusstseinswandel zu beobachten ist, der jedoch bisher überwiegend auf der diskursiven bzw. legislativen Ebene verblieb, wie auch die Vertreter der ABH/SM kritisch unterstreichen: »Il y a donc urgence à agir, afin de palier les insuffisances de mise en application des lois existantes, tant au niveau des particuliers, industriels, agriculteurs, promoteurs immobiliers et autres, qu’au niveau des collectivités locales et autres organismes publics. [P]ar ailleurs, il convient de rappeler que la prise de la conscience de la gravité de la situation doit être collective et ne pas atteindre uniquement les organismes, publics et privés, intervenant directement dans ce domaine. En ce sens, la démarche de concertation et l’approche participative […] doivent être concrètes et réelles, et aller au-delà des discours et simples réunions d’information. L’implication de chaque usager de l’eau est
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essentielle et inévitable, sans quoi les démarches engagées par l’Administration risquent de s’avérer vaines.« (ABH/SM 2008a: 88)
Die Implementierung und dauerhafte Umsetzung eines nachhaltigen Ressourcenschutzes im Souss gestaltet sich jedoch äußerst komplex: Die aktuelle Wasserknappheit ist das Ergebnis eines vielschichtigen Zusammenspiels von ökologischen, sozioökonomischen sowie machtpolitischen Faktoren und muss dementsprechend in diesem Kontext untersucht werden. Für das offensichtliche Scheitern der marokkanischen Institutionen im Hinblick auf eine gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen im Souss ist der Einfluss der die prestigeträchtige und lukrative Exportproduktion dominierenden marokkanischen und europäischen Akteure von zentraler Bedeutung. Das Wassermanagement lässt sich im Kern auf eine politische Agenda zuspitzen, aus der eine weitgehende (Rechtspflichten-)Freiheit vor allem der privatwirtschaftlichen Akteure im Souss resultiert (Houdret 2010). In den folgenden Abschnitten wird zunächst die Entwicklung des Wassermanagements in der Region nachgezeichnet und dann auf institutionelle und machtpolitische Aspekte der Wasserverteilung eingegangen. Ausbeutung der Grundwasserressourcen Die Grundwasserkörper Souss und Chtouka bilden die zentralen Wasserressourcen der Souss-Ebene. Ihr Grundwassereinzugsgebiet erstreckt sich über insgesamt 5.090 Quadratkilometer mit Tiefen zwischen 50 und 500 Meter (ABH/SM 2005: 4). Obgleich sowohl der Trinkwasserbedarf im Zuge des demographischen Wachstums, die industrielle Wassernutzung als auch der Wasserverbrauch durch den Tourismus in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen sind, verzeichnet die Landwirtschaft mit einem Anteil von mehr als 90 Prozent nach wie vor den mit Abstand größten Wasserverbrauch (ABH/SM 2008b: 61/76).63 Der landwirtschaftliche Wasserverbrauch nahm im Verlauf des 20. Jahrhunderts exzessiv zu: Ausgehend von jährlich 8 Millionen Kubikmeter, die in den 1940ern der landwirtschaftlichen Nutzung dienten, stieg der Wasserbedarf bis in die 1960er Jahre bereits auf mehr als das Zehnfache (124 Millionen Kubikmeter 1969). Die Wasserentnahmen konzentrierten sich vor allem auf den Souss Amont und Aval. Knapp zehn Jahre später stieg die Grundwasserentnahme zu Bewässerungszwecken hier bereits auf 370 Millionen Kubikmeter, um bis zur Gegenwart auf 668 Millionen Kubikmeter pro Jahr zu wachsen. Zwischen 1985 und 2003 entspricht dies einem jährlichen Anstieg von 8 Millionen Kubikmeter, welcher der ökonomischen Logik des Ausbaus der intensiven Landwirtschaft folgte: »Cette augmentation s’est faite de manière continue, indépendamment de l’hydraulicité
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de l’année ou des changements des techniques d’irrigation. Ceci implique qu’ils sont significativement régis par les enjeux économiques et par la dynamique des activités et des investissements agricoles dans la plaine« (ABH/SM 2008b: 60). Zeitlich versetzt begann Anfang der 1970er Jahre die Ausbeutung des Grundwassers in Chtouka, die sich bis 2007 von etwa 10 auf 81 Millionen Kubikmeter verachtfachte (ABH/SM 2005: 5-9, ABH/SM 2008b: 61). In Anbetracht variierender jährlicher Niederschlagsmengen zwischen 100 und 250 Millimeter (ABH/SM 2008b: 4) sowie mehrfachen, teils über mehrere Jahre andauernden Dürreperioden64 ist die Grundwasserbilanz der Souss-Ebene seit den 1970ern kontinuierlich defizitär.65 Im Schnitt verzeichnet die Grundwasserschicht des Souss seit vier Jahrzehnten ein jährliches Defizit von 228 Millionen Kubikmeter und seit 1997 muss auch für die Chtouka-Schicht eine schnell ansteigende negative Bilanz konstatiert werden, die 2006 58 Millionen Kubikmeter erreichte. Dabei wurde neben den erneuerbaren Wasserressourcen auch auf fossile Reserven zugegriffen, die sich nur langsam oder gar nicht erneuern: Im Zeitraum zwischen 1968 und 2003 erfolgte alleine für die Grundwasserschicht des Souss eine Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen des Grundwasserreservoirs von 7 Milliarden Kubikmeter (ABH/SM 2005: 16); dies führte zu einem jährlichen Absinken der Grundwasserschichten um etwa 1 Meter in Chtouka bzw. um mehr als 2 Meter im Souss-Tal, stellenweise wurden sogar bis zu 7 Meter innerhalb eines Jahrs dokumentiert (ABH/SM 2007: 9, ABH/SM 2008b: 8). Der Grundwasserspiegel in der Souss-Ebene variiert gegenwärtig stark: An einigen Stellen liegt das Grundwasser noch bis zu 25 Meter tief; hier sind vor allem die Randgebiete der Ebene zu nennen, die teils an die Atlantikküste und die umliegenden Bergregionen grenzen oder in diese hineinreichen. Im südlichen Teil Chtoukas sowie östlich von Taroudant den Lauf des Oued Souss umgebend liegen die Grundwasserspiegel teils bis zu 25 Meter, teils zwischen 25 und 50 Meter. In den Zentren der intensiven Exportproduktion, das heißt im nördlichen Teil Chtoukas um Biougra sowie in der Region zwischen Oulad Teima und Sebt El-Guerdane, ist der Grundwasserspiegel fast flächendeckend auf mehr als 50 Meter abgesunken, bei Sebt El-Guerdane liegt er aktuell in 175 Meter Tiefe (ABH/SM 2008a: 20). 2007 wurde zur Bewässerung von insgesamt 120.000 Hektar Land auf rund 950 Millionen Kubikmeter Wasser, davon 750 Millionen Kubikmeter Grundwasser und 200 Millionen Kubikmeter Oberflächenwasser, zurückgegriffen (Zone des ORMVA/SM; ABH/SM 2008b: 59-61). Privat bewässerte landwirtschaftliche Betriebe liegen dabei an der Spitze: Sie belegen flächenmäßig um die 50.000 Hektar Land und konsumieren mit fast 600 Millionen Kubikmeter alleine 80 Prozent der Grundwasserreserven. Etwa 70.000 Hektar Land sind als Bewässerungsgebiete zu charakterisieren, die über die an-
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grenzend an die Ebene errichteten Staudämme66 teils mit Oberflächenwasser, teils mit einer Kombination aus Oberflächen- und Grundwasser bewässert werden. Sie konsumierten etwa 200 Millionen Kubikmeter Oberflächen- und 150 Millionen Kubikmeter Grundwasser (ABH/SM 2008b: 58-62). Im Hinblick auf die Bewässerungsmethoden überwiegt mit 43 Prozent nach wie vor die Gravitationsbewässerung; etwa ein Fünftel der Flächen wird per Aspersion bewässert und etwas mehr als ein Drittel per Tröpfchenbewässerung (ABH/SM 2008b: 79). Eine Studie, die die ABH/SM im Jahr 2003 zur Erfassung der Grundwassernutzung in der Souss-Ebene durchführte, zählte insgesamt 12.144 Grundwasserentnahmestellen. Von diesen dienten 789 der Trinkwasserversorgung und industriellen Nutzung mit einem Verbrauch von 36 Millionen Kubikmeter. Über die übrigen 11.355 Bohrlöcher verfügten etwa 9.500 landwirtschaftliche Betriebe mit einer Grundwasserentnahme von knapp 700 Millionen Kubikmeter; nur etwa ein Fünftel dieser Bohrlöcher war mit einer offiziellen Genehmigung gebohrt worden, vier Fünftel hingegen wurden illegal errichtet.67 Der landwirtschaftliche Grundwasserverbrauch konzentrierte sich 2003 schwerpunktmäßig auf acht Gemeinden im nördlichen Teil Chtoukas, zwischen Oulad Teima und Taroudant sowie um Oulad Berhil, in denen jeweils eine jährliche Grundwasserentnahme zwischen 30 und 50 Millionen Kubikmeter ermittelt wurde.68 Das ehemalige Zitrusfruchtproduktionszentrum Sebt El-Guerdane ist hier bereits nicht mehr vertreten: Infolge der jahrzehntelangen Überausbeutung waren selbst sehr tiefe Bohrungen in mehr als 300 Meter Tiefe nicht mehr erfolgreich, so dass die Plantagenflächen zwischen 1996 und 2003 um ein Drittel zurückgingen (von 16.350 auf 11.950 Hektar; ABH/SM 2005: 20-21). Im Gegenzug wurde massiv in neue Zitrusfruchtplantagen um Oulad Berhil investiert und die Fläche dort innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Im Zuge der Grundwassererschöpfung in Sebt El-Guerdane erfolgte damit ab Mitte der 1990er Jahre eine Verlagerung des Produktionszentrums innerhalb der Souss-Ebene nach Oulad Berhil. Der Blick auf die Produktions- und Exportzahlen zeigt darüber hinaus eine deutliche Verschiebung der Landwirtschaft im Souss innerhalb von nur fünf Jahren (2001/02-2006/07; ORMVA/SM 2006a, 2007a) (vgl. Tab. 3-10). Trotz der bereits alarmierenden Wasserlage in der Ebene wurde die bewässerte Landwirtschaft in den 2000er Jahren weiter ausgebaut, und zwar sowohl für die exportorientierte Obst- und Gemüseproduktion als auch für die Futterkultur Mais. Letztere, deren Anbau versechsfacht wurde, ist insbesondere im Zusammenhang mit der Milchproduktion im Rahmen der Milchkooperative COPAG69 zu sehen, die in den vergangenen Jahren einen starken Zuwachs erfahren hat. Während auch der Anbau von Zitrusfrüchten, insbesondere in der Region Oulad Berhil,
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Tab. 3-10: Entwicklung der Landwirtschaft im Souss (2001-2007) 2001/02 (ha)
Getreide
2006/07 (ha)
119.121
30.186
23.992
14.515
11.913 4.735 4.772 2.572
7.338 3.505 2.596 1.076
95.129
15.671
58.301 4.560 32.268
10.042 808 4.821
Futterkulturen
12.057
19.892
Luzernen
10.346
9.748
1.595
10.024
Bewässert Weichweizen Hartweizen Gerste Mais
Regenfeldbau Weichweizen Hartweizen Gerste
Futtermais Sonstige
116
120
Gemüse
16.782
24.339
Frühgemüse
10.937
15.904
5.219
8.997
3.253 476 1.490
4.348 1.003 3.646
5.718
6.907
549 1.601 3.568
205 1.100 5.602
5.845
8.435
1.327 1.003 3.515
1.245 1.047 6.143
Baumkulturen
57.257
61.068
Zitrusfrüchte
29.507
31.796
10.731 4.406 9.554 4.816
12.659 4.748 9.109 5.280
Gewächshaus Tomaten Paprika Sonstige
Freiland Tomaten Kartoffeln Sonstige
Saisongemüse Kartoffeln Wassermelonen Sonstige
Clementinen Navel Maroc-Late Sonstige
Olivenbäume
17.820
19.152
Mandelbäume
7.442
7.398
Sonstige
2.488
2.722
Bananen
3.297
3.988
3.027 270
3.784 204
208.514
139.473
Gewächshaus Freiland
Insgesamt Quellen: ORMVA/SM (2006a, 2007a)
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ausgebaut wurde, wurde allen voran in den Gemüseanbau investiert, der um 45 Prozent von 16.780 auf 24.340 Hektar anstieg. 2.590 Hektar dienten dabei dem Ausbau saisonaler Gemüsesorten; investiert wurde jedoch maßgeblich in den Frühgemüseanbau, der im Gewächshaus einen Zuwachs um 72 Prozent erfuhr. Der Vergleich mit der Entwicklung der Exporttonnagen aus dem Souss lässt zugleich darauf schließen, dass ein Großteil dieser Investitionen auf den Export abzielte: Innerhalb von fünf Jahren (hier 2003/04-2008/09; EACCE 2008a, 2009a) stieg die Gemüseexporttonnage aus dem Souss um 76 Prozent; dabei wurde der Paprikaexport fast verdreifacht, der Tomatenexport annähernd verdoppelt und auch Melonen-, Bohnen- und Zucchiniexport erfuhren einen deutlichen Anstieg (vgl. Abb. 3-2).70 Im Gegenzug ist seit Anfang der 2000er Jahre ein starker Rückgang der nicht-bewässerten Landwirtschaft zu verzeichnen (ORMVA/SM 2006a, 2007a). Aufgrund der klimatischen Bedingungen im Souss wurde traditionell Getreide im Regenfeldbau kultiviert, wobei Ernten je nach Regenlage stets höher oder niedriger ausfielen. Die im Regenfeldbau kultivierten Flächen im Souss gingen zu Beginn der 2000er Jahre von um die 100.000 auf etwa 70.000 Hektar (2006) zurück und auch die Erträge waren mit im Schnitt 500 Kilogramm pro Hektar bereits gering. Von 2005/06 auf 2006/07 sank die im Regenfeldbau bestellte Fläche auf 16.000 Hektar und es waren praktisch keine Erträge mehr zu verzeichnen. Die Zahlen des ORMVA/SM verweisen dabei nicht nur auf den quantitativen Rückgang des Regenfeldbaus, sondern auch auf den Niedergang einer Kulturpraxis. Zwar unterliegt der Getreideanbau im Regenfeldbau in Marokko stets erheblichen Schwankungen (DEPF 2008: 8) und wird in regenreichen Jahren auch revitalisiert, er ist jedoch mittlerweile in weiten Teilen der Ebene zum Erliegen gekommen oder stark rückläufig (vgl. ›Exklusionen‹). Wassermanagement: Institutionelle und machtpolitische Aspekte Houdret (2010) untersucht in ihrer Analyse der marokkanischen Wasserpolitik am Beispiel des Souss den Umgang der staatlichen Institutionen im Wassermanagement mit der sich ihnen stellenden doppelten Herausforderung: den dringenden Problemen der Wasserknappheit auf der einen sowie den internen Umstrukturierungen im Zuge des geforderten Rückzugs staatlicher Institutionen im Rahmen von Liberalisierungsprozessen auf der anderen Seite. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es den zuständigen öffentlichen Institutionen des Wassersektors (im Wesentlichen ORMVA/SM und ABH/SM) trotz der offenkundigen Dringlichkeit der Problematik bisher nicht gelungen ist, ein nachhaltiges Ressourcenmanagement voranzubringen. Dieses Scheitern, so zeigt ihre Analyse, ist
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Abb. 3-2: Anstieg des Gemüseexports aus dem Souss (2003-2009) 2003/04 2008/09
Tomaten
Souss Marokko
Bohnen (Vert und Helda)
Paprika Zucchini Melonen Sonstige Gemüse Insgesamt 0
100
200
300
400
500
600
700
800
Export Quellen: EACCE (2008a, 2009a)
(in 1.000 Tonnen)
Resultat einer politischen Agenda, die durch eine Reihe anscheinender Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet ist und damit zugleich eine weitgehende Handlungsfreiheit allen voran der privatwirtschaftlichen Akteure befördert (vgl. Houdret 2010: 133-145/166-176). Die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine prinzipiell gerechtere Wasserverteilung und -nutzung wurden bereits seit Mitte der 1990er Jahre auf nationaler Ebene geschaffen und neue, für eine effektive Kontrolle und Umsetzung der rechtlichen Grundlagen notwendige, öffentliche Institutionen eingerichtet. Der normative und legislative Rahmen des Wassermanagements in Marokko wurde im 1995 verabschiedeten ›Loi 10-95 sur l’eau‹ neu definiert und in den folgenden Jahren in Teilbereichen erweitert.71 Damit sind alle Aspekte der Wassernutzbarmachung, des Wasserkonsums sowie der Abwasserentsorgung grundsätzlich gesetzlich geregelt. Ihrer Implementierung dienen insbesondere die sieben zwischen 1997 und 2002 eingerichteten Agences du Bassin Hydraulique, darunter auch die 2000 gegründete ABH/SM. Im Rahmen des Wassergesetzes wurde unter anderem erstmalig eine Begrenzung des Wasserkonsums für den landwirtschaftlichen Sektor vorgesehen, so dass eine Ausdehnung bewässerter Flächen in Regionen mit starker Übernutzung von Wasserressourcen verboten wurde – eine Regelung, die auch auf den Souss hätte angewendet werden müssen. Gleichzeitig wurden wassersparende Techniken wie die Tröpfchenbewässerung verstärkt gefördert und seit 2006 mit 60 Prozent staatlich subventioniert. Die Dekrete N° 2-97-178 und N° 2-97-487 aus den Jahren 1997 und 1998 sollten darüber hinaus die Grundwasserentnahme besser erfassen und reglementie-
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ren, indem jede Bohrstelle genehmigt werden und über einen Zähler verfügen muss, zu dem eine der beiden Wasserbehörden, ORMVA oder ABH, Zugang hat. Den gesetzlichen Regelungen steht allerdings eine nur mangelhafte finanzielle und personelle Ausstattung der Kontrollinstanzen gegenüber, die damit nicht nur durch eine geringe Durchsetzungskraft, sondern auch durch eine fehlende politische Rückendeckung gekennzeichnet sind. Eine effektive Implementierung und Kontrolle bestehender Vorschriften wird damit faktisch unmöglich. Dies zeigt exemplarisch die Kontrolle von Bohrlöchern zur Verhinderung illegaler Bohrungen durch die dafür zuständige ›Wasserpolizei‹ (police de l’eau): Für ihr 27.000 Quadratkilometer großes Einsatzgebiet verfügt die ABH/SM, so die Auskunft eines Mitarbeiters, gerade einmal über zwei Angestellte, die für die Kontrolle von Brunnenbohrungen zuständig sind – Bohrungen ohne offizielle Genehmigung seien daher nach wie vor weit verbreitet.72 De facto findet also weder eine kontinuierliche Erfassung noch eine Kontrolle der entnommenen Grundwassermengen statt (Houdret 2010: 169). Zivilgesellschaftliche Akteure und Landwirte im Souss weisen zugleich immer wieder auf Formen von Bestechung und Korruption wie die bevorzugte Behandlung ausgewählter Landwirte hin – Bestrebungen der Mitarbeiter der Wasserinstitutionen, Formen der Korruption zu bekämpfen, können jedoch unter Umständen direkt am Widerstand der Vorgesetzten scheitern (Houdret 2010: 168). Diese weit verbreitete Missachtung der rechtlichen Grundlagen wird dabei nicht nur in persönlichen Gesprächen geäußert, sondern auch in offiziellen Dokumenten angemerkt: »Le Maroc dispose désormais d’un arsenal juridique conséquent, régissant les ressources en eau sur l’ensemble du territoire. [M]ais la question reste cependant posée du respect de cette réglementation et des difficultés rencontrées par les différentes autorités responsables, quant à sa diffusion et sa mise en application. Le cas de la police de l’eau est un exemple parmi d’autres. Les manquements au respect des textes réglementaires sont récurrents, ce qui n’est pas sans conséquence sur la gestion actuelle des ressources en eau. Ces manquements sont visibles et bien connus.« (ABH/SM 2008a: 88)
Nicht zuletzt entziehen sich gerade die größten Wasserkonsumenten im Souss – die privatwirtschaftlichen Betriebe – weitgehend der staatlichen Kontrolle: Zwar müssen private Brunnenbohrungen dem Gesetz gemäß kontrolliert werden, privat ausgestattete Flächen unterliegen jedoch keiner klar definierten Kontrolle. Denn privat bewässerte Flächen unterstehen nicht den ORMVA, deren Aufgabenbereich sich auf die staatlichen Bewässerungsgebiete beschränkt, und nur sehr begrenzt dem von der ABH/SM erarbeiteten regionalen Wassernutzungs-
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plan (Houdret 2010: 168-169). Weder die ORMVA noch die ABH/SM verfügen also über die nötigen Kapazitäten und die politische und physische Durchsetzungskraft, den Wasserkonsum der privaten Investoren in der Landwirtschaft zu überwachen. Die trotz des seit 2001 bestehenden Verbots erfolgte privatwirtschaftliche Ausweitung der bewässerten Agrarflächen ist in diesen Zusammenhang einzuordnen. Die Versäumnisse im Wassermanagement spiegelten allerdings, so Houdrets Resümee, nicht nur Überforderung und mangelnde finanzielle Ausstattung, sondern gleichermaßen eine »Haltung des ›laisser faire‹ durch den Zentralstaat des Makhzen« wider (Houdret 2010: 170). Wie auch von Vertretern der zuständigen Ministerien in offiziellen Dokumenten angesprochen,73 unterlägen die öffentlichen Institutionen im Wassersektor einer soziopolitischen Einflussnahme, die ihren Handlungsspielraum maßgeblich einschränkten. Damit dränge sich der Eindruck auf, »[...] dass die [...] Imperative des Ressourcenschutzes und der Liberalisierung zwar auf nationaler Ebene und in Absprache mit internationalen Gebern verabschiedet wurden, aber weder den Prioritäten auf lokaler Ebene entsprechen, noch zwangsläufig den weniger offen formulierten Interessen des Makhzen entgegen kommen« (Houdret 2010: 172).
F AZIT : D ER S OUSS
IM GLOBALEN
A GRI -F OOD -S YSTEM
Die Geschichte der Exportproduktion im Souss liest sich seit den 1940er Jahren als eine Geschichte der kontinuierlichen Expansion, in deren Zuge die Obst- und Gemüseproduktion stetig intensiviert und ausgebaut wurde. Bis heute ist die Souss-Ebene das unangefochtene Obst- und Gemüseexportzentrum Marokkos. Vor dem Hintergrund der französisch-kolonialen Erschließung der Ebene während der Protektoratszeit hat der erste Teil dieses Kapitels aufgezeigt, auf welche Weise die in den 1940er Jahren begründeten Produktionsmuster die Exportlandwirtschaft bis in die Gegenwart hinein strukturieren. Dies zeigt sich in der Auswahl der Anbaukulturen, ihrer räumlichen Verteilung sowie der nach wie vor wichtigsten Zielregion für den Export, dem europäischen Markt. Die Produktion war zugleich bereits von Beginn an durch erhebliche externe, nicht aus der Region stammende Investitionen gekennzeichnet, die den Sektor auch gegenwärtig noch dominieren. Nach der Unabhängigkeit Marokkos waren agrarpolitische Entscheidungen auf nationaler Ebene und landwirtschaftliche Produktion im Souss eng miteinander verflochten. So steuerte die Staudammpolitik unter Hassan II den Ausbau der Bewässerungslandwirtschaft im Souss, allen voran im Kontext des größten marokkanischen Bewässerungsprojekts Massa, während die Exportorientierung
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im Zuge der Liberalisierung des Exportsektors und der Etablierung privatwirtschaftlicher Exportgruppen eine deutliche Professionalisierung und Dynamisierung erfuhr. Für die kostenintensive Gewächshausproduktion erwiesen sich Zugänge zu ökonomischen Ressourcen frühzeitig als Mechanismen der Partizipation oder Exklusion; gleichzeitig wurden von staatlicher Seite aus Anreize geschaffen, die die (Export-)Landwirtschaft zu einer attraktiven Kapitalanlage für marokkanische Investoren werden ließen. Der expandierende Exportsektor war dabei nicht nur auf der Ebene der Produktion maßgeblich durch externe Akteure und Kapitalflüsse gekennzeichnet. Auch die im Kontext der Intensivierung der Landwirtschaft entstandene Nachfrage nach Arbeitskräften entfaltete einen Migrationssog, in dessen Folge die Emigrationsregion Souss zugleich zur Zielregion von Binnenmigration innerhalb Marokkos wurde. Die Exportproduktion im Souss, so zeigte der zweite Teil des Kapitels, unterscheidet sich gegenwärtig deutlich von der Landwirtschaft in anderen Regionen Marokkos. Ihr technisches Niveau, der Anteil der zunehmend über Zugänge zu Exportmärkten entscheidenden privatwirtschaftlichen Zertifizierungen und der Grad der professionellen Organisation sind wesentlich höher als in anderen Teilen des Lands. Der Exportsektor bildet – vom Anbau über die Verpackung bis hin zu Export und Vermarktung – ein Netzwerk aus verschiedenen Arbeitsschritten, in das unterschiedliche Akteure und Zusammenschlüsse von Akteuren eingebunden sind. Einfluss und Macht im Export sind zugleich hochgradig konzentriert. Der Exportsektor wird von einer kleinen Gruppe von ›Megaproduzenten‹ dominiert, die zur politisch-ökonomischen Elite Marokkos zu zählen sind. Diese wechselseitigen Verflechtungen zwischen Exportlandwirtschaft und politischer Einflussnahme verweisen auf die Bedeutung des Sektors innerhalb des marokkanischen Machtgefüges. Im 2008 lancierten Plan Maroc Vert wurde die auf Großbetriebe und Exportorientierung ausgerichtete Agrarpolitik bekräftigt und zur tragenden Säule der zukünftigen landwirtschaftlichen Entwicklung Marokkos erklärt. Ein zentrales Instrument dieser Politik sind neue Formen des öffentlich-privaten Ressourcenmanagements. Hier erfolgen gegenwärtig weitreichende Neu- und Umverteilungen von Zugängen zu Land und Wasser, die machtstrategisch genutzt werden. Auf der internationalen Ebene wird diese Agrarpolitik seit einiger Zeit von einer intensiveren Einbindung in internationale Handelsbeziehungen und damit einhergehende Verpflichtungen komplementiert. Das Freihandelsabkommen mit den USA steht dabei für die Neuausrichtung der Außenhandelsbeziehungen Marokkos – angesichts diverser Beschränkungen ist jedoch gegenwärtig nicht von einer Breitenwirkung für den Obst- und Gemüseexportsektor auszugehen. Die
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handelspolitischen Beziehungen zur EU bleiben damit nach wie vor von essentieller Bedeutung für den Erfolg der exportorientierten Agrarstrategie. Die Exportmöglichkeiten von frischem Obst und Gemüse in die EU sind Gegenstand eines seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich geführten Aushandlungsprozesses zwischen Marokko und der EU. Obgleich die Exportkontingente in den vergangenen Jahren sukzessive ausgeweitet wurden, werden die Möglichkeiten zu exportieren seitens der EU nach wie vor begrenzt. Der Export von frischem Obst und Gemüse aus dem Souss ist damit sowohl in seiner Quantität und Koordinierung als auch mit Blick auf Preisbildungsprozesse eine durch die politischen Institutionen der EU sowie das marokkanische EACCE gesteuerte Warenkette. Innerhalb dieses institutionellen Rahmens wirken auf einer zweiten Ebene schließlich weitere Akteure – allen voran die europäischen Einzelhandelsketten – steuernd auf Abläufe und Entscheidungen im Obst- und Gemüseexport ein.
Integrationen
Beim Durchqueren wirkt die im Südwesten Marokkos gelegene Souss-Ebene augenscheinlich ebenso flach wie homogen: Über 100 Kilometer hinweg erstrecken sich – von Aoulouz aus kommend – zunächst Zitrusfruchtplantagen soweit das Auge reicht. Nach und nach, je mehr man sich dem Atlantik nähert, werden sie zunehmend durch Gewächshäuser unterbrochen und schließlich ganz verdrängt. Die intensive, exportorientierte Landwirtschaft findet hinter Plastik und Mauern statt, Plantagen und Gewächshäuser sind vielfach durch hohe Umgrenzungen aus Stein oder Hecken abgeschottet, vor neugierigen oder auch nur interessierten Blicken geschützt. Erst der Blick aus der Vogelperspektive – beim Landen mit dem Flugzeug in Agadir oder dem Heranzoomen in google earth – offenbart die Fragmentierung der von Sand- und Erdtönen geprägten Landschaft und lässt das Ausmaß der Zitrusfruchtplantagen, die mitunter flächendeckende Ausbreitung der Gewächshäuser und die zahlreichen Wasserbassins erkennen. Wer jedoch sind die Menschen, die diese Landwirtschaft betreiben – welche Geschichten verbergen sich hinter und zwischen den Plastikplanen und den die Plantagen begrenzenden Mauern? Der Export von Gemüse und Zitrusfrüchten aus dem Souss lässt sich als ein Netzwerk komplexer, in das globale Agri-Food-System der Produktion und Konsumtion von frischem Obst und Gemüse eingebundener Vorgänge darstellen, die im vorangegangenen Kapitel quantifiziert und mit einer historischen Einordnung komplementiert wurden. Diese Vorgänge werden von unterschiedlichen Akteuren gesteuert, die zusammen ein hochdynamisches Akteursfeld bilden und die, mit unterschiedlichen Handlungsspielräumen ausgestattet, ihre Aktionsräume kontinuierlich neu verhandeln. Während es manchen von ihnen gelingt, Handlungsspielräume hinzuzugewinnen, werden andere in ihren Handlungsspielräumen tendenziell beschränkt. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, dieses Akteursfeld, die Handlungsräume der Akteure und deren Ausdifferenzie-
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rung zu analysieren. Dabei liegt der Fokus zunächst auf den institutionell in den Export – das heißt mindestens über eine vertraglich vereinbarte Zuliefererbeziehung – eingebundenen Akteuren. Sie können sowohl als natürliche (›Produzenten‹, ›Landwirte‹, ›Investoren‹) als auch als juristische Personen (›Unternehmen‹,1 ›Kooperativen‹, ›Exportgruppen‹) auftreten. In der Exportlandwirtschaft im Souss haben sich, so argumentiere ich, in den vergangenen Jahrzehnten zu verschiedenen (historischen) Momenten und an unterschiedlichen Orten Zeitfenster ergeben, in denen sich für verschiedene Akteure unterschiedliche Chancen eröffnet haben. Einigen Akteuren gelang es, diese Chancen zu ergreifen, manche von ihnen konnten sie für eine positive Entwicklung ihrer Betriebe und Familien nutzen und sich im marokkanischen Exportsektor etablieren. Sie starteten dabei mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und verfolgten eine Bandbreite von Strategien, um ihre Handlungs- und Gestaltungsräume innerhalb der exportorientierten Landwirtschaft zu erweitern und zu festigen. Das Kerninteresse des Kapitels ist eine ›dichte Beschreibung‹ (Geertz 1987) dieses Panoramas von Akteuren. Es portraitiert damit die Akteure, die gegenwärtig zu den ›Gewinnern‹ der marokkanischen Exportlandwirtschaft zählen: Es werden Exportlandwirte, -unternehmer und Investoren vorgestellt, denen es gelungen ist, am Aufstieg der Souss-Ebene zum nationalen Exportzentrum und zur drittwichtigsten Wirtschaftsregion Marokkos zu partizipieren – mitunter haben sie selbst maßgeblich zu diesem beigetragen. Für viele von ihnen ist der Aufschwung der Region gleichermaßen mit einer persönlichen, nicht nur ökonomischen, sondern oft auch sozialen Erfolgsgeschichte verbunden. Sie sind – um Boecklers Charakterisierung der Figur des ›Unternehmers‹ aufzugreifen – die Helden der exportlandwirtschaftlichen Entwicklung im Souss und zugleich die Dämonen der durch sie geschaffenen sozialen Ungleichheit (Boeckler 2005: 11). Das Kapitel untergliedert sich in drei Teile: Der erste Teil zeigt, wie sich die angesprochenen Akteure in ihrer Geschichte und Herkunft unterscheiden. Der zweite Teil charakterisiert ihre gegenwärtige Position und Handlungsmacht im Export. Der dritte Teil schließlich zeigt, auf welche Weise sich auch die Handlungsspielräume der in den Export integrierten Akteure gegenwärtig weiter ausdifferenzieren. Typenbildung als Auswertung qualitativer Daten Das Feld der institutionell in die Exportlandwirtschaft eingebundenen Akteure und die anzutreffenden, verschiedenen Formen exportlandwirtschaftlicher Integration im Souss gestalten sich äußerst heterogen. Mit dem Ziel, die komplexe soziale Realität dieses Akteursfelds greifbar und begreifbar zu machen, erfolgt
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die Auswertung und Präsentation des empirischen Materials auf der Basis einer typenbildenden Vorgehensweise, die auch bereits den Prozess der empirischen Erhebungen begleitete (Kluge 1999, Kelle & Kluge 2010). Typenbildende Verfahren zielen darauf ab, zugleich Breite und Vielfalt eines Bereichs als auch charakteristische Züge und damit das ›Typische‹ von Teilbereichen herauszuarbeiten (Kelle & Kluge 2010: 10). Durch die Einteilung eines Gegenstandsbereichs in wenige Typen2 wird dieser strukturiert und komplexe Zusammenhänge werden überschaubar, verständlich und darstellbar gemacht. Während die Strukturierung und Informationsreduktion vorrangig der Beschreibung der sozialen Realität dienen, zielt die Herausarbeitung der zentralen Ähnlichkeiten und Unterschiede darüber hinaus auf die Formulierung von Hypothesen über allgemeine kausale Beziehungen und Sinnzusammenhänge ab. Typenbildende Verfahren haben damit sowohl eine deskriptive als auch eine hypothesengenerierende Funktion. Kelle und Kluge (2010: 83 ff.) stellen den Prozess der Typenbildung in einem Stufenmodell von vier logisch aufeinander aufbauenden Teilschritten dar: (1) Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, (2) Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten, (3) Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Typenbildung sowie (4) Charakterisierung der gebildeten Typen. Diese Schritte werden nachfolgend kurz umrissen. Ihnen voraus geht die Bestimmung der ›Grundelemente‹ der Typenbildung – kurz gefragt, ›wovon‹ sollen Typen gebildet werden? Als Grundelemente können in Abhängigkeit von der Forschungsfrage beispielsweise die einzelnen Interviewpartner, größere soziale Einheiten wie Familien, aber auch Ereignisse, Situationen oder Handlungsstrategien ausgewählt werden. Die Grundelemente der Typenbildung müssen sich daher nicht notwendigerweise direkt aus den untersuchten Fällen heraus ergeben oder mit diesen übereinstimmen. Darauf aufbauend wird im ersten Schritt nach den Merkmalen oder Vergleichsdimensionen gesucht, die die Grundlage der Typologie bilden sollen. Ziel ist es, Vergleichsdimensionen zu identifizieren, mit deren Hilfe die im Untersuchungsfeld bestehenden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Untersuchungselementen möglichst gut beschrieben und anhand derer die Typen im Anschluss charakterisiert werden können. Die Entwicklung der Vergleichsdimensionen kann auf Basis der Kriterien für die Fallauswahl, der Erhebungsinstrumente wie beispielsweise dem Leitfaden oder auch im Rahmen der Kodierung des Materials erfolgen. Schritt zwei beinhaltet die Gruppierung der Fälle auf der Grundlage der Vergleichsdimensionen, wobei durch die Kombination von Untersuchungskategorien ein sogenannter ›Merkmalsraum‹ konstruiert wird. Die Darstellung von Kategorien und Subkategorien in einer Kreuztabelle erlaubt einen
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Überblick über alle potentiellen Kombinationsmöglichkeiten sowie die konkrete empirische Verteilung der Fälle. Sie stellt, so Kelle und Kluge, nicht nur eine Möglichkeit zur Kontrolle der Typenbildung, sondern auch eine heuristische Strategie zur Theoriebildung dar: Bereits die Kombination von Merkmalsausprägungen verweist auf potentielle Zusammenhänge zwischen Merkmalen und Typen. Die Einteilung der Fälle in unterschiedliche Gruppen verfolge jedoch den Zweck, jene inhaltlichen Ordnungen oder ›sozialen Strukturen‹ zu verstehen, die zur Gruppierung von Fällen in Typen geführt haben. Der Prozess der Typenbildung dürfe somit nicht auf die rein technische (Re-)Konstruktion von Merkmalsräumen und Identifikation von Merkmalskombinationen reduziert werden, vielmehr gehe es in diesem dritten Schritt darum, den ›Sinn‹ und die ›Bedeutung‹ dieser Merkmalskombinationen zu erfassen. Neben der Erfassung des subjektiv gemeinten Sinns des betrachteten sozialen Handelns geht es damit um die Aufdeckung der sozialen Regeln und Strukturen, die durch die betrachteten Merkmalskombinationen repräsentiert werden.3 Bei der Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge, die den empirisch vorgefundenen Gruppen zugrunde liegen, erfolgt dann wiederum eine Reduktion des Merkmalsraums und damit der Gruppen auf wenige Typen, deren Charakterisierung Ziel des vierten und letzten Schritts ist. Die Argumentation dieses Kapitels beruht auf einer Typisierung der institutionell in die Exportlandwirtschaft des Souss eingebundenen Akteure, die in Anlehnung an das von Kelle und Kluge vorgeschlagene Vierstufenmodell erfolgt, wobei sich die einzelnen oben geschilderten Schritte in der Praxis mehrfach verschränkten. Die Frage nach der Gründung des Betriebs beispielsweise bildete während der ersten Forschungsphase 2006 zunächst einen Ausgangspunkt, der sich primär aus einem reinen Verständnisinteresse speiste. Relativ schnell wurde jedoch deutlich, dass im Souss Exportbetriebe mit sehr unterschiedlichen Gründungsgeschichten anzutreffen sind, die zentrale Hinweise für das Verständnis der sozialen Strukturen der Exportlandwirtschaft liefern können. Während der darauf folgenden Forschungsphasen 2008 und 2009 wurde daher ein Schwerpunkt der Interviews auf die Betriebsgründungen und die Ausgangsbedingungen des Betriebsgründers gelegt, die damit zu einem zentralen Referenzpunkt der qualitativen empirischen Erhebungen wurden. In diesem Zuge erfolgten beispielsweise biographische Interviews und die Erstellung von Familienportraits gemeinsam mit einzelnen oder mehreren Familienmitgliedern von als solchen identifizierten ›Familienbetrieben‹, während zu anderen Akteuren (insbesondere ›Investoren‹ und ›Europäern‹) alternative empirische Zugänge gewählt wurden (Erhebung auf der Ebene der Verpackungsstationen, vgl. ›Einleitung‹).
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Als Grundelemente der nachfolgenden Typenbildung wurden schließlich die institutionell in die Exportlandwirtschaft integrierten Akteure ausgewählt. Sie werden durch auf unterschiedliche Weise gewonnene Daten repräsentiert, was sich in der Präsentation der Empirie widerspiegelt. Entsprechend der Fragestellung folgt die Darstellung zwei inhaltlichen Achsen, den ›Vergleichsdimensionen‹. Diese sind nicht ausschließlich ein Ergebnis der Datenanalyse, sondern wurden bereits während der theoretisch vorinformierten, empirischen Erhebungen im Souss als strukturierend identifiziert. Sie haben somit den Verlauf der Feldforschung maßgeblich beeinflusst, indem beispielsweise gezielt nach Interviewpartnern aus der Kategorie ›Familienunternehmer‹ oder ›spanischer Produzent‹ gesucht wurde. Gründungsgeschichten, die in den Kontext der (jüngeren) historischen Entwicklung der Exportproduktion des Souss eingeordnet werden, bilden die erste Vergleichsdimension und inhaltliche Achse der Typenbildung. Ihre Rekonstruktion erfolgt durch die analytische ›Brille‹ der verschiedenen Formen von Ressourcenausstattung und -akkumulation, die für Gründung, Ausbau und Etablierung des Exportbetriebs von Bedeutung waren. Der erste Abschnitt nimmt damit zunächst eine zeitliche Perspektive in den Blick und argumentiert, dass sich unterschiedlichen Akteuren im Souss im Kontext des Exportsektors zu bestimmten Zeitpunkten und innerhalb bestimmter Zeitfenster Möglichkeitsräume erschlossen haben, die sich zum Teil in eine Erweiterung von Handlungsspielräumen übersetzen ließen und damit Formen der sozialen Aufwärtsmobilität generierten. Darauf aufbauend erfolgt eine weitere Differenzierung der gleichen Grundgesamtheit von Akteuren auf der Grundlage einer zweiten Vergleichsdimension, und zwar der Art und Weise ihrer gegenwärtigen Integration in den internationalen Agrarhandel. Der Fokus liegt auch hier auf den mit den verschiedenen Formen der Integration verbundenen Handlungsspielräumen im Export, deren Spektrum vom vertraglich eingebundenen Zulieferer bis hin zum vertikal integrierten Unternehmen reicht. In Abgrenzung zu Kelle und Kluge verfolgt die nachfolgende Darstellung dabei keine Charakterisierung von empirisch vorgefundenen Kombinationstypen oder Konstruktion von ›Idealtypen‹, vielmehr steht jeweils eine der genannten Perspektiven im Vordergrund. Die Darstellung der Typen ist darüber hinaus notwendigerweise eine schematische, so dass es durchaus Akteure geben mag, die in mehrere oder keine der angesprochenen Kategorien einzuordnen sind. Die vorgestellten Typen sollten entsprechend als ›weiche Typen‹ mit unscharfen Grenzen verstanden werden. Die qualitative Annäherung an das Akteursfeld zielt ebenso wenig auf eine Quantifizierung der Akteurstypen hinsichtlich ihrer Anzahl, Produktions- oder Marktanteile ab – soweit dies auf der Basis der eigenen Daten möglich ist, wird es exemplarisch angeführt.4 Das Akteurspanorama im
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Souss ist darüber hinaus als im doppelten Sinne dynamisch aufzufassen: Akteure können stets neu auftauchen und wieder ›verschwinden‹ und je nach Zeitpunkt im Verlauf ihrer Geschichte unterschiedlichen Typen zugeordnet werden. So kann ein von einem ›Jungunternehmer‹ gegründeter Betrieb mittlerweile mehrere Familienmitglieder umfassen und auf diese Weise zum ›Familienbetrieb‹ geworden sein, während auch in einigen ›Investorenbetrieben‹ die zweite Generation nachgerückt sein kann und das Unternehmen sich nun als ›Familienunternehmen‹ begreifen mag. Auch sind einige der ›Familienbetriebe‹ nunmehr in weiteren Bereichen des Agrobusiness – und darüber hinaus – aktiv und können auf diese Weise als ›Investoren‹ agieren. Die Geschichten und Biographien, Hintergründe und Interessen der Akteure werden anhand qualitativer Interviewausschnitte und Kurzportraits dargestellt, nachvollzogen und interpretiert und in den Kontext des marokkanischen Exportsektors eingeordnet. Die Methode der qualitativen Interviewführung bildet daneben auch die subjektive Rekonstruktion von Erfolgsgeschichten ab: Meine Frage nach dem ›wie‹ beinhaltet zugleich den Aspekt des ›warum‹, der eine Positionierung der Befragten innerhalb eines sozialen Felds hervorruft, in dem große Teile der Landbevölkerung von Prozessen sozialen Abstiegs betroffen oder bedroht waren und sind (vgl. ›Exklusionen‹). Um eine persönliche Darstellung der Interviewten zu erzielen und gleichzeitig ihre Identität zu schützen, handelt es sich bei allen Namen von Personen, Unternehmen sowie – sofern im Zusammenhang mit Interviewausschnitten stehend – auch von Kooperativen um Pseudonyme. Alle Interviewausschnitte wurden vom Französischen ins Deutsche übertragen, wobei im Prozess der Verschriftlichung und Übersetzung versucht wurde, sowohl den mündlichen Charakter der Sprache und die individuellen Ausdrucksweisen weitestmöglich zu erhalten, als auch eine gute Lesbarkeit zu erzielen.
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IM
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Gründungsgeschichten und Hintergründe im Export bilden die erste inhaltliche Achse, anhand derer sich das Akteursfeld der exportorientierten Landwirtschaft ausdifferenziert. Vier Typen lassen sich unterscheiden:5 Zu den gegenwärtig in den Export integrierten Betrieben sind erstens ›Familienbetriebe‹ zu zählen. Es handelt sich hierbei um regional – im Souss – verwurzelte Familien, denen es durch kontinuierliche Expansion innerhalb einer oder mehrerer Generationen gelungen ist, Exportbetriebe und -unternehmen von teils beträchtlicher Größe aufzubauen. Damit einher ging oft ein gesellschaftlicher Aufstieg im Hinblick auf
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die monetäre, allokative und sozial-institutionalisierte Ressourcenausstattung der Familien. Ein zweiter Typ von Exportlandwirt ist der ›Jungunternehmer‹, der sich über die (inkorporierte) Ressource Bildung rekonstruieren lässt. Hierbei handelt es sich um sehr gut ausgebildete Agraringenieure oder -techniker, die ab Mitte der 1980er Jahre maßgeblich in die Gewächshausproduktion eingestiegen sind und überwiegend nicht aus dem Souss stammen. Eine etablierte Position im Exportsektor erzielten sie oft über den Zusammenschluss zu Produzentenkooperativen. Im Unterschied zu den Familienbetrieben und Jungunternehmern kennzeichnet den dritten Typus, den ›Investor‹, seine Ausstattung mit monetären Ressourcen, welche er in die Exportlandwirtschaft investiert, aber in nicht-landwirtschaftlichen Sektoren erwirtschaftet hat. Die Akkumulation monetärer Ressourcen ging im Fall des Investors der exportlandwirtschaftlichen Tätigkeit, die maßgeblich als Kapitalanlage betrachtet wird, voraus. Er ist kein eigentlicher Landwirt und durch eine geringe Präsenz in seinen Farmen gekennzeichnet. Zusätzlich zu diesen drei Akteurstypen mit marokkanischem Hintergrund treten viertens ›europäische Akteure‹ als Produzenten und Kapitalgeber landwirtschaftlicher Produktionen im Souss auf und werden hier zu einem weiteren Akteurstyp zusammengefasst. Ihr Hintergrund liegt meist im weiteren Bereich des (europäischen) Agrobusiness. Sie können im Wesentlichen zwei Herkunftsnationalitäten, zeitlichen Phasen und Produkten zugeordnet werden. Europäische Akteure investieren – oft in Kooperation mit marokkanischen Akteuren – vor allem in die exportorientierte Gewächshausproduktion. Familienbetriebe: ›Wir haben klein angefangen‹ »Meine Eltern waren schon Kinder von Landwirten – aber eigentlich kann man nicht sagen, dass die Großeltern Landwirte waren, sie waren vielleicht vielmehr Bauern. Sie bebauten kleine Felder in den 1940er, 1950er Jahren. Sie haben in einer Region neben dem alten Flughafen angefangen – da wo ich jetzt mein Haus gebaut habe (lacht), früher waren dort Felder! Ich erinnere mich, als ich klein war, habe ich dort gespielt. [W]ir waren sehr verbunden, sehr verbunden mit dem was man als ... als landwirtschaftliches Leben bezeichnen könnte, das war wirklich unser Leben. [E]ine landwirtschaftliche Familie: Man hörte nur das, von morgens bis abends, die Tomate, die Tomate, die Tomate am Morgen und die Tomate am Abend. [A]m Anfang waren es kleine Parzellen, kleine Parzellen neben ihrem Haus [...], direkt neben Ait Melloul [...], das war, um auf den Markt zu gehen, etwas zu verkaufen ... um abends wieder zurückzukommen … wenn sie sich mit dem Geld etwas kaufen konnten – es war immerhin eine harte Zeit. Mein Vater, was hatte er, er hatte nichts, sein Vater ist gestorben, da war er fünf Jahre alt! [S]ie waren arm … sie
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hatten eine Kuh, aber nur eine einzige Kuh (lacht) … und was noch … sie mussten arbeiten seit ... nicht einmal die [...] Koranschule hat er beendet.« (Khalid Taoufiqui, 2006)
Wie Khalid Taoufiqui, Enkel und heutiger Leiter eines Familienbetriebs, hat eine ganze Reihe landwirtschaftlicher Familien im Souss eine Aufstiegsgeschichte von Betrieb und Familie im Kontext des marokkanischen Exportsektors zu erzählen (vgl. Sippel 2012). Ausgehend von mitunter schwierigen Ausgangssituationen wurden aus den anfänglichen Betrieben auf 2 oder 3 Hektar Exportunternehmen in der zweiten oder dritten Generation, die heute von um die 50 bis zu mehr als 500 Hektar Land bewirtschaften. Partizipation am und zunehmende Integration in den globalen Obst- und Gemüsehandel gingen für die damit angesprochenen Familienbetriebe mit sozialer Aufwärtsmobilität und einer kontinuierlichen Erweiterung ihrer Handlungsspielräume einher. In ihrem Verhältnis zur Gesamtgesellschaft sind die betreffenden Familien heute wesentlich besser situiert, als dies vor ein oder zwei Generationen der Fall war – dies zeigt sich nicht nur an der Größe der Betriebe, sondern auch am technischen Niveau ihrer Produktion, ihren etablierten Handelsbeziehungen und regionalen ebenso wie internationalen sozialen Netzwerken. In den Ausgangsbedingungen der Vor- und Gründergeneration war der spätere Erfolg dabei nicht offenkundig angelegt – so hat kaum ein Angehöriger der Gründergeneration eine Schule besucht, und wenn doch, dann meist nur für kurze Zeit. In der Regel begannen sie in jungem Alter – wie allgemein üblich – den Vater beim Verdienst des Lebensunterhalts für die Familie durch die Landwirtschaft zu unterstützen. Einige starteten, wie Mustapha Jazoulis Vater, der als Halbwaise aufwuchs, unter äußerst schwierigen Rahmenbedingungen: »Mein Vater war Waise seit seinem zweiten Lebensjahr, seine Mutter hat ihn und seine Schwester aufgezogen. [S]ein Vater starb, als er zwei Jahre alt war, als seine Mutter noch mit seiner kleinen Schwester schwanger war – sie hat ihren Vater nie kennengelernt. Es war seine Mutter, die große Anstrengungen vollbracht hat ... sie hat keinen anderen Mann geheiratet ... sie hat ihr Leben nur der Erziehung ihrer beiden Kinder gewidmet.« (Mustapha Jazouli, 2008)
In der Schilderung der Ausgangslage der Betriebe wird von den Interviewten häufig zwischen ›traditioneller‹ und ›moderner‹ Landwirtschaft unterschieden. Die ›traditionelle Landwirtschaft‹ wird als kleinbäuerliche, auf Subsistenz ausgerichtete Landwirtschaft beschrieben, bei der der Anbau von Getreide – Weizen und Gerste – und Futterkulturen im Regenfeldbau mit Viehwirtschaft – wenigen Schafen und Ziegen sowie einer Kuh für den Milchbedarf der Familie – kombi-
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niert wird. Diese bis heute verbreitete Lebensgrundlage im ländlichen Marokko (vgl. Akesbi et al. 2007) wird innerhalb der Familiengeschichte von der ›modernen Landwirtschaft‹ abgegrenzt, die auf den Anbau neuer, bewässerter Kulturen wie Tomaten und Zitrusfrüchte setzt und von Beginn an nicht nur auf den regionalen Markt, sondern auch auf lukrativere Exportmärkte abzielte. Zu diesen zählte insbesondere Frankreich, zeitweise auch Algerien. Mustapha Jazouli schildert die herausragenden Gewinne, die sein Vater in den 1960er Jahren für Tomaten erzielte: »Zu einem Preis, das ist wirklich unglaublich! Er hat angefangen mit 100 Dirham pro Kiste, das ist unvorstellbar! Selbst heute liegen die Preise manchmal bei 100 Dirham – das war Gold! [Z]u Beginn der 1960er Jahre gab es hier viele Händler aus Frankreich – und vor allem die algerischen Händler, die Ware eingekauft haben, um sie in Algerien zu verkaufen. Das war ein sehr, sehr wichtiger Handel.« (Mustapha Jazouli, 2008)
Bei der Unterscheidung zwischen ›traditioneller‹ und ›moderner‹ Landwirtschaft spielt die Präsenz der Franzosen eine zentrale und zugleich ambivalente Rolle. Wie im vorherigen Kapitel ausgeführt, wurden Zitrusfrüchte und Gemüsesorten wie die Tomate vor dem französischen Protektorat (1912-1956) nicht im Souss kultiviert. Erste Pflanzungen sowie die Verbreitung dieser ›modernen‹ Kulturen erfolgten somit erst durch und im Kontakt mit den Franzosen. Viele der Väter hatten diese Form der Landwirtschaft zunächst als Arbeiter in einem französischen Betrieb kennengelernt: »Vorher hat er [der Vater] bei den Leuten gearbeitet, die hier waren, als wir von Frankreich kolonialisiert wurden ... bei den Franzosen hat er gearbeitet, so wie ein Landarbeiter. [U]nd nach und nach haben sie [der Vater und sein Bruder] begonnen, ihre eigenen Felder zu bebauen. Sie haben klein angefangen, nach und nach.« (Rachid Lkam, 2008)
Im nachfolgenden Interviewausschnitt wird deutlich, wie wichtig der Schritt war, diese neue Form von Landwirtschaft auf ihre eigenen Landparzellen zu übertragen: »Sie hatten ein paar Parzellen, die zum Erbe gehörten, und so haben sie – ab einem gewissen Moment – versucht, sie zu bewirtschaften ... sie hatten bei den Kolonisten, den Franzosen, gearbeitet, aber ab einem gewissen Moment sagten sie sich: ›Jetzt bewirtschaften wir unsere eigenen Parzellen!‹ Das muss in den 1950er Jahren gewesen sein.« (Khalid Taoufiqui, 2006)
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Die physische Grundlage für den eigenen Betrieb – das Land – konnte jedoch wie im Fall der Familie Alaoui auch erst mit dem Abzug der Franzosen wieder zugänglich werden. Lahcen Alaoui schildert, wie sein Großonkel in diesem Moment sein erstes Stück Land erwarb: »In den 1950er Jahren hat mein Großonkel daran gedacht, ein Stück Land zu kaufen, um Landwirtschaft zu betreiben, und das erste Land, das sie gekauft haben, war hier, in unserem Dorf, das war kurz nach 1956, kurz nach der Unabhängigkeit Marokkos, als die Ausländer ihr Land an die lokale Bevölkerung verkauft haben, da haben sie ein Stück Land von 2 Hektar gekauft. [U]nd dann haben sie auf diesem Land mit etwas, wie soll ich sagen ... mit etwas modernerer Landwirtschaft begonnen, aber im Freiland, sie haben mit Wassermelonen angefangen, mit Paprika, mit Peperoni ... .« (Lahcen Alaoui, 2008)
Das Verhältnis zu den ›Kolonialfranzosen‹ wird trotzdem nicht als Konflikt dargestellt, sondern erscheint, wie auch im folgenden Interviewausschnitt, fast glatt, bruchlos. Die Franzosen brachten eine neue, ›modernere‹ Form der Landwirtschaft nach Marokko, die sie auch der ansässigen Bevölkerung ›zeigten‹, so der Exporteur Mohammed Benabdeljalil: »Zu der Zeit war die französische Kolonisation [...] und sie waren es, die den Produzenten vor Ort gezeigt haben, wie sie von einer traditionellen Landwirtschaft auf eine moderne Landwirtschaft für den Export umstellen. Und mein Vater war einer der ersten Produzenten der Region, der sich in den 1940er Jahren für den Export interessiert hat.« (Mohammed Benabdeljalil, 2008)
Die spezifische Perspektive der hier vorgestellten Gesprächspartner erklärt diese anscheinende Bruchlosigkeit: Zwar erscheinen die Franzosen als Besatzer, die Land annektieren und die lokale Bevölkerung – ihre eigenen Väter – für sich arbeiten lassen. Für die hier Interviewten sind sie aber auch und vor allem die Überbringer dieser neuen Form der Landwirtschaft, die sie sich selbst im Anschluss aneigneten, für ihre eigenen Zwecke nutzten und die ihrer Familie schließlich einen enormen sozialen Aufstieg ermöglichte. Vom Besatzer wurden sie nicht zuletzt zum bis heute wichtigsten Handelspartner, zum Türöffner für den europäischen Markt. Das Ende des Protektorats und die in den darauffolgenden Jahrzehnten fortexistierenden Handelsbeziehungen mit Frankreich können als eine historische Situation, als ein erstes Zeitfenster betrachtet werden, in dem es gelingen konnte, Chancen zu ergreifen, die sich vor Ort ergaben: Chancen bestanden in Form von nun zugänglichen Landflächen, im Aneignen der von den Franzosen eingeführ-
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ten Agrartechniken und Kulturen für den Export ebenso wie in sozialen Netzwerken, den fortexistierenden Handelsverbindungen nach Frankreich. In diesen Chancen lag die Möglichkeit, monetäre Ressourcen zu akkumulieren, da der Exportmarkt eine rentable Einnahmequelle darstellte. Die besonderen Verdienstmöglichkeiten im Exportmarkt werden im Vergleich zum lokalen Markt deutlich: »Wenn er [der Vater] exportierte, verdiente er ein bisschen Geld. [A]uf dem lokalen Markt kann man kein Geld verdienen, mit so einer Summe kann man nichts aufbauen. [J]edes Jahr, wenn er eine Summe hatte, um den Betrieb zu erweitern, kaufte er Tomatensamen, Dünger … so in etwa hat er das gemacht, er exportierte und verdiente ein bisschen mehr Geld und dieses Geld … gut, ein Teil für die Familie – mit dem anderen Teil vergrößerte er den Betrieb, und so weiter jedes Jahr, er fügt einen halben Hektar hinzu, einen halben Hektar, einen halben Hektar, jedes Jahr, jedes Jahr […] und vor allem verwendet er jedes Jahr eine neue Technologie, neue Technologien jedes Jahr, jedes Jahr.« (Mohand Zahidi, 2008)
Der Exportmarkt war zu diesem Zeitpunkt, auch dies wird deutlich, mit sehr viel geringeren Einstiegshürden verbunden, sowohl in Bezug auf die Produktion vor Ort als auch die Einfuhrbedingungen nach Europa. So vergleicht Lahcen Alaoui die 1960er Jahre der Zitrusproduktion mit der aktuellen Situation: »Zunächst gab es wirklich Wasser – das genaue Gegenteil zu heute. In letzter Zeit leiden wir ganz enorm an Wassermangel, man muss sich nur vorstellen, dass wir Brunnen haben ... dass wir Brunnen bis 300 Meter tief bohren, um an Wasser zu kommen. Außerdem war der Vorteil, dass die Produktionskosten viel, viel niedriger waren als heute, denn zu Beginn gab es nicht viele phytosanitäre Produkte ... und das Klima – nachdem was die Leute erzählen – das Klima war wirklich grandios, wie wenn ich einen Baumsetzling pflanze und das war’s – nach drei Jahren hast du einen tragenden Baum. Das heißt, das hat kein sonderlich hohes technisches Niveau erfordert ... und sogar der Konsument in Europa war nicht so anspruchsvoll wie heute, denn jetzt mit der Globalisierung, mit dem allen ... da muss man die Rückverfolgbarkeit einhalten, man braucht zertifizierte Farmen, man braucht Verpackungsstationen ... das sind alles Kosten!« (Lahcen Alaoui, 2008)
Das im Export erzielte ökonomische Kapital wurde meist in den Ausbau und die Erweiterung des Betriebs investiert. Je nach Familie, verfolgter Betriebsstrategie und Produktspezialisierung sahen diese Investitionen unterschiedlich aus. Extensionen, das heißt die Vergrößerung der kultivierten Fläche, standen in der Regel im Vordergrund, dabei setzten einige auf Landerwerb, insbesondere wenn sie in
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die Neupflanzung von Zitrusfrüchten investierten, andere hingegen bevorzugten es, zu pachten. Said Zahoud fasst zusammen: »Von 1965 bis 2008 [...] gab es keine Vergrößerung mit enormer Geschwindigkeit, aber wenn man den Durchschnitt nimmt, dann war es eine Erweiterung von etwa 3 Hektar pro Jahr.« (Said Zahoud, 2008)
Eine weitere Strategie, um Handlungsräume im Export auszubauen und zu erweitern, war die frühzeitige Investition in eine eigene Verpackungsstation, die – als zentrale Schnittstelle zwischen Produktion und Export – einen unabhängigen Export nicht nur der eigenen, sondern auch zugekaufter Ware ermöglichte. Daneben wurde in effizientere Agrartechnologien wie Plastikgewächshäuser und Tröpfchenbewässerung investiert. Im Zuge des Ausbaus und der Festigung des Betriebs wurden über den Familienkern hinaus weitere Familienmitglieder in den Betrieb integriert oder zur Exportlandwirtschaft motiviert – eine Strategie zur Vergrößerung der familieneigenen Produktionskapazitäten wie auch eine Möglichkeit, weitere Teile der Familie am expandierenden Exportsektor und damit einer lukrativen Einkommensquelle teilhaben zu lassen: »Er lernte meine Cousins an, er brachte ihnen das Metier bei ... denn er war mittlerweile schon ein bisschen etablierter, und so holte er die Cousins, die Söhne meiner Tante. [S]o ist das mit der Solidarität ... er versuchte immerhin auch ein bisschen seiner Schwester zu helfen.« (Khalid Taoufiqui, 2006)
Als zweiter historischer Moment und zentraler Wendepunkt in den Betriebsgeschichten der Familienbetriebe kann das Jahr 1986 identifiziert werden, in dem der zuvor staatlich verwaltete Exportsektor im Kontext der Strukturanpassungsmaßnahmen der 1980er Jahre privatisiert wurde (Belkadi 2003; vgl. ›Liberalisierung und Großkapital‹). Nach der Unabhängigkeit 1956 war der Exportsektor durch staatliche Behörden, zunächst vom Office Chérifien des Exportations, dann vom Office de Commercialisation et d’Exportation (OCE) kontrolliert und verwaltet worden. Diese Organisation des Exports wird von den hier vorgestellten Familienunternehmern durchweg als Belastung, Bremse und Hemmnis ihrer Unternehmertätigkeit dargestellt. Mohammed Benabdeljalil erinnert sich: »Die Jahre des Monopols des OCE, des staatlichen Monopols [...], was sagten wir unter uns Produzenten, wir sagten, ah, der, der am wenigsten verloren hat, der muss uns einen ausgeben, der muss eine Feier für die anderen Produzenten geben! Denn wir dachten nicht daran, Geld zu verdienen.« (Mohammed Benabdeljalil, 2008)
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Bei der Formation und Ausdifferenzierung der privatwirtschaftlichen Exportgruppen im Souss im Anschluss an die Privatisierung des Exportsektors spielten die lokal ansässigen Familienbetriebe eine zentrale Rolle. In dieser Umbruchsituation galt es, die zukünftige Position der Familienbetriebe im Aushandlungsprozess sich formierender Machtkonstellationen zwischen den privatwirtschaftlichen Exportgruppen neu zu bestimmen und auszufüllen. Aus der Perspektive der Familienbetriebe lag in dieser Situation die Chance auf mehr Mitbestimmung und Partizipation im Vergleich zum zuvor staatlich determinierten Exportsektor, wie auch die Herausforderung sich gegenüber neuen, kapitalstarken Akteuren zu behaupten. Said Zahoud schildert, wie sein Vater zunächst innerhalb der Strukturen des OCE aufstieg, um dann für einen Politikwandel zu plädieren: »Von 1965 bis 1986, das war wirklich eine sehr wichtige Karriere für ihn, mit all der Energie, die er in eine sehr gute Qualität investiert hatte. [S]ie merkten nach und nach, dass es Zeit war [...], die Politik ein wenig zu verändern. Warum? Weil er, er hatte viel Energie vor allem in die Qualität seiner Ware gesteckt und sein Preis stieg allmählich an, doch der Nettopreis, der ihm ausgezahlt wurde, entsprach nicht ganz der Exportqualität, die er lieferte. [S]ie merkten, dass die Gruppe [OCE] in Marokko sehr groß geworden war und dass sie die Qualität der Produzenten nicht mehr auf allen Ebenen managen konnte. In dieser Situation versuchten sie, den Export ein wenig zu liberalisieren, damit die Gruppen näher am Produzenten sind und jeder Produzent auch von seiner Leistung profitiert.« (Said Zahoud, 2008)
Auch Mohammed Benabdeljalil, Familienunternehmer und Exportproduzent in zweiter Generation, war eine der zentralen Personen in diesem Prozess. Er beschreibt, wie sie sich unter Produzenten zusammenschlossen, um ihre Interessen im Exportsektor zu vertreten: »Da haben wir alles Mögliche versucht, um die Stimme des Produzenten hörbar zu machen, mit allen Mitteln! Wir haben ein Fax gekauft und die ganze Nacht gearbeitet [...], einige von uns, Ingenieure, haben die Verantwortlichen die ganze Nacht lang mit Faxen bombardiert, am Morgen hatten die einiges zu lesen ... selbst an den König!« (Mohammed Benabdeljalil, 2008)
Nach der Liberalisierung gelang es den hier vorgestellten Familienunternehmen teils im Familienverbund, teils im Zusammenschluss mit anderen Familien, Produzenten oder europäischen Partnern, sich bis heute erfolgreich im Exportsegment zu behaupten, indem sie ihre Produktion stetig vergrößerten, ihr technisches Niveau anpassten, ihre Handelsbeziehungen festigten und ausbauten und
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ihre Position in den Reihen der Exportgruppen des Souss verfestigten und institutionalisierten. Während sie anhand der von ihnen bewirtschafteten Flächen gegenwärtig zu den mittleren und großen Betrieben der Region zählen, verfügen sie darüber hinaus nicht nur über große Betriebsflächen, sondern diese werden mittlerweile auch auf einem anspruchsvollen technischen Niveau betrieben, was sich insbesondere an den Zertifizierungsraten ablesen lässt: Sie besitzen ganz überwiegend mindestens die Zertifikate EUREP- bzw. GLOBALGAP, unter Umständen auch Nature’s Choice für den britischen Markt, in einigen Fällen sogar Ecocert für biologisch angebaute Produkte. Gleichzeitig sind sie oft verhältnismäßig breit aufgestellt, das heißt, sie haben unter Umständen sowohl im Segment der Zitrusfrüchte als auch der Gewächshauskulturen eine stattliche Größe erreicht und betreiben teilweise auch Milchproduktion in großem Maßstab. Die verschiedenen Aufgaben- und Kompetenzbereiche sind innerhalb der Familienbetriebe, die nicht selten mehrere Generationen und Kernfamilien umfassen, in der Regel klar zwischen den Familienmitgliedern aufgeteilt: »Mein Vater ist der Präsident der Kooperative. [I]ch bin der Verkaufsdirektor, ich leite die Kontakte zu den Kunden im Ausland, einer meiner Cousins ist für die Buchhaltung in der Station zuständig, er ist der Leiter der Buchhaltung. Ein anderer Cousin ist für die Belieferung der Station zuständig, die Anlieferung der Ware, und er verkauft auch die Auslese auf dem lokalen Markt. [E]in Cousin ist verantwortlich für die Viehzucht [...], sein Bruder kümmert sich um den Gemüseanbau bei Ait Melloul, einer ist zuständig für die Pfirsichproduktion, ein anderer kümmert sich um die Zitrusfruchtplantagen und einer arbeitet in Agadir in einer Exportgruppe [...], bei Salam, denn wir sind an Salam angeschlossen.« (Lahcen Alaoui, 2008) »Ich bin der Präsident der Kooperative [...] – meine Arbeit ist die Koordination und die Gewährleistung der Politik der Gruppe Zahoud [...] hinsichtlich unserer Produktion, unserer Handelsbeziehungen und Märkte im Ausland und für den lokalen Markt. [W]ichtig ist auch, dass wir angefangen haben, uns die Aufgaben im Export ein wenig aufzuteilen. [A]ls wir unsere Absatzmärkte erweitert haben, wurde zum Beispiel Youssef der Verantwortliche für den englischen Markt und mein Bruder Hussein ist für den deutschen Markt zuständig, so haben wir uns die Aufgaben aufgeteilt. Und da ist Rachik, er ist nur für die Produktion zuständig und die Viehzucht [...], Abderrazak ist für den Supermarkt zuständig [...] und Omar ist Geschäftsführer der [Immobilien-]Firma.« (Said Zahoud, 2008)
Über ihre Produktionskapazitäten hinaus verfügen die hier vorgestellten Familien innerhalb des Souss über ein weit verzweigtes soziales Netzwerk und besetzen nicht selten politische, ökonomische und administrative Schlüsselpositionen.
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Zu diesen gehört die Mitgliedschaft in, aber auch das Ausüben von verantwortungsvollen oder prestigeträchtigen Ämtern in Kooperativen, Exportgruppen und weiteren Interessenvertretungen der Produzenten der Region, wie APEFEL (Association Marocaine des Producteurs et Producteurs Exportateurs de Fruits et Légumes), ASPAM (Association des Producteurs d’Agrumes du Maroc) oder ASPEM (Association des Producteurs Exportateurs de Maraîchage et Primeurs), bis hin zur Besetzung diverser politischer Positionen.6 Diese Funktionen können innerhalb der Familie aufgeteilt sein, so dass verschiedene Familienmitglieder die Familie in den unterschiedlichen Institutionen repräsentieren. Die Familie Jazouli beispielsweise ist in zwei Milchkooperativen vertreten und gleichzeitig mit einem Familienmitglied Mitglied der Kooperative COPAG: »Die Produktion des großen Stalls bei Oulad Teima läuft auf den Namen von Hassan. Jazouli Abdellah ist in Ahmar, er ist Mitglied der Milchkooperative [...], er ist sogar ihr Präsident [...] und er ist auch Mitglied der COPAG, er persönlich, denn wir liefern unsere Zitrusproduktion an die COPAG auf Abdallahs Namen. [M]ein Vater war in der COPAG, nach seinem Tod haben wir Abdallah als seinen Nachfolger ausgewählt. [W]ir sind untereinander assoziiert, aber innerhalb der COPAG ist es er, der uns vertritt.« (Mustapha Jazouli, 2008)
Soziale Netzwerke bestehen auch über Marokko hinaus, insbesondere nach Frankreich und zunehmend Spanien, aber auch nach Großbritannien, Russland oder Kanada. Über reine Handelsbeziehungen hinausgehend können die Kooperationen mit ausländischen Geschäftspartnern vielfältige Formen annehmen und finden sowohl auf der Produktions-, Verpackungsstations-, als auch Vermarktungsebene statt. Die Familienbetriebe sind gegenwärtig auf unterschiedliche Weise in den globalen Obst- und Gemüsemarkt integriert. Sowohl Zuliefererstatus, individuelle Exportformen in Kooperation mit ausländischen Partnern, Export über eine Kooperative als auch vertikal integrierte (Familien-)Unternehmen sind anzutreffen (vgl. ›Einbindungen: Handlungsmacht im Export‹). Nicht zuletzt kann die Landwirtschaft zu nur noch einem – wichtigen – Pfeiler des Familienbetriebs geworden sein, der seine Fühler mittlerweile in weitere Aktivitätsfelder ausgestreckt hat. Diese können in der Lebensmittelverarbeitung oder im Einzelhandel liegen, aber auch neue Bereiche wie den Immobiliensektor erschließen. Die Familie Benabdeljalil beispielsweise hat kürzlich in Kooperation mit einem französischen Unternehmen in eine Lebensmittelverarbeitungsfabrik in Agadir investiert, während die Familie Zahoud neben einer lokalen Supermarktkette auch eine Immobilienfirma gegründet hat:
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»Wir sind jetzt hier in der Verarbeitung, wir machen den Zuschnitt [...], die Trocknung, wir frieren die Ware ein und schicken sie nach Toulouse und sie, sie bereiten sie auf mit Gewürzen für Pizza, Tomatensauce, ... . [U]nser Partner ist in der Lebensmittelverarbeitung, sie stellen Tomatensaucen her mit Gewürzen, getrocknete Tomaten mit Olivenöl ... das ist ein sehr, sehr guter Markt. [I]m Moment erstellen wir gerade eine Studie für eine große Fabrik, um die kleine zu verkaufen und direkt nebenan eine große Verarbeitungseinheit aufzubauen.« (Hussein Benabdeljalil, 2008) »Und wir haben auch eine Firma gegründet – die gleichen Personen [der Familie], die auch in der Kooperative sind – wir haben eine Immobilienfirma gegründet, vor zwei Jahren. [S]ie heißt auch Zahoud und Omar ist der Geschäftsführer dieses Unternehmens.« (Said Zahoud, 2008)
Neben den Investitionen in Ausbau und technische Modernisierung der Betriebe und der Diversifizierung der Aktivitäten wird schließlich insbesondere in die Zukunft der Kinder investiert. Die aktuelle Generation soll – häufig dem Wunsch der Eltern entsprechend – in die Lage versetzt werden, das Familienerbe erfolgreich fortzuführen, und dafür wird die Ausbildung der Kinder oder vielmehr Söhne7 als wesentlich betrachtet. Dies wurde unter Umständen bereits seit der Kindheit vermittelt, wie sich Rachid Lkam erinnert: »Als mein Vater angefangen hat, Tomaten anzubauen hier in Chtouka, da hat er uns mitgenommen ... im Alter von etwa zwölf, dreizehn Jahren .... nur um uns die Arbeiter zu zeigen, wie sie arbeiten. [E]r nahm uns zum Beispiel mit auf die Farm und sagte uns: ›Schaut, wie die Leute arbeiten! Wenn du dich nicht anstrengst, dann wirst du so sein, wie dieser dort, mit einem Sack voll Mist, voller Staub!‹ – Solche Ratschläge gab er uns: ›Wenn du nicht in die Schule gehst, dann ergeht es dir wie diesem da, denn der, der da im Mist und im Dreck arbeitet, der hat es in der Schule nicht weit gebracht.‹« (Rachid Lkam, 2008)
Auch Hussein Benabdeljalil berichtet, der Vater habe seinen Kindern zwar große Freiheiten gelassen, in einem Punkt jedoch insistiert: »Und vor allem die Schule, er sagte uns immer, man muss mindestens das Abitur machen, das ist sehr wichtig.« (Hussein Benabdeljalil, 2008)
Für den Bildungserfolg der Kinder wird diesen in der Regel ein universitäres Studium – bestenfalls sogar im Ausland – sowohl nahegelegt als auch ermöglicht. Zielland ist meistens Frankreich, manchmal auch Kanada. Ausgewählt
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werden überwiegend agrar- oder betriebswirtschaftlich ausgerichtete Studiengänge. Der Aspekt der räumlichen Mobilität – nicht nur beim Studium, sondern auch allgemein bei Reisen ins Ausland – wird in den Gesprächen häufig herausgestellt: Die räumliche Mobilität ist zugleich Ausdruck des sozialen Status, der beispielsweise durch den unproblematischen Erhalt begehrter Visa ausgedrückt wird, als auch der Weltgewandtheit. So schildert Hussein: »Da war eine Reiseagentur, daran erinnere ich mich noch sehr gut, wir sind vielleicht drei Mal mit dieser Agentur verreist, mein Bruder und ich, aber nicht hier in Marokko, das war ins Ausland, das war das erste Mal, dass wir geflogen sind. [M]ein Vater hat uns viel auf Reisen geschickt ... wir sind nach Frankreich gefahren, wir waren in den USA, in London ... .« (Hussein Benabdeljalil, 2008)
Dies setzt sich bis heute fort: »Wir waren mehrmals in Berlin auf der Fruit Logistica, wir waren auf einer anderen Messe in Frankreich ... . [J]etzt gerade ist mein Bruder in China, vorgestern ist er geflogen (lacht) ... für zehn Tage [...], dort ist eine der größten Messen der Welt.« (Hussein Benabdeljalil, 2008)
Mittlerweile ist in den meisten Betrieben die zweite oder sogar dritte Generation nachgerückt, die im Rückblick auch nach Gründen für den Erfolg ihrer Familie sucht. In der Rekonstruktion der Familienaufstiegsgeschichte steht oft – wie im folgenden Interviewausschnitt – die Arbeitsleistung des Vaters bzw. der Gründergeneration im Mittelpunkt. Hier wird von Khalid Taoufiqui zugleich eine nach wie vor vorhandene Bodenständigkeit am Beispiel des Umgangs mit den Arbeitskräften unterstrichen: »Mein Vater arbeitete selbst wie ein Arbeiter. ›Chef‹ – das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, man konnte ihn kaum unterscheiden, wenn man zum Beispiel auf die Farm kam, wusste man nicht, wer der Chef ist, alle arbeiteten. [S]eine Qualität ist, dass er niemals nachlässt, wenn er an etwas arbeitet, dann bleibt er dran, er geht nicht von der Baustelle, er ist immer da, von morgens bis abends, kontrolliert die Arbeiter, setzt sich mit ihnen hin ... . Ich kann wirklich sagen, dass wir bescheidene Leute sind, wir sind nicht … zum Beispiel wenn Sie mal vorbeikämen, würden Sie ihn sehen, wie er gerade mit dem Türwächter auf dem Boden sitzt! Wir sind nicht … versnobt.« (Khalid Taoufiqui, 2006)
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Lahcen Alaoui betont zunächst eine aufgeschlossene Geisteshaltung und eine nach außen orientierte Grundhaltung der Betriebsgründer sowohl in Bezug auf den Exportmarkt als auch auf Reisen und Kontakte: »Man darf immerhin nicht vergessen, dass diese Leute nicht in der Schule waren, aber sie hatten ... wie soll ich sagen ... sie hatten einen Riecher für den Markt, sie hatten wirklich einen offenen Geist, denn sie haben sich auf den Export hin orientiert und sogar heute noch lassen sie die Farmen zertifizieren. [D]as heißt, sie hatten keinen bornierten Geist, selbst wenn sie keine Ausbildung hatten – und darüber hinaus waren es Leute, die viel gereist sind, die im Ausland waren, die ihr Metier in der Praxis erlernt haben, im Kontakt mit den Leuten.« (Lahcen Alaoui, 2008)
Ihm erscheinen darüber hinaus vor allem der Zusammenhalt und das Vertrauen der Familienmitglieder ineinander Voraussetzung und Erklärung ihres Erfolgs zu sein: »Normalerweise trafen sie sich einmal die Woche zur Sitzung. Aber das Wichtigste war ein blindes Vertrauen unter ihnen, und das ist es, was ihre Stärke ausgemacht hat, das Vertrauen. Wenn es dieses Vertrauen nicht gegeben hätte, dann hätten sie ihr heutiges Niveau nicht erreicht. [D]iese Brüder, die zu Beginn nur Esel hatten und die nun Autos mit getönten Scheiben fahren – das ist eine Leistung ... und das Geheimnis ihrer Arbeit war an erster Stelle das Vertrauen, das zwischen ihnen herrschte, dann die Offenheit ihres Geistes und das Einvernehmen unter ihnen.« (Lahcen Alaoui, 2008)
Die zweite oder dritte Generation im Familienbetrieb startet – zugespitzt formuliert – unter umgekehrten Vorzeichen: Ihre Eltern haben bereits ›alles‹ erreicht, was zu ihrer Zeit möglich war. Den Familien ist ein ökonomischer ebenso wie gesellschaftlicher Aufstieg gelungen, der sich wie aufgezeigt nicht nur an der Betriebsgröße, sondern auch am Grad der Vernetzung sowohl innerhalb der Region als auch nach außen, der Integration in den Exportmarkt und den Handelsbeziehungen nach Europa festmachen lässt. Handlungsspielräume – auch mit räumlicher Mobilität verbunden – haben sich um ein Vielfaches erweitert. Den Kindern wurde ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten eröffnet, insbesondere ihren Bildungsweg aber auch ihre Startbedingungen im Export betreffend. Diese Aufstiegsgeschichte ist Vorbild und Mahnung an die kommende Generation zugleich, die Möglichkeiten, mit denen sie ausgestattet wurde, nicht ungenutzt zu lassen. Hierfür steht exemplarisch der abschließende Ausschnitt aus dem Gespräch mit Mustapha Jazouli:
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»Das ist die Zukunft der [Enkel-]Söhne, das ist nicht unsere Zukunft, unsere Zukunft haben wir verwirklicht. [D]as Ziel unseres Vaters ist erreicht, wir sind in einer sehr zufriedenstellenden Lage, wir haben keine Kredite, wir haben keine ... wir haben sogar Träume wahr werden lassen! Wir sind viel gereist, unser Vater hat uns immer ermutigt, die Welt zu sehen ... – er konnte nicht lesen und schreiben – aber er war auf der Höhe der Gedanken seiner Zeit ... ! Er hat sogar große Maschinen gekauft [...], die Farmen elektrifiziert, die Viehzucht modernisiert ... vorher war die Viehzucht nur für die Familie, dann wurde sie produktiv! Im Gewächshaus zu produzieren – in den 1960er Jahren war das unvorstellbar, das sind ungemeine Investitionen [...], das hat einen enormen Wert! [E]in Mann, der mit einem Kamel angefangen hat [...] und am Ende seiner Karriere einen Mercedes fuhr!« (Mustapha Jazouli, 2008)
Jungunternehmer: ›Ein Bürojob, das war nicht mein Fall‹ Der zweite Typ von Exportlandwirt umfasst Betriebe, die von – wie ich sie im Folgenden nennen möchte – ›Jungunternehmern‹ gegründet und aufgebaut wurden. Diese Gruppe von Exportlandwirten stammt nicht aus dem Souss, sondern oft aus Städten wie Casablanca, Fès oder Marrakech, teils aber auch aus anderen ländlichen Regionen Marokkos. Der Typus des Jungunternehmers zeichnet sich durch sein Bildungskapital – zumeist eine (Hochschul-)Ausbildung in einem agrarwirtschaftlichen Studiengang – aus. Während erste Investitionen in einigen Fällen bereits im Rahmen des Bananenbooms in den 1980ern erfolgten, sind die nachfolgend portraitierten Exportlandwirte gegenwärtig auf die Gemüseproduktion im Gewächshaus spezialisiert. Die Diversifizierung der Produktion ist ein wichtiges Anliegen – erfolgt jedoch überwiegend im Gemüsesegment; Investitionen in Zitrusfrüchte wurden zum Zeitpunkt der Interviews (2006 bis 2008) nur in Einzelfällen angedacht. Neben der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Aufwärtsmobilität der Familienbetriebe lässt sich auch die Geschichte vieler Jungunternehmer als Aufstiegsgeschichte beschreiben. Im Gegensatz zu den Familienbetrieben handelt es sich hier jedoch um Erfolgsgeschichten von Einzelpersonen, die ohne über einen familiären Hintergrund im Souss zu verfügen in den Exportsektor eingestiegen sind. Ihr Netzwerk und ihre sozialen Beziehungen vor Ort mussten sie sich zunächst aufbauen. Der Zusammenschluss mit anderen Produzenten – oft gleichermaßen Jungunternehmer – beispielweise zu Kooperativen, hatte für viele von ihnen eine zentrale Funktion für ihre Etablierung im Exportsektor der Region. Der familiäre Hintergrund der Jungunternehmer, die im Folgenden vorgestellt werden, ist divers: Er reicht von gut situiert bis hin zu einer Kindheit in ärmlichen Verhältnissen. Die ›Eintrittskarte‹ in den Exportsektor – die agrari-
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sche Ausbildung – nimmt in den biographischen Schilderungen daher einen sehr unterschiedlichen Stellenwert ein: Zugänge zum Bildungssystem können durch die Familie hart erkämpft worden sein oder erscheinen vielmehr selbstverständlich. Stellvertretend für den letzten Fall stehen Brahim Filali und Abdelkabir Amazouz. Beide stammen aus gut situierten Städterfamilien. Schulbildung und ein Hochschulstudium, auch in Europa, stellten für sie keine Hürden dar, einzig ihre Entscheidung für die Landwirtschaft zeichnet sie innerhalb ihrer Familie aus. Dabei betonen beide, dass es das Interesse war, welches sie zur Landwirtschaft gebracht hat: »Das ist eine außergewöhnliche Sache, ich bin Städter, ich komme aus einer städtischen Familie über mehrere Generationen hinweg. Ich bin der Einzige in der Familie, der sich für die Landwirtschaft entschieden hat, und es gefällt mir – und heute habe ich zwei Söhne, die sich auch entschieden haben, in die Landwirtschaft zu gehen.« (Brahim Filali, 2006) »Niemand aus meiner Familie ist Landwirt, Produzent. [I]ch hatte zwei Bewerbungen laufen, Pharmazie in Prag oder Nahrungsmittelindustrie in Montpellier, beides hat mich interessiert. [U]nd als ich die Zusage von Montpellier bekam, sagte ich mir, gut ... und ich habe gemerkt, dass mich das interessiert.« (Abdelkabir Amazouz, 2006)
Im Gegensatz dazu erscheint vor dem familiären Hintergrund von Abderrazak Mouisset und Tariq Oualalou eine schulische Karriere, geschweige denn der Besuch einer Hochschule, unwahrscheinlicher: Sie schildern ihre familiären Verhältnisse als äußerst bescheiden. Der Bildungsweg gewinnt so eine zentrale Bedeutung in der Darstellung ihrer Biographie. Der Zugang zu Schulbildung wird als großes Glück empfunden, denn mitunter war bereits der Besuch einer weiterführenden Schule mit Hürden in Form von räumlichen Distanzen verbunden, die überwunden werden mussten: »Ich bin in einer bescheidenen Familie aufgewachsen, mit einem sehr bescheidenen Einkommen. [E]s war weder die Mittelschicht, noch die Oberschicht, wir hatten gerade so ... gerade so unser Auskommen. Aber immerhin hatte ich diese Möglichkeit, eine Ausbildung zu bekommen.« (Abderrazak Mouisset, 2008) »Mein erstes Paar Schuhe habe ich im Alter von elf Jahren getragen [...], das erste Mal, dass ich in einem Transporter mitgefahren bin, war mit elf, das erste Mal, dass ich einen Fernseher gesehen habe, war mit elf ... das war eine große Veränderung, der Moment, als
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ich das Dorf verließ, um die weiterführende Schule zu besuchen, diese Schule war 80 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt.« (Tariq Oualalou, 2008)
Sich unter diesen widrigen Umständen die Ressource Bildung zu erarbeiten, war aufwendig und kostete Zeit, Engagement und Durchhaltevermögen – mitunter von der ganzen Familie. In der Schilderung von Tariq Oualalou, der aus einem Dorf im Mittleren Atlas stammt, ist es der Vater, der aufgrund seiner eigenen Geschichte zur zentralen Person wird, die für seine Kinder einen Zugang zu Bildung erkämpft, der ihm selbst versagt geblieben war: »Wir sind in einer armen Familie aufgewachsen, sehr, sehr arm, auch mein Vater wollte zur Schule gehen, 1950. Er war der Jüngste der Familie, aber da er seinen Vater im Alter von sieben Jahren verlor, ließ ihn seine Familie nicht zur Schule ... so hat er all das im Gedächtnis behalten und sich aufgeopfert für die Ausbildung seiner Kinder. [M]ein Vater war Arbeiter, aber auch Schneider, von Hand. [E]r hat sein Leben dafür gegeben, seine Kinder zur Schule zu schicken, und wir sind die einzige Familie im Dorf [...], ich glaube sogar in der ganzen Gemeinde [...], in der fünf Kinder das Abitur gemacht haben, vier Jungen und ein Mädchen – um ihnen zu verdeutlichen, welche Bedeutung die Ausbildung für ihn hatte.« (Tariq Oualalou, 2008)
Weitere Hürden gab es auch im Anschluss an das Abitur. So berichtet Abderrazak Mouisset von mehreren aufwendigen Auswahlverfahren, in denen es ihm gelang, sich gegen viele Mitbewerber durchzusetzen: »In der Schule hatte ich keine Probleme. [...] 1983 habe ich mein Abitur gemacht [...], ich war nicht genial, aber ... ich war ein guter Schüler, ich hatte immer sehr gute Noten, auch im Abitur. Ich habe am Auswahlverfahren teilgenommen für das Institut Vétérinaire in Rabat, das war sehr gefragt, alleine in Marrakech waren wir 3.600 Bewerber [...] und 40 wurden aufgenommen. [I]m ersten Jahr waren wir zwischen 500 und 600 Studenten, zu der Zeit hieß das APESA, Année Préparatoire aux Etudes Supérieures d’Agronomie, das dauerte ein Jahr und man hatte nur die Grundfächer – Mathematik, Biologie, Biochemie. [U]nd dieses Jahr endete mit einem Auswahlverfahren, nicht mit einer Prüfung – wenn du das Auswahlverfahren nicht bestanden hast, dann warst du raus, und von diesen 500 waren wir glaube ich 300, ein bisschen weniger, die durchgekommen sind.« (Abderrazak Mouisset, 2008)
Anzutreffen sind darüber hinaus auch Jungunternehmer mit landwirtschaftlichem Hintergrund. Aziz Rachik beispielsweise stammt aus einer etablierten landwirtschaftlichen Familie aus dem Gharb im Nordwesten Marokkos. Er stu-
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dierte Agrarwissenschaften in Marokko und in Frankreich, entschied sich nach seiner Rückkehr jedoch bewusst, nicht in den elterlichen Betrieb einzusteigen, sondern sein eigenes Projekt zu gründen. Sein Verhältnis zum Familienbetrieb beschreibt er wie folgt: »Mein Vater ist Landwirt seit 50 Jahren und mein Großvater war Landwirt, es liegt also in der Familie, aber – bevor wir das vergessen – ich habe den Familienbetrieb nicht übernommen. [D]er Familienbetrieb liegt bei Sidi Kacem, im Gharb. [M]ein Betrieb, den ich hier aufgebaut habe, das ist mein eigenes Ding, er gehört mir, ich bin der einzige Eigentümer.« (Aziz Rachik, 2006)
Auch in einer Situation, in der die Familie versuchte, ihn in den Familienbetrieb zurückzuholen, standen für ihn schließlich individuelle Entfaltung und Unabhängigkeit im Vordergrund: »1995 rief mich mein Vater an, er sagte mir, hör’ zu, die Familie braucht dich, wir haben 400 Hektar im Gharb, komm’ und hilf’ uns und so weiter ... wir müssen investieren und so weiter ... . [I]ch bin also zu ihnen gefahren, ich habe ein paar Studien gemacht und es hat sich tatsächlich herausgestellt, dass es zu teuer für sie war. [N]ach eineinhalb Jahren habe ich verlangt, zu gehen, denn ich sah keine Möglichkeit, mich zu entfalten, mich weiterzuentwickeln. [I]ch sagte zu meinem Vater, ich gehe, er sagte, was willst du machen, ich habe gesagt, wir werden sehen, zunächst gehe ich, ich habe keine Lust irgendwo zu bleiben, wo ich mich nicht entfalten kann.« (Aziz Rachik, 2006)
In der Figur des Jungunternehmers spiegelt sich die starke Präsenz von NichtSoussis in der Exportlandwirtschaft des Souss: Junge, gut ausgebildete Agraringenieure und Techniker aus ganz Marokko wurden – und werden nach wie vor – von der intensiven, exportorientierten Landwirtschaft der Region angezogen. In der Rekonstruktion der Betriebsgründungen fällt zugleich auf, dass die Jungunternehmer nicht mit dem ausformulierten Ziel in den Souss kamen, einen Exportbetrieb zu gründen. Der Souss stellte für viele zunächst eine Etappe in der beruflichen Laufbahn dar: Sie kamen nach Agadir, um eine Stelle in einer Agrarinstitution (wie ORMVA, OCE) oder auch einer Exportgruppe anzunehmen. Die Möglichkeit sich selbstständig zu machen sahen und ergriffen sie erst, nachdem sie bereits einige Zeit im Souss gearbeitet hatten. Unter Umständen erfolgte die Entscheidung für die Selbstständigkeit auch über den Zwischenschritt einer angestellten Tätigkeit in der Privatwirtschaft, beispielsweise als Ingenieur oder Verwalter einer Farm. Durch die berufliche Tätigkeit im Sektor konnten Netz-
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werke aufgebaut werden, die bei der Betriebsgründung von entscheidender Bedeutung waren: »Ich bin hierhergekommen, um die Landwirte zu betreuen, ich habe die Region kennengelernt, ich habe die Leute kennengelernt ... und ich konnte mir auch ein ... ein Vertrauensund Erfahrungskapital aufbauen, das es mir erleichtert hat, mich in dieser Region niederzulassen.« (Brahim Filali, 2006) »In dem Rahmen habe ich Leute hier kennengelernt, Produzenten, das war für mich eine Entdeckung, die Produktion im Gewächshaus, der Export, all das ... und ich habe mich eingelebt, Freunde gefunden ... und nach zwei Jahren sagte ich mir, warum nicht ich? Warum nicht ich?« (Abderrazak Mouisset, 2008)
Zwei Faktoren kamen hinzu, in denen auch für die Jungunternehmer Zeitfenster eine wichtige Rolle spielten. Zum einen war dies der beginnende Aufschwung der Region zum Zentrum der marokkanischen Gewächshausproduktion in den 1980er Jahren. In diesem Rahmen entstand eine privatwirtschaftliche Nachfrage nicht nur nach Landarbeitern, sondern auch nach ausgebildeten Arbeitskräften. So konnten Einblicke in die sich entwickelnde intensive Landwirtschaft und die sich darin eröffnenden Gewinnchancen gewonnen werden: »Und so haben wir angefangen ... aber wir hatten auch Glück, denn das war, wenn Sie so wollen, der Aufbruch, der wirkliche Aufbruch der modernen Landwirtschaft in der Region Agadir. Die Leute brauchten Angestellte, sie brauchten Techniker, um [...] ihre Betriebe auf Vordermann zu bringen, und so begann ich, in einem Gemüsebetrieb zu arbeiten.« (Nabil Bouguenouch, 2006) »Als wir sahen, wie viel Geld dieses Unternehmen verdient hat [...], da haben wir uns gesagt, wir müssen uns so schnell wie möglich in diesem Bereich selbstständig machen, hier kann man noch Geld verdienen [...], anstatt Angestellter zu bleiben, kann man zwei, drei Mal so viel verdienen, wie als Angestellter.« (Tariq Oualalou, 2008)
Zum anderen eröffnete sich mit der Einrichtung des Kreditprogramms Crédit Jeunes Promoteurs durch den marokkanischen Staat 1988 ein zweites Zeitfenster (Louali 2003): Das Programm ermöglichte es jungen Hochschulabsolventen erstmals, sich mit Gründerideen selbstständig zu machen, indem Kredite mit niedrigen Zinsen und geringem Eigenanteil vergeben wurden. Eine Reihe der hier vorgestellten Exportlandwirte hat von dieser Möglichkeit profitiert – manch einem wäre die Betriebsgründung ohne diese Kreditmöglichkeit vielleicht sogar
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versagt geblieben. Es verwundert daher nicht, dass ein Produzent den Kredit als ›Revolution‹ bezeichnet. Für diejenigen Jungunternehmer, die ihn wahrgenommen haben, wurde der Crédit Jeunes Promoteurs zur tragenden Säule ihrer Gründungsgeschichte und steht symbolisch für die Ermöglichung der Selbstständigkeit wie auch zugleich für einen Ausweg aus einem abhängigen Dasein als Angestellter: »Und der Staat vergab einen Kredit, den sogenannten Crédit Jeunes Promoteurs. [Er] vergab einen Kredit über 1 Million Dirham und das habe ich genutzt. [I]ch wollte unabhängig sein und dieser Kredit gab mir dazu die Möglichkeit.« (Fathallah Abbad, 2006) »Und dann hatten wir das Glück, von einem Kredit zu profitieren, der hieß Crédit Jeunes Promoteurs. [D]er Staat hatte entschieden, Kredite zu vergeben [...], um den Privatsektor zu fördern, so dass man, anstatt bei anderen zu arbeiten, die Chance erhielt, sich selbstständig zu machen. So dass man selbst ein wohlhabender Produzent und Arbeitgeber wird – man selbst schafft Arbeitsplätze, anstatt dass man Angestellter ist!« (Nabil Bouguenouch, 2006) »Was ich bekam, war wenig, ich hatte etwa 40.000 Euro [...] für eine Produktion im Gewächshaus – das ist nichts, wenn man mir heute 400.000 Euro gäbe, würde ich nicht anfangen! Aber für mich war es eine Gelegenheit, die 40.000 Euro haben es mir erlaubt ... sie haben es mir erlaubt, ein Abenteuer zu wagen, mich ins kalte Wasser zu stürzen – und dann sehen wir weiter. Ich habe versucht, nicht allzu viel nachzudenken, denn wenn ich die ganzen Risiken abgeschätzt hätte, dann hätte ich es nicht gemacht. Aber ich sagte mir, wenn du Beamter bleibt, verlierst du alles, du wirst nichts verdienen. [I]ch sagte mir, du nimmst die 40.000 Euro und legst los – und wenn es zehn Jahre dauert, um loszulegen, dann hast du wenigstens losgelegt.« (Abderrazak Mouisset, 2008)
Die Abgrenzung der Selbstständigkeit von der Tätigkeit als Angestellter oder im öffentlichen Dienst – die als ›langweiliger Bürojob‹ mit geregelten Arbeitszeiten, geringen Verdienstaussichten und nicht mehr vorhandenen Aufstiegsmöglichkeiten dargestellt wird – zieht sich als Leitmotiv des Unternehmertums durch zahlreiche biographische Erzählungen: »Ich habe drei Jahre in der Verwaltung gearbeitet und ... ich habe mich nicht wohl gefühlt in der Verwaltung, ich habe bestimmte ... bestimmte Hierarchien nicht akzeptiert, die nicht gerechtfertigt waren, und es gab auch ein paar Missverständnisse mit meinem Vorgesetzten. Als ich die erste Gelegenheit hatte zu gehen, bin ich gegangen.« (Tariq Oualalou, 2008)
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»Ich [...] wurde auf einen Dienst in der Staatsverwaltung berufen und da sagte ich mir, das interessiert mich nicht. [I]ch sagte mir, nein, das sagt mir nicht viel, in einem Büro arbeiten, mich an die Arbeitszeiten halten, um acht Uhr anfangen, dann Mittagspause, um zwei geht’s wieder los – da habe ich mir gesagt, nein, ich will nicht im öffentlichen Dienst arbeiten. [I]ch sagte mir, ich gehe lieber in die Privatwirtschaft.« (Nabil Bouguenouch, 2006) »Als ich beim ORMVA war, war ich Ingenieur, ich bin aufgestiegen und war am Ende Regionalbeauftragter und dann technischer Direktor, das war die Spitze, weiter kann man nicht kommen, und ich hab’ mir gesagt, nun muss ich was anderes machen.« (Brahim Filali, 2006) »Ich habe in einer Exportgruppe gearbeitet. [...] [S: Warum dann diese Entscheidung zu wechseln?] Ich hatte die Nase voll vom Chef (lacht)! Das stimmt, das versichere ich Ihnen! Ich wollte etwas anderes machen, ich wollte ... ich wollte kein Angestellter mehr sein.« (Fathallah Abbad, 2006) »Und um ehrlich zu sein, nach drei Jahren in der Lehre habe ich gemerkt, dass das nicht mein Platz war, auf diese Weise statisch in einer Schule zu bleiben ... das war nicht meine Arbeit, das ist nicht mein Naturell ... das hat mir nicht gefallen, das hat mir überhaupt nicht gefallen. Das ist eine starre Geisteshaltung, die mir nicht zusagt, ich ... ich habe berufliche Freiheit gesucht, Risiko, Abenteuer und Entfaltung.« (Abderrazak Mouisset, 2008)
Anders im Fall von Fouad Achouri – hier erfolgte der Schritt in die Selbstständigkeit nicht auf sein eigenes Bestreben hin. Er arbeitete in einer öffentlichen Agrarinstitution und wurde gegen seinen Willen entlassen. Im Rückblick erscheint jedoch auch ihm die berufliche Niederlage als Wendepunkt in seinem Leben. Positiv neu interpretiert repräsentiert die erzwungene Umorientierung den Start in seine spätere Existenz als erfolgreicher Exportproduzent und eigener Chef: »Ich habe vieles gemacht, ich war Plastikverkäufer, Kartonverkäufer, ich habe Agrarprodukte verkauft, war Makler für Leute, die Land kaufen wollten [...], ... denn als sie uns rausgeworfen haben, haben sie uns nicht vorgewarnt, am nächsten Tag haben sie die Tür geschlossen – raus, ganz einfach! [W]ir haben uns durchgeschlagen ... und sie haben uns noch einen Gefallen getan! Früher sagten wir, diese Leute haben uns Unrecht getan – nein, ich sage, sie haben uns einen Gefallen getan, wenn sie uns in der Verwaltung hätten arbeiten lassen, dann wären wir jetzt arme Schlucker, kleine Angestellte, die die Arbeits-
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zeiten einhalten, acht Uhr, Mittag, zwei Uhr, sechs Uhr, und dann wären wir gestorben! Während jetzt, jetzt sind wir Chefs geworden, für uns selbst, wir haben ein Kapital, wir haben Geld, wir können ... uns entfalten, wir können reisen ... das war gut, was sie gemacht haben, für mich ... davor war es schlecht, aber jetzt ... [...], jetzt haben sie uns einen Gefallen getan, uns rauszuschmeißen!« (Fouad Achouri, 2006)
Nicht nur die Auswahl der Souss-Ebene als Betriebsstandort ergab sich im Fall der Jungunternehmer meist aus der beruflichen Entwicklung heraus – auch die Spezialisierung auf den Tomaten- oder Gemüseexport war mitunter nicht Bestandteil der Betriebsplanung. Oft geschah die Entwicklung des Exportmarkts erst nachgelagert: Je nach Zeitpunkt des Einstiegs in die Selbstständigkeit erfolgte die Investition in unterschiedliche Kulturen und konnte auch zunächst auf den regionalen Markt ausgerichtet sein. Prominentes Beispiel hierfür ist die Bananenproduktion, in die in den 1980er Jahren zahlreiche marokkanische Kapitalanleger investierten, mit der jedoch auch eine Reihe von Jungunternehmern ihren Betrieb startete. Die Banane galt als äußerst einträgliche und zugleich leicht zu beherrschende Kultur – eine Kultur ohne große Risiken, weder für den Produzenten noch für die Bank: »Und wir haben losgelegt ... denn es gab eine Kultur, die war sehr bekannt, das war die Banane, man sagte, das sei eine rentable Kultur, auch für die Bank. [D]as war, wenn sie so wollen, ein abgesicherter Kredit, wir geben ihnen das Geld, sie bauen Bananen an und sie werden Erfolg damit haben.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
In den 1990er Jahren jedoch erschwerten klimatische ebenso wie agrarpolitische Rahmenbedingungen den Bananenanbau und es kam zunehmend zu Verlusten (vgl. ›Liberalisierung und Großkapital‹). Zahlreiche Besitzer von Bananengewächshäusern begannen sich umzuorientieren und suchten nach Kulturen, für die sie ihre bereits vorhandene Infrastruktur nutzen konnten – der Gemüseanbau im Gewächshaus, und allen voran die Tomate, erfuhr einen starken Aufschwung. Brahim Filali beschreibt diesen Prozess wie folgt: »Als wir Bananen angebaut haben waren wir vier oder fünf Marokkaner. [B]ananen waren sehr teuer und nach und nach, als immer mehr Leute Bananen angebaut haben, sind die Preise der Banane gefallen. Und als der Preis bis auf ein Niveau gesunken war, wo es nicht mehr rentabel für mich war, habe ich mit Bananen aufgehört und bin zur Tomate gekommen.« (Brahim Filali, 2006)
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Die Jungunternehmer Nabil Bouguenouch und Abderrazak Mouisset stiegen im Vergleich zu Brahim Filali erst Anfang der 1990er Jahre in die Bananenproduktion ein – zu einem Zeitpunkt, als die besonders lukrative Phase bereits vorbei war. Auch sie sahen ihre Zukunft in der Gemüseproduktion: »Leider haben wir viele Schwierigkeiten gehabt, denn die Banane war zu der Zeit bereits sehr verbreitet. Es gab ein großes Angebot und die Preise begannen zu sinken, das war nicht mehr so wie für die Leute, die mit der Banane angefangen hatten. [U]nd so sagten wir uns, passt auf, das ist nicht die richtige Kultur für uns, und wir begannen, auf Gemüseprodukte umzustellen.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
Abderrazak Mouisset berichtet darüber hinaus, wie er sich gegenüber der Bank – die für die Gewährung der Kredite nach wie vor die Bananenproduktion propagierte – eines Tricks bediente. Nur durch die Nicht-Einhaltung der Vorschriften der Bank, so resümiert er im Rückblick, sei es ihm damals gelungen, seinen Betrieb erfolgreich zu gründen: »Die Bank drängte uns dazu, Bananen anzubauen – aber ich war nicht überzeugt von der Banane! Ich wollte Gemüseproduzent sein. Ich ging zu einem Kollegen und holte mir Bananenpflanzen, um sie in meine Farm zu setzen – nachdem die Beauftragten der Bank vorbeigekommen waren und die Bananen gesehen hatten, habe ich sie seinem Eigentümer zurückgebracht und mein Vorhaben weiter verfolgt (lacht)! Und wenn ich wirklich Bananen angebaut hätte, damals, dann ... (macht eine Geste bei der er sich an den Hals fährt) ... wär’s das gewesen!« (Abderrazak Mouisset, 2008)
Welche weiteren Faktoren haben im Fall der Jungunternehmer zu einem Gelingen des ›Projekts Selbstständigkeit‹ beigetragen, wie gelang es den Jungunternehmern, sich Handlungsspielräume im Export zu erschließen, sie zu festigen und auszubauen und wie wird der Aufstieg im Exportsektor individuell rekonstruiert? Die hier portraitierten Jungunternehmer führen ihren Erfolg sowohl auf individuelle Eigenschaften als auch auf glückliche äußere Umstände oder sogar Zufall zurück. Als weiterer Aspekt wird schließlich der Aufbau von Netzwerken des Vertrauens und der Kooperation auf verschiedenen Ebenen wie die Beziehung zu Lieferanten von Agrarmaterialien oder der Zusammenschluss mit anderen Produzenten zu Kooperativen oder Exportunternehmen beschrieben. Im Hinblick auf die individuellen Eigenschaften wird besonders die ›Seriosität‹ in den Vordergrund gestellt. ›Seriös‹ zu sein bedeutet dabei, über Charakterzüge wie Ernsthaftigkeit, Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit zu verfügen, die sich in der Arbeitseinstellung niederschlagen und den Aufbau des Betriebs, den Um-
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gang mit Krediten ebenso wie die alltägliche Arbeit auf der Farm bestimmen. Mit Blick auf die alltägliche Arbeit wird dabei stets der Faktor Präsenz hervorgehoben, womit zum einen die rein physische Präsenz auf der Farm gemeint ist: Sie erlaube eine stetige Kontrolle und Überwachung der Produktion oder sei für diese sogar erforderlich; nur so könnten Probleme wie Schädlingsausbreitung oder Krankheiten schnell erkannt und behoben werden. Der Wunsch, diese Präsenz im Betrieb aufrechtzuhalten, wird auch als Grund angeführt, weshalb sich einige meiner Interviewpartner zum Zeitpunkt des Interviews auf verhältnismäßig kleine Gewächshausgrößen von um die 10 Hektar beschränkten und keine Erweiterungen planten. Im nachfolgenden Interviewausschnitt beschreibt Nabil Bouguenouch zunächst diese Form von Präsenz. Im Anschluss gewinnt der Faktor Präsenz eine weitere Bedeutungsebene – die der Marktpräsenz zum richtigen Zeitpunkt – hinzu, die mit der alltäglichen Präsenz in unmittelbarem Zusammenhang steht: »Man muss hart arbeiten in der Farm, hart, man muss da sein, immer, vom Morgen bis zum Abend, jeden Tag der Woche, kein Urlaub, man muss da sein ... . [D]as ist das Wichtigste der Arbeit, der Hartnäckigkeit, der Seriosität der Tomatenproduktion: Man muss immer da sein, von Anfang an, nie nachgeben, wenn es nicht läuft ... wenn man Geld verliert, dann steckt man noch mehr Geld rein, dann wird man ... noch mehr Geld verlieren, aber man gibt die Produktion nicht auf. [W]enn man nicht aufhört, seriös ... sauber ... professionell zu arbeiten und wenn dann die Preise gut sind, dann hat man Tonnage, und dann kann man das, was man ausgegeben hat, wieder reinholen. Das ist, wenn Sie so wollen, der Schlüssel zum Erfolg.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
Das Motiv der Seriosität zeigt sich daneben deutlich in der Beschreibung des Umgangs mit Krediten. Die Betonung liegt hier vor allem auf einer ›Haltung der Wachsamkeit‹ und dem Wunsch, Kredite so zügig wie möglich zurückzuzahlen. Nabil Bouguenouch hebt hervor, dass das anfangs verdiente Geld, solange noch Kredite bestehen, nicht als Gewinn betrachtet werden dürfe. Diesen Fehler hätten einige Produzenten begangen und die anfänglichen Geldflüsse ausgegeben, ohne Rücklagen zu bilden oder in den Betrieb zu investieren: »Die Leute, die ... wenn Sie so wollen, nicht so betreut wurden, nicht so gut organisiert waren, wenig Ahnung hatten, die dachten, das wäre ihr Geld. Aber wenn du das Geld erhältst, darfst du nicht vergessen, dass du Kredite hast, du darfst nicht vergessen, dass du Geld zurückzahlen musst, und deshalb musst du das Geld unbedingt wieder investieren, um nach zwei Jahren in der Lage zu sein, deinen Verpflichtungen nachzukommen und deine Kredite und Schulden zu bezahlen! [D]enn das, was wir verdient haben ... wir haben
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es uns nicht erlaubt, neue Autos zu kaufen, wir haben es uns nicht erlaubt, Häuser zu kaufen, wir haben es uns nicht erlaubt, das Geld hier und da auszugeben, nein, dieses Geld haben wir investiert, um unseren Verpflichtungen gegenüber der Bank und dem Staat nachzukommen, das war der Anfang.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
Um eine schnelle Rückzahlung zu erzielen wurden beispielsweise zunächst Produkte mit einem kürzeren Reifezyklus oder Vermarktungsmethoden ausgewählt, die einen schnellen Kapitalrückfluss erlaubten. Der junge Produzent Abdelkbir Amazouz, der sich 2002 selbstständig machte, produzierte zunächst Melonen, die, so erklärt er, bereits nach 60 Tagen geerntet und verkauft werden. So konnte er schnell mit der Rückzahlung der Kredite beginnen und darüber hinaus den Betrieb erweitern. Die Rückzahlung der Kredite stand auch für Aziz Rachik im Vordergrund, der wie Nabil Bouguenouch auf Produzenten verweist, denen es nicht gelungen sei, sich in der Exportproduktion zu etablieren: »Ich mag keine Kredite ... und ich bin, ich würde nicht sagen, sehr ängstlich, aber ich bin sehr wachsam, denn ich habe Pleiten in der Landwirtschaft gesehen, Leute, die sehr weit gekommen waren und auf die Schnauze gefallen sind, weil sie zu viel auf einmal wollten oder die Dinge falsch eingeschätzt haben oder weil oder weil oder weil – und, ich weiß nicht, das ist vielleicht ein Teil meines Erfolgs in den ersten drei Jahren, dass ich immer sofort verkauft habe. [W]arum, weil es mein wichtigstes Ziel war, meine Kredite zurückzuzahlen.« (Aziz Rachik, 2006)
Nicht zuletzt, auch dies geht aus den Gründungserzählungen der Jungunternehmer hervor, ist nicht jede Erfolgsgeschichte auch auf eine Erfolgsstrategie zurückzuführen. Oft hilft das Glück oder der Zufall dem Erfolg auf die Sprünge. Ein Beispiel dafür ist das Agrarjahr, das ungeplant oder sogar durch zunächst widrige Umstände bedingt zum Glücksfall wurde, und so im Rückblick des Produzenten den weiteren Verlauf der Betriebsentwicklung entscheidend beeinflusste. Sowohl Aziz Rachik als auch Abdelouadhid Elyazghi wichen in einem Jahr unbeabsichtigt vom durchschnittlichen Rhythmus der Pflanzung ab, was sie dann in die Lage versetzte, vor bzw. nach den anderen Produzenten Ware liefern zu können. So erzielten sie außergewöhnlich gute Preise und konnten in einem Jahr überdurchschnittlich hohe Gewinne realisieren. Im Fall von Abdelouadhid Elyazghi waren es Lieferschwierigkeiten mit dem für die Gewächshäuser notwendigen Plastik, die ihn dazu zwangen, erst im Dezember mit seiner Produktion zu beginnen:
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»Somit war ich sehr spät dran mit meiner Produktion, mit all den Schwierigkeiten, die ich hatte, war ich sehr spät dran. [D]ie Preise waren nicht gut, aber ich mit all meinen Schwierigkeiten und der Verspätung ... das hat mir geholfen, im März und April eine Produktion zu haben [...], als die anderen ihr Agrarjahr fast beendet hatten. Ich (lachend) habe mein Agrarjahr auf März und April verlegt und ... und das war der Moment, wo ich einen guten Start hingelegt habe. [D]as war mein erstes Jahr, das mir im Nachhinein sehr viel geholfen hat. [S: Aber das war ein bisschen per Zufall?] Ja, das war ein bisschen per Zufall, das war per Zufall, das war kein Stück geplant.« (Abdelouadhid Elyazghi, 2006)
Aziz Rachik schildert, wie er ausgerechnet von der Furcht vor dem durch die mouche blanche (Gewächshausmottenschildlaus, lat. Trialeurodes vaporariorum) übertragenen TYLC-Virus (Tomato yellow leaf curl virus) profitierte. Der Virus wurde 1998 erstmals in Marokko registriert und hatte die Tomatenproduktion im Souss im Jahr 1999/2000 bereits weitgehend beeinträchtigt (PNTTA 2000): »2001 gab es in Marokko den Virus, den TYLC [...], der über die mouche blanche übertragen wird und in diesem Jahr hatten die Leute große Angst [...], sie haben erst sehr spät gepflanzt und ich, ich war ... vielleicht ein bisschen selbstmörderisch, das war aus Leichtsinn – heute hätte ich das nicht gemacht – ich habe normal gepflanzt und ich habe mit dieser mouche blanche gekämpft, ich habe keine mouche blanche gehabt und war in der Lage [...], vor allen anderen zu verkaufen, zu einem einzigartigen Preis. [U]nd direkt danach habe ich fast meine gesamten Kredite zurückgezahlt, nicht alles, aber fast.« (Aziz Rachik, 2006)
Nicht zuletzt wird der Auf- und Ausbau von sozialen Netzwerken in der Region als zentrales Erfolgskriterium hervorgehoben, das alle Ebenen – Produktion, Verpackung und Export – maßgeblich beeinflusst. Die ›Agrarwelt‹, der Kreis der Produzenten, aber auch der weiteren Akteure im Exportsegment des Souss ist ein kleiner Kreis, in dem man sich schnell untereinander kennt, gegenseitig einordnet und eingeordnet wird. »In der Landwirtschaft hier im Souss, da kennst du die Leute, du kennst alle ... mit der Zeit weißt du, die da, die sind zuverlässig, die da, die sind nicht zuverlässig, die da, die haben Probleme, denen da geht es gut ... .« (Anouar Layachi, 2006) »Darüber hinaus kannte ich die Leute, denn hier, selbst mit deinem Geld – wenn du hierher kommst und niemanden kennst, das ist schwierig anzufangen, das menschliche Kapital ist sehr wichtig.« (Abdelkbir Amazouz, 2006)
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Auf der Produktionsebene wird auch die Beziehung zu den Lieferanten des Agrarzubehörs – Plastikfolien, Bewässerungsschläuche, Düngemittel, Pestizide – als wichtiger Faktor beschrieben. Gelingt es, das Vertrauen der Lieferanten zu gewinnen, zum Beispiel durch pünktliche und zuverlässige Zahlung, können diese wichtige Kreditfunktionen übernehmen: »Und dann hatten wir auch diese Möglichkeit – das ist ein Glück, das wir in dieser Region haben, denn wenn man sich einen Namen macht, sich eine kleine Berufserfahrung zulegt, dann hat man ein sehr wichtiges Kapital, das ist das Vertrauenskapital: Wenn die Leute dich kennen, dann hast du keine Probleme. Die Leute, die die Produkte verkaufen, geben dir Kredite ohne Probleme, die Leute, die das Plastik verkaufen, geben dir Kredite ohne Probleme, die Leute, die den Dünger verkaufen, geben dir Kredite ohne Probleme. Es war also wichtig für uns, die Arbeitskräfte sofort zu bezahlen. Diesel, Energie und Arbeitskräfte, da kann man keine Kredite aufnehmen – aber für alles, was die Produkte betraf, da hatten wir Möglichkeiten, Erleichterungen, anstatt 90 Tage konnten wir bis zu 120 Tage, manchmal bis zu 150 Tage gehen, bis wir unsere Einnahmen aus der Produktion hatten, das war eine sehr wichtige Sache. Ich wiederhole das immer wieder, diese Geschichte des Vertrauenskapitals, das ist etwas, was es nicht überall gibt. [I]n dieser Region hat das eine große Bedeutung, das hat ein bisschen, wenn Sie so wollen, die Ausbreitung der Landwirtschaft in dieser Region erlaubt.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
Auf- und Ausbau von Sozialkapital wirken sich nicht zuletzt maßgeblich auf die Integration in den Exportmarkt und die Auswahl der Geschäftspartner aus. Einige der Jungunternehmer haben sich zu mittlerweile etablierten Exportkooperativen zusammengeschlossen, die sich vor allem über das hohe Bildungsniveau der Mitglieder und ihre ähnliche Geschichte im Export definieren. Andere haben sich für den Export als Zulieferer oder für Kooperationen mit europäischen Partnern entschieden und auch hier waren soziale Netzwerke, Sympathien und Antipathien ausschlaggebend. Diese Aspekte werden im Abschnitt ›Einbindungen: Handlungsmacht im Export‹ wieder aufgegriffen und eingehender erörtert. Investoren: Exportlandwirtschaft als Kapitalanlage Im Unterschied zu den Familienbetrieben und Jungunternehmern sind die Eigentümer von Exportstrukturen im Souss, die ich als ›Investoren‹ bezeichnen möchte, durch ihre monetären Ressourcen gekennzeichnet, die sie in die Exportlandwirtschaft investieren, jedoch in nicht-landwirtschaftlichen Bereichen erwirtschaftet haben. In diesem Sinne ist der Typus des Investors kein eigentlicher ›Landwirt‹, sondern überwiegend ein urbaner Akteur, der nur selten in seinen
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Farmen oder Verpackungsstationen im Souss selbst präsent ist. Letztere werden zumeist von Angestellten geleitet. Bei diesem Typ von Exportlandwirt kann somit nicht von Aufwärtsmobilität im Kontext des Exportsektors gesprochen werden, da die Kapitalakkumulation der exportlandwirtschaftlichen Tätigkeit bereits vorausging. Vielmehr sind es die agrarpolitischen Rahmenbedingungen, die Anreize dafür schaffen, eine exportlandwirtschaftliche Produktion als Anlageobjekt zu betreiben. Das Primärinteresse des Investors ist die Kapitalinvestition und -akkumulation, die die Exportlandwirtschaft erlaubt. Die Lebensgeschichten der Investoren sind daher nicht wie im Fall der bis hierher vorgestellten Akteure mit der Exportlandwirtschaft im Souss verwoben. Aus diesem Grund zählte der Investor nicht zur Zielgruppe des Personenkreises, mit dem ich biographische Interviews geführt habe. Stattdessen erfolgte eine indirekte Erhebung von Informationen über Gespräche mit Angestellten. Der vorliegende Abschnitt basiert auf diesen Daten, die als Fallbeispiele präsentiert werden. Ungeachtet ihrer geringen persönlichen Präsenz zählen Investoren hinsichtlich ihrer Produktions- und Exportkapazitäten zu den mächtigsten Akteuren im Souss und sind sowohl im Gemüse- als auch im Zitrusfruchtsegment präsent. Investitionen erfolgten im Kontext unterschiedlicher (historischer) Rahmenbedingungen, die sich auch hier als Zeitfenster, innerhalb derer sich verschiedene Möglichkeitsräume eröffneten, rekonstruieren lassen. Wie im vorangegangenen Kapitel (vgl. ›Kontexte: Der Souss‹) erörtert, war die Zitrusfruchtproduktion im Souss von Beginn an, das heißt seit den 1940er Jahren, durch massive Investitionen zunächst von französischer Seite, dann seitens der marokkanischen Elite gekennzeichnet. Die Wiederaneignung und Umverteilung der Kolonialflächen kann in diesem Sinne als ein erstes Zeitfenster für Investoren im Zitrussegment identifiziert werden. Eigenen Schätzungen zufolge besitzen die fünf größten Investoren gegenwärtig alleine knapp ein Viertel der Zitrusflächen und betreiben fünf der 20 Verpackungsstationen für Zitrusfrüchte, die zusammen einen Anteil von knapp 40 Prozent der Zitrusfrüchte aus dem Souss exportieren. Stellvertretend für die Zitrusproduktion sollen hier zwei Unternehmen vorgestellt werden. Sie befinden sich im Besitz von zwei Investoren, die zu den ›Megaproduzenten‹ der Zitrusfruchtproduktion im Souss zählen. Agrumir, das einem Mitglied der marokkanischen Königsfamilie gehört, steht dabei für eine lange Tradition im Zitrusexport. Das zweite Unternehmen Soleil Souss wurde hingegen erst 2003 gegründet. Der Zuspruch von erheblichen Landflächen der ehemals von staatlicher Seite verwalteten Ländereien der SODEA im Rahmen einer Public-Private Partnership erlaubte ihm, innerhalb weniger Jahre stark zu expandieren. Es zählt damit zu den Begünstigten eines aktuellen Zeitfensters, das gegenwärtig den Ausbau von Pro-
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duktions- und Exporträumen strukturiert: die Teilprivatisierung der Staatsländereien seit 2003, die in der jüngeren Vergangenheit einen Prozess der Neuverteilung von Zugängen zu Ressourcen in Gang gesetzt hat und ausgewählten Akteuren neue Handlungsräume eröffnet (vgl. ›Bekenntnisse: Privatisierung und Freihandel‹). ›Vertikale Integration im Zitrussegment‹ Das Unternehmen Agrumir produziert auf insgesamt 1.800 Hektar Landeigentum im Souss, das sich ebenso wie die 1972 errichtete Verpackungsstation im direkten Umkreis von Taroudant befindet. Das Hauptprodukt sind mit 1.700 Hektar und einem Exportvolumen von rund 20.000 Tonnen verschiedene Zitrusfruchtsorten. Daneben werden kleinere Mengen Pfirsiche und Weintrauben exportiert. Mit einem englischen Partner besteht darüber hinaus eine Kooperation für den Anbau und Export frischer Kräuter. Das Unternehmen verfügt neben GLOBALGAP und britischen Standards (Nature’s Choice, Field to Fork) in der Produktion sowie diversen Zertifizierungen der Station unter anderem über den Standard SA8000 (Social Accountability International) hinsichtlich der Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte. Vermarktung und Export der ausschließlich unternehmenseigenen Ware werden vollständig durch das Vermarktungsbüro des Unternehmens gesteuert, das sich ebenfalls in der Station in Taroudant befindet. Die Unternehmensstruktur ist damit weitgehend vertikal integriert. Nicht zuletzt betreibt das Unternehmen eine eigene Baumschule für Zitrus-, Oliven- und Pfirsichbäume. ›Expansion im Kontext des Agripartenariat‹ Der Gründer des Exportunternehmens Soleil Souss stammt aus Zentralmarokko. Seit den 1960er Jahren produziert er Zitrusfrüchte im Souss und exportierte diese lange über die Exportgruppe GEDA. 2003 gründete er sein eigenes Unternehmen und errichtete eine Verpackungsstation in Sebt El-Guerdane. Innerhalb von wenigen Jahren verdoppelte er seine Exporttonnage, die aus eigener Produktion und von zehn vertraglichen Zulieferern stammt, von 15.000 auf 30.000 Tonnen 2007/08. Während der eigene Anteil 2003 noch 3.000 Tonnen betrug, erreichte er 2008 schon 15.000 Tonnen. Gegenwärtig verfügt das Unternehmen über insgesamt 1.400 Hektar Landfläche, von denen 1.200 Hektar bereits in Produktion sind. 500 Hektar davon zählen zu den Landflächen, die Soleil Souss im Rahmen des Agripartenariat zugesprochen bekam. Aktuell finden neue Pflanzungen auf dem noch unkultivierten Land statt. Die Plantagen erstrecken sich über die gesamte SoussEbene von Temsia bis nach Oulad Berhil. Neben GLOBALGAP ist die Produktion auch Fair Trade zertifiziert. Das Vermarktungsbüro von Souss Soleil befindet sich in Casablanca. Von hier aus wird ein Teil der Ware über Fresh Fruit, der andere Teil direkt über eigene Handelspartner vermarktet. Mittlerweile arbeiten auch die drei Söhne des Gründers im Unternehmen, das im Frühjahr 2009 eine Erweiterung der Exporttonnage auf 50.000 Ton-
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nen und den Bau einer zweiten Verpackungsstation anstrebte. Hierfür bewarb es sich in der dritten Ausschreibungsrunde des Agripartenariat für Landflächen in den Regionen Marrakech, Gharb und Beni Mellal. Nicht zuletzt ist Soleil Souss mit Unternehmensausgründungen auch im Saatgut- und Immobilienbereich aktiv.
Investitionen in die Gemüseproduktion erfolgten im Vergleich zur Zitrusproduktion später und ursprünglich zunächst oft in Bananen, die durch das Bananenimportverbot und steuerliche Anreize durch den marokkanischen Staat motiviert wurden (Bouchelkha 1995). Dieses zweite Zeitfenster für Investoren – die Hochphase der lukrativen Bananenproduktion – währte etwa ein Jahrzehnt, während dem Kapital von zahlreichen nicht-landwirtschaftlichen, vor allem städtischen Akteuren in die Gewächshausproduktion floss. Als der Bananenboom Mitte der 1990er Jahre unter anderem im Kontext des Beitritts Marokkos zur WTO ausgebremst wurde, stellten etliche Bananeninvestoren im Souss ihre Produktion um. Die Tomate wurde zur neuen Kultur der Wahl des ebenfalls im Gewächshaus erfolgenden, nun jedoch auf den Export ausgerichteten Frühgemüseanbaus. Diese Umstellung erfolgte häufig in Kooperation mit ausländischen Partnern. Zu diesem Zeitpunkt waren es meist französische Partner, mit denen der auf die Gegensaison ausgerichtete Tomatenanbau ausgebaut wurde. Ein berühmtes und vielzitiertes Beispiel hierfür sind zwei marokkanischfranzösische Joint Ventures, die mit einer Exporttonnage von um die 100.000 Tonnen gegenwärtig knapp ein Drittel der aus dem Souss stammenden Tomaten exportieren (vgl. ›Europäische Akteure: Auslagerung von Produktionen‹). Der marokkanische Partner, ein Industrieller aus Casablanca, kam in den 1980ern über die Bananen- und Rosenproduktion in den Souss und ist ein typischer Vertreter des ›Investors‹. Daneben existiert eine Reihe weiterer Exportunternehmen im Gemüsesegment, die in diesen Entstehungskontext einzuordnen sind und die über Produktionsflächen sowie teils auch eigene Verpackungsstationen im Souss verfügen. Gegenwärtig befinden sich etwa zehn Gemüsestationen im Besitz eines marokkanischen Investors oder marokkanisch-europäischen Joint Ventures, in dem der marokkanische Part als Investor einzuordnen ist. Stellvertretend für die Bandbreite von Investoren im Gemüseexport sollen auch hier zwei Beispiele vorgestellt werden. Das erste Unternehmen Primeurs Agadir repräsentiert den ›klassischen‹ Fall. Es optierte in den 1990er Jahren für eine Umstellung von der Bananen- auf die Tomatenproduktion in Kooperation mit einem französischen Partner. Das zweite Unternehmen Balima, das als eines der Ersten in der Region eine Kooperation mit spanischen Partnern etablierte, steht demgegenüber für den selteneren Fall einer Umstellung von der Bananenzunächst auf die Erdbeer-, dann auf die Bohnenproduktion.
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›Kooperation mit französischen Partnern: Von der Banane zur Tomate‹ Der Unternehmer M.I. aus Casablanca investierte Anfang der 1990er Jahre in die Bananeninvestition im Souss. Gemeinsam mit einem französischen Produzenten wurde 1996 der Anbau auf Exporttomaten umgestellt und 1999/2000 die Verpackungsstation in der Nähe von Biougra errichtet. In den frühen 2000er Jahren endete die Kooperation. Die französische Seite verfügt mittlerweile über eine eigenständige Exportstruktur im Souss. Zu Primeurs Agadir gehören heute zehn Farmen auf insgesamt 150 Hektar Land, das überwiegend gepachtet ist. Der Großteil der Produktion ist GLOBALGAP-zertifiziert. Das Unternehmen exportiert rund 8.500 Tonnen Gemüse, wobei das Hauptprodukt mit 6.500 Tonnen nach wie vor Tomaten sind. In den vergangenen Jahren wurde die Gemüseproduktion diversifiziert und auf den Export von kleineren Mengen Zucchini, Bohnen, Paprika und Peperoni erweitert. Das Unternehmen tätigt keine Zukäufe. Die Vermarktung erfolgt über einen französischen Handelspartner, der seinen Sitz auf dem Großmarkt St. Charles in Perpignan hat. ›Kooperation mit spanischen Partnern: Von der Bananen- zur Bohnenproduktion‹ Der Großindustrielle aus dem Bereich der Mehlmühlenmaschinerie H.L. investierte in den frühen 1980er Jahren in die Bananenproduktion im Souss. Gleich zu Beginn erwarb er rund 100 Hektar Land in der Umgebung von Biougra und produzierte etwa zehn Jahre lang Bananen auf 35 Hektar. 1994 stellte das Unternehmen in Kooperation mit spanischen Partnern, die Saatgut und Setzlinge lieferten und den Transport abwickelten, auf die Erdbeerproduktion um. Hierfür erfolgte der Bau einer Verpackungsstation neben den Farmen. Nach etwa fünf Jahren mäßiger Erfolge im Erdbeerexport entschied das Unternehmen, sukzessive auf den Anbau grüner Bohnen umzustellen, die gegenwärtig auf 43 Hektar produziert werden. Die gesamte Produktion ist GLOBALGAP-zertifiziert und wurde bis 2007/08 über ein marokkanisch-französisches Exportunternehmen im Souss exportiert und vermarktet. Seit 2008/09 wird die Hälfte der Ware über einen neuen spanischen Partner – einen Produzenten und Exporteur aus Almería – vermarktet, mit dem im Frühjahr 2009 eine gemeinsame Erweiterung der Produktion um zunächst 6 Hektar Gewächshausfläche geplant war. Nach dem Tod des Unternehmensgründers befindet sich das Exportunternehmen heute im Besitz seiner Witwe und seiner drei Kinder. Die Familie lebt in Casablanca und Rabat.
Zwei Punkte lassen sich an dieser Stelle festhalten. Zum einen können – äquivalent zu den Betrieben der Familien- und Jungunternehmer – die Unternehmen der Investoren heute von ihrer Gründungsstruktur abweichen und – wie Soleil Souss – auch familiäre Merkmale aufweisen, wenn die Kinder und Erben in das Unternehmen eingestiegen sind oder selbiges fortführen. Zum anderen wird auch gegenwärtig weiter in die Exportlandwirtschaft im Souss investiert. Investitionen
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sind dabei durch zwei Tendenzen gekennzeichnet. Sie werden erstens durch die fortschreitenden Privatisierungen seitens des marokkanischen Staats strukturiert; hier sind die Teilprivatisierungen der Staatsländereien hervorzuheben, die seit 2008 im Rahmen des Plan Maroc Vert fortgeführt werden. Zweitens investieren seit den 1990er Jahren (wieder) europäische Akteure vor allem in die Gemüseproduktion im Souss; europäische Investitionen finden, wie in den Fallbeispielen bereits anklang, sowohl in Kooperation mit Marokkanern als auch individuell statt. Europäische Akteure: Auslagerung von Produktionen Europäische Akteure, das wurde bereits mehrfach deutlich, sind auf verschiedenen Ebenen in die Vergangenheit und Gegenwart der exportorientierten Produktion von Obst und Gemüse im Souss verflochten. Sie zählen nicht nur vom Zwischenhändler, Kommissionär, Importeur und Grossist bis hin zum Einkäufer für Einzelhandelsketten zu den zentralen Handelspartnern,8 sondern dominieren auch maßgeblich die Lieferung des Agrarproduktions- und Verarbeitungszubehörs und das Transportwesen. Europäische Akteure treten darüber hinaus als Kapitalgeber der landwirtschaftlichen Produktion und Verpackung sowie als Produzenten und Eigentümer von Verpackungsstationen auf. Letztere Form des europäischen Engagements im Souss steht im Fokus dieses Abschnitts.9 Dabei existieren vielfältige Formen der Interaktion und Kooperation zwischen marokkanischen und europäischen Akteuren, die zu einer weitgehenden Auflösung sinnvoller nationaler Zuschreibungen führen können, insbesondere wenn es um die Frage der nationalen Deklarierung von Ware geht. Diese teils hinfällig gewordenen Zuschreibungen sollen durch den an dieser Stelle gebildeten Typus der ›europäischen Akteure‹ nicht zementiert werden; im Gegenteil zeigen die weiteren Teile dieses Kapitels vielmehr die vielfältigen teils ambivalenten, teils konfliktbehafteten Dimensionen der Verflechtung auf. Da hier jedoch zunächst die Frage nach der ›Geschichte‹, nach dem Hintergrund der Akteure im Vordergrund steht, erweist sich eine nationale Kategorisierung als aufschlussreich. Seit Ende der 1980er Jahre sind europäische Akteure (wieder) aktiv in die Produktion vor Ort im Souss involviert. Sie sind maßgeblich im Frühgemüsesegment, seltener im Bereich der Zitrusfrüchte zu verorten.10 Europäische Investitionen in die Produktion im Souss sind vor dem Hintergrund der Bestrebungen des europäischen Einzelhandels, Konsumenten ein ganzjähriges Angebot an frischem Obst und Gemüse bereitzustellen, zu sehen. Da sich der Anbau von frischem Obst und Gemüse in Europa während der Wintermonate aus Kostengründen – vor allem aufgrund der Beheizung der Gewächshäuser – nicht rentiert, galt
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es, alternative Standorte für eine Produktion während der Gegensaison aufzubauen. Die Souss-Ebene kristallisierte sich im Kontext verschiedener, zusammenspielender Faktoren als bevorzugter Standort der Frühgemüseproduktion für den europäischen Markt heraus. Zunächst sind die klimatischen Bedingungen für die Möglichkeit einer auf die Gegensaison ausgerichteten Produktion entscheidend; je nach Produkt sind hierfür die Anzahl der Sonnenstunden aber auch das Mittel der Temperaturen und Frosteinbrüche zentral. Weitere Voraussetzungen sind das Vorhandensein von natürlichen Ressourcen, insbesondere Land und Wasser sowie ihre Zugänglichkeit auch für ausländische Akteure. Ein ausschlaggebender Aspekt ist darüber hinaus die Verfügbarkeit von günstiger Arbeitskraft für die arbeitsintensive Gemüseproduktion. Hinzu kommen nicht nur stabile politische Rahmenbedingungen, sondern – wie im Fall Marokkos – auch eine investitionsfördernde nationale Wirtschaftspolitik. Nicht zuletzt ist in Anbetracht des Kostenfaktors Transport die geographische Nähe zum Ort der Konsumtion – Europa – von Bedeutung. Die ganzjährige Bereitstellung von frischem Obst und Gemüse kann über mehrere Mechanismen gewährleistet werden. Einkaufs- und Handelsbeziehungen sind eine Option, die direkte Investition in die Produktion und Verpackung vor Ort eine weitere. Vor dem Hintergrund dieser Interessenlage sind die europäischen Akteure im Souss überwiegend im weiteren Bereich des europäischen Agrobusiness zu verorten. In vielen Fällen handelt es sich um europäische Produzenten (in der Regel Unternehmen, aber auch Kooperativen), die selbst in der Agrarproduktion tätig sind und die entweder einen zweiten, komplementären Produktionsstandort in Marokko zur Belieferung ihrer Kunden während der Wintermonate aufgebaut oder aber ihre europäische Produktion vollständig verlagert haben. Einige Akteure investieren auch direkt in den Anbau in Marokko, ohne zuvor anderweitig landwirtschaftlich tätig gewesen zu sein. Daneben sind europäische Lebensmittel-, Import- oder Handelsunternehmen als Kapitalgeber und Produzenten anzutreffen. Ergänzend zur Produktion investieren europäische Akteure in Gemüseverpackungsstationen, wobei die Errichtung einer Verpackungsstation in der Regel auch auf eine eigene Produktion im Souss hindeutet. Oft wird zunächst die Produktion über eine oder auch mehrere Agrarjahre hinweg getestet, um die meist nachgelagerte Investition in eine Verpackungsstation abzusichern. Da zahlreiche Verpackungsstationen auch individuelle Verpackungsdienstleistungen anbieten, erfolgt die Investition in eine eigene Station oft erst dann, wenn die Produktion in der Region eine gewisse Quantität und Stabilität erreicht hat. Im Hinblick auf die Anzahl europäischer Produzenten im Souss ist von wesentlich mehr Produzenten oder Kapitalgebern für die Produktion auszugehen, als von Eigentümern von Verpackungsstationen. Die ›europäischen‹ Kapitalan-
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teile in der Produktion zu quantifizieren, ist anhand der zugänglichen Daten nur bedingt möglich und wird durch die Vielzahl von Joint Ventures sowie inoffiziellen Formen von Kooperation oder Partnerschaft weiter verkompliziert. Auch im persönlichen Gespräch hielten sich viele Interviewpartner bedeckt, wenn es um Fragen nach Kapitalflüssen oder Investitionsanteilen ging. Nicht zuletzt ist die Fluktuation von Akteuren und Kapitalflüssen erheblich – darauf deuten eigene Beobachtungen wechselnder Akteurskonstellationen alleine im Zeitraum von 2006 bis 2009 sowie zahlreiche Randbemerkungen in Gesprächen mit Marokkanern, Franzosen oder Spaniern hin. Die Präsenz europäischer Akteure im Souss ist grundsätzlich groß. Eine Vielzahl von Projekten und Kooperationen wird geplant, einige umgesetzt, viele Vorhaben jedoch scheitern schnell und die jeweiligen Kooperationspartner trennen sich wieder rasch, um in Form neuer Partnerschaften oder auch individuell einen neuen Anlauf zu unternehmen. Der Versuch, Besitzverhältnisse hinsichtlich der Verpackungsstationen zuzuordnen, stößt auf ähnliche Probleme. Auch hier handele es sich, so die Einschätzung eines Mitarbeiters des EACCE in Agadir in einem persönlichen Gespräch, vielfach um Assoziationen oder Partnerschaften: Seiner Beobachtung nach erfolge die Anmeldung der Station beim EACCE meist unter dem Namen des marokkanischen Partners; ein Blick in die auszufüllenden Formulare lasse jedoch oftmals differenziertere Rückschlüsse auch auf Kapitalflüsse aus dem Ausland zu. Konkrete Aussagen zur Anzahl der Stationen in ›marokkanischer‹ oder ›ausländischer‹ Hand könne er vor diesem Hintergrund jedoch nicht treffen. Eigenen Erhebungen auf der Ebene der Verpackungsstationen zufolge wurden insgesamt etwa zehn der gegenwärtig existierenden Gemüseverpackungsstationen im Souss teilweise oder vollständig mit französischem Kapital errichtet. Rund 20 der Stationen sind auf spanische Kapitalgeber und Produzenten oder spanisch-marokkanische Joint Ventures zurückzuführen. Darüber hinaus sind zwei weitere Stationen europäischen Akteuren – einem niederländischen Unternehmen sowie einem Produzenten und Verpacker mit slowakischem Hintergrund – zuzuordnen. In beiden Fällen handelt es sich nicht um Joint Ventures. Zusammenfassend kann also etwa ein Drittel der Gemüsestationen im Souss vollständig, zum Teil oder im Kontext ihrer Gründungsgeschichte (auch) auf Kapitalflüsse aus Europa zurückgeführt werden. Letzteres muss hervorgehoben werden, da sich Besitzverhältnisse stets im Fluss befinden können. Innerhalb der verhältnismäßig großen Bandbreite europäischer Akteure und Akteurskonstellationen können im Wesentlichen zwei Herkunftsnationalitäten, zeitliche Phasen sowie Produktspezialisierungen identifiziert werden. Ende der 1980er und im Verlauf der 1990er Jahre kamen zunächst vor allem französische
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Akteure in den Souss, die oft gemeinsam mit marokkanischen Partnern in den zur französischen Produktion komplementären Tomatenanbau während der Wintermonate investierten. Kooperationen fanden oftmals mit den marokkanischen Investoren statt, die in den 1980ern in Gewächshäuser investiert hatten und nach einer Alternative zur Bananenproduktion suchten. Seit 2000 hat die Präsenz spanischer Akteure stark zugenommen, die besonders in den Anbau von (grünen) Bohnen investieren. Auch sie produzieren teils in Form von Joint Ventures mit marokkanischen Produzenten, teils individuell. Bemerkenswert ist, dass keine Kooperationen oder Partnerschaften zwischen europäischen Akteursgruppen existieren11 – das Agrobusiness der Franzosen und Spanier im Souss ist vielmehr durch verhältnismäßig getrennte Aktionsräume gekennzeichnet, die sich auch in weitgehend getrennten Communities vor Ort (in Agadir) widerspiegeln. Hintergrund, Geschichte und Interessen der europäischen Akteure in der Exportlandwirtschaft des Souss sollen nun anhand einer Reihe von Fallbeispielen illustriert werden. Dies erfolgt aufgrund der Struktur der erhobenen empirischen Daten ausschließlich am Beispiel von Akteuren, die zusätzlich zur Produktion auch über eine Verpackungsstation verfügen. Zunächst zu den französischen Akteuren: Was kennzeichnet die französischen Akteure, die seit Anfang der 1990er Jahre insbesondere in den Tomatenanbau im Souss investiert haben? Pionier und Vorreiter dieser Entwicklung ist die bereits im letzten Abschnitt erwähnte, 1988 begründete marokkanischfranzösische Partnerschaft zwischen einem marokkanischen Großindustriellen und damaligen Bananen- und Rosenproduzenten im Souss und dem Generaldirektor einer Tomatenproduktionskooperative aus der Bretagne. Der Kontakt zwischen diesen beiden Personen kam über einen dritten Franzosen zustande, der bereits mit dem marokkanischen Produzenten zusammenarbeitete und zunächst ebenfalls in die Kooperation eingebunden war. Der heutige Geschäftsführer von Masoussi in Marokko beschreibt die Überlegungen des französischen Partners und den Entstehungskontext der Kooperation wie folgt: »Seine Idee war es zu sagen: In Anbetracht der Entwicklung des Einzelhandels in Europa benötigt man zunehmend ein Qualitätsprodukt mit Wiedererkennungswert, mit einer konstanten Quantität das gesamte Jahr über. Um das umzusetzen, produziere ich in der Bretagne, im Süden Frankreichs und ich werde mich mit einem Produzenten in Marokko zusammenschließen, um in Marokko zu produzieren – das war die Ausgangsüberlegung. [D]ie zweite geniale Idee dieser beiden Personen war es zu sagen, damit das funktioniert, müssen wir es als Partnerschaft machen. Und so haben sie eine Partnerschaft gegründet, die recht vorbildlich ist, fünfzig-fünfzig. Wir tragen die Risiken fünfzig-fünfzig, wir in-
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vestieren zu gleichen Teilen, wir ernten die Früchte zu gleichen Teilen.« (B.P., Geschäftsführer von Masoussi, 2006)
Im Jahr 1996 erfolgte dann die Ausgründung des zweiten Unternehmens Primsud, ebenfalls als Partnerschaft zwischen dem marokkanischen Investor und dem Franzosen, der den Kontakt ursprünglich hergestellt hatte. Bis heute gehören beide Unternehmen zur Produktionsgruppe des marokkanischen Partners und hatten insbesondere durch ihre Strategie der vertikalen Integration der Unternehmensabläufe eine Vorreiterfunktion im Gemüseexport aus dem Souss (vgl. ›Vertikale Integration: Kontrolle über mehrere Ebenen‹). Während das zweite Unternehmen nach wie vor als marokkanisch-französische Partnerschaft geführt wird, ist das Unternehmen Masoussi mittlerweile vollständig in marokkanischen Besitz übergegangen. Seit dem Tod des französischen Partners im Jahr 2000 hält der marokkanische Partner alle Unternehmensanteile der Masoussi-Gruppe und leitet diese in Marokko und Frankreich gemeinsam mit seinen beiden Nachfolgern. Das Wissen um die veränderten Besitzverhältnisse ist im Souss allerdings nicht weit verbreitet – es wird weiterhin maßgeblich als französisches Unternehmen wahrgenommen. Es vermarktet sich darüber hinaus auch in seinem Internetauftritt und seinen Werbebroschüren über ein französisches Image. So befand sich beispielsweise der Stand des Unternehmens auf der Fruit Logistica 2009 in Berlin nicht im ›marokkanischen Block‹, sondern vielmehr in den Reihen der europäischen Produzenten; ebenso wenig war es im vom Moroccan Centre for Export Promotion herausgegebenen Exhibitors Directory verzeichnet, das zahlreiche der großen marokkanischen Unternehmen versammelt (MCEP 2009). Ein weiteres Beispiel für eine marokkanisch-französische Kooperation, die Anfang der 1990er Jahre entstand, ist das Unternehmen Moraprim, zu dem sich zwei Akteure aus dem marokkanischen und dem französischen Agrobusiness zusammengeschlossen haben. Die Gründer des Unternehmens Moraprim entschieden sich dabei für eine andere Strategie: Im Gegenteil zu vielen anderen Unternehmen, die maßgeblich den Ausbau der eigenen Produktion vorantreiben, setzten sie auf die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Zulieferern. Daneben ist es eines der wenigen großen Exportunternehmen im Souss, das bisher keine Zertifizierungen erworben hat und Zertifizierungsprozessen allgemein kritisch gegenübersteht – allerdings beliefert das Unternehmen schwerpunktmäßig seinen ›Mutterkonzern‹, der als großes Lebensmittel- und Distributionsunternehmen über eine etablierte Position im französischen Markt verfügt.
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›Joint Venture zwischen zwei Akteuren aus dem Agrobusiness‹ Das Unternehmen Moraprim entstand als marokkanisch-französisches Joint Venture zwischen einem marokkanischen Unternehmen, das vor allem Äpfel für den nationalen Markt produziert, und einem französischen Lebensmittelunternehmen. Es produziert seit 1992 auf dem Landeigentum des marokkanischen Partners südlich von Biougra, wo sich auch die Verpackungsstation befindet. Auf um die 20 Hektar werden Tomaten im Gewächshaus angebaut sowie auf etwa 5 Hektar Zucchini im Freiland. Moraprim arbeitet darüber hinaus regelmäßig mit zehn Produzenten zusammen, die jeweils für ein Agrarjahr vertraglich vereinbart Ware zuliefern und unter anderem Produktionsvorschüsse und eine technische Betreuung erhalten. Die Zulieferer selbst produzieren im Freiland und in Gewächshäusern zwischen 2 und 30 Hektar Größe. Die Produktion, weder die gruppeneigene noch die der Zulieferer, ist nicht zertifiziert und wird über das französische Mutterunternehmen vermarktet. 2008/09 hat sich dieses aus der Produktion zurückgezogen, hält jedoch nach wie vor Anteile an der Station. 2007/08 exportierte Moraprim insgesamt 6.500 Tonnen, davon 5.500 Tonnen Tomaten sowie kleinere Mengen Zucchini, Erbsen, Paprika, Peperoni und Bohnen.
Französische Investitionen in die landwirtschaftliche Produktion im Souss sind jedoch nicht ausschließlich auf die 1990er Jahre sowie den Gewächshausanbau von Tomaten beschränkt. So ist die Produktion von Coopmar ein jüngeres Beispiel für eine Kooperation zwischen einer französischen und einer marokkanischen Kooperative. Coopmar begann 2002 in Zusammenarbeit mit den Produzenten der marokkanischen Kooperative mit der Freilandproduktion unter anderem von Mais, Karotten und Spargel und verfügt seit 2006 über eine Verpackungsstation bei Oulad Teima. Die Logik der Investition folgt auch im Fall dieser Gemüsesorten dem Ziel der Gewährleistung einer ganzjährigen Belieferung der Kunden der französischen Kooperative mit Ware aus eigener Produktion. Im Gegensatz zu den Franzosen waren spanische Akteure in den 1990er Jahren nur vereinzelt anzutreffen – ein Beispiel für eines der ersten marokkanischspanischen Joint Ventures ist das Ende der 1990er Jahre gegründete Unternehmen Tomasoussi zwischen einem marokkanischen Zitrusfruchtunternehmen und einem spanischen Partner, das auf die Produktion von Kirschtomaten spezialisiert ist. Nach 2000 jedoch erfolgte ein rapider Anstieg spanischer Investitionen, die maßgeblich auf den Anbau grüner Bohnen (haricots coco und haricots plats) für den spanischen Markt abzielten. Im Vergleich zu den französischen Akteuren, die häufig über eine Partnerschaft mit marokkanischen Produzenten in den Souss kamen und von denen einige auch in der marokkanischen Produzentenorganisation APEFEL vertreten sind, treten die spanischen Investoren individueller auf. Ihr Hintergrund liegt oft in der intensiven Gewächshausproduktion Südspa-
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niens (südlich und nördlich von Almería). Die Produktion in Marokko dient auch hier dem Ziel einer ganzjährigen Bereitstellung von Ware. Im Hinblick auf die Anzahl von Unternehmen, die auch in Verpackungsstationen im Souss investiert haben, sind mit insgesamt etwa 20 Stationen sehr viel mehr Verpackungseinheiten spanischen Akteuren zuzuordnen, die allerdings auch geringere Tonnagen verpacken und exportieren. Die Flächen der spanischen Produzenten im Souss variieren zwischen kleineren Niederlassungen von um die 10 bis hin zu 100 Hektar oder mehr. Zu den größeren Akteuren zählt beispielsweise eine auf die Gemüseproduktion, -verpackung und -vermarktung spezialisierte Unternehmensgruppe aus der Region Murcia, die seit 2005 auf 150 Hektar im Souss Bohnen (rund und flach) produziert. Die nachfolgend portraitierten spanischen Unternehmen liegen hinsichtlich ihrer Produktions- und Exporttonnage im Mittelfeld. Während das Unternehmen Huertoagro ausschließlich auf Eigenproduktion setzt, arbeitet H. Sánchez neben der eigenen Produktion mit einem Kreis von marokkanischen Zulieferern zusammen und kauft darüber hinaus auch je nach Bedarf und Lage Ware zu. ›Zweiter Produktionsstandort in Marokko‹ Bei Huertoagro handelt es sich um ein marokkanisches Unternehmen, das 2003 von drei spanischen Akteuren, die auch über eine Produktion in Spanien verfügen, gegründet wurde. Im gleichen Jahr begannen sie mit der Produktion in der Umgebung von Belfâa: Sie mieteten 60 Hektar Land, von denen 40 Hektar zum Zeitpunkt des Interviews bereits mit Gewächshäusern ausgestattet waren, 20 Hektar Gewächshausfläche wurden gerade errichtet. Weitere Extensionen im Umkreis der Station sind vorgesehen. Die Produktion beschränkt sich auf den Anbau von grünen (flachen) Bohnen und erfolgt in zwei Zyklen von Juli bis September sowie von Dezember bis Ende März. Die Verpackungsstation des Unternehmens wurde 2004 fertiggestellt und befindet sich direkt neben den Farmen. Es wird ausschließlich die eigene, GLOBALGAP-zertifizierte Produktion verpackt und exportiert. Die Vermarktung der Ware erfolgt überwiegend über einen Hauptpartner in Spanien mit Sitz in Almería und ist vor allem auf den spanischen Markt ausgerichtet. Das Unternehmen exportierte 2007/08 rund 1.000 Tonnen grüne Bohnen.
›Produzent aus dem Einzelhandel‹ H. Sánchez ist Produzent und im spanischen Einzelhandel tätig. 2005 gründete er das Unternehmen Marruecos Verde in Marokko. Er produziert auf etwa 20 Hektar gemietetem Land bei Biougra flache grüne Bohnen, Peperoni und Zucchini. Seine Produktion ist GLOBALGAP-zertifiziert. Darüber hinaus hat er 2007/08 von rund 20 Produzenten überwiegend grüne Bohnen zugekauft, von denen etwa fünf zu seinen regelmäßigen Zulieferern zählen. Nur letztere sind ebenfalls GLOBALGAP-zertifiziert und produzieren
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auf Gewächshausflächen zwischen 1 und 11 Hektar. H. Sánchez besitzt keine eigene Station, sondern verpackt in einer gemieteten Station. 2007/08 exportierte er rund 3.000 Tonnen grüne Bohnen sowie kleinere Mengen anderer Gemüsesorten. Die Vermarktung erfolgt über seine Vermarktungszentrale bei Barcelona hauptsächlich für seinen eigenen Einzelhandelsvertrieb ›Sánchez‹.
Abschließend soll in Ergänzung zu den französischen und spanischen Akteuren die Niederlassung eines niederländischen Unternehmens im Souss vorgestellt werden. Auch dieses Unternehmen kam erst nach 2000 in den Souss und investierte vor allem in den Bohnenanbau. Es begann mit einer sowohl auf den Eigenanbau als auch auf Zulieferer ausgerichteten Produktionsstrategie, verfolgt jedoch gegenwärtig dezidiert das Ziel, von marokkanischen Zulieferern unabhängig zu werden. In diesem Rahmen akquirierte es in den vergangenen Jahren erhebliche Landflächen in ganz Marokko und zählte unter anderem auch zu den Begünstigten des Agripartenariat. ›Niederländisches Unternehmen mit weltweiten Niederlassungen‹ Green Beans Morocco ist eine 2003 gegründete Niederlassung eines niederländischen Unternehmens, das neben Marokko und den Niederlanden auch im Senegal und in Äthiopien produziert. In Marokko verfügt es über eine eigene Produktion und arbeitet mit Zulieferern zusammen. 2009 betrug die eigene Produktion rund 300 Hektar, davon 100 Hektar Gewächshausfläche – das gesamte Land ist gemietet. Die Produktion der rund 30 vertraglichen Zulieferer, die auch technisch beraten und betreut werden, umfasst ebenfalls etwa 300 Hektar. Die gesamte eigene und zugelieferte Produktion ist GLOBALGAPzertifiziert. 2007/08 exportierte Green Beans Morocco etwa 20.000 Tonnen, davon 60 Prozent Bohnen, der Rest weitere Gemüsesorten. Das Unternehmen verfolgt langfristig das Ziel, von Zulieferern unabhängig zu werden, und investiert daher in den Ausbau der Produktion in Marokko, die auf mehr als 1.000 Hektar erweitert werden soll. Vor diesem Hintergrund bewarb es sich erfolgreich im Rahmen des Agripartenariat und erhielt im Jahr 2006 150 Hektar ehemaliges Staatsland zugesprochen. Darüber hinaus wurden 2007/08 etwa 300 Hektar im Norden Marokkos (Gharb) angemietet, wo auch der Bau einer weiteren Verpackungsstation geplant ist. Die Vermarktung der Ware erfolgt über die Mutterfirma in Holland. England ist der wichtigste Absatzmarkt, gefolgt von den skandinavischen Ländern sowie Deutschland. Das Unternehmen arbeitet gemäß den Grundsätzen der Ethical Trade Initiative.
Europäische Akteure, so lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen, sind auf unterschiedlichen Ebenen in den exportlandwirtschaftlichen Strukturen im Souss anzutreffen und treten neben ihrer zentralen Rolle als Handelspartner selbst auch
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als Betreiber von landwirtschaftlichen Produktionen sowie als Inhaber von Verpackungsstationen auf. Hintergründe und Strategien gestalten sich divers. Das europäische Engagement ist in den Kontext der Restrukturierung der europäischen intensiven Landwirtschaft und des europäischen Einzelhandels einzuordnen. Es finden vielfältige Prozesse der Auslagerung von Produktionen aus Europa statt, die bisher maßgeblich von französischen und spanischen Produzenten und Akteuren aus dem Agrobusiness vorangetrieben wurden. Für die SoussEbene als Zielregion sprechen ihre geographische Nähe zu Europa, das die gegensaisonale Produktion begünstigende Klima, Zugänge zu natürlichen Ressourcen, günstige Arbeitskraft und die gegebenen agrarpolitischen Rahmenbedingungen.
E INBINDUNGEN : H ANDLUNGSMACHT
IM
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In Ergänzung zu den Hintergründen und Biographien im Export – der ersten inhaltlichen Achse der Typenbildung – erfolgt nun eine weitere Differenzierung der gleichen Grundgesamtheit von Akteuren anhand einer zweiten Achse, und zwar ihrer gegenwärtigen Einbindung in den internationalen Agrarhandel. Auch hier stehen die Handlungsspielräume der Akteure im Zentrum, die sich komplementär zur zuvor eingenommenen zeitlichen in eine räumliche Perspektive übersetzen lassen. Neben der Frage nach der Geschichte des Betriebs bildeten Integrationsform und Partizipation am Export einen zweiten Schwerpunkt der qualitativen Interviews. Die anzutreffenden Formen der Einbindung sind dabei ebenso vielfältig wie die Akteure, die im Exportsegment anzutreffen sind; sie sind zum Teil überlappend oder gehen fließend ineinander über. Die Integration in den Exportmarkt ist keine fixe, einmal erreichte und damit feststehende Position, vielmehr muss sie als ein Raum stetiger Auf- und Abstiegsmöglichkeiten im Hinblick auf Marktanteile, Verhandlungsspielräume oder Vermarktungsoptionen verstanden werden. Keiner der von mir interviewten Akteure exportiert heute noch auf die gleiche Weise, wie zu Beginn seiner Betriebsgründung. Meist wurden verschiedene Integrations- und Partizipationsformen durchlaufen, gegeneinander abgewogen und gegebenenfalls durch Alternativen ersetzt, soweit es die entsprechenden Handlungsräume erlaubten. Die verfüg- und einsetzbaren monetären Ressourcen definieren Möglichkeitsräume dabei weitreichend. Doch auch Persönlichkeitsmerkmale wie die individuelle Risikoperzeption und interpersonelle Beziehungen in Form von sozialen Netzwerken, Vertrauen, Sympathien oder Antipathien sind von zentraler Bedeutung.
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Innerhalb der Bandbreite möglicher Integrationen in den internationalen Obst- und Gemüsehandel lassen sich fünf Typen differenzieren. Als erster Typus der Exportmarkteinbindung lässt sich der ›Zulieferer‹ identifizieren, dessen Kompetenzen und Handlungsspielräume sich auf die Ebene der Produktion beschränken. Seine Möglichkeiten der Mitbestimmung und Einflussnahme enden mit der Lieferung der Ware an die entsprechende Verpackungsstation, die über alle weiteren Schritte des Exportprozesses entscheidet. Die Beziehung zwischen Zulieferer und Station kann sowohl auf flexibler Grundlage erfolgen als auch durch schriftliche Dokumente oder Vereinbarungen institutionalisiert sein – ein Unterschied, der für eine mögliche Partizipation an Gewinnen entscheidend ist. Hier wird zunächst die institutionalisierte Form vorgestellt, während auf die nicht schriftlich fixierte Zulieferung im nachfolgenden Kapitel eingegangen wird (vgl. ›Exklusionen‹). Eine zweite Möglichkeit der Integration ist der Zusammenschluss mehrerer Produzenten zu einer Kooperative. Die Handlungsräume der Produzenten, die als Mitglieder einer Kooperative exportieren, können als Spielräume ›mittlerer Reichweite‹ beschrieben werden und variieren je nach Produkt und Kooperative. Zentrale Aspekte dieser Exportform sind die Abstimmung der Kooperativenmitglieder untereinander sowie ihre Selbstverpflichtung und Bindung an Entscheidungen, die auf der Ebene der Kooperative getroffen werden. In einer Kooperative kann tendenziell eine höhere Gewinnbeteiligung bei zugleich relativ abgesichertem Risiko erzielt werden. In der Regel besteht eine Aufgabenteilung zwischen Kooperative und Exportgruppe. Abgrenzen lässt sich drittens der Export über eine Exportgruppe. Auf diese Weise exportieren Produzenten, die zusätzlich zu ihrer Produktion auch über eigene Verpackungskapazitäten verfügen. Mit dem Ziel, die Vermarktung ihrer Ware sowie die Organisation der administrativen und logistischen Abläufe des Exports zu gewährleisten, schließen sie sich einer der Exportgruppen an oder zählen teils auch zu deren (Mit-)Begründern. Diese Exportform ermöglicht eine weitreichende Kontrolle über Produktion, Verpackung, die Prozesse der Vermarktung sowie die Kontakte zu den Kunden in Europa. Dabei tritt die Exportgruppe als Dienstleister auf und vergrößert zugleich die Verhandlungsmacht gegenüber potentiellen Kunden. Unter das Schlagwort der ›Partnerschaft‹ fallen viertens jene Produzenten, die sowohl über Produktion, Verpackung als auch Export und Vermarktung ihrer Ware individuell und ohne Einbindung in eine Kooperative oder Exportgruppe entscheiden. Sie exportieren direkt an ihre Kunden und gehen dafür oft Kooperationen mit europäischen Partnern ein. Je nach Geschäftsbeziehung können Partnerschaften etabliert werden, in denen hohe (Mit-)Entscheidungsbefugnisse existieren. Abschließend wird auf Prozesse der ›vertikalen Integration‹ eingegangen,
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worunter die Strategien einiger Exportunternehmen zusammengefasst werden, die darauf abzielen, die Ebenen der Produktion, Verpackung und Vermarktung sowie die damit einhergehenden logistischen und administrativen Abläufe in die Organisationsstruktur des Unternehmens einzubinden. Diese Exportform beinhaltet die umfassendsten Kontroll- und Koordinationsmöglichkeiten über die Abläufe innerhalb der Warenkette, setzt große Investitionen voraus und geht mit hohen Gewinnausschüttungen einher. Zulieferer: Anschluss an starke Partner ›Etablierte Zuliefererbeziehung‹ Die Familie Ait Jawal stammt aus einem Dorf in der Nähe von Sebt El-Guerdane, wo sie auch heute noch wohnt. Während der Großvater der heutigen Betriebsleiter vorwiegend Viehzucht betrieb, war es ihr Vater, der 1973 gemeinsam mit zwei Brüdern die Zitrusfruchtproduktion auf zunächst 19 Hektar begann. Die Familie kaufte stetig Landeigentum hinzu und erweiterte ihre Produktionsflächen auf zwischenzeitlich 160 Hektar, auf denen mehr als zehn männliche Familienmitglieder zusammenarbeiteten. 2008 entschied die Familie, den Betrieb zu teilen. Seit der Teilung bewirtschaftet mein Interviewpartner Hassan Ait Jawal gemeinsam mit fünf seiner Brüder und zwei Cousins etwa 100 Hektar Zitrusfrüchte. Sie alle haben ausschließlich die Grundschule besucht, mit Ausnahme eines Bruders, der das Abitur machte und heute der Buchhalter des Familienbetriebs ist. Auch die weiteren Aufgaben wie Verwaltung der Plantagen, Einkauf von Produktionsmitteln oder Organisation und Anleitung der Arbeitskräfte sind unter den Familienmitgliedern aufgeteilt – alle wirtschaften jedoch für ein gemeinsames Konto. Neben der Zitrusfruchtproduktion betreibt die Familie Viehzucht: Sie haben eine Herde von 500 Schafen und Ziegen und etwa zehn Kühe. Einer der Cousins ist Mitglied in einer Milchkooperative, an die sie die Milch liefern. Die Zitrusfruchtbäume werden über acht Brunnen mit 250 Meter Tiefe bewässert. Vor zehn Jahren, so berichtet Hassan, lag die Tiefe ihrer Brunnen noch bei 140 Meter. Seitdem wurden sie zwei Mal vertieft: zunächst auf 200, dann auf 250 Meter. Bereits seit 1994 bewässern sie ihre Produktion über Tröpfchenbewässerung. Die Zitrusfruchtproduktion der Familie war von Beginn an auf den Exportmarkt ausgerichtet. Bereits der Vater lieferte an verschiedene Verpackungsstationen für Zitrusfrüchte in der Region Sebt El-Guerdane. Seit 1999 liefern sie ihre gesamte Ware regelmäßig an die Station des Unternehmens Agrumes du Sud und zählen mittlerweile zu deren etablierten Zulieferern. Seit 2004/05 verfügt ihr Betrieb auch über eine EUREPGAP-Zertifizierung, bei der sie von der Station durch einen eigens dafür abgestellten Agrartechniker begleitet wurden. Darüber hinaus, so berichtet Hassan, fungiert er selbst auch als Aufkäufer: Er kauft die Zitrusproduktion von anderen Landwirten der Region auf und liefert diese anschließend an die Station. 2007/08 beispielsweise kaufte er von elf Landwirten und lieferte damit zu-
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sätzlich zu den rund 1.200 Tonnen Eigenproduktion nochmals 1.300 Tonnen zugekaufte Ware. Der jährliche Vertrag zwischen ihm und der Verpackungsstation erfolgt auf der Basis seiner eigenen Produktion, ist jedoch im Hinblick auf darüber hinaus zugekaufte Ware bewusst offen gehalten. Jeweils bei Vertragsabschluss erhält er Vorauszahlungen seitens der Station, um beispielsweise die Produzenten, von denen er zukauft, direkt an Ort und Stelle bar bezahlen zu können. Reichen die Vorauszahlungen nicht aus, so Hassan, erhält er problemlos weitere Zahlungen. Es herrscht ein Vertrauen zwischen ihm und der Station, betont er, da sie schon lange zusammenarbeiten. Bevor er Ware aufkauft, spricht er sich mit dem Einkaufsdirektor der Station ab, der ihn auch hinsichtlich des jeweils zu bietenden Preises berät. Je nach Zitrusfruchtsorte nimmt Hassan eine Marge zwischen 0,50 und 0,20 Dirham pro Kilogramm. Einige der Produzenten, von denen er zukauft, verfügen ebenfalls über eine Zertifizierung, andere hingegen nicht. Die einzelnen Lieferungen werden eigens gekennzeichnet, so hebt er hervor, um die Rückverfolgbarkeit zu garantieren.
Das einleitende Portrait der Familie Ait Jawal repräsentiert einen klassischen Familienbetrieb der Souss-Ebene im Zitrussegment, dem es gelungen ist, durch kontinuierliche Investitionen die Position eines etablierten Zulieferers für ein großes Exportunternehmen zu erreichen. Die Investitionen der Familie erfolgten auf mehreren, komplementären Ebenen: Hervorzuheben ist zunächst der Ausbau der Betriebsflächen, so dass eine Reihe von männlichen Familienmitgliedern in den Betrieb integriert werden konnte und sogar nach der Erbteilung im Jahr 2008 eine stattliche Größe bestehen blieb. Der Aufbau der Milchproduktion erlaubte es darüber hinaus, den Betrieb bis zu einem gewissen Grad zu diversifizieren. Daneben wurde in das technische Niveau der Produktion investiert: Die Tröpfchenbewässerung ermöglicht eine effizientere Nutzung der Wasserressourcen, während durch den von der Station unterstützten Prozess der Zertifizierung langfristig Partizipationschancen am Exportsektor erschlossen wurden. Gleichzeitig gelang es, durch die kontinuierliche Zusammenarbeit ein Vertrauenskapital zum Exportunternehmen zu etablieren, welches Hassan Ait Jawal die Möglichkeit eröffnete, in enger Abstimmung mit den Mitarbeitern der Station auch als Zwischenhändler und Aufkäufer von Ware zu agieren, wodurch eine weitere Einkommensquelle für die Familie erschlossen wurde. Auf diese Weise kann Hassan Ait Jawal für weitere Landwirte der Region, die selbst nicht institutionell in den Export eingebunden sind, zentrale Schlüsselfunktionen übernehmen (vgl. ›Exklusionen‹). Durch den Anschluss an Agrumes du Sud sind ihm selbst nicht nur eine quantitativ hohe und konstante Nachfrage, sondern auch verlässliche Preise durch gesicherte Marktanteile garantiert: Das Unternehmen zählt zu den größten Akteuren des marokkanischen Zitrusfruchtexports und verfügt neben den Produktionsflächen und der Verpackungsstation im Souss über
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weitere Anbauflächen und Stationen in anderen Regionen Marokkos. Agrumes du Sud wiederum baut im Souss dezidiert auf die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Zulieferern: ›Strategische Zusammenarbeit mit Zulieferern‹ Das Exportunternehmen Agrumes du Sud wurde 1949 ursprünglich von einem Franzosen gegründet und exportiert unter anderem Zitrusfrüchte, Tomaten, Kartoffeln und Schnittblumen. Es verfügt über sieben Verpackungsstationen sowie rund 2.000 Hektar Produktionsfläche in ganz Marokko. Das mittlerweile familiengeführte Unternehmen ist daneben auch in weiteren Wirtschaftssektoren tätig. Die Zitrusfruchtstation des Unternehmens in Ait Melloul existiert seit den 1970er Jahren und erreicht eine Exporttonnage von 20.000 Tonnen jährlich. Zur unternehmenseigenen Produktion im Souss gehören zwei Zitrusfruchtplantagen à 85 und 150 Hektar Größe. Das Gros der Exporttonnage wird von etwa 40 an die Station angeschlossenen Produzenten geliefert, zu denen sowohl kleine, nur wenige Hektar umfassende als auch große Betriebe von mehr als 150 Hektar Größe zählen. Rund zwei Drittel sind mit höchstens 20 Hektar als kleinere Produzenten, etwa neun mit Größen zwischen 30 und 60 Hektar als große und sechs mit 100 oder mehr Hektar als sehr große Produzenten einzuordnen. Die Produktionsflächen der Zulieferer verteilen sich über die gesamte Souss-Ebene von Oulad Dahou bis nach Oulad Berhil. Bei den zuliefernden Betrieben handelt es sich – wie im Fall der Familie Ait Jawal – überwiegend um Familienbetriebe aus dem Souss. Mit einigen von ihnen besteht die Zusammenarbeit seit mehr als zehn Jahren. Sie erfolgt auf der Basis von Verträgen, die jeweils für ein Agrarjahr abgeschlossen werden, und Vereinbarungen hinsichtlich der Qualitätsvorschriften, der Abnahmemengen und der Vorauszahlungen enthalten.
Der Kompetenzbereich und Handlungsspielraum des Exportproduzenten mit dem Status eines Zulieferers beschränkt sich – im Gegensatz zu den nachfolgend vorgestellten Exportformen – auf die Produktion. Der Zulieferer ist als Leiter eines (Export-)Betriebs zu charakterisieren, den er mit eigenen Mitteln – über Kredite oder Eigenkapital – gegründet und aufgebaut hat. Verpackung, Export und Vermarktung der Ware jedoch werden von der Station übernommen, an die er seine Produktion zuliefert. Die Modalitäten der Zulieferung sehen je nach Station anders aus. Zukauf von Seiten der Verpackungsstation und Zulieferung des Produzenten können sowohl flexibel und ohne gegenseitige Verpflichtungen, Engagements oder (vertragliche) Vereinbarungen erfolgen als auch Formen einer institutionalisierten Zusammenarbeit annehmen, die hier im Zentrum stehen. Die institutionalisierte Zusammenarbeit ist durch eine größere Verpflichtung hinsichtlich der Qualität sowie der zu liefernden und abzunehmenden Produktionsmenge von Produzent und Station gekennzeichnet. Die Anbindung eines
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Produzenten an eine Verpackungsstation erfolgt in der Regel in Form schriftlich festgehaltener Vereinbarungen. Oft sind die Rahmenbedingungen der Zulieferung in einem sogenannten cahier de charges (Pflichtenkatalog) geregelt, in dem sich der Zulieferer – sofern von der entsprechenden Station verlangt – vor allem zur Einhaltung von Qualitätsnormen und -standards verpflichtet. Einer meiner Interviewpartner bezeichnete diese als zentrale Basis der Zusammenarbeit: »Es gibt einen einzigen Vertrag zwischen uns [...], das ist die Verpflichtung alles das einzuhalten, was im Allgemeinen unter EUREPGAP fällt, das ist die wichtigste Verpflichtung. [U]nd dabei vor allem, vor allem – darauf bestehe ich – vor allem der Einsatz der Pflanzenschutzmittel und der delai avant récolte [der behandlungsfreie Abstand vor der Ernte], das ist ›number one‹, das ist das Allerwichtigste.« (Aziz Rachik, 2006)
Darüber hinaus werden im Pflichtenkatalog die Produkte, die der Zulieferer anbaut, das vereinbarte Abnahmevolumen ebenso wie eventuelle finanzielle oder materielle Vorschüsse festgehalten. Die Gewährung von Vorauszahlungen – die pro Hektar Tomaten im Gewächshaus bis zu 50.000 Dirham betragen können – oder die Bereitstellung von Saatgut durch die Station hat Vorteile für beide Seiten: Dem Produzenten werden die notwendigen Investitionen erleichtert und eine Abnahme der Ware durch die Station ist garantiert, da diese bereits in eine finanzielle Vorleistung getreten ist; die Station sichert sich im Gegenzug die durch den Zulieferer produzierte Ware – auf die sie unter Umständen angewiesen ist – und verhindert, dass dieser aus Preisgründen einer anderen Station zuliefert. Vor allem die Stationen, die sich auf eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit Zulieferern spezialisiert haben, investieren auch in die technische Fortbildung ihrer Produzenten, um sie beispielsweise bei der Zertifizierung zu unterstützen. Eigenen Erhebungen zufolge ist jeweils etwa ein Viertel der Zitrus- und Gemüsestationen im Souss ausschließlich auf die unternehmens- oder kooperativeneigene Produktion spezialisiert und tätigt keine Zukäufe. Zu diesen Stationen sind insbesondere die – oft quantitativ starken – Akteure des Sektors zu zählen, deren Strategie dezidiert auf eine vollständig vertikal integrierte Exportstruktur abzielt. Die Mehrheit der Verpackungsstationen im Souss kauft jedoch zumindest partiell Ware zu – viele unterhalten feste Beziehungen zu an die Station angeschlossenen Zulieferern. Der Anteil zugekaufter Ware variiert von Station zu Station erheblich, teils sind es nur wenige hundert Tonnen, die zugekauft werden, teils überwiegt der Anteil zugekaufter Ware. Meist dient der Zukauf in erster Linie der Aufstockung der stationseigenen Produktion – nur einzelne Stationen kaufen ausschließlich zu.
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In den Gesprächen mit gegenwärtigen und ehemaligen Zulieferern kristallisierte sich heraus, dass die Entscheidung für oder gegen bestimmte Exportformen und die damit einhergehenden Handlungsspielräume – vorausgesetzt es ist dem Produzenten möglich diesbezüglich Entscheidungen zu treffen – als Ergebnis eines Abwägungsprozesses zu betrachten ist. Dieser Abwägungsprozess hängt eng mit der Persönlichkeit des Produzenten und seiner individuellen Risikobereitschaft und -perzeption zusammen. Mit dem Zuliefererstatus gehen vergleichsweise geringe Verhandlungsspielräume und Verdienstmöglichkeiten einher – Überlegungen, die einige meiner Interviewpartner dazu veranlassten, eine alternative Exportform mit einer stärkeren Einbindung anzustreben. Die Anbindung an eine große Exportstruktur ermöglicht jedoch je nach Station und Marktmacht der Station eine hohe Absicherung und kann im Fall größerer Risikoaversion zum ausschlaggebenden Argument werden, den Status des Zulieferers als bevorzugte Exportintegration zu wählen. Das Fallbeispiel des Tomatenproduzenten und Jungunternehmers Aziz Rachik steht exemplarisch für ebendiesen Abwägungsprozess. Gleich zu Beginn des Interviews versicherte er mir: ›Tomaten anbauen oder ins Casino gehen – das ist fast das gleiche!‹ Er beschreibt sich selbst als risikoscheu. Produzenten, die sich im Exportmarkt verschätzt hätten und Konkurs gegangen seien, so sagt er, stünden ihm stets warnend vor Augen: »Ich bin sehr furchtsam und ich mache mir keine Illusionen. [I]ch tue alles dafür, dass es läuft, dass es weiter läuft, aber in meinem Kopf habe ich immer einen kleinen Ort, wo man mir sagt ... da ist jemand, der mich jedes Mal wieder daran erinnert: Pass auf, morgen kannst du schon alles verlieren. [I]ch habe Leute gesehen, die sind sehr tief gefallen, sehr, sehr tief ... Produzenten, die sehr, sehr tief gefallen sind, Leute, die ihr Hab und Gut verkaufen mussten, bis auf den letzten Cent, die von der Polizei gesucht werden und so weiter und so weiter ... . Es ist ein sehr schwieriger Sektor, er ist sehr eng geworden und sehr technisiert.« (Aziz Rachik, 2006)
Diese Einschätzung des Tomatenproduktions- und Exportsektors schlägt sich sowohl in Aziz Rachiks Betrieb als auch in der von ihm bevorzugten Exportform nieder: Er hat ein hohes Kontrollbedürfnis und bevorzugt es, so wenig wie möglich zu delegieren. Obgleich er mehrmals angefragt wurde, seine Produktion zu vergrößern, bleibt er seit einigen Jahren bei einer – verhältnismäßig – kleinen Betriebsgröße von 11 Hektar, die er alleine bewirtschaften kann. Die durch andere Exportformen hinzuzugewinnenden Entscheidungskompetenzen sowie auch größeren Gewinnmöglichkeiten ordnet er dem Sicherheitszugewinn als Zuliefe-
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rer eines großen Exportunternehmens unter. Die Strategie des Anschlusses an diesen starken Akteur begründet er wie folgt: »Der Vorteil für mich ist, dass sie eine Stoßkraft in Europa haben, die außerordentlich ist, das sind Leute, selbst wenn der Markt nicht gut ist, haben sie ihre Kunden, ihre Leute, mit denen sie arbeiten. [E]s gibt ein marokkanisches Sprichwort, das sagt, wenn du dich mit einer Familie zusammentun willst – im Kontext der Hochzeit – dann tu dich mit einer wohlhabenden, einer vornehmen Familie zusammen ... nicht wahr? Das ist ein bisschen der Grund.« (Aziz Rachik, 2006)
Ebenso wie die Motive der Zulieferer sind auch die unterschiedlichen Aufkaufstrategien seitens der Stationen sowie die damit verbundenen Chancen auf eine Partizipation an den im Export zu erzielenden Gewinnen komplex. Die Themen Aufkauf und gezahlte Preise erwiesen sich als äußerst sensibel und viele Interviewpartner hielten ihre Äußerungen sehr allgemein. Aufschlussreich ist jedoch, dass Aziz Rachik zwei unterschiedliche Mechanismen im Laufe seiner ›Zuliefererkarriere‹ unterscheidet, die auch Rückschlüsse auf Aufkaufstrategien der Stationen zulassen. So begann er zunächst als Zulieferer, wie er sagt, ›zum Preis des lokalen Markts‹. Dies bedeutete, dass die Bezahlung, die er für seine Ware erhielt, vom aktuellen Tagespreis des Großmarkts in Inezgane abhing, obgleich sie – sofern für den Export geeignet – auch exportiert wurde: »Ich lieferte meine Produktion [...] und C.B. [der Besitzer der Station] bezahlte mich gemäß dem Preis auf dem Großmarkt Inezgane. Wenn der Preis auf dem Großmarkt bei 30 Dirham lag, dann zahlte er mir 30 Dirham für die Menge, die ich geliefert hatte. [E]r, er exportierte einen Teil und ein anderer Teil ging auf den lokalen Markt, alles, was nicht exportiert werden konnte.« (Aziz Rachik, 2006)
Dieser Mechanismus – Aufkauf und Bezahlung auf der Grundlage der tagesaktuellen Preisbildungsprozesse auf dem Großmarkt Inezgane – wurde auch in anderen Gesprächen mit Vertretern von Verpackungsstationen erwähnt. Im Jahr darauf, so berichtet Aziz Rachik weiter, habe er sich ›für den Export‹ entschieden, was eine engere Zusammenarbeit einschließlich der Einhaltung des Pflichtenkatalogs sowie die Umstellung der Produktion zur Vorbereitung des Zertifikationsprozesses beinhaltete. Der Preis für die zugekaufte Ware richtete sich dann nicht mehr nach dem Großmarkt Inezgane, sondern erfolgte auf Kommissionsbasis gemäß dem im Exportmarkt selbst erzielten Preis:
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»Im zweiten Jahr [...] habe ich mich für den Export entschieden. Ich bringe meine Ware hierher, sie wird verpackt, die Auslese wird auf dem lokalen Markt verkauft und ich werde bezahlt. Der Rest wird nach Frankreich geschickt oder nach Europa, nach Châteaurenard, die Ware wird verkauft, C.B. behält seine Kommission und gibt mir die Differenz.« (Aziz Rachik, 2006)
Die Modalitäten der Zulieferung einschließlich der damit einhergehenden Preise spielen also eine zentrale Rolle für die Frage, inwieweit der einzelne Produzent an den im Exportmarkt zu erzielenden Gewinnchancen partizipiert. Diese Beobachtung wird im Kapitel ›Exklusionen‹ weiter untermauert, in dem die auf der Dorfebene anzutreffenden und mehrheitlich nicht institutionell integrierten Landwirte im Fokus stehen. Für die Exportform des Zulieferers ist nicht zuletzt die persönliche Ebene von zentraler Bedeutung: In der Beschreibung der Beziehung zwischen Zulieferer und Station wird immer wieder das gegenseitige Vertrauen als unabdingliche Basis der Zusammenarbeit angeführt. Oft entscheidet der persönliche Draht zwischen zwei Personen darüber, wie die Zusammenarbeit beginnt und ob sie fortgesetzt wird. Der Jungunternehmer Kabbour Bendaoud, der Tomaten produziert und seit einigen Jahren einem französisch-marokkanischen Exportunternehmen zuliefert, schildert beispielsweise, wie der erste Kontakt mit dem zuständigen Einkäufer scheiterte und zunächst keine Zusammenarbeit zustande kam: »Ich hatte einen Freund, ein Produzent [...], der war bei Moraprim [...] und ich habe ihn gefragt, ob ich mit ihnen arbeiten könnte. Er sagte mir, kein Problem, ich bin zu J.E. gegangen, das erste Mal, das hat nicht geklappt, wir sind aneinandergeraten, das war das erste Jahr ... er hat mir nicht vertraut, ich habe ihm nicht vertraut. [W]ir hatten kein Vertrauen ineinander, wir sind aneinandergeraten und ich habe noch ein Jahr woanders gearbeitet.« (Kabbour Bendaoud, 2006)
Ein Jahr später, so berichtet Kabbour Bendaoud weiter, hätten sie sich nochmals getroffen und seitdem laufe die Zusammenarbeit gut. Das zuvor fehlende Vertrauen, dem der erste missglückte Versuch zugeschrieben wird, hat sich entwickelt und die Beziehung wird nun als Freundschaft beschrieben: »Und heute ist er für mich ein echter Freund, ein enger Freund ... jetzt sind es fünf Jahre. [I]ch habe nie Probleme mit ihnen gehabt, sie sind korrekte Leute, sie arbeiten sehr gut, es sind Geschäftsleute ... das heißt, man kann auf sie zählen, sie halten ihr Wort.« (Kabbour Bendaoud, 2006)
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Auch Aziz Rachik hebt in der Beziehung zum Chef des Exportunternehmens, dem er zuliefert, die interpersonelle Ebene hervor. Zwischen ihnen bestünde, so formuliert er es, ein ›moralischer Vertrag‹, ein intaktes Vertrauensverhältnis, mit dem die Zusammenarbeit stehe oder falle: »Wenn Sie so wollen, ist das ein moralischer Vertrag ... ich überprüfe das nicht, ich versuche nicht, das nachzuvollziehen, was immer es auch sei, entweder – in so einem System – entweder haben sie Vertrauen oder sie gehen und machen was anderes.« (Aziz Rachik, 2006)
Die Bedeutung der Verlässlichkeit von Exportunternehmen oder Verpackungsstation erklärt sich für den Zulieferer aus dem Aspekt heraus, dass er die Kontrolle über den weiteren Vermarktungs- und Exportprozess in dem Moment, in dem er seine Ware liefert, abgibt. Er ist auf Ehrlichkeit und Transparenz angewiesen, die keine Selbstverständlichkeit seien, wie Aziz Rachik hervorhebt: »C.B., der wird mich nicht betrügen, denn er ist zuverlässig – all das sieht man in anderen Stationen, die Leute gründen Stationen, die Produzenten liefern ihre Ware und am Ende des Jahrs – entweder werden sie schlecht bezahlt oder sie werden betrogen oder dies oder das oder jenes ... – während hier, das ist jemand, der ist zuverlässig, und es herrscht vor allem anderen eine vollständige Transparenz.« (Aziz Rachik, 2006)
Zu dieser Transparenz gehört für ihn, dass er den Weg seiner Ware nachverfolgen kann: in der Station vor Ort mit eigenen Augen sowie im Export anhand der ihm ausgehändigten Dokumente, in denen Auslese, Exporte, Verkäufe und Preise nachgewiesen würden. Allerdings – so fügt er hinzu – gäbe es auch unter Zulieferern Möglichkeiten, erzielte Preise und Gewinne abzugleichen und somit zu überprüfen. Im gleichen Atemzug betont er, dass dies ›normalerweise‹ nicht der Fall sei: »Gut, selbstverständlich, am Ende des Agrarjahrs, unter uns Produzenten der verschiedenen Stationen, he, zeig’ her, wie viel hast du im Schnitt bekommen, ich habe im Schnitt das und das und so in der Art, und so vergleichst du, und wenn du denkst, du liegst im mittleren Bereich, dann bist du zufrieden. Es gibt Möglichkeiten der Kontrolle, aber im Prinzip ... im Prinzip machen wir das nicht!« (Aziz Rachik, 2006)
Die institutionelle Zulieferung an eine Verpackungsstation ist ein wichtiger Integrations- und Partizipationsmechanismus im Export: Bestimmte Hürden ebenso wie Risiken, die für darüber hinausgehende Formen der Einbindung in den
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Export überwunden bzw. in Kauf genommen werden müssen oder aber andere Betriebsdimensionen erfordern, können auf diese Weise umgangen werden. Die institutionelle Zulieferung geht zugleich mit keinerlei Handlungsspielräumen im Exportmarkt selbst einher, jegliche Handlungsbefugnisse enden im Moment der Anlieferung und Übergabe der Ware an die Station. Sie erlaubt jedoch Chancen auf eine Partizipation an Gewinnen, die bei den nicht-institutionalisierten, flexiblen und ohne wechselseitige Verpflichtungen stattfindenden Formen des Aufkaufs für den Export nicht anzutreffen und entsprechend von diesen abzugrenzen sind (vgl. ›Partizipation: Die Bedeutung von Märkten‹). Kooperative: Stärke durch Zusammenschluss Eine deutlich intensivere Form der Integration erlaubt die Exportkooperative. Im Souss gibt es gegenwärtig acht Kooperativen für den Export von Zitrusfrüchten und 17 für den Export von Frühgemüse (EACCE 2008e). Die Zitrusfruchtkooperativen wurden vor allem in den 1970er und 1980er Jahren gegründet. Auch einige der Gemüsekooperativen existieren bereits seit den 1970er Jahren, allerdings erfolgten auch jüngere Neugründungen in den 1990er und 2000er Jahren (ORMVA/SM 2007f). Die Kooperativen sind meist an eine Exportgruppe angeschlossen oder haben diese (mit-)gegründet, wobei jeweils unterschiedliche Formen der Aufgabenteilung zwischen Exportgruppe und Kooperative existieren. Das übergeordnete Ziel der Kooperativen besteht im gemeinsamen Export. Zentraler Bestandteil des Kooperativeneigentums ist daher die kooperativeneigene Verpackungsstation, in der die Ware der Mitglieder für den Export aufbereitet wird. Auch auf der Ebene der Produktion kann eine Unterstützung durch die Kooperative erfolgen, die Betriebe befinden sich aber im Privateigentum der Produzenten. Die Größe der Kooperativen im Souss variiert: Die Gemüsekooperativen sind mit zwischen sieben12 und 20 angeschlossenen Produzenten im Schnitt kleiner als die Zitrusfruchtkooperativen, die teils wie im Fall der Kooperative Mabrouka um die 70 oder der COPAG mehr als 100 Zitrusproduzenten versammeln. Die an die Kooperativen angeschlossenen Produzenten sind überwiegend Familienbetriebe und Jungunternehmer. Dabei sind im Gemüsebereich beide Typen, im Zitrussegment hingegen weitgehend Familienbetriebe in Kooperativen organisiert. Hinsichtlich der Mitgliederzusammensetzung der Kooperativen kann darüber hinaus zwischen zwei Formen unterschieden werden: Ein Teil der Kooperativen besteht im klassischen Zusammenschluss mehrerer individueller Exportproduzenten mit dem Ziel der gemeinsamen Verpackung und Vermarktung. In einigen Fällen handelt es sich hingegen faktisch um die Mitglieder eines
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(großen) Familienbetriebs, die, um von den damit verbundenen Vorteilen zu profitieren, eine Kooperative gegründet haben – hier stammen alle Mitglieder der Kooperative aus einem Familienverbund. In diesem Abschnitt steht die erste Form im Zentrum, da insbesondere auf die erforderliche Abstimmung und Organisation zwischen den Produzenten eingegangen werden soll. Im Fall der ›Familienkooperative‹ ähnelt die Abstimmung innerhalb der Kooperative faktisch den Abstimmungen innerhalb des Familienbetriebs (vgl. ›Exportgruppe: Administrative und logistische Dienstleiter‹). Die Mitgliedschaft in einer Exportkooperative hat zwei zentrale Vorteile für den einzelnen Produzenten: Im Vergleich zum Zuliefererstatus kann er seine Gewinnchancen steigern und seinen Handlungsspielraum im Export vergrößern, während die Kooperative zugleich eine relativ große Risikoabsicherung bietet. Handlungsspielräume sind dabei auch produktabhängig: Bedingt durch die unterschiedlichen Marktstrukturen sowie logistischen Abläufe ist die Einbindung des einzelnen Produzenten in die Prozesse und Entscheidungen der Vermarktung in den Gemüsekooperativen tendenziell größer als in den Zitrusfruchtkooperativen. Entscheidungen hinsichtlich der Vermarktung im Zitrusfruchtexport werden überwiegend auf der Ebene der Exportgruppen getroffen; die entsprechende Exportgruppe wird oder wurde jedoch von den Kooperativen teils gegründet, teils – mitunter auch neu – ausgewählt. Zwar sind auch sehr große Produzenten als Mitglieder in Kooperativen anzutreffen, der Export über eine Kooperative ist jedoch insbesondere für technisch und qualitativ starke Produzenten mittlerer Größe attraktiv. Je größer Produktionskapazität, monetäre Ressourcen und Risikobereitschaft ausfallen, desto eher fällt die Wahl auf alternative Exportformen wie den Export direkt über eine Exportgruppe oder in Kooperation mit – meist europäischen – Partnern. Insbesondere die Abstimmung mit anderen Produzenten kann auf diese Weise umgangen werden, Voraussetzung ist dafür jedoch meist eine eigene Verpackungsstation. Exemplarisch für den Kooperativenexport sollen hier die Perspektiven der Produzenten zweier Gemüseexportkooperativen vorgestellt werden. Zur Einordnung muss hinzugefügt werden, dass die ausgewählten Kooperativen Agasun und Primacom dem oberen Segment von Exportkooperativen im Souss zuzuordnen sind, da sie ausschließlich überdurchschnittlich gut ausgebildete Produzenten der Gewächshausproduktion versammeln. Die im Folgenden beschriebenen Aushandlungsprozesse und Entscheidungskompetenzen lassen sich daher nicht ohne Einschränkung auf die Kooperativenlandschaft im Souss allgemein übertragen, die sich aus den genannten Gründen gerade im Zitrusfruchtbereich diversifizierter gestaltet. Aus den ausgewählten Kooperativen werden sowohl ›ältere‹ Mitglieder, die die Kooperativen bereits mit gegründet haben, als auch junge
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Produzenten, die erst in den letzten Jahren aufgenommen wurden, vorgestellt. Betrachtet wird zunächst die Motivation der interviewten Produzenten, sich für den Kooperativenexport zu entscheiden. Ein Schwerpunkt liegt dann auf der internen Organisation der Kooperativen, wobei die Aufteilung von Entscheidungskompetenzen und Zuständigkeitsbereichen sowie Aspekte einer gelungenen Zusammenarbeit beleuchtet werden. Abschließend wird auf die Arbeitsteilung und Abstimmung zwischen Kooperative und Exportgruppe eingegangen. In den Interviews werden verschiedene Motivationen deutlich, sich einer Kooperative anzuschließen oder eine Kooperative zu gründen. Zwei Motive stehen im Vordergrund: der Zugewinn an Entscheidungsautonomie und höhere zu erzielende Gewinne. Die Kooperative als Zusammenschluss mit anderen Produzenten ermöglicht es auch kleineren bis mittelgroßen Exportlandwirten, selbst – und nicht über Zwischenhändler – in den Kontakt mit Kunden zu treten und direkt an diese zu vermarkten. Auf diese Weise können marokkanische oder auch europäische Akteure, die sonst bereits vor Ort in Marokko eine Marge einbehalten würden, umgangen und stattdessen große Teile des Gewinns an die Kooperative ausgeschüttet werden. Der Besitz einer Verpackungsstation als räumliche Schnittstelle zwischen Produktion und Export ist hierfür eine zentrale Voraussetzung, was jedoch hohe Investitionen erfordert. Ein einzelner Produzent kann dies in der Regel nur leisten, sofern er über das dafür notwendige finanzielle Kapital verfügt, während im Rahmen einer Kooperative gemeinsam in eine Verpackungsstation investiert werden kann. Die beiden folgenden Interviewausschnitte stehen stellvertretend für den Aspekt der höheren Verdienstaussichten. So beschreibt zunächst der Jungunternehmer Tariq Oualalou, wie er seine Ware an Zwischenhändler in der Region verkaufte, die ihre Gewinne über den Aufkauf und Export von Gemüse realisierten. Durch den Zusammenschluss mit anderen Produzenten zur Kooperative Agasun konnte er die für den Export erforderliche Tonnage erreichen, direkt exportieren und die Margen der Zwischenhändler umgehen: »Dann haben wir uns unter Kollegen zusammengeschlossen, um eine Tonnage für den Export zu erreichen. [W]ir hatten immer an Leute verkauft, die exportierten und also viel besser verdienten als wir, somit zogen wir es vor, uns zusammenzuschließen, um auf unsere Kosten zu arbeiten und ein wenig Gewinn zu machen.« (Tariq Oualalou, 2006)
Die eigene Kontrolle über Vermarktung und Preise war auch für Abdelkbir Amazouz, der sieben Jahre als Zulieferer exportierte, der Grund, in die Kooperative Primeurs du Souss zu wechseln. Er bringt den für ihn ausschlaggebenden Unterschied zwischen Zuliefererstatus und Kooperativenexport auf den Punkt:
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»Ein Unternehmen, das ist eine Dienstleistung, es kauft dir deine Ware ab ... und ... es verkauft. Das heißt, du hast nicht den Status eines Exporteurs. [W]enn du an eine Firma verkaufst, kennst du nicht den Preis auf der anderen Seite. Wir hier, hier sind wir es, die verkaufen, das sind wir, nicht jemand anderes. Während mit einer Firma da verkaufst du deine Ware [...] und sie sagen dir, die Tomate in Frankreich, die liegt bei 0,08 Euro – aber vielleicht sind es 0,10 oder 0,09! Und die Differenz, wer wird die wohl bekommen?!« (Abdelkbir Amazouz, 2006)
Nabil Bouguenouch hebt neben dem Gewinnaspekt auch die Entscheidungshoheit hervor. Im nachfolgenden Zitat beschreibt er den Prozess der Abwägung zwischen verschiedenen Formen der Exportmarkteinbindung von anfänglichen Überlegungen bis hin zur Umsetzung und Auswahl der Kooperative und Exportgruppe, an die er sich schließlich gemeinsam mit anderen Produzenten anschloss. Dabei ist auch für ihn – ähnlich wie bereits im Fall der Zulieferer – die Form des Exports nicht unabhängig von den Personen, die diese repräsentieren: »Wenn man in Kontakt kommt mit Freunden, jungen Ingenieuren, die auch in der Landwirtschaft sind, beginnt man darüber nachzudenken, wie man sein Produkt aufwerten kann, und der beste Weg um es aufzuwerten, der ist, auch für den Export zu arbeiten. Und wir begannen nachzudenken, wie sollen wir das anstellen. [U]nd dann kommt man an diesen Punkt der Integration, von Anfang an wollten wir nicht mit irgendjemandem irgendwie zusammenarbeiten. Wir sagten uns, wir müssen unbedingt einen Weg finden, etwas zu machen, wo wir die Dinge in der Hand haben. [U]nd so haben wir uns einer Kooperative angeschlossen, einer großen Kooperative der Region. [U]nd wissen Sie, manchmal wählt man nicht die Struktur, man wählt die Personen, die diese Struktur bestimmen, denn der Präsident [...], er hatte einen sehr guten Ruf, ein Mann der Arbeit, ein Mann, der Erfolg hatte, und wir haben uns gesagt, das ist jemand, der unsere Ziele versteht und der mit uns in die Richtung geht, in die wir gehen wollen. [I]m Endeffekt haben wir also nicht die [...] Kooperative gewählt, sondern die Person.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
Nicht zuletzt können auch technische Gesichtspunkte für den Anschluss an eine Kooperative sprechen – eine Motivation, die im Gespräch mit dem jungen Produzenten Anouar Layachi deutlich wird. Im ersten Jahr seiner Betriebsgründung lieferte er dem großen Exportunternehmen Primsud zu. Als er daraufhin entschied, einer Kooperative beizutreten, so berichtet er, rieten ihm viele davon ab, zu einer Exportstruktur mit geringerer Marktmacht zu wechseln. Als junger, noch unerfahrener Produzent sah er für sich als Zulieferer für das große Exportunternehmen jedoch kein Entwicklungspotential. Mit der Unterstützung der Produzenten der Kooperative Agasun habe er hingegen seine Produktionsfertigkei-
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ten ausbauen und verbessern können. Er beschreibt die Einblicke und Möglichkeiten, die sich ihm in der Kooperative eröffnet haben: »Wenn du bei einer großen Gruppe bist, beachtet man dich nicht mal, du wirst zum Beispiel niemals an einer Versammlung teilnehmen. Bei Agasun bist du immer da, du sagst deine Meinung, du überwachst dein Produkt, du ... du kannst jeden erdenklichen Punkt besprechen, während bei Primsud, da hast du nicht das Recht zu sprechen, du hast nicht mal das Recht, in die ... (lachend) Verpackungsstation zu gehen! Aber hier, hier sind wir nah dran an unserer Produktion, manchmal schicke ich meine Produktion auf den Transporter, ich begleite den Transporter zur Station, ich sehe, wie er entladen wird, ich verfolge die Produktion auf dem Fließband, ich verfolge alle ... alle kritischen Punkte und ich sehe die Auslese, warum wird etwas aussortiert, ich kann direkt zur Farm zurückgehen und das Problem minimieren, das ich festgestellt habe ... und so, so kann ich kleine Fehler direkt reduzieren.« (Anouar Layachi, 2006)
In eine Kooperative aufgenommen zu werden ist allerdings – insbesondere im Fall der technisch und qualitativ starken Gemüseexportkooperativen im Souss – keineswegs einfach und ohne ein entsprechend hohes Bildungsniveau des Produzenten faktisch ausgeschlossen. Die hier vorgestellten Gemüsekooperativen können damit auch als Zusammenschlüsse von Produzenten gleicher Geisteshaltung verstanden werden, als deren Indikator und Exklusionsmechanismus immer wieder auf das Bildungsniveau verwiesen wird: »Einer der Gründe für den Erfolg unserer Kooperative ist, dass alle Mitglieder der Kooperative ausgebildete Techniker und Ingenieure sind. Dadurch sind wir eine sehr homogene Gruppe und wir haben unsere Ziele ein wenig hoch gesteckt, um den Ansprüchen des Markts genügen zu können.« (Brahim Filali, 2006)
Die technischen und qualitätsorientierten Kompetenzen bilden jedoch nur eine Minimalanforderung. Für die Zusammenarbeit in der Kooperative werden daneben zwischenmenschliche Aspekte hervorgehoben, denn die Kooperative, so erläutert Abdelkbir Amazouz, könne keine Produzenten gebrauchen, die zwar gute Produzenten seien, aber Unfrieden innerhalb der Kooperative stifteten: »Primeurs du Souss ist eine sehr anspruchsvolle Kooperative, sie versucht, die Elite der Produzenten aufzunehmen. Glücklicherweise gehöre ich zu den Leuten, die seriös sind, seriös in der Arbeit und seriös als Person. Ich bin nicht jemand, der frivol ist, der viel redet ... der versucht, Probleme in der Kooperative zu machen. Denn es gibt Produzenten, die sind gute Produzenten, aber sie sind Streithammel [frz. fouteurs de merde] – entschul-
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digen Sie diesen Ausdruck (lacht)! – Streithammel, das heißt, sie schaffen Zwietracht in der Kooperative, sie machen Probleme, der da ist nicht gut, warum hat er das gemacht, warum ... na na na ... der da, der soll nicht dies machen, das sind Leute, die Probleme machen – das akzeptiert die Kooperative nicht.« (Abdelkbir Amazouz, 2006)
In diesem Statement wird die Selbstrezeption der Kooperativenmitglieder als ›Elite‹ der Produzenten der Region deutlich. Zugleich wird das Bewusstsein dafür ausgedrückt, dass diese Exportform – soll sie erfolgreich sein – von der Integrität des Einzelnen und der Loyalität der Produzenten untereinander abhängt. Streitereien und Missgunst wirken sich letztlich negativ auf den wirtschaftlichen Erfolg aller aus. Aus der Perspektive des jungen Produzenten Anouar Layachi war es zu Beginn nicht immer einfach, seine Position innerhalb der Kooperative zu finden und von den ›Älteren‹ als gleichwertig anerkannt zu werden. Er beschreibt diese Anfangsschwierigkeiten auch als Generationenkonflikt: »Am Anfang war es sehr schwierig, es war sehr schwierig, denn ... zunächst einmal arbeitest du mit Leuten, die ... ich würde nicht sagen, nicht deine Generation, sie sind älter als du, sie haben alles zusammen aufgebaut, sie sind in etwa im gleichen Alter, du, du bist ... der Jüngste von ihnen ist zehn Jahre älter als ich. [D]a ist ein bisschen der Altersunterschied und ein bisschen ein Unterschied in der Mentalität, am Anfang, wenn du dich einer Gruppe anschließt, wenn du noch jung bist, bist du immer ... ich würde nicht sagen ... außen vor, aber ... deine Meinung wird nicht wirklich ernst genommen, während ... ich habe immer Ansichten geäußert, die wirklich stichhaltig waren und am Ende, wenn man nachdenkt, dann ... dann ... (lacht) kommt man bei diesen Ansichten raus, die ich vorgeschlagen habe! Es war durch diese Beiträge, diese Ideen, die ich manchmal auf den Tisch gebracht habe, dass ich ein bisschen den Fuß in die Tür ... (lacht) ... das war wirklich schwer am Anfang, wirklich schwer!« (Anouar Layachi, 2006)
Innerhalb der Kooperativen besteht eine klare Aufteilung von Verantwortungen und Kompetenzen. Im Fall der Kooperative Primeurs du Souss haben die Mitglieder die Möglichkeit, im Laufe der Zeit verschiedene Kompetenzbereiche wahrzunehmen, angefangen vom Verwaltungsrat bis hin zur Präsidentschaft, die alle drei Jahren wechselt. Es gibt einen Verwaltungsrat, so erläutert Fathallah Abbad, in dem jeweils ein Mitglied für einen bestimmten Aufgabenbereich wie Station, Buchhaltung oder Vermarktung zuständig sei. Der Verwaltungsrat, der sich aus den Produzenten zusammensetzt, entwirft die Strategie der Kooperative und überprüft, ob diese Strategie von den dafür Angestellten entsprechend umgesetzt wird. Die Basis der Zusammenarbeit in der Kooperative, so wird zwischen den Zeilen immer wieder deutlich, beruht auf der Transparenz aller Vor-
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gänge und dem Verantwortungsgefühl jedes einzelnen Produzenten für die übergeordneten Ziele der Kooperative. So betont Abdelouadhid Elyazghi die regelmäßigen Zusammenkünfte, Besprechungen und Sitzungen und die dementsprechend enge Kenntnis der anderen. Jedes Kooperativenmitglied habe jederzeit Einblick in Entscheidungsprozesse: »Der Vorteil unserer Kooperative ist, dass wir ... dass wir uns alle kennen. Jeder in seinem Bereich, wir verheimlichen nichts voreinander und ... wir beraten uns fast jeden Tag über die kleinen und großen Dinge. [E]s gibt eine stete Verständigung, über das, was wir machen, eine vollständige Transparenz ... jedes Mitglied der Kooperative hat das Recht, alles über die Kooperative zu erfahren, es gibt keine unklaren oder dunklen Bereiche und ich glaube, das ist es, das ist es, was uns geholfen hat, voranzuschreiten.« (Abdelouadhid Elyazghi, 2006)
Gemäß den im Verwaltungsrat getroffenen Entscheidungen erfolgt die Abstimmung über das Anbauprogramm der Kooperativenmitglieder für das jeweilige Agrarjahr. Die Produktionsentscheidungen, die die Verantwortlichen der Kooperative treffen, richten sich wiederum nach den Vermarktungsmöglichkeiten sowie den Absprachen mit den meist festen Handelspartnern in Europa. Das Stichwort der Diversifikation steht dabei in doppelter Hinsicht im Zentrum: Angestrebt wird eine Diversifizierung der Absatzmärkte, die wiederum oft eine Diversifizierung der Produktpalette erfordert und mit je nach Markt unterschiedlichen Qualitätsanforderungen verbunden sein kann. Mit der Erschließung des britischen Markts eröffneten sich unter anderem zwei neue Perspektiven, die in den nachfolgenden Interviewausschnitten angesprochen werden: Zum einen konnten die Absatzmöglichkeiten für bereits kultivierte Produkte – in diesem Fall Kirschtomaten – ausgebaut werden. Mit dem Anbau grüner Bohnen wurde zum anderen in ein neues Produkt investiert, das eine alternative Exportmöglichkeit zu den hart umkämpften Tomatenexportkontingenten darstellt. »Früher produzierten wir Kirschtomaten für den französischen Markt [...] und 80 Prozent der Vermarktung erfolgten im Dezember, das heißt vom 10. bis zum 26. Dezember – während der Feiertage, denn da waren die Preise besonders gut. Wir haben also nur diese Periode angepeilt, da wir keinen Markt hatten. Jetzt, mit der Öffnung der Kooperative für den englischen Markt, haben wir gemerkt, dass es die Möglichkeit gibt, Kirschtomaten das ganze Jahr über zu vermarkten.« (Abdelouadhid Elyazghi, 2006) »Für Bohnen hat sich ein Markt entwickelt und dieser Markt ist auch wichtig, umso mehr da wir, wie Sie wissen, kontingentiert sind. Wir können uns nicht mehr unendlich vergrö-
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ßern hinsichtlich der Tomate, man kann ein Qualitätsprodukt haben, aber es gibt keinen Markt mehr für dieses Produkt, daher ist es absolut notwendig, sich ein wenig auf andere Kulturen umzustellen.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
Neue Märkte bedeuten zugleich neue Anforderungen an Qualitätsstandards. Um den englischen Markt beliefern zu können, ist oft die Erfüllung weiterer privater Standards erforderlich, wie beispielsweise Nature’s Choice der britischen Supermarktkette Tesco. Entscheidet die Kooperative, in diese Richtung zu expandieren, so bedeutet dies für die einzelnen Produzenten auch die Erfüllung höherer Qualitätsstandards – der junge Produzent Abdelkbir Amazouz bereitete beispielsweise zum Zeitpunkt des Interviews eine seiner Farmen auf die Nature’s Choice-Zertifizierung vor. Ebenso wie die interne Organisation der Kooperative variiert auch die Arbeitsteilung mit der Exportgruppe, der die jeweilige Kooperative angeschlossen ist. Die Kooperative Primeurs du Souss vermarktet über zwei Wege: zum einen für den französischen Markt über Kommissionäre, dem ›alten‹ System, zum anderen für den britischen Markt über Programme, dem ›neuen‹ System. Den Unterschied zwischen dem französischen und dem britischen Markt beschreibt Brahim Filali wie folgt: »Es sind zwei völlig verschiedene Märkte. [W]enn man zum Beispiel mit einer Partnerschaft arbeitet, dann erstellt man im Vorfeld ein Programm, sie sagen, was sie wollen, hinsichtlich der Menge und der Qualität und des Timings. Auf der anderen Seite haben sie einen Handelstyp ›Sie geben mir, was sie wollen, ich versuche, es zu verkaufen‹ – das ist der Kommissionär. ›Sie geben mir, was sie wollen – ich versuche, es zu verkaufen‹! Je nach aktuellem Preis auf dem Markt! Der kann steigen und fallen ... [...], da haben sie sehr viel Fluktuation. [W]enn sie mit einem festen Programm arbeiten, dann ist das ein bisschen regulierter hinsichtlich der Menge und des Preises. [...] [S: Und welches System bevorzugen Sie persönlich?] Na, das englische System, ja, ... es ist rationeller ... es ist absichernder ... strukturierter ... als ein Markt, wo nur ... wo nur Angebot und Nachfrage zählen.« (Brahim Filali, 2006)
Einer ihrer Partner, so erläutert Brahim Filali weiter, ist ein britischer Bohnenproduzent, der ganzjährige Lieferverträge mit seinen Kunden – überwiegend Einzelhandelsketten – hat, die er aus eigener Produktion nicht erfüllen kann. In dem Zeitraum, in dem er selbst nicht produziert, kauft er Ware – in diesem Fall aus Marokko – zu, um seine Abnehmer zu beliefern. Die Arbeitsteilung zwischen Kooperative und Exportgruppe im Prozess der Vermarktung gestaltet sich hier wie folgt: Die Besprechung des Programms mit dem jeweiligen Partner wird von den Kooperativenmitgliedern übernommen ebenso wie die Auswahl der
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Vermarktungspartner und die Entscheidung über die Zusammenarbeit mit neuen Kunden. Die Exportgruppe ist für alle logistischen und administrativen Aspekte des Exports – von Großeinkäufen, Organisation des Transports und Buchhaltung bis hin zur Bearbeitung der Finanztransaktionen und Unterzeichnung offizieller Dokumente – zuständig. Die Mitglieder der Kooperative Agasun, so drückt es Nabil Bouguenouch aus, gehen der Exportgruppe im Prozess der Vermarktung hingegen vielmehr ›zur Hand‹: Grundsätzlich ist die Exportgruppe verantwortlich für Vermarktung und Export und garantiert die Kundenakquise. Doch auch die Produzenten selbst haben die Kontakte zu zweien der drei Kommissionäre in Frankreich und Spanien, die derzeit ihre Hauptkunden sind, hergestellt. Er betont darüber hinaus, wie wichtig die Möglichkeit eines direkten, alltäglichen Austauschs mit den Kunden für die Produzenten der Kooperative ist, um Produktion, Verpackung und Export abzustimmen und Verluste zu vermeiden. Im Fall einer schlechten Preisentwicklung in Europa zum Beispiel sei es sinnvoller, einen Teil der Produktion auf dem nationalen marokkanischen Markt zu verkaufen, anstatt sie in den Export zu schicken: »Denn wenn wir ein Produkt losschicken, dann haben wir schon in die Aufbereitung investiert, in die Arbeitskräfte und den Unterhalt der Station und das Verpackungsmaterial und den Transport und die Kosten für den Zoll, den Transit, nur damit die Ware dort ankommt, das kostet schon enorm viel Geld. Wenn wir sie also nicht mindestens zum Preis dieser ganzen Kosten verkaufen, dann zahlen wir noch drauf, das ist eine Gefahr – Ware liefern und auch noch draufzahlen, das ist mühselig. Um das zu vermeiden, versuchen wir, auf dem Laufenden zu sein und zu regulieren.« (Nabil Bouguenouch, 2006)
Die Zusammenarbeit in der Kooperative beruht also auf einer weitgehenden Kooperationsleistung der Produzenten, die durch klare Aufgaben- und Kompetenzverteilung sowie die Transparenz von Entscheidungsprozessen erleichtert wird. Die Zugehörigkeit zu einer Kooperative wird so zu einem wertvollen sozialen Kapital: Es ist ein in Form der Kooperative institutionalisiertes Beziehungsnetzwerk, über das wichtige Ressourcen aktiviert werden können. Auf dieser Basis kann weiteres Sozialkapital in Form von – wie es die Produzenten selbst benennen – Vertrauen erarbeitet werden, was wiederum, wie weiter oben deutlich wurde, Zugänge zu Vorschüssen oder Krediten seitens der Materiallieferanten erschließen kann und den Status der Produzenten innerhalb des Exportnetzwerks der Region definiert. Diese Position ist jedoch dynamisch: Jeder einzelne Produzent muss dauerhaft und beständig in das Beziehungsnetzwerk investieren, seine Motivation unter Beweis stellen und ›Beziehungsarbeit‹ leisten. Die Export-
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gruppe schließlich ist als Dienstleister und Garant der logistischen und administrativen Prozesse sowie hinsichtlich der Vermarktung eine zentrale Institution für den Kooperativenexport und nimmt darüber hinaus eine Schlüsselrolle in der Repräsentation der Kooperative nach außen ein. Exportgruppe: Administrative und logistische Dienstleister ›Regionales Familienkonglomerat‹ Die Familie Hammaoui stammt aus Houara und produziert und exportiert seit einigen Jahrzehnten vor allem Zitrusfrüchte. Darüber hinaus ist die Familie, die heute in Agadir lebt, mit vier Ausgründungen von Unternehmen in weiteren Agrarsegmenten (unter anderem in der Weintrauben-, Getreide-, Getreidesaatgut- sowie Milchproduktion) tätig. Die Zitrusproduktion findet auf insgesamt 320 Hektar im Raum Oulad Teima statt und ist vollständig EUREPGAP-zertifiziert. Es handelt sich um Landeigentum. Die Zitrusfrüchte und Weintrauben sowie kleinere Mengen Frühgemüse (Bohnen, Zucchini, Melonen) werden in der Verpackungsstation der Familie, die in den frühen 1980er Jahren in Oulad Teima errichtet wurde, für den Export aufbereitet. Der Großteil der im Agrarjahr 2007/08 exportierten rund 5.000 Tonnen Zitrusfrüchte – jeweils zur Hälfte Clementinen und Orangen – stammte aus der familieneigenen Produktion, nur etwa 600 Tonnen wurden hinzugekauft. Im Anschluss an die Liberalisierung des Exportsektors 1986 gehörte das Familienunternehmen zu den Mitbegründern der Exportgruppe GPA, die 1998 wiederum zu den Gründern des Exportkonglomerates Fresh Fruit zählte, das gegenwärtig vier Exportgruppen versammelt. Bis heute exportiert das Familienunternehmen über die Exportgruppe GPA. ›Zitrusinvestor aus Rabat‹ Der Investor E.M. aus Rabat produziert seit den 1950er Jahren Zitrusfrüchte im Souss und verpackte und exportierte bis 2004 über eine Station in Tassila, dem Industriegebiet Agadirs. 2004 errichtete er die Verpackungsstation Dora bei Oulad Teima. Seine Zitrusfruchtplantagen befinden sich bei Oulad Berhil und umfassen gegenwärtig etwa 600 Hektar – das Land befindet sich in seinem Eigentum. Die gesamte Produktion ist GLOBALGAP- und HACCP-zertifiziert. Im Jahr 2007/08 exportierte er rund 20.000 Tonnen Zitrusfrüchte. Davon stammten 90 Prozent aus seiner eigenen Produktion, 10 Prozent wurden von fünf über Verträge an die Station angeschlossenen Produzenten zugeliefert. Die GLOBALGAP-Zertifizierung der Produzenten ist eine Voraussetzung der Zulieferung. E.M. vermarktet über zwei Wege: Zum einen ist er an die Exportgruppe GEDA angeschlossen, die wiederum zum Zitrusfruchtexportkonglomerat Maroc Fruit Board gehört. Zum anderen wird ein Teil der Ware direkt an eigene Handelspartner exportiert und vermarktet. Hauptabsatzmärkte sind Großbritannien und die Niederlande.
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Die einleitenden Beispiele der Familie Hammaoui und des Investors E.M. stehen stellvertretend für eine Reihe von Exportlandwirten im Souss, die als individuelle Eigentümer von Verpackungsstationen einerseits über eigene, unabhängige Produktions- und Verpackungskapazitäten verfügen und die sich andererseits hinsichtlich der Vermarktung ihrer Ware sowie der Organisation der administrativen und logistischen Abläufe des Exports an eine der Exportgruppen des Souss angeschlossen oder diese selbst mit gegründet haben. Bei diesen Akteuren handelt es sich um große Familien- oder von Investoren gegründete Betriebe, die hinsichtlich ihrer Produktionskapazitäten und Exporttonnagen die Voraussetzungen für diese Exportform erfüllen. Prinzipiell exportieren auf diese Weise sowohl auf den Gemüse- als auch auf den Zitrusfruchtexport spezialisierte Betriebe. Die Investitionen in eine eigene Verpackungsstation sind im Zitrusfruchtexport allerdings erheblich größer als im Gemüsesegment. Die etwa 300 Hektar umfassende Zitrusfruchtproduktion der Familie Hammaoui liegt innerhalb der Betriebe, die auf diese Weise Zitrusfrüchte aus dem Souss exportieren, im unteren Bereich, während sich der Investor E.M. mit einer Produktion von 600 Hektar im Mittelfeld bewegt. Aus der Reihe der Zitrusfruchtstationen im Souss können insgesamt fünf Stationen dieser Exportform zugeordnet werden. Sie alle werden von Unternehmen betrieben, die sich im Eigentum von Familien oder Erbengemeinschaften aus dem Souss befinden – in einem Fall handelt es sich um den vorgestellten Investor E.M. aus Rabat. Alle fünf verfügen über eine bis mindestens in die 1960er Jahre zurückreichende Tradition in der Zitrusfruchtproduktion im Souss. Die damit angesprochenen Zitrusfruchtexporteure besitzen Plantagen im Größenmaßstab zwischen 300 und 1.000 Hektar und exportieren zwischen 5.000 und 25.000 Tonnen Zitrusfrüchte aus eigener Produktion und Zukauf. Im Gemüsebereich sind mehr Stationen, und zwar etwa ein Viertel dieser Exportform zuzuordnen. Bei den Eigentümern handelt es sich auch hier meist um Familienunternehmen, die als natürliche Personen, Unternehmen oder (Familien-)Kooperativen auftreten. Die Beispiele der Familien Saleh und Zine stehen stellvertretend für diese Exportform. ›Individueller Anschluss an wechselnde Exportgruppen‹ Die Familie Saleh stammt aus Inezgane, wo sie auch heute noch wohnt. Seit den 1960er Jahren produziert M. Saleh für den Export und seit 1965 verpackt und exportiert er über seine eigene Verpackungsstation in Ait Melloul. 2004 investierte er in den Bau einer neuen, aktuellen Qualitätsstandards entsprechenden Verpackungsstation, ebenfalls in Ait Melloul. Mittlerweile betreibt er das Exportunternehmen gemeinsam mit seinem Sohn. Sie produzieren auf 85 Hektar Gemüse – davon 65 Hektar im Gewächshaus – und exportier-
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ten 2007/08 rund 6.000 Tonnen. Mit rund 5.000 Tonnen sind Tomaten ihr Hauptprodukt, daneben exportierten sie kleinere Mengen Zucchini, Paprika, Bohnen und Peperoni. 1.000 Tonnen Tomaten kauften sie von sechs Produzenten hinzu. Im Frühjahr 2009 waren drei Viertel der Produktion EUREPGAP-zertifiziert, das letzte Viertel wurde gerade zertifiziert. Bis 2004 exportierte M. Saleh über die Exportgruppe OCE, dann wechselte er zur Gruppe Salam. Seit 2007/08 exportiert er etwa die Hälfte seiner Ware weiterhin über Salam, die andere Hälfte über Chtouka Prim. Er verfügt über etablierte Kontakte zu seinen Handelspartnern, unter anderem auf dem Großmarkt von St. Charles in Perpignan, mit denen er teilweise seit mehr als zehn Jahren konstant zusammenarbeitet. Neben Gemüse produzieren Vater und Sohn auch Zitrusfrüchte auf rund 70 Hektar. Der Vater liefert seine Zitrusfrüchte an die Kooperative Diaf, während der Sohn seine eigene Produktion von 13 Hektar über die Kooperative Mabrouka exportiert. Sie kaufen auch Zitrusfrüchte zu, die sie über die Kooperativen exportieren. Nicht zuletzt produzieren sie Milch, die sie an die COPAG liefern. ›Eigene Station zur Umsetzung von Qualitätsstandards‹ Die Familie Zine stammt aus Chtouka. Sie produziert und exportiert Gemüse seit den 1970er Jahren. Einige Jahrzehnte lang exportierten sie über die Kooperative Borj, die der Exportgruppe Chtouka Prim angeschlossen ist. 2004 errichtete M. Zine gemeinsam mit seinen vier Brüdern eine familieneigene Verpackungsstation mit dem Ziel höherer Qualitäts- und Zertifizierungsstandards. Mittlerweile ist die gesamte Produktion der Familie ebenso wie die Station GLOBALGAP-zertifiziert. Insgesamt bebauen sie 80 Hektar Land – größtenteils Eigentum – davon die Hälfte unter Plastik, die andere Hälfte im Freiland. Für die Vermarktung ihrer Ware arbeitet die Familie vor allem mit Kommissionären zusammen, mit denen jeweils Programme für ein Agrarjahr erstellt werden. Sie verfügen über einen französischen sowie einen russischen Haupthandelspartner. Seit 2007 sind sie darüber hinaus an die Exportgruppe Salam angeschlossen, mit der zusammen sie ihre Handelsbeziehungen ausbauen und deren administrative und logistische Dienstleistungen sie in Anspruch nehmen. Im Agrarjahr 2007/08 exportierte die Familie insgesamt 5.600 Tonnen Frühgemüse, davon 3.300 Tonnen Tomaten sowie weiterhin Melonen, Zucchini, Paprika, Peperoni, Bohnen und Gurken. Etwa die Hälfte der Ware stammte aus der eigenen Produktion, die andere Hälfte wurde zugekauft. Mit dem Ziel, ihre Zukäufe zu verringern, investierten die Brüder 2008/09 in ihre Produktion und ersetzten 30 Hektar Freilandfläche durch neue Gewächshäuser.
Während die Familie Saleh einen Familienbetrieb repräsentiert, der bereits seit den 1960er Jahren über eine eigene Verpackungsstation verfügt und über diese aus dem Souss exportiert, hat die Familie Zine zunächst als Mitglied einer Kooperative verpackt und vermarktet. Um den neuen Anforderungen an Zertifizie-
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rungen und Qualitätsstandards auf den Ebenen der Produktion und Verpackung gerecht werden zu können, investierten beide Familien in eine eigene bzw. neue Verpackungsstation. Die Familie Zine hatte die von ihr angestrebten Zertifizierungsprozesse im Rahmen der Kooperative nicht entsprechend umsetzen können, während im Fall der Familie Saleh die alte Station den Erfordernissen nicht mehr entsprach. Von den 2009 untersuchten Stationen, die zur hier vorgestellten Kategorie zählen, wurde in zwei Drittel der Fälle der Grundstein bereits zwischen den 1960er und 1980er Jahren gelegt – der Großteil der Familien, die auf diese Weise in den Export eingebunden sind, blickt damit auf eine seit einigen Jahrzehnten kontinuierliche Exporttätigkeit zurück. Im Vergleich zu den oben vorgestellten Zitrusfruchtstationen produzieren die Gemüsebetriebe auf kleineren Flächen, dafür jedoch auch im Gewächshaus: Die Produktionsflächen der Betriebe liegen im Größenmaßstab zwischen 40 und 400 Hektar, davon maximal bis zu 250 Hektar im Gewächshaus. Etwa drei Viertel der Familienbetriebe sind auf die Gemüseproduktion spezialisiert, während ein Viertel, wie im Fall der Familie Saleh, sowohl Gemüse als auch Zitrusfrüchte produziert. Die eigene Station dient in diesen Fällen jedoch ausschließlich der Gemüseverpackung, während die Zitrusfrüchte im Rahmen einer Kooperative oder der Zulieferung an ein Unternehmen exportiert werden. Eine Ausnahme stellt eines der größten Familienunternehmen im Souss dar, zu dem sowohl eine eigene Verpackungsstation für Zitrusfrüchte als auch zwei Stationen für Gemüse gehören. Die Familie produzierte 2009 alleine im Souss auf insgesamt 1.300 Hektar und verfügt darüber hinaus auch über Produktionsflächen in anderen Regionen sowie außerhalb Marokkos. Ebenso wie im Fall der im letzten Abschnitt vorgestellten Kooperativen variieren auch bei dieser Exportform die Möglichkeiten der Arbeitsteilung zwischen der Station und der Exportgruppe, wobei auch hier die Schwerpunkte letzterer auf den Ebenen Administration (wie Buchhaltung, Kontoführung, Überweisungen) und Logistik (Transport per Kühltransporter oder Schiff) sowie Vermarktung liegen. Die Zusammenarbeit mit einer Exportgruppe bietet daneben den Vorteil günstigerer Einkaufskonditionen für die nötigen Agrarproduktions- und Verpackungsmaterialien – angefangen von den Plastikfolien für die Gewächshäuser über Saatgut und Setzlinge, Düngemittel und Pestizide bis hin zu den Paletten, Kartons, Netzen und Plastikschalen, in denen die Ware verpackt und transportiert wird. Darüber hinaus bildet die Exportgruppe eine zentrale Schnittstelle der Informationsvermittlung für die Stationen und die ihr angeschlossenen Produzenten: Die Exportgruppen haben in der Regel eigens angestelltes Personal, das für die Beobachtung der Markt- und Preisentwicklung in den Zielländern zuständig ist
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und Informationen zu den agrarpolitischen Rahmenbedingungen wie den Einfuhrkontingenten aufbereitet und zur Verfügung stellt. Einige der Stationen arbeiten wie die Familie Hammaoui seit ihrem Bestehen konstant mit einer Exportgruppe zusammen, andere hingegen schließen sich je nach Situation und Lage wechselnden Exportgruppen an oder nehmen wie die Familie Saleh die Dienstleistung mehrerer Gruppen in Anspruch. Drei der zuvor vorgestellten Stationen verfügen darüber hinaus über individuelle, über Jahre hinweg etablierte Kontakte zu Handelspartnern, die sie auch über einen etwaigen Wechsel der Exportgruppe hinweg aufrechterhalten haben. Damit bilden sie im Fall der Gemüsevermarktung keine Ausnahme, wie im Anschluss noch deutlich werden wird. Für die Handlungsspielräume der auf diese Weise exportierenden Produzenten trifft wieder zu, dass sich die Vermarktungsprozesse und Möglichkeiten der individuellen Einflussnahme im Gemüsesegment insgesamt flexibler gestalten, während die Vermarktung im Zitrussegment stärker zentral von Seiten der Exportgruppen und der Exportkonglomerate Fresh Fruit und Maroc Fruit Board gesteuert wird. In Ergänzung zu den bis hierher vorgestellten Fallbeispielen sollen nachfolgend drei Familienunternehmer im Gemüseexport, die jeweils über eine eigene Verpackungsstation verfügen und gleichzeitig an eine Exportgruppe angeschlossen sind, zu Wort kommen. Die ausgewählten Interviewausschnitte verdeutlichen exemplarisch, wie sich die betreffenden Akteure aktuell im Exportsegment positionieren und wie sie die Kontakte zu ihren Kunden in den Exportländern in den vergangenen Jahren etabliert, ausgebaut und an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst haben; gleichzeitig wird nochmals deutlich, welche Rolle dabei den Exportgruppen zukommt. Einige Familienunternehmer zählten zu den zentralen Persönlichkeiten während der Formation und Ausdifferenzierung der privatwirtschaftlichen Exportgruppen nach 1986 (vgl. ›Liberalisierung und Großkapital‹). So gehörte der Familienunternehmer Mohammed Benabdeljalil nach der Aufhebung des Exportmonopols der OCE zunächst zu den Mitbegründern der Exportgruppe GPA. Deren Politik gegenüber den Produzenten habe jedoch schnell der autoritären Haltung der OCE geglichen, während er im Rahmen der Organisationsstruktur der Exportgruppen eine größere Eigenständigkeit und Entscheidungshoheit des einzelnen Produzenten, insbesondere im Prozess der Vermarktung, anstrebte. Gemeinsam mit ähnlich denkenden Produzenten ergriff er 1989 die Initiative zur Gründung der Exportgruppe Agri Souss, in der die Idee der Autonomie des Produzenten bei der Vermarktung seiner Ware umgesetzt werden sollte. Agri Souss ist mittlerweile zu einem starken Akteur im Exportsegment geworden:
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»Wir, wir haben eine totale Freiheit verlangt, für jeden Einzelnen! [U]nsere Exportgruppe hat die Idee immer beibehalten, dass jede Station ihre Freiheit hat – im Rahmen der Exportgruppe. Sie haben die Wahl – es ist nicht die Exportgruppe, die die Handelspartner auswählt, nein, es ist die Station, der Produzent ... er ist es, der die Marktentwicklung verfolgt, der seine Handelspartner aus dem Ausland trifft, der sieht, wie die Partner das Produkt ins Programm einstellen ... der sieht, wie es präsentiert wird und welche Kategorie von Produkten – nur so kann sich der Produzent weiterentwickeln.« (Mohammed Benabdeljalil, 2006)
Der Ausgestaltung und Funktionsweise der Exportgruppe kommt damit eine zentrale Funktion im Prozess der Ausdifferenzierung, Etablierung und Behauptung der Handlungsspielräume der einzelnen Produzenten zu. Auch die Familienkooperative Zahoud gehört zur Exportgruppe Agri Souss. Im nachfolgenden Interviewausschnitt beschreibt der Leiter der Familienkooperative die Vorteile dieser Exportform und die Bedeutung der Exportgruppe aus seiner Perspektive. Der Anschluss an eine Exportgruppe, so wird deutlich, beschränkt sich nicht allein auf die organisatorischen Abläufe, sondern signalisiert vielmehr die Zugehörigkeit zu einem quantitativ und qualitativ starken Akteur und stärkt damit die Verhandlungsposition des einzelnen Produzenten erheblich. Im gleichen Atemzug hebt auch er die Unabhängigkeit der Familienkooperative hinsichtlich der Auswahl ihrer Handelspartner hervor: »Unsere Gruppe ist ein Unternehmen, das uns gehört. [A]gri Souss kümmert sich um alles, was den Transport und die Logistik betrifft und die Rücküberweisung der Devisen für ihre Mitglieder. Und Agri Souss bündelt die Vermarktungsmacht – auch wenn jede Station, jede Kooperative ihre Marke hat, ist das Label Agri Souss dafür da, die Stärke der 14 Kooperativen dahinter zu demonstrieren. Aber die Stärke unserer Kooperative ist auch, dass wir eine direkte Verbindung zu unseren Handelspartnern haben. Es ist nicht Agri Souss, die die Handelspartner mit denen wir zusammenarbeiten, aussucht, es ist die Kooperative, die die Wahl trifft.« (Said Zahoud, 2008)
Diese Freiheit, so führt er weiter aus, ermöglicht es dem einzelnen Familienbetrieb im Kontext der Exportgruppe beispielsweise höherklassige Marktsegmente anzusteuern und von diesen zu profitieren. Implizit wird damit auch gesagt, dass durch die Gewährleistung individueller Handels- und Lieferbeziehungen die Qualität der eigenen Ware nicht durch eventuell von anderen Stationen gelieferte schlechtere Ware gemindert wird – was bei einer gemeinsamen Vermarktung der Fall sein könnte. Eine Station kann sich daneben unabhängig für oder gegen Marktsegmente entscheiden, ohne dass zugleich auch alle anderen Stationen die-
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se Entscheidung mittragen müssen. Beispiele, in denen diese Entscheidungen von Tragweite sein können, sind dabei mittlerweile nicht mehr nur die Qualität der Ware und die für bestimmte Qualitäten ausgehandelten Preise, sondern auch die bereits mehrfach angesprochene Institutionalisierung von Qualität im Rahmen privatwirtschaftlicher Standards und Zertifizierungen. Die Familie Zahoud beispielsweise hat sich über die Zertifizierungen GLOBALGAP und Nature’s Choice hinaus entschieden, auf einigen Hektar biologischen Anbau zu betreiben und dafür eine Ecocert-Zertifizierung erworben. Hierfür ist eine flexible, individuelle Zusammenarbeit mit der Exportgruppe von Vorteil. Die Einführung der Zertifikate ist dabei jedoch nur ein Ausdruck des tiefgreifenden Wandels der Vermarktungsstrukturen im Zuge der Restrukturierung des europäischen Einzelhandels, von dem die Betriebe in den letzten Jahren betroffen waren. Der junge Exportlandwirt und Nachfolger im Familienbetrieb Khalid Taoufiqui beschreibt diesen Wandel im nachfolgenden Interviewzitat: »Früher, da lief es über Großhändler, du schickst deine Ware auf den Markt, das war der Kommissionsverkauf, du triffst zum Beispiel einen Kommissionsimporteur, er stellt sich vor und verspricht dir ... wer weiß was, schick’ mir deine Ware, die Ware kommt an und er beginnt, sie an Großhändler zu verkaufen, das kann drei Tage dauern oder auch vier Tage – der Markt hat sich verändert [...], die Zeit der Großhändler ist vorbei. [D]as heißt, wir haben gemerkt, dass auch wir unsere Verkaufsstrategien ändern müssen! [A]ls wir gesehen haben, dass die Einzelhandelsketten sich ausbreiten, da haben wir unsere Denkweise geändert ... da haben wir unsere Vermarktung daran angepasst.« (Khalid Taoufiqui, 2006)
Diesen Wandel haben die hier vorgestellten Betriebsleiter nachvollzogen und die Organisation ihrer Vermarktung entsprechend auf die neuen Kräfteverhältnisse im europäischen Einzelhandel ausgerichtet. Sie arbeiten nun maßgeblich mit Supermarktketten bzw. mit Unternehmen, die Supermarktketten beliefern, zusammen: »Die Supermärkte heute in England, sie übergeben ihre Belieferung an Unternehmen, die diese Leistung für sie übernehmen, das heißt, wir, wir arbeiten mit einem Unternehmen, das von den englischen Supermärkten anerkannt ist, wir gehen nicht direkt zu den Supermärkten. [D]as ist die Politik der Engländer. Hingegen die Deutschen, da arbeitet man direkt mit den Supermärkten, in Frankreich, jedes Land auf seine Weise ... aber im Allgemeinen laufen 90 Prozent unseres Exports über Firmen, die Supermärkte beliefern. [I]n England arbeiten wir mit drei [...], in Deutschland mit zwei, in Frankreich mit zwei und in der Schweiz mit einer zusammen.« (Said Zahoud, 2008)
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Auch der Familienbetrieb Taoufiqui hat sich auf die Belieferung der Einzelhandelsketten, unter anderem des größten französischen Einzelhändlers Carrefour ausgerichtet. Nach Vermarktungswegen und -strategien gefragt fällt auch hier – wie bereits im Abschnitt zum Kooperativenexport beschrieben – das Schlagwort der im Vorfeld vereinbarten ›Programme‹, die die Vermarktung grundlegend veränderten. Die Zusammenarbeit mit Carrefour über dessen Einkäufer Socomo beschreibt Khalid Taoufiqui wie folgt: »Ich unterschreibe zum Beispiel einen Vertrag mit Socomo [...], das ist die große Einkaufsplattform von Carrefour in Spanien. Sie schicken ihre Aufträge per Fax, ich erhalte das Fax [...] und ich weiß, ich muss zum Beispiel zwei Transporter davon schicken und einen davon, so und so viele Paletten davon, mit einem bereits vorher festgelegten Preis, ich weiß also, in welcher ... in welcher Situation ich bin! Ich erstelle mein Programm für die Verpackungsstation, ich rufe die Produktion an, ich kenne die Verfügbarkeit, ich überprüfe mein Programm für die Station [...] und ich schicke meine Ware los – sie ist schon vorverkauft, ich weiß, dass sie bereits vorverkauft ist. Heute arbeitet man mit Programmen, anstatt zu verpacken und per Zufall loszuschicken, welchen Preis man bekommt, weiß man nicht, wird man verlieren oder nicht – das ist vorbei.« (Khalid Taoufiqui, 2006)
Die Familienunternehmen und Betriebe, die dieser Form der Integration in den Exportsektor zuzuordnen sind, können, so lässt sich zusammenfassen, auf ein Netzwerk diversifizierter und mittlerweile über Jahre oder Jahrzehnte etablierter Handelsverbindungen nach Europa zurückgreifen. Sie sind direkt in die Vermarktungskanäle der europäischen Einzelhandelsketten eingebunden und stellen sich individuell auf unterschiedliche Marktsegmente und ihre verschiedenen Funktionsweisen und Anforderungen ein. Der Anschluss an eine Exportgruppe hat dabei den strategischen Vorteil, dass diese neben der Organisation der administrativen und logistischen Abläufe auch die Vermarktungskapazitäten der individuellen Exportbetriebe bündelt. Partnerschaft: Wechselnde Koalitionen und Anteile ›Zusammenschlüsse mit holländischen und spanischen Partnern‹ Die Familie Mouflih stammt aus einem Dorf in Chtouka und wohnt heute in Agadir. Der Vater und Betriebsgründer begann in den 1970er Jahren, auf 2,5 Hektar Land zu produzieren. In den 1990er Jahren erschloss er den Exportmarkt in Kooperation mit einem holländischen Partner, mit dem er 1995 das Unternehmen Maritom gründete. Nach dem Ausstieg des holländischen Partners übernahm sein Sohn dessen Anteile am Unternehmen.
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Seit 2006 arbeitet der Familienbetrieb mit einem spanischen Partner zusammen. Die 2006 errichtete Verpackungsstation befindet sich ausschließlich im Eigentum des Familienbetriebs. Der spanische Partner ist mit einem Anteil von 30 Prozent an der Produktion beteiligt, die 2008/09 insgesamt 95 Hektar, davon 68 Hektar Kirschtomaten im Gewächshaus und 27 Hektar Zucchini im Freiland umfasste. Die gesamte Produktion ist sowohl GLOBALGAP- als auch Nature’s Choice-zertifiziert. Das Land ist das Eigentum des Vaters und befindet sich ebenso wie die Station im Umkreis seines Herkunftsdorfs in Chtouka. Neben der Produktion betrifft die Zusammenarbeit mit dem spanischen Partner auch die Vermarktung. Gemeinsam gründeten sie 2006 eine Vermarktungsgesellschaft mit Sitz im spanischen El-Ejido, an der beide Partner jeweils 50 Prozent halten und über deren Plattform die gesamte Ware aus Marokko vermarktet wird. Die Exporttonnage, die ausschließlich aus der eigenen Produktion stammt, erreichte 2008/09 2.200 Tonnen, für 2009/10 waren 5.000 Tonnen angepeilt. Der spanische Partner ist selbst Produzent. Er verfügt über Gewächshausflächen bei Motril und kauft kleinere Mengen gegebenenfalls auch in Spanien zu. Auf meine Frage nach Erweiterungen antwortete mein Interviewpartner im Frühjahr 2009, aktuell fänden keine Extensionen statt, da sie die Produktion in den letzten drei Jahren gerade erheblich ausgebaut hätten. Investitionen gemeinsam mit dem spanischen Partner seien aber für in zwei Jahren geplant – allerdings nicht in die Gemüseproduktion, sondern in Zitrusfrüchte und Olivenbäume, nach wie vor in der Souss-Ebene, jedoch Richtung Oulad Berhil.
Das Beispiel der Familie Mouflih steht für die Exportintegration von Landwirten und Familienbetrieben im Souss, die gegenwärtig individuell und unabhängig über die Produktion, Verpackung und Vermarktung ihrer Ware entscheiden und dafür auf direkte, oft etablierte oder in Form von Partnerschaften institutionalisierte Kontakte zu ihren – meist europäischen – Kunden zurückgreifen. Diese Partner können europäische Großabnehmer oder Vermarktungsgesellschaften sein oder auch direkt als Investoren agieren. Die Produzenten selbst treten bei dieser Exportform als gleichwertige Partner in die Geschäftsbeziehung ein und verfügen über hohe (Mit-)Entscheidungsbefugnisse. Voraussetzung für diese Exportvariante ist in der Regel ein großes Produktionsvolumen und meist auch eine eigene Verpackungsstation. Die monetären Ressourcen des Produzenten bestimmen dabei maßgeblich über seine Position in dieser Geschäftsbeziehung und seine Handlungsspielräume hinsichtlich der Produktions- und Vermarktungsmöglichkeiten. Mit dieser Exportform können vergleichsweise hohe Risiken einhergehen, die unterschiedlich abgefedert werden. Aufgrund der logistischen Voraussetzungen im Zitrusfruchtexport exportieren auf diese Weise meist Gemüseproduzenten. Nachfolgend werden zwei Produzenten vorgestellt, die stellvertretend für die Vielfalt der teils fließend inei-
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nander übergehenden Varianten zwischen Kooperation, Partnerschaft bis hin zur Gründung gemeinsamer Joint Ventures mit Teilaspekten vertikaler Integration stehen – die Akteure eint dabei, dass sie weder als Zulieferer noch über eine Kooperative oder den Anschluss an eine der Exportgruppen exportieren. Wie im einleitenden Beispiel der Familie Mouflih repräsentiert der Betrieb von Youssef Lkam eine Kooperation zwischen einem marokkanischen Familienbetrieb und europäischen Partnern, die auch in diesem Fall als Investoren auf der Produktionsebene auftreten. Die Geschichte von Youssef Lkam, den ich zunächst 2006 sowie eineinhalb Jahre später im Frühjahr 2008 nochmals interviewte, zeigt, wie eine zunächst vielversprechende Kooperation mit europäischen Partnern scheitern kann. Die verschiedenen Kombinationen aus Eigenproduktion und Zukauf, Vermarktung vor Ort und individuellem Export von Youssef Lkam, auf die zunächst eingegangen wird, illustrieren darüber hinaus die Vielfalt möglicher Aktivitäten einzelner Produzenten im Gemüseexport des Souss. Den Kontakt zu Youssef Lkam erhielt ich 2006 ursprünglich über ein französisch-marokkanisches Exportunternehmen, dem er Ware zulieferte. Während unseres ersten Gesprächs berichtete er, dass er daneben auch direkt an eigene Kunden in Europa sowie an Exporteure und Zwischenhändler in Marokko vor Ort vermarkte. Immerhin etwa die Hälfte seiner Ware verkaufe er auf diese Weise ›lokal‹, das heißt an europäische Aufkäufer und Exporteure im Souss. Der lokale Verkauf, so betont er, sei mitunter besonders lukrativ, und zwar dann, wenn die Aufkäufer aufgrund einer hohen Nachfrage untereinander um Ware konkurrierten: »Ganz einfach deshalb, weil es hier viele Leute gibt, Spanier, Franzosen, die aufkaufen, und so treiben sie die Preise untereinander in die Höhe, das ist Angebot und Nachfrage, manchmal ist die Nachfrage so hoch, manchmal kaufen sie teurer als ... sie machen sogar noch Verlust auf der anderen Seite, und so verkaufen wir dann direkt vor Ort.« (Youssef Lkam, 2006)
Insbesondere spanische Aufkäufer, so erläutert er weiter, kaufen im Souss Gemüse, dabei vor allem Bohnen zu. Unter ihnen seien sowohl reine Aufkäufer als auch spanische Produzenten, die selbst im Souss produzieren. Auf meine Nachfrage hin, wie der Kontakt mit den spanischen Aufkäufern genau zustande käme, erklärt er, er selbst stünde nicht im direkten Kontakt zu den Spaniern. Aufgrund schlechter Erfahrungen würde er diese nur noch über marokkanische Zwischenhändler beliefern:
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»Die Spanier gehen über Zwischenhändler, das heißt wir, um zu vermeiden, dass ... denn was mit den Spaniern passiert, ist ... – es kann sein, dass sie eine Rechnung nicht bezahlen, deshalb gehen wir über Zwischenhändler. [D]er Zwischenhändler bezahlt uns und er muss sich dann mit den Spaniern herumschlagen, denn die Spanier sind nicht so ... korrekt.« (Youssef Lkam, 2006)
Habe er selbst nicht ausreichend eigene Ware, so kaufe er von weiteren marokkanischen Produzenten hinzu. In dieser Hinsicht ist also auch Youssef Lkam als ein Zulieferer zu charakterisieren, der selbst wiederum Ware von weiteren Landwirten aufkauft und diese ebenfalls bei ihrer Produktion finanziell unterstützt. In einigen Fällen, so Youssef Lkam, ist er mit marokkanischen Produzenten vor Ort vertraglich assoziiert, das heißt, diesen Landwirten finanziert er Saatgut, phytosanitäre Produkte und Personal und sie liefern ihm im Gegenzug ihre Ware, die er vermarktet. Die Vorauszahlungen für Tomaten beliefen sich dabei auf zwischen 8.000 und 10.000 Euro pro Hektar. Es könne jedoch passieren, dass der Produzent, wenn die Preise auf dem Markt in die Höhe gehen, seine Ware anderweitig verkaufe – daher bevorzugt er im Allgemeinen Ware lediglich nach Bedarf und ohne vorausgegangenes Engagement zuzukaufen. Der Zukauf sei ›ein Metier für sich‹ – man müsse die Landwirte, von denen man zukaufe, ihre Produktionsfähigkeiten sowie insbesondere ihren Umgang mit Pflanzenschutzmitteln und die Einhaltung der Rückverfolgbarkeit adäquat beurteilen können, damit das Produkt schließlich den Normen der EU entspräche. Hier seien Informationsnetzwerke entscheidend, in denen die Pflanzenschutzmittellieferanten eine Schlüsselrolle einnähmen: »Sie kennen die Produzenten und auf diese Weise ... auf diese Weise zirkuliert die Information. [S]ie fragen zum Beispiel einen der seriösen Lieferanten, einen von den großen Firmen, und sagen, ich will Tomaten kaufen von dem und dem Landwirt, ist er ... ?! Und er wird ihnen sagen ja oder nein ... denn die Lieferanten führen eine inoffizielle Datenbank.« (Youssef Lkam, 2006)
Zum Zeitpunkt unseres Interviews 2006 berichtete mir Youssef Lkam zusätzlich zu seiner Aufkäufertätigkeit auch von zwei Kooperationen mit europäischen Partnern, die gerade anliefen. Zum einen hatte er gemeinsam mit einem belgischen Partner – selbst Produzent in Belgien – in die Produktion von Zucchini, Paprika und Bohnen im Souss investiert. Zum anderen baute er gerade zusammen mit einem französischen Partner – einem Vermarktungsunternehmen – drei Produktionsstätten für Melonen (melons charentais) im Souss sowie bei Essaouira und Guelmim auf, deren Investitionen sich auf etwa eine halbe Milli-
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on Euro beliefen. Alleine, so erklärte er, hätte er dies nicht realisieren können. Die finanziellen Investitionen seien jeweils zur Hälfte von ihm und zur Hälfte vom Partner getätigt worden. Die Partnerschaft ermögliche ihm die Realisierung dieses Projektes – da es sich nicht um Vorschüsse, sondern um Investitionen des Partners handele, erfolge zugleich eine Abfederung des finanziellen Risikos, das mit einem solchen Projekt einherginge: »Der Vorteil ist, dass ... – ich kann das nicht ganz alleine machen, es ist eine Partnerschaft mit Europäern, es ist eine Art Zusammenschluss – wenn nicht, das könnte ich nicht alleine machen! [D]as sind ... große Firmen, die sich in Marokko niederlassen wollen, über uns sozusagen. Sie wollen eine garantierte Produktion, daher suchen sie nach einer Partnerschaft. [I]m Moment haben wir einen französischen Partner und einen belgischen. [E]ine Partnerschaft [...], das ist jemand, der die Risiken mit dir trägt, zu 50 Prozent [...], das federt auch die Risiken ab!« (Youssef Lkam, 2006)
Als ich Youssef Lkam eineinhalb Jahre später im Frühjahr 2008 wieder traf, befand sich der Betrieb in einer tiefgreifenden Umbruchphase, bedingt durch die Aufteilung des Familienerbes. Das Agrarjahr 2007/08 diente vorwiegend der Teilung des Betriebs und alle landwirtschaftlichen Aktivitäten wurden vorübergehend unterbrochen. Zusätzlich zu den Sorgen der Teilung, so berichtete Youssef Lkam, habe sich jedoch auch die Partnerschaft mit den Franzosen im Nachhinein aufgrund von Wasserproblemen in Guelmim zu einem Fiasko entwickelt. Die gemeinsame Haftung für die Risiken der Produktion habe nicht funktioniert – am Ende habe er die Risiken praktisch alleine tragen müssen und dabei finanzielle Verluste von 280.000 Euro erlitten. Im Gespräch äußert er sich dazu wie folgt: »Eine solche Partnerschaft dürfen wir nicht mehr ins Auge fassen, denn die Leute sind nicht solidarisch, am Anfang tun sie, als wären sie solidarisch, aber dann sagen sie, Entschuldigung ... dadada ... , wenn wir nochmals eine andere Partnerschaft eingehen, dann werden wir verlangen, dass vertraglich festgehalten wird, dass sie auch für Verluste haften. [...] [S: Gab es denn keinen Vertrag oder Ähnliches?] Doch ... aber ... als wir sahen, wie sie anfingen ›Nein, das Wasser ... das ist nicht unser Problem ...‹ – da sagte ich: ›Hört auf, fangt nicht an zu weinen, denn diese Krokodilstränen, die kenne ich, hört auf, das war’s, wir sprechen nicht mehr drüber, sucht euch einen anderen Partner und macht was ihr wollt, das war’s.‹« (Youssef Lkam, 2008)
Die Schilderung dieser Situation aus Sicht von Youssef Lkam steht neben seiner Darstellung der misslungenen Geschäftsbeziehung stellvertretend für die Viel-
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zahl von scheiternden Zusammenarbeiten, Partnerschaften, Produktions- oder Vermarktungsvereinbarungen – nicht nur zwischen Marokkanern und Europäern, sondern auch zwischen Marokkanern – von denen mir in zahlreichen Gesprächen und Kontexten immer wieder berichtet wurde und in denen unterschiedliche Erwartungshaltungen ebenso wie Wertvorstellungen aufeinandertreffen. Auch der Jungunternehmer Fouad Achouri, der nicht aus dem Souss, sondern aus Beni Mellal stammt, hat im Laufe seiner Exporttätigkeit eine Vielzahl teils auch negative Erfahrungen gesammelt. Seine heutige Existenz als eigenständiger Chef eines Gemüseexportbetriebs, so kündigte er mir zu Beginn unseres Interviews an, habe er sich selbst aufgebaut und dafür des Öfteren von vorne anfangen müssen: »Ich komme nicht aus einer Familie, in der ich begleitet worden wäre ... in der ich ... ein Kapital hatte – ich hatte nichts! Das heißt, ich musste ... ich habe all’ das alleine aufgebaut! [I]ch habe mich langsam vorgetastet, mal dies, mal das und ich bin mehrmals auf die Schnauze gefallen!« (Fouad Achouri, 2006)
Um Projekte zu finanzieren, schloss er sich mehrfach mit unterschiedlichen französischen ebenso wie marokkanischen Partnern zusammen. Auch in seinem Fall endeten einige Kooperationen mit dem Konkurs. Zeitweise konnte er seinen Betrieb aus Geldmangel gar nicht bewirtschaften, zeitweise arbeitete er, um etwas hinzuzuverdienen, nebenbei als Plastiklieferant in Casablanca. Im nachfolgenden Interviewzitat schildert er, wie er eine dieser Zusammenarbeiten – in diesem Fall mit französischen Partnern – erlebt hat: »Wir haben 600 Tonnen Erdbeeren und 300 Tonnen Melonen produziert und sie, sie waren in der Mehrheit, sie hatten 80 Prozent, ich hatte nur 20 Prozent, sie haben einen Verkaufsdirektor eingestellt, der die Preise in Marokko von Anfang an festgelegt hat, und das waren Preise, die bereits ... die nicht einmal die Kosten des Transports gedeckt haben! [S]ie haben mich übers Ohr gehauen und ich war ahnungslos, denn ich ... ich hatte nur 20 Prozent, ich konnte nicht intervenieren, ich musste die Geschäftsbilanz abwarten – und die Geschäftsbilanz war negativ, das war mit Absicht, sie haben mir die Kredite überlassen ... und ich, als naiver Marokkaner, ich musste alle Leute bezahlen, die Lieferanten, nach und nach ... .« (Fouad Achouri, 2006)
Diese Erfahrung hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, es weiter mit französischen Partnern zu versuchen – mittlerweile arbeitet er seit bereits zehn Jahren mit einem französischen Unternehmen zusammen, dessen Teilhaber er vor sieben Jahren wurde. Von seinen aktuellen Kooperationspartnern, so berichtet er,
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erhält er regelmäßig finanzielle Vorschüsse, um in die Produktion zu investieren, sie zu vergrößern oder neue Kulturen anzubauen. Zum Zeitpunkt des Interviews 2006 plante er mit der finanziellen Unterstützung aus Frankreich gerade den Bau einer Verpackungsstation – eine Investition im Umfang von 400.000 Euro. Die gelungene Kooperation beschreibt er wie folgt: »Es herrscht ein totales Vertrauen, es sind jetzt zehn Jahre, die wir zusammenarbeiten, wir kennen uns. [E]s gibt Leute, die anfragen, ob ich mit ihnen zusammenarbeiten will, aber ich bin treu ... ich muss meine Verpflichtungen ihnen gegenüber einhalten, darüber hinaus bin ich mit ihnen assoziiert, sie sind wie meine Familie, ich bin kein Fremder, es ist fast ... ich bin fast wie ein europäischer Bürger, ich habe ein Visum für zwei Jahre, drei Jahre [...], ich kann mich in Europa frei bewegen, ohne Probleme, einfach so.« (Fouad Achouri, 2006)
Aus den Berichten von Fouad Achouri und Youssef Lkam werden sowohl die Risiken als auch die Chancen ersichtlich, die mit Partnerschaften einhergehen können. Risiken können dabei auch oder gerade mit einem geringen Eigenanteil ins Gewicht fallen, wenn Entscheidungsbefugnisse daran gekoppelt sind. Wie hoch der eigene Anteil im Rahmen einer Kooperation jeweils ist, hängt wiederum eng mit den monetären Ressourcen zusammen, über die der Produzent verfügt. Gleichzeitig – auch dies führen die Beispiele vor Augen – birgt eine Partnerschaft, sofern sie gut läuft, die Möglichkeit Projekte zu realisieren, die vermutlich andernfalls nicht hätten umgesetzt werden können. Vertikale Integration: Kontrolle über mehrere Ebenen Als fünfte Möglichkeit der Einbindung in den internationalen Agrarhandel sollen abschließend Formen sogenannter ›vertikaler Integration‹ vorgestellt werden. Prozesse der vertikalen Integration zielen allgemein darauf ab, verschiedene als ›vertikal‹ vorgestellte Produktionsstufen einer Verarbeitungskette in eine Organisationsstruktur zu integrieren. Sie sind einer der zentralen Prozesse im Kontext der Industrialisierung der Landwirtschaft und führen insbesondere zur Reduzierung der Anzahl von Akteuren, die in die verschiedenen Ebenen der Warenkette eingebundenen sind (Clay 2004: 38). Die Entwicklung vertikal integrierter Unternehmensstrukturen ist kein marokkanischer Sonderfall, sondern reiht sich in die Tendenzen der landwirtschaftlichen Produktion auf globaler Ebene ein. Im vorliegenden Zusammenhang wird mit ›vertikaler Integration‹ die Strategie von Exportunternehmen bezeichnet, die darauf abzielt, die Ebenen der Produktion, Verpackung und Vermarktung sowie die damit einhergehenden logistischen und
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administrativen Abläufe weitgehend oder ausschließlich unternehmensintern zu organisieren. Die Unternehmensstrategie der ›vertikalen Integration‹ entwickelte sich im Souss in den 1990er Jahren und fand vielfache Beachtung sowohl innerhalb der Produzentenkreise als auch in der Literatur zur Organisation des Exportsektors (vgl. Belkadi 2003, Tozanli & El Hadad Gauthier 2007, Rastoin et al. 2009). Den bereits bekannten, aus französisch-marokkanischen Partnerschaften hervorgegangenen Unternehmen Masoussi und Primsud – deren Erfolgsgeschichte mittlerweile zum Klassiker des marokkanischen (Tomaten-)Exports avancierte – kam dabei eine Vorreiterfunktion zu. Sie zählen hinsichtlich ihrer Produktionskapazitäten und Exporttonnagen zur kleinen Elite der ›Megaproduzenten‹ im marokkanischen Gemüseexport und waren die ersten Unternehmen im Souss, die eine vertikale Integration der verschiedenen Ebenen und Arbeitsabläufe der Wertschöpfungskette in ihre Unternehmensstruktur realisiert haben. Sie weisen darüber hinaus jedoch auch Merkmale der horizontalen Integration auf, die sehr viel weniger Beachtung fanden. Die vertikale Einbindung der verschiedenen Abläufe in eine Unternehmensstruktur wird dabei auf mehreren Ebenen als Vorteil herausgestellt: Als wichtiges Argument wird auf die Qualität des Produkts verwiesen, die durch die Kontrolle der gesamten Produktions- und Verarbeitungskette besser gewährleistet werden könne; darüber hinaus wird die damit verbundene Möglichkeit, eine Marke gleichbleibender Qualitätsgarantie zu kreieren und auf dem Markt zu etablieren, hervorgehoben. Hierfür sei vor allem die Integration der Vertriebsund Vermarktungsebene von Bedeutung, so der Geschäftsführer von Masoussi: »Die Stärke [des Unternehmens] Masoussi – das für nicht wenige Kooperativen, Produzentenzusammenschlüsse und private Exporteure ein Vorbild war – ist die Beherrschung der gesamten Ablaufkette, Produktion, Verpackung und vor allem Vermarktung. Anstatt über einen Zwischenhändler zu gehen, der keine Vorstellung von der Produktion hat [...], ist der Vertrieb Bestandteil des Unternehmens und damit auch verantwortlich für den Absatz der Ware auf dem Markt.« (Geschäftsführer B.P., 2006)
Ähnlich beschreibt der französische Verkaufsleiter von Primsud die Organisation des Verkaufs, der zentral von Südfrankreich aus gesteuert wird: Die vom Unternehmen beschäftigten Verkäufer seien für den Absatz der Ware für die unterschiedlichen Märkte und Marktsegmente zuständig und auf ihre Teilbereiche spezialisiert. Zugleich müssten sie stets den Kontakt zu den Verantwortlichen in der Produktion und Kühllagerung gewährleisten, um auf diese Weise Ernte, Verpackung und Verladung in Marokko sowie die Abverkäufe in Europa planen
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und koordinieren zu können. Verkauf und Vermarktung der Ware erfolgten dabei zu gut 80 Prozent an europäische Einzelhandelsketten (Verkaufsleiter von Primsud, Südfrankreich 2007). Die vertikale Integration ist die Exportform mit den umfangreichsten Handlungsspielräumen und beinhaltet über die von den Interviewpartnern genannten Aspekte der Qualitätssicherung und der Abstimmung zwischen Produktion, Verpackung, Verladung und Verkauf hinaus weitreichende Gewinnspannen und Investitionspotentiale. Hierauf deutet zum einen das mittlerweile breite horizontale Aktivitätsportfolio der beiden Unternehmen hin, die gegenwärtig alleine im Souss auf rund 1.000 Hektar Gewächshausfläche produzieren. Seit ihrer Gründung diversifizierten sie ihre Produktion sowohl hinsichtlich der Produktpalette als auch der Produktionsstandorte und trieben darüber hinaus Prozesse der horizontalen Integration voran. Unter anderem haben sie in der jüngeren Vergangenheit in die Produktion von Zitrusfrüchten, Kernobst, Olivenbäumen und Datteln investiert und zählen zu den Akteuren, die alternative Produktionsstandorte in Dakhla sowie in weiteren Regionen Marokkos aufgebaut haben. Eines der Unternehmen gründete daneben zwei weitere Joint Ventures, eins mit einer holländischen Saatgutfirma zur Produktion von Pfropfkulturen und eins mit einem belgischen Unternehmen zur Zucht von Helferinsekten. Hinsichtlich der zu realisierenden Gewinne kann nicht zuletzt davon ausgegangen werden, dass die Form der vertikalen Integration es den Unternehmen erlaubt, die durch die Regelung des Einfuhrpreissystems der EU entstehende ›Rente‹ vollständig abzuschöpfen, da es alle hierfür zentralen Schritte kontrolliert (vgl. ›Bekenntnisse: Privatisierung und Freihandel‹). Abgesehen von diesen beiden Unternehmen ist auch eines der Zitrusfruchtexportunternehmen im Souss als weitgehend vertikal integriert zu charakterisieren. Die Grenzen zwischen einer ›vollständig‹ integrierten Unternehmensstruktur und Teilaspekten der Integration sind jedoch fließend. Mittlerweile weisen einige der in der Exportlandwirtschaft des Souss aktiven Unternehmen und Kooperativen (Teil-)Aspekte vertikaler Integration auf. Dies betrifft vor allem den Aspekt der Vermarktung. Viele Unternehmen, aber auch Kooperativen haben in den vergangenen Jahren Vermarktungsbüros überwiegend in Perpignan oder in Rungis gegründet, mit dem Ziel, die Vermarktung der Ware von ›vor Ort‹ aus besser und unmittelbarer steuern zu können und stärker präsent zu sein. Auch dies erfolgt oft als Partnerschaft, beispielsweise mit langjährigen Handelspartnern. Neben der Vermarktung ist die weitgehende oder vollständige Integration der Produktion eine weitverbreitete Strategie der Exportakteure. Dieses Ergebnis zeigte sich bereits in den individuellen Gesprächen mit unterschiedlichen Exportlandwirten und bestätigte sich während der Erhebungen auf der Ebene der
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Verpackungsstationen. Die in den Export integrierten und in diesem Schlüsselstellen besetzenden Akteure zielen zunehmend darauf ab, die eigene Produktion auszubauen und die Zusammenarbeit mit Zulieferern sukzessive einzuschränken. Auf diese Weise lassen sich Abhängigkeitsverhältnisse und weniger bis nicht kontrollierbare Elemente der Produktion reduzieren. Sie ist darüber hinaus in den Kontext der von Seiten des Einzelhandels verlangten Qualitätsanforderungen einzuordnen, die Formen der Institutionalisierung von Qualität beinhalten, kosten- und wissensintensiv sind und nur von einer Minderheit von Produzenten erfüllt werden (können). Die Frage der Zukäufe bleibt nichtsdestotrotz, wie mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen durchschien, ambivalent. Nach wie vor werden Zukäufe auch von nicht-zertifizierten Landwirten getätigt. Es kann davon ausgegangen werden, dass Zukäufe gerade in Zeiten großer Nachfrage oder anderweitiger Probleme, beispielsweise vereinbarte Programme zu erfüllen, eine wichtige Funktion erfüllen und darüber versucht wird, Verluste zu vermeiden oder zu kompensieren. Somit muss an dieser Stelle kritisch angefügt werden, dass vor dem Hintergrund der äußerst sensiblen Thematik der ›Qualitätssicherung‹ gerade gegenüber einer Europäerin Zukäufe und Zukaufpraktiken sehr wahrscheinlich herabgespielt werden und eine Diskrepanz zwischen Rhetorik und Praxis besteht. Die vertikale Integration, so lässt sich resümieren, ist die Exportform, die mit den umfangreichsten Handlungsspielräumen und Gewinnchancen einhergeht. Sie beinhaltet kaum Elemente der Kooperation im Souss – sie befördert im Gegenteil die Reduzierung und Exklusion weiterer Akteure. Nur eine Minderheit der Produzenten im Souss hat bereits eine (weitgehend) vertikal integrierte Unternehmensstruktur aufgebaut. Prozesse der vertikalen ebenso wie horizontalen Integration werden jedoch gegenwärtig von einer Vielzahl von Akteuren vorangetrieben.
A USDIFFERENZIERUNGEN : S TRATEGIEN UND K ONFLIKTLINIEN Zugänge zu und Verfügungsmacht über Ressourcen sind für die bis hierher vorgestellten, in den Export eingebundenen Akteure eine essentielle Voraussetzung exportlandwirtschaftlicher Tätigkeit und ihrer erfolgreichen Aufrechterhaltung und Weiterführung. Obgleich sich ihre Ressourcenzugänge gegenwärtig vergleichsweise komfortabel gestalten und sie damit zu einer kleinen Elite von Produzenten im Souss zu zählen sind, bewegen sich auch diese Akteure in einem Feld der Ressourcenknappheit und werden in diesem Zusammenhang zu Kon-
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kurrenten um Ressourcenzugänge. Hier können Konfliktlinien zwischen Akteursgruppen ausgemacht werden, die unterschiedliche Positionierungen hervorrufen. Mit der Situation der Ressourcenknappheit und -konkurrenz konfrontiert, lassen sich zugleich unterschiedliche Strategien identifizieren, die wiederum aufschlussreich hinsichtlich der Ausdifferenzierung der Handlungsspielräume auch dieser Akteure sind. Zwei Ebenen von Ressourcenknappheit sollen in diesem dritten Teil beleuchtet werden, und zwar zum einen Zugänge zu Exportmärkten und Vermarktungschancen sowie zum anderen zu den natürlichen Ressourcen Land und Wasser. Während es sich bei ersterer ausschließlich um eine politisch geschaffene Form der Knappheit handelt, ist letztere eine sowohl physisch gegebene als auch über sozial regulierte Zugänge konstruierte Knappheit, bei der sich ökologische, ökonomische und machtpolitische Aspekte mehrfach überlagern. Absatzmärkte und Konkurrenz Die seit 2000 verstärkt getätigten europäischen Investitionen im Souss lassen sich als voranschreitende Prozesse der Auslagerung europäischer Produktionsstandorte in marokkanisches Territorium interpretieren, die mit einer zunehmenden Konkurrenz sowohl um die marokkanischen Exportkontingente als auch um natürliche Ressourcen einhergehen. Sie werden seitens der marokkanischen, aber auch der ›etablierten‹ europäischen Produzenten kritisch registriert und bewertet. Das Verhältnis zu Europa und dabei insbesondere zu Spanien offenbart sich als höchst ambivalent. Europa gilt zunächst als zweifellos alternativloser Exportmarkt und Spanien innerhalb dieses Markts als zugleich ebenso scharfer wie auch übermächtiger Konkurrent, zu dem ein starkes Abhängigkeitsverhältnis existiert. Die Dimensionen der Konkurrenz und Abhängigkeit werden dabei nicht als ›natürlich‹ betrachtet, sondern vielmehr aufgrund politischer Rahmenbedingungen – der Zugehörigkeit zur EU – als künstlich konstruiert empfunden: »Es gibt, sagen wir, einen Wettbewerb zwischen uns und den Spaniern – aber man kann nicht mal von einer Konkurrenz sprechen, denn sie ... sie sind sehr groß und wir, wir sind sehr klein, unser [Marokkos] Anteil ist verschwindend. Was exportieren sie, ich glaube, sie exportieren so an die 800.000 Tonnen Tomaten und wir 200.000 Tonnen!« (Fathallah Abbad, 2006) »Unser Konkurrent, das ist bekannt, das ist Spanien. Wir, wir hängen von Spanien ab, Sie wissen, warum, Spanien steht an erster Stelle, denn es ist Mitglied der EU. Sie, sie werden bevorzugt – wir, wir hängen von Spanien ab, wenn es Probleme gibt in Spanien [...], dann
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sind wir gut platziert in Europa, unsere Ware. Wenn Spanien eine gute Produktion hat, dann sind wir ... pff ... (fährt sich an den Hals) ... .« (Abdelkbir Amazouz, 2006)
Die europäischen Importrestriktionen im Rahmen des Einfuhrpreissystems der EU für Obst und Gemüse (vgl. ›Bekenntnisse: Privatisierung und Freihandel‹) werden von vielen meiner Interviewpartner als Handelshemmnis und Abschottung des europäischen Markts zu Ungunsten der marokkanischen Produzenten betrachtet, während der größte Konkurrent Spanien zugleich als zu Unrecht bevorzugt wahrgenommen wird. So hält Tariq Oualalou die marokkanische Tomatenproduktion für wettbewerbsfähiger als die spanische, würde diese nicht durch agrarpolitische Regelungen bevorzugt: »Wenn es wirklich keine Behinderungen, keine politischen Blockaden gäbe, wenn es nur um die Konkurrenzfähigkeit ginge, dann sind wir konkurrenzfähiger. [S: Es sind also vielmehr politische Gründe?] Ja, es ist vielmehr politisch als wirtschaftlich ... als Konkurrenzfähigkeit, nicht wahr?!« (Tariq Oualalou, 2006)
Die Exportkontingente wären, so Tariq Oualalou weiter, in den letzten Jahren zwar schrittweise erhöht worden – auf dem derzeitigen Niveau seien sie jedoch nach wie vor zu niedrig. Als marokkanische Produzenten hätten sie das Potential, ihre Exportproduktion deutlich auszubauen – dies werde jedoch von europäischer Seite aus verhindert. Für eine Änderung dieser Politik wird dabei aus unterschiedlichen Perspektiven argumentiert. Zum einen wird auf die Globalisierungsrhetorik der ›Marktöffnung‹ verwiesen, zum anderen auf unerwünschte Nebeneffekte wie Migration. Zugleich wird ein Bewusstsein dafür ausgedrückt, dass (agrar-)politische Interessenkonflikte auch innerhalb Europas komplex sind. »Ich denke, es wird sich was ändern, mit dem Phänomen der Globalisierung, da kann man sich nicht die ganze Zeit abschotten. Man kann nicht die Öffnung für europäische Industrieprodukte verlangen und sich abschotten gegenüber ... es muss ein gewisses Gleichgewicht geben, auch um soziale Unruhen zu vermeiden, die heimliche Migration – besser, man fördert die Arbeit bei sich daheim [...], um die Armut zu verringern, die der Grund für alle unsere Probleme ist.« (Tariq Oualalou, 2006) »Unsere einzige Chance, in diesem Bereich zu bleiben, ist Europa, wir haben keinen anderen Markt. [U]nd wir verlangen, dass uns Europa noch mehr unterstützt ... aber nicht finanziell, nicht finanziell! [N]ur eins: Öffnet Euren Markt! Euren Markt öffnen bedeutet, mir die Möglichkeit zu geben zu produzieren. [D]as ist alles, das ist ganz einfach – was heißt ganz einfach, das sagt man so, es ist natürlich viel komplizierter, denn wir wissen, in
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Europa sind die spanischen Produzenten, die ... die auch ihren Broterwerb verteidigen, die französischen Produzenten, die holländischen Produzenten – das ist eine Gleichung mit ... mit mehreren Variablen.« (Aziz Rachik, 2006)
Während die Importregelungen der EU von meinen Interviewpartnern durchgängig als Marktabschottung empfunden werden, verschärft sich die Situation im Zuge der Verlagerungen europäischer Produktionsstandorte in den Souss nochmals. In diesem Prozess werden die bereits knappen marokkanischen Kontingente darüber hinaus als von europäischen Produzenten direkt vor Ort und unter Rückgriff auf marokkanische Ressourcen abgeschöpft wahrgenommen. Hier tut sich ein Potential von Konfliktlinien auf, in denen die Kontingentpolitik der EU zunehmend als widersinnig und die Politik des marokkanischen Staats als die eigenen Produzenten benachteiligend empfunden wird. Zugleich erscheinen jedoch auch die Erfolgsaussichten der marokkanischen Ware auf dem europäischen Markt ohne ›europäische Marktführer‹ als fragwürdig. Stellvertretend für dieses Bündel sich überlagernder Motive stehen die nachfolgenden Interviewzitate. Nabil Bouguenouch verweist zunächst auf die politische Dimension der Aushandlungsprozesse zwischen Kontingenten einerseits und Investitionsanreizen für ausländische Akteure andererseits. Die marokkanischen Produzenten, so argumentiert er weiter, stünden zu den ›kapitalstarken europäischen Investoren‹ jedoch nicht in einem fairen Konkurrenzverhältnis. Auf diese Weise fühlt er sich in doppelter Hinsicht um die marokkanischen Exportkontingente betrogen, die von den europäischen Produzenten realisiert werden: »Man muss die Dinge beim Namen nennen, wir haben eine politische Entscheidung getroffen, auf nationaler Ebene, es ist sehr schwierig, sich politischen Entscheidungen zu widersetzen. Sie wissen, Marokko ist ein offenes Land. [A]ber die Entwicklung der ausländischen Landwirtschaft in Marokko, das ist wahr, um ganz ehrlich zu sein, das macht uns ein wenig Angst. Und wissen Sie warum? Denn einerseits sind wir nicht in einer fairen Konkurrenz, es ist schwierig, Kredite zu bekommen, wir haben sehr kurze Rückzahlungszeiten, wir haben sehr hohe Zinsen – ein Europäer, der sich hier niederlässt, hat hohe Kredite, sehr niedrige Zinsen und lange Rückzahlungszeiten. [W]ir, ganz ehrlich, wir sagen, diese Leute, sie sind willkommen, aber wir wünschen uns auch, dass sie daran denken, die Kontingente Marokkos zu verteidigen. [W]as ich mir wünschen würde wäre, wenn sie hierherkommen und 1.000 Tonnen produzieren, die dürften nicht Teil des [marokkanischen] Kontingents sein, denn wir, wir werden abgeblockt, wir dürfen nicht mehr als das exportieren, wir müssen die Eintrittspreise respektieren!« (Nabil Bouguenouch, 2006)
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Für einen zweiten Diskursstrang steht das Gespräch mit Kabbour Bendaoud, der die Wasserproblematik in den Vordergrund stellt. In seinen Äußerungen drückt sich zugleich eine große Ratlosigkeit aus: Weder die Kontingentregelungen von europäischer Seite erscheinen ihm nachvollziehbar, noch das Ziel, welches der marokkanische Staat mit dieser Politik verfolgt. Kleine Produzenten der Region, so seine Sorge, würden in diesem Prozess, den er als eine neue Form der Kolonialisierung Marokkos bezeichnet, an den Rand gedrängt: »Um ehrlich zu sein, ich sehe keinen Ausweg mit den Europäern. [W]issen Sie warum, verzeihen Sie den Ausdruck, Marokko wurde von den Franzosen kolonialisiert und den Spaniern, das ist bekannt. Heute wird Marokko auf eine andere Weise kolonialisiert. [W]issen Sie, dass die besten Betriebe und die größten Betriebe Ausländern gehören [...] – welchen Sinn macht es also, Kontingente für Marokko einzurichten, wenn es Ausländer sind, die hier produzieren und nach Europa exportieren? [D]ie [europäische] Präsenz ist gut für uns, aber sie ist immens, eines Tages wird es explodieren ... wissen Sie, wenn jemand hier eine riesige Farm aufbaut, dann sind da an die hundert Produzenten, kleine Produzenten, die zugrunde gehen, Produzenten auf 2, 3 Hektar, 1,5 Hektar, die Produzenten, die nicht mehr mithalten können. [W]ozu soll das gut sein? Das verstehe ich nicht, im Endeffekt – sogar die marokkanische Regierung, was sie damit will, das Land an Ausländer geben? [I]ch bin für die Ausländer, ich bin nicht dagegen, aber in diesem Tempo ... das wird gefährlich, denn wir, am Ende, was exportieren wir, wir exportieren Wasser ... wir exportieren Wasser! Orangen – das ist Wasser, Tomaten – das ist Wasser ... eines Tages haben wir kein Wasser mehr ... so ist das.« (Kabbour Bendaoud, 2006)
In der abschließenden Einschätzung von Anouar Layachi wird schließlich eine dritte Perspektive auf die europäischen Unternehmen deutlich – ohne diese, so argumentiert er, hätten marokkanische Produkte niemals ihre heutige Reputation auf dem europäischen Markt erreichen können. Wer deren Produktion in Marokko infrage stelle, würde seine eigene Position im europäischen Obst- und Gemüsehandel verkennen: »Wenn man uns zum Beispiel sagt, [das Unternehmen] Primsud wird morgen nicht mehr nach Europa exportieren, es existiert nicht mehr in Marokko, das war’s [...] – das wäre eine Katastrophe, marokkanische Produkte würden in Europa gar keinen Wert mehr haben. [S]ie tragen sehr, sehr viel zum Wert in Europa bei, für das marokkanische Produkt, das ist normal ... . [I]ch könnte es mir nicht einmal vorstellen ohne die großen Gruppen in Europa ... ich glaube nicht, dass marokkanische Produkte einen Stellenwert in Europa erreichen könnten, das wäre vorbei. [W]enn die Preise nicht gut sind, dann sind sie [die Unternehmen] es, die den Markt dort ein wenig regulieren. [S]ie haben viel für die Marke ›Ma-
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rokko‹ getan, soviel ist sicher. [S]elbst wenn man sagt, Primsud exportiert 35.000 Tonnen oder 40.000 Tonnen unserer Tonnage, 30 Prozent, 35 Prozent ... dann verkennt man ... dann verkennt man die Realität.« (Anouar Layachi, 2006)
Die Positionierung zur EU-Politik auf der einen und zu den europäischen Produzenten im Souss auf der anderen Seite fällt damit differenziert aus. Angesprochen auf die EU-Politik bezogen die meisten meiner Interviewpartner eine klare Position: Ihrer Ansicht nach wird die wirtschaftlich konkurrenzfähigere marokkanische Produktion aus politischen Gründen gegenüber der spanischen Produktion benachteiligt. Der Logik des Diskurses vom ›freien Markt‹ folgend wird somit die Ausweitung der marokkanischen Kontingente gefordert. Die europäische Präsenz im Souss wird hingegen deutlich ambivalenter wahrgenommen: Die Politik der Kontingentierung der EU erscheint vor dem Hintergrund der im Souss produzierenden europäischen Akteure nochmals widersinniger; zugleich wird der politische Kurs des marokkanischen Staats in Frage gestellt, da er sowohl die eigenen Exportproduzenten benachteilige, als auch zur Verdrängung kleinerer Landwirte aus der Landwirtschaft führe. Hier wird mittelfristig auch ein Potential für soziale Unruhen gesehen. Der Grundtenor meiner Interviewpartner gegenüber den europäischen Produzenten im Souss kann im Gegenzug als reserviert charakterisiert werden. Zwei Aspekte spielen dabei eine Rolle: Zum einen erscheint es wahrscheinlich, dass Bewertungen der europäischen Präsenz im Souss gegenüber einer Europäerin tendenziell vorsichtiger ausfallen. Diese Beobachtung ist jedoch nicht auf allgemeine Äußerungen gegenüber Europa – wie beispielsweise die EU-Agrarpolitik – zu übertragen. An dieser Stelle, so lässt sich vermuten, gewinnen die mannigfaltigen Verknüpfungen zwischen marokkanischen und europäischen Akteuren an Relevanz, insofern als dass sie eindeutige Zuschreibungen auch seitens der marokkanischen Produzenten nicht mehr zulassen. Dazu zählen nicht nur die direkten europäischen Investitionen in Produktionsstandorte im Souss, sondern auch die oben vorgestellten, vielfältigen Formen von Kooperationen, Joint Ventures und Kapitalflüssen, die teils scheitern, teils jedoch zu beiderseitigem, weitreichenden Vorteil in Form hoher Profite erfolgen. Europäer besetzen in diesem Gefüge Schlüsselpositionen und treten auf diversen Ebenen als Akteure auf, auf deren Kooperation die marokkanischen Exportproduzenten schlussendlich angewiesen sind. Die Präsenz europäischer Produktionen im Souss scheint damit – bis zu einem gewissen Grad – auch als der hierfür zu zahlende Preis betrachtet zu werden.
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Verlagerungen und Machtpolitik Neben der durch die Kontingentregelungen der EU geschaffenen Knappheit der Ressource ›Exportmarktzugänge‹ werden vor allem natürliche Ressourcen als von Knappheit und absehbarer Erschöpfung bedroht empfunden. Wasser wird dabei als deutlich knapper wahrgenommen als Land. Die Strategien, die zur Aufrechterhaltung, Erweiterung und zum Ausbau der Wasser- und Landzugänge verfolgt werden, sind jedoch strategisch verflochten: Wasserzugänge bleiben an Land gekoppelt, insofern als sie nur über Landzugänge erschlossen werden können – womit die Frage nach (alternativen) Landerschließungen gleichfalls zentral bleibt. Nachfolgend werden zunächst Perspektiven auf die Ressourcen Land und Wasser exemplarisch vor Augen geführt und im Anschluss Bewältigungsstrategien der hier im Mittelpunkt stehenden Akteure vorgestellt. Die Bedeutung, die Land als ›Landeigentum‹ beigemessen wird, ist abhängig vom Akteurstyp und der jeweils angestrebten Produktion. Ein erster zu beobachtender Unterschied betrifft den Anbau von Zitrusfrüchten auf der einen und die Produktion von (Gewächshaus-)Gemüse auf der anderen Seite. Produzenten, so lässt sich konstatieren, die auf den Anbau von Zitrusfrüchten abzielen, streben verstärkt auch den Erwerb des Lands an. Dies erklärt sich mit Blick auf die langfristigere Anbauperspektive: Für die Zitrusfruchtproduktion ist eine Investition in Bäume erforderlich und trotz der Einführung neuer, schneller fruchttragender Sorten dauert es mindestens drei Jahre bis zur ersten Ernte. Die Produktion der Gemüsesorten hingegen erfolgt mit einem kurzfristigen Zeithorizont: Die Gemüsekulturen sind einjährig, es wird zu Beginn des Agrarjahrs gepflanzt, unmittelbar im Anschluss geerntet und die Pflanze nach Abschluss der Ernte entsorgt. Der Gemüseanbau – auch der im Gewächshaus – ist mobiler. Die Werthaftigkeit wird nicht mit den Pflanzen oder dem Land verbunden, sondern vielmehr mit dem Agrarmaterial – dem Gewächshaus – identifiziert, welches nicht an das Land gebunden, sondern als flexibel, innerhalb kurzer Zeit an einem Ort abbaubar und an einem anderen wieder neu errichtbar betrachtet wird. Unterschiede hinsichtlich der Art und Weise, in der Land als wertvoll betrachtet wird, zeigen sich zweitens zwischen den einzelnen Akteurstypen. Tendenziell lässt sich resümieren, dass Familienbetriebe im Verlauf ihrer Betriebsgründung und -erweiterung im Vergleich intensiver in den Kauf von Land investiert haben, während im Gegenzug die Akteursgruppen der Jungunterunternehmer und Investoren verstärkt auf Landpacht gesetzt haben. Verfüge man über monetäre Ressourcen, so erläutert beispielsweise der Jungunternehmer Fathallah Abbad, investiere man diese gewinnbringender in das Gewächshaus als in den Erwerb von Land:
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»Statt mit ein bisschen Geld ein Stück Land zu kaufen [...], bevorzugt man es zu mieten. Und mit dem Geld, das man in das Land investiert hätte, mit diesem Geld errichtet man das Gewächshaus – aber man pachtet für einen mittelfristigen Zeitraum, das heißt zehn, fünfzehn Jahre, so haben sie Zeit, ihr Gewächshaus abzuschreiben. [I]ch kann Ihnen sagen, dass mehr als 70 Prozent der Leute [die Gemüse produzieren] auf gepachtetem Land arbeiten, sie haben kein Landeigentum, denn die Leute bevorzugen es, in ein Gewächshaus zu investieren, anstatt in Land.« (Fathallah Abbad, 2006)
Neben den Jungunternehmern produzieren auch die europäischen Akteure auf gepachtetem Land, und zwar sowohl im Fall rein europäischer Investitionen als auch im Fall europäisch-marokkanischer Joint Ventures. Dabei müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden: Europäische Investitionen betreffen erstens – wie oben ausgeführt – besonders den Gemüsebereich. Zweitens kommt hinzu, dass Ausländern der Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen in Marokko nicht gestattet ist (UN 2008: 45) – wobei diese Gesetzgebung über marokkanische Partner umgangen werden könnte. Landkäufe sind jedoch meist nicht Teil der ausländischen Investitionsstrategien im Souss. Exemplarisch verdeutlicht dies die folgende Positionierung: »Es nicht das Ziel unseres Unternehmens, Landeigentum zu erwerben, zumal die marokkanische Gesetzgebung es ausländischen Personen auch nicht gestattet, landwirtschaftlichen Boden zu erwerben. [A]ber abgesehen davon ist es für uns nicht von Interesse, Landeigentum zu kaufen. Unser Ziel ist die Produktion. Wir bevorzugen es, das Land von den Eigentümern zu pachten [...], wir versuchen, die Pachtverträge für jeweils zehn oder zwölf Jahre abzuschließen – wenn der Eigentümer zustimmt – und das funktioniert gut.« (Geschäftsführer B.P., 2006)
Anders als mit Land, das überwiegend als ›vorhanden‹ wahrgenommen wird, verhält es sich mit der Ressource Wasser: Wasser steht im Zentrum des Knappheitsdiskurses. Konfrontiert mit der voranschreitenden Überausbeutung der Wasserressourcen im Souss stellen sich Herausforderungen einer neuen Dimension. Obgleich im Moment gut oder sehr gut situiert – dies soll nochmals hervorgehoben werden – sind alle hier vorgestellten Exportproduzenten mittelfristig durch die absehbare Erschöpfung der Grundwasserressourcen in der Fortführung ihrer landwirtschaftlichen Aktivität im Souss bedroht, sofern keine Alternativen gefunden werden. Die Wasserproblematik ist von enormer diskursiver Präsenz und wurde in fast allen Gesprächen, auch ohne dass direkt danach gefragt wurde, thematisiert. Die nachfolgenden drei Interviewausschnitte sind hierfür als exemplarisch zu betrachten.
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»Wasser ist heute wirklich ein limitierender Faktor, wir können uns nicht mehr steigern ... es ist heute nicht mehr möglich, einen neuen Brunnen zu bohren [...], sonst wird es morgen kein Wasser mehr geben, bei niemandem, dann werden wir die Grundwasserschicht erschöpfen.« (Fathallah Abbad, 2006) »Wir haben eine Hauptbeschränkung hier in der Region, das ist das Wasser, das wird immer knapper, ich denke, das wird die Bremse der Landwirtschaft sein. Ich glaube, das wird die Marokkaner ausbremsen ebenso wie die Ausländer.« (Nabil Bouguenouch, 2006) »Ich sehe die Zukunft düster, das ist das Ende des Aufschwungs der Region. [D]ie Fakten sprechen gegen den Sektor, wir unter uns Brüdern, wir sagen, die Zukunft unserer Söhne liegt nicht in der Landwirtschaft. [J]eden Tag bohren wir, fast acht Monate pro Jahr, das ist der Wahnsinn. [E]s ist gut, am Land festzuhalten, aber nur, wenn du nicht das gesamte Vermögen, dass dein Vater während seines Lebens aufgebaut hat, verlierst! Und dann bist du wieder bei null! Die Söhne können nicht mehr so leben wie in den 1960ern und noch einmal von vorne anfangen, die gesamte Familie steht auf dem Spiel ... . [...] [S: Und Sie bohren wirklich jeden Tag?] Ja, hast Du nicht die Feldbrocken gesehen, die wir herausholen, in der Nähe der Berge? – Wenn Du siehst, was wir aus dem Boden herausholen, dann denkst Du, das wären Minen! Felsbrocken in allen Farben ... aus 200 Meter Tiefe.« (Mustapha Jazouli, 2008)
Wie reagieren die in diesem Kapitel vorgestellten Landwirte und Produzenten auf diese Situation? Als Strategien lassen sich sowohl technische Problemlösungen vor Ort im Souss als auch Ver- und Auslagerungen von Produktionsstandorten unterschiedlicher Dimensionen identifizieren – Lösungsansätze, die auch parallel verfolgt werden. Dabei geht es einerseits um die Aufrechterhaltung der Produktionsstandorte im Souss, andererseits jedoch auch grundsätzlich um die Aufrechterhaltung der exportorientierten landwirtschaftlichen Aktivität – wenn notwendig auch jenseits des Souss. Als technischer Lösungsentwurf für die Erhaltung der Produktion vor Ort wird besonders die Meerwasserentsalzung gehandelt: »Ich denke an die Meerwasserentsalzung [...], im Moment läuft’s gut, wir haben keine Probleme ... aber wenn wir dazu gezwungen sind, sind wir dazu gezwungen, das Meer ist direkt nebenan, man muss nur pumpen (lacht)! Nein ernsthaft, wenn der Staat dafür die ... sagen wir in Anführungsstrichen ›Genehmigung‹ erteilt, warum nicht? [D]as ist die einzige Lösung, wenn es nicht regnet.« (Hussein Benabdeljalil, 2008)
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Wie hier von Hussein Benabdeljalil, einem Vertreter der zweiten Generation eines Familienbetriebs, wurde die Meerwasserentsalzung in einigen Gesprächen perspektivisch erwähnt. Als Vorbild gelten beispielsweise die Meerwasserentsalzungsanlagen spanischer Produzenten auf den Kanarischen Inseln. Angeführt wurde auch, dass die vorhandene Infrastruktur im Bewässerungsprojekt Massa zu diesem Zweck genutzt werden könnte. Mittlerweile wird die Meerwasserentsalzung auch seitens der marokkanischen Regierung offiziell vorangetrieben. Geplant ist eine Meerwasserentsalzungsanlage in Chtouka, die als Private-Public Partnership realisiert werden soll und für deren Umsetzung 2010 ein Abkommen zwischen dem marokkanischen Wirtschafts- und Finanzministerium und der zur Weltbank gehörenden International Finance Corporation geschlossen wurde (Ouhssain & El Arrifi 2009, IFC o.J., MAPM/DIAEA o.J.). Die Meerwasserentsalzung ist jedoch nicht der einzige technische Ansatz – daneben existieren bereits seit einiger Zeit Forschungen zu geschlossenen Gewächshaussystemen oder der Aufbereitung von Abwasser zu landwirtschaftlichen Zwecken, die auf Tagungen der Branche diskutiert werden. Die Produzentenorganisation APEFEL, zusammen mit dem Institut Agronomique et Vétérinaire Hassan II/Complexe Horticole in Ait Melloul sowie weitere Vertreter der Privatwirtschaft sind hier die Vorreiter.13 Als zweites Bündel sind Strategien der Aus- und Verlagerung von Produktionsstandorten anzutreffen, deren Anvisierung und Realisierung mit unterschiedlichen Dimensionen und Reichweiten erfolgen. Erstens sind zahlreiche Prozesse der Verlagerung innerhalb des Souss selbst, und zwar in die Randgebiete der Ebene zu beobachten. Hierbei werden bisher noch nicht landwirtschaftlich genutzte Gebiete in unmittelbarer Nähe des Atlantiks (Belfâa) für die Gemüseproduktion sowie am östlichen Ende der Ebene im Umkreis von Oulad Berhil und Aoulouz für Zitrusfrüchte erschlossen. Jenseits des Souss werden zweitens weitere Regionen Marokkos bzw. territorial von Marokko beanspruchte Gebiete sondiert und teils akquiriert. Darüber hinaus sind nicht zuletzt Standorte jenseits der marokkanischen Grenzen im Gespräch. Die Gemüseproduktion wird dabei innerhalb Marokkos tendenziell nach Süden, die Zitrusfruchtproduktion tendenziell nach Norden verlagert. Die Akquirierung von neuen, agrarisch nutzbaren Flächen für Zitrusfrüchte erfolgt über individuelle Vorgehensweisen und über Bewerbungen für die zum Staatsland zählenden landwirtschaftlichen Flächen, die im Rahmen der öffentlich-privaten Partnerschaften des Agripartenariat seit 2003 in mehreren Runden ausgeschrieben wurden. Zu den Begünstigten des Agripartenariat auf nationaler Ebene zählen maßgeblich Akteure aus dem Souss – und zwar insbesondere diejenigen, die zur Gruppe der ›Megaproduzenten‹ gehören.14 Zielregionen für die
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Ver- und Auslagerung der Zitrusfruchtproduktionen sind unter anderem im Umkreis von Chichaoua, Marrakech und Errachidia. Alternative Gemüseproduktionsstandorte, die in den vergangenen Jahren anvisiert wurden, liegen zum einen rund 200 Kilometer südlich von Agadir im Umkreis von Guelmim sowie zum anderen rund 1.200 Kilometer südlich in der Westsahara bei Dakhla. Zwei der Produzenten, die in den vergangenen Jahren Standorte in Guelmim aufgebaut haben, berichteten jedoch auch dort von Problemen mit der Wasserversorgung. Im Notfall wird daher auch eine Verlagerung der Gemüsestandorte nach Norden in Betracht gezogen: »Vor kurzem hat eine Firma dort [in Guelmim] eine Studie durchgeführt, eine Probebohrung bis 400 Meter, und es gab Orte, an denen war Wasser, an anderen nicht. Aber die anderen Regionen sind weit, das ist das Problem. Falls es sein muss, dann gehen wir auch in den Norden, aber das ist weit, da muss man alles von null aufbauen, die Station ist weit ... es gibt Risiken, denn das Klima ist nicht das gleiche in Marrakech oder Essaouira.« (Hussein Benabdeljalil, 2008)
Der zweite Standort Dakhla erweist sich im Gegenzug nur für einzelne Akteure als denkbare und mögliche Alternative. Auch Youssef Lkam hatte in Guelmim investiert und aufgrund von Wasserproblemen herbe Verluste erlitten – doch auf meine Frage hin, ob er sich vorstellen könne, noch weiter in den Süden nach Dakhla zu gehen, winkt er ab: »Nein, niemals, nein, nein, nein, ah, nein, nein, nein, das ist zu weit, für mich ist das zu weit, ... nein, überhaupt nicht. [...] 200 Kilometer, das geht noch, aber dort, da muss man Techniker haben, man muss investieren ... das ist kolossal, ich kann diese Investitionen nicht leisten, dafür braucht man wirklich eine mächtige Gruppe, um das zu tun, ich habe nicht die Mittel, um mich in Dakhla niederzulassen.« (Youssef Lkam, 2006)
Bis 2009 produzierten vier der größten Unternehmen aus dem Souss Gemüse in Dakhla; ein fünfter Großproduzent war gerade dabei, Landflächen in Dakhla zu akquirieren. Der Standort Dakhla ist in doppelter Hinsicht – als von Marokko besetztes Gebiet und im Zusammenhang mit dem Freihandelsabkommen mit den USA – politisch bedeutsam. Die sich überlagernden politischen Dimensionen der Auslagerungsprozesse nach Dakhla erschließen sich sukzessive am Beispiel eines Interviews mit Charles Bertrand, dem Inhaber eines der in Dakhla produzierenden Unternehmen, aus dem nachfolgend mehrere Ausschnitte zitiert werden.
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Als erste Ebene werden klimatische und vermarktungsorientierte Aspekte angesprochen. Das Klima in Dakhla würde es erlauben, frühzeitig mit Ware – in diesem Fall Melonen – auf dem Markt präsent zu sein: »Die Melonen, die produzieren wir nicht hier, das ist im Süden, im weiten Süden, in Dakhla. Wir waren mit die Ersten, die dort etwas aufgebaut haben, vor nunmehr vier oder fünf Jahren. [W]ir haben dort 250 Hektar Gewächshäuer und produzieren auf praktisch 200 Hektar Melonen, es ist eine Region mit einem Klima ... mit einem Klima, so dass man quasi das gesamte Jahr über produzieren kann, wir produzieren, sagen wir, Februar, März, April, das ist der Zeitraum, der sich für die Vermarktung am meisten lohnt.« (Charles Bertrand, 2006)
Auf meine Nachfrage hin, ob es noch weitere Gründe für eine Produktion in Dakhla gäbe, verweist Charles Bertrand auf eine zweite Ebene, den Wasseraspekt. Die Zukunft des Produktionsstandorts Souss ist für ihn aufgrund der absehbar erschöpften Wasserressourcen bereits angezählt: »Ich denke, es ist eine Region mit einem erheblichen Potential, enorm sogar, denn das Problem, das wir hier [im Souss] bekommen können, ist das Wasser, die Verfügbarkeit von Wasser ... man kann es nicht genau sagen, aber schätzungsweise noch etwa zehn Jahre oder fünfzehn maximal! [D]as ist ein Problem, während dort ... dort stellt sich das Problem nicht, Wasser, Wasser ist dort reichlich vorhanden [...], es sind fossile Grundwasserschichten, die es dort seit tausenden von Jahren gibt [...], dort gibt es eine sehr große Grundwasserschicht.« (Charles Bertrand, 2006)
Mittlerweile, so führt er weiter aus, hätten sie auch weitere Exportproduzenten für die Produktion in Dakhla motiviert, denn – so die dritte Dimension der Produktion in Dakhla – sie würden darüber hinaus das Ziel verfolgen, von Dakhla aus in die USA zu exportieren. Dieses Projekt ließe sich nur im Verbund mit weiteren Exportunternehmen realisieren. Ausschlaggebend sind hier Überlegungen hinsichtlich der Kontingentierung des Exports durch die EU, die zunehmende Präsenz neuer (europäischer) Akteure im Souss sowie die Entscheidung von US-amerikanischer Seite aus, Dakhla – nicht jedoch den Souss – für den Export in die USA zuzulassen: »Sie wissen ja, dass wir für Europa kontingentiert sind, das heißt, wir können nicht so viel exportieren, wie wir wollen. [U]nd mittlerweile kann man sich denken, wenn noch weitere Leute kommen und sich hier niederlassen, werden wir darin behindert, unsere Ware zu exportieren. Und deshalb sind wir in Dakhla: Wir haben das Ziel, in die USA zu exportie-
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ren, und das ist eine Region [...], die die Amerikaner für den Export freigegeben haben.« (Charles Bertrand, 2006)
Im Moment, so erläutert er seine Einschätzung, importierten die USA vorwiegend aus Mexiko. Ein Freund von ihm, der den amerikanischen Markt gut kenne, habe ihm jedoch gesagt: ›Komm her und schau dir die Dinge hier an, hier kann man was machen!‹ – Mit anderen Worten: Es lohnt sich, in den USamerikanischen Markt einzusteigen. Den Export in die USA sieht er dabei auch im Kontext des Freihandelsabkommens zwischen Marokko und den USA: Die Idee verfolge er bereits seit längerem, nun jedoch ließe sie sich konkretisieren. Seiner Einschätzung nach seien sie als Unternehmen – vor allem für die USamerikanische Westküste – konkurrenzfähig, denn ihre Produktionskosten seien niedriger als die mexikanischen und ihre Ware zugleich qualitativ hochwertiger. Die Westsahara als Standort sei zwar ohne Zweifel ein politisch umstrittenes Gebiet, er beurteilt die Lage jedoch als stabil: »Und nicht zuletzt, wissen Sie, ist es eine Region, die noch nicht ganz … politisch ist es ein bisschen schwierig, es ist ein bisschen instabil, wie Sie wissen, es gibt … ein paar Probleme, ja, aber gut, Marokko ist dort präsent und ich glaube nicht, dass sich das ändern wird – das sind jetzt 30 Jahre und das wird sich nicht ändern.« (Charles Bertrand, 2006)
Nicht zuletzt wird im Verlauf des Gesprächs eine vierte Ebene angesprochen – die der Erfüllung einer ›Leidenschaft‹, eines persönlichen ›Traums‹: »Es ist eine Leidenschaft ... vor allem anderen, das ist ... das ist nicht nur, um Geld zu verdienen ... selbstverständlich muss man Geld verdienen, denn wenn man Dinge erreichen will, braucht man Geld, das ist klar – aber die Motivation, das ist nicht nur aus Profit. [S: Für den amerikanischen Markt zu exportieren ... ist das ein bisschen ein Traum, oder ... ?] Ein bisschen, ja, das ist es ... das ... das ist ein bisschen ein Traum, ja.« (Charles Bertrand, 2006)
Dakhla erweist sich vor diesem Hintergrund als ein in mehrfacher Hinsicht strategischer Produktionsstandort. Wie deutlich wurde, geht es nicht allein um Wasserressourcen, sondern vielmehr überlagern sich Aspekte natürlicher Ressourcen mit Überlegungen hinsichtlich der Sättigung von Exportmärkten – des EUMarkts im Zuge zunehmender Produktionen im Souss – sowie der Neuerschließung von Marktzugängen – des US-amerikanischen Markts im Kontext des Freihandelsabkommens. Es kann darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass auch von marokkanisch-nationalstaatlicher Seite aus ein politisches Interes-
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se daran besteht, die Westsahara für die intensive landwirtschaftliche Produktion zu erschließen und damit Besitzansprüche zu demonstrieren. Nicht zuletzt wird die Verlagerung von Produktionsstandorten in weitere Länder jenseits der marokkanischen etablierten bzw. reklamierten Grenzen in Betracht gezogen. Diese Überlegungen wurden während meiner Feldforschung nur von einem Interviewpartner erwähnt, sie verweisen jedoch nichtsdestotrotz auf die Dringlichkeit, mit der der Aspekt der Ressourcenknappheit gegenwärtig verhandelt wird: »All das was, wir in unserem Land aufbauen konnten, ich denke, das ist eine wichtige Erfahrung für uns und weshalb sollten wir diese Erfahrungen nicht in anderen Ländern nutzen, vor allem in Ländern, in denen Wasser vorhanden ist? Denn, wie Du ja notiert hast, sind wir hier dabei, das Wasser aus mehr als 200 Meter Tiefe zu pumpen! Während im Sudan [...], dort gibt es das Wasser, das man braucht, das Land, das man braucht, das Klima, das man braucht, und ... in der letzten Zeit haben wir sehr gute Verbindungen zu unseren Freunden aus dem Sudan aufgebaut. Sie haben uns hier in unserem Land besucht, unsere Kooperative. Sie haben das Potential, das wir hier in Marokko haben, gesehen. Und ich, nachdem ich bei ihnen zu Besuch war, würde ich sagen [...], dass das eine Perspektive ist, nicht nur für mich, sondern für alle Leute, die im Sudan investieren wollen.« (Said Zahoud, 2008)
Die Exportproduktion von Obst und Gemüse im Souss ist im Kontext der Ressourcenknappheit gegenwärtig auf mehreren Ebenen durch eine starke Dynamisierung gekennzeichnet, in deren Kontext Strategien der Ver- und Auslagerung von Produktionen stattfinden, in die vielschichtige Überlegungen hineinspielen. Die Handlungsspielräume der involvierten Minderheit sehr gut ausgestatteter Akteure differenzieren sich vor diesem Hintergrund nochmals aus. Natürliche Ressourcen, ökonomische Überlegungen und machtpolitische Aspekte überlagern sich mehrfach: Wichtige Ressourcenzugänge innerhalb Marokkos konnten in der jüngeren Vergangenheit insbesondere im Rahmen des Agripartenariat erworben werden und einige Produzenten aus dem Souss haben hiervon profitiert. Landflächen und damit der Zugang zu natürlichen Ressourcen wurden im Rahmen der Teilprivatisierung des Staatslands vor allem an die kleine Gruppe von Produzenten vergeben, die bereits zuvor zu den handlungsstärksten Akteuren zählten. Daneben versuchen zahlreiche Akteure auf individuellem Weg neue Ressourcen zu erschließen, um die zukünftige Existenz ihrer exportlandwirtschaftlichen Tätigkeit zu sichern. Hier werden alternative Standorte ebenso wie alternative technische Lösungen für die Produktion im Souss selbst in Betracht gezogen. Eine kleine Elite von Produzenten ist darüber hinaus in der
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Lage, handelspolitische Entscheidungen auf der makroökonomischen Ebene – wie die des Freihandelsabkommens zwischen Marokko und den USA – in ihre Unternehmensstrategie einzubeziehen und möglicherweise zu ihren Gunsten zu nutzen.
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Im vorliegenden Kapitel lag der Fokus auf der Herausbildung und gegenwärtigen Ausgestaltung der Handlungsspielräume der institutionell in den Exportsektor eingebundenen Akteure im Souss. Zwei Perspektiven kamen zur Anwendung. Die erste Perspektive schaute auf die Geschichte der Akteure und fragte, auf welche Weise es den Akteuren gelungen ist, ihre gegenwärtige Position im Export zu erreichen. Vier Typen von Exportproduzenten wurden unterschieden, deren Geschichte der Integration sich über unterschiedliche Mechanismen rekonstruieren lässt. Ein erster Mechanismus ist der der Ausbildung regionaler Netzwerke. Einige Familien aus dem Souss haben ihre regionalen Kontakte zu Handelspartnern und ihre Familienbeziehungen als Schlüssel zum Erfolg im Export genutzt und sukzessive ausgebaut. Ein zweiter Mechanismus ist der der Bildung. Hier ist es einer Reihe von nicht aus dem Souss stammenden, gut ausgebildeten Ingenieuren und Agrartechnikern gelungen, zu ›Jungunternehmern‹ zu werden und auf diese Weise einen Einstieg in den Export zu schaffen. Beide Akteurstypen, Familienbetriebe und Jungunternehmer, zeichnet aus, dass sie den Export als ›Leiter‹ sozialer Aufwärtsmobilität nutzen konnten, was mit einer deutlichen Erweiterung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Handlungsspielräume einherging. Der Typ des Investors ist im Gegenzug über seine in anderen Wirtschaftsbereichen erworbenen monetären Ressourcen definiert. Sein Engagement in der Landwirtschaft dient der Kapitalanlage – ein Mechanismus, der maßgeblich durch politische Anreize im Rahmen der marokkanischen Agrarpolitik befördert wird. Viertens lassen sich europäische Akteure abgrenzen, die teils individuell, teils mit marokkanischen Akteuren (inter-)agieren und kooperieren. Das europäische Engagement im Souss ist in den Kontext der Restrukturierung der europäischen intensiven Landwirtschaft auf der einen und die Entwicklungen des europäischen Einzelhandels auf der anderen Seite einzuordnen. Hier findet ein Prozess der Auslagerung europäischer Produktionen nach Marokko als Standort für die gegensaisonale Produktion statt. Zentrale Faktoren sind dabei die gegebenen klimatischen Rahmenbedingungen, die geographische Nähe zu Europa, Zugänge zu natürlichen Ressourcen, das Vorhandensein günstiger Arbeitskräfte und Ma-
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rokkos bevorzugte Handelsbedingungen beim Export von frischem Obst und Gemüse in die EU. Als zweite Perspektive wurde nach der gegenwärtigen Form der Integration in den Exportsektor und den damit einhergehenden Handlungsspielräumen, Risiken und Chancen gefragt. Fünf Formen der Integration lassen sich voneinander abgrenzen. Der institutionelle Zulieferer ist in seinen Kompetenzen auf die Produktion beschränkt, durch den vertraglichen Anschluss an starke Partner kann er jedoch eine verhältnismäßig große Sicherheit erreichen und bis zu einem gewissen Grad an Exportgewinnen partizipieren. Der Zusammenschluss zur Produzentenkooperative ist bereits mit größeren Hürden verbunden. Er verlangt ein hohes Maß an Kooperation, verspricht jedoch sowohl größere Handlungsspielräume im Export als auch eine Ausweitung der Partizipation an Gewinnen, da diese im Interesse der Kooperative erwirtschaftet werden. Nochmals weitreichendere und vor allem individuellere Handlungskompetenzen können über die Investition in eine eigene Verpackungsstation und den direkten Anschluss an eine Exportgruppe erzielt werden, der dann als Mechanismus genutzt wird, um Marktmacht zu bündeln und administrative und logistische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Diese Form der Integration setzt jedoch bereits sehr weitreichende monetäre Ressourcen voraus, über die auch in dieser Gruppe von Akteuren nur eine Minderheit verfügt. Darüber hinaus finden vielfache Kooperationen zwischen marokkanischen und europäischen Akteuren in Form von Partnerschaften statt, die sowohl hohe Entscheidungsbefugnisse und Potentiale beinhalten können als auch hochgradig risikobehaftet sind. Die umfassendsten Kontrollmöglichkeiten und Gewinnausschüttungen innerhalb des Sektors sind schließlich über den Mechanismus der vertikalen Integration zu erzielen – eine Strategie, die gegenwärtig von zahlreichen Akteuren, sowohl Unternehmen als auch Kooperativen, vor allem auf den Ebenen von Produktion und Vermarktung vorangetrieben wird. Quer zu diesen Typisierungen lassen sich zwei Dimensionen ausmachen, in denen sich die Handlungsspielräume der gegenwärtig institutionell in den Export eingebundenen Akteure ausdifferenzieren. In dieser Hinsicht werden auch die in diesem Kapitel portraitierten Akteure zu Konkurrenten um den Ausbau oder sogar die Aufrechterhaltung ihrer Handlungsspielräume. Zum einen sind eine umfassende Kenntnis und darüber hinaus die Beherrschung der ›Spielregeln‹ im Export von essentieller Bedeutung. Kompetenzen in der landwirtschaftlichen Produktion allein sind nicht mehr ausreichend, um als Exportproduzent erfolgreich zu sein, vielmehr werden vom einzelnen Produzenten Fähigkeiten verlangt, die in die vielschichtigen Ebenen von Exportpolitik und Vermarktung hineinreichen. Maßgeblich sind hier die bestehenden Handelsabkommen, Exportregelungen und -koordinierungen – insbesondere der EU, aber perspektivisch auch der
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USA – sowie die spezifischen Marktanforderungen der jeweiligen Exportmärkte und Supermarktketten. Mit Blick auf letztere ist das Motiv der Qualität in den vergangenen Jahren zu einem ›Mantra‹ geworden, mit dem die Akteure versuchen, sich im Kontext knapper werdender Marktzugangschancen neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Zum anderen ist die weitere Erschließung von Zugängen zu natürlichen Ressourcen im Kontext zunehmender Knappheit unerlässlich. Hier finden gegenwärtig komplexe Strategien der Ver- und Auslagerung statt, die sich mit ressourcenstrategischen und handelspolitischen Überlegungen verflechten. Die Strategien und Optionen, die in diesem Zuge angedacht und verfolgt werden (können), demonstrieren zugleich Umfang und Begrenzung des Möglichkeitsraums der in diesem Kapitel vorgestellten Akteure.
Exklusionen
Im Frühjahr 2008 versuchte ich, Kontakte zu Landwirten im Souss auch jenseits der zentralen exportorientierten Organisationen zu knüpfen – was waren dies für Familien, die in den Dörfern der Ebene lebten und Landwirtschaft betrieben? Was kennzeichnete ihre Betriebe, was bauten sie an und waren sie auf irgendeine Weise mit der Exportlandwirtschaft verknüpft? Wieder galt es, Zugänge herzustellen, die diesmal bis in die Dörfer reichen sollten, Kontakte zu etablieren, die mich, so die Hoffnung, mit der Realität der ›landwirtschaftlichen Familienbetriebe‹, ›Kleinbauern‹ und ›Exportzulieferer‹ im ländlichen Souss würden vertraut machen können. Die Mitarbeiter des ORMVA/SM in Agadir hatten mich im Hinblick auf mein Interesse an der ›agriculture familiale‹ im Souss an ihre Unterabteilungen – die subdivisions und CMV (Centres de Mise en Valeur) – verwiesen und mir Namen und Telefonnummern aufgeschrieben. Die Angestellten der CMV – so die Auskunft – seien im direkten Kontakt zu den lokalen Landwirten und somit meine perfekten Ansprechpartner. Aus der Zeit gefallen Ich besuche also verschiedene Unterabteilungen des ORMVA in der SoussEbene, spreche mit meinem Anliegen vor und werde von einem Mitarbeiter zum nächsten weitergereicht. Unter anderem lande ich in einem CMV in Oulad Teima in einem Randgebiet der Kleinstadt, das einen verlassenen Eindruck auf mich macht. Der mir vermittelte Mitarbeiter empfängt mich in seinem Büro – ein Raum, ausgestattet mit einem Schreibtisch, auf dem ein paar Unterlagen liegen, sowie zwei Stühlen. Vermutlich habe ich ihn aus seinem Vormittagsschlaf gerissen, aber vielleicht bin ich auch eine willkommene Abwechslung. Er scheint mir nicht von Besuchern überrannt zu werden. So, so, Landwirte will ich also treffen, möglichst Familienbetriebe? Er steht auf, geht zu seinem an der Wand hängenden Festnetztelefon und ruft jemanden an. Kurz darauf erscheint ein weiterer Mitarbeiter und ich berichte beiden noch einmal, wer ich bin und
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was ich suche. Es entspannt sich eine längere Unterhaltung über dies und das – es geht um die Landwirtschaft im Souss und die Situation der Bauern. Ich erkundige mich auch nach den Aktivitäten des CMV – was sind ihre Aufgaben, woran arbeiten sie gerade? »Wir sind beide kurz vor der Rente«, antwortet mir mein erster Ansprechpartner. »Er«, sagt er und zeigt auf seinen Mitarbeiter, »wird dieses Jahr pensioniert, ich selbst gehe ein halbes Jahr später, was soll da noch groß passieren?« Er lacht, der andere Mitarbeiter lächelt und schweigt. Beide, so scheint mir, haben sich auf ihre Weise mit einer Situation des Stillstands arrangiert, in der sie und ihre Aufgabenbereiche wie aus der Zeit gefallen wirken: Die Landwirte technisch zu beraten, dafür sind sie längst nicht mehr auf dem neusten Stand. Die Privatwirtschaft hat den Sektor übernommen, da können sie als staatliche Institution nicht mehr mithalten. Falls sie einmal Ideale hatten, so ist ihnen dies nicht mehr anzumerken. Sarkasmus spricht aus den Äußerungen meines ersten Ansprechpartners, auch ich und mein Anliegen scheinen für ihn eher eine Form der Belustigung darzustellen. Sein Mitarbeiter wirkt gutmütig, ihm hat sich ein Lächeln ins Gesicht gegraben. Er hat seinen Frieden mit sich und der Welt geschlossen, er sitzt, nickt und wartet auf den Ruhestand. Schließlich kommen wir überein, dass ein Programm für mich zusammengestellt werden soll, um mich mit Bauern aus der Region in Kontakt zu bringen. Wie viele ich denn treffen möchte? Aus Erfahrung bin ich bereits vorsichtig und schlage vor: vielleicht zwischen zehn und fünfzehn? Wir einigen uns auf etwa zehn und vereinbaren drei Termine für die kommende Woche – sein Mitarbeiter würde ein wenig Zeit benötigen, um die Landwirte zu kontaktieren. Schlussendlich sollte ich an drei Tagen fünf landwirtschaftliche Familienbetriebe im Raum nördlich von Oulad Teima kennenlernen. Ein Festessen unter Freuden Gemeinsam mit meinen beiden Begleitern vom CMV in Oulad Teima fahren wir zum vereinbarten Termin mit einem Landwirt aus der Umgebung: »Sie werden sehen, das ist ein vorbildlicher Familienbetrieb!«, so die Ankündigung. Der Besuch beginnt mit einem Rundgang über die Farm: Wir besichtigen die Zitrusfruchtplantage, das Gewächshaus, in dem die Peperoni bereits zur Ernte gereift sind, ein Feld, auf dem gerade junge Setzlinge gepflanzt wurden sowie Getreidefelder. Und tatsächlich: Alle Kulturen werden über Tröpfchenbewässerung bewässert, selbst das Getreide und die Olivenbäume, die der Einzäunung der Zitrusfruchtplantage dienen. Ich besichtige das mit Plastikplanen abgedeckte Wasserbassin, das über die motorbetriebene Pumpstation befüllt wird, und bekomme einige technische Details von Bewässerung und Düngung – der Fertigation – erklärt, während ich aus den Augenwinkeln sehe, dass zwei Frauen einen vollbe-
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packten Esel an der Pumpstation vorbeitreiben. Die Frauen interessieren mich mehr als die Pumpe – schon zuvor hatte ich eine Gruppe von Frauen am Feldrand sitzen sehen. »Was machen diese Frauen hier und was haben sie auf ihren Esel gepackt?«, frage ich. Das sind Frauen aus den umliegenden Dörfern, lautet die Antwort, sie dürfen hier das Unkraut pflücken, das unter den Bäumen wächst, und verwenden es als Futter für ihr Vieh. Nach dem Rundgang werden wir in den Empfangssalon des Hauses gebeten – ein typischer ›marokkanischer Salon‹, in dem bequem an die 40 Personen Platz finden. In einer Ecke des Raums stehen zwei große runde Tische, am anderen Ende befindet sich ein imposanter Flachbildschirmfernseher, es läuft der marokkanische Sender 2M. Ich erwarte Tee oder Kaffee, vielleicht ein paar Gebäckstücke – und hoffe auf ein aufschlussreiches Interview. Wir setzen uns in eine Ecke des Raums, ich lege mir meine Unterlagen zurecht und gehe in Gedanken meine Fragen durch. Wir sind bereits etwa eine Dreiviertelstunde da, das ›Vorgeplänkel‹ ist für mich beendet und ich wäre bereit, mit dem Interview zu beginnen, schließlich sollten unserem Programm nach noch weitere Besuche folgen. Meine Begleiter vom CMV sehen dies anders, sie machen es sich zunächst auf den Polstermöbeln bequem und stopfen auch mir ein Kissen in den Rücken. Nach und nach füllt sich der Raum mit Männern, die mir als Freunde und Landwirte aus der Umgebung vorgestellt werden. Brav begrüße ich einen nach dem anderen. Auch der Sohn eines Landwirts ist dabei, er lebe eigentlich in Paris, so erzählt er mir, und sei gerade zu Besuch bei seinen Eltern. Auch ich erkläre ihm, was ich hier mache und ernte einen skeptisch-interessierten Blick – doch, doch, wenn ich mich für Landwirtschaft interessieren würde, dann sei ich im Souss am richtigen Ort. Der Geräuschpegel erhöht sich zunehmend, mittlerweile sind an die zwölf Leute im Raum und zwei junge Männer bringen zwei große Schalen Salat. Brot und Getränke werden verteilt und wir aufgefordert zuzugreifen. Auch Suppenschüsseln werden befüllt und herumgereicht. Nachdem die Salatschüsseln zur Hälfte geleert sind, werden sie von den Jungen zusammen mit der ersten Plastiktischdecke hinausgetragen. Wenig später kommen die Jungen wieder herein und bringen mehrere Tajines mit Hühnchen. Mein Tischnachbar, der eigentlich in Paris wohnt, zeigt auf die Plastiktischdecken und raunt mir zu: »Wir müssen die Tischdecken zählen, dann wissen wir, wie viele Gänge es geben wird!« Es sind ziemlich viele Decken und ich halte seine Bemerkung zunächst für einen Scherz. Auf die Tajine mit Hühnchen folgt eine weitere Tajine – diesmal mit Rindfleisch und Pflaumen. Mein Interview rückt vor meinem inneren Auge in weite Ferne. Ich entscheide, nur noch sparsam zuzugreifen, werde jedoch mit reichlich Fleischstücken versorgt, die sich vor mir anhäufen. Etwas energischer deute ich
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an, dass ich mich bereits relativ satt fühle. Ich traue meinen Augen kaum, als schließlich das eigentliche Hauptgericht aufgetischt wird: Couscous. Als Nachspeise folgen mehrere Schalen voll Obst sowie Trockenfrüchte und Nüsse und natürlich – endlich – Tee und Gebäck. Die Stimmung ist ausgelassen fröhlich, niemand scheint meine Anwesenheit als ungewöhnlich zu empfinden. Soweit ich den Gesprächen folgen kann, drehen sie sich um aktuelle Ereignisse in der Kooperative und Probleme der Milchproduktion. Mein Zeitgefühl hat mich unterdessen verlassen – schließlich unternehme ich einen letzten Anlauf und erinnere meine Begleiter vom CMV noch einmal an das Interview, das ich eigentlich führen wollte. Ich darf mich in eine Ecke des Raums setzen und bekomme die Gelegenheit, mein Aufnahmegerät auszupacken. Immerhin, eine knappe Stunde führen wir ein Gespräch, das mich mit ein paar Erkenntnissen und vielen Fragen zurücklässt. Zumindest weiß ich nun, wer das Essen zubereitet hat: Der Landwirt, der mir heute vorgestellt wurde, ist mit drei Frauen verheiratet. Beim Verabschieden erkundige ich mich noch nach dem Anlass des heutigen Festessens – aber nein, dies war kein Festessen, wird mir mitgeteilt: ›Das machen wie immer so, wir treffen uns reihum unter Freunden, jeden Tag bei einem anderen, zum gemeinsamen Essen!‹ Vom Ackerbau zur Lohnarbeit Ein paar Tage später bin ich nochmals mit einem Mitarbeiter des CMV Oulad Teima verabredet – zum Vergleich soll ich heute zwei kleinere Betriebe vorgestellt bekommen. Diesmal sind wir nur zu zweit, der Vorgesetzte hat meine Begleitung inzwischen delegiert – vielleicht hat er nach dem vergangenen Erlebnis das Interesse an meinen Interviews verloren, vielleicht verspricht er sich von den Betrieben, die heute auf dem Programm stehen, einen weniger reichhaltigen Empfang. Nach der Begrüßung mit unserem ersten Landwirt besichtigen wir auch heute zunächst den Betrieb: Neben dem Haus befindet sich ein Feld mit Olivenbäumen, die, so sehe ich, über seguias bewässert werden. Auch einige noch junge Granatapfelbäume befinden sich zwischen den Olivenbäumen. Ein paar Kinder und ein junges Mädchen – seine Tochter, so vermute ich – begleiten uns. Ich wechsle einige Worte mit ihr und sie gibt mir zu verstehen, dass ihre Mutter bereits verstorben ist. Im Empfangszimmer der Familie – ein ausschließlich mit einem Teppich ausgelegter Raum des Hauses – setzen wir uns auf den Boden und beginnen mit dem Interview. Schnell bringt mir ein kleiner Junge ein Kissen, auf dem ich bequemer sitzen soll. Ich frage zunächst nach der Produktion. Oliven baue er an und auch Getreide, insgesamt seien es 3 Hektar, 1 Hektar Oliven sowie 2 Hektar Getreide. Das Land, so berichtet er weiter, ist sein Eigentum, er hat es von seinem Vater ge-
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erbt, zusammen mit seinen zwei Brüdern. Es waren einmal 9 Hektar, dann haben sie das Land geteilt und jeder der Brüder erhielt 3 Hektar. Sein Vater, so erfahre ich, ist kurz vor seiner Geburt verstorben, das war 1949. Die Mutter hat nicht wieder geheiratet. Um ihre Kinder großzuziehen, arbeitete sie im Dorf. Bis die Söhne alt genug waren, um das Land selbst zu bewirtschaften, vergab sie es an Dorfbewohner, die das Land bestellten und ihr dafür ein Neuntel der Produktion überließen. Später gab sie jedem der Söhne seinen Anteil – das ist nun bereits 30 Jahre her. Ich frage, ob er sein Land bewässert. Ja, über das öffentliche Bewässerungssystem des Perimeter Issen per seguia, sowohl die Oliven als auch das Getreide. Wenn er eine gute Produktion habe, dann presse er die Oliven zu Öl und verkaufe dieses dann auf dem Markt. In den letzten Jahren allerdings sei die Ernte schlecht ausgefallen, so habe er kaum etwas ernten können. Ich frage nach der letzten guten Ernte: 1996 – diese Antwort hatte ich bereits das ein oder andere Mal erhalten. Ein außergewöhnlich regenreiches Jahr im Souss mit um die 500 Millimeter Niederschlag! Und danach? Seitdem sei kaum eine Ernte mehr gut ausgefallen. Wie viel hat er auf dem Markt verkaufen können? In den letzten Jahren nur wenig, es gebe keinen Regen und die Bewässerung über den Stausee Issen sei seit einigen Jahren nur noch sehr unregelmäßig, seit zwei oder drei Jahren fast vollständig unterbrochen. Ich frage, ob er einen Brunnen hat? Ja, er habe einen Brunnen, aber keine Motorpumpe. Daher könne er ihn nicht zur Bewässerung verwenden. Ich komme nochmals auf dieses Jahr zurück, wie viel Öl hat er pressen können, wie viel hat er auf dem Markt verkauft? Hat er Getreide geerntet? Dieses Jahr habe er nichts geerntet, nein, er habe gar keine Produktion gehabt und somit auch nichts verkaufen können. Ich frage, wovon er denn lebe, hat er vielleicht Vieh? Nein – er hat kein Vieh. Ich frage weiter nach: vielleicht eine Kuh? Nein. Ziegen oder Schafe? Oder einen Esel? Nein – nur ein paar Hühner im Hof, das sei alles. Wovon er denn lebe, frage ich. Die Kinder, alhamdullilah, lautet die Antwort, seine Kinder arbeiten! Er hat sieben Kinder, drei Mädchen und vier Jungen. Fünf Kinder sind von seiner ersten Frau, sie ist 2002 an Hepatitis gestorben. Kurz darauf hat er erneut geheiratet. Die beiden ältesten Söhne – 26 und 25 Jahre alt – arbeiten als Maurergehilfen im Bausektor in Oulad Teima. Der eine seit nunmehr zehn, der andere seit acht Jahren. Wie viel verdienen sie, frage ich. 60 Dirham der Ältere, 50 Dirham der Jüngere, pro Tag. Und an wie vielen Tagen arbeiten sie? Sechs Tage die Woche. Gibt es denn immer Arbeit, jede Woche, jeden Monat? Ja, es gibt immer Arbeit, nur an den Feiertagen oder wenn sie krank seien, dann würden sie nicht arbeiten. Aber sie sind nicht festangestellt, sie sind Gelegenheitsarbeiter. Kommt es vor, dass sie auch mal zwei Wochen lang nicht arbeiten, frage ich. Ja doch, manchmal gibt es sogar drei Wochen lang keine Arbeit! Jeden Tag gehen
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sie nach Oulad Teima und bieten ihre Arbeit an, manchmal erfolgreich, manchmal nicht. Wie viel verdienen sie im Schnitt pro Monat? Vielleicht etwa 1.000 Dirham, jeder. Der Bricoleur Unser zweiter Termin am Nachmittag ist nicht weit entfernt. Diesmal sitzen wir vor dem Haus auf ein paar Plastikkisten, eine weitere Kiste dient als Tisch. Ein kleiner Junge bringt Limonade und Süßigkeiten. Wieder beginne ich das Gespräch mit einer Frage nach der Produktion – was baut er an? Die Produktion, ach, die ist sehr gering! Er habe sich daran gewöhnt, die Bäume zu behalten, aber die Produktion sei wenig hier in der Region, sehr wenig sogar! Er hat zwei Farmen mit Olivenbäumen, berichtet er, 2 Hektar und 3 Hektar, sowie auch 7 Hektar Land, auf dem er Getreide anbaut, aber ohne Ertrag – das sei vorbei, finish, safi. Dann zählt er die Kosten auf, die er hat: »Da sind die Kosten für den Motor für meinen Brunnen, für den Diesel, aber auch für Dünger und Dung, nicht zu vergessen Kosten für Pestizide – und dann noch die Arbeitskräfte!« Die Beträge gehen erst in die Tausende, dann in die Millionen – mit jedem Nachfragen wird es mehr. Den Diesel aber, so erklärt er mir, kaufe er von Leuten, die ihn aus der Sahara mitbringen, das sei billiger als von der Tankstelle. Außerdem hat er gerade Land gekauft, 30 Hektar. Wird er dieses Land bestellen, frage ich. Nein, das Land hat er von einem Freund gekauft, das war eine gute Gelegenheit, die wollte er nicht verpassen. Erst einmal behalte er es, später werde er es vielleicht weiterverkaufen. 100 Millionen Centimes habe er dafür bezahlt – ich rechne um: 1 Million Dirham, etwa 90.000 Euro! Ich frage, ob er dafür einen Kredit aufgenommen hat. Einen Kredit? Nein, Kredite doch nicht – Kredite nehme er nicht auf. »Haben Sie lange gespart?«, frage ich, »oder woher hatten Sie das Geld?« »Das Geld?«, fragt er zurück, »ich habe Geld!« Er habe Einkünfte, zum Beispiel aus seiner Tätigkeit als Mechaniker – schon mit elf Jahren habe er angefangen, als Mechaniker zu arbeiten. Das ist sein Metier! Und er handele mit Altmetall, mit Schrott und mit alten Autos – er zeigt auf einen Schrotthaufen neben seinem Haus, den ich bis dahin nicht registriert hatte. Er habe auch schon Motoren für Motorpumpen an- und verkauft, aus der Region Casablanca. Und ein Haus hat er gebaut, das habe ihn 4 Millionen Dirham gekostet, aber 12 Millionen Dirham eingebracht. Ich versuche, noch einmal auf seine landwirtschaftliche Tätigkeit zurückzukommen. Ja, neben den Oliven hat er auch Vieh – sechs Milchkühe und Schafe, etwa 80. Und er ist Mitglied in einer Milchkooperative. Um das Vieh kümmert sich sein Bruder, ebenso wie um den Verkauf des Olivenöls auf dem Markt.
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Auch drei oder vier seiner Söhne helfen im Betrieb. Doch die Produktion scheint ihn weniger zu interessieren. Er berichtet mir noch von einer anderen Einnahmequelle: Er verkaufe Wasser aus seinem Brunnen an die ›Leute von der Autobahn‹. Vor ein paar Jahren, das weiß ich, wurde mit dem Bau einer Autobahn von Agadir nach Marrakech begonnen, die nördlich von Oulad Teima entlangführt. Für den Bau benötigten sie Wasser, so berichtet er, und sie hätten auch einige Brunnen gebohrt, aber keines gefunden. Daher verkauft er ihnen Wasser, das er aus seinem Brunnen pumpt, der sei zwar nur 40 Meter tief, würde aber noch Wasser enthalten. – Auf der Rückfahrt nach Oulad Teima unterhalten wir uns über die Ereignisse des Tags. Er sei selbst überrascht, gesteht mein Begleiter vom CMV, er habe nicht gewusst, dass die beiden Familien, die wir heute besucht haben, kaum mehr Landwirtschaft betreiben. Diese einleitenden Einblicke in einen Ausschnitt aus meiner Feldforschung dienen der gedanklichen Überleitung vom ›hochtechnisierten Exportsektor‹ und seinen Akteuren hin zu den ›Lebenswirklichkeiten‹ in den Dörfern des Souss, die im Fokus dieses Kapitels stehen. Das ›sukzessive Vordringen‹ in ländliche Lebenswelten erforderte auch forschungspraktische ›Überleitungen‹, um lokale Netzwerke ausbilden und schließlich quantitative Erhebungen in ausgewählten Dörfern der Ebene umsetzen zu können. Die Beispiele weisen zugleich bereits auf den umfassenden Wandel hin, der die ländlichen Lebensräume im Souss in den vergangenen Jahren erfasst hat: Die Existenzsicherungsgrundlagen vieler Familien haben sich weg von landwirtschaftlichen Tätigkeiten hin in andere ökonomische Aktivitätsfelder verschoben. Oft wird, wie im zweiten Beispiel, auf Einkünfte aus der Lohnarbeit ausgewichen – manche haben, wie der ›Bricoleur‹, alternative Strategien des ›Sich-Durchschlagens‹ entwickelt. Diese Verschiebung ländlicher Existenzsicherung ist jedoch eine graduelle, sie findet schleichend und teils durch die lokale Bevölkerung scheinbar unbemerkt statt: Es ist aufschlussreich, dass die Mitarbeiter des CMV mir ›kleinere landwirtschaftliche Betriebe‹ vorstellen wollten, und wir in zwei Fällen auf Familien trafen, die ihren Lebensunterhalt längst durch anderweitige Einkünfte sicherten. Am Beispiel von drei ausgewählten Kontexten steht in diesem Kapitel die Frage nach dem ›Lokalen‹ im Fokus, womit der Handlungsbezugsrahmen der in den Dörfern des Souss lebenden Menschen und ihr landwirtschaftlicher Handlungsspielraum gemeint ist. Hierfür erfolgten im Herbst 2008 im Zeitraum von sechs Wochen quantitative Erhebungen in insgesamt acht Dörfern aus drei Untersuchungskontexten. Die Auswahl der Untersuchungskontexte verfolgte das Ziel, eine Bandbreite unterschiedlicher lokaler Zusammenhänge innerhalb der Souss-Ebene abzudecken (vgl. Karte 5-1).
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