Experimentalphysik: Band 1 Mechanik, Schwingungen, Wellen 9783110445671

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German Pages 395 [396] Year 2016

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Table of contents :
Vorwort
Zum Inhalt von Band I
Danksagung
Inhalt
Symbolverzeichnis Band I
1 Einleitung
1.1 Was will die Physik?
1.2 Messgrößen (quantities) und Einheiten (units)
1.3 Messgenauigkeit (accuracy) und Messfehler (error)
1.3.1 Festlegung eines Messwertes aus mehreren Einzelmessungen
1.3.2 Zentraler Grenzwertsatz (central limit theorem) für rein statistische Fehler
1.3.3 Die Fehler eines Messergebnisses
1.3.4 Die Fehlerverteilungsfunktion
1.3.5 Das Fehlerfortpflanzungsgesetz
Zusammenfassung
Anhang Definition der SI-Basiseinheiten
2 Mechanik des Massenpunktes
2.1 Kinematik (kinematics)
2.1.1 Geschwindigkeit und Beschleunigung
2.1.2 Die allgemeine Bewegung des MP
2.1.3 Spezielle Bewegungen
2.2 Dynamik (dynamics)
2.2.1 Die Newtonschen Axiome und der Impuls (momentum)
2.2.2 Bahndrehimpuls und Drehmoment
2.2.3 Kraftstoß, Arbeit und Energie, Leistung
2.2.4 Erhaltung der mechanischen Gesamtenergie
2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte
2.3.1 Inertialsysteme, Galilei-Transformation
2.3.2 Geradlinig beschleunigte Bezugssysteme
2.3.3 Rotierende Bezugssysteme
2.3.4 Die Erde als rotierendes Bezugssystem
2.4 Massenpunktsysteme und Erhaltungssätze (conservation laws)
2.4.1 Der Massenmittelpunkt (= Schwerpunkt) und der (lineare) Gesamtimpuls
2.4.2 Der Gesamtdrehimpuls eines Teilchensystems
2.4.3 Die Gesamtenergie eines Teilchensystems
Zusammenfassung
Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung
A1.1 Das Gravitationsgesetz
A1.2 Das Keplerproblem
A1.3 Bestimmung der Erdbeschleunigung
A1.3.1 Das mathematische, ebene Pendel (simple pendulum)
A1.3.2 Das physikalische Pendel (physical pendulum)
A1.3.3 Das Reversionspendel
A1.4 Bestimmung der Gravitationskonstante
Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)
A2.1 Der elastische Stoß (Q = 0) im Laborsystem (laboratory coordinate system)
A2.2 Elastischer Stoß (Q = 0) im Schwerpunktsystem (centre of mass system)
A2.3 Inelastischer Stoß (Q ? 0)
A2.3.1 Maximal inelastischer Stoß, Teilcheneinfang (Q > 0)
A2.3.2 Teilchenzerfall (Q < 0)
A2.4 Potenzialstreuung (Coulombstreuung)
A2.4.1 Das a-Teilchen im Coulombfeld eines Atomkerns
A2.4.2 Der differentielle Wirkungsquerschnitt – die Rutherfordsche Streuformel
3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)
3.1 Statik und Gleichgewicht (statics and equilibrium)
3.1.1 Drehmoment und Bezugspunkt
3.1.2 Der Massenmittelpunkt (= Schwerpunkt)
3.2 Kinematik und Freiheitsgrade (kinematics and degrees of freedom)
3.2.1 Allgemeine Bewegung der Massenpunkte eines starren Körpers
3.2.2 Die Freiheitsgrade des starren Körpers
3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie (dynamics, moment of inertia, rotational energy)
3.3.1 Bewegungsgleichungen des starren Körpers
3.3.2 Das Trägheitsmoment (moment of inertia)
3.3.3 Die Rotationsenergie
3.3.4 Rotation um eine feste Achse
3.3.5 Der Steinersche Satz (parallel axes theorem)
3.3.6 Trägheits- und Energieellipsoid
3.3.7 Freie Achsen
3.4 Kreiselbewegung (motion of a top)
3.4.1 Der kräftefreie, symmetrische Kreisel
3.4.2 Der ‚schwere Kreisel‘
3.4.3 Die Eulerschen Kreiselgleichungen
Zusammenfassung
Anhang 1 Weiteres vom Kreisel
A1.1 Gleichsinniger Parallelismus
A1.2 Der Kreisel im mit der Präzessionsfrequenz O? rotierenden Bezugssystem
A1.3 Das Zentrifugalmoment eines Körpers, der nicht um eine Hauptträgheitsachse rotiert
4 Mechanik deformierbarer Körper
4.1 Aggregatzustände und Bindungen
4.1.1 Gasförmiger Zustand
4.1.2 Flüssiger Zustand
4.1.3 Fester Zustand
4.2 Deformation fester Körper
4.2.1 Hookesches Gesetz, Elastizitätsmodul
4.2.2 Scherung und Torsion
4.2.3 Elastische Konstanten und Kristallstruktur
4.2.4 Der Elastizitätstensor, allgemeines Hookesches Gesetz
4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)
4.3.1 Die Kontinuitätsgleichung
4.3.2 Die Eulergleichung
4.3.3 Ruhende Flüssigkeit im Schwerefeld
4.3.4 Ruhendes ideales Gas bei konstanter Temperatur im Schwerefeld
4.3.5 Die Bernoulli-Gleichung
4.3.6 Die Potenzialströmung (wirbelfreie Strömung)
4.3.7 Wirbelströmung (vortical flow), Turbulenz
4.3.7.1 Ideale, reibungsfreie Flüssigkeit, Wirbelsätze
4.3.7.2 Reibungsbehaftete (zähe) Flüssigkeiten
4.3.8 Oberflächenspannung und Kapillarität
4.3.8.1 Spezifische Oberflächenenergie, spezifische Grenzflächenenergie, Oberflächenspannung, Grenzflächenspannung
4.3.8.2 Normaldruck gekrümmter Oberflächen
4.3.8.3 Kapillarität
Zusammenfassung
Anhang 1 Gleichgewicht im elastischen Körper: Grundgleichung der Elastostatik
5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)
5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)
5.1.1 Der freie, ungedämpfte harmonische Oszillator (simple harmonic oscillator)
5.1.2 Überlagerung von harmonischen Schwingungen (superposition of harmonic oscillations)
5.1.3 Zerlegung von periodischen und unperiodischen Funktionen, Fourieranalyse und Fouriertransformation
5.2 Der freie, gedämpfte Oszillator
5.2.1 γ2< ω02, ⇔ β2< 4 km, schwache Dämpfung (underdamped)
5.2.2 γ2> ω02, ⇔ β2> 4 km, starke Dämpfung (overdamped)
5.2.3 γ2= ω02, ⇔ β2= 4 km, α √γ 2 − ω 02 = 0, kritische Dämpfung (= aperiodischer Grenzfall, critically damped)
5.2.4 Die Energie der Schwingungsbewegung
5.3 Erzwungene Schwingung und Resonanz
5.3.1 Periodische Anregung, komplexe und reelle Amplituden der erzwungenen Schwingung
5.3.2 Resonanz
5.3.3 Energiebilanz der erzwungenen Schwingung
5.4 Gekoppelte Oszillatoren
5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)
5.5.1 Ebene Wellen (plane waves), Phasengeschwindigkeit (phase velocity)
5.5.2 Die Gruppengeschwindigkeit
5.5.3 Die Wellengleichung
5.5.4 Ausbreitung von mechanischen Wellen
5.5.5 Energiedichte und Energietransport
5.6 Akustik
5.6.1 Stehende Wellen (standing waves)
5.6.2 Resonanzbedingung der schwingenden Saite
5.6.3 Physik der Musik, Entwicklung der europäischen Tonleitern
5.6.4 Schallfeldgrößen und ihre Messung
5.6.5 Die Schall-Kugelwelle
5.6.6 Stimme und Ohr, Lautstärke
5.6.7 Ultraschall und seine Anwendungen
5.6.8 Akustischer Dopplereffekt, Kopfwellen
5.6.8.1 Zentraler Dopplereffekt
5.6.8.2 Nichtzentraler Dopplereffekt
5.6.8.3 Kopfwellen
Zusammenfassung
Anhang 1 Schwingungsformen einer gezupften Saite
Anhang 2 Frequenzauflösung im Ohr durch Transversal-Wanderwellen
Literatur
Register
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Experimentalphysik: Band 1 Mechanik, Schwingungen, Wellen
 9783110445671

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Wolfgang Pfeiler Experimentalphysik De Gruyter Studium

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Set Experimentalphysik Wolfgang Pfeiler, 2016 ISBN 978-3-11-044784-4

Wolfgang Pfeiler

Experimentalphysik Band I: Mechanik, Schwingungen, Wellen

Unter Mitarbeit von Karl Siebinger

Physics and Astronomy Classification Scheme 2010 01.30.M-, 01.30.Os, 01.55.+b, 06.20.Dk, 06.20.fa, 43.20.+g, 43.64.+r, 43.75.+a, 45.20.-d, 45.50.-j, 46.40.-f, 47.10.-g, 47.15.-x,47.27.-i, 62.20.-x Autor Ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Pfeiler Universität Wien Fakultät für Physik Boltzmanngasse 5 1090 Wien, Österreich [email protected]

Oberrat Dr. Karl Siebinger leitete bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2001 das „Physikalische Praktikum für Vorgeschrittene“ an der Fakultät für Physik der Universität Wien.

ISBN 978-3-11-044554-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044567-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044586-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Nasared / iStock / thinkstock Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Was ist der Grund, den vielen Lehrbüchern der Physik ein weiteres hinzuzufügen? Das ist das Ziel des vorliegenden Lehrbuches: Es soll den Studierenden die Experimentalphysik in einer Art und Weise nahebringen, die Freude am Experimentieren weckt und gleichzeitig den Übergang zur Theoretischen Physik ebnet. Dieses Lehrbuch führt von elementaren Grundlagen zu einem tiefen Verständnis der physikalischen Modelle. Die so erworbenen Kenntnisse der Experimentalphysik erleichtern es dann auch, unterstützt durch genau erklärte Versuche und durch viele Abbildungen und Beispiele, die aktuelle theoretisch-abstrakte Beschreibung der Materie und der wirkenden Kräfte im Rahmen der Theoretischen Physik zu erfassen und zu verstehen. Ausgangspunkt der Betrachtungen sind immer die physikalischen Phänomene, wobei aber auf ihre Beschreibung durch mathematische Gleichungen und ihre Ableitungen aus fundamentalen Postulaten bzw. Modellen nicht verzichtet wird, denn die mathematische Formulierung ist die eindeutige und daher unmissverständliche „Sprache“ der Physik. Es werden aber nicht einfach „Endformeln“ angegeben, sondern auch der mathematische Weg dorthin schrittweise gezeigt sowie eine entsprechende physikalische Interpretation gegeben. Dieses Lehrbuch bietet daher für Lehrende und Lernende der Physik sowie aller anderen Naturwissenschaften eine Brücke von den physikalischen Erscheinungen und Experimenten und der dadurch motivierten Modellbildung zu den weiterführenden Theorien. Der Aufbau der Darstellung ist anschaulich, klar und übersichtlich, logisch strukturiert und so gestaltet, dass die Studierenden dem durchgehenden „roten Faden“ durch die experimentelle Physik folgen können. Lernhilfen auf verschiedenen Ebenen unterstützen dies: Nach einer Vorstellung der Lerninhalte und Konzepte am Kapitelanfang werden im folgenden Text die Zusammenhänge deutlich gemacht, Formeln konsequent hergeleitet und mit vielen Abbildungen erläutert. Am Kapitelende werden die wichtigsten Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst dargestellt. In den Text eingearbeitet sind Vorlesungsversuche mit detaillierten Erklärungen und sehr viele ausgearbeitete Beispiele, die die Darstellung ergänzen und mit Anwendungen erweitern. Wichtige Formeln, die „Lehrsätze“ und die gezeigten Experimente sind blau hinterlegt. Die „Lehrsätze“ sind zusätzlich mit einem 1 versehen, auf die Experimente lenkt ein Blitz 4 die Aufmerksamkeit. Beispiele und Übungen sind grau hinterlegt, die Übungen am Ende jedes Kapitels sind zusätzlich noch mit einem Schreibstift 5 gekennzeichnet. Für die Anordnung der physikalischen Themen wurde die klassische Methode gewählt. Sie orientiert sich weitgehend am historischen Verlauf der physikalischen Entdeckungen und den dazu entwickelten Modellvorstellungen, aber auch an deren Versagen und den dadurch erzwungenen Verbesserungen bzw. an der Entwicklung neuer Modelle. In dieser Darstellung zeigt sich am besten der „rote Faden“,

VI

Vorwort

der von der phänomenologischen Erfassung der mechanischen Bewegung und ihrer mathematischen Beschreibung bis zur modernen Quantenphysik führt. So ist der erste Band (I) Mechanik, Schwingungen, Wellen den Bewegungen unter dem Einfluss von mechanischen Kräften gewidmet. Dies umfasst die Modelle des Massenpunktes und des starren Körpers, die Verformung fester Körper und die Bewegung von Fluiden. Einen wichtigen Teil stellen mechanische Schwingungen und Wellen dar. Im zweiten Band (II) Wärme, Nichtlinearität, Relativität werden die thermisch bedingten Veränderungen an Gasen studiert und die Grundbegriffe der Thermodynamik vorgestellt. Weiters werden nichtlineare („chaotische“) Systeme und ihre Eigenschaften betrachtet und die Grundzüge der speziellen Relativitätstheorie erarbeitet. Im dritten Band (III) Elektrizität, Magnetismus, Elektromagnetische Schwingungen und Wellen werden dann die Grundlagen der Elektrizität und des Magnetismus sowie elektromagnetischer Schwingungen und Wellen unter Verwendung der Prinzipien der Relativitätstheorie besprochen. Der vierte Band (IV) Optik, Strahlung enthält die Wellenoptik, die Strahlenoptik und überschreitet mit der Wärmestrahlung zum ersten Mal die Grenze von der klassischen Physik zur Quantenphysik: Die Vorstellung, dass sich die Strahlungsenergie, die ein (heißer) Körper abgibt oder aufnimmt kontinuierlich verändern kann, muss aufgegeben werden. Im fünften Band (V) Quanten, Atome, Kerne, Teilchen geht es um die moderne Physik: Im atomaren und subatomaren Bereich sind die Größen und Vorgänge nicht mehr kontinuierlich, sondern gequantelt. Der Aufbau des Atoms und seines Kerns wird studiert und die kleinsten, nicht mehr weiter zerteilbaren „Fundamentalteilchen“, aus denen sich alle Arten von Materie und Antimaterie zusammensetzen, werden vorgestellt. Der Band schließt mit einem kurzen Ausflug in die Kosmologie und die Entwicklung unseres Universums. Der sechste Band (VI) Statistik, Festkörper, Materialien beschäftigt sich mit großen Vielteilchensystemen. Viele Bereiche aktueller physikalischer Forschung mit enormer Bedeutung für die technische Anwendung haben hier ihren Ausgangspunkt. Die Inhalte der einzelnen Bände sind stark miteinander vernetzt und durch viele Querverweise verbunden: Die sechs Bände bilden eine Einheit. Dieses Lehrbuch wird nicht nur den Studierenden bei ihrem Eindringen in die interessanten und für unser Leben und Wirken wichtigen Bereiche der Physik hilfreich sein, sondern auch für die Vortragenden eine gute Grundlage und Unterstützung bei der Vorbereitung ihrer Vorlesungen darstellen. Wien, im August 2016

Wolfgang Pfeiler

So einfach wie möglich. Aber nicht einfacher! Albert Einstein Theorie ist eine schöne Sache, aber ein gutes Experiment bleibt für die Ewigkeit. Pjotr Leonidowitsch Kapiza

Zum Inhalt von Band I Ausgehend von der Frage ‚Was will die Physik?’ geht dieser erste Band „Mechanik, Schwingungen, Wellen“ auf die Bewegungen unter dem Einfluss mechanischer Kräfte ein. Es werden die Modelle des Massenpunktes – einer Masse ohne jegliche Ausdehnung –, des starren Körpers, die elastische Verformung fester Körper und die Bewegung von Fluiden, also Flüssigkeiten und Gasen, besprochen. Einen wichtigen Teil stellen mechanische Schwingungen und Wellen dar, auch als Vorbereitung für elektromagnetische Schwingungen und Wellen (Band III) und für die Materiewellen der Quantenmechanik (Band V). Hier werden die Überlagerungen von Schwingungen diskutiert sowie die Zerlegung periodischer und unperiodischer Funktionen (Fourieranalyse und Fourierintegral). Um den Text flüssig und weiterführend zu halten, ergänzen die Anhänge Gravitation und Keplerbewegung bzw. Stoßprozesse und Streuung das Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“.

Danksagung Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Lehrer und Freund Karl Siebinger. Ohne seine Mithilfe – mehrfaches, kapitelweises Durchlesen des ganzen Manuskripts, Diskussionen und Reflexionen zum Inhalt, detaillierte Vorschläge von Anwendungsbeispielen und Ergänzungen – wäre dieses Lehrbuch nicht zustande gekommen. Seine fundamentale und breite Kenntnis in vielen Bereichen der Physik und ihrer Anwendungen in der Technik und in den Naturwissenschaften sowie seine Liebe zum Experiment und auch zur Genauigkeit haben sehr zum Gelingen der vorliegenden Darstellung beigetragen. Für die Mithilfe danke ich herzlich: Wolfgang Püschl – Für das Überlassen fast aller Übungsbeispiele, viele gemeinsame fachliche Diskussionen, Durchlesen vieler Kapitel; Franz Sachslehner – Für seine Hilfe bei den Experimenten und ihr Festhalten auf Bildern; Fritz Birkhan – Für viele Abbildungen, besonders im Kapitel „Mechanische Schwingungen und Wellen“; Daniel Gitschthaler – Für viele Zeichnungen und Fotos im Bereich der Mechanik; Bruno Winkler – Für Verbesserungsvorschläge zum Kapitel „Mechanische Schwingungen und Wellen“. Frau Eva Deutsch danke ich für die Erstellung einer ersten, rohen Textversion nach meinem handschriftlichen Vorlesungsmanuskript; Frau Andrea Decker danke ich für das Scannen von Bildern. Bedanken möchte ich mich auch bei den Studentinnen und Studenten meiner Vorlesungen für ihre positiven Rückmeldungen. Die geeignete Aufbereitung und Darstellung der meist nicht einfachen physikalischen Materie war mir immer ein Anliegen. Die größte Freude empfand ich, wenn ich von den Mienen der Hörer quasi im Gegenzug das Verstehen der oft komplexen Zusammenhänge ablesen konnte bzw. bei den mündlichen Prüfungen das grundlegende Verständnis für die angesprochene Problematik erkannte. Sehr herzlich möchte ich mich bei Edmund H. Immergut (Brooklyn, New York City, USA) bedanken, der mir geholfen hat, mit De Gruyter einen passenden und international renommierten Verlag zu finden. Er war auch einer jener, die von Anfang an überzeugt waren, dass dieses Buch ein notwendiger Beitrag für Lehrende und Lernende der Physik darstellen wird und bestärkte mich deshalb ganz entscheidend in meinem Durchhaltevermögen. Zuletzt gilt mein großer Dank meiner lieben Frau Heidrun, die mit viel Geduld die Mehrbelastung ertrug, die mein mehr als 10-jähriges Buchprojekt für sie und unsere ganze Familie bedeutete. Sie stand mir immer mit gutem Rat und bereitwilliger Hilfe zu Seite.

Inhalt Vorwort

V

Zum Inhalt von Band I Danksagung

VII

IX

Symbolverzeichnis Band I

XVII

1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2

Einleitung 1 Was will die Physik? 1 Messgrößen (quantities) und Einheiten (units) 4 Messgenauigkeit (accuracy) und Messfehler (error) 7 Festlegung eines Messwertes aus mehreren Einzelmessungen 8 Zentraler Grenzwertsatz (central limit theorem) für rein statistische Fehler 9 1.3.3 Die Fehler eines Messergebnisses 9 1.3.4 Die Fehlerverteilungsfunktion 10 1.3.5 Das Fehlerfortpflanzungsgesetz 12 Zusammenfassung 15 Anhang Definition der SI-Basiseinheiten 17

2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4

Mechanik des Massenpunktes 19 Kinematik (kinematics) 19 Geschwindigkeit und Beschleunigung 21 Die allgemeine Bewegung des MP 22 Spezielle Bewegungen 25 Dynamik (dynamics) 29 Die Newtonschen Axiome und der Impuls (momentum) 31 Bahndrehimpuls und Drehmoment 36 Kraftstoß, Arbeit und Energie, Leistung 39 Erhaltung der mechanischen Gesamtenergie 46 47 Bezugssysteme und Trägheitskräfte 47 Inertialsysteme, Galilei-Transformation 50 Geradlinig beschleunigte Bezugssysteme 52 Rotierende Bezugssysteme 57 Die Erde als rotierendes Bezugssystem Massenpunktsysteme und Erhaltungssätze (conservation 60 laws)

XII

Inhalt

2.4.1 2.4.2 2.4.3 Anhang 1 A1.1 A1.2 A1.3 A1.3.1 A1.3.2 A1.3.3 A1.4 Anhang 2 A2.1 A2.2 A2.3 A2.3.1 A2.3.2 A2.4 A2.4.1 A2.4.2

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5

Der Massenmittelpunkt (= Schwerpunkt) und der (lineare) 60 Gesamtimpuls 62 Der Gesamtdrehimpuls eines Teilchensystems 63 Die Gesamtenergie eines Teilchensystems 65 Zusammenfassung 70 Gravitation und Planetenbewegung 70 Das Gravitationsgesetz 73 Das Keplerproblem 81 Bestimmung der Erdbeschleunigung 81 Das mathematische, ebene Pendel (simple pendulum) 83 Das physikalische Pendel (physical pendulum) 86 Das Reversionspendel 88 Bestimmung der Gravitationskonstante 95 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering) Der elastische Stoß (Q = 0) im Laborsystem (laboratory coordinate 97 system) Elastischer Stoß (Q = 0) im Schwerpunktsystem (centre of mass 103 system) Inelastischer Stoß (Q ≠ 0) 109 Maximal inelastischer Stoß, Teilcheneinfang (Q > 0) 109 Teilchenzerfall (Q < 0) 113 Potenzialstreuung (Coulombstreuung) 114 Das α-Teilchen im Coulombfeld eines Atomkerns 114 Der differentielle Wirkungsquerschnitt – die Rutherfordsche Streuformel 119

127 Mechanik des starren Körpers (rigid body) Statik und Gleichgewicht (statics and equilibrium) 127 Drehmoment und Bezugspunkt 129 Der Massenmittelpunkt (= Schwerpunkt) 132 Kinematik und Freiheitsgrade (kinematics and degrees of freedom) 133 Allgemeine Bewegung der Massenpunkte eines starren Körpers 133 Die Freiheitsgrade des starren Körpers 135 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie (dynamics, moment of inertia, rotational energy) 136 Bewegungsgleichungen des starren Körpers 136 Das Trägheitsmoment (moment of inertia) 137 Die Rotationsenergie 139 Rotation um eine feste Achse 140 Der Steinersche Satz (parallel axes theorem) 142

Inhalt

3.3.6 3.3.7 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 Anhang 1 A1.1 A1.2 A1.3

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

143 Trägheits- und Energieellipsoid Freie Achsen 146 Kreiselbewegung (motion of a top) 148 Der kräftefreie, symmetrische Kreisel 148 Der ‚schwere Kreisel‘ 151 Die Eulerschen Kreiselgleichungen 155 Zusammenfassung 158 Weiteres vom Kreisel 162 Gleichsinniger Parallelismus 162 ⇀ Der Kreisel im mit der Präzessionsfrequenz Ω rotierenden Bezugssystem 163 Das Zentrifugalmoment eines Körpers, der nicht um eine Hauptträgheitsachse rotiert 166

Mechanik deformierbarer Körper 167 Aggregatzustände und Bindungen 167 Gasförmiger Zustand 168 Flüssiger Zustand 169 Fester Zustand 169 Deformation fester Körper 172 Hookesches Gesetz, Elastizitätsmodul 172 Scherung und Torsion 179 Elastische Konstanten und Kristallstruktur 182 Der Elastizitätstensor, allgemeines Hookesches Gesetz 185 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden) 189 Die Kontinuitätsgleichung 193 Die Eulergleichung 195 Ruhende Flüssigkeit im Schwerefeld 201 Ruhendes ideales Gas bei konstanter Temperatur im Schwerefeld 203 4.3.5 Die Bernoulli-Gleichung 205 4.3.6 Die Potenzialströmung (wirbelfreie Strömung) 210 4.3.7 Wirbelströmung (vortical flow), Turbulenz 213 213 4.3.7.1 Ideale, reibungsfreie Flüssigkeit, Wirbelsätze 217 4.3.7.2 Reibungsbehaftete (zähe) Flüssigkeiten 221 4.3.8 Oberflächenspannung und Kapillarität 4.3.8.1 Spezifische Oberflächenenergie, spezifische Grenzflächenenergie, 221 Oberflächenspannung, Grenzflächenspannung 226 4.3.8.2 Normaldruck gekrümmter Oberflächen 228 4.3.8.3 Kapillarität 231 Zusammenfassung Anhang 1 Gleichgewicht im elastischen Körper: Grundgleichung 236 der Elastostatik

XIII

XIV 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5 5.6.6 5.6.7 5.6.8 5.6.8.1 5.6.8.2 5.6.8.3

Inhalt

Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves) 239 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations) 242 Der freie, ungedämpfte harmonische Oszillator (simple harmonic oscillator) 242 Überlagerung von harmonischen Schwingungen (superposition of harmonic oscillations) 254 Zerlegung von periodischen und unperiodischen Funktionen, Fourieranalyse und Fouriertransformation 262 Der freie, gedämpfte Oszillator 272 2 2 2 γ < ω0, 5 β < 4 km, schwache Dämpfung (underdamped) 273 2 2 2 276 γ > ω0, 5 β > 4 km, starke Dämpfung (overdamped) 2

2

2

γ = ω0, 5 β = 4 km, α​ = √γ​ − ω​0 = 0, kritische Dämpfung 278 (= aperiodischer Grenzfall, critically damped) 280 Die Energie der Schwingungsbewegung 283 Erzwungene Schwingung und Resonanz Periodische Anregung, komplexe und reelle Amplituden 283 der erzwungenen Schwingung 286 Resonanz 288 Energiebilanz der erzwungenen Schwingung 289 Gekoppelte Oszillatoren 294 Mechanische Wellen (mechanical waves) Ebene Wellen (plane waves), Phasengeschwindigkeit (phase 294 velocity) 298 Die Gruppengeschwindigkeit 304 Die Wellengleichung 310 Ausbreitung von mechanischen Wellen 318 Energiedichte und Energietransport 319 Akustik 319 Stehende Wellen (standing waves) 321 Resonanzbedingung der schwingenden Saite Physik der Musik, Entwicklung der europäischen 325 Tonleitern 330 Schallfeldgrößen und ihre Messung 335 Die Schall-Kugelwelle 338 Stimme und Ohr, Lautstärke 344 Ultraschall und seine Anwendungen 346 Akustischer Dopplereffekt, Kopfwellen 346 Zentraler Dopplereffekt 351 Nichtzentraler Dopplereffekt 353 Kopfwellen 355 Zusammenfassung 2

2

Inhalt

Anhang 1 Anhang 2

363 Schwingungsformen einer gezupften Saite Frequenzauflösung im Ohr durch Transversal-Wanderwellen

Literatur

367

Register

369

XV

365

Symbolverzeichnis Band I (alphabetisch) A a a± a, b Amax Astat c​⇀

Fläche, Amplitude Beschleunigung auf einer Saite nach +x und −x laufende Welle große und kleine Halbachse der Ellipse Maximalwert der Amplitude im Resonanzfall reelle Amplitude der stationären erzwungenen Schwingung Figurenachse beim Kreisel

Cμν

elastische Moduln (σ​μ​ = ∑C​μ​ν​ ε​ν​ )

cn cp, cν ⇀ D, D​ e​⇀ E Ekin Epot, U, V Erot E​ ̃ df, d​f⇀ ​ , dA F, F​⇀ f​⇀V​

Fourierkoeffizienten spezifische Wärme bei konstantem Druck und konstantem Volumen Drehmoment Einheitsvektor Energie, Elastizitätsmodul kinetische Energie potenzielle Energie Rotationsenergie Elastizitätstensor Flächenelement (d​f⇀ ​ = d​A​ ⋅ e​⇀n​ = d​f​ ⋅ e​⇀n​ ) Kraft Kraftdichte

F(ω)

Fouriertransformierte (Spektralfunktion, F​ (ω​) =

6

ν​ = 1

+∞​

∫ f​ (t​)e​

−i​ω​t​

d​t​ )

−∞​ +∞​

F(kx )

Fouriertransformierte einer Ortsfunktion (F​ (k​x​ ) =

∫ f​ (x​)e​ −∞​

g, g​⇀ G, {G}, [G] G h I Ĩ​ Ia, Ib, Ic j​⇀ k k = 1 ∕ρ​ K k, k​⇀ L, L​⇀ l​, ∆l​ M m MP

Erdbeschleunigung Größe, Zahlenwert der Größe, Einheit der Größe Schermodul Steighöhe bzw. Kapillardepression Trägheitsmoment, Flüssigkeitsstrom, Schallintensität Trägheitstensor Hauptträgheitsmomente Stromdichte Federkonstante (Oszillator), Boltzmann-Konstante Krümmung Kompressionsmodul Wellenzahl, Wellenvektor Drehimpuls Länge, Längenelement υ​Q​ Machzahl (M​ = ) υ​p​h​ Masse Massenpunkt

−i​kx​ ​ x​

d​x​ )

XVIII n n​⇀, e​⇀n​ N, S O p, p​⇀ P P​ ̃ p, ε Q

Symbolverzeichnis Band I Polytropenexponent Normalenvektor (Einheitsvektor in Normalenrichtung) Nord- und Südpol des Erdmagnetfeldes Koordinatenursprung (origin) linearer Impuls Leistung, Druck Schallwechseldruck Parameter und Exzentrizität der Ellipsenbahn τ​ ω​0 Oszillatorgüte (Q​ = 2π​ = ω​0 τ​ = ), umgewandelte Energie (inelastischer Stoß) T​ 2γ​

Q, q R r, θ, φ r​⇀, d​ r⇀​ Re s sm sn s​⇀

Quellstärke, Quelldichte (ideale) Gaskonstante Kugelkoordinaten Ortsvektor und infinitesimale Verschiebung Reynoldssche Zahl Kreisbogen, Bogenlänge mittlerer Fehler des Mittelwertes mittlerer Fehler der Einzelmessung

S

Massenmittelpunkt (Schwerpunkt)

Sμν

elastische Konstanten (ε​μ​ = ∑S​μν​ ​ σ​ν) ​

T t u(x,t) V, ∆V υ, υ⇀​ υgr

Schwingungsdauer Zeit Wellenfunktion (mechanische Welle) Volumen, Volumenelement Geschwindigkeit d​ω​ d​υp​ ​h​ d​υ​p​h​ = υ​p​h​ + k​ ⋅ = υ​p​h​ − λ​ Gruppengeschwindigkeit (υg​​ r​ = ) d​k​ d​k​ d​λ​

Verschiebung von r​⇀nach r​⇀+ ε​ ̃ ⋅ r​⇀(s​⇀= {u​,υ​,w​} = ε​ ̃ ⋅ r​⇀) 6

ν​ = 1

υph υS W w​ ̅ wkin, wpot WA wn

Phasengeschwindigkeit (υ​p​h​ = ν​ ⋅ λ​ =

ω​ k​

)

Schallgeschwindigkeit Arbeit mittlere Energiedichte kinetische und potenzielle Energiedichte Wirbelstärke Eigenfunktionen (schwingende Saite, w​n​ = sin​

n​ π​ x​ l​

)

WW z

Wechselwirkung

ZW

Schallwellenwiderstand

α Γ Γ γ

Scherwinkel Zirkulation logarithmisches Intensitätsverhältnis Gravitationskonstante, Dämpfungskonstante (Oszillator)

komplexe Zahl (z​ = | z​ | ⋅ e​

i​φ​

= a​ + i​b​ )

Symbolverzeichnis Band I 2





Laplace-Operator (∆ =

∂x​ ∆r ⇀ ∇ δ

2

+



2

2

∂y​

2

XIX

+



∂z​

2

)

Laplace-Operator in Kugelkoordinaten ∂ ∂ ∂ ⇀ = e​⇀x​ + e​⇀y​ + e​⇀z​ ) Nablaoperator (∇ ∂y​ ∂z​ ∂x​ x​ (t​) logarithmisches Dekrement (δ​ ≡ ln​[ ] = γ​⋅T​ ), relative Dichteschwankung x​ (t​ + T​ ) (Schallfeld) + ∞​

δ(ω), δ(x)

δ-Funktion (δ​ (x​) = ∞ für x​ = 0, δ​ (x​) = 0 sonst, mit



δ​ (x​) = 1)

− ∞​

ε ε0 ε​ ̃ η к Λ λ μ

relative Dehnung elektrische Feldkonstante Deformationstensor dynamische Zähigkeit Kompressibilität, Adiabatenexponent Empfindungsstärke (Lautstärke) Wellenlänge, Schalldruckpegel m​1 m​2 reduzierte Masse (μ​ = ), Poissonsche Zahl (relative Querkontraktion/ m​1 + m​2

ω ωP ω0

relative Längenänderung) Frequenz Normalschwingungen (gekoppelte Oszillatoren) Dichte, Radius des Krümmungskreises Standardabweichung, Normalspannung, spezifische Oberflächenenergie, Oberflächenspannung, Wirkungsquerschnitt Spannungstensor spezifische Grenzflächenenergie, Grenzflächenspannung Schubspannung, Energierelaxationszeit Geschwindigkeitspotenzial (Strömung) Eulersche Winkel ⇀ = ω​P​ eines rotierenden Bezugssystems Raumwinkel, Rotationsfrequenz Ω Wirbelvektor Winkelgeschwindigkeit Präzessionsfrequenz beim Kreisel Eigenfrequenz (Kreisfrequenz, Oszillator)

ωR

Resonanzfrequenz (ω​R​ =

ν + − ξ​ (t​), ξ​ (t​) ρ σ σ​ ̃ σσβ τ Φ φ, θ, ψ ⇀ Ω ⇀ Ω

√ω​

2 0

2

− 2γ​ )

Wichtige physikalische Größen, Band I Erdbeschleunigung Gravitationskonstante Schallgeschwindigkeiten υph = υS in ms−1: Luft (0° C) Wasser (20° C) Stahl (0° C)

g = 9,80665 ms−2 γ = 6,67408 ± 0,00031 × 10−11 m3kg−1s−2 331,5 1484 5920 (longitudinal), 3255 (transversal)

1 Einleitung Einleitung: In diesem ersten Kapitel werden zunächst die Ziele der Physik im Rahmen der Naturwissenschaften dargelegt und eine kurze Darstellung der Grundbausteine der Materie sowie der elementaren Wechselwirkungen (der „Kräfte“) aus gegenwärtiger Sicht gegeben. Es folgt die Definition physikalischer Messgrößen und der Einheiten im internationalen SI-System, in denen sie gemessen werden. Daran schließt sich eine Diskussion der Messgenauigkeit und der Messfehler an.

1.1 Was will die Physik? Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit der Welt, in der wir leben und versuchen die Erscheinungen (Phänomene) zu beschreiben und vorhandene Gesetzmäßigkeiten zu erfassen und zu analysieren. Die Physik ist eine exakte Naturwissenschaft, das heißt, sie beruht auf zahlenmäßig darstellbaren Versuchsergebnissen. Sie sucht nach den Grundbausteinen unserer Welt, nach deren Wechselwirkungen, also den wirkenden Kräften, und in der Folge nach einfachen, quantitativen Gesetzen und Regeln, die den Ablauf der − meist komplexen − Naturvorgänge bestimmen. Dadurch sollen Voraussagen ermöglicht werden! Am Anfang der Naturwissenschaft (z. B. bei den Griechen in der Antike) stand die reine Naturbeobachtung (Phänomenologie). Für quantifizierbare Ergebnisse ist aber das Experiment notwendig. Diese Periode der überprüfbaren Aussagen beginnt etwa mit Galileo Galilei (1564–1642). Das Experiment ist eine quantifizierbare Naturbeobachtung unter definierten Bedingungen. Es ist daher wiederholbar.

1

Die Erklärung der experimentellen Ergebnisse erfolgt immer an Hand von Abstraktionen, in einem Modell. Beispiele einfacher Modelle sind etwa – der Massenpunkt (das Volumen wird vernachlässigt; Band I, Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“), – der starre Körper (elastische und plastische Deformation werden vernachlässigt; Band I, Kapitel „Mechanik des starren Körpers“), – und der Modellkristall (die Atome an den Gitterplätzen werden als ‚harte Kugeln‘ betrachtet; Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“). Die theoretische Beschreibung physikalischer Vorgänge ist immer nur die Beschreibung eines Modells, nie die der Wirklichkeit selbst. Die Beschreibung physikalischer Vorgänge erfolgt in mathematischen Formeln, die Mathematik ist die ‚Sprache der Physik‘.

1

2

1 Einleitung

Die in den natürlichen Abläufen aufgefundenen Gesetze und Prinzipien werden in einer physikalischen Theorie zusammengefasst. Die Theorie wird durch kritische Experimente überprüft: Mit dem Ergebnis eines kritischen Experiments stimmt die Theorie entweder überein, sie bleibt somit weiterhin gültig (sie wird dadurch aber nicht ‚richtig‘), oder sie steht dazu in Widerspruch, dann ist sie falsifiziert (Karl Popper, (Sir Karl Raimund Popper, 1902–1994)) und muss daher erweitert oder prinzipiell geändert werden. Beispiele für falsifizierte Theorien, die erneuert werden mussten: – Newtonsche Mechanik (Galilei Transformation) )☹ Michelson-Morley Experiment ☺/ relativistische Mechanik (Lorentz Transformation; Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“) – Wellentheorie des Lichts (elektromagnetisches Feld als Kontinuum) )☹ Photoeffekt ☺/ Quantenoptik (Quantisierung des elektromagnetischen Feldes; Band V, Kapitel „Quantenoptik“). Da sie auch alle bisherigen Beobachtungen und Experimente erklären muss, wird im Allgemeinen die neue Theorie die alte Theorie als Grenzfall enthalten (Korrespondenzprinzip). Dies ist zum Beispiel bei der Quantenmechanik erfüllt, die im klassischen Grenzfall (wenn das Plancksche Wirkungsquantum vernachlässigbar klein wird) in die Newtonsche Mechanik übergeht (Bohrsches Korrespondenzprinzip, 1923; Band V, Kapitel „Quantenoptik“). Ebenso geht die relativistische Mechanik für kleine Geschwindigkeiten (υ ≪ c) in die klassische Mechanik über (Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“).1 Der Fortschritt in der physikalischen Erkenntnis erfolgt durch das Zusammenwirken von Experiment und Theorie: Das Experiment überprüft die Theorie und die Theorie macht Voraussagen, die experimentell überprüfbar sind. Die Ausbildung als Physiker, welche einerseits das modellmäßige Erfassen von Zusammenhängen und andererseits die experimentelle Überprüfung der verwendeten Modelle sowie die Übung in kritischem Denken umfasst, ermöglicht sehr breit gestreute berufliche Anwendungsmöglichkeiten. Physiker sind heute nicht nur in allen naturwissenschaftlich-technischen Berufen zu finden, sondern auch in weiten Bereichen der Ökologie, aber auch der Ökonomie. Die Physik entwickelt also Modelle der realen Welt und untersucht deren gesetzmäßiges Verhalten. Sie befasst sich daher mit Materie. Wie sieht unser heutiges Bild von der Materie aus?

1 Im Gegensatz dazu ist die alte ‚Fernwirkungstheorie‘ in der modernen Feldtheorie nicht als Grenzwert enthalten. Vergleiche dazu Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“, Abschnitt 2.2.

1.1 Was will die Physik?

3

Wir unterscheiden 4 Aggregatzustände der Materie 2: kondensiert

flüssig

gasförmig

Plasma 3

kristalline und amorphe Festkörper, Quasikristalle, Polymere, Komposite, biologische Strukturen

Schmelzen

Gase und Dämpfe

weitgehend ionisiertes Gas (positive Atomkerne und Elektronen)

Schon in der Welt der Antike entwickelte sich die Vorstellung, dass die uns umgebende Materie aus kleinsten, unteilbaren 4 Teilchen aufgebaut sei (Leukipp und Demokrit, Mitte des 5. Jhdts. v. Chr.). In unserer aktuellen Sicht besteht die Materie aus Atomen und Molekülen (die besonders für die chemischen Eigenschaften verantwortlich sind), diese wieder aus Atomkernen und Elektronen. Elektronen sind ‚elementare Teilchen‘, sie haben also nach heutiger Sicht keine weiteren Bestandteile. Die Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen, den Nukleonen, und diese wiederum setzen sich aus so genannten ‚Quarks‘ zusammen 5. Quarks sind nach heutiger Sicht auch unteilbar und daher elementare Teilchen. Wir kennen

2

Leptonen (m sehr klein (ν) bis 1777 MeV/c (τ)) 6 Teilchen Elektron e

Ladung [e] −



e -Neutrino νe Myon μ





μ -Neutrino νμ −

Tauon τ − τ -Neutrino ντ

−1

Antiteilchen +

e Positron

0

ν​e̅ ​

−1

μ

+

0

ν​μ̅ ​

−1 0

τ ν​τ̅ ​

+

Ladung [e] +1 0 +1 0 +1 0

2 Fest, flüssig und gasförmig sind die klassischen Aggregatzustände. Auch das ‚Bose-Einstein-Kondensat‘ (siehe dazu Band VI, Kapitel „Statistische Physik“, Abschnitt 1.4.5, Fußnoten 83 und 84, Abb. VI-1.15 und Anhang 3) gilt heute als Aggregatzustand, hat aber nur im Labor bei sehr tiefen Temperaturen eine Bedeutung. 3 Mehr als 99 % der sichtbaren Materie unseres Universums liegen als Plasma vor. 4 Griechisch: atomos – „das Unzerschneidbare“. 5 Der Name ‚Quarks‘ stammt von Murray Gell-Mann (geb. 1929) und ist einer Zeile im Roman von James Joyce‚ ‚Finnegans Wake‘ entnommen: „Three quarks for Muster Mark“; siehe dazu auch Band V, Kapitel „Subatomare Physik“, Abschnitt 3.2.3.2, Fußnote 142. E​ 6 Die Masse der Elementarteilchen wird gemäß der Einsteinschen Relation m​ = als Energie2 c​ 1 MeV − 27 äquivalent angegeben: = 1,783 ⋅ 10 g. 2 c​

4

1 Einleitung 2

Quarks (m zwischen 5 (up) und 180 000 M eV/c (top)) Teilchen

Ladung [e]

Antiteilchen

Ladung [e]

u  (up) d (down) c (charm) s (strange) t (top) b (bottom)

+⅔ −⅓ +⅔ −⅓ +⅔ −⅓

u​̅ d​ ̅ c​ ̅ s​ ̅ t​ ̅ b​ ̅

−⅔ +⅓ −⅔ +⅓ −⅔ +⅓

2 Gruppen von wirklich fundamentalen Elementarteilchen ohne jede weitere innere − Struktur, die Leptonen, also leichte Teilchen, zu denen auch das Elektron (e ) gehört, und die Quarks. Alle besitzen den Spin ½, sind also Fermionen, das heißt sie unterliegen der Fermi-Statistik (Band VI, Kapitel „Statistische Physik“). Die Kernbausteine (Nukleonen) bestehen aus 3 Quarks (Proton: u,u,d; Neutron: u,d,d), die Mesonen sind Quark-Antiquarkpaare. Zwischen den Bausteinen unserer Welt wirken 4 fundamentale Kräfte (das sind die 4 fundamentalen Wechselwirkungen (WW)). Die Kraftwirkung (oder WW) erfolgt klassisch über die Feldwirkung (jedem Raumpunkt wird ein Kraftvektor zugeordnet), nach heutiger, moderner Sicht jedoch durch den Austausch so genannter Wechselwirkungsteilchen (Eichbosonen), die auch elementar, also unteilbar sind. Sie besitzen Spin 1 und sind daher Bosonen, die der Bose-Einstein-Statistik unterliegen:

Wechselwirkung (WW)

Austauschteilchen (Eichboson)

relative ‚Stärke‘ der WW

starke WW (Kernkräfte, −15 m) Reichweite 10

8 Gluonen (‚Klebeteilchen‘), masselos

1

schwache WW (β-Zerfall, −18 m) Reichweite 10

W -, W -, Z -Boson, 2 massereich (80–90 GeV/c )

10

elektromagnetische WW (Reichweite ∞)

Photon (γ-Quant), masselos

10

Gravitation (Reichweite ∞)

Graviton, masselos, bisher nicht beobachtet

10

+



0

−15

−13 7

−10



−2

−41

−38 7

−10



1.2 Messgrößen (quantities) und Einheiten (units) Physikalische Größen sind Merkmale physikalischer Objekte, die mittels gewählter Einheiten, in denen sie gemessen werden, Zahlenwerte erhalten. Einheiten sind speziell ausgewählte Größen mit einem festen Ausmaß. 7 Die relative Stärke der Wechselwirkung hängt stark von der Energie der Wechselwirkungsprozesse ab und schwankt bei der Gravitation und der schwachen WW entsprechend der Streuexperimente.

5

1.2 Messgrößen (quantities) und Einheiten (units)

Zwischen Größen und Einheiten gilt die Grundgleichung der Größenrechnung: G​r​ö​ß​e​ = Z​a​h​l​e​n​w​e​r​t​ ⋅ E​i​n​h​e​i​t​;

G​ = {G​} ⋅[G​] .

(I-1.1)

2

Beispiel: A = 7,56 m , also: Die Größe G (= Fläche A) besitzt den Zahlenwert 2 {G} = 7,56 der Einheit [G] = m (Quadratmeter). Alle physikalischen Größen können auf drei Grundgrößen (basic quantities) zurückgeführt werden, das sind Länge (l), Masse (m), Zeit (t)

(I-1.2)

Alle anderen Größen können durch diese Grundgrößen ausgedrückt werden. Aus praktischen Gründen werden allerdings beim Internationalen Einheitensystem zu den drei Grundgrößen noch vier weitere Größen hinzugefügt. Das Internationale Einheitensystem (System Internatinal d’Unités, SI) Die SI-Einheiten bilden ein kohärentes Einheitensystem, d. h. in den sie verknüpfenden Einheitengleichungen kommt nur die Zahl 1 als Zahlenfaktor vor.

Beispiel: 1 W =

1J

= 1 N⋅

1s

1m

= 1 kg ⋅ 1

1s

m s2



1m 1s

=1

kg ⋅ m 3

2

.

s

Es gibt 7 SI-Basiseinheiten, die nicht durch Einheitengleichungen miteinander verknüpft werden können 8: Name

Zeichen

Größe

das Meter das Kilogramm die Sekunde das Ampere das Kelvin das Mol die Candela

m kg s A K mol cd

Länge (length) Masse (mass) Zeit (time) elektrische Stromstärke (electrical current) thermodynamische Temperatur (thermodynamic temperature) Stoffmenge (amount of substance) Lichtstärke (luminous intensity)

Wesentlich sind die extrem kleine Stärke der Gravitation sowie der sehr kleine Wert der schwachen −15 WW (10 ) bei niedrigen Energien bis einige GeV. 8 Zur Definition der SI-Basiseinheiten siehe Anhang 1.

6

1 Einleitung

Aus den Basiseinheiten können weitere SI-Einheiten abgeleitet werden: Name

Zeichen

Größe

der Radiant der Steradiant das Hertz das Newton das Pascal das Joule9 das Watt das Coulomb das Volt das Farad das Ohm das Siemens das Weber das Tesla das Henry der Grad Celsius das Lumen das Lux das Bequerel das Gray das Sievert

rad sr Hz N Pa J W C V F Ω S Wb T H °C lm lx Bq Gy Sv

ebener Winkel (plane angle) Raumwinkel (solid angle) Frequenz ( frequency) Kraft ( force) Druck (pressure) Arbeit, Energie, Wärmemenge (work, energy, quantity of heat) Leistung (power) Elektrizitätsmenge (electric charge) elektrische Spannung (electric voltage) elektrische Kapazität (capacitance) elektrischer Widerstand (resistance) elektrischer Leitwert (conductance) magnetischer Fluss (magnetic flux) magnetische Flussdichte (magnetic flux density) Induktivität (inductance) Celsius-Temperatur Lichtstrom (luminous flux) Beleuchtungsstärke (illuminance) Aktivität eines Radionuklids (activity) Energiedosis (absorbed dose) Äquivalentdosis (dose equivalent)

Zur Definition des ebenen Winkels (Abb. I-1.1): α​ =

K​r​e​i​s​b​o​g​e​n​ s​ = . R​a​d​i​u​s​ r​

s α r

Abb. I-1.1: Zur Definition des ebenen Winkels.

9 Sprich: ‚tschul‘.

(I-1.3)

7

1.3 Messgenauigkeit (accuracy) und Messfehler (error)

s​ = 1 , dann ist α = 1 rad. r​ π​ rad. Umrechnung in Grad: 1° = 180

Wenn gilt:

Zur Definition des Raumwinkels (Abb. I-1.2):

Ω=

K​u​g​e​l​f​l​ä​c​h​e​ 2

(R​ a​d​i​u​s​)

=

A​

(I-1.4)

R​ 2

Ω A O R

Abb. I-1.2: Zur Definition des Raumwinkels.

Wenn gilt:

A​ R​ 2

= 1 dann ist Ω = 1 sr. Der volle Raumwinkel ist also

4 π​ R​ 2 R​ 2

= 4 π​ .

1.3 Messgenauigkeit (accuracy) und Messfehler (error) Für die Beurteilung experimenteller Ergebnisse ist die Einschätzung der Genauigkeit von Messungen wichtig. Wovon hängt die Güte einer Messung ab? 1. Von der Zuverlässigkeit der Messapparatur und des Beobachters inklusive der Analyse der direkten Messdaten: Hier wird der erfahrene, umsichtige, genaue und auch unvoreingenommene Experimentator gefordert. Diese Forderung bleibt erhalten, auch wenn man heute versucht die Sinneswahrnehmung des Experimentators und seine Ablesegeschicklichkeit weitgehend durch die Verwendung elektronischer Messgeräte (objektive Messung) und Datenspeicher zu ersetzen. 2. Von der Genauigkeit der Messung, also vom Messfehler: Eine detaillierte Fehlerbetrachtung ermöglicht die richtige Einschätzung des Messergebnisses. 3. Von der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse: Erst nach weiteren Reproduktionen der Messung erhält das Ergebnis seine Gültigkeit.

8

1 Einleitung

Wir unterscheiden zwei Arten von Messfehlern: 1. Systematische Messfehler: Sie sind durch die Apparatur oder den Experimentator bestimmt. Beispiele dafür sind eine falsche Kalibrierung, ein unkorrigierter Nullpunkt, der nicht berücksichtigte Temperatureinfluss, etc. Hier hilft die Wiederholung der Messung nicht. Systematische Fehler sind daher prinzipiell zu vermeiden! 2. Statistische Fehler: Die Messwerte streuen immer aufgrund zahlreicher, statistisch wirkender Einflussfaktoren um einen mittleren Wert. Rein statistische Fehler können mathematisch erfasst werden, für sie gilt der im folgenden dargelegte zentrale Grenzwertsatz.

1.3.1 Festlegung eines Messwertes aus mehreren Einzelmessungen Da die Abweichungen von einer zu bestimmenden Größe x positiv und negativ sein können, sich also bei der Aufsummierung wegheben, verlangen wir nach Gauß (Carl-Friedrich Gauß, 1777–1855) zur Festlegung eines geeigneten Wertes x​ ̅ der Messgröße, dass die Summe der Quadrate aller Abweichungen (x​ ̅ − x​i​ ), das sind die ‚scheinbaren‘ 10 Fehler der einzelnen Messung, minimal sein soll, dass also gilt: n​

∑ (x​ ̅ − x​i​ )2 = min . i​ = 1

n​

d​∑ (x​ ̅ − x​i​ )2 Wir differenzieren

i​ = 1

d​x​ ̅

n​

= 2∑ (x​ ̅ − x​i​ ) und setzen Null (innere Ableitung i​ = 1

= 1). Wir erhalten n​

(x​ ̅ − x​1 ) + (x​ ̅ − x​2 ) + (x​ ̅ − x​3 ) + … = n​ ⋅ x​ ̅ − ∑ x​i​ = 0 i​ = 1

und damit als plausibelsten Wert der Messgröße x

x​n̅ ​ =

1 n​

n​

∑ x​i​ ,

den arithmetischen Mittelwert.

(I-1.5)

i​ = 1

10 Diese Fehler sind deshalb ‚scheinbar‘, weil das erst festzulegende x​ ̅ nicht der ‚wahre‘ Wert von x ist.

9

1.3 Messgenauigkeit (accuracy) und Messfehler (error)

1.3.2 Zentraler Grenzwertsatz (central limit theorem) für rein statistische Fehler Der zentrale Grenzwertsatz folgt aus der Wahrscheinlichkeitstheorie: Eine große Zahl voneinander unabhängiger, aufgrund vieler Einflussgrößen statistisch verteilter Zufallsgrößen (hier der Messwerte) ist annähernd normalverteilt, folgt also der Gaußverteilung. Wenn daher eine physikalische Messgröße von vielen kleinen, voneinander unabhängigen Störungen beeinflusst wird, was meist zutrifft, so ergibt sich bei oftmaliger Wiederholung der Messung annähernd eine Gaußverteilung der Messwerte um den wahren Wert. Wir sprechen dann von ‚rein statistischen‘ Fehlern. In diesem Fall gilt für den wahren Wert x w :

x​w​ = lim​

n​ % ∞​

1 n​

n​

∑ x​i​ = lim​ x​n̅ ​ . i​ = 1

n​ % ∞​

(I-1.6)

Für n / ∞ geht der Mittelwert x​n̅ ​ also in den wahren Wert x w über. Nun sind die ‚wahren Messfehler‘, also die Abweichungen vom ‚wahren Wert‘ x w , zunächst unbekannt. Erst durch den zentralen Grenzwertsatz erhalten wir einen Zusammenhang zwischen dem wahren Wert x w und dem Mittelwert x​n̅ ​ einer Messreihe, sodass wir jetzt die Fehler rechnerisch auf den wahren Wert beziehen können.

1.3.3 Die Fehler eines Messergebnisses Der mittlere (wahre) Fehler oder die Standardabweichung der Einzelmessung ergibt sich zu 11 :

s​n​ =



∑ (x​ ̅ − x​i​ )2 i​

n​ − 1

=√

[ν​i​ ν​i]​ n​ − 1

mit

ν​i​ = x​n̅ ​ − x​i​ .

(I-1.7)

Die Mittelwerte von Messreihen schwanken selbst um einen Mittelwert, aber weniger als die einzelnen Messungen der Reihe, die Verteilung der Mittelwerte ist schmäler als die Verteilung der Einzelmessung.

11 In der Fehlerrechnung wird üblicherweise die Summation durch eckige Klammern ausgedrückt.

1

10

1 Einleitung

Mittlerer (wahrer) Fehler oder Standardabweichung des Mittelwertes:

s​m​ = s​n̅ ​ =



∑ (x​ ̅ − x​i​ )2 i​

n​ (n​ − 1)

=√

[ν​i​ ν​i]​ n​ (n​ − 1)

=

s​n​

√n​

(I-1.8)

Man beachte: Für oftmalige Messwiederholung, also n / ∞, gilt sn / σ; dabei ist σ ein fester Wert, der durch die Fehlerverteilungsfunktion bestimmt ist. Es gilt aber sm / 0 für n / ∞! Die Fehler der einzelnen Messungen einer Messreihe bleiben also annähernd gleich, wenn die Zahl der Messungen einer Messreihe zunimmt, während der Fehler des Mittelwertes mit 1/√n​ kleiner wird („Gesetz der großen Zahl“, siehe Band VI, Kapitel „Statistische Physik“, Abschnitt 1.1.3, Gl. VI-1.37). Mit steigender Zahl der Messungen wird bei gleich bleibendem mittleren Fehler sn der Einzelmessung ihr Mittelwert immer ‚sicherer‘: Viele Messungen sichern den Mittelwert!

1.3.4 Die Fehlerverteilungsfunktion Wir nehmen an, dass die in einer langen Messreihe ermittelten Messwerte x (quasi) kontinuierlich nach der Funktion F(x) verteilt sind. F(x)dx ist dann die Zahl der Messungen mit einem Messwert im Intervall (x, x + dx). Die Gesamtzahl der Messungen n ergibt sich somit zu + ∞​

n​ = ∫ F​ (x​)d​x​ .

(I-1.9)

− ∞​

1 F​ (x​), so n​ dass ∫f​ (x​) d​x​ = 1. Die Verteilung f(x) heißt jetzt (auf eins) normiert und f (x)dx gibt Wir bilden die auf die Anzahl n der Messungen normierte Funktion f​ (x​) =

die Wahrscheinlichkeit an, dass ein Messwert im Intervall (x, x + dx) liegt. Damit wird der Mittelwert x​ ̅ = ∫x​ ⋅ f​ (x​) d​x​ . Im Grenzwert einer unendlich großen Zahl von Messungen ist die Standardabweichung lim​ s​n​ = σ​ ein Maß für die Breite der n​ % ∞​

Fehlerverteilung. 2 Die Varianz σ , der Mittelwert des Fehlerquadrats, ist definiert durch + ∞​

σ​ 2 = ∫ (x​ − x​ ̅)2 f​ (x​) d​x​ . − ∞​

(I-1.10)

1.3 Messgenauigkeit (accuracy) und Messfehler (error)

11

0.8 f (x) 0.6 0.4 0.2 σ = 1/4 1/2 3/4 σ = 1 0 –2

–1

1

0

2 (x – x)

Abb. I-1.3: Normierte Gaußverteilung um x​ ̅ = 0 für verschiedene Werte von σ.

Eine normierte Gaußverteilung oder Normalverteilung lässt sich mit Hilfe der Varianz folgendermaßen darstellen (Abb. I-1.3, siehe auch Band VI, Kapitel „Statistische Physik, Abschnitt 1.1.4, Gl. VI-1.66): f​ (x​) =

1

√2 π​ σ​ 2

2

2

e​ − (x​ − x​ ̅) /2 σ​ .

(I-1.11)

Wie viele Messwerte liegen bei einer Messreihe innerhalb von (x​ ̅ ± σ​), bzw. wie groß ist also die Wahrscheinlichkeit, dass der wahre Wert in diesem ‚Vertrauensbereich‘ um den Mittelwert liegt? Wir nehmen an, dass σ aus n Messungen näherungsweise mit Hilfe der Formel für σm bestimmt wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein weiterer Messwert xi im Intervall (x​n̅ ​ ± σ​) liegt, ist +σ​

P​ ( |x​ ̅ − x​i​ | ≤ σ​) = ∫ f​ (x​) d​x​ .

(I-1.12)

−σ​

Mit der Gaußverteilung für f(x) ergibt sich P​ ( |x​ ̅ − x​i​ | ≤ σ​) = 0,683. Im ‚Vertrauensbereich‘ ±σ liegen also 68 % der Messwerte. Im Vertrauensbereich ±2 σ liegen 95 %, in ±3 σ 99,7 % der Messwerte. Messergebnisse werden meist so angegeben: x​w​ = x​ ̅ ± s​m​ , wobei sm aus einer Messreihe 12 bestimmt wird.

12 Oft kann man die Genauigkeit eines Messinstruments der Gerätebeschreibung entnehmen und so auf eine Messreihe zur Fehlerbestimmung verzichten, wenn alle statistischen Schwankungen der Messgröße kleiner als dieser Wert sind. Mitunter muss der kleinste vom Gerät ablesbare Wert (bei unempfindlichen Geräten) als Fehler genommen werden.

12

1 Einleitung

Beispiel: Mit einem Mikrometer (Mikrometerschraube) wird der Durchmesser eines runden Metallstabes 5 × gemessen. 2

Messwert xi [mm]

νi =  − x i

νi

5,115 5,118 5,113 5,112 5,119

+0,0004 −0,0026 +0,0024 +0,0034 −0,0036

1,6 ⋅ 10 −6 6,76 ⋅ 10 −6 5,76 ⋅ 10 −5 1,156 ⋅ 10 −5 1,296 ⋅ 10

 = 25,577 / 5 = 5,1154

[νi ] = 0

[νi νi ] = 3,72 ⋅ 10

−7

−5

Damit erhalten wir sn zu 0,003 und sm zu 0,0014 13. Das Ergebnis für den Stabdurchmesser ist also d = (5,115 ± 0,0014) mm. Mit einer Schublehre (Ablesegenauigkeit ≈ 0,05 mm) kann man bei diesem runden Stab keine Statistik bekommen, man muss ±0,05 mm als Fehler setzen! Für eine Messreihe muss das Auflösungsvermögen des Messgerätes wesentlich größer sein als die statistischen Schwankungen des Messwertes.

1.3.5 Das Fehlerfortpflanzungsgesetz Oft setzt sich ein Ergebnis aus mehreren fehlerbehafteten Größen zusammen. So l​ gilt z. B. für die Durchschnittsgeschwindigkeit: υ​ = . Gemessen werden etwa die t​ Zeitdauer t und die in ihr zurückgelegte Wegstrecke l. Wie sieht der Mittelwert des Gesamtergebnisses aus und wie setzen sich die beiden Fehler des Mittelwertes st von t und sl von l entsprechender Messreihen zu einem Gesamtfehler zusammen? 1

Wir erinnern uns an die Taylorentwicklung: Eine stetige Funktion y = f(x), die alle Ableitungen an der Stelle x = a besitzt, kann als Summe einer Potenzreihe geschrieben werden: 2 (x​ − a​) x​ − a​ f​ ′(a​) + f​ ″(a​) + … f​ (x​) = f​ (a​) + 1! 2! Für Funktionen von zwei Variablen f(x, y) gilt entsprechend: f​ (x​ + h​, y​ + k​) = f​ (x​, y​) + (

∂​f​ (x​, y​) ∂​f​ (x​, y​) ⋅ h​ + ⋅ k​) + … ∂​x​ ∂​y​

13 Man beachte, dass Taschenrechner üblicherweise die Standardabweichung der Einzelmessung angeben und dieser Wert bei Angabe von sm daher noch mit 1/√n​ zu multiplizieren ist!

1.3 Messgenauigkeit (accuracy) und Messfehler (error)

13

Mit Hilfe der Taylorentwicklung kann man zeigen 14, dass der Mittelwert des zusammengesetzten Ergebnisses gleich dem aus den Mittelwerten der einzelnen Messgrößen gebildeten Ergebnis ist, also: f​ (x​, y​) = ̄ f​ (x​,̅ y​ ̅) .

(I-1.13)

Die Differentialrechnung liefert uns also die Änderung von f(x, y) und damit den Fehler Δf für kleine Schwankungen (= Fehler) Δx und Δy der Variablen x und y: Δf​ = f​ (x​ + Δx​, y​ + Δy​) − f​ (x​, y​) =

∂​f​ (x​, y​) ∂​f​ (x​, y​) ⋅ Δx​ + ⋅ Δy​ . ∂​x​ ∂​y​

(I-1.14)

Den Größtfehler erhält man, wenn man die Absolutbeträge aller Fehlerterme, die ja negativ oder positiv sein können, einfach addiert: Δf​ max​ = |

∂​f​ (x​, y​) ∂​f​ (x​, y​) Δx​ | + | Δy​ | . ∂​x​ ∂​y​

(I-1.15)

Sind die Messgrößen voneinander unabhängig, so ist für eine realistische Abschätzung zu berücksichtigen, dass sich positive und negative Abweichungen teilweise kompensieren. Dies führt zum Gaußschen Fehlerfortpflanzungsgesetz für den mittleren Fehler des zusammengesetzten Ergebnisses f(x, y): ∂​ f​ 2 ∂​ f​ 2 2 Δf​m​ = s​m​ = √(Δx​ ) ⋅ ( ) + (Δy​ )2 ⋅ ( ) . ∂​x​ ∂​y​

(I-1.16)

Die Fehler addieren sich also ‚pythagoreisch‘ (geometrisches Mittel). Identifizieren wir die Abweichungen Δx und Δy mit den jeweiligen Standardabweichungen des Mittelwertes σm,x und σm,y , so erhalten wir für ein Ergebnis, das aus zwei Messgrößen zusammengesetzt ist:

f​w​ (x​ ,y​) = f​ (x​,̅ y​ ̅) ± s​m​

mit

∂​ f​ 2 ∂​ f​ 2 2 2 s​m​ = √s​ m​,x​ ⋅ ( ) + s​ m​,y​ ⋅ ( ) . ∂​x​ x​,̅ y​ ̅ ∂​y​ x​,̅ y​ ̅

(I-1.17)

Die Erweiterung auf mehrere Messgrößen ist offensichtlich. 14 Der Mittelwert der Messwerte x sei a, also x​ ̅ = a​. Dann folgt aus der Taylorreihe für eine Variable:

f​ (x​) = f​ (a​) +

x​ − a​

⏟⏟⏟⏟⏟ 1! 0

2

f​ ′(a​) +

(x​ − a​) 2!

f​ ″(a​) + … ≅ f​ (a​) = f​ (x​ ̅) .

14

1 Einleitung

l​ Beispiel 1: υ​ = , t​

∂​υ​ ∂​t​

=−

l​ t​

, 2

(

∂​ υ​

2

) =

∂​t​

l​ 2 t​

, 4

∂​υ​

1 = , ∂​l​ t​

(

∂​ υ​ ∂​l​

2

) =

1 t​

2

.

Messwerte: t = (12 ± 0,1) s, Strecke l​ = (3,0 ± 0,001) m. Mittelwert der Geschwindigkeit: υ​ ̅ = 0,25 m/s. Mittlerer Fehler des Mittelwertes:

s​m​ =

√(0,1) ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

2

2 s​ m​ ,t​

9 1 2 −6 −9 + ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ (0,001) = √4,34 ⋅ 10 + 6,94 ⋅ 10 = 0,0021 . 20736 144 s​ 2 m​,l​

Ergebnis: υ = (0,250 ± 0,002) m/s. s​m​,x​ kann die Genauigkeit verschiedener x​ Messgrößen (hier z. B. l und t) verglichen werden: Mittels des relativen Fehlers Δrel =

s​m​,t​ 0,1 1 = = ; t​ 12 120

s​m​,l​ 0,001 1 = = . l​ 3 3000

Die Länge wurde also viel genauer gemessen als die Zeit, die Fehler der Längenund der Zeitmessung gehen aber mit dem gleichen Gewicht in das Resultat ein. Beispiel 2: Messung der Erdbeschleunigung g aus Fallweg l​ und Fallzeit t: g​ =

2 l​ t​ 2

.

Mit Hilfe des relativen Fehlers der einzelnen Messgrößen kann der mittlere Fehler des zusammengesetzten Ergebnisses so geschrieben werden: 2 2 2 2 s​m​ = √( s​ m​,x​ ) ⋅ x​ 2 ( ∂​ f​ ) + (s​ m​,y​) ⋅ y​ 2 ( ∂​ f​ ) . x​ ∂​x​ y​ ∂​y​

m​ n​ Im Falle eines Potenzprodukts f​ = x​ ⋅ y​ folgt sofort für den relativen Fehler des Ergebnisses

2 2 s​m​ = √m​ 2 ( s​ x​ ) + n​ 2 ( s​ y​) . f​ x​ y​ 2

2

Dabei sind m und n die Gewichtsfaktoren für den relativen Einfluss der verschiedenen Messgrößen.

Zusammenfassung

15

Im vorliegenden Fall ergibt sich also für den relativen Fehler des Ergebnisses 2 2 s​m​ = √1 ⋅ ( s​ l​ ) + 4 ⋅ ( s​ t​ ) . f​ l​ t​

Hier zeigt sich also, dass die Zeitmessung mit dem 4-fachen Gewicht der Längenmessung in den relativen Fehler von g eingeht!

Zusammenfassung 1.

2.

3.

Die Physik erforscht die uns umgebende Materie, ihre Erscheinungsformen, ihre Grundbausteine und wie diese miteinander wechselwirken. Der Physiker entwirft Modelle zur Erklärung von Phänomenen und Experimenten, die in Theorien zusammengefasst werden. Mit der Sprache der Mathematik werden die Zusammenhänge beschrieben und Vorraussagen gemacht, die wieder experimentell überprüfbar sein müssen. Auf diese Weise ungültig gewordene, falsifizierte Theorien müssen abgeändert werden. Das Experiment ist also ein wichtiger Prüfstein und letzte Instanz für die Gültigkeit einer Theorie. Experimente müssen deshalb sehr sorgfältig durchgeführt werden. Erst durch eine genaue Erfassung des Messfehlers kann das Messergebnis richtig eingeschätzt werden und erhält erst durch die Reproduktion seine Gültigkeit. Systematische Messfehler müssen durch entsprechende Sorgfalt und Umsicht vermieden werden. Rein statistische Fehler können durch eine Messreihe erfasst werden. Das Ergebnis einer Messung, die n-mal wiederholt wurde, wird im allgemeinen so angegeben:

x​w​ = x​ ̅ ± s​m​ ,

mit

s​m​ =



∑ (x​ ̅ − x​i​ )2 i​

n​ (n​ − 1)

.

4. Setzt sich das Ergebnis aus mehreren Teilergebnissen mit entsprechenden Fehlern zusammen, so kann der Mittelwert aus den Teilmittelwerten gebildet und bei Unabhängigkeit der Fehler voneinander das Gaußsche Fehlerfortpflanzungsgesetz angewendet werden:

f​w​ (x​, y​, …) = f​ (x​,̅ y​,̅ …) ± s​m​

mit

∂​ f​ 2 ∂​ f​ 2 2 2 s​m​ = √s​ x​ ⋅ ( ) + s​ y​ ⋅ ( ) + … ∂​x​ x​,̅ y​ ̅ ∂​y​ x​,̅ y​ ̅

16 5

1 Einleitung

Übungen: 1. Umrechnung „exotischer“ Einheiten in SI-Einheiten: a) In den USA wird der Benzinverbrauch eines Autos üblicherweise durch Angabe der Meilen (1 mile = 1,609 km) gemessen, die mit einer Gallone (1 US gallon = 3,785 l) zurückgelegt werden können. Wieviel l pro 100 km entspricht ein Verbrauch von 15,7 mpg (miles per gallon) bzw. 26 mpg? Entwickle eine Umrechnungsformel! b) Ein Maß für den Druck, dem man in der technischen amerikanischen Literatur noch immer häufig begegnet, ist psi (auch ppsi), d. i. pounds per square inch. Mit pound ist poundweight (lb.wt.) gemeint: 1 lb.wt. = 4,448 N. 1 inch (Zoll) = 25,4 mm. Wieviel Pascal entsprechen 14,7 psi? Welche Bedeutung hat diese Zahl? c) Spannungen in Materialien wurden früher häufig (und werden in der 2 technischen Literatur noch immer) in kp/mm angegeben 15. Zum Bei2 spiel betrage die Zugfestigkeit einer Polyamidfaser 80 kp/mm . Wieviel −2 ist das in Pa = Nm ? d) Ein in der Schifffahrt gebräuchliches Raummaß ist die Registertonne (RT). 1 RT = 100 cu.ft. (Kubikfuß). 1 Fuß = 1 ft = 30,48 cm. Wieviel Kubikmeter enthält ein Schiff mit 80 000 BRT (Brutto-Registertonnen 16 )? 2. In einer Messserie werden der Reihe nach folgende Messwerte ermittelt: 15,3 16,1 15,7 14,9 15,2 15,9 14,8 15,4 14,7 15,5. Berechne den Mittelwert, die Standardabweichung und die Standardabweichung des Mittelwertes. Stelle den Rechenvorgang als Tabelle dar. 3. Fehlerfortpflanzungsrechnung: Die Dichte eines zylindrischen Probekörpers wird durch Abmessen von Durchmesser und Höhe und Wägung bestimmt. Es ergeben sich: Durchmesser d = (22,03 ± 0,01) mm, Höhe h = (48,32 ± 0,01) mm, Masse m = (48,765 ± 0,003) g. Berechne die Dichte mit dem zugehörigen Fehler. Bei welcher Messung sollte man versuchen, besonders genau zu sein?

15 1 kp ist die Kraft, mit der die Masse 1 kg von der Erde mit dem Normwert der Fallbeschleunigung −2 gn = 9,80665 m s angezogen wird. 16 Das Wort ‚Brutto‘ bedeutet: „einschließlich des Raumes für die technische Ausrüstung, die Betriebsmittel und die Mannschaftsunterkünfte“.

Anhang: Definition der SI-Basiseinheiten

17

Anhang: Definition der SI-Basiseinheiten 1 Das Meter (m): Länge der Strecke, die von Licht im leeren Raum in s​ 299 792 458 zurückgelegt wird. Das Kilogramm (kg): Masse des im Internationalen Büro für Maß und Gewicht in Sèvres (Frankreich) aufbewahrten Internationalen Kilogrammprototyps. Die Sekunde (s): Zeit von 9 192 631 770 Schwingungen der Strahlung, die dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes des Nuklids Cäsium-133 entspricht: 2S1/2 (F4, mF = 0 / F3, mF = 0). Das Ampere (A): Stärke des elektrischen Stromes, der durch zwei gerade dünne unendlich lange Leiter, die in 1 m Abstand im leeren Raum parallel zueinander angeordnet sind, unveränderlich fließend bewirken würde, dass diese beiden Lei−7 ter aufeinander eine Kraft von 2⋅10 N je 1 m Länge ausüben. 1 Das Kelvin (K): 273,16 punktes von Wasser.

der thermodynamischen Temperatur des Tripel-

Das Mol (mol): Stoffmenge eines Systems, das aus ebenso vielen Teilchen besteht wie Atome in 0,012 kg des Nuklids 12C enthalten sind. Die Candela (cd): Lichtstärke einer Strahlungsquelle, die in einer gegebenen Rich12 tung eine monochromatische Strahlung mit einer Frequenz von 540⋅10 Hz aussendet und die in dieser Richtung eine Strahlstärke von 1/683 W/sr hat.

2 Mechanik des Massenpunktes Einleitung: Der Massenpunkt – ohne Ausdehnung, aber massenbehaftet – ist ein physikalisches Modell, um kinematische und dynamische mechanische Prozesse zu studieren. Da die „fundamentalen“ – aus heutiger Sicht nicht mehr weiter teilbaren – Elementarteilchen, aus denen die Materie besteht, auch als punktförmig und massenbehaftet angesehen werden, hat der Massenpunkt in der modernen, subatomaren Physik eine wichtige Bedeutung. Zunächst wird die mathematische Beschreibung der Bewegung des Massenpunktes besprochen, ohne noch auf die Ursache dieser Bewegung einzugehen (Kinematik). Dann wird die Wirkung einer Kraft als Ursache der Bewegung eingeführt (Dynamik, Newtonsche Axiome). Die Begriffe Arbeit und Energie werden ausführlich diskutiert. Um angeben zu können, wo sich ein Massenpunkt gerade befindet, welche Geschwindigkeit er besitzt und ob eine diese Geschwindigkeit verändernde Kraft wirkt, muss ein Koordinatensystem gewählt werden. Ist dieses Koordinatensystem nicht in Ruhe, sondern bewegt es sich beschleunigt (z. B. rotierend), so treten Scheinkräfte (Trägheitskräfte) auf. Von diesen Überlegungen ausgehend gab Einstein unter der Voraussetzung einer allgemein gültigen Maximalgeschwindigkeit (Grenzgeschwindigkeit), der Lichtgeschwindigkeit c im Vakuum, in seiner speziellen Relativitätstheorie eine Abänderung der in diesem Kapitel dargestellten „Newtonschen Mechanik“ an (siehe Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“). Das Kapitel schließt mit den Erhaltungssätzen von Massenpunktsystemen, die universell sind und in der gesamten Physik gelten. Im umfangreichen Anhang zu diesem Kapitel werden einerseits die Gravitation und die damit in Beziehung stehenden Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung besprochen; es wird auch auf die Messung der Erdbeschleunigung und der Gravitationskonstante eingegangen. Andererseits geht es um Stoßprozesse (elastischer und inelastischer Stoß) und die Streuung von Teilchen an einem Potenzial. Beides ist besonders im Bereich der subatomaren Physik (Kernphysik und Elementarteilchenphysik, Band V, Kapitel „Subatomare Physik“) von außerordentlicher Bedeutung.

2.1 Kinematik (kinematics) Der Massenpunkt (er besitzt Masse, aber keine Ausdehnung und keine Struktur) ist ein sehr einfaches Modell, mit dem man aber hinreichend genau einfache Bewegungen beschreiben kann. Die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung wurden z. B. in dieser Näherung abgeleitet 1. Der Massenpunkt (MP) ist auch ein gutes Mo1 Die ‚Ausdehnung‘ ist immer relativ zu den umgebenden Strukturen zu sehen!

20

2 Mechanik des Massenpunktes

dell für die sehr kleinen Teilchen der Elementarteilchenphysik, man kann ihn daher auch einfach ‚Teilchen‘ ( particle) nennen. Unsere erste Aufgabe ist, die (augenblickliche) Lage des MP im Raum zu beschreiben. Zur Angabe des Aufenthaltsortes unseres Teilchens im Raum benützen wir Koordinaten (coordinates), z. B. 1

kartesische Koordinaten (cartesian coordinates) (x, y, z), Kugelkoordinaten (spherical coordinates) (r, θ, φ), oder Zylinderkoordinaten (cylindrical coordinates) (r, φ, z), die sich auf einen gewählten Koordinatenursprung O (origin) beziehen (Abb. I-2.1).

z

z



P

r

P

P θ y

z

O

z

O

r

y

φ

y

x

x

Abb. I-2.1: Koordinatensysteme. Kartesische Koordinaten (x, y, z), beachte die Rechtsschraube der Koordinatenachsen (‚Rechte-Hand-Regel‘)!

z

O

φ

x

y

r

x

Kugelkoordinaten (r, θ, φ)

Zylinderkoordinaten (r, φ, z)

Wir verwenden zunächst nur kartesische Koordinaten. Die Bewegung des MP wird dann durch die zeitabhängigen Koordinaten des Ortsvektors r​⇀( position vector) beschrieben, der dauernd vom Ursprung zum MP zeigt: r​⇀= r​⇀(t​) = r​⇀(x​ (t​), y​ (t​), z​ (t​)) .

(I-2.1)

Die zeitliche Abfolge der Endpunkte von r​⇀(t​) beschreibt eine Kurve im Raum, nämlich die Bahnkurve s des MP. Die Zeit t, der Parameter der Kurve, ist dabei eine eindimensionale Größe (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft). Die moderne Physik hat hier zwei Probleme entdeckt: 1. Zur Bestimmung der Teilchenbahn sind Zeitmessungen an bestimmten Raumpunkten notwendig. Die Zeitmessung hat aber nur dann wirklich Sinn, wenn

2.1 Kinematik (kinematics)

2.

21

sie an allen Raumpunkten vergleichbar durchgeführt werden kann. Dies stellt in der klassischen Physik Newtons kein Problem dar, da die Zeit hier eine universelle Größe ist, die nicht vom Ort abhängig ist 2. Seit der Erkenntnis aber, dass es eine Obergrenze der Geschwindigkeit für die Übertragung von Signalen gibt und dass diese Geschwindigkeit – die Lichtgeschwindigkeit c – in allen gegeneinander bewegten Bezugssystemen den selben Wert besitzt, kann die Zeit nicht mehr als universelle Größe angesehen werden. Die spezielle Relativitätstheorie zeigt, dass die Zeit eines Ereignisses an einem bestimmten Ort vom Bezugssystem abhängt und bei der Umrechnung wie eine Koordinate mittransformiert werden muss. Bei der Beschreibung von Vorgängen in atomaren Dimensionen können Ort und Geschwindigkeit (Impuls) nicht mehr gleichzeitig beliebig genau angegeben werden (Heisenbergsche Unschärferelation). Der Aufenthaltsort und der Impuls eines Teilchens sind nur mehr mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bekannt, die Beschreibung mit einer Teilchenbahn ist daher nur mehr innerhalb statistischer Grenzen möglich, die aber sehr eng sein können (z. B. Blasenkammerspuren von Elementarteilchen).

2.1.1 Geschwindigkeit und Beschleunigung Die Geschwindigkeit υ​⇀(velocity = speed) eines Teilchens ist die Änderung seines Ortsvektors in der Zeiteinheit: υ​⇀= υ​⇀(t​) = lim​

Δt​ % 0

Einheit 4: [υ] = 1 m s

r​⇀(t​ + Δt​) − r​⇀(t​) d​r⇀​ 3 = = r​⇀̇ . Δt​ d​t​

(I-2.2)

−1

Die Beschleunigung a​⇀ (acceleration) ist die Änderung der Geschwindigkeit eines Teilchens in der Zeiteinheit:

2 Newton ahnte das Problem bereits, da er erkannte, dass seine Annahme der Absolutheit von Raum und Zeit rein hypothetisch war und nicht aus Beobachtungen oder durch induktiven Schluss abgeleitet werden konnte. Er blieb hier also inkonsequent gegenüber seiner Forderung der Hypothesenfreiheit in seinen Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687). 3 Zeitableitungen werden der Kürze wegen seit Newton mit einem Punkt bezeichnet: d​x​ d​t​ ⏟



⏟ x​˙ N​e​w​t​o​n​

L​e​i​b​n​i​z​

4 Eckige Klammern bezeichnen die SI-Einheiten der entsprechenden Größen.

22

2 Mechanik des Massenpunktes

a​⇀= a​⇀(t​) = lim​

Δt​ % 0

Einheit: [a] = 1 m s

υ​⇀(t​ + Δt​) − υ​⇀(t​) d​υ⇀​ = = υ​⇀̇ = r​⇀̈ . Δt​ d​t​

(I-2.3)

−2

2.1.2 Die allgemeine Bewegung des MP Die Teilchengeschwindigkeit υ​⇀zeigt immer in Richtung der Tangente an die Bahnkurve s, aber die Beschleunigung a​⇀muss nicht in Bahnrichtung zeigen! e​⇀t​ ist der Einheitsvektor in Bahnrichtung (tangential), e​⇀n​ ist der Einheitsvektor in einer Richtung normal dazu. Für die Geschwindigkeit können wir daher υ​⇀= υ​ ⋅ e​⇀t​ schreiben und erhalten so für die Beschleunigung zwei Anteile: a​⇀=

d​υ⇀​ d​υ​ d​e⇀​t​ 5 = e​⇀t​ + υ​ = a​⇀t​ + a​⇀n​ . d​t​ d​t​ d​t​

(I-2.4)

s an(t2) at (t1 ) z

P1

P2

at (t2)

an(t1 )

y x Abb. I-2.2: Die Bahnkurve s des MP wird in jedem Punkt (hier gezeigt für P1 und P2 ) durch seine Tangential- und seine Normalbeschleunigung bestimmt.

Die Beschleunigung kann also immer in eine Komponente a​⇀t​ in Bahnrichtung und eine Komponente a​⇀n​ normal zur Bahn zerlegt werden (Abb. I-2.2). Dabei sind a​⇀t​ =

d​e⇀​t​

d​υ​ e​⇀t​ d​t​

die Tangentialbeschleunigung (Änderung des Betrags der Bahngeschwindigkeit) und

(I-2.5)

⊥ e​⇀t​ , da die Änderung jedes konstanten Vektors nur senkrecht zu seiner Richtung erfolgen d​t​ kann. Siehe auch: Berechnung der Normalbeschleunigung weiter unten.

5

23

2.1 Kinematik (kinematics)

a​⇀n​ = υ​

d​e⇀​t​ d​t​

die Normalbeschleunigung (Änderung der Geschwindigkeitsrichtung).

(I-2.6)

Berechnung der Normalbeschleunigung Der Ortsvektor sei als Funktion der Bogenlänge s = s(t) gegeben. Mit der ‚Kettenregel‘ gilt dann:

a​⇀n​ = υ​

⇀​t​ d​e⇀​t​ d​s​ 2 d​e = υ​ d​s​ ⏟⏟⏟⏟⏟ d​t​ d​s​ υ​

ds

v

s

v

dr

r

v v

r + dr

Abb. I-2.3: Ortsvektor r​⇀(t​) und Bogenlänge s(t).

Da d​r⇀in ​ die Richtung der Bahntangente weist und wir der Abb. I-2.3 entnehmen können, dass |d​r⇀​ | = d​s​ gilt, so können wir daraus den Einheitsvektor in Tangentend​r⇀​ richtung bilden: e​⇀t​ = . d​s​ Wir überlegen uns kurz die Differentiation eines Vektors konstanter Länge:

| u​ ⇀(s​) |

= const. ⇒ (u​⇀(s​))2 = const.

Es muss daher gelten 2 d​u⇀​ d​ (u​⇀) = 2u​⇀ = 0. d​s​ d​s​

Da u​⇀≠ 0 und

d​u⇀​ d​u⇀​ ≠0 ⇒ ⊥ u​⇀. d​s​ d​s​

24

2 Mechanik des Massenpunktes

Das heißt, wenn wir einen Vektor konstanter Länge differenzieren, dann steht sein Differentialquotient auf dem Vektor normal. Dies ist auch geometrisch verständlich: Alle Endpunkte eines konstanten Vektors liegen auf einer Kugeloberfläche. Die Ableitung kann nur die Richtung ändern und die Änderung muss daher eine Tangente zur Kugeloberfläche sein, also auf dem Vektor normal stehen. Daher gilt für den Tangenteneinheitsvektor e​⇀t​ : d​e⇀​t​ d​e⇀​t​ ⊥ e​⇀t​ ⇒ // e​⇀n​ , d​s​ d​s​

also

d​e⇀​t​ d​e⇀​t​ = | | ⋅ e​⇀n​ . d​s​ d​s​

Der Normaleneinheitsvektor e​⇀n​ ist immer nach der konkaven Seite der Bahnkurve, also zu ihrem Krümmungsmittelpunkt M hin gerichtet.



Rektifizierende Ebene et dφ P1 P2

P

s

ds





en

 

e t + de t



en + den

ρ



de t

s



Schmiegebene Normalebene

•M

Abb. I-2.4: Rektifizierende Ebene: steht ⊥ e​⇀n​ . Schmiegebene: wird von e​⇀t​ und d​e⇀​t​ aufgespannt. Normalebene: steht ⊥ e​⇀t​ .

Aus der Abb. I-2.4 ergibt sich ds = ρ dφ, ρ … Radius des Krümmungskreises um M, und außerdem |d​e⇀​t​ | = d​φ​.

⇒|

1 d​e⇀​t​ |= d​s​ ρ​

und wir erhalten

und

2 d​e⇀​t​ e​⇀n​ d​e⇀​t​ d​ r​⇀ d​ d​r⇀​ = ( )= = | | ⋅ e​⇀n​ = 2 d​s​ d​s​ d​s​ d​s​ ρ​ d​s​

25

2.1 Kinematik (kinematics)

⇀n​ = υ​ a​ _

Für die Krümmung (curvature) k​ =

d​e⇀​t​ d​s​ υ​ 2 = e​⇀n​ . d​s​ d​t​ _ ρ​

d​φ​

=|

d​s​

1 k​ = = ρ​

2

d​ 2 r​⇀ ( ) = 2 d​s​



2

d​ 2 x​

√(d​s​ ) 2

+(

d​ 2 y​ d​s​

2

(I-2.7)

d​e⇀​t​ d​ 2 r​⇀ 1 | = | 2 | = gilt ρ​ d​s​ d​s​ 2

) +(

d​ 2 z​ d​s​

2

2

)

Krümmung der Bahnkurve.

(I-2.8)

Damit erhalten wir den Beschleunigungsvektor für die allgemeine, krummlinige Bewegung:

a​⇀(t​) =

d​υ​ d​t​

e​⇀t​ +

υ​ 2 ρ​

e​⇀n​ ,

mit dem Betrag

|

a​⇀| = a​ = √(

d​ υ​

2

) +

d​t​

υ​ 4 ρ​

2

(I-2.9)

Der Beschleunigungsvektor a​⇀(t​) liegt also immer in der Schmiegebene!

2.1.3 Spezielle Bewegungen d​υ⇀​ = 0. d​t​

1.

Die unbeschleunigte Bewegung, a​⇀=

2.

⇒ υ​⇀= const., d. h. Betrag und Richtung der Geschwindigkeit bleiben konstant, es handelt sich um eine gleichförmig geradlinige Bewegung. Die gleichförmig beschleunigte Bewegung, a​⇀= a​⇀0 = const. (z. B. Beispiel: freier Fall und „schiefer Wurf“ im Erdschwerefeld, Abb. I-2.5). Die erste Integration ergibt die Geschwindigkeit: υ​⇀(t​) = a​⇀0 ∫d​t​ = a​⇀0 t​ + υ​⇀0 .

(I-2.10)

Die Integrationskonstante υ​⇀0 folgt aus der Anfangsbedingung bei t​ = 0: υ​⇀(0) = υ​⇀0 . Die zweite Integration ergibt den augenblicklichen Aufenthaltsort des Teilchens: r​⇀(t​) = ∫υ​⇀d​t​ = a​⇀0 ∫t​ d​t​ + υ​⇀0 ∫d​t​ =

1 2 a​⇀0 t​ + υ​⇀0 t​ + r​⇀0 . 2

(I-2.11)

26 y

2 Mechanik des Massenpunktes

υ0



at1

 a

a0

 r (t )  r (t ) 1

n1



a0

2



at2



an2

x Abb. I-2.5: Der „schiefe Wurf“ im Erdschwerefeld als Beispiel einer gleichförmig beschleunigten Bewegung.

3.

Es treten zwei Integrationskonstanten auf, die Anfangsgeschwindigkeit υ​⇀0 und die Anfangslage r​⇀0 . Die Bahnkurve liegt stets in der von a​⇀0 und υ​⇀0 aufgespannten Ebene und ist im allgemeinen Fall (schiefer Wurf) eine quadratische Parabel, bei der sich in jedem Punkt r(t) die Tangential- und die Normalbeschleunigung zum konstanten a​⇀0 zusammensetzen. Nur wenn die Richtung der Anfangsgeschwindigkeit υ​⇀0 mit der der Beschleunigung zusammenfällt (senkrechter Wurf nach oben oder nach unten), resultiert eine lineare Bewegung mit a​⇀n​ = 0 (Krümmungsradius ρ = ∞). Die allgemeine Kreisbewegung (bei fester Richtung der Achse). Auch hier gilt wie bei der allgemeinen Bewegung (Gl. I-2.9): a​⇀(t​) = a​⇀t​ + a​⇀n​ =

d​υ​ υ​ 2 e​⇀t​ + e​⇀n​ , d​t​ R​

aber mit dem festen Bahnradius R. Aus der Abb. I-2.6 sehen wir: υ​ = |υ​⇀| =

Dabei ist ω​⇀=

d​s​ d​φ​ = R​ = R​ω​. d​t​ d​t​

(I-2.12)

d​φ⇀​ d​φ​ e​⇀ω​ die Winkelgeschwindigkeit (φ​⇀… orientierter Winkel, = d​t​ d​t​

Vektor in Richtung der Achse), die auf der Ebene der Bahnkurve normal steht. rad −1 =s . Einheit: [ω​] = 1 s

2.1 Kinematik (kinematics)



27



dφ ω = ___ eω dt



 ω



P2

ʋ

φ



s

et

φ

 ʋ

R

 r

 r (t )

P1

en

1

θ

O Abb. I-2.6: Zur allgemeinen Kreisbewegung.

Es gilt weiter: R​ = |r​⇀|sin θ​ und damit

⇒ υ​ = ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ω​ ⋅ |r​⇀| ⋅ sin θ​

(I-2.13)

B​e​t​r​a​g​ e​i​n​e​s​ V​e​k​t​o​r​p​r​o​d​u​k​t​s​

Da außerdem υ​⇀senkrecht auf ω​⇀und r​⇀steht, folgt also für die Geschwindigkeit bei der allgemeinen Kreisbewegung υ​⇀=

d​r⇀​ = ω​⇀× r​⇀= ω​ ⋅ R​ ⋅ e​⇀t​ . d​t​

(I-2.14)

28

2 Mechanik des Massenpunktes

Durch Differenzieren ergibt sich die Beschleunigung der Kreisbewegung 6: a​⇀(t​) = ω​⇀̇ × r​⇀+ ω​⇀× ω​⇀̇ × r​⇀ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

=

d​r⇀​ = ω​⇀̇ × r​⇀+ ω​⇀× υ​⇀= d​t​

+

ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀) ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

=

2

d​ φ​

e​⇀ω​ R​ ⋅ e​⇀t​

d​t​ 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

⇀× (ω​R​ ⋅ e​⇀t​ ) = ω​ 2 R​ (e​⇀ω​ × e​⇀t​ ) = ω​ 2 R​ ⋅ e​⇀n​ ω​

ω​̇

=

ω​̇ R​ ⋅ e​⇀t​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ T​a​n​g​e​n​t​i​a​l​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​ a​t​

2

+

R​ω​ ⋅ e​⇀n​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

(I-2.15)

Z​e​n​t​r​i​p​e​t​a​l​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​ a​n​

4. Die gleichförmige Kreisbewegung, a​⇀t​ = ω​̇ R​ ⋅ e​⇀t​ = 0 . 2 ⇒ ω = const. Aber es bleibt a​⇀= a​⇀n​ = R​ω​ e​⇀n​ =

υ​ 2 e​⇀n​ , R​

(I-2.15a)

die Zentripetalbeschleunigung. 1

Die Kreisbewegung ist immer eine beschleunigte Bewegung! Wenn bei der Kreisbewegung eines Teilchens die Zentripetalbeschleunigung plötzlich verschwindet, folgt die Bahn der Augenblicksgeschwindigkeit des Teilchens, das heißt, das Teilchen verlässt die Kreisbahn tangential und nicht radial nach außen. Dies kann sehr schön mit dem ‚sprühenden Schleifstein‘ gezeigt werden.

4

Feile

Funke

Die sprühenden Funken sind glühende Metallpartikel der Feile, die auf die Umlaufgeschwindigkeit der Schleifscheibe beschleunigt wurden. Sobald die Zentripetalbeschleunigung – ausgeübt durch den Druck der Feile − nicht mehr auf sie wirkt, verlassen sie die Schleifscheibe tangential, also in der Richtung der augenblicklichen Bahngeschwindigkeit. Würden wir auf der Scheibe ‚sitzen‘, könnten wir die Teilchen radial nach außen fliegen sehen: im rotierenden System wirkt die Zentrifugalkraft.

6 Da ω​⇀hier eine feste Richtung hat (senkrecht zur Kreisbewegung), gilt ω​⇀̇ //ω​⇀. Das ist bei der Kreiselbewegung (siehe Kapitel „Mechanik des starren Körpers“, Abschnitt 3.4) nicht der Fall!

2.2 Dynamik (dynamics)

29

Die Wirkung der Zentripetalbeschleunigung kann auch mit der „laufenden Kette“ demonstriert werden. Eine Kette wird auf eine Holzscheibe aufgezogen und auf schnelle Umdrehung gebracht. Dann wird sie von der Scheibe seitwärts herunter geworfen: Sie läuft wie ein stabiles Rad weiter und kann sogar über Hindernisse springen. Da die Zentripetalbeschleunigung proportional zu 2 υ /R ist, kann man das sogar mit einer langen Kette zeigen, die nur teilweise auf der Holzscheibe liegt, deren unterer Krümmungsradius aber deutlich kleiner ist. Auch sie ist sehr stabil, wenn sie eine hohe Umlaufgeschwindigkeit hat und kann ‚laufen‘. Zum Verständnis dieses Versuches ist zu beachten, dass es sich hier nicht um einen rotierenden starren Körper handelt (vergleiche Kapitel 3), sondern dass jedes Kettenglied einem umlaufenden MP entspricht. Dann muss auf jedes Kettenglied die für die Kreisbewegung erforderliche Zentripetalkraft wirken. Diese kann nur durch die Wechselwirkung mit den benachbarten Kettengliedern hervorgerufen werden, wozu eine Spannkraft längs der rotierenden Kette aufgebaut werden muss. Diese Spannkraft stabilisiert die rotierende Kette (dynamisch stabilisiertes System).7

2.2 Dynamik (dynamics) In der Dynamik fragen wir nach den Ursachen von Bewegungen, also: Woher kommen die Beschleunigungen? Die Antwort gab schon Newton: Kräfte seien die Ursache von Beschleunigungen. Aber was sind Kräfte? Es sind bestimmte objektive Konstellationen der einen Massenpunkt umgebenden Materie, die ihn zu einer beschleunigten Bewegung veranlassen können; man spricht von einer „Wechselwirkung“ (WW) des Teilchens mit der umgebenden Materie.

7 Im rotierenden System der Kette tritt, wie wir später im Abschnitt 2.3.3 sehen werden, die Zentrifugalbeschleunigung auf, die die Kettenspannung bewirkt.

4

30 1

2 Mechanik des Massenpunktes

Die Ursache für Änderungen des Bewegungszustandes eines Körpers liegt in seiner Wechselwirkung mit der ihn umgebenden Materie. Aufgrund ihrer Wechselwirkungsnatur treten Kräfte stets paarweise auf. Die Beschreibung dieser Wechselwirkung des Körpers (hier der MP) mit seiner Umgebung führt zum Konzept der Kraft ( force): Wenn eine Kraft am Körper angreift, so ändert er seinen Bewegungszustand. Greift keine resultierende Kraft an, so ist der Körper ‚kräftefrei‘ (z. B. ein ‚freies Teilchen‘) und er ändert seinen Bewegungszustand nicht. Manchmal wird eine Kraft materiell auf einen Körper übertragen, etwa durch eine Feder oder durch die Gasmoleküle beim Schall oder in thermischen Maschinen (Turbine, Verbrennungsmotor). Bei der Wechselwirkung durch Gravitation oder der elektromagnetischen Wechselwirkung trifft das nicht zu, es ist in diesen Fällen kein Medium zur Kraftübertragung nötig, diese Kräfte wirken auch im Vakuum 8. Dies führt zum Konzept des Kraftfeldes ( force field): Jedem Raumpunkt wird eine Kraft (Größe und Richtung) zugeordnet, wodurch jeder Raumpunkt zum Sitz einer Kraftwirkung wird. Der Raum wird also durch die vorhandene Materie physikalisch strukturiert und so zum Träger von Energie und Impuls. Die Kraftwirkungen des Feldes müssen nach Größe und Richtung durch einen Vektor, die Feldstärke F​⇀, festgelegt werden. Die Kraft F​⇀auf einen MP ergibt sich dann aus dem Produkt der Feldstärke F​⇀und der Masse m des MP: F​⇀= m​ ⋅ F​⇀. Die Feldstärke ist also gleich der Kraft auf die Masseneinheit (ganz allgemein auf die Einheit jenes ‚Agens‘, das der Feldstärke zugrunde liegt, z. B. Masse, elektrische Ladung, etc.). Im Fall eines Nichtgleichgewichtszustandes (dynamischer Fall) breiten sich die Kraftwirkungen, also die Felder, mit der Grenzgeschwindigkeit c aus. Die Kraftwirkung unter der Vermittlung des den Raum erfüllenden Feldes bezeichnen wir als Nahwirkung: Die Kraft auf einen MP wird nur durch die Eigenschaften seiner unmittelbaren Umgebung, also der Feldstärke, hervorgerufen. Im Gegensatz dazu steht die alte, heute nicht mehr akzeptierte Fernwirkung, bei welcher die Kraftwirkung zwischen den Teilchen den dazwischen liegenden Raum unendlich schnell überspringen kann.9 Wir haben bereits die vier fundamentalen Wechselwirkungen als Ursache der Kräfte kennen gelernt:

8 Letzten Endes sind aber auch die Feder- und Stoßkräfte elektromagnetischer Natur! 9 Das Paradebeispiel dafür ist das Newtonsche Gravitationsgesetz (die Zeit als universelle Größe!). Allerdings kann im statischen und quasistatischen Fall (υ ≪ c) immer noch mit den bequemen Fernwirkungsausdrücken des Newtonschen und Coulombschen Gesetzes gerechnet werden, dann ist keine Retardierung nötig (zur Retardierung siehe auch Band III, Kapitel „Wechselstromkreis und elektromagnetische Schwingungen und Wellen“, Abschnitt 5.3).

31

2.2 Dynamik (dynamics)

Wechselwirkung

Kopplungskonstante

Reichweite

−41

Gravitation

10

elektromagnetische WW

1/137 (Feinstrukturkonstante)



starke WW

≌1

≌ 10

schwache WW

10



−15

≌ 10

−15 −18

m = 1 fm m = 1 am

Die Kopplungskonstante beschreibt die ‚Stärke‘ der Wechselwirkung. Ein Vergleich der Gravitation und der elektromagnetischen WW ergibt: Die elektrische Absto36 ßung zweier Protonen ist 10 mal größer als ihre Massenanziehung. Wir können daher in vielen Fällen der Teilchenphysik die Gravitationswirkung vernachlässigen. Andererseits ist im Alltag die elektromagnetische WW oft gegen die Gravitation vernachlässigbar, da die Ladungen abgeschirmt sind (Atome sind neutral). Beispiel: Wir berechnen das Verhältnis zwischen der Massenanziehung zweier Protonen und ihrer Coulomb-Abstoßung. G​

Massenanziehung: F​ P​ − P​ = γ​

m​P​ m​P​ r​ 2

, C​

Elektromagnetische WW (Coulombkraft): F​ P​ − P​ = −27

mP = 1,67⋅10

kg ,

−11

γ = 6,67⋅10

−19

Ladung des Protons e = 1,60⋅10

3

1 q​P​ q​P​ , 4 π​ ε​0 r​ 2

−1 −2

m kg s ,

C,

9

2

−2

1/(4 π ε0) = 8,99⋅10 Nm C .

G​



F​ P​ − P​ C​

= 0,8 ⋅ 10

− 36

.

F​ P​ − P​

2.2.1 Die Newtonschen Axiome und der Impuls (momentum) Wir definieren nach Newton (Sir Isaac Newton, 1643–1727) zunächst eine Größe, die den Bewegungszustand eines Teilchens charakterisiert und nennen sie Impuls 10 oder Bewegungsgröße p​⇀(linear momentum): p​⇀= m​ ⋅ υ​⇀.

(I-2.16)

−1

Einheit: [ p] = 1 kg m s

10 Genauer: linearer Impuls; Newton nannte den Ausdruck ‚motus‘ = Bewegung, siehe auch Abschnitt 2.2.3.

32

2 Mechanik des Massenpunktes

1. Axiom (Trägheitssatz, law of inertia, Newton 1, lex prima) 1

Der Impuls eines freien Teilchens ist zeitlich konstant. Wenn also keine Kraft auf das Teilchen wirkt (freies Teilchen), so verharrt es in seinem augenblicklichen Bewegungszustand, d. h. es ruht oder bewegt sich gleichförmig geradlinig. Wesentlich ist hier, dass für die Gültigkeit des Trägheitssatzes ein bestimmtes Bezugssystem ( frame of reference) 11 gewählt werden muss. Der Trägheitssatz gilt nämlich nicht in allen Bezugssystemen, die möglich sind. Wir bezeichnen als Inertialsystem (inertial frame of reference) ein Bezugssystem, in dem der Trägheitssatz gilt. Ein als Inertialsystem benütztes Bezugssystem darf nicht beschleunigt sein, also z. B. nicht rotieren, da in diesem System ein freies Teilchen eine Beschleunigung zeigt, der Trägheitssatz also nicht gilt.

2. Axiom (Bewegungsgleichung, equation of motion, Newton 2, lex secunda) 1

Die Kraft ist die Ursache der Impulsänderung. und quantitativ: d​p⇀​ F​⇀= = p​⇀̇ . d​t​

(I-2.17)

−2

Einheit: [F] = 1 kg m s = 1 N (Newton) 12 Die Kraft F​⇀wird also über die Bewegungsänderung definiert, die sie bewirkt. Dabei ist unter F​⇀die Summe aller auf das Teilchen wirkenden Kräfte zu verstehen. Wir sehen sofort, dass in einem Inertialsystem der Trägheitssatz aus der Bewegungsgleichung unmittelbar folgt: F​⇀= p​⇀̇ = 0 ⇒ p​⇀= const. In der Kern- und Elementarteilchenphysik gibt es Prozesse, bei denen Masse in Energie umgewandelt wird und umgekehrt. Wenn wir davon absehen, die Masse also konstant bleibt (m = const.), können wir schreiben:

11 Oder ein ihm gleichwertiges: Gleichförmig geradlinig zueinander bewegte Systeme sind gleichwertige Inertialsysteme. 12 1 Newton (1 N) heißt jene Kraft, die der Einheitsmasse von 1 kg eine Beschleunigung von −2 1 m s erteilt.

2.2 Dynamik (dynamics)

F​⇀= m​ ⋅ a​⇀. 13

33 (I-2.18)

Wir lesen die Bewegungsgleichung so: Die wirkende Kraft (linke Seite der Gleichung) führt zu einer beschleunigten Bewegung des MP (rechte Seite). Die Newtonsche Bewegungsgleichung wird mit dem ‚Maxwellschen Rad‘ demonstriert. An einer Balkenwaage hängt am rechten Balken ein massives Rad, das auf zwei auf der dünnen Radachse aufgewickelten Fäden abrollen kann. Es ist anfangs bis knapp unter den Waagebalken aufgerollt und dort mit einem Bindfaden fixiert. Am linken Balken hängt zur Dämpfung eine in einem Metallteller ruhende Metallkugel in einen mit Glyzerin gefüllten Zylinder. Die Waage ist anfänglich im Gleichgewicht, das heißt, die Gewichtskraft der Massen am linken Balken ist gleich der Gewichtskraft, die auf das Rad wirkt (kein Drehmoment). Auch die wirkende Gesamtkraft ist anfänglich null, da die Gewichtskräfte durch die Aufhängung des Waagebalkens kompensiert werden. Wird der Faden durchgebrannt, so beginnt sich das Rad beschleunigt in der Richtung der Schwerkraft zu bewegen (abzurollen). Das Rad hängt jetzt nicht mehr mit seinem gesamten Gewicht am Waagebalken, da ein Teil der Gewichtskraft zur Beschleunigung verwendet wird, die wegen der Rotation des Rades kleiner als g​⇀ist. Die Waage schlägt daher nach der Gegenseite aus. Wenn das Rad vollständig abgerollt ist, wickelt sich das Seil in der Gegenrichtung auf, die Geschwindigkeit dreht daher bei gleich bleibendem Betrag ihre Richtung um. Die Reaktionskraft reißt den Waagebalken kurzfristig nach unten. Aus Trägheitsgründen (Rotationsenergie, siehe Kapitel „Mechanik des starren Körpers“, Abschnitt 3.3.3) spult sich das Rad dann wieder auf, jetzt aber mit sich verlangsamender Geschwindigkeit, also negativer Beschleunigung, die also wieder nach unten weist. Die Wirkung auf die Waage ist beim Aufspulen daher die gleiche wie beim Abspulen, die Waage schlägt wieder auf die Seite der Dämpfungseinrichtung aus.

Waage im Gleichgewicht, Rad noch fixiert

Rad bewegt sich beschleunigt nach unten, der Zeiger schlägt nach rechts aus

Rad bewegt sich verlangsamt nach oben, der Zeiger schlägt wieder nach rechts aus

Man kann die Bewegungsgleichung umschreiben und so eine andere Sicht gewinnen:

d​p⇀​ gilt auch in der Relativitätstheorie, während die Beziehung 13 Die Ausgangsgleichung F​⇀= d​t​ ⇀ F​ = m​ ⋅ a​⇀im Allgemeinen nicht mehr gilt, da die Beschleunigung a​⇀im Allgemeinen nicht mehr in Richtung der wirkenden Kraft erfolgt (vergleiche Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“, Abschnitt 3.10.3).

4

34

2 Mechanik des Massenpunktes

a​⇀=

1 ⇀ F​ , m​

(I-2.19)

je größer also die Masse m ist, desto kleiner ist bei gegebener Kraft die Beschleunigung. Die Masse eines Körpers setzt also einer Bewegungsänderung einen Widerstand entgegen. Diese träge Masse mt ist daher ein Maß für das Beharrungsvermögen des Körpers. Wir schreiben also: F​⇀= m​t​ a​⇀. Andererseits erfährt jeder Körper mit der trägen Masse mt eine ‚Gewichtskraft‘ F​⇀G​ im Erdschwerefeld, die von der Substanzmenge und gemäß dem Newtonschen Gravitationsgesetz (siehe Anhang 1 ‚Gravitation und Planetenbewegung‘, A1.1: Das Gravitationsgesetz) von der Erdanziehung, also von g​⇀abhängt: F​⇀G​ = m​s​ g​⇀.

(I-2.20)

g​⇀ist also die Feldstärke F​⇀im Erdschwerefeld. Hier ist ms die schwere Masse (gravitational mass) und g​⇀= 9,81 m s−2 die Erdbeschleunigung (gravitational acceleration) an der Erdoberfläche. Die Einheit der schweren Masse (1 kg) wird durch einen Pt-Iridium Zylinder repräsentiert, der in Sévre (bei Paris) aufbewahrt wird. An einer physikalisch definierten Masseneinheit wird gearbeitet. Die Messung der schweren Masse erfolgt durch Gewichtsvergleich mit der Waage. Nehmen wir einen Körper mit dem Gewicht F​⇀G​ = m​s​ g​⇀und lassen ihn fallen, so fällt er gemäß dem 2. Newtonschen Axiom beschleunigt: F​⇀G​ = m​s​ g​⇀= m​t​ a​⇀. Die beobachtete Fallbeschleunigung ist also: a​⇀=

m​s​ g​⇀. m​t​

Sehr genaue Experimente, die schon von Newton mittels Pendelmessungen begonnen und schließlich 1909 von Eötvös (Loránd Eötvös, 1848–1919) und später 1964 von Dicke (Robert Henry Dicke, 1916–1997) verfeinert wurden (siehe Anhang 1 ‚Gravitation und Planetenbewegung‘, A1.4: Bestimmung der Gravitationskonstante), haben ergeben, dass am gleichen Ort der Erdoberfläche alle Körper gleich schnell fallen, dass also die Fallbeschleunigung keine Körpereigenschaft ist. Es ergibt sich daher m​s​ =1 m​t​

(I-2.21)

35

2.2 Dynamik (dynamics)

als universelle Konstante. Das ist das Gesetz von der Äquivalenz der trägen und schweren Masse 14. Sind träge Masse mt und schwere Masse ms gleich, dann folgt aus dem Newtonschen Gravitationsgesetz (siehe Anhang A1.1), dass alle Körper gleich schnell fallen. Beispiel: Die Äquivalenz von träger und schwerer Masse ergibt sich erst durch den experimentellen Befund, dass alle Körper gleich schnell fallen. Das Newtonsche Gravitationsgesetz lautet (siehe Anhang A1.1): |

m​1 m​2 F​⇀| = γ​ . r​ 2

Wir lassen einen Körper mit der Masse mK an der Erdoberfläche (Erdmasse mE ) m​Ks​ ​ m​E​ t​ t​ s​ . Für m​K​ = m​K​ fällt die Masse des Körpers aus der fallen: m​K​ a​⇀= γ​ 2 r​ Gleichung und es gilt: a​⇀= g​⇀= γ​

m​E​ r​

2

= 6,6726 ⋅ 10− 11 ⋅

5,975 ⋅ 1024 6 2

= 9,807 m s−2 .

(6,376 ⋅ 10 )

−2

Zum Vergleich: Normwert der Fallbeschleunigung gn = 9,80665 m s exakt. Der experimentelle Befund, dass alle Körper gleich schnell fallen, ist der Ausgangspunkt für die allgemeine Relativitätstheorie. Hier geht es um die Ununterscheidbarkeit zwischen der Kraftwirkung auf einen im Gravitationsfeld ruhenden Körper und jener auf einen Körper in einem gleichförmig beschleunigten Bezugssystem weit außerhalb jeder Gravitationswirkung. Das Einsteinsche Äquivalenzprinzip (nach Albert Einstein, 1879–1955) sagt, dass ein homogenes Gravitationsfeld völlig äquivalent zu einem gleichförmig beschleunigten Bezugssystem ist. Diese Aussage wird durch das Gedankenexperiment mit einem geschlossenen Fahrstuhl versinnbildlicht: Es ist für einen Beobachter im Fahrstuhl ununterscheidbar, ob der Fahrstuhl in einem Gravitationsfeld ruht oder ob er sich ohne jegliche Gravitationswirkung gleichförmig beschleunigt nach oben bewegt. Die Ergebnisse physikalischer Experimente sind gleich. Das ist der Ausgangspunkt für Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, in der die Massenanziehung durch lokale Beschleunigungsfelder als Folge einer Raumkrümmung erklärt wird, die durch die Massenverteilung verursacht wird (Krümmung der Raum-Zeit). −12

14 Die relative Abweichung der schweren von der trägen Masse wird heute kleiner als 10 angenommen. Der experimentelle Befund der Äquivalenz (= Gleichheit) von träger und schwerer Masse wurde später von Einstein zum Prinzip (Axiom) erhoben, dem Einsteinschen Äquivalenzprinzip der allgemeinen Relativitätstheorie.

36

2 Mechanik des Massenpunktes

3. Axiom (actio = reactio, Newton 3, lex tertia) Wir nennen ein physikalisches System abgeschlossen, wenn auf die in ihm enthaltenen Massenpunkte nur innere Kräfte, aber keine Kräfte von außen einwirken. Es gilt dann das 3. Newtonsche Axiom, das besonders für Systeme von MP wichtig ist (siehe Abschnitt 2.4 ‚Massenpunktsysteme und Erhaltungssätze‘):

1

In einem abgeschlossenen System treten Kräfte nur paarweise mit entgegengesetzter Wirkung auf. In einem abgeschlossenen System ist daher die Summe aller Kräfte gleich Null.

2.2.2 Bahndrehimpuls und Drehmoment Ein Teilchen bewege sich mit dem Impuls p​⇀= m​ ⋅ υ​⇀auf einer Bahn r​⇀(t​).



L

O



s

r (t)





p (t) = m⋅ʋ(t) m(MP)



ϵ(r ,p ) Abb. I-2.7: Zum Bahndrehimpuls L​⇀eines Teilchens auf der Bahn r​⇀(t​) .

Wir definieren als Bahndrehimpuls (angular momentum) L​⇀in Bezug auf den Koordinatenursprung O (Abb. I-2.7): L​⇀= r​⇀× p​⇀= m​(r​⇀× υ​⇀) 2

Bahndrehimpuls.

(I-2.22)

−1

Einheit: [L] = 1 kg m s = 1 Js. Entsprechend der Definition des Vektorprodukts steht L​⇀ senkrecht auf r​⇀und p​⇀. Liegt die Bewegung des Teilchens in einer Ebene ε​ (r​⇀, p​⇀) mit dem Koordinatenursprung, so zeigt L​⇀immer in die gleiche Richtung.

2.2 Dynamik (dynamics)

37

Wir bilden die zeitliche Ableitung des Bahndrehimpulses und achten dabei auf das Vektorprodukt:

d​r⇀​ d​p⇀​ d​L⇀​ ⇀̇ × p​⇀ + r​⇀× . = L​ = ⏟ ⏟ d​t​ d​t​ d​t​ υ​⇀// p​⇀ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

F​⇀

=0

⇀ heißt Drehmoment (moment of a force) der Kraft in Bezug auf den Ur(r​⇀× F​⇀) = D​ sprung O. Es bewirkt eine Änderung des Drehimpulses L​⇀analog zur Änderung des linearen Impulses p​⇀durch eine Kraft p​⇀̇ = F​⇀: ⇀ = r​⇀× F​⇀= L​⇀̇ . D​

(I-2.23)

Einheit: [D] = 1 Nm = 1 J. Das ist unter anderem wichtig für die Planetenbewegung und die Keplerschen Gesetze (nach Johannes Kepler, 1571–1630).

1. Keplersches Gesetz Die Planeten bewegen sich in einem Zentralkraftfeld, dem Gravitationsfeld der Sonne, bei dem die Kraft ständig auf einen Punkt weist, in diesem Fall dem Massenmittelpunkt der Sonne, und bei dem der Betrag der wirkenden Zentralkraft nur eine Funktion des Abstands von diesem Punkt ist. Wenn wir den Ursprung unseres Koordinatensystems in die Sonne legen, ist der Ortsvektor zu einem Planeten antipa⇀ = 0 ⇒ L​⇀= const. Die Planetenbewegung erfolgt rallel zur Zentralkraft und es gilt D​ also in einer Ebene senkrecht zu L​⇀und es lässt sich zeigen, dass ihre geschlossenen Bahnkurven Ellipsen sind 15 (siehe Anhang A1.2: Das Keplerproblem).

2. Keplersches Gesetz (Flächensatz) Es gilt für eine Zentralkraft:

r​⇀× m​

2 d​ 2 r​⇀ d​ r​⇀ ⇀× = m​ ⋅ r​ =0 d​t​ 2 d​t​ 2 ⏟⏟⏟⏟⏟

⇒ ⏟ m​ ≠ 0

r​⇀×

d​ 2 r​⇀ =0 d​t​ 2

F​⇀[Y r​⇀

15 Im Falle des Newtonschen Gravitationsgesetzes ergibt sich als Bahnkurve eine Ellipse mit der Sonne in einem Brennpunkt, falls die Gesamtenergie des Systems negativ ist, es sich also um einen gebundenen Zustand handelt (siehe Anhang A1.2). Kometen, die ja nicht an die Sonne gebunden sind (E​ > 0), beschreiben Hyperbelbahnen.

38

2 Mechanik des Massenpunktes

und durch Integration r​⇀×

d​r⇀​ = 2 c​⇀= const. d​t​

(I-2.24)

weil d​ d​t​

(r​⇀×

d​ 2 r​⇀ d​r⇀​ d​r⇀​ d​r⇀​ + r​⇀× 2 = 0. )= × d​t​ d​t​ d​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ d​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ =0

=0

A





dr

r

 

s

r + dr

 

r × dr

Abb. I-2.8: Zum 2. Keplerschen Gesetz (Flächensatz).

Aus Abb. I-2.8 ist zu sehen: 2 A​ = |r​⇀× d​r⇀​ | .

Nach der Zeit differenziert erhalten wir

d​A⇀​ 1 d​r⇀​ = (r​⇀× ) = c​⇀, das ist die vom d​t​ 2 d​t​

Radiusvektor (dem Brennstrahl) in der Zeiteinheit überstrichene (orientierte) d​A⇀​ nennt man die Flächengeschwindigkeit, sie ist bei der ZentralkräfteFläche. c​⇀= d​t​ bewegung zeitlich konstant.

3. Keplersches Gesetz Das 3. Keplersche Gesetz, welches die Umlaufzeit eines Planeten mit der großen Halbachse a seiner Bahnellipse in Beziehung setzt, T​ 2 = k​ ⋅ a​ 3, wobei k eine Konstante des Planetensystems ist, wird in Anhang A1.2 besprochen. Wir betrachten auch noch den Bahndrehimpuls eines Teilchens, das sich auf einer geraden Bahn bewegt (Abb. I-2.9):

2.2 Dynamik (dynamics)

MP

39





ʋ(t)

r (t)

b



L

θ P

Abb. I-2.9: Zum Bahndrehimpuls L​⇀eines Teilchens auf geradliniger Bahn.

Für den Bahndrehimpuls in Bezug auf den Beobachtungspunkt P gilt nach obiger Definition: L​⇀= m​ (r​⇀× υ​⇀) ⊥ auf der von υ​⇀und P gebildeten Ebene (hier in die Papierebene hinein). Für seinen Betrag erhalten wir entsprechend der Abb. I-2.9: |

b​ L​⇀| = m​ ⋅ r​ ⋅ υ​ ⋅ sin θ​ = m​ ⋅ r​ ⋅ υ​ = m​ ⋅ b​ ⋅ υ​ . r​

(I-2.25)

2.2.3 Kraftstoß, Arbeit und Energie, Leistung Wenn eine Kraft eine gewisse Zeit auf ein Teilchen einwirkt, ergeben sich zwei Ansätze: 1. Wir multiplizieren die Kraft mit der Zeit, in der sie wirkt 2. Wir multiplizieren die Kraft mit der Verschiebung des MP, die sie hervorruft. ad 1: Zuerst bilden wir das Zeitintegral einer veränderlichen Kraft (Kraftstoß) durch Aufsummieren der Produkte aus Momentankraft und Zeitelement (Abb. I-2.10): t​2

∫F​⇀(r​⇀)d​t​ t​1

t​2

= ∫m​ t​1

d​ 2 r​⇀ d​r⇀​ d​r⇀​ d​t​ = m​ ( ) − m​ ( ) = m​ (υ​⇀2 − υ​⇀1 ) = p​⇀2 − p​⇀1 . 2 d​t​ t​2 d​t​ t​1 d​t​

F t2

∫ F dt = p(t2) − p(t1) t1

t1

t2

t

Abb. I-2.10: Der Kraftstoß ist das Zeitintegral der Kraft.

(I-2.26)

40

2 Mechanik des Massenpunktes

Der Kraftstoß (= Zeitintegral der Kraft) stellt also die gesamte Änderung des Impulses während der Zeit t2 − t1 dar. Gilt für den anfänglichen Impuls p​⇀1 = 0 , ist also υ​⇀1 (t​ = 0) = 0 , so wird t​2

∫F​⇀d​t​

= m​ υ​⇀= p​⇀.

(I-2.27)

t​1

1

Der Impuls (Bewegungsgröße, linear momentum) ist also gleich jenem Kraftstoß, der den gestoßenen Massenpunkt aus der Ruhe auf die Geschwindigkeit υ​⇀ bringt. ad 2: Wir betrachten jetzt wieder die Bahnkurve, die ein Teilchen unter der Einwirkung einer Kraft beschreibt (Abb. I-2.11). s

 



dr = ʋdt

ʋ2

P2





ʋ1 P1

F (r )



z

r (t) x

O

y

Abb. I-2.11: Zur Definition der Arbeit: Bahnkurve eines Teilchens unter der Einwirkung einer Kraft.

Wir definieren als Arbeit dW der Kraft F​⇀ am Teilchen bei einer Verschiebung um d​r⇀das ​ Skalarprodukt d​W​ = F​⇀⋅ d​r⇀, ​

(I-2.28)

also ‚Kraft mal Verschiebung in Richtung der Kraft‘ oder ‚Verschiebung mal Kraft in Richtung der Verschiebung‘. Die Arbeit ist positiv, wenn F​⇀und d​r⇀einen ​ spitzen Winkel bilden (cos​ (r​⇀,d​r⇀​ ) < 1). Um das Teilchen von P1 nach P2 zu verschieben, verrichtet die Kraft also die Arbeit P​2

W​ = ∫F​⇀d​r⇀.​ P​1

(I-2.29)

2.2 Dynamik (dynamics)

41

Einheit: [W ] = 1 Nm = 1 J ( Joule, nach James Prescott Joule, 1818–1889, sprich: ‚tschul‘). 1

Die Arbeit am Teilchen ist das Wegintegral der Kraft. Es wird über die Skalarprodukte der Vektoren F​⇀ und d​r⇀aufsummiert, ​ daher verschwindet das Wegintegral der Kraft, also die Arbeit, wenn die wirkende Kraft F​⇀ normal auf der Verschiebung d​r⇀steht. ​ Wir berechnen jetzt unter Verwendung des 2. Newtonschen Axioms die Beschleunigungsarbeit der Kraft am Teilchen

P​2

P​2

P​

υ​

2 2 υ​2 1 d​υ⇀​ d​υ⇀​ d​r⇀​ 2 d​t​ = m​∫υ​⇀d​υ⇀= ​ d​r⇀= ​ m​∫ m​ υ​ | = d​t​ d​t​ ⏟ d​t​ 2 υ​ P​ P​ υ​

W​ = ∫F​⇀d​r⇀= ​ m​∫ P​1

=

1

1

υ​⇀

1 2 2 m​ (υ​ 2 − υ​ 1 ) = E​kin2 − E​kin1 = ΔE​kin . 2

1

1

(I-2.30)

und definieren als kinetische Energie (kinetic energy)

E​kin =

1 p​ 2 2 m​υ​ = . 2 2 m​

(I-2.31)

Einheit: [Ekin ] = 1 J. Die Arbeit am Teilchen erhöht (∠(F​⇀,d​r⇀​ ) spitz) oder verringert (∠(F​⇀,d​r⇀​ ) stumpf) seine kinetische Energie. Für ein freies Teilchen gilt daher: Arbeit ist gleich der Energieänderung des Teilchens. Wenn insbesondere für die Anfangsgeschwindigkeit des Teilchens υ​1 = 0 gilt, 2 dann ist die gesamte Energieänderung ΔEkin = ½ mv . Aufgrund seiner Bewegung hat das Teilchen also Arbeitsfähigkeit erlangt, da die kinetische Energie wieder in Arbeit zurückverwandelt werden kann. Es lassen sich zwei große Klassen von Kraftfeldern unterscheiden: – konservative Kraftfelder, bei denen die Arbeit zur Verschiebung des MP zwischen zwei Lagen unabhängig vom Weg ist und die mechanische Gesamtenergie daher erhalten (conserved) bleibt; – nichtkonservative Kraftfelder, bei denen die Arbeit zwischen zwei Lagen vom Weg abhängt und die mechanische Energie zumindest teilweise irreversibel in Wärmeenergie verwandelt wird.

42

2 Mechanik des Massenpunktes

Wir definieren ein Kraftfeld als konservativ, wenn die Arbeit bei der Verschiebung des MP vom Punkt P1 zum Punkt P2 vom Verschiebungsweg unabhängig ist. Diese Bedingung für das Vorliegen eines konservativen Kraftfeldes kann dann auch so geschrieben werden:

∮F​⇀d​r⇀= ​ 0.

(I-2.32)

Begründung: Wir betrachten die Arbeit für die Verschiebung eines Teilchens zwischen zwei Punkten P1 und P2 längs zweier unterschiedlicher Wege entsprechend Abb. I-2.12.

I P2

II

P1 Abb. I-2.12: Zur Definition eines konservativen Kraftfeldes. P​2

Weg I:

P​2

W​I = ∫I F​⇀d​r⇀, ​

Weg II:

W​II = ∫ II F​⇀d​r⇀.​

P​1

P​1

Im konservativen Kraftfeld muss gelten: WI = WII oder WI − WII = 0, daher folgt P​2

P​2

P​2

P​2

∫F​⇀d​r⇀− ​ ∫F​⇀d​r⇀= ​ ∫F​⇀d​r⇀+ ​ ∫F​⇀d​r⇀= ​ ∮ F​⇀d​r⇀= ​ P​1

P​1

P​1

0.

(I-2.33)

P​1

Das heißt: Wenn wir das Teilchen in einem konservativen Kraftfeld so verschieben, dass es wieder zum Ausgangspunkt gelangt (geschlossener Weg), so müssen wir nur vorübergehend Arbeit verrichten, die aber später durch die Wirkung der Kraft zurückgewonnen wird. Insgesamt wird keine Arbeit verrichtet. Anders sieht es in einem nichtkonservativen Kraftfeld aus: Hier wird eine einmal verrichtete Arbeit bei der Rückkehr zum Ausgangspunkt der Verschiebung z. B. durch Reibungseffekte (= Dissipation) nicht mehr vollständig zurück gewonnen.

2.2 Dynamik (dynamics)

43

Beispiel: Die Reibungskraft F​⇀R​ sei der Geschwindigkeit υ​⇀proportional und entgegengesetzt gerichtet (Newtonsches Reibungsgesetz). Dann gilt: F​⇀R​ = −β​ ⋅ υ​⇀. Daraus folgt für die Arbeit W​○​ auf einem geschlossenen Weg: d​r⇀​ 2 ⇀= W​○​ = ∮F​⇀ ​ −β​ ∮υ​⇀ ⋅ d​t​ = −β​ ∮υ​ d​t​ < 0 . R​ d​r d​t​ Diese Arbeit wird vom Teilchen verloren und muss von anderen, konservativen Kräften aufgebracht werden, wobei die mechanische Gesamtenergie abnimmt (nicht aber die Energie insgesamt, da thermische Energie gewonnen wird). Wir erinnern uns an den Satz von Stokes aus der Vektoranalysis: ∮ F​⇀d​r⇀= ​ C​ = R​a​n​d​ ν​o​n​ A​

1

∫rot F​⇀d​f⇀ ​ F​l​ä​c​h​e​ A​

Daraus ergibt sich die Bedingung für ein konservatives Kraftfeld auch zu: ⇀ × F​⇀= 0 , rot F​⇀= ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ curl F​⇀= ∇

(I-2.34)

e​n​g​l​.

das heißt, ein konservatives Kraftfeld muss wirbelfrei sein 16. Dabei bedeutet in be∂​ ∂​ ∂​ ⇀ = e​⇀x​ kannter Weise ∇ + e​⇀y​ + e​⇀z​ den Nablaoperator. ∂​x​ ∂​y​ ∂​z​ Beispiele konservativer und nichtkonservativer Kraftfelder (siehe auch Abb. I-2.13): – konservativ

– homogenes Kraftfeld – zeitunabhängiges Zentralkraftfeld, z. B. das Feld einer Punktmasse (oder einer Punktladung)

– nichtkonservativ

– allgemeines ortsabhängiges Kraftfeld – zeitabhängige Kraftfelder – Kraftfelder in denen eine zusätzliche Kraft auftritt, die von der Geschwindigkeit abhängt (dissipative Kraft)

In einem konservativen Kraftfeld ist also die Arbeit vom Verschiebungsweg des Teilchens zwischen zwei festen Punkten unabhängig, sie hängt daher nur vom Anfangs- und vom Endzustand ab. In diesem Fall können wir also jedem Punkt des

16 Diese Aussage gilt nur für einfach-zusammengängende Bereiche, deren Randkurve sich stetig auf einen Punkt zusammenziehen lässt.

44

2 Mechanik des Massenpunktes

⇀ × F​⇀≠ 0 , Abb. I-2.13: Beispiel eines nicht-konservativen Kraftfeldes (Wirbelkern): rot F​⇀= ∇ ⇀ ⇀ ⇀ ⇀ ∮ F​ d​r⇀≠ ​ 0 (links) und eines konservativen Kraftfeldes (Quadrupol): rot F​ = ∇ × F​ = 0 , ∮ F​⇀d​r⇀= ​ 0 (rechts).

Kraftfeldes den Wert jener Arbeit zuschreiben, die notwendig ist, um das Teilchen von einem willkürlich gewählten Nullpunkt zum entsprechenden Raumpunkt zu verschieben. Damit haben wir eine wesentliche Erleichterung für die Charakterisierung des Kraftfeldes erzielt: Während wir bisher das Kraftfeld durch Kraftvektoren (Zahlentripel) beschreiben mussten, können wir ein konservatives Kraftfeld jetzt durch eine skalare Ortsfunktion (einfache Zahl) V​ (r​⇀) beschreiben, nämlich den Wert der Verschiebungsarbeit vom Nullpunkt ausgehend. Wir nehmen allerdings konventioneller Weise den negativen Arbeitswert 17 und nennen ihn potenzielle Energie ( potential energy) V = Epot 18 : P​2

P​2

W​ = ∫F​⇀d​r⇀= ​ ∫−d​V​ = V​ (P​1 ) − V​ (P​2 ) = −ΔV​ = −ΔE​pot . P⇀​1

(I-2.35)

P​1

Die potenzielle Energie als Funktion des Ortes stellt ein skalares Feld V​ (r​⇀) dar, das Feld der potenziellen Energie ( potential energy field).

17 Die Wahl des negativen Vorzeichens bei der Definition des Potenzials V als Verschiebungsarbeit im Feld bewirkt, dass Verschiebungen in Richtung des Feldes (F​⇀// d​r⇀​ ), also vom Feld verursachte Bewegungen, immer vom höheren zum niedrigeren Potenzial verlaufen, die Bewegung also „bergab“ erfolgt. Die Kraft F​⇀weist immer vom höheren zum niedrigeren Potenzial (siehe dazu auch Anhang A1.2). P​2

18 Da ∫F​⇀d​r⇀​ vom Weg unabhängig ist, muss der Integrand F​⇀d​r⇀​ ein totales Differential sein, P​1

wir bezeichnen es mit −dV.

2.2 Dynamik (dynamics)

45

Wichtig ist, dass offensichtlich nur Differenzen ΔV = ΔEpot definiert sind, der Nullpunkt kann frei (sinnvoll) gewählt werden. Beispiel: Sinnvoller Nullpunkt für Experimente in denen die Schwerkraft wirkt: F​⇀= {0,0, − m​g​} , wir wählen hier V = 0 für z = 0 (Bodenniveau). Die Bedingung für ein konservatives Kraftfeld war (Gln. I-2.32 und I-2.34): ∮ F​⇀d​r⇀= ​

0



rot F​⇀= 0 .

Ein Satz aus der Vektoranalysis führt uns weiter:

1

⇀× ∇ ⇀u​ ≡ 0 . rot( grad u​) = ∇ Das heißt, eine Kraft ist sicher konservativ, wenn sie sich als Gradient einer skalaren Funktion darstellen lässt. Wir können als Skalarfeld das eben betrachtete Feld der potenziellen Energie V​ (r​⇀) nehmen und daraus immer das zugehörige konservative Kraftfeld bilden. Dazu erinnern wir uns zuerst, wie der Gradient definiert ist: Bei einer kleinen Verschiebung des Teilchens im Feld um d​r⇀ändert ​ sich die Funktion der potenziellen Energie um d​V​ = d​r⇀​ ⋅ grad V​ . Vergleichen wir dies mit der Definitionsgleichung für die potenzielle Energiefunktion V​ (r​⇀), also d​W​ = −d​V​ = F​⇀⋅ d​r⇀, ​ so erkennen wir den Zusammenhang zwischen der potenziellen Energie und der zugehörigen konservativen Kraft: ⇀V​ . F​⇀= −grad V​ = −∇

(I-2.36)

Die Einführung der potenziellen Energie im konservativen Kraftfeld hat also eine wichtige Bedeutung: Wenn es gelingt, das Feld der potenziellen Energie einer vorgegebenen Massenverteilung (in der Elektrostatik: einer Ladungsverteilung) z. B. aus Punktmassen (Punktladungen), aufzubauen, dann können wir das Kraftfeld durch das skalare Feld der potenziellen Energie vollständig beschreiben und den Kraftvektor an jeder Stelle des Raumes durch negative Gradientenbildung aus der potenziellen Energie erhalten! 19 Die Leistung einer mechanischen Arbeit beschreibt, in welcher Zeit ein Arbeitsprozess abläuft, sie gibt also die Arbeitsrate an, d. h. die pro Zeiteinheit verrichtete Arbeit:

19 Man führt dazu das Potenzial Φ = lim​

m​ % 0

V​ m​

als potenzielle Energie pro Masseneinheit einer ‚Pro-

bemasse‘ ein (siehe auch Anhang A1.2). Die Vorgehensweise wird von der ‚Potenzialtheorie‘ beschrieben (Lösung der Laplace- bzw. Poissongleichung, siehe dazu auch Band III, Kapitel ‚Elektrostatik‘, Abschnitt 1.3).

46

2 Mechanik des Massenpunktes

P​ =

d​W​ d​t​

Augenblicksleistung.

(I-2.37)

P​2

Mit W​ = ∫F​⇀d​r⇀⇒ ​ d​W​ = F​⇀⋅ r​⇀und daher P​1

P​ =

d​W​ ⇀ = F​ ⋅ υ​⇀. d​t​

(I-2.38)

υ ist die Geschwindigkeit des Teilchens, an dem die Kraft F​⇀ die Arbeit dW verrichtet.

2.2.4 Erhaltung der mechanischen Gesamtenergie Die Arbeit, die bei der Verschiebung des Teilchens im Kraftfeld verrichtet wird, ist im Falle eines freien Teilchens auf zweifache Weise, nämlich aus der Beschleunigungsarbeit und aus der Änderung der potenziellen Energie darstellbar: P​

2 1 2 2 W​ = ∫F​⇀d​r⇀= ​ m​ (υ​ 2 − υ​ 1 ) = E​kin (P​2 ) − E​kin (P​1 ) = −ΔV​ = V​ (P​1 ) − V​ (P​2 ) . 2 P​

(I-2.39)

1

Daraus folgt der Energiesatz der klassischen Mechanik: Ekin (P1) + V(P1) = Ekin (P2) + V(P2) = Eges = const. 1

(I-2.40)

Bei konservativen Kräften bleibt die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie, d. h. die mechanische Gesamtenergie, zeitlich konstant. ⇀z​ Beispiel: Der senkrechte Wurf. Wirkende Kraft: F​⇀ G​ = −m​ g​ e​ Wir werfen einen Körper (Reibung vernachlässigt) senkrecht um eine Strecke h nach oben in Richtung der positiven z-Achse. Die Anfangsgeschwindigkeit υ0 zum Zeitpunkt t = 0 am Punkt P0 wird von außen aufgebracht. m​ υ​ 20 1. Der Körper hat bei P0 die Anfangsgeschwindigkeit υ​⇀0 : E​kin (P​0 ) = . 2 Wir legen den Nullpunkt der potenziellen Energie in P0 (z = 0). Es gilt also Epot = 0. 2. Weg von P0 zum Scheitelpunkt PS : P​z​

z​

⇀= ​ F​G​ ∫d​z​ = −m​ g​ z​ W​1 = ∫F​⇀ G​ d​r P​0

0

P​z​

z​

⇀= E​pot = −∫F​⇀ ​ −F​G​ ∫d​z​ = m​ g​ z​ . G​ d​r P​0

0

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte

3.

47

Dem Körper wird von der wirkenden Kraft Energie in Form von kinetischer Energie entzogen (die Steiggeschwindigkeit nimmt ab) und in potenzielle Energie umgewandelt. Körper am Scheitelpunkt PS (z = h): hier ist υ = 0, also Ekin = 0, die gesamte kinetische Energie wurde aufgebraucht. Für die potenzielle Energie gilt: P​S​

⇀= ​ + m​ g​ h​ , E​pot = −W​1 = −∫F​⇀ G​ d​r P​0

die gesamte kinetische Energie wurde in potenzielle Energie umgewandelt! Energiesatz: 2

m​ υ​ 0 + 0 = 0 + m​ g​ h​ . 2 4. Weg von PS zurück nach P0: Hier erfolgt die Energieumwandlung in umgekehrter Reihenfolge wie unter 2): P​z​

⇀= ​ F​G​ (z​ − h​) = −m​ g​ (z​ − h​) . W​2 = ∫F​⇀ G​ d​r P​S​

5.

Während der der Körper fällt, wird also von der Kraft an ihm Arbeit verrichtet, dem Körper wird kinetische Energie auf Kosten der potenziellen Energie zugeführt (die Fallgeschwindigkeit nimmt zu). Der Körper ist wieder bei P0: Seine Geschwindigkeit ist jetzt −υ​⇀0 , er hat m​ υ​ 20 daher wieder die kinetische Energie E​kin (P​0 ) = . 2 Die gesamte potenzielle Energie, die der Körper am Scheitelpunkt hatte, wurde wieder vollständig (reibungsfreier Idealfall) in kinetische Energie umgewandelt. Energiesatz: 2 m​ υ​ 0 + 0. 0 + m​ g​ h​ = 2

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte 2.3.1 Inertialsysteme, Galilei-Transformation Die Angabe der Bahn und der Geschwindigkeit eines Teilchens setzen, wie wir bereits gesehen haben, ein Bezugssystem (Koordinatensystem) voraus. In der Physik Newtons gibt es den absoluten Raum, der sich immer gleich und unbeweglich im

48

2 Mechanik des Massenpunktes

Hintergrund befindet, und die absolute Zeit, die auch ohne die Existenz von Uhren gleichmäßig fließt. Als Inertialsystem bezeichnen wir Systeme, in denen Newtons Trägheitssatz (1. Axiom) gilt. Bezugssysteme, die sich relativ zu einem Inertialsystem mit gleichförmiger Geschwindigkeit geradlinig bewegen, sind ebenfalls Inertialsysteme 20. Wir werden aber sehen, dass in beschleunigten Bezugssystemen der Trägheitssatz nicht gilt, sondern dass eine Beschleunigung des Teilchens beobachtet wird, obwohl keine (physikalische) Kraft (fundamentale WW) wirkt. Es treten also in den beschleunigten Bezugssystemen Schein- oder Trägheitskräfte (inertial forces) auf. Wir betrachten zuerst zwei Bezugssysteme Σ und Σ′, von denen eines ruht (Σ) und das andere (Σ′) sich dazu mit konstanter Geschwindigkeit u​⇀(Relativgeschwindigkeit) bewegt (Abb. I-2.14).

z Σ

z′ Σ′





r′

r

O′



u ⋅t O

P

y′

x′ y

x Abb. I-2.14: Zur Galilei-Transformation: Das System Σ′ bewegt sich zum System Σ mit konstanter Relativgeschwindigkeit u​⇀.

Es gilt die Galilei-Transformation (nach Galileo Galilei, 1564–1642): O x​′ (t​) = x​ (t​) − u​x​ ⋅ t​ P P P P P y​′ (t​) = y​ (t​) − u​ ⋅ t​ y​ r​⇀′ = r​⇀− u​⇀⋅ t​ = Q z​′ (t​) = z​ (t​) − u​z​ ⋅ t​ P P P P P R t​′ = t​ (g​l​e​i​c​h​g​e​h​e​n​d​e​ U​h​r​e​n​ i​n​ b​e​i​d​e​n​ S​y​s​t​e​m​e​n​)

(I-2.41)

20 Es hängt vom jeweiligen Experiment (seiner zeitlichen und räumlichen Ausdehnung) ab, welches Bezugssystem als Inertialsystem betrachtet werden kann, wieweit also Trägheitskräfte vernachlässigt werden können. Für viele kurz dauernde Experimente mit kleinen Geschwindigkeiten reicht es aus, die Erdoberfläche als Inertialsystem zu betrachten. Für anspruchsvolle astronomische Untersuchungen wird ein Inertialsystem verwendet, das von 3 nicht-komplanaren Fixsternen aufgespannt wird (‚galaktisches System‘). Noch eine Anmerkung: In der heutigen, der allgemeinen Relativitätstheorie entsprechenden Sicht, gibt es kein (globales) Inertialsystem, d. h. der Trägheitssatz gilt nicht! Das ist eine Konsequenz der Wirkung der Gravitation. Nur in begrenzten Raumgebieten und für beschränkte Zeiten kann man lokale Inertialsysteme betrachten.

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte

49

Falls die Relativgeschwindigkeit u​⇀der beiden Systeme längs der x-Achse auftritt (uy = uz = 0) lässt sich die Galilei-Transformation elegant in einem x-t-Diagramm geometrisch veranschaulichen. Für t = t′ = 0 sollen einfachheitshalber die Koordinatenanfangspunkte beider Systeme zusammenfallen. Die t′-Achse ist gegenüber der t-Achse entsprechend der Relativgeschwindigkeit ux geneigt, die x-Achsen fallen zusammen (Abb. I-2.15). Dieses Diagramm wird später (Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“) für sehr große Geschwindigkeiten ux ~ c, c = Lichtgeschwindigkeit, zum Minkowskidiagramm erweitert. Σ′

Σ

Teilchenbewegung x(t) bzw. x ′ (t ′ ) („graphischer Fahrplan“)

ux

ux⋅t

t

x′ = x – ux⋅t

t′

P ( x,t ) = P′ ( x ′,t ′ ); t = t ′, x ≠ x ′ ‚Ereignis‘: z.B. Zug stoppt im Bahnhof A

x 1

1 α

tan α = |ux|

O

1 x′

x, x′

x

Abb. I-2.15: Graphische Darstellung der Galilei-Transformation. Die Einheitslängen auf den Zeitachsen sind in beiden Systemen verschieden, die Maßstäbe für die Länge sind in beiden Systemen gleich. Das wird sich bei u ≈ c ändern! (Siehe Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“.)

Wie sehen die Geschwindigkeit, die Beschleunigung und die Kraft im gleichförmig bewegten System Σ′ aus?



υ​⇀=

d​r⇀​ , d​t​

υ​⇀′ =

d​r⇀​′ d​r⇀​ = − u​⇀= υ​⇀− u​⇀ d​t​ d​t​

a​⇀=

d​υ⇀​ , d​t​

a​⇀′ =

d​υ⇀​′ d​υ⇀​ = = a​⇀, d​t​ d​t​

F​⇀′ = F​⇀,

da

d​u⇀​ = 0 (u​⇀= const.) d​t​

Die Kräfte sind in beiden Systemen gleich, daher beobachtet man auch in beiden Systemen dieselben physikalischen Gesetze, beide sind daher, wie bereits oben behauptet, Inertialsysteme.

50

2 Mechanik des Massenpunktes

Damit auch die Bewegungsabläufe in beiden Systemen gleich sind, müssen natürlich die Anfangsbedingungen in beiden Systemen gleich sein. Beispiel: Ein am Bahnsteig lotrecht nach oben geworfener Stein (υ​x​ = 0) zeigt, vom fahrenden Zug aus beobachtet, eine nach unten offene Wurfparabel, da er in diesem System die horizontale Anfangsgeschwindigkeit υ​′x​0 = −w​ (w = Zuggeschwindigkeit) besitzt. Ein im Zug lotrecht nach oben geworfener Stein (υ​′x​ = 0 ) vollführt wieder eine geradlinige Bewegung ‚im Zugsystem‘, so wie der am Bahnsteig (Laborsystem) lotrecht geworfene Stein vom Bahnsteig aus beobachtete.

2.3.2 Geradlinig beschleunigte Bezugssysteme Als Beispiel für Σ′ wählen wir in diesem Fall den frei fallenden Fahrstuhl (Abb. I-2.16), den „fallenden Kasten“ (g … Betrag der Erdbeschleunigung): r​⇀′ = r​⇀− ( −

1 2 g​ t​ e​⇀z​ ) , 2

r​⇀′̇ = r​⇀̇ + g​ t​ e​⇀z​ ,

r​⇀′̈ = r​⇀̈ + g​ e​⇀z​ .

(I-2.42)

Daraus ergibt sich die wirkende Kraft in Σ′: F​⇀′ = m​ r​⇀′̈ = F​⇀+ m​ g​ e​⇀z​ = ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ − m​ g​ e​⇀z​ + S​c​h​w​e​r​k​r​a​f​t​

m​ g​ e​⇀z​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ T​r​ä​g​h​e​i​t​s​k​r​a​f​t​ F​T​

=0

(I-2.43)

Es tritt im Fahrstuhl also eine zusätzliche Trägheitskraft auf, die die Schwerkraft (− m​ g​ e​⇀z​) gerade aufhebt! Die Trägheitskraft ist der Beschleunigung des Bezugssystems immer entgegengerichtet. Allgemein gilt: Falls das System Σ′ eine beschleunigte Bewegung gegenüber Σ ausführt, dann folgt aus υ​⇀′ = υ​⇀− u​⇀ d​υ⇀​′ d​υ⇀​ d​u⇀​ − = d​t​ ⏟ d​t​ ⏟ d​t​

(I-2.44)

A​⇀

a​⇀

und nach Multiplikation mit der Masse m F​⇀′ = F​⇀⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ − m​ ⋅ A​⇀.

(I-2.45)

F​T​

Dabei sind F​⇀′ die Kraft im beschleunigten System, F​⇀ die Kraft im Inertialsystem und F​⇀T​ = −m​ ⋅ A​⇀die Trägheitskraft.

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte

Σ

z x

O





FT = mg



r



g − __ t 2 ez 2

Fahrstuhl



r′ O′

51

m



Σ′



F = − mg

Abb. I-2.16: Der im Erdschwerefeld frei fallende Fahrstuhl ist ein Beispiel für ein geradlinig beschleunigtes Bezugssystem.

Diese Trägheitskraft kann durch den Versuch ‚Fallende Schere‘ demonstriert werden: Eine offene Schere, deren einer Arm noch durch ein Korkstück beschwert ist, wird hochgehoben und fallen gelassen. Die Schere klappt während des Falls nicht zu, da die Schwerkraft durch eine gleich große, entgegengesetzt gerichtete Trägheitskraft kompensiert wird. Beim Auftreffen auf das Holzbrett wird die Schere rasch abgebremst (negativ beschleunigt). Dies führt wieder zu einer Trägheitskraft, die das Zusammenklappen der Schere beschleunigt.

Schere vor dem Fall, offen gehalten

Schere fällt und bleibt geöffnet

Haltekraft

Trägheitskraft

1 __ m⋅g 2

Haltekraft

1 __ m⋅g 2

m … Masse der Schere

1 __ m⋅g 2

nach dem Auftreffen klappt die Schere beschleunigt zu Trägheitskraft

1 __ m⋅g 2

Stützkraft (Tisch)

1 __ m⋅g 2

1 __ m⋅g + FT 2

4

52

2 Mechanik des Massenpunktes

2.3.3 Rotierende Bezugssysteme In einem rotierenden Bezugssystem drehen sich die Koordinatenachsen relativ zu einem Inertialsystem, das heißt, die Einheitsvektoren des Bezugssystems Σ′, e​⇀′x​ , e​⇀′y​ , e​⇀′z​ ändern dauernd ihre Richtung. Wir nehmen an, dass die Ursprünge beider Bezugssysteme O und O′ ständig zusammenfallen. Für den Ortsvektor eines Massenpunktes gilt in den beiden Systemen Σ und Σ′: r​⇀= r​⇀′ = x​e⇀​x​ + y​e⇀​y​ + z​e⇀​z​ = x​′e​⇀′x​ + y​′e​⇀′y​ + z​′e​⇀′z​ .21

(I-2.46)

Die Einheitsvektoren des rotierenden Systems bleiben nicht konstant und müssen differenziert werden, um die Geschwindigkeit im Inertialsystem zu bilden: υ​⇀= r​⇀̇ =

d​x​′ d​y​′ d​z​′ d​e⇀​′x​ d​e⇀​′y​ d​e⇀​′z​ e​⇀′x​ + e​⇀′y​ + e​⇀′z​ + x​′ + y​′ + z​′ = d​t​ d​t​ d​t​ d​t​ d​t​ d​t​

= υ​⇀′ ⏟⏟⏟⏟⏟ R​e​l​a​t​i​υ​g​e​s​c​h​w​i​n​d​i​g​k​e​i​t​ = G​e​s​c​h​w​i​n​d​i​g​k​e​i​t​ i​m​ r​o​t​i​e​r​e​n​d​e​n​ S​y​s​t​e​m​

+

x​′

d​e⇀​′x​

+ y​′

d​e⇀​′y​

+ z​′

d​e⇀​′

d​t​ d​t​ d​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

= υ​⇀′ + υ​⇀*

(I-2.47)

z​u​s​ä​t​z​l​i​c​h​e​ G​e​s​c​h​w​i​n​d​i​g​k​e​i​t​ υ​⇀∗ d​u​r​c​h​ d​i​e​ R​o​t​a​t​i​o​n​ d​e​s​ K​o​o​r​d​i​n​a​t​e​n​s​y​s​t​e​m​s​

Die Endpunkte der Einheitsvektoren von Σ′ führen eine Kreisbewegung mit der Winkelgeschwindigkeit ω​⇀22 um eine Achse durch O = O′ aus. Wir wissen von der d​r⇀​ Kreisbewegung (Abschnitt 2.1.3), dass gilt υ​⇀= = ω​⇀× r​⇀. Mit r​⇀= e​⇀′x​ ,e​⇀′y​ ,e​⇀′z​ folgt d​t​ daher für die Änderung der Einheitsvektoren d​e⇀​′x​ = ω​⇀× e​⇀′x​ , d​t​

d​e​′y​ = ω​⇀× e​⇀′y​ , d​t​

d​e​′z​ = ω​⇀× e​⇀′z​ d​t​

(I-2.48)

und damit υ​⇀* = x​′ (ω​⇀× e​⇀′x​ ) + y​′ (ω​⇀× e​⇀′y​ ) + z​′ (ω​⇀× e​⇀′z​ ) = ω​⇀× (x​′e​⇀′x​ + y​′e​⇀′y​ + z​′e​⇀′z​ ) = = ω​⇀× r​⇀′ = ω​⇀× r​⇀⋅

(I-2.49)

21 Ein Vektor und eine Vektorgleichung sind von jedem Koordinatensystem völlig unabhängig! Sie können in verschiedenen Koordinatensystemen dargestellt, das heißt in ihre dann verschiedenen Komponenten zerlegt werden. 22 Eigentlich sollte hier auch ω​⇀′ stehen, da bei Berechnungen in Σ′ die Komponenten von ω​⇀in Σ′ zu verwenden sind.

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte

53

Damit ergibt sich für die Transformation des Geschwindigkeitsvektors von Σ nach Σ′:

υ​⇀=

d​r⇀​′ d​r⇀​ = υ​⇀′ + ω​⇀× r​⇀= + ω​⇀× r​⇀′ . 23 d​t​ d​t​

(I-2.50)

Wir erkennen, dass ein im ruhenden System Σ ruhender MP (υ​⇀= 0) im rotierenden System Σ′ eine Kreisbewegung entgegen der Drehbewegung des rotierenden Systems ausführt: υ​′ = υ​⇀− ω​⇀× r​⇀′ = −ω​⇀× r​⇀′ .

(I-2.51)

Eine analoge Transformationsgleichung muss für die zeitliche Ableitung jedes Vektors u​⇀in Σ gelten, da sich die Vektorkomponenten von u​⇀wie die Komponenten des Ortsvektors r​⇀= {x​, y​, z​} verhalten:

(

d​u⇀​ d​u⇀​′ ) =( ) + ω​⇀× u​⇀′ . d​t​ fix d​t​ rotierend

(I-2.52)

Damit können wir den Beschleunigungsvektor vom Inertialsystem ins rotierende System transformieren. Wir setzen bei der nochmaligen Differentiation zur Berechnung der Beschleunigung für u​⇀′ den gerade erhaltenen Vektor υ​⇀= υ​⇀′ + ω​⇀× r​⇀′ (Gl. I-2.50) in Komponenten von Σ′ ein und beachten, dass wir beim Differenzieren d​r⇀​′ des Vektorprodukts ω​⇀× r​⇀′ für den Term ( ) = υ​⇀′ erhalten: d​t​ rotierend

a​⇀= = =

d​υ⇀​ d​ ′ ω​ × r​⇀′)rotierend + ω​ × (υ​⇀′ + ω​⇀× r​⇀′) = = (υ​⇀+ d​t​ d​t​ d​υ⇀​′ d​ω⇀​ + × r​⇀′ + ω​⇀× υ​⇀′ + ω​⇀× υ​⇀′ + ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀′) = d​t​ d​t​ a​⇀′ ⏟ R​e​l​a​t​i​υ​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

+

ω​⇀̇ × r​⇀′ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ T​r​a​n​s​υ​e​r​s​a​l​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

+ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 2 ⋅ (ω​⇀× υ​⇀′) + ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀′) .24 C​o​r​i​o​l​i​s​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

(I-2.53)

Z​e​n​t​r​i​p​e​t​a​l​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

23 Wenngleich r​⇀= r​⇀′ gilt, sollten doch im rotierenden System (rechte Seite der Gleichung) nur Terme auftreten, die sich auf Σ′ beziehen, die also für den Ortsvektor r​⇀′ = {x​′, y​′, z​′} mit der Komponentenzerlegung nach den Σ′-Achsen verwenden. 24 Es tritt die Zentripetalbeschleunigung als Komponente der im Inertialsystem wirklich wirkenden Beschleunigung auf. Sie ist daher auch, wie man sich auf Grund der Vektorprodukte leicht überzeugen kann, zum Zentrum hin gerichtet!

54

2 Mechanik des Massenpunktes

Für die Bewegungsgleichung im Inertialsystem muss gelten F​⇀= m​ ⋅ a​⇀, wobei F​⇀=∑ F​⇀i​ die Resultierende aus allen wirkenden physikalischen Kräften ist. i​

Analog findet ein Beobachter im rotierenden System gemäß dem Newtonschen Ansatz F​⇀′ = m​ ⋅ a​⇀′ die im rotierenden System Σ′ auf das Teilchen wirkende Kraft F​⇀′, wenn noch zusätzlich eine lineare Beschleunigung A​⇀linear von Σ′ gegen Σ vorliegt zu: ​ (ω​⇀× r​⇀′) − m​ ⋅ A​⇀linear F​⇀′ = m​ ⋅ a​⇀′ = m​ ⋅ a​⇀− m​ (ω​⇀̇ × r​⇀′) − 2 m​ (ω​⇀× υ​⇀′) − m​ω⇀×

25

(I-2.54)

Die hier auftretenden Schein- oder Trägheitskräfte 26 (inertial forces) werden folgendermaßen bezeichnet: F​⇀′ = m​ ⋅ a​⇀′ = F​⇀physikalisch + F​⇀Trägheit = = F​⇀physikalisch + F​⇀transversal + F​⇀Coriolis + F​⇀zentrifugal + F​⇀linear mit F​⇀transversal = −m​ (ω​⇀̇ × r​⇀′) ,

(I-2.55)

der Transversalkraft (oft auch Tangentialkraft genannt)27 des rotierenden Systems, F​⇀Coriolis = −2 m​ (ω​⇀× υ​⇀′) = 2 m​ (υ​⇀′ × ω​⇀) ,

(I-2.56)

der Corioliskraft 28, die im rotierenden System nur auftritt, wenn dort eine nicht verschwindende Geschwindigkeit υ​⇀′ vorliegt, F​⇀zentrifugal = −m​ (ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀′)) ,

(I-2.57)

der Zentrifugalkraft, die nur in rotierenden Systemen auftritt, sie ist gleich groß, aber entgegengesetzt (nach außen) gerichtet wie die Zentripetalkraft der Kreisbewegung,

25 Jetzt, im rotierenden System betrachtet, ist die Beschleunigung −ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀′) nach außen gerichtet (negatives Vorzeichen)! 26 Der Begriff ‚Trägheitskraft‘ wurde erstmals 1743 von Jean Baptiste le Rond d’Alembert (1717– 1783) in seinem berühmten ‚Traité de Dynamique‘ eingeführt. 27 Tangential, also in Richtung der Teilchengeschwindigkeit, ist die Kraft nur, wenn ω​⇀̇ // ω​⇀ ist, also ω​⇀ nur seinen Betrag ändert, die Rotationsachse aber ungeändert bleibt. Im Falle der Kreiselbewegung z. B. ist ω​⇀̇ nicht // ω​⇀. 28 Nach Gaspard Gustave de Coriolis, franz. Ingenieur und Physiker (1792–1843).

55

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte

F​⇀linear = −m​ ⋅ A​⇀linear ,

(I-2.58)

der Trägheitskraft, die eine Folge der Linearbeschleunigung A​⇀linear des Systems Σ′ ist. In einem gleichmäßig rotierenden Bezugssystem (ω​⇀̇ = 0) wie z. B. der Erde, treten also für einen kräftefreien MP stets die Zentrifugalkraft und die Corioliskraft (für υ​⇀′ ≠ 0) als Trägheitskräfte auf. Beispiel: Ein MP ruhe im Inertialsystem. Im rotierenden System (Abstand r vom Drehzentrum M) besitzt er dann die Geschwindigkeit υ​⇀′ = −ω​ × r​⇀′ .

v

v rv MP

Σ′

FZ

FC M

v

v v

ʋ ′ = –(ω × r )

v

ω

Im rotierenden System wirken also als einzige Kräfte die Zentrifugalkraft F​⇀z​ = −m​ω⇀× ​ (ω​⇀× r​⇀) und die Corioliskraft F​C​ = −2 m​ (ω​⇀× υ​⇀′) = 2 m​ ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀′) Insgesamt wirkt also im rotierenden System die für eine gleichförmige Kreisbewegung erforderliche Zentripetalkraft F​⇀ges = F​⇀z​ + F​⇀C​ = m​ ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀′) = F​⇀zentripetal . Wir zerlegen r​⇀in die beiden Komponenten r​⇀n​ und r​⇀p​ normal und parallel zu ω​⇀ . Aufgrund des Entwicklungssatzes A​⇀× (B​⇀× C​⇀) = B​⇀(A​⇀⋅ C​⇀) − C​⇀(A​⇀⋅ B​⇀) gilt dann ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀) = ω​⇀⋅ (ω​⇀⋅[r​⇀n​ + r​⇀p​]) − (r​⇀n​ + r​⇀p​ )(ω​⇀⋅ ω​⇀) = = ω​⇀⋅ (⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ω​⇀⋅ r​⇀n​ ) + ω​⇀⋅ (⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ω​⇀⋅ r​⇀p​ ) − ω​ 2 r​⇀n​ − ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ω​ 2 r​⇀p​ = ω​ 2 r​⇀n​ . =0

ω​r​p​

⇀(ω​r​p​ ) = ω​

Wir erhalten daher den bereits von der Kreisbewegung bekannten Ausdruck.

56

2 Mechanik des Massenpunktes

Beispiel: Karussell. Wir stehen mit Rollschuhen auf einer sich drehenden Scheibe (Karussell) und schauen zum Drehzentrum. Es wirkt die Zentrifugalkraft und wir rollen beschleunigt radial nach außen; dabei sind wir kräftefrei wie im fallenden Fahrstuhl. Sobald wir nach außen rollen, also eine Geschwindigkeit besitzen, wirkt zusätzlich die Corioliskraft und unsere Bahn auf der Scheibe krümmt sich entsprechend. Wir bleiben dabei kräftefrei, denn solange wir die Beschleunigung mitmachen, ist in unserem Körpersystem die Beschleunigung Null, wir sind kräftefrei. Fallen wir zu Boden und krallen uns an der rotierenden Scheibe fest, so kompensieren wir die Zentrifugalkraft mit der Kraft unserer Arme und bleiben im rotierenden System in Ruhe, so wie wir auf der Erde die Schwerkraft mit der Kraft der Beine kompensieren. Die Zentrifugalkraft wirkt im rotierenden System immer – halten wir uns nicht fest, so werden wir beschleunigt und sie wird durch die Trägheitskraft kompensiert. Die Wirkung der Zentrifugalkraft im rotierenden System kann sehr einfach mit der rotierenden Flüssigkeit gezeigt werden:

4

Eine wenig zähe Flüssigkeit (hier rot gefärbtes Wasser) wird in einem Becher in Rotationsbewegung versetzt. Die Flüssigkeit wird von der Mitte zum Rand gedrängt und steigt dort hoch. Es bildet sich eine paraboloidförmige Flüssigkeitsoberfläche aus.

Wir versuchen eine Erklärung des Effekts in Σ und in Σ′. In beiden Systemen muss gelten: Für eine ideale (reibungsfreie) Flüssigkeit ist der Schermodul G = 0 und die Flüssigkeitsoberfläche stellt sich normal zur resultierenden Gesamtkraft ein (siehe Kapitel ‚Mechanik deformierbarer Körper‘, Abschnitt 4.3). rotierendes System Σ′ (statische Sicht): Es wirken das Gewicht der Flüssigkeit und die Zentrifugalkraft. Die resultierende Gesamtkraft zeigt schräg nach unten. Im Gleichgewicht wirkt eine gleich große Flüssigkeitskraft in entgegengesetzter Richtung, zu der sich die Flüssigkeitsoberfläche normal stellen muss.

ruhendes Laborsystem Σ (dynamische Sicht): Es wirken die Gewichtskraft und die Druckkraft (erzeugt durch den Druckgradienten) der Flüssigkeit, zu dem sich die Flüssigkeitsoberfläche normal stellt (Parabelform). Die Zentripetalkraft wird durch die Resultierende aus Gewichtskraft und Druckgradient erzeugt.

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte

57

v

F Fl

F Fl

Gewichtskraft

Resultierende Gewichtskraft

v

Resultierende Zentripetalkraft

Zentrifugalkraft

Flüssigkeitskraft = Druckgradient

Da die Zentrifugalkraft proportional zu r ist, nimmt sie nach außen hin zu und führt zur beobachteten Parabelform. Im rotierenden System herrscht Kräftegleichgewicht, der mitrotierende Beobachter merkt nur die Trägheitskraft, nicht die Rotationsbewegung.

Flüssigkeitskraft = Druckgradient

Da die Zentripetalkraft proportional zu r ist, nimmt sie nach außen hin zu. Die resultierende Flüssigkeitskraft führt zur beobachteten Parabelform. Im raumfesten System herrscht kein Kräftegleichgewicht, da die Zentripetalkraft die rotierenden Flüssigkeitsteilchen dauernd auf ihrer Bahn halten muss.

2.3.4 Die Erde als rotierendes Bezugssystem Es liegt nahe zu fragen, inwieweit die Erde als Inertialsystem verwendet werden kann. Wir betrachten dazu ein ‚raumfestes‘ System (x, y, z), das seinen Ursprung in der Sonne hat und von dem zwei Achsen (x und y) in der Ebene der elliptischen (nahezu kreisförmigen) Umlaufbahn der Erde (Ekliptik) liegen. Das bewegte System (ξ, η, ζ) sei fest mit der Erde verbunden, sein Ursprung liege im Erdmittelpunkt und die ζ-Achse falle mit der Drehachse (Polachse) der Erde zusammen. Die Polachse ζ ist gegen das feste System (x, y, z) geneigt (Abb. I-2.17):

z

 e

z

ζ



23°27′, „Schiefe der Ekliptik“

ex

x

   e = (sin 23,5°)⋅e + (cos 23,5°)⋅e ζ

x

z

Abb. I-2.17: Die Erde als rotierendes Bezugssystem. Das raumfestes System (x, y, z) hat seinen Ursprung in der Sonne; die zwei Achsen x und y liegen in der Ebene der nahezu kreisförmigen Umlaufbahn der Erde (Ekliptik). Die Drehachse (Polachse) der Erde ζ ist gegen die z-Achse geneigt („Schiefe der Ekliptik“).

58

2 Mechanik des Massenpunktes

Die Drehung der Erde, also des Systems (ξ, η, ζ ), um die Polachse relativ zum festen System (x, y, z) erfolgt mit der Winkelgeschwindigkeit −5 ω​⇀= ω​ ⋅ e​⇀ζ​ = 7,2924 ⋅ 10 ⋅ e​⇀ζ​ rad/s .

(I-2.59)

Die Bahngeschwindigkeit des Erdmittelpunkts um die Sonne ist verglichen mit der Drehung um die Polachse nahezu konstant, sodass keine lineare Trägheitskraft F​⇀lin auftritt. Es wirkt daher auf einen ruhenden MP auf der Erdoberfläche nur die Zentrifugalbeschleunigung aufgrund der Erdrotation mit a​z​ = 5,974 ⋅ 10− 3 m/s2 .29

(I-2.60)

Bei der Beschreibung von Bewegungen im bewegten System (ξ, η, ζ) der Erde treten daher zentrifugale Trägheitskräfte auf. So vermindert der Maximalwert der Zentrifugalkraft am Äquator die Schwerkraft um 0,35 %. Die vom Erdumlauf um die Sonne herrührende Zentrifugalkraft beträgt etwa ⅕ des Werts, der von der Erdrotation verursacht wird. In vielen Fällen kann daher die Erde als Inertialsystem verwendet werden. Dies gilt nicht für Bewegungen mit hohen Geschwindigkeiten oder bei Verfolgung der Bewegung über lange Zeiträume, da dann noch die Corioliskraft auftritt. Auf der nördlichen Erdhalbkugel ragt der Vektor der Winkelgeschwindigkeit der Erdrotation aus dem Boden heraus (Rechte-Hand-Regel), am Pol senkrecht, am Äquator horizontal in Nordrichtung. Jeder bewegte Körper muss daher infolge der Corioliskraft F​Coriolis = 2 m​ (υ​⇀× ω​⇀φ​ ) (mit ω​⇀φ​ = ω​⇀⋅ sin φ​ , φ … geographische Breite) auf der Nordhalbkugel eine Rechtsabweichung erfahren; auf der Südhalbkugel tritt entsprechend eine Linksabweichung auf. Für die maximale Coriolisbeschleunigung gilt nach dem oben gesagten: 2 ωυ ≈ 1,5⋅10−4 υ. Beispiel 1: Ein Flugzeug mit rund 1000 km/h erfährt daher eine maximale Corio−2 2 lisbeschleunigung von 4,2⋅10 m/s , ein niedriger Satellit mit einer Geschwin2 digkeit von 8 km/s dagegen 1,2 m/s , das ist etwa 2 0,12 g (g = 9,81 m/s ). Beispiel 2: Trotz der geringen Windgeschwindigkeiten hat die Corioliskraft eine große Bedeutung für das Wettergeschehen, da die interessierenden Zeiträume sehr lang sind. Ohne Corioliskraft müsste die Strömungsrichtung der Luft dem Druckgradienten folgen (strichlierter Pfeil in der Skizze unten). Die Corioliskraft bewirkt aber auf der Nordhalbkugel eine Rechtsablenkung (blauer Pfeil).

29 Außerdem wirkt die Zentrifugalbeschleunigung aufgrund der Kreisbewegung um die Sonne. Diese ist zusammen mit der Gravitationskraft der Sonne gemeinsam mit der Mondeinwirkung für die Gezeiten verantwortlich, wobei der Einfluss des Mondes wegen seiner Erdnähe dominiert.

2.3 Bezugssysteme und Trägheitskräfte

59

Kräftegleichgewicht tritt erst dann ein, wenn Druckkraft und Corioliskraft gleich groß und entgegengesetzt gerichtet sind, die Corioliskraft also gegen den Druckgradienten weist. Ohne Reibungskräfte müsste die Luftströmung schließlich parallel zu den Isobaren im Gegenuhrzeigersinn um den Kern des Tiefdruckgebietes herum verlaufen, wegen der Reibungskräfte stellt sich aber ein Winkel von etwa 20°–30° gegen die Isobaren ein.

tief Isobaren

hoch

Rechtsablenkung der Luftbewegung auf der nördliche. Halbkugel. Isobaren

Tief

Idealisierte Windbewegung (ohne Reibung) in einem Tiefdruckgebiet auf der nördlichen Erdhalbkugel.

20°–30° Isobaren

Tief

Die Berücksichtigung der Reibungskräfte führt zu einer tatsächlichen Windbewegung, die um 20°–30° gegen die Isobaren geneigt ist.

60

2 Mechanik des Massenpunktes

Beispiel 3: Die Schwingungsebene eines ebenen Pendels dreht sich relativ zur (bewegten) Erdoberfläche (Foucaultsches Pendel, Foucault 1850, Leon Foucault (1819–1868)). Nach dem oben Gesagten ist klar, dass der Effekt wesentlich von der geographischen Breite abhängt, z. B. am Nordpol eine volle Drehung pro Tag erfolgt, während sich die Schwingungsebene am Äquator überhaupt nicht dreht. Aus der Sicht des rotierenden Erdsystems ist die Drehung der Pendelebene also eine Folge der wirkenden Corioliskraft. In einem Inertialsystem hat jedoch der Drehimpuls des Pendels konstante Richtung und damit ist die Pendelebene raumfest. Es dreht sich aber die Erdeoberfläche unter dem schwingenden Pendel vorbei.

2.4 Massenpunktsysteme und Erhaltungssätze (conservation laws) Da alle Körper aus mehr oder weniger vielen Masseteilchen zusammengesetzt sind (letztlich aus den Elementarteilchen), stellen sie Massenpunktsysteme dar. Die im Folgenden abgeleiteten Erhaltungssätze sind daher die allgemeinsten, in der gesamten Physik geltenden Gesetzmäßigkeiten, deren Bedeutung und Anwendungsbereich universell sind! Aus der experimentellen Verifikation der aus ihnen gezogenen Schlüsse folgt dann umgekehrt die Bestätigung der Newtonschen Axiome. Wir betrachten daher jetzt ein System aus vielen Massenpunkten und wenden auf die einzelnen MP die bisher entwickelten Gesetzmäßigkeiten an. Wir unterscheiden zwei Arten von Kräften, die am MP angreifen können: – innere Kräfte (internal forces) gehen von den anderen MP des Systems aus; – äußere Kräfte (external forces) haben ihre Ursache außerhalb des Systems. Wir sprechen von einem abgeschlossenen System, wenn die Summe der äußeren Kräfte verschwindet (resultierende äußere Gesamtkraft gleich Null). In Punktsystemen ist das 3. Newtonsche Axiom (actio = reactio) von besonderer Wichtigkeit.

2.4.1 Der Massenmittelpunkt (= Schwerpunkt) und der (lineare) Gesamtimpuls Wir betrachten ein System von N Massenpunkten (Teilchen). Am i-ten MP greifen äußere Kräfte an (resultierende äußere Gesamtkraft F​⇀i​) und eine innere Kraft F​⇀1i​ vom ersten MP, F​⇀2i​ vom zweiten MP, allgemein F​⇀j​i​ vom j-ten MP. Damit erhalten wir für die Bewegungsgleichung des i-ten MP: d​ 2 r​⇀i​ F​⇀i​ + ∑F​⇀j​i​ = m​i​ . d​t​ 2 j​ ≠ i​

(I-2.61)

61

2.4 Massenpunktsysteme und Erhaltungssätze (conservation laws)

Dies gilt für jeden der N MP, also gibt es insgesamt N solche Gleichungen. Wir summieren alle N Gleichungen:

∑F​⇀i​ + ∑∑F​⇀j​i​ = ∑m​i​ i​

i​ ≠ j​ j​ ≠ i​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

i​

2 d​ r​⇀i​

d​t​

2

.

(I-2.62)

= 0 (N​e​w​t​o​n​3)

In der Doppelsumme ist i = j auszuschließen, da es innere Kräfte mit gleichen Indizes (Teilchen wirkt auf sich selbst) nicht gibt. Zu jeder Kraft F​⇀j​i​ , die das Teilchen j auf das Teilchen i ausübt, gibt es jedoch eine Kraft F​⇀i​j​ , die das Teilchen i auf das Teilchen j ausübt. Nach dem 3. Newtonschen Axiom sind aber diese Kräfte entgegengesetzt gleich groß. Die Doppelsumme verschwindet daher, da sich die Summe der inneren Kräfte aufhebt. Wir definieren als Massenmittelpunkt eines Systems jenen Punkt, dessen Ortsvektor r​⇀S​ (Ursprung beliebig) multipliziert mit der Gesamtmasse M​ = ∑m​i​ des i​

Systems gleich der Vektorsumme der mit den Einzelmassen multiplizierten Ortsvektoren der einzelnen Teilchen ist: M​ ⋅ r​⇀S​ = ∑m​i​ r​⇀i​

Massenmittelpunkt (centre of mass).

(I-2.63)

i​

In die Summengleichung (I-2.62) eingesetzt ergibt sich:

∑F​⇀i​ = M​ ⋅ i​

d​ 2 r​⇀S​ d​t​ 2

Bewegung des Massenmittelpunktes.

(I-2.64)

Der Massenmittelpunkt eines Systems bewegt sich so, als ob in ihm die Gesamtmasse des Systems vereinigt wäre und die resultierende äußere Gesamtkraft angriffe.

1

Ist das Teilchensystem abgeschlossen, verschwindet also die Summe aller äußeren Kräfte, so gilt:

∑F​⇀i​ = ∑m​i​ i​



∑m​i​ υ​⇀i​ = M​υ⇀​S​ = M​ i​

i​

d​r⇀​S​ = const. d​t​

d​ 2 r​⇀i​ d​t​ 2

= M​ ⋅

d​ 2 r​⇀S​ d​t​ 2

=0

linearer Impulssatz.

(I-2.65)

Greift an einem Teilchensystem keine resultierende äußere Kraft an, so bleibt der lineare Gesamtimpuls konstant und sein Massenmittelpunkt im Zustand der Ruhe oder der geradlinig gleichförmigen Bewegung.

1

62

2 Mechanik des Massenpunktes

Beispiel: Aus einer fahrbaren Kanone wird auf einer glatten Ebene (z. B. Eisfläche) ein Geschoß abgefeuert. Das Geschütz muss mit einer solchen Geschwindigkeit zurücklaufen (Rückstoß), dass der gemeinsame Massenmittelpunkt von Geschütz und Geschoß am Ort bleibt. Die einzige äußere Kraft ist die Schwerkraft (wenn man von der Reibung absieht), die aber keine Horizontalkomponente besitzt. Die häufigste äußere Kraft in der Mechanik ist die Schwerkraft. Man nennt den Massenmittelpunkt daher auch Schwerpunkt (centre of gravity), da im Schwerefeld G​ die resultierende Gewichtskraft ∑F​⇀i​ = G​⇀an ihm wie an einem Massenpunkt der i​ Gesamtmasse M​⇀angreift.

2.4.2 Der Gesamtdrehimpuls eines Teilchensystems Wir betrachten jetzt den Gesamtdrehimpuls L​⇀= ∑L​⇀i​ als Summe der Drehimpulse i​

L​⇀i​ = m​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) der Teilchen unseres Systems. Dazu multiplizieren wir die Bewegungsgleichung des einzelnen MP vektoriell mit seinem Ortsvektor r​⇀i​ und summieren über alle Teilchen:

∑ (r​⇀i​ × F​⇀i​ ) + ∑∑(r​⇀i​ × F​⇀j​i​ ) = ∑m​i​ (r​⇀i​ × i​

i​ ≠ j​ j​ ≠ i​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

d​ 2 r​⇀i​ ). d​t​ 2

(I-2.66)

=0

⇀i​ dar, ⇀ = ∑D​ Der erste Term der Gleichung stellt das resultierende Drehmoment D​ i​ das die äußeren Kräfte bewirken. Der zweite Term beschreibt das resultierende Drehmoment der inneren Kräfte. Da gilt F​⇀j​i​ = −F​⇀i​j​ , wird für jedes Teilchenpaar r​⇀i​ × F​⇀j​i​ + r​⇀j​ × F​⇀i​j​ = (r​⇀i​ − r​⇀j​ ) × F​⇀j​i​ .

(I-2.67)

Das rechte Vektorprodukt verschwindet aber, da F​⇀j​i​ // (r​⇀i​ − r​⇀j​ ) (Kraft von Teilchen j auf Teilchen i). Der zweite Term von Gl. (I-2.66) verschwindet also, da die inneren Kräfte zwischen zwei Teilchen die Richtung ihrer Verbindungslinie haben, also Zentralkräfte sind. Der rechte Term der Gleichung stellt die zeitliche Ableitung des resultierenden d​L⇀​ d​ = ∑m​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) dar. Es gilt also: Gesamtdrehimpulses d​t​ d​t​ ⇀ ⇀ = ∑ (r​⇀i​ × F​⇀i​ ) = d​L​ = d​ ∑m​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) D​ d​t​ d​t​ i​ i​

Drehimpulssatz.

(I-2.68)

2.4 Massenpunktsysteme und Erhaltungssätze (conservation laws)

63

In einem Teilchensystem, in dem die inneren Kräfte zwischen den Teilchen die Richtung ihrer Verbindungslinie haben, ist die zeitliche Änderung des Gesamtdrehimpulses gleich dem resultierenden Drehmoment der äußeren Kräfte.

1

Die Bedingung für die Wirkungsrichtung der inneren Kräfte ist keine bedeutende Einschränkung: Aus Symmetriegründen muss die Kraftwirkung zwischen zwei Punkten in die Richtung ihrer Verbindungslinie fallen, da sonst keine ausgezeichnete Richtung besteht.

Greift keine äußere Kraft an oder verschwindet das resultierende Drehmoment, so bleibt der Gesamtdrehimpuls zeitlich konstant: ⇀ = ∑ (r​⇀i​ × F​⇀i​ ) = 0 D​

L​⇀= ∑ m​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) = const.



(I-2.69)

i​

2.4.3 Die Gesamtenergie eines Teilchensystems Zum Schluss betrachten wir die Energie unseres Teilchensystems. Dazu multiplid​r⇀​i​ und zieren wir die Bewegungsgleichung des einzelnen Teilchens skalar mit d​t​ summieren wieder über alle Teilchen auf:

∑F​⇀i​ ⋅ i​

d​r⇀​i​ d​t​

+ ∑∑F​⇀j​i​ ⋅

d​r⇀​i​

i​ ≠ j​ j​ ≠ i​

d​t​

2

= ∑m​i​ i​

d​ r​i​

d​r⇀​i​

d​t​

d​t​

⋅ 2

=

d​ 1 d​t​ 2

∑m​i​ ( i​

d​r⇀​i​ 2 ) d​t​

(I-2.70)

Wir integrieren jetzt von t0 bis t, bzw. von r​⇀(t​0 ) bis r​⇀(t​1 ) und erhalten r​⇀i​ (t​)

r​⇀i​ (t​)

∫ ∑F​⇀i​ d​r⇀ ​i​ + ∫ r​⇀i​ (t​0 )

i​

1 2

d​r⇀​ d​t​

2

1 2

∑∑ F​⇀j​id​​ r⇀​i​ = ∑m​ i​ ( i​) − ∑m​i​ (

r​⇀i​ (t​0 ) i​ ≠ j​ j​ ≠ i​

t​

d​ r⇀​i​ 2 ) d​t​ t​0

(I-2.71)

Links steht die Summe der Arbeiten der äußeren und inneren Kräfte (die Arbeiten der inneren Kräfte heben sich jetzt nicht weg, da die d​r⇀​i​ für die einzelnen MP verschieden sind!), rechts steht die gesamte Änderung der kinetischen Energie des Systems. Die kinetische Energie lässt sich in zwei Teile zerlegen. Wir führen ein zweites Koordinatensystem mit seinem Ursprung O′ im Massenmittelpunkt mit dem Ortsvektor r​⇀S​ ein und bezeichnen alle darauf bezogenen Ortsvektoren mit r​⇀′. Es gilt offenbar r​⇀i​ = r​⇀S​ + r​⇀′i​

(I-2.72)

1

64

2 Mechanik des Massenpunktes

und damit

(

d​r⇀​S​ d​r⇀​ ′i​ d​ r⇀​i​ 2 d​ r⇀​S​ 2 d​ r⇀​ ′i​ 2 )=( )+2 +( ) . d​t​ d​t​ d​t​ d​t​ d​t​

(I-2.73)

In den Ausdruck für die kinetische Energie eingesetzt folgt somit 1 2

∑ m​i​ ( i​

d​r⇀​S​ d​ r⇀​i​ 2 1 d​ r⇀​S​ 2 ) = ( ) ∑ m​i​ + d​t​ 2 d​t​ d​t​ i​

∑ m​i​

Aus r​⇀i​ = r​⇀S​ − r​⇀′i​ folgt durch Multiplikation mit

i​

d​r⇀​′i​ 1 d​ r⇀​′i​ 2 + ∑ m​i​ ( ) . d​t​ 2 i​ d​t​

m​i​ und Summation über alle Teilchen M​

r​⇀ 1 1 ∑m​i​ r​⇀i​ = S​ ∑ m​i​ − ∑ m​i​ r​⇀′i​ M​ i​ M​ i​ M​ i​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ r​⇀S​

(I-2.74)

(I-2.75)

r​⇀S​

und daher

∑ m​i​ r​⇀′i​ = 0 i​



∑ m​i​

d​r⇀​′i​ =0 d​t​

(I-2.76)

und der zweite Summand in Gl. (I-2.74) verschwindet. Es bleibt

1 2

∑ m​i​ ( i​

1

d​ ri​ ​ 2 ) = d​t​

1 d​ r⇀​S​ 2 M​ ( ) 2 d​t​

+

1 d​ r⇀​ ′ 2 ∑ m​i​ ( i​) . 2 i​ d​t​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

E​kin d​e​r​ G​e​s​a​m​t​m​a​s​s​e​ i​m​ S​c​h​w​e​r​p​u​n​k​t​

E​kin d​e​r​ B​e​w​e​g​u​n​g​ r​e​l​a​t​i​υ​ z​u​m​ S​c​h​w​e​r​p​u​n​k​t​

(I-2.77)

Die kinetische Energie des Teilchensystems ist die Summe aus der Translationsenergie der Gesamtmasse im Schwerpunkt und der Bewegungsenergie des Systems relativ zum Schwerpunkt.

Wir nehmen jetzt an, dass die inneren Kräfte konservativ sind, sich also eine potenzielle Energie (und damit auch ein Potenzial) definieren lässt. Die potenzielle Energie Uji der zwischen zwei Teilchen j und i wirkenden Kraft ist eine Funktion der Entfernung, das heißt der Koordinaten der beiden MP. Die auf das Teilchen i wirkende Kraft ergibt sich, wenn wir uns das Teilchen j fest denken und das Teilchen i im skalaren Feld der potenziellen Energie Uji verschieben:

Zusammenfassung

F​⇀j​i​ = −gradi​ U​j​i​

und ebenso

F​⇀i​j​ = −F​⇀j​i​ = −gradj​ U​j​i​ .

65 (I-2.78)

Bei einer kleinen Verschiebung der Teilchen j und i werden die Arbeiten F​⇀j​i​ ⋅ d​r⇀​i​ + F​⇀i​j​ ⋅ d​r⇀​j​ = −d​Uj​ ​i​ verrichtet. Uji hängt von den 6 Koordinaten beider Teilchen ab, das totale Differential dUji ergibt daher die negative Summe der Arbeiten F​⇀j​i​ ⋅ d​r⇀​i​ und F​⇀i​j​ ⋅ d​r⇀​j​ . Damit können wir für die inneren Kräfte mit der inneren potenziellen Energie U​j​i​ schreiben, wenn wir beachten, dass wegen U​j​i​ = U​i​j​ (die potenzielle Energie hängt nur vom Abstand rji = rij eines Teilchens ab) in der Doppelsumme jedes dU doppelt gezählt wird 1 2 i​ ≠ j​

∑∑F​⇀j​i​ d​r⇀​i​ = − ∑∑d​Uj​ ​i​ . i​ ≠ j​ j​ ≠ i​

(I-2.79)

j​ ≠ i​

Lassen sich auch die äußeren Kräfte von einer potenziellen Energie ableiten, so wird der Energiesatz der Mechanik zu (siehe auch Abschnitt 2.2.4, Gl. (I-2.40)) E​kin + ∑U​i​ + i​

1 1 ∑∑U​j​i​ = E​ 0kin + ∑U​ 0i​ + ∑∑U​ j0​i​ = const. 2 i​ ≠ j​ j​ ≠ i​ 2 i​ i​ ≠ j​ j​ ≠ i​

(I-2.80)

Die Summe aus der kinetischen, der äußeren und der inneren potenziellen Energie eines Teilchensystems ist konstant, wenn sowohl die äußeren als auch die zwischen den Teilchen wirkenden inneren Kräfte konservativ sind.

Zusammenfassung 1. Das Modell des Massenpunktes (Teilchen mit Masse, aber ohne Volumen und Struktur) bewährt sich bei vielen einfachen Problemen der Kinematik und Dynamik. 2. Die allgemeine Bewegung eines Teilchens erfolgt auf einer allgemeinen Kurve im Raum. Die Beschleunigung, die das Teilchen erfährt, kann in einen zur Bahn tangentialen und einen dazu normalen, zum Krümmungsmittelpunkt weisenden Anteil zerlegt werden:

a​⇀=

Dabei ist ρ​ =

d​υ⇀​ d​υ​ d​e⇀​t​ d​υ​ υ​ 2 = e​⇀t​ + υ​ = e​⇀t​ + e​⇀n​ = a​⇀t​ + a​⇀n​ d​t​ d​t​ d​t​ d​t​ ρ​

1

der augenblickliche Krümmungsradius der Teilchen2

√(d​ 2r​⇀) d​s​

bahn.

2

1

66

2 Mechanik des Massenpunktes

3. Die Bewegung des Teilchens auf einer Kreisbahn ist immer beschleunigt. Auch wenn keine tangentiale Beschleunigung erfolgt, muss eine Zentripetalbeschleunigung vorhanden sein, die zum Zentrum der Kreisbahn gerichtet ist und das Teilchen auf der Bahn hält. 4. Die Newtonsche Bewegungsgleichung definiert die Kraft als Ursache der Bewegungsänderung; quantitativ gilt mit p​⇀= m​t​ υ​⇀als Bewegungsgröße bzw. Impuls (mt … träge Masse): d​p⇀​ F​⇀= = p​⇀̇ d​t​ 5. In einem abgeschlossenen System treten Kräfte immer paarweise und entgegengesetzt gerichtet auf! 6. Genaue Messungen haben die Gültigkeit der Äquivalenz von träger und −12 schwerer Masse bis auf eine relative Abweichung von 10 ergeben: ms = mt = m . Ein homogenes Gravitationsfeld ist daher völlig äquivalent zu einem gleichförmig beschleunigten Bezugssystem (Einsteinsches Äquivalenzprinzip). 7. Für ein Teilchen ist sein Bahndrehimpuls und das Drehmoment in Bezug auf ein- und denselben Koordinatenursprung folgendermaßen definiert: Bahndrehimpuls:

L​⇀= r​⇀× p​⇀= m​ (r​⇀× υ​⇀)

Drehmoment:

⇀ = r​⇀× F​⇀, D​

und es gilt

⇀ = L​⇀̇ = d​ (r​⇀× p​⇀) = m​ (r​⇀× d​υ⇀​ ) D​ d​t​ d​t​

8. Die Arbeit ist das Wegintegral der Kraft, sie ist für einen freien MP gleich der Änderung der kinetischen Energie des Teilchens: P​

2 1 2 2 W​ = ∫F​⇀d​r⇀= ​ m​ (υ​ 2 − υ​ 1 ) = ΔE​kin 2 P​ 1

9. Für konservative Kraftfelder gilt: ∮ F​⇀d​r⇀= ​

0



rot F​⇀= 0

In diesem Fall der Wegunabhängigkeit der Arbeit zwischen zwei Punkten kann jedem Raumpunkt eine potenzielle Energie als negativer Wert jener Arbeit zugeschrieben werden, die notwendig ist, um das Teilchen von einem gewählten Nullpunkt aus zum Raumpunkt zu verschieben. Das vektorielle Kraftfeld kann

67

Zusammenfassung

daher durch das skalare Feld der potenziellen Energie beschrieben werden. ⇀× ∇ ⇀u​ ≡ 0 (Vektoranalysis) folgt, dass alle Gradientenfelder Aus rot(grad u​) = ∇ P​

konservativ sind und aus der Definition der potenziellen Energie V​ = −∫F​⇀d​r⇀​ P​0 ergibt sich daher ⇀V​ . F​⇀= −grad V​ = −∇ 10. In einem abgeschlossenen System konservativer Kräfte bleibt die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie (die Gesamtenergie) erhalten. 11. In Inertialsystemen gilt der Trägheitssatz: für F​⇀= 0 ⇒ p​⇀= const. Zu einem Inertialsystem gleichförmig bewegte Bezugssysteme sind auch Inertialsysteme. Dies gilt nicht für beschleunigte Bezugssysteme, in denen Trägheitskräfte (= Scheinkräfte) auftreten, die nur von der Bewegung des Bezugssystems herrühren und nicht durch eine fundamentale WW verursacht sind. 12. In einem beschleunigten Bezugssystem sind im allgemeinen Fall folgende Kräfte wirksam: F​⇀′ = m​ ⋅ a​⇀′ = F​⇀physikalisch + F​⇀Trägheit = = F​⇀physikalisch + F​⇀transversal + F​⇀Coriolis + F​⇀zentrifugal + F​⇀linear Dabei treten neben der ’physikalisch’ wirkenden Kraft noch vier Scheinkräfte auf: die Transversalkraft

F​⇀transversal = −m​ (ω​⇀̇ × r​⇀′) ,

die das Teilchen tangential zur augenblicklichen Bahn (transversal zum momentanen Ortsvektor r​⇀′) beschleunigt, die Corioliskraft

F​⇀Coriolis = −2 m​(ω​⇀× υ​⇀′) ,

die in der Drehebene, aber normal auf die Geschwindigkeit v′ des Teilchens in Σ′ wirkt, die Zentrifugalkraft

F​⇀zentrifugal = − (ω​⇀× (ω​⇀× r​⇀′)) ,

die vom Drehzentrum radial nach außen wirkt, und die Linearkraft

F​⇀linear = −m​ ⋅ A​⇀linear ,

wenn das System zusätzlich noch linear beschleunigt ist.

68

2 Mechanik des Massenpunktes

13. Teilchensysteme: 1 ∑ m​i​ r​⇀i​ , M​ i​

Massenmittelpunkt:

r​⇀S​ =

Bewegung des Massenmittelpunkts:

∑F​⇀i​ = M​ i​

d​ 2 r​⇀S​ d​t​

2

,

Erhaltung des linearen Gesamtimpulses eines abgeschlossenen Teilchensystems:

∑F​⇀i​ = 0

Aus



i​

∑m​i​ υ​⇀i​ = M​υ⇀​S​ = M​ i​

d​r⇀​S​ = const. , d​t​

Gesamtdrehimpuls:

L​⇀= ∑m​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) .

Drehimpulssatz:

⇀ ⇀ = ∑ (r​⇀i​ × F​⇀i​ ) = d​L​ = d​ ∑m​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) . D​ d​t​ d​t​ i​ i​

Erhaltung des Gesamtdrehimpulses eines abgeschlossenen Teilchensystems:

Aus

⇀ ⇀ = ∑ (r​⇀i​ × F​⇀i​ ) = d​L​ = 0 D​ d​t​ i​



L​⇀= ∑m​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) = const. i​

Erhaltung der Gesamtenergie eines abgeschlossenen Teilchensystems: E​kin + ∑U​i​ + i​

5

1 1 ∑∑U​j​i​ = E​ 0kin + ∑U​ 0i​ + ∑∑U​ j0​i​ = const. 2 i​ ≠ j​ j​ ≠ i​ 2 i​ ≠ j​ j​ ≠ i​ i​

Übungen: 1. Eine Autokolonne fährt mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h (80 km/h, 130 km/h) auf einer Autobahn. Welchen Abstand müssen die Fahrzeuge einhalten, damit das jeweils hintere Fahrzeug nicht auf das vordere auffährt, wenn dieses plötzlich auf ein festes Hindernis stößt? Notwendige Daten: Im −2 Mittel beträgt die maximale Bremsverzögerung 8 m/s , während die Reaktionszeit im Mittel 1,4 s beträgt.

Zusammenfassung

69

2.

Eine Rakete startet aus der Ruhe vertikal nach oben. In der ersten Beschleunigungsphase von t1 = 60 s erfährt sie eine konstante Beschleunigung von −2 a1 = 40 m/s . Unmittelbar anschließend folgt die zweite Beschleunigungs−2 phase einer Dauer von t2 = 20 s mit a2 = 90 m/s . Anschließend fliegt sie mit konstanter Geschwindigkeit weiter. Welche Höhe und Geschwindigkeit erreicht die Rakete am Ende der ersten und der zweiten Beschleunigungsphase? Nach welchem Gesetz wächst anschließend die Höhe der Rakete? Skizziere Beschleunigungs-, Geschwindigkeits- und Ort-Zeit-Diagramme.

3.

Eine in sträflichem Leichtsinn rechtwinkelig und horizontal aus einem fahrenden Zug geworfene Bierflasche fällt auf eine 4 m unter dem Abwurfpunkt liegende Wiese und schlägt 20 m (in Fahrtrichtung gemessen) vom Abwurfpunkt und 8 m vom Bahnkörper entfernt auf. Mit welcher Geschwindigkeit a) fährt der Zug? b) wird die Flasche abgeworfen? c) trifft die Flasche auf den Erdboden?

4. a) Wie groß ist die Reichweite einer Kanone (Luftreibung vernachlässigt), die eine Granate mit der Mündungsgeschwindigkeit υ unter einem Visierwinkel α (Winkel zwischen Sehlinie und Visierlinie) abfeuert? b) Bei welchem Winkel ist die Reichweite am größten? c) Wie groß ist der Visierwinkel einer Kanone, die eine Granate mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 400 m/s auf ein Ziel auf demselben Niveau in 5000 m Entfernung abfeuert? 5.

−1

Die Pedale eines Fahrrades werden mit einer Drehzahl von 2 s getreten. a) Welche Winkelgeschwindigkeit ergibt sich für die Hinterachse, wenn das Kettenrad und der Zahnkranz 44 bzw. 20 Zähne besitzen? b) Wie groß sind bei einem Raddurchmesser von 0,7 m die momentane Geschwindigkeit der Hinterachse und des jeweils höchsten Punktes des Hinterrades? c) Wie viele km legt der Radfahrer in der Stunde zurück?

6. Ein Supertanker mit 400 000 t Wasserverdrängung fährt mit 15 kn Geschwindigkeit auf Südkurs auf der geographischen Breite 30°. a) Wie groß ist die auf das Schiff wirkende Corioliskraft? (1 kn = 1 Knoten = 1 Seemeile pro Stunde. 1 Seemeile entspricht einer Bogenminute am Äquator oder 1,853 km) b) Gäbe es keine Reibung, wie lange müsste eine genauso große Kraft wirken, um den anfänglich ruhenden Tanker auf 15 kn zu beschleunigen?

70 7.

2 Mechanik des Massenpunktes

Ein oben offener, leerer Eisenbahnwaggon der Masse m0 = 15 t bewege sich −1 reibungsfrei mit υ0 = 2 m/s . Während der Bewegung fällt aus einem (ruhenden) Greifbagger senkrecht von oben Sand mit der Masse m1 = 1 t in den Wagen. a) Wie groß sind die Geschwindigkeit des beladenen Wagens und die kinetische Energie des Wagens vor und nach der Beladung? b) Anschließend wird der Wagen nach unten durch eine Klappe entleert. Wie groß sind danach Geschwindigkeit und kinetische Energie des Wagens? Hinweis: Der Energiesatz gilt bei der Beladung nicht (inelastischer Stoß), wohl aber bei der Entladung! Der Impulssatz gilt immer und reicht zur Berechnung der Geschwindigkeiten und kinetischen Energien aus.

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung A1.1 Das Gravitationsgesetz Zur Zeit Newtons waren die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung (siehe Abschnitt 2.2.2) als empirische Tatsache bekannt. Man wusste, dass die Beschleunigung eines Planeten als Massenpunkt auf seiner elliptischen Umlaufbahn um die (als ruhend angenommene) Sonne in Richtung des Ortsvektors des umlaufenden Planeten im Bezugssystem der Sonne erfolgte und umgekehrt proportional zum Quadrat des Betrags des Ortsvektors, also dem Abstand Sonne–Planet, war:

a​⇀= −

k​ r​ 2

e​⇀r​ ,

(I-2.81)

wobei r​ = |r​⇀| der Betrag des Ortsvektors r​⇀des umlaufenden Planeten im Bezugssystem der Sonne, k die Proportionalitätskonstante und e​⇀r​ der Einheitsvektor in Richtung des Ortsvektors ist. Newton erkannte, dass dies mit seiner Kraftdefinition F​⇀= m​ ⋅ a​⇀als Folge einer Anziehungskraft F​⇀12 auf den Planeten (Masse m1 ) durch die Sonne (Masse m2 ) geschrieben werden konnte (r​12 Abstand Sonne–Planet, e​⇀12 Einheitsvektor in Richtung Sonne–Planet) k​ ⋅ m​1 F​⇀12 = − 2 e​⇀12 r​ 12

Kraft auf den „punktförmigen“ 30 Planeten m1 .

(I-2.82)

30 „punktförmig“ bedeutet: der Abstand der beiden Körper ist viel größer als ihre Ausdehnung.

71

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

Entsprechend dem 3. Newtonschen Axiom (actio = reactio) wirkt aber auch die gleich große, entgegengesetzt gerichtete Kraft vom Planeten auf die Sonne k​′ ⋅ m​2 F​⇀21 = −F​⇀12 = + 2 e​⇀12 r​ 12

Kraft auf die „punktförmige“ Sonne m2 .

(I-2.83)

Damit folgt e​⇀12 F​⇀12 + F​⇀21 = (k​′ ⋅ m​1 − k​ ⋅ m​2 ) = 0, 2 r​ 12 das heißt k​′ ⋅ m​1 = k​ ⋅ m​2 . Diese Gleichung kann durch k​ = γ​ m​2

und

k​′ = γ​ m​1

erfüllt werden, wobei jetzt γ eine universelle Konstante ist, die nicht von den einander anziehenden Massen abhängt; es ist die Gravitationskonstante. Damit ergibt sich m​1 ⋅ m​2 F​⇀12 = −F​⇀21 = −γ​ e​⇀12 2 r​ 12

Newtonsches Gravitationsgesetz (= Massenanziehungsgesetz, Newton’s law of gravitation).

(I-2.84)

Die Bestimmung der Gravitationskonstante ist aus zwei Gründen nicht einfach: 1. ist die Stärke der Gravitationswechselwirkung sehr klein (sie ist ja mit einer −41 die schwächste der vier fundamentalen Kopplungskonstanten von ca. 10 Wechselwirkungen, vgl. Kapitel „Einleitung“, Abschnitt 1.1); 2. kann die Wechselwirkung mit störenden Massen nicht abgeschirmt werden. Die Gravitationskonstante wurde zum ersten Mal (indirekt) im 1798 von Henry Cavendish (britischer Naturwissenschaftler, 1731–1810, Cavendish-Experiment: siehe Anhang A1.4) bestimmt. Ihr heute anerkannter Wert ist γ​ = 6,67408 ± 0,00031 ⋅ 10− 11 m3 kg− 1 s− 2

Gravitationskonstante (gravitational constant). 31

31 Wert nach „Committee on Data for Science and Technology (CODATA)“ 2006.

72

2 Mechanik des Massenpunktes

Newtons entscheidende Verallgemeinerung war nun anzunehmen, dass dieses Kraftgesetz nicht nur für die Planetenbewegung, sondern für zwei beliebige Massen gelte und auch für den „freien Fall“ auf der Erdoberfläche verantwortlich sei. Aus einem Vergleich der Erdbeschleunigung an der Erdoberfläche und der Beschleunigung des Mondes infolge der Erdanziehung konnte er die Mondbeschleunigung berechnen und einer Bestimmung aus der Mondumlaufzeit gegenüberstellen. Die Übereinstimmung bestätigte die Übertragung des Gravitationsgesetzes auf beliebige Massen. Beispiel: Berechnung der Beschleunigung |a​M​ | des Mondes auf seiner Umlaufbahn. Die Erde (Masse mE , Erdradius R) erteilt einem auf ihrer Oberfläche befindlichen Massenpunkt (MP mit Masse m​′ ) die Beschleunigung (aus m​′ m​E​ 32 m​′ ⋅ |a​E​ | = γ​ ) 2 R​ |

γ​ m​E​

a​E​ | =

R​ 2

= g​ ,

g … Erdbeschleunigung. Andererseits gilt für die Beschleunigung des Mondes (Masse mM) auf seiner Bahn infolge der Erdanziehung mit einer Entfernung Erde–Mond von etwa 60 R m​M​ m​E​ und daher (m​M​ ⋅ |a​M​ | = γ​ ) 2 2 60 R​ |

a​M​ | =

γ​ m​E​ 602 R​ 2

.

Aus beiden Gleichung erhält man |

a​M​ |

|

= |

also |a​M​ | =

g​ 2

a​E​ |

1

a​M​ | g​

,

= 2

60

und mit g​ = 9,81 m/s−2 ergibt sich

60

|

a​M​ | ≅ 2,7 ⋅ 10− 3 m/s−2 .

32 Eine radialsymmetrische Massenverteilung wirkt für einen Punkt außerhalb, wie ein Massenpunkt mit der im Zentrum vereinigt gedachten Gesamtmasse. Siehe dazu das analoge Problem der elektrischen Feldstärke im Außenraum einer geladenen Kugel, Band III, Kapitel „Elektrostatik“, Abschnitt 1.3.

73

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

Die Beschleunigung des Mondes lässt sich auch kinematisch aus der Mondumlaufzeit bestimmen. Dazu nehmen wir in guter Näherung an, dass der Mond auf einer Kreisbahn mit dem Radius r = 60 R mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω​ = |ω​⇀| umläuft. Dann gilt für die Zentripetalbeschleunigung des Mondes nach Gl. I-2.15, da seine Bahnbeschleunigung (Tangentialbeschleunigung) bei konstanter Winkelgeschwindigkeit ja gleich Null ist |

2

2

a​n​ | = r​ω​ = 60 R​ω​ .

Für den Zusammenhang von Winkelgeschwindigkeit und Umlaufszeit gilt ω​ =

2 π​ T​ 6

und mit T ≌ 27,3 Tage (siderische Umlaufzeit) = 27,3⋅24⋅3600 s = 2,36⋅10 s 6

und R = 6,37⋅10 m erhält man so für |a​M​ | in Übereinstimmung mit oben 2

|

2 π​ −3 −2 ) ≅ 2,7 ⋅ 10 m/s . a​M​ | = 60.6,37 ⋅ 106 ⋅ ( 6 2,36 ⋅ 10

Die Anwendung des Gravitationsgesetzes auf beliebige Massen ist daher gerechtfertigt. Während in der geschichtlichen Entwicklung zunächst die exakten astronomischen Beobachtungen Tycho de Brahes (Tycho Brahe, genannt Tycho de Brahe, 1546– 1601) standen, die von Kepler empirisch zu den drei Gesetzen der Planetenbewegung zusammengefasst wurden (1609 erstes und zweites Gesetz, 1619 drittes Gesetz) und später (1686) zu Newtons (universellem) Gravitationsgesetz als tieferer Ursache führte, kann man die Keplerschen Gesetze aus der Gültigkeit des Gravitationsgesetzes ableiten, man spricht dann vom Keplerproblem.

A1.2 Das Keplerproblem 33 Wir betrachten die Bewegung eines Planeten (Masse m) im Kraftfeld der als ruhend angenommenen Sonne (Masse M), wobei wir den Ursprung des Koordinatensystems in den Sonnenmittelpunkt legen.34 33 Sieht man die Sonne nicht als ruhend an, so muss man statt einer das Problem beschreibenden Bewegungsgleichung zwei ansetzen – das Zweikörperproblem. 34 Ganz korrekt wäre es, die Bewegung von Sonne und Planet um den gemeinsamen Schwerpunkt 5 zu betrachten. Bei dem Massenverhältnis Sonne : Erde wie 3,33 ⋅ 10 : 1 kann die Sonne in sehr guter Näherung als ruhend angenommen werden.

74

2 Mechanik des Massenpunktes

Wir erinnern uns zunächst, dass für die konservative Gravitationskraft gelten muss (Abschnitt 2.2.3, Gl. I-2.36) M​ ⋅ m​ r​⇀ ⇀V​G​ F​⇀G​ = −γ​ = −m​ ⋅ grad V​G​ = −m​ ⋅ ∇ r​ 2 r​ Das aus dem Gravitationsgesetz folgende Gravitationspotenzial ist daher r​ r​ r​ E​ pG​ot M​ F​⇀G​ d​r⇀​ 1 = −∫ d​r⇀= ​ γ​ M​∫ 2 = −γ​ M​ ( ) | = −γ​ V​G​ = m​ m​ r​ r​ ∞​ ∞​ r​ ∞​

Gravitationspotenzial.

(I-2.85)

Außerdem ist die Gravitationskraft eine Zentralkraft und es muss daher außer der Erhaltung der Gesamtenergie des Planeten 35 auch der Drehimpuls L​⇀= r​⇀× p​⇀erhalten bleiben 36. Wir legen die z-Achse in Richtung von L​⇀ und transformieren auf Polarkoordinaten r und φ in der Ebene ⊥ L​⇀mit x​ = r​ ⋅ cos φ​ und y​ = r​ ⋅ sin φ​ . Der Ortsvektor zum Planeten ist r​⇀= r​ ⋅ e​⇀r​ und daher seine Geschwindigkeit r​⇀̇ = r​ ̇ ⋅ e​⇀r​ + r​ ⋅

d​e⇀​r​ = r​ ̇ ⋅ e​⇀r​ + r​ ⋅ φ​̇ ⋅ e​⇀φ​ ,37 d​t​

(I-2.86)

wenn e​⇀φ​ der Einheitsvektor der Drehung um den Winkel φ ist (er weist in die Richtung senkrecht zu r​⇀). Damit ergibt sich für den Impuls p​⇀= m​ ⋅ r​ ̇ ⋅ e​⇀r​ + m​ ⋅ r​ ⋅ φ​̇ ⋅ e​⇀φ​

(I-2.87)

und damit für den Drehimpuls mit e​⇀r​ × e​⇀r​ = 0 und e​⇀r​ × e​⇀φ​ = e​⇀z​ L​⇀= r​⇀× p​⇀= r​e⇀​r​ × m​ r​ φ​̇ e​⇀φ​ = m​ r​ 2 φ​̇ e​⇀z​ = const.

(I-2.88)

wegen der Zentralkraft. Daraus erhalten wir mit |L​⇀| = L​

φ​̇ =

L​ m​ r​ 2

.

(I-2.89)

35 VG ist ja ein konservatives Potenzial. 36 Also gilt stets: r​⇀⊥ L​⇀und p​⇀⊥ L​⇀⇒ die Bewegung erfolgt in einer Ebene. 2

37 Aus e​⇀r​ = 1 folgt e​⇀r​ ⋅ e​⇀̇ r​ = 0 ⇒ e​⇀̇ r​ ⊥ e​⇀r​ ⇒ e​⇀̇ r​ ∝ e​⇀φ​ ; mit |d​e⇀​r​ | = d​φ​ folgt e​⇀̇ r​ =

d​e⇀​r​ d​t​

=|

d​e⇀​r​ d​t​

| ⋅ e​⇀φ​ =

d​φ​ d​t​

e​⇀φ​ .

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

75

Für die kinetische Energie erhalten wir in Polarkoordinaten p​⇀2

E​kin =

2 m​

2

=

m​ r​ ̇

+

2 2 m​ r​ φ​̇

2

2

=

m​ r​ ̇

2

+

2

L​

2

(I-2.90)

2 m​ r​ 2

und damit für die Gesamtenergie, die jetzt nur mehr von r abhängt

E​ =

m​ r​⇀2̇ 2

2 2 M​ m​ m​ r​ 2̇ M​ m​ m​ r​ ̇ L​ − γ​ = = + + V​eff (r​) = const. (I-2.91) 2 r​ 2 r​ 2 2 m​ r​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

− γ​

V​ eff

mit der effektiven potenziellen Energie („effektives Potenzial“) L​ 2

V​eff (r​) =

2 m​ r​

2

+ m​ V​G​ (r​) =

L​ 2 2 m​ r​

2

− γ​

M​ m​ 38 . r​

(I-2.92)

Die graphische Darstellung (Abb. I-2.18) der drei Energieterme liefert sofort die Grenzwerte von r für den Fall der gebundenen Bewegung (E < 0). Zur Ableitung des ersten Keplerschen Gesetzes gehen wir von der Energieerhaltung aus (Gl. I-2.91), ermitteln r​ ̇ zu r​ ̇ =

d​r​ d​t​

= ±√

2 m​

(E​ − V​eff (r​)) = ± √2 ⋅

2

E​ m​

+

2 γ​ M​ L​ − 2 2 ​r m​ r​

(I-2.93)

und suchen die Bahngleichung r​ = r​ (φ​). Dazu eliminieren wir die Zeit unter VerL​ d​t​ ⋅ L​ wendung der Drehimpulserhaltung. Mit φ​̇ = , also d​φ​ = erhalten wir so 2 m​ r​ m​ r​ 2 die Differentialgleichung für die Planetenbahn

d​r​ d​φ​

L​

2

=

2

m​r​ d​r​ r​ ⋅ =± ​ L d​t​ L​ m​

√2 ⋅ E​ + 2 γ​ M​ − m​

r​

L​ m​

2

( )

.

(I-2.94)

r​ 2

2

wird als „Zentrifugalpotenzial“ bezeichnet (siehe das analoge Problem des α-Teilchens im 2 2 m​ r​ Coulombfeld in Anhang 2, Abschnitt A2.4.1 und in Band V, Kapitel „Atomphysik“, Anhang 3). In der Literatur wird oft unkorrekt die potenzielle Energie als Potenzial bezeichnet, auch beim Gravitationspotenzial. 38

76

2 Mechanik des Massenpunktes

E,V

L _____ = „Zentrifugalpotenzial“(-energie) 2mr 2

Veff

r

0 E

Veff < 0 Ekin > 0

rmin: Perihel (r˙2 = 0)

⎛ mr˙2 ⎞ E = ⎜ ____ + Veff ⎟ ⎝ 2 ⎠

rmax: Aphel (r˙2 = 0)

γmM – _____ = „Gravitationspotenzial“(-energie) ) r

Abb. I-2.18: Energieverhältnisse der Keplerbewegung: nur für E < 0 ergibt sich eine periodische Bewegung zwischen rmax und rmin , den Radien, an denen r​ ̇ = 0 gilt.

Für die Lösung findet man 39 r​ (φ​) =

p​ , 1 + ε​ cos (φ​)

39 Zunächst setzen wir der einfacheren Schreibung halber h​ r​

(I-2.95)

E​ m​

= c​ und

L​ m​

= h​ und erhalten so

2

d​φ​ = ±

d​r​ . Der Radikand im Nenner wird in die Differenz zweier Quadrate 2

2 γ​ M​ h​ 2 c​ + − 2 r​ r​



umgeschrieben, wodurch die Integration sofort möglich ist: 2 c​ +

2 γ​ M​ r​



h​ r​

2

2

2

= α​ − u​

2

mit

77

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

a

a

b

p φ

ε = e/a Aphel

e

 r (φ)

F2

P



dr

Perihel S = F1





 

1 dA = __ r × dr 2



 

1 dA 1 ___ = __ r × ʋ = ____ L = const. dt 2 2m

Abb. I-2.19: 1. Keplersches Gesetz: Die Planetenbahnen des Sonnensystems sind Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht.

das ist die Polardarstellung eines Kegelschnitts, wobei der Pol im Brennpunkt liegt (siehe Abb. I-2.19 für den gebundenen Zustand mit ε < 1). In unserem Fall gilt also für den „Parameter“ p

2

2

α​ = 2 c​ +

γ​ M​ h​

d​φ​ = ±

2

2

2

u​ = (

2

γ​ M​

2

2

2

h​ γ​ M​ 2 γ​ M​ h​ − ) = + ; − 2 2 h​ r​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ r​ h​ r​

mit

d​u​ =

− u​

h​ r​

u​

d​u​

√α​

2

= const. ,

und somit bei der Wahl des negativen Vorzeichens φ​ +

k​ ⏟ I​n​t​e​g​r​a​t​i​o​n​s​k​o​n​s​t​a​n​t​e​

2

2

d​r​

= arc cos​

folgt

u​ α​



2

u​ =

γ​ M​ h​



h​ r​

= α​ ⋅ cos (φ​ + k​) ⇒ r​ (φ​) =

h​ γ​ M​ − α​ cos (φ​ + k​) h​

h​ γ​ M​

= 1−

α​ h​ ⋅ cos (φ​ + k​) γ​ M​

. Messen wir den

Winkel φ vom Minimalwert des Radius („Perihel“) weg, dann wird k = π für φ = 0. Damit erhalten wir die Polardarstellung eines Kegelschnitts mit cos (φ​ + π​) = −cos (φ​) : r​ (φ​) =

mit dem „Parameter“ p​ =

ε​ =

α​ h​ γ​ M​

=

h​

E​

√2 m​ + γ​ M​

h​

=

γ​ M​

2

γ​ M​ h​

2

2

L​

p​ 1 + ε​ cos (φ​)

2 2

und der „Exzentrizität“

γ​ m​ M​

2

= √1 +

2 E​p​

. Dasselbe Ergebnis hätte sich auch ergeben, wenn wir

γ​ m​ M​

das positive Vorzeichen der Wurzel gewählt hätten.

78

2 Mechanik des Massenpunktes

p​ =

L​ 2

Parameter der Ellipsenbahn

2

γ​ m​ M​

(I-2.96)

und die „Exzentrizität“ ε

ε​ = √1 +

2 E​p​ γ​ m​ M​

= √1 +

2 E​L​ 2

Exzentrizität der Ellipsenbahn.

2

m​ ( γ​ m​ M​)

(I-2.97)

Für ε < 1 ergibt sich so eine Ellipse, für ε = 1 eine Parabel und für ε > 1 eine Hyperbel. Der gebundene Zustand der Ellipsenbahn ergibt sich also, wenn die kinetische Energie des Himmelskörpers kleiner ist als der Betrag der potenziellen Energie, wenn also gilt m​ M​ 1 2 m​ υ​ < γ​ . 2 r​ In diesem Fall wird die Gesamtenergie E​ =

(I-2.98)

1 m​ M​ 2 m​ υ​ − γ​ daher negativ. 2 r​

Damit ist das erste Keplersche Gesetz abgeleitet: 1

Die Planetenbahnen des Sonnensystems sind Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht.40 Die für die Planetenbahn wichtigen Parameter sind die große Halbachse p​ γ​ m​ M​ a​ = =− , sie hängt nur von der Gesamtenergie E ab, nicht vom Bahn2 2 E​ 1 − ε​ p​ L​ , sie ist bei vordrehimpuls L, und die kleine Halbachse b​ = = 2 √1 − ε​ √−2 m​ E​ gegebener Energie –E proportional zu L. Unter Verwendung der beiden Ellipsenachsen a und b erhält man für die Exzentrizität ε​ =

e​ a​

=

√a​ 2 − b​ 2 a​

p​ = a​ (1 − ε​ 2 ) = a​ (1 −[1 −

b​ 2 a​

= √1 −

]) = 2

b​ 2 a​

2

und für den Parameter

b​ 2 . a​

6

40 Die Erdbahn ist fast kreisförmig: a = 1 AE (= Astronomische Einheit) = 149,59787 ⋅ 10 km; ε = 0,0162 ⇒ b​ = a​

√1 − ε​

2

6

= 149,578 ⋅ 10 km . Nur die Venusbahn ist mit ε = 0,0068 noch kreis-

ähnlicher. Die höchste Exzentrizität weist die Merkurbahn mit ε = 0,2056 auf.

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

79

Die große Halbachse a hängt nur von der Gesamtenergie E ab, umgekehrt γ​ m​ M​ hängt die Gesamtenergie E​ = − nur von der großen Halbachse a ab; alle El2 a​ lipsenbahnen mit gleich großer Halbachse a haben daher unabhängig von der kleinen Achse b, also unabhängig vom konstanten Drehimpuls L, dieselbe Energie.41 Für E​ = (

m​ υ​ 2 γ​ m​ M​ − ) % 0 gilt sowohl für die Halbachse a / ∞ als auch 2 r​

für die Exzentrizität ε / 1, die Bahnkurve wird zur Parabel. Besitzt also ein Körper an der Oberfläche eines Zentralkörpers der Masse M und dem Radius R die Ge2 γ​ M​ , die Fluchtgeschwindigkeit (escape speed), dann verschwindigkeit υ​F​l​ = √ R​ lässt der Körper den Zentralkörper unabhängig davon, unter welchem Winkel zur Oberfläche er startet. Für υ​ < υ​F​l​ wird die Bahn zur Ellipse (ε < 1), für υ​ > υ​F​l​ zur Hyperbel (ε > 1). Beispiel: Verschiedene Fluchtgeschwindigkeiten. 24 6 Erde: ME = 5,98⋅10 kg, RE = 6,37⋅10 m ⇒

υ​F​l​ = √

2 ⋅ 6,67 ⋅ 10− 11 ⋅ 5,98 ⋅ 1024 6,37 ⋅ 10

30

Sonne: MS = 1,99⋅10

υ​F​l​ = √

22

kg,

−1

8

RS = 6,96⋅10 m ⇒

2 ⋅ 6,67 ⋅ 10− 11 ⋅ 1,99 ⋅ 1030

= 6,18 ⋅ 105 m/s− 1

6,96 ⋅ 108

Mond: MM = 7,34⋅10 kg,

υ​F​l​ = √

4

= 1,12 ⋅ 10 m/s

6

6

RM = 1,74⋅10 m ⇒

2 ⋅ 6,67 ⋅ 10− 11 ⋅ 7,43 ⋅ 1022 1,74 ⋅ 10

6

= 2,37 ⋅ 103 m/s− 1

41 Diese Tatsache war für die Sommerfeldsche Erweiterung des Bohrschen Atommodells wichtig (vgl. Band V, Kapitel „Atomphysik“, Abschnitt 2.2.4 und Anhang 1).

80

2 Mechanik des Massenpunktes

Wir haben schon in Abschnitt 2.2.2 gesehen, dass für eine Zentralkraft gilt d​ 2 r​⇀ d​ 2 r​⇀ = m​ ⋅ r​⇀× 2 = 0 2 d​t​ d​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

r​⇀× m​

r​⇀×



d​ 2 r​⇀ =0 d​t​ 2

F​⇀↑↓r​⇀

und durch Integration (Gl. I-2.24) r​⇀×

d​r⇀​ = 2 c​⇀= const. d​t​

Damit ist die vom Brennstrahl (Abstand Planet–Sonne) in der Zeiteinheit überstrichene, orientierte Fläche, die Flächengeschwindigkeit d​A⇀​ 1 d​r⇀​ 1 ⇀ = (r​⇀× ) = L​ = c​⇀ d​t​ 2 d​t​ 2 m​

(I-2.99)

konstant. Dieser Flächensatz ist das zweite Keplersche Gesetz:

1

In gleichen Zeiten überstreicht der Brennstrahl (Abstand Planet–Sonne) gleiche Flächen. Der Flächeninhalt A einer Ellipse ist A​ = π​ ⋅ a​ ⋅ b​ und mit b​ = √a​ ⋅ p​ = (a​ ⋅ p​)½ ³⁄₂ ½

A = πa p . Der Flächensatz (Gl. I-2.99) liefert andererseits mit T als Umlaufzeit A​ = T​

d​A​ L​ = T​ ⋅ . d​t​ 2 m​

Wir setzen gleich und quadrieren: 2 3 2 π​ a​ p​ = T​

L​ 2 4 m​ 2

oder a​ 3 T​

2

=

L​ 2 2

2

4 π​ m​ p​

=

γ​ M​ 4 π​ 2

.

(I-2.100)

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung 3

81

2

Das Verhältnis a​ / T​ ist damit gleich einer von den Planeten unabhängigen Eigenschaft des Sonnensystems und es gilt somit für zwei beliebige Planeten 3

3

2

2

a​ 1 : a​ 2 = T​ 1 : T​ 2 .

(I-2.101)

Das ist das dritte Keplersche Gesetz: Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten um die Sonne verhalten sich wie die dritten Potenzen der großen Halbachsen ihrer Ellipsenbahnen.42

A1.3 Bestimmung der Erdbeschleunigung A1.3.1 Das mathematische, ebene Pendel (simple pendulum) Schon Newton bestimmte 1686 mit einem Schwerependel die Erdbeschleunigung und fand, dass die Schwingungsdauer nicht vom verwendeten Pendelmaterial abhängt. Zur Bestimmung der Schwingung eines idealisierten Pendels (mathematisches Pendel) betrachten wir einen Massenpunkt (MP), der an einem masselosen, gespannten Faden im Erdschwerefeld um einen Aufhängepunkt schwingt. Auf den MP wirkt einerseits die Schwerkraft F​⇀G​ = m​ ⋅ g​⇀, andererseits die Fadenspannung F​⇀S​ , die der Komponente F​⇀n​ der Schwerkraft in Fadenrichtung (Normalkomponente) gerade die Waage hält und dadurch den MP auf die Kreisbahn zwingt (Zwangsbedingung). Beschleunigend wirkt daher nur die Tangentialkomponente F​⇀t​ = m​ ⋅ g​ ⋅ sin φ​ , die dazu führt, dass sich die Bogenlänge s​⇀mit der Zeit ändert und zwar sich bis zur Vertikallage (x = 0) verkleinert, sich dann bis zum maximalen Ausschlag gegen die wirkende Kraft F​⇀t​ vergrößert usf. Die beschleunigende Kraft F​⇀t​ ist also immer entgegen s​⇀gerichtet.

42 In dieser einfachen Form gilt das Gesetz nur für unendlich große Sonnenmasse (keine Sonnenbewegung um den gemeinsamen Schwerpunkt von Sonne und Planet). Bei der exakten Berechung m​ M​ zu ersetzen. Im Kraft- und ist in den dynamischen Größen m durch die reduzierte Masse μ​ = m​ + M​ Potenzialausdruck bleibt m natürlich erhalten. Die obige Beziehung lautet daher genau: 3 2 2 3 a​ L​ L​ μ​ γ​ m​ M​ γ​ m​ M​ γ​ (m​ + M​) a​ = = ⋅ = = ⇒ hängt auch von der Planetenmas2 2 2 2 2 2 2 2 2 m​ M​ T​ 4 π​ μ​ p​ 4 π​ μ​ L​ 4 π​ T​ 4 π​ m​ + M​ se m ab, das 3. Keplersche Gesetz ist nur eine Näherung.

1

82

2 Mechanik des Massenpunktes

y x

φ

l



 g



F s = –mg cos φ



m

s





F t = mg sin φ

φ φ

   F G = m⋅g



F n = mg cos φ

Abb. I-2.20: Das mathematische, ebene Pendel.

Entsprechend Abb. I-2.20 muss gelten m​

2 d​ s​⇀ = −F​⇀t​ = −m​ g​⇀sin φ​ d​t​ 2

(I-2.102)

bzw. mit |s​⇀| = s​ wenn wir nur die Beträge betrachten m​

d​ 2 s​ d​t​ 2

= −m​ g​ sin φ​ .

(I-2.103)

Mit s​ = l​ ⋅ φ​ können wir dies in Polarkoordinaten überführen l​ m​ φ​̈ = −m​ g​ sin φ​

(I-2.104)

und erhalten die Bewegungsgleichung φ​̈ +

g​ sin φ​ = 0 l​

Bewegungsgleichung des mathematischen ebenen Kreispendels.

(I-2.105)

Das ist eine nichtlineare Differentialgleichung (DG) 2. Ordnung (siehe Band II, Kapitel „Nichtlineare Dynamik und Chaos“, Abschnitt 2.1.3). Diese Bewegungsgleichung stimmt nicht mit der Schwingungsgleichung des harmonischen Oszillators überein! Nur für den Fall sehr kleiner Auslenkwinkel φ, für den sin φ ≌ φ gesetzt werden kann, gilt

83

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

φ​̈ +

g​ φ​ = 0 l​

Bewegungsgleichung des mathematischen ebenen Kreispendels für sehr kleine Ausschlagswinkel φ,

(I-2.106)

was zur Schwingungsgleichung des harmonischen Oszillators analog ist (vgl. Kapitel „Mechanische Schwingungen und Wellen“, Abschnitt 5.1.1). Der Vergleich 2 mit x​̈ + ω​ 0 x​ = 0 zeigt, dass in diesem Fall für die Frequenz des mathematischen Pendels gilt ω​0 =

2 π​ g​ =√ T​0 l​

(I-2.107)

und damit für die Schwingungsdauer

T​0 = 2 π​√

l​ 43 . g​

(I-2.108)

Durch Messung der Schwingungsdauer kann also der Betrag der Erdbeschleunigung g gemessen werden.

A1.3.2 Das physikalische Pendel (physical pendulum) In diesem Fall schwingt kein Massenpunkt sondern ein starrer Körper um eine raum- und körperfeste Achse (Abb. I-2.21). ̇ ⇀. Zur Beschreibung der Bewegung benützen wir die Bewegungsgleichung L​⇀= D​ Die körperfeste Drehachse durch O legen wir in die z-Achse (normal zur Papierebene); damit liegt auch der Vektor der Winkelgeschwindigkeit ω​⇀= {0,0,ω​z​ = φ​̇ } in der z-Achse. Die Komponenten des Drehimpulses sind daher (siehe Kapitel „Mechanik des starren Körpers“, Abschnitt 3.3.4) gemäß der Beziehung L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀44 L​x​ = I​x​z​ φ​̇ ,

L​y​ = I​y​z​ φ​̇ ,

L​z​ = I​z​z​ φ​̇ .

(I-2.109)

Die Schwerkraft F​⇀G​ = m​ ⋅ g​⇀greift im Massenmittelpunkt (Schwerpunkt) an und verursacht ein bewegendes Drehmoment um die z-Achse (s … Abstand des Schwerpunkts von der Drehachse) ⇀z​ = −m​ g​ s​ ⋅ sin φ​ ⋅ e​⇀z​ . D​

(I-2.110)

43 Diese Beziehung wurde erstmals 1673 von Christiaan Huygens (1629–1695) angegeben. 44 I​ ̃ ist der Trägheitstensor.

84

2 Mechanik des Massenpunktes

y

x

O

s φ

v

S

g

l⋅sin φ

v

v

F G = m⋅g

Abb. I-2.21: Das physikalische Pendel.

Als Bewegungsgleichung erhalten wir so L​̇ z​ = I​z​z​ φ​̈ = −m​g​s​ ⋅ sin φ​

(I-2.111)

bzw. mit Izz = IO als Trägheitsmoment um die z-Achse

φ​̈ +

m​ g​ s​ 45 sin φ​ = 0 I​O​

Bewegungsgleichung des physikalischen Pendels.

(I-2.112)

Diese Gleichung stimmt mit jener des mathematischen Pendels überein, wenn man 1 m​s​ = l​ I​O​

(I-2.113)

setzt.

45 Damit erhält man aus den Drehimpulsbeziehungen Gl. (I-2.109) noch zwei weitere periodisch wechselnde Drehmomente D​x​ = L​̇ x​ = I​x​z​ φ​̈ um die x-Achse und D​y​ = L​̇ y​ = I​y​z​ φ​̈ um die y-Achse. Da aber die Bewegung nur um die z-Achse möglich ist, werden diese beiden Drehmomente durch gegengleiche Drehmomente in den Lagern der Drehachse („Reaktionsmomente“) aufgehoben. Diese bewirken aber eine erhöhte Lagerreibung und damit eine starke Dämpfung der Drehschwingung. Der Pendelkörper sollte daher immer um eine freie Achse, also um eine Achse größten oder kleinsten Trägheitsmoments, schwingen (siehe dazu Kapitel „Mechanik des starren Körpers“, Abschnitt 3.3.7).

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

85

Für den Fall sehr kleiner Auslenkungen kann man wieder sin φ ≌ φ setzen und erhält durch Vergleich mit der Schwingungsgleichung des harmonischen Oszillators für die Schwingungsdauer

T​ O​ = 2 π​√

I​O​ D​ *

O​

I​O​

= 2 π​√

m​ g​ s​

= 2 π​√

l​ r​

g​

Schwingungsdauer des physikalischen Pendels für kleine Ausschläge,

(I-2.114)

wenn man mit D​ * = m​ g​ s​ das Direktionsmoment bezeichnet. Die Schwingungsdauer T0 eines mathematischen Pendels stimmt mit jener des physikalischen T O überein, wenn für seine Pendellänge entsprechend Gl. (I-2.113) gilt O​

l​ = l​ r​ =

I​O​ m​ s​

reduzierte Pendellänge um O.

(I-2.115)

Beispiel: Reduzierte Pendellänge eines einfachen Kugelpendels mit masselosem Aufhängefaden. O

z

2ρ S m

Trägheitsmoment um O (nach dem Steinerschen Satz, siehe „Mechanik des star2 ren Körpers“, Abschnitt 3.3.5): I​O​ = m​ z​ 2 + m​ ρ​ 2 ⇒ reduzierte Pendellänge 5 l​ rO​​ =

I​O​

1

=

m​ z​

m​ z​

(m​ z​ 2 +

2

2 m​ ρ​ ) = z​ +

5

2

m​

5

2 2 ρ​ 2 ρ​ ) = z​ (1 + z​ 5 z​ 2

⇒ Eine Kugel von 5 cm Durchmesser an einem 1 m langen Faden besitzt eine reduzierte Pendellänge von O​

l​ r​ = 100 (1 +

2 5

2



2,5

) = 100,025 cm ⇒ 2

100

T​ O​ T​0

O​

=√

l​ r​

100

=√

100,025

= 1,000125

100

⇒ wird das Kugelpendel als mathematisches Pendel behandelt, beträgt der Fehler 0,125 ‰!

86

2 Mechanik des Massenpunktes

A1.3.3 Das Reversionspendel 46 Schwingungszeiten eines Pendels können zwar sehr genau gemessen werden, der einfache Zusammenhang mit der Erdbeschleunigung ergibt sich aber nur in der Näherung sin φ ≌ φ. Außerdem müssen neben der Schwingungsdauer auch die Pendellänge oder der Schwerpunktsabstand gemessen werden. Zur genauen Bestimmung der Erdbeschleunigung verwendet man daher ein Reversionspendel. Dieses ist mit zwei Aufhängeschneiden ausgestattet, deren Abstand reguliert werden O​ kann. Es gestattet eine sehr genaue Ermittlung der reduzierten Pendellänge l​ r​ . Wir betrachten nochmals ein physikalisches Pendel und denken uns seine reO​ duzierte Pendellänge l​ r​ vom Drehpunkt O aus in Richtung des Schwerpunkts S bis zum Endpunkt A aufgetragen (Abb. I-2.22). Jetzt vertauschen wir den bisherigen Drehpunkt O mit A, sodass das Pendel jetzt um A schwingt. Die neue reduzierte Pendellänge für diese Schwingung ist jetzt I​A​

A​

l​ r​ =

O​ m​ (l​ r​

− s​)

.

(I-2.116)

y m x

O

s

lrO

S

lrO – S A

Abb. I-2.22: Ein physikalisches Pendel mit zwei vertauschbaren Achsen bei O und A im Abstand O​ der reduzierten Pendellänge l​ r​ .

46 Erdacht von Johann Gottlieb Friedrich von Bohnenberger (1765–1831), ausgeführt und angewendet von Henry Kater (1777–1835): das „Kater Pendulum“. Das Reversionspendel war lange Zeit das wichtigste Instrument zur Bestimmung der Erdbeschleunigung.

87

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

Nach dem Steinerschen Satz gilt allgemein für das Trägheitsmoment I​A​′ bei der Drehung um eine Achse A′, die nicht durch den Schwerpunkt geht (siehe „Mechanik des starren Körpers“, Abschnitt 3.3.5) I​A​′ =

2

+

I​A​ ⏟

l​ M​ ⏟⏟⏟⏟⏟

T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ u​m​ S​c​h​w​e​r​p​u​n​k​t​s​a​c​h​s​e​

(I-2.117)

T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ d​e​r​ G​e​s​a​m​t​m​a​s​s​e​ i​n​ S​ u​m​ A​′

und daher im vorliegenden Fall für I​A​ =

O​

+

I​S​ ⏟ T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ u​m​ S​c​h​w​e​r​p​u​n​k​t​s​a​c​h​s​e​

2

(l​ r​ − s​) M​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

.

(I-2.118)

.

(I-2.119)

T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ d​e​r​ G​e​s​a​m​t​m​a​s​s​e​ i​n​ S​ u​m​ A​

A​

Für l​ r​ ergibt sich daher A​

l​ r​ =

I​S​ + (l​ rO​​ − s​)2 ⋅ m​ O​ m​ (l​ r​

− s​)

I​S​

O​

= l​ r​ − s​ +

O​ m​ (l​ r​

− s​)

O​

Für l​ r​ ergibt sich mit dem Steinerschen Satz O​

l​ r​ =

I​O​ I​S​ + s​ 2 m​ I​S​ = = s​ + m​ s​ m​ s​ m​ s​

(I-2.120)

und daher O​

l​ r​ − s​ =

I​S​ . m​ s​

(I-2.121)

A​

Das setzen wir in den obigen Ausdruck für l​ r​ (Gl. I-2.119) ein und erhalten A​

O​

l​ r​ = l​ r​ .

(I-2.122)

Vertauscht man also den Drehpunkt O mit A, so ändert sich die reduzierte Pendellänge nicht. Damit sind aber auch die beiden Schwingungsdauern gleich, also T​ A​ = T​ O​

Bedingung für das Reversionspendel.

(I-2.123)

Um die Erdbeschleunigung also genau zu messen, hängt man das Reversionspendel abwechselnd an seinen beiden Schneiden auf und reguliert den Schneidenabstand, bis die Schwingungsdauer für beide Aufhängungen genau gleich ist (Abb. I-2.23). Dann ist der leicht messbare Schneidenabstand gleich der reduzierten Pendellänge l​r​ und es gilt

88

2 Mechanik des Massenpunktes

s

Sch 1 (O) S lrO – s

v

g

lrO = lrA

Sch 2 (A)

Abb. I-2.23: Schematische Zeichnung eines Reversionspendels. Gesamte Systemmasse: m.

T​ = 2 π​√

l​r​ . g​

(I-2.124)

Hieraus kann nun g mit großer Genauigkeit ermittelt werden. Die Erdbeschleunigung g ist wegen der Erdrotation, der Ortsabhängigkeit des Erdradius aufgrund der Abplattung und der ungleichmäßigen Dichteverteilung vom Ort abhängig. Ein Normwert gn ist heute international auf den exakten Wert g​n​ = 9,80665 m s− 2 festgelegt. A1.4 Bestimmung der Gravitationskonstante Henry Cavendish wollte mit einer von John Michell (1724–1793; englischer Naturphilosoph und Geologe) etwa 1760 konstruierten und gebauten Apparatur die Dichte der Erde bestimmen („die Welt abwiegen“). Seine Messwerte wurden erst mehr als 100 Jahre später von Boys (Sir Charles Vernon Boys, 1855–1944) für eine Bestimmung der Gravitationskonstante des Newtonschen Gravitationsgesetzes benützt (C. V. Boys, Nature 50, 571 (1894)). Zu ihrer Bestimmung muss die Gravitationswirkung zweier bekannter Massen gemessen werden. Die Anordnung von Cavendish war ein „Massendipol“ (Hantel, dumbbell) aus kleinen Bleikugeln als Drehpendel,

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

89

r = 23 cm

M = 158 kg

l = 180 cm m

M

m = 0,73 kg

Abb. I-2.24: Das Cavendish Experiment, 1798: Ein Drehpendel mit zwei kleinen Bleikugeln (blau) wird durch zwei große Bleikugeln (grau) ausgelenkt. Ein Lichtstrahl wird an einem fest mit dem Pendel verbundenen Spiegel reflektiert und zeigt die Auslenkung auf einer Skala.

der mit zwei großen Bleikugeln außen in Wechselwirkung trat (Abbn. I-2.24 und I-2.25) Wurden die großen Kugeln den kleinen genähert (Abstand der Kugelzentren r = 230 mm), konnte über den Spiegel durch Verschiebung eines Lichtzeigers auf einer Skala (bzw. die Verschiebung des Nullpunkts bei schwingender Messung) eine Drehung des Pendels gegen die Fadentorsion beobachtet werden. Im Gleichm​ ⋅ M​ gewicht muss das Drehmoment durch die Massenanziehung D​Gr​ ​ = l​ ⋅ F​ = l​ ⋅ γ​ r​ 2 gleich dem Drehmoment durch die Fadentorsion, also dem Produkt aus Direktionsmoment D​ * =

π​ G​ ⋅ R​ 4 (G … Torsionsmodul des Aufhängedrahtes, R … Drahtdurch2 L​

messer, L … Drahtlänge) und Drehwinkel φ sein (siehe Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.2.2), also D​G​r​ = l​ ⋅ γ​

m​ ⋅ M​ r​ 2

= D​T​ = D​ * ⋅ φ​ . ∗

(I-2.125)

Cavendish bestimmte das Direktionsmoment D seines Drehpendels aus der gemessenen Schwingungsdauer von ca. 7 Minuten (siehe Abschnitt A1.3.2, Gl. (I-2.114)): I​ T​ = 2 π​√ D​ * (Abb. I-2.26).

90

2 Mechanik des Massenpunktes

p

G H m

M

H

G

M

P

r

r F

K

F

L E T

A S

nh

D

BC G

α m

E

W

D

W

R

R

hn

A S

T

C B G

Abb. I-2.25: Schnittzeichnung durch die von Cavendish benützte Drehwaage mit Bleikugeln von 51 mm Durchmesser und m = 0,73 kg in einem Abstand von l​ = 1,8 m. Die großen Bleikugeln (300 mm Durchmesser, M = 158 kg) waren auf einem drehbaren Rahmen montiert. (Nach H. Cavendish, Philosophical Transactions of the Royal Society of London, 88, 469 (1798).)

Unter Vernachlässigung der Masse des Dreharms gegen die Masse der Kugeln folgt für das Trägheitsmoment I der als punktförmig angenommenen Massen m (siehe Kapitel „Mechanik des starren Körpers“, Abschnitt 3.3.4) l​ 2 l​ 2 2 m​ l​ 2 m​ l​ 2 I​A​ = m​ ( ) + m​ ( ) = = 2 2 4 2

(I-2.126)

und damit T​ = 2 π​√

m​ l​ 2 2 D​ *

(I-2.127)

bzw. D​ * = 4 π​ 2

m​ l​ 2 2 T​ 2

.

(I-2.128)

In die Gleichung der Drehmomente Gl. (I-2.125) eingesetzt, kann nach der Gravitationskonstante aufgelöst werden

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

91

Abb. I-2.26: Radierung, die Cavendish bei der Bestimmung der Gravitationskonstante mit seinem Drehpendel zeigt.

γ​ =

D​ * r​ 2 φ​ l​ m​ M​

=

2 2 2 π​ l​ r​

M​ T​

2

φ​ .

(I-2.129)

Bei bekanntem γ können die Erdmasse und die Erddichte bestimmt werden, wenn man die Gewichtskraft, die auf eine Masse an der Erdoberfläche wirkt, der Gravitationswechselwirkung mit der Erdmasse gleichsetzt, also m​

F​ G​ = m​ ⋅ g​ = γ​

m​ M​E​

(I-2.130)

2

r​ E​

(g … Erdbeschleunigung, ME … Erdmasse, rE … Erdradius), woraus sich M​E​ =

g​ ⋅ r​ E2 ​ γ​

und

ρ​E​ =

M​E​ 3 4 π​ r​ E​

= /3

3 g​

(I-2.131)

4 π​ r​E​ γ​

ergeben.47 Cavendish rechnete die Gravitationskonstante nicht explizit aus, sondern bestimmte aus den Verhältniszahlen nur die Dichte der Erde zu −3 3 −3 ρ​E​ = 5,448 g cm = 5,448 ⋅ 10 kg m .48

47 Der Erdradius rE war durch die erstmals von Tycho Brahe (1589) und Snellius (1615) vorgenommene und später vervollkommnete Gradmessung mittels Triangulation bereits hinreichend bekannt – Gradmessung in Peru (1735–1744) und Lappland (1736–1737) im Auftrage der Academie des Sciences de l’Institut de France (der „Pariser Akademie der Wissenschaften“). 48 Durch einen Fehler, den Francis Baily (1774–1844) später in der Rechnung fand, war das Ergeb−3 nis von Cavendish ρE = 5,48 ± 0,038 g cm .

92

2 Mechanik des Massenpunktes

Aus dem korrigierten Ergebnis der Erdmasse (siehe Fußnote 48) bestimmte Boys 1894 den Wert der Gravitationskonstanten zu 2

γ​ = g​

r​ E​ = 6,74 ⋅ 10− 11 m3 kg− 1 s− 2 , M​E​

(I-2.132)

einen Wert, der auf 1 % genau mit dem derzeit akzeptierten Wert von γ​ = 6,67408 ± 0,00031 ⋅ 10−11 m3 kg−1 s−2

(I-2.132a)

übereinstimmt.49 Die Experimente wurden 1896 von Eötvös (Loránd Eötvös, 1848–1919, ungarischer Physiker) mit höherer Präzision wiederholt; Eötvös untersuchte auch in den Jahren ab 1890 bis 1915 mit Hilfe eines Drehpendels, dessen eine Masse aus Platin, die andere aus 8 verschiedenen Stoffen bestand, die Gleichheit von träger und schwerer Masse mit großer Genauigkeit und fand so, dass träge und schwere Masse innerhalb der Messgenauigkeit übereinstimmen. Dicke (Robert Henry Dicke, 1916– 1997, US-amerikanischer Physiker) zeigte 1964 in einem aufwendigen Experiment mit einem Drehpendel, das aus drei Massen bestand, zwei aus Aluminium, einer aus Gold,50 dass der Unterschied in der Gravitationswechselwirkung von Alumi−11 nium und Gold kleiner als (1.3 ± 1.0)⋅10 ist, fand also mit hoher Genauigkeit, dass die Gravitationswechselwirkung stoffunabhängig und damit keine Körpereigenschaft ist (P. G. Roll, R. Krotkov und R. H. Dicke, Annals of Physics 26, 442 (1964)). Eine der aktuellsten Messungen der Gravitationskonstanten erfolgte 2000 an der University of Washington in Seattle, USA. Als Pendel wurde in diesem Fall eine flache Platte aus Pyrexglas verwendet, die in einer Vakuumkammer auf einem Torsionsfaden hängend im Zentrum eines Drehtisches angebracht ist, auf dem vier Attraktormassen befestigt sind (Abb. I-2.27). Wenn sich der Tisch mit konstanter Umdrehungsgeschwindigkeit ωa dreht, wird auf das Pendel entsprechend der Gravitationswechselwirkung mit den Attraktormassen ein sinusförmiges Drehmoment ausgeübt. Nun wird die Kammer samt Pendel und Torsionsfaden so hin- und hergedreht (ωi (t)), dass die Verdrehung des Pendels minimal ist. In diesem Fall ist die Drehbeschleunigung ωi (t) der Vakuumkammer gleich der Drehbeschleunigung des Pendels durch die Gravitationswech-

49 Wert für 2014 vom Committee on Data for Science and Technology (CODATA) vom 30. Juli 2015. 50 Das Drehpendel mit den gleichschweren, aber aus verschiedenen Stoffen bestehenden Kugeln war senkrecht zum Meridian aufgehängt und sollte daher eine Verdrehung erleiden, wenn die Zentrifugalkraft, die ja der trägen Masse proportional ist, zufolge der Erdrotation auf die beiden Kugeln −8 differiert. Der Unterschied erwies sich als kleiner als 10 . Dieses Ergebnis war eine fundamentale Stützung für die allgemeine Relativitätstheorie.

Anhang 1 Gravitation und Planetenbewegung

93

Abb. I-2.27: Apparat eines modernen Cavendish Experiments. (Nach J. H. Gundlach und S. M. Merkowitz, Physical Review Letters 85, 2869 (2000).)

selwirkung und kann als erste Ableitung ω​̇ i​ (t​) der pendelnden Drehgeschwindigkeit ωi (t) der Kammer bestimmt werden. Da der Aufhängefaden praktisch nicht tordiert wird, spielen seine Torsionseigenschaften wie etwa seine Anelastizität keine Rolle. Mit dieser Anordnung wurde die Gravitationskonstante zu γ​ = (6,674215 ± 0,000092) ⋅ 10− 11 m3 kg− 1 s− 2 bestimmt. Als Erd- und Sonnenmasse ergeben sich daraus 24 M​E​ = (5,972245 ± 0,000082) ⋅ 10 kg

M​S​ = (1,988435 ± 0,000027) ⋅ 1030 kg . 2

In jüngster Zeit wurde noch der Versuch unternommen, das 1/r Verhalten des Gravitationsgesetzes auf sehr kleinen Längenskalen (10 mm bis 55 μm) zu überprüfen.51 In diesem „Molybdän-Scheibenexperiment“ (auch „Eöt-Wash-Experiment“ 51 Zur Erklärung kosmologischer Effekte (dunkle Materie, kosmologische Konstante) wurden Ideen entwickelt, die in die Richtung einer schwächer werdenden Gravitationskraft weisen, wenn die Abstände in die Größenordnung einer kritischen Länge von 85 μm kommen.

94

2 Mechanik des Massenpunktes

5 cm

2

Abb. I-2.28: Eöt-Wash-Experiment zum Nachweis des 1/r -Verhaltens der Gravitation: Schematische Darstellung der verwendeten ‚missing mass torsion balance‘. Die drei kleinen Kugeln dienen zur kontinuierlichen Kalibrierung des Drehmoments der Detektorscheibe durch Gravitationswechselwirkung mit drei großen Kugeln außerhalb der Apparatur. (Nach D. J. Kapner, T. S. Cook, E. G. Adelberger, J. H. Gundlach, B. R. Heckel, C. D. Hoyle und H. E. Swanson, Physical Review Letters 98, 021101 (2007).)

genannt, D. J. Kapner, T. S. Cook, E. G. Adelberger, J. H. Gundlach, B. R. Heckel, C. D. Hoyle und H. E. Swanson, Physical Review Letters 98, 021101 (2007)) hängt an einem dünnen, 80 cm langen Wolframfaden eine Molybdänscheibe mit 42 kreisförmigen Löchern und bildet ein Drehpendel (Detektorscheibe). Knapp unter dieser Detektorscheibe befinden sich zwei starr miteinander verbundene Molybdänscheiben, das Attraktorsystem, das mit konstanter Winkelgeschwindigkeit rotieren kann: die obere Scheibe des Attraktors ist gleich dick wie die Detektorscheibe und hat auch 42 Löcher; die untere Scheibe ist dicker, weist nur 21, aber doppelt so große Löcher auf und ist gegen die obere um einen Winkel von 360/42° verdreht, sodass die Löcher der unteren Scheibe gerade unter den massiven Zwischenstegen der oberen Scheibe liegen (Abb. I-2.28). Die Löcher in den Scheiben erhöhen die Empfindlichkeit des Systems für die horizontalen Gravitationskräfte zwischen den Scheiben (als fehlende Masse können die Löcher als „negative Masse“ angesehen werden). Bei geeigneter Größe und Anordnung der Löcher in den beiden gleichdicken Scheiben ist die Gravitationswechselwirkung bei rotierendem Attraktor durch den Wechsel zwischen übereinander liegenden Massenbereichen (Zwischenstegen) und masselosen Löchern kurzzeitig höher und wieder niedriger. Dies würde zur Schwingung der Detektorscheibe führen, wenn sich die obere Attraktorscheibe dreht. Wird aber die Dicke der unteren Attraktorscheibe geeignet gewählt, so tritt 2 gerade keine Torsionsschwingung auf, wenn das 1/r Gesetz gilt. Die sehr genaue Untersuchung als Funktion der Distanz der Scheiben ergab keine Abweichungen 2 vom 1/r -Verhalten bis zu einem Scheibenabstand von 55 μm, der Messgrenze dieser Anordnung.

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

95

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering) Bei Stoß- oder Streuprozessen wird die Wechselwirkung i. Allg. zweier Stoßpartner untersucht. Wenn sich die stoßenden Teilchen (Massenpunkte) genügend nahe kommen, wird ein Wechselwirkungspotenzial wirksam, das meist sehr kurzreichweitig ist und nur vom Abstand der Teilchen abhängt. Bei genügend großem Abstand der Teilchen ist das Wechselwirkungspotenzial unwirksam und die Teilchen bewegen sich (in Abwesenheit äußerer Kräfte) kräftefrei, also gleichförmig geradlinig. Unsere Kenntnis über die atomare und insbesondere subatomare Struktur der Materie stammt wesentlich aus der Untersuchung von Stoßprozessen. Wir betrachten zunächst den Stoß zweier Teilchen mit den Massen m1 und m2, die vor dem Stoß die Geschwindigkeiten υ​⇀1 und υ​⇀2 besitzen (Abb. I-2.29). Nach dem Stoß setzen die Teilchen ihre Bahn unter den Winkeln θ1 bzw. θ2 gegen die jeweilige Einfallsrichtung mit den Geschwindigkeiten υ​⇀′1 und υ​⇀′2 fort. Bei der Wechselwirkung ändern beide Teilchen also ihren Impuls, oft auch ihre Energie. Wirken nur „innere Kräfte“ im System der beiden Köper, so gilt: 52

Solange keine äußeren Kräfte wirken, bleiben Energie und Impuls des Gesamtsystems immer erhalten.53



 ʋ1

m1

ʋ ′1 m1

θ1

θ2 m2

m2



ʋ2



ʋ ′2

Wechselwirkungspotenzial V ≠ 0

Abb. I-2.29: Stoß zweier Teilchen: m1 , υ​⇀1 und m2 , υ​⇀2 .

52 Siehe Abschnitt 2.4, Gl. (I-2.65) und Band VI, Kapitel „Statistische Physik“, Abschnitt 1.2.3. 53 Der Energiesatz der Mechanik (Gln. I-2.40 und I-2.80) gilt allerdings nur, wenn beim Stoß die innere Energie der Teilchen unverändert bleibt, also bei elastischen Stößen, was bei Stoßexperimenten in der Kernphysik nicht immer der Fall ist. Wird beim Stoß von den Teilchen Energie als „innere“ Energie (= Anregungsenergie) aufgenommen oder abgegeben, handelt es sich also um einen inelastischen Stoß, muss diese Energie in der Energiebilanz berücksichtigt werden.

1

96

2 Mechanik des Massenpunktes

Auch wenn über die Details der Wechselwirkung beim Stoß nichts bekannt ist, kann man über die Größe und Richtung der Impulse nach dem Stoß in großer Entfernung von der Wechselwirkungszone, in der das Wechselwirkungspotenzial wirkt, definierte Aussagen machen, die sich auf die Erhaltungssätze stützen: Impulssatz: p​⇀1 + p​⇀2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ υ​o​r​ d​e​m​ S​t​o​ß​

= m​1 υ​⇀1 + m​2 υ​⇀2 = ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ p​⇀′1 + p​⇀′2

= m​′1 υ​⇀′1 + m​′2 υ​⇀′2 = const.

(I-2.133)

n​a​c​h​ d​e​m​ S​t​o​ß​

Energiesatz: 1

2

E​ kin + E​ kin =

p​⇀21 p​⇀22 p​⇀′12 p​⇀′22 2 + = E​ kin ′1 + E​ ′kin + Q​ = + + Q​ . 2 m​1 2 m​2 2 m​′1 2 m​′2

(I-2.134)

Dabei bezeichnen die gestrichenen Größen υ​⇀′i​ und p​⇀′i​ die Geschwindigkeiten und Impulse der Teilchen nach dem Stoß. Q stellt die mechanische (kinetische) Energie dar, die beim Stoß in andere Energie umgewandelt wurde, z. B. in „innere Energie“ der Stoßpartner (Anregung). Gilt Q = 0, so handelt es sich um einen elastischen Stoß, bei dem die gesamte Ekin erhalten bleibt (die Ekin der einzelnen Teilchen kann sich ändern). Der vollkommen elastische Stoß ist ein idealer Grenzfall. Ist Q ≠ 0, so liegt ein inelastischer (plastischer) Stoß vor: Q > 0: die gesamte Ekin nach dem Stoß ist kleiner als vorher, ein Teil ist in innere Energie der stoßenden Teilchen (Anregung) umgewandelt worden. Q < 0: innere Energie der Stoßpartner wird in Translationsenergien umgewandelt (Abregung, superelastische Stöße), die Ekin zumindest eines der Teilchen ist nach dem Stoß größer als vorher. Bei reaktiven Stößen ändert sich die Masse der Stoßpartner z. B. durch chem. Reaktionen oder (in der subatomaren Physik bei hochenergetische Teilchen) 54 durch Erzeugung neuer Teilchen 55. Inelastische und reaktive Stöße sind nur möglich, wenn mindestens ein Stoßpartner eine innere Struktur besitzt, also aus weiteren „Bausteinen“ zusammengesetzt ist. Nur dann kann nämlich Ekin in die „innere Energie“ des zusammengesetzten Systems übertragen werden.

54 Man beachte, dass Rechnungen relativistisch erfolgen müssen, wenn die beteiligten Geschwindigkeiten der Lichtgeschwindigkeit c bzw. die kinetischen Energien den Ruheenergien der Teilchen nahe kommen (siehe Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“). 209 2 55 Beispiel: Beim Stoß des schweren 83Be-Kerns mit 1D (Deuteronen) fliegen nach dem Stoß der 210 1 2 209 schwere 83Be-Kern und ein Proton (1H) weiter: Das Neutron des 1D wurde am 83Be „abgestreift“ (stripping reaction bzw. Oppenheimer-Phillips-Prozess).

97

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

A2.1 Der elastische Stoß (Q = 0) im Laborsystem (laboratory coordinate system) Das Laborsystem ΣL ist jenes Koordinatensystem, in dem auch das Streuexperiment abläuft. Wir machen die in den meisten Experimenten erfüllte Annahme, dass ein Teilchen vor dem Stoß ruht. Es soll Q = 0 sein und die Massen unverändert bleiben (Abb. I-2.30).



ʋ ′1



m1

ʋ1

m1



m2, ʋ2 = 0 θ1 θ2

 

  

Vor dem Stoß: ʋ1 ≠ 0, ʋ2 = 0, p 1 = m1ʋ1, p 2 = m2ʋ2 = 0.

m2





ʋ2′

 



Nach dem Stoß: m′1 = m1, m′2 = m2, ʋ ′1 ≠ 0, ʋ2′ ≠ 0. p ′1 = m1ʋ ′, 1 p ′2 = m2ʋ2′



 

Abb. I-2.30: Elastischer Stoß im Laborsystem.

Für den Impulssatz gilt in diesem Fall p​⇀1 = p​⇀′1 + p​⇀′2

(I-2.135).

Die Vektoren p​⇀1 , p​⇀′1 und p​⇀′2 müssen daher ein Dreieck bilden und deshalb in einer Ebene liegen. Wir legen zunächst ein Koordinatensystem mit seinem Ursprung O in das ruhende Teilchen 2 so, dass die x-Achse in die Richtung von υ​⇀1 weist, dass also für den Impuls des einfallenden Teilchens p​⇀1 = { p​x​ ,0,0} gilt.56 Da wir den Ursprung O in das vor dem Stoß ruhende Teilchen gelegt haben, wollen wir den Vektor p​⇀′2 von O ausgehen lassen (Abb. I-2.31). Im Punkt P(x, y) der Abb. I-2.31 liegen die Spitze von p​⇀′2 und der Anfangspunkt von p​⇀′1 . Wir wollen jetzt die Kurve ermitteln, auf der bei vorgegebenem p​⇀ 1 alle möglichen Punkte P(x, y) liegen.

56 Das vor dem Stoß ruhende Teilchen 2 gibt einen festen Punkt im Koordinatensystem an. Die folgende Rechnung kann ganz analog auch für das Teilchen 1 geführt werden, wenn die Teilchengeschwindigkeiten vor dem Stoß durch eine Galileitransformation so abgeändert werden, dass υ​⇀1 = 0 wird. Es lässt sich immer eine Transformation finden, die die Geschwindigkeit eines Teilchens zu Null reduziert.

98

2 Mechanik des Massenpunktes

y

v

P(x,y)

v

p ′2 = m2ʋ2′

v

y

v

p ′1 = m1ʋ 1′ x

θ1

v v p =m ʋ

O

1

1 1

x

A



Abb. I-2.31: Der Impulssatz (Gl. I-2.135) verlangt, dass die Impulsvektoren p​⇀1 , p​⇀1′ und p​⇀ 2 ein Dreieck bilden müssen und daher in einer Ebene liegen.

Aus Abb. I-2.31 ergibt sich: x​ 2 + y​ 2 = p​ ′22

(I-2.136)

2 2 2 ( p​ 1 − x​) + y​ = p​ ′1 .

(I-2.137)

und

2 Wir setzen nun p​ ′1 aus dem Energiesatz (Gl. I-2.134) 2

Q = 0) in Gl. (I-2.137) ein und verwenden dabei p​ ′2 wir ( p​ 1 − x​)2 + y​ 2 = p​ 21 −

p​ 21 p​ ′12 p​ ′22 = + ( p​2 = 0, 2 m​1 2 m​1 2 m​2

aus Gl. (I-2.136). Damit erhalten

m​1 2 m​1 2 2 p​ ′2 = p​ 1 − (x​ + y​ 2 ) m​2 m​2

(I-2.138)

bzw. p​ 21 − 2 p​1 x​ + x​ 2 + y​ 2 − p​ 21 +

m​1 2 m​1 2 x​ + y​ = m​2 m​2

2 m​1 2 m​1 = x​ ( + 1) + y​ ( + 1) − 2 p​1 x​ = m​2 m​2

= x​ 2 + y​ 2 − 2

2

m​2 p​1 x​ = 0 ⋅ m​1 + m​2

m​ 2 p​1) auf beiden Seiten können wir schreiben Nach addieren von ( m​1 + m​2

(I-2.139)

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

(x​ −

2 2 m​2 m​ 2 p​1) + y​ 2 = ( p​1) m​1 + m​2 m​1 + m​2

oder mit der reduzierten Masse μ​ =

(I-2.140)

m​1 m​2 m​1 + m​2

(x​ − μ​υ​1 )2 + y​ 2 = (μ​ υ1​ )2 . Das ist eine Kreisgleichung mit Radius r​ =

Mittelpunkt M mit dem Abstand

99

(I-2.141)

m​2 p​1 = m​1 + m​2

1 1+

m​1 m​2

p​1 = μ​υ1​ um den

m​2 p​1 = μ​υ1​ vom Ursprung O. Die möglichen m​1 + m​2

Punkte P(x, y), d. h. die Spitzen aller möglichen Vektoren p​⇀′2 , liegen auf diesem Kreis (Abb. I-2.32).57 Als Streuwinkel bezeichnet man den Winkel θ​1 = ∠( p​⇀1 , p​⇀′1 ) zwischen den Impulsen p​⇀1 und p​⇀′1 des Teilchens 1 vor und nach dem Stoß.



p ′2

O

θ2

θ 1max

M

m2 μʋ1 = _________ p1 m1 + m2

θ1





p ′1 A

θ1

p1

P(x,y)

Abb. I-2.32: Impulsdiagramm für den elastischen Stoß im Laborsystem mit m1 > m2 ; das Teilchen mit Masse m2 ruht vor dem Stoß. Aus Impuls und Energiesatz folgt, dass die Spitzen aller möglichen Impulsvektoren p​⇀2′ des gestoßenen Teilchens 2 auf einem Kreis mit Radius m​2 μ​υ1​ = p​1 um M im Abstand μυ1 von O liegen müssen. Die zum maximalen Streuwinkel m​1 + m​2 max​

θ​ 1

gehörenden Impulsvektoren p​⇀1′ und p​⇀2′ sind blau gezeichnet.

57 Im Raum ist die von uns gewählte Zeichenebene, also das Dreieck { p​⇀1 ⋅ p​⇀ ′1 , p​⇀2′ }, durch nichts ausgezeichnet und kann daher um jeden beliebigen Winkel um p​⇀1 gedreht werden ⇒ im Raum liegen die Spitzen aller möglichen Vektoren p​⇀2′ auf einer Kugel, die durch Drehung des beschriebenen Kreises um p​⇀1 entsteht.

100

2 Mechanik des Massenpunktes

Wir betrachten folgende Fälle: 1.

m1 > m2 , also p​1 = (1 +

m​1 r​) > 2 r​ m​2

Dieser Fall entspricht der obigen Abb. I-2.32; das Ende des Impulsvektors des Teilchens 1 vor dem Stoß (in x-Richtung) liegt außerhalb des Kreises mit Radius μυ1 um M. In diesem Fall gibt es bei vorgegebenem p​⇀1 einen maximalen Streuwinkel max​ max​ θ​ 1 . Aus Abb. I-2.32 folgt für θ​ 1 max​

sin θ​ 1

μ​υ1​ μ​υ1​ μ​ 1 = = = = p​1 − μ​υ1​ (m​1 − μ​)υ​1 m​1 − μ​ m​1 −1 μ​

=

=

m​2 1 = 0 wird ein Teil der mechanischen Energie in andere Energieformen umgewandelt, ist Q < 0, so wird ein Teil der inneren Teilchenenergien in (zusätzliche) Translationsenergie verwandelt. Wir behandeln zwei Extremfälle, den maximal inelastischen Stoß (Teilcheneinfang) und den Teilchenzerfall.

A2.3.1 Maximal inelastischer Stoß, Teilcheneinfang (Q > 0) In diesem Fall bleiben beide Stoßpartner nach dem Stoß zusammen und bewegen sich mit der Schwerpunktgeschwindigkeit υ​⇀S​ , also υ​⇀′1 = υ​⇀′2 = υ​⇀S​ =

1 1 ∑ m​i​ υ​⇀i​ = (m​1 υ​⇀1 + m​2 υ​⇀2 ) . M​ i​ m​1 + m​2

(I-2.165)

Wenn Teilchen 2, wie bisher angenommen, vor dem Stoß ruht, muss daher gelten υ​⇀′1 = υ​⇀1

m​1 = υ​⇀′2 . m​1 + m​2

(I-2.166)

Damit erhalten wir p​⇀′1 = m​1 υ​⇀′1 =

μ​ p​⇀1 m​2

und

p​⇀′2 = m​2 υ​⇀′2 = m​2 υ​⇀′1 =

μ​ p​⇀1 . m​1

(I-2.167)

p​⇀1 und p​⇀′1 weisen also in dieselbe Richtung, es ist θ1 = 0. Da die beiden Teilchen „verschmelzen“, kann eigentlich von p​⇀′1 und p​⇀′2 nicht mehr die Rede sein. Bewegen sich beide Teilchen vor dem Stoß mit den Geschwindigkeiten υ​⇀1 und υ​⇀2 und bleiben nach dem Stoß zusammen (υ​⇀′1 = υ​⇀′2 = υ​⇀S​ ), so ergibt sich aus dem Energiesatz für den Anteil an mechanischer (kinetischer) Energie, der in innere Energie der Teilchen umgesetzt wird

m​1 υ​ 21 m​2 υ​ 22 m​1 υ​ S2 ​ m​2 υ​ S2 ​ = + + Q​ + 2 2 2 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ υ​o​r​ d​e​m​ S​t​o​ß​

n​a​c​h​ d​e​m​ S​t​o​ß​

(I-2.168)

110

2 Mechanik des Massenpunktes

und mit υ​⇀S​ =

1 (m​1 υ​⇀1 + m​2 υ​⇀2 ) nach Gl. (I-2.148) m​1 + m​2

1 (m​ 1 υ​1 + m​2 υ​2 )2 2 2 Q​ = [m​1 υ​ 1 + m​2 υ​ 2 − (m​1 + m​2 )] = 2 (m​ 1 + m​2 )2 2 2 1 m​1 m​2 1 m​1 m​2 υ​ 1 − 2 m​1 m​2 υ​1 υ​2 + m​1 m​2 υ​ 2 (υ​1 − υ​2)2 = = [ ]= ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 2 m​1 + m​2 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ m​1 + m​2 R​e​l​a​t​i​υ​r​e​d​u​z​i​e​r​t​e​ M​a​s​s​e​

=

1 2 μ​υ​ 12 2

g​e​s​c​h​w​i​n​d​i​g​k​e​i​t​

(I-2.169)

Beim maximal inelastischen Stoß wird also die kinetische Energie der Relativbewegung der beiden stoßenden Teilchen in ihre innere Energie (z. B. Erwärmung, Anregung) umgewandelt. Die umgewandelte Energie Q wird dann maximal, wenn beide Teilchen nach dem Stoß in Ruhe bleiben, also υ​⇀S​ = 0 gilt, denn dann wird die gesamte ursprünglich vorhandene kinetische Energie in innere Energie verwandelt.

Beispiel: Das ballistische Pendel (= Stoßpendel, erfunden von Benjamin Robins, 1707–1751) bei elastischem und inelastischem Stoß. Wir erinnern uns zunächst an den „Kraftstoß“, jenen Impuls, der den „von der Kraft gestoßenen“, ursprünglich ruhenden Massenpunkt auf die Geschwindigkeit v bringt (Abschnitt 2.2.3, Gl. I-2.27) t​2

∫F​⇀d​t​

= p​⇀= m​υ​ (t​2 )

(v = 0 für t1 = 0).

t​1

Unter einem ballistisches Pendel versteht man ein Pendel, dessen Schwingungsl​ dauer T​ = 2 π​√ sehr groß gegen die Dauer des Kraftstoßes (t2 − t1 ) ist, sodass g​ der Stoßvorgang abgeschlossen ist, bevor sich das Pendel merklich aus der Ruhelage entfernt hat. Wir lassen ein kugelförmiges Geschoß der Masse m1 gegen das ballistische Pendel (Masse m2 , Fadenlänge l​ , Drehachse O normal zur Zeichenebene) fliegen und dort einen total inelastischen Stoß ausführen. Dazu sei das Pendel z. B. mit Sand so gefüllt, dass das Geschoß darin stecken bleibt (es handelt sich also um ein „inhomogenes“ physisches Pendel). Zur Möglichkeit eines Vergleichs mit einem elastischen Stoß ist das Pendel mit einer Stahlplatte verschließbar.

111

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

O

α l–h l

m1 + m2

  p

ʋ1

m1



1

  ʋ′ = ʋ′ 2

m2

h

1

ʋ2 = 0 d

Beim vollständig inelastischen Stoß des Geschoßes mit dem ballistischen Pendel erfährt das Geschoß den Kraftstoß t​2

∫F​⇀d​t​ t​1

+∞​

= ∫F​⇀d​t​ = p​⇀′1 − p​⇀1 = m​1 υ​⇀′1 − m​1 υ​⇀1 = −m​1 (υ​⇀1 − υ​⇀′1 ), −∞​

es wird also von υ​⇀1 auf die Geschwindigkeit υ​⇀′1 abgebremst, mit der sich nach dem Stoß das Gesamtsystem (ballistisches Pendel + Geschoss) bewegt, also υ​⇀′1 = υ​⇀′2 . Auf dieses System wirkt derselbe Kraftstoß jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen (actio = reactio!) und erhöht den Impuls des Kastens der Masse m2 von p​⇀2 = 0 auf p​⇀′2 = m​2 υ​⇀′2 . Also gilt t​2

+∞​

p​⇀2 = m​2 υ​⇀′2 −∫F​⇀d​t​ = − ∫ F​⇀d​t​ = p​⇀1 − p​⇀′1 = m​1 (υ​⇀1 − υ​⇀′1 ) = m​1 (υ​⇀1 − υ​⇀′2 ) = p​⇀′2 − ⏟ t​1

⇒ υ​⇀1 =

=0

− ∞​

m​1 + m​2 υ​⇀′2 m​1

bzw.

p​⇀1 = p​⇀′2

mit

p​⇀1 = m​1 υ​⇀1 , p​⇀′2 = (m​1 + m​2 )υ​⇀′2 ,

was die Impulserhaltung beim Stoß ausdrückt. Der Impulssatz ist von allgemeiner Gültigkeit im Gegensatz zum Energiesatz der Mechanik, der nur für verlustfreie Vorgänge gültig ist.

112

2 Mechanik des Massenpunktes

Nach dem Stoß wird die kinetische Energie des Gesamtsystems mit sich vergrößerndem Ausschlag zunehmend in potenzielle Energie (Hebung h des Schwerpunkts) umgewandelt (von Erwärmungseffekten wird abgesehen): m​1 + m​2 2 υ​ ′2 = (m​1 + m​2 ) ⋅ g​ ⋅ h​ ⇒ υ​′2 = √2 g​ h​ . 2 Für den Zusammenhang zwischen dem (schlecht messbaren) Auslenkwinkel α l​ − h​ und der Hebung h gilt mit cos α​ = l​ h​ = l​ − (l​ − h​) = l​ − l​ cos α​ = l​ (1 − cos α​) . Zur Umrechnung der Hebung h in die gut messbare Auslenkung d lesen wir aus der Zeichnung ab: l​ 2 = (l​ − h​)2 + d​ 2 = l​ 2 − 2 l​ h​ + h​ 2 + d​ 2 . Für ein ballistisches Pendel gilt i. Allg. h​ ≪ l​ und daher h​ ≈

d​ 2 . 2 l​

Damit erhalten wir

υ​1 =

m​1 + m​2 m​1 + m​2 g​ 2 g​ h​ = d​ √ √ l​ . m​1 m​1

Zahlenbeispiel: Geschoß: m1 = 10 g, υ1 = 1000 m/s; Pendel: m2 = 100 kg, l​ = 1 m. Damit ergeben sich die Auslenkung

d​ = υ​1

m​1 l​ 1 0,01 √ = 1000 ⋅ 100,01√ 9,81 = 0,0319 m = 3,19 cm , m​1 + m​2 g​

die Schwerpunktshebung h​ =

d​ 2 (0,0319)2 −4 = = 5,088 ⋅ 10 m = 0,509 mm 2 l​ 2

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

113

und der Auslenkwinkel

cos α​ =

l​ − h​ 100 − 0,0509 = ⇒ α​ = 1,83° . l​ 100

Beim vollständig inelastischem Stoß (offene Tür zum Sandbehälter des ballistischen Pendels) ist also p​⇀′2 = p​⇀1 mit dem Ausschlagswinkel α. Wenn die Tür geschlossen ist, der Stoß also elastisch abläuft und die Kugel nicht in das Pendel eindringt, sondern gegen die Einfallsrichtung reflektiert wird, ergibt sich aber entsprechend oben (Abschnitt A2.1, Gl. I-2.146) für das Pendel p​⇀′2 = 2 p​⇀1 , es schlägt also doppelt so weit (2 α) aus.

A2.3.2 Teilchenzerfall (Q < 0) Anfänglich bilden beide späteren Teilchen ein gemeinsames Teilchen (gebundener Zustand). Die kinetische Energie vor dem Zerfall sei Null, also υ​⇀1 = υ​⇀2 = υ​⇀S​1 = υ​⇀S​2 = 0 , p​⇀1 = p​⇀2 = p​⇀S​1 = p​⇀S​2 = 0 .

(I-2.170)

Damit ist der Schwerpunkt auch im Laborsystem fortwährend in Ruhe, also υ​⇀S​ = 0, und es folgt υ​⇀′1 = −υ​⇀′2

bzw.

p​⇀′1 = −p​⇀′2 ,

(I-2.171)

Laborsystem ΣL und Schwerpunktssystem ΣS sind also identisch und damit sind auch die Geschwindigkeiten der Teilchen nach dem Zerfall in ΣL und ΣS gleich groß, d. h. υ​⇀′1 = υ​⇀′1S​

und

p​⇀′1 = p​⇀′1S​,

(I-2.172)

und die Teilchen fliegen in beiden Systemen mit gleichem Impulsbetrag in entgegengesetzter Richtung auseinander. Für den Energiesatz ergibt sich in diesem Fall ( p​⇀1 = p​⇀S​1 = 0, p​⇀2 = p​⇀2S​ = 0, p​⇀′1 = −p​⇀′2)

−Q​ =

p​⇀′12 p​⇀′22 p​⇀′12 1 1 p​⇀′2 + = ( + )= 1 2 m​1 2 m​2 2 m​1 m​2 2 μ​

(I-2.173)

114

2 Mechanik des Massenpunktes

bzw. (Beträge!) p​′1 = p​′2 = √−2 μ​ Q​ ,

Q < 0.

(I-2.174)

Für die Geschwindigkeiten, mit denen die beiden Teilchen nach dem Zerfall in entgegengesetzter Richtung auseinander fliegen, folgt aus dem Impulssatz p​⇀′1 = m​1 υ​⇀′1 = −p​⇀′2 = −m​2 υ​⇀′2 ,

(I-2.175)

υ​′1 m​2 = υ​′2 m​1

(I-2.176)

also

und aus der obigen Gl. (I-2.174) υ​′1 =

1 √−2 μ​ Q​ , m​1

Q < 0.

(I-2.177)

A2.4 Potenzialstreuung (Coulombstreuung) A2.4.1 Das α-Teilchen im Coulombfeld eines Atomkerns Wenn das Wechselwirkungspotenzial bei Stoß oder Streuung bekannt ist, so kann die Ablenkung eines stoßenden Teilchens im Prinzip berechnet werden. Im Allgemeinen hängt das Potenzial vom Abstand der Stoßpartner ab, bei großem Abstand vor und nach dem Stoß verschwindet die Wechselwirkung (WW) und die Teilchenbahnen sind geradlinig. Wir nehmen wie bisher Teilchen 2 als ruhend an und definieren als Stoßparameter b den kleinsten Abstand, in dem Teilchen 1 an Teilchen 2 vorbeifliegen würde, wenn kein WW-Potenzial wirkte, Teilchen 1 also unabgelenkt bliebe (siehe auch Abschnitt A2.2, Abb. I-2.37). Wir wollen nun als Beispiel für eine Streuung mit bekanntem Potenzial die Streuung von einem α-Teilchen ( 4He-Kern) an einem Atomkern betrachten. Dies beschreibt die Versuche von Rutherford (Sir Ernest Rutherford, 1. Baron Rutherford of Nelson, 1871–1937), Geiger (Johannes Wilhelm Geiger, 1882–1945) und Marsden (Sir Ernest Marsden, 1889–1970) zur Aufklärung der Struktur von Atomen (siehe Band V, Kapitel „Atomphysik“, Abschnitt 3.1.1). Wird Materie, z. B. eine dünne Goldfolie, mit einem Strahl aus α-Teilchen beschossen, so kommen einzelne positive α-Teilchen dem positiven Atomkern so nahe, dass auf Grund der Coulomb-WW (siehe Band III, Kapitel „Elektrostatik“, Abschnitt 1.1.1) eine Abstoßung eintritt. Die WW wird dann durch die Coulombkraft

115

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

F​⇀=

1

q​1 q​2

4 π​ ε​0 r​ 122

e​⇀21

(I-2.178)

vermittelt. Dabei ist q1 die positive Ladung des α-Teilchens, q2 die positive Ladung des ruhenden Atomkerns 61, r12 ihr Relativabstand und e​⇀21 der Einheitsvektor, der von q2 nach q1 weist. Vergleichen wir die in diesem Fall zwischen den Ladungen wirkende Coulombkraft mit der beim Keplerproblem zwischen zwei Massepunkten wirkenden Massenanziehung (siehe Anhang 1, Abschnitt A1.1, Gl. I-2.84), so zeigen sich beide Gesetze 2 mit einer 1/r -Abhängigkeit formal gleich, wobei sich aber die gleichnamigen Ladungen q1 und q2 abstoßen, während sich Massen immer anziehen. Wir wollen jetzt den Streuwinkel θ (ursprünglich θ1, wir lassen den Index 1 beim Streuwinkel aber jetzt weg) des einfallenden α-Teilchens berechnen. Der Vergleich des abstoßenden Coulombpotenzials (Epot im Coulombfeld) C​

E​ pot =

1 q​1 q​2 4 π​ ε​0 r​12

(I-2.179)

und der Epot im Gravitationsfeld G​

E​ pot = −γ​

m​1 m​2 r​12

(I-2.180)

zeigt, dass in den Formeln der Berechnung der Keplerschen Planetenbahnen 1 q​1 q​2 zu ersetzen ist. −γ​m1​ m​2 durch 4 π​ ε​0 Damit nimmt der Energieerhaltungssatz folgende Form an (vgl. Anhang A1.2, Gl. I-2.91), wobei mα die Masse des α-Teilchens ist: E​ =

1 q​1 q​2 m​α​ 2̇ r​ + > 0. 2 4 π​ ε​0 r​

(I-2.181)

61 Die Masse des Atomkerns wird als groß gegen die Masse des α-Teilchens angenommen, sodass der Kern bei der WW in erster Näherung in Ruhe bleibt. 2 2 In der Kernphysik werden die Massen entsprechend E0 = m ⋅ c oft in Ruheenergie pro c angegeben (siehe Band V, Kapitel „Subatomare Physik“, 3.1.2.1). Für ein α-Teilchen gilt so 1 − 27 8 2 9 2 3 2 m​α​ = 6,6950 ⋅ 10 ⋅ (2,9979 ⋅ 10 ) = 3,76 ⋅ 10 eV / c​ ≈ 4 ⋅ 10 MeV / c​ , Für die Masse − 19 1,602 ⋅ 10 5

2

des Kerns eines Goldatoms mit der Massenzahl 197 ergibt sich analog m​Au ≈ 2 ⋅ 10 MeV / c​ also m2/m1 ≈ 50, also die Bedingung m2 ≫ m1 als gut erfüllt. Für ein vom α-Teilchen angestoßenes Elekt−4 ron gilt dagegen (me = 0,5 MeV / c2 ) m2/m1 ≈ 10 . Damit wird der mögliche Impulsübertrag auf das Elektron sehr klein. Als maximalen Streuwinkel fanden wir oben (Abschnitt A2.1, Gl. I-2.141): max sin θ = m2/m1 < 1. Im Experiment auftretende Streuwinkel von 90° und darüber können also damit nicht erklärt werden.

116

2 Mechanik des Massenpunktes

q1

Relativabstand r12 = r Stoßparameter b

φ



e21

θ (= θ1) q2

φ=0

q1

S θ r0

b

φ0

φ0

θ (= θ1) q2

Abb. I-2.41: Das Teilchen mit der Ladung +q1 kommt aus sehr großer Entfernung in das WW-Gebiet mit der Ladung +q2 (oben). Die stärkste WW findet statt, wenn die beiden Teilchen die kleinste Entfernung r0 aufweisen (unten). Am Ende der WW (wieder in großer Entfernung) ergibt sich eine Ablenkung um den Streuwinkel θ (= θ1 , wir lassen den Index 1 beim Streuwinkel weg). Legt man in die ursprünglich ruhende Ladung 2 ein Polarkoordinatensystem (r,φ), so befindet sich die Ladung 1 anfänglich in der Position (r = ∞, φ = φ0 ). r12 ist der Relativabstand der beiden Ladungen, e​⇀21 der Einheitsvektor von q2 nach q1 , S der Scheitelpunkt der Bahnkurve.

Da die Ladungen gleichnamig sind, ist die Gesamtenergie immer positiv. Für die Exzentrizität ε der Bahn fanden wir in Anhang 1 für die Kepler-Ellipse (siehe Anhang A1.2, Gl. I-2.97)

ε​ = √1 +

2 E​p​ γ​ m​ M​

= √1 +

2 E​L​ 2 m​ ( γ​ m​ M​)2

1,

4 π​ ε​0 L​ 2

p​ = −

< 0.

(I-2.182)

m​α​ q​1 q​2

m​α​ q​ 1 q​ 2

Die Bahn ist also eine Hyperbel. Für die Bahngleichung ergibt sich mit der obigen Ersetzung in Polarkoordinaten (vgl. Anhang A1.2, Gl. (I-2.95)) − |p​ | r​ (φ​) =

1 ∓ ε​ cos (φ​ + k​)

.

(I-2.183)

Wir setzen die Integrationskonstante k so fest: Für φ = 0 (Null der Polarkoordinate φ) soll die Polarkoordinate r(0) = r0 der Abstand Streuzentrum (Atomkern) – Scheitelpunkt S der Bahnkurve sein (kürzester Abstand beider Teilchen), also den kleinsten Wert von r12 annehmen. Da r stets positiv sein muss, muss der Nenner seinen größten negativen Wert annehmen. Dies wird mit k = 0 für das negative Vorzeichen, für k = π für das positive Vorzeichen erreicht. In jedem Falle erhalten wir − |p​ | r​ (φ​) =

1 − ε​ cos φ​

|

=

p​ |

ε​ cos φ​ − 1

.

(I-2.184)

Wir wollen nun eine Beziehung zwischen dem Ablenkungswinkel θ und dem Stoßparameter b herleiten. Dazu betrachten wir zunächst die Verhältnisse zu einem Zeitpunkt lange vor dem Stoß. Das Teilchen 1 ist also weit vom Streuzentrum entfernt, im Grenzfall bei r = ∞, und habe da die Geschwindigkeit v0 und damit die Polarkoordinaten (r = ∞, φ = φ0). Mit φ = φ0 muss in der obigen Gleichung für die Bahnkurve der Nenner verschwinden, da ja r = ∞ sein soll. Es muss also gelten 1 cos φ​0 = . ε​

(I-2.185)

Da für den Fall des kleinsten Abstandes r0 die Achse φ = 0 die Asymptoten an die Hyperbel teilt, gilt weiters entsprechend Abb. I-2.41

θ​ + 2 φ​0 = π​ ⇒

θ​ π​ = − φ​0 . 2 2

(I-2.186)

118

2 Mechanik des Massenpunktes

Daraus folgt für den Streuwinkel θ cos

θ​ 1 1 2 2 = sin φ​0 = + √1 − cos​ φ​0 = √1 − 2 = √ε​ − 1 = 2 ε​ ε​ = cos φ​0 √ε​ 2 − 1 .

Mit

(I-2.187)

θ​ π​ = − φ​0 (Gl. I-2.186) gilt 2 2 cos φ​0 = sin

θ​ ; 2

(I-2.188)

dies in die obige Gleichung eingesetzt erhalten wir cos​ sin​

θ​ 2 θ​ 2

= cot​

θ​ 2

2

= √ε​ − 1 = √ 2

(4 π​ ε​0 ) 2 E​α​ L​ 2

2

2

.

(I-2.189)

m​α​ q​ 1 q​ 2

Das α-Teilchen ist vor dem Stoß weit vom Streuzentrum entfernt und besitzt daher keine potenzielle, nur kinetische Energie E​α​ =

m​ υ​ 20 . 2

Für den Drehimpuls L gilt allgemein (Abschnitt 2.2.2, Gln. I-2.22 und I-2.25) L​ = |r​⇀× m​ υ​⇀| = m​ ⋅ υ​ ⋅ r​ ⋅ |sin​ (r​⇀υ​⇀) | . Dabei ist r​ ⋅ |sin​ (r​⇀υ​⇀) | = r​ ⋅ sin ​α​ = r​n​ die zu υ​⇀senkrechte Komponente des Ortsvektors r​⇀oder auch der Abstand des Vektors υ​⇀vom Ursprung, also der Ladung des Kerns q2 (Abb. I-2.42). 62

v

ʋ

m1 ,q1

v

r

rn

m2 = ∞, q2 Abb. I-2.42: Streuung eines α-Teilchens (m1,q1) am ruhenden Atomkern (m2 = ∞, q2 ).

62 Für r​⇀% ∞​ wird dieser Abstand der beiden dann antiparallelen Vektoren r​⇀und υ​⇀also gleich b.

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

119

Beim vorliegenden Streuproblem der Bewegung des α-Teilchens im Zentralpotenzial bleibt der Drehimpuls erhalten (siehe Abschnitt 2.2.2, 1. Keplersches Gesetz bzw. Anhang A1.2, Gl. I-2.88)). Für jeden Punkt der Bahn des α-Teilchens muss daher der Drehimpuls in Bezug auf den Koordinatenursprung im ruhenden Atomkern gleich sein, nämlich L​ = m​ ⋅ υ​ ⋅ r​ ⋅ sin​ (r​⇀υ​⇀) = m​ ⋅ υ​ ⋅ r​ sin α​ .

(I-2.190)

Dies muss auch gelten, wenn das α-Teilchen sehr weit vom Streuzentrum entfernt ist, also für r = ∞, und seine Anfangsgeschwindigkeit υ0 besitzt. In dieser Position ist zwar sin​ (r​⇀∞​ υ​⇀) = sin α​∞​ = 0 (r​⇀ und υ​⇀ sind antiparallel), aber das Produkt r​∞​ sin (r​⇀∞​ υ​⇀) = b​ muss wegen des vorhandenen Drehimpulses endlich sein. Der Drehimpuls ergibt sich daher zu L​ = m​ ⋅ υ​0 ⋅ b​ .

(I-2.191)

Die Größe b ist der Stoßparameter, der, wie wir schon früher definiert haben (Anhang A2.2), angibt, in welcher Entfernung das α-Teilchen ohne WW am Kern vorbeifliegen würde. Damit ergibt sich schließlich für den Streuwinkel 2

cot​

2

(4 π​ ε​0 )2 2 E​α​ L​ 2 (4 π​ ε​0 )2 m​α​ υ​ 0 L​ 2 (4 π​ ε​0 )2 υ​ 0 (m​ α​ υ​0 b​)2 θ​ = = =√ (I-2.192) √ m​ q​ 2 q​ 2 √ 2 2 2 2 2 m​α​ q​ 1 q​ 2 q​ 1 q​ 2 α​ 1 2

also

cot​

θ​ 2

2

= 4 π​ ε​0

m​α​ υ​ 0 b​ . q​1 q​2

(I-2.193)

Wird der Streuwinkel θ gemessen, so kann daraus der Stoßparameter b berechnet und daraus Aufschluss über die Ausdehnung des Atomkerns gewonnen werden (siehe Beispiel am Ende von Anhang A2.4.2). Die Berechnung des Streuwinkels unter Verwendung experimenteller Daten ist aber mit der obigen Formel nicht möglich, da der Stoßparameter experimentell nicht bestimmt werden kann.

A2.4.2 Der differentielle Wirkungsquerschnitt – die Rutherfordsche Streuformel Wir betrachten einen Strom von N0 α-Teilchen pro Quadratmeter und Sekunde (N0 ist also die Teilchenflussdichte), der in die Umgebung eines Atomkerns als Streuzentrum einfällt (Abb. I-2.43). Bei Streuexperimenten wird die mittlere Teilchenzahl 2 dN(θ,φ) gemessen, die in den Raumwinkel d Ω (θ,φ) gestreut werden. Wir umge-

120

2 Mechanik des Massenpunktes

dF dN(θ,φ) d 2Ω

Teilchenstrahl N0

θ

θ – dθ Atomkern

Abb. I-2.43: Streuung eines Teilchenstrahls (Teilchenflussdichte N0 ) am Atomkern.

ben das Streuzentrum mit einer Kugel und beobachten die Streuung in ein Flächen2 element dF der Kugeloberfläche. Für das Raumwinkelelement d Ω gilt d​ 2 Ω =

O​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​n​e​l​e​m​e​n​t​ d​e​r​ K​u​g​e​l​ (K​ u​g​e​l​r​a​d​i​u​s​)2

=

d​F​ R​ 2

=

R​ 2 sin θ​ d​θ​ d​φ​ R​ 2

= sin θ​ d​θ​ d​φ​ .

(I-2.194)

Durch das Flächenelement d​F​ = R​ 2 d​ 2 Ω = R​ 2 sin θ​ d​θ​ d​φ​ tritt pro Zeiteinheit die Teilchenzahl dN(θ,φ) hindurch. Wir wissen von oben (Anhang A2.4.1, Gln. I-2.186–I-2.193), dass der Streuwinkel θ unter sonst gleichen Bedingungen wegen der radialen Symmetrie um den streuenden Atomkern vom Azimutwinkel φ unabhängig ist und nur vom Stoßparameter b abhängt. Nehmen wir parallele α-Strahlen an, so werden in den Winkelbereich (θ − dθ,θ) nur jene α-Teilchen abgelenkt, deren Stoßparameter zwischen b und b + db liegt, die also durch einen Kreisring mit den Radien b und b + db und mit der Fläche 2 π​ b​ d​b​ um die Einfallsrichtung des Teilchenstrahls treten (Abb. I-2.44).

dN(θ,φ) d2Ω



Teilchenstrahl N0

Δσ θ

db

b

θ – dθ

b + db Atomkern

Abb. I-2.44: Zur Definition der effektiven Streufläche Δσ​ = b​ ⋅ d​b​ ⋅ d​φ​.

121

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

Das heißt also, wir können dem Streuzentrum eine effektive Streufläche Δσ​ = b​ ⋅ d​b​ ⋅ d​φ​

(I-2.195)

zuordnen, für die eine Streuung der α-Teilchen unter dem Streuwinkel θ in das 2 Raumwinkelelement d Ω erfolgt. Es gilt d​N​ (θ​,φ​) = N​0 ⋅ Δσ​ (θ​,φ​) = N​0 ⋅

d​σ​ (θ​,φ​) 2

2

⋅ d​ Ω

(I-2.196)

d​ Ω

und damit d​σ​ (θ​,φ​) 2

d​ Ω

= σ​diff (θ​,φ​) =

d​N​ (θ​,φ​) N​0 ⋅ d​ 2Ω

differentieller Wirkungsquerschnitt.

(I-2.197)

Dabei bedeutet: 2

2 Δσ​ = σ​diff ⋅ d​ Ω

σ​diff (θ​,φ​) =

Wirkungsquerschnitt für die Streuung in d Ω

d​σ​ (θ​,φ​) 2

differentieller Wirkungsquerschnitt

d​ Ω

N0 dN

Zahl der pro Flächen- und Zeiteinheit einfallenden Teilchen Zahl der pro Zeiteinheit in das Raumwinkel2 element d Ω gestreuten Teilchen

d​σ​ Damit ist der differentielle Wirkungsquerschnitt (differential cross section) d​ Ω definiert.63 Ist das Streupotenzial kugelsymmetrisch (∝ 1/r) wie beim Coulombpotenzial, so hängt die Streuung nicht vom Winkel φ (Azimut) ab und es genügt, die Streuung im Raumbereich zwischen den Winkeln θ und θ − dθ zu untersuchen (Abb. I-2.45).

2

63 In der Literatur wird meist auf die Unterscheidung der Raumwinkelelemente d​ Ω(θ​,φ​) und d​σ​ 1 d​ Ω(θ​) verzichtet und der differentielle Wirkungsquerschnitt daher in beiden Fällen mit d​Ω bezeichnet. Den totalen Wirkungsquerschnitt gewinnt man durch Integration des differentiellen Wirkungsd​σ​

2π​

π​

d​σ​ (θ​,φ​)d​Ω = ∫d​φ∫ (θ​) sin θ​ d​θ​ , wenn keine Abhängig​ 2 1 d​ Ω d​ Ω 0 0 π​ d​σ​ keit von φ vorliegt (Zentralpotenzial) σ​tot = 2 π​∫ sin θ​ d​θ​ . 1 0 d​ Ω querschnitts über alle Winkel: σ​tot = ∫

122

2 Mechanik des Massenpunktes

dN(θ,φ)



θ

Teilchenstrahl N0

θ – dθ Atomkern

Abb. I-2.45: Streuung für ein kugelsymmetrisches Streupotenzial (∝ 1/r). In diesem Fall hängt die Streuung nicht vom Winkel φ (Azimut) ab und es genügt, die Streuung im Raumbereich zwischen den Winkeln θ und θ − dθ zu untersuchen.

2

Das entsprechende Raumwinkelelement d​ 1Ω erhält man durch Integration von d Ω über φ von 0 bis 2 π: d​ 1Ω = d​Ω = 2 π​ sin θ​ d​θ​ . Damit wird Δσ zu Δσ​ =

d​σ​ d​σ​ (θ​) d​Ω = (θ​) 2 π​ sin θ​ d​θ​ = 2 π​b​d​b​ d​Ω d​Ω

(I-2.198)

bzw. b​ d​b​ d​σ​ (θ​) = d​Ω sin θ​ d​θ​

differentieller Wirkungsquerschnitt beim Zentralpotenzial.

(I-2.199)

Von unserer Berechnung der Bahn des α-Teilchens im Coulombfeld kennen wir die Beziehung zwischen Streuwinkel θ und Stoßparameter b (siehe Anhang A2.4.1, Gl. I-2.193): 2

cot​

m​α​ υ​ 0 b​ θ​ = 4 π​ ε​0 2 q​1 q​2

bzw. b​ =

1

q​1 q​2

4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 20

cot​

θ​ 2

=

1 4 π​ ε​0



2 Z​e​ 2 2 E​α​

cot​

θ​ 2

.

(I-2.200)

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

123

2

Wir bilden zunächst b

2

1 q​1 q​2 2 2 θ​ ) cot​ b​ = ( 2 2 4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 0

(I-2.201)

und differenzieren 1

q​1 q​2

4 π​

ε​0 m​α​ υ​ 20

2 b​ ⋅ d​b​ = (

2

) 2 cot​

θ​ ( − 2

1

1 ) d​θ​ 2 2 θ​ sin 2

64

bzw. θ​ 2 cot​ 2 1 1 q​1 q​2 ) b​ ⋅ d​b​ = − ( d​θ​ = 2 2 4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 0 2 θ​ sin​ 2 θ​ 2 cos​ 2 1 q​1 q​2 1 ) d​θ​ . 65 =− ( 2 2 4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 0 3 θ​ sin​ 2

(I-2.202)

d​σ​ (Gl. I-2.199) d​Ω θ​ θ​ θ​ ein, wobei wir aber zuerst von sin θ zu sin übergehen (sin θ​ = 2 sin cos​ ) 2 2 2

Jetzt setzen wir b⋅db in den differentiellen Wirkungsquerschnitt

d​σ​ b​ d​b​ = = d​Ω sin θ​ d​θ​

=

=

d​(cot​ 64

2

d​θ​

θ​ ) 2

b​ d​b​ = θ​ θ​ d​θ​ 2 sin cos​ 2 2 2

cos​

θ​ 2

1 q​1 q​2 1 ( ) d​θ​ = 2 θ​ θ​ θ​ 3 2 4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 0 sin​ 2 sin cos​ d​θ​ 2 2 2 1

2

1 q​1 q​2 1 1 q​1 q​2 2 1 ( ) ( ) = 4 4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 20 sin4 θ​ 4 π​ ε​0 4 E​α​ sin​ 4 θ​ 2 2 1

θ​ = 2 cot​ ( − 2

1 sin

2 θ​

)⋅

(I-2.203)

1 2

2 65 Im Folgenden kann das Minuszeichen unberücksichtigt bleiben, da es nur aussagt, dass mit wachsendem b der Winkel θ kleiner wird.

124

2 Mechanik des Massenpunktes

Setzen wir die Ladungen der beteiligten α-Teilchen und des Atomkerns als Vielfache der Elementarladung e ein,66 also q​1 = 2e​ für das α-Teilchen und q​2 = Z​ ⋅ e​ für den Atomkern, so ergibt sich d​σ​ d​Ω

=

2

2

2

2

1 2 Z​e​ 1 1 Z​e​ 1 ( ) ) =( = 2 2 θ​ 4 4 4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 0 sin​ 4 π​ ε​0 m​α​ υ​ 0 sin​ 4 θ​ 2 2 1

2

1 Z​e​ 2 =( ) 4 π​ ε​0 2 E​α​

1 θ​ sin​ 2

.

(I-2.204)

4

Das ist die Rutherfordsche Streuformel für den differentiellen Wirkungsquerschnitt der Streuung von α-Teilchen an Atomkernen. Im Streuexperiment wird allerdings nicht der Wirkungsquerschnitt für ein einzelnes Atom gemessen, sondern jener für alle streuenden Atomkerne im einfallen2 den Teilchenstrahl. Trifft ein Strahl von N0 α-Teilchen pro m und Sekunde auf die streuende Goldfolie (Volumen V, Fläche A normal zum Strahl, Dicke d), dann geht ein Teil der Teilchen ungehindert durch, ein anderer Teil dN(θ) mit den Stoßparametern zwischen b und b + db wird in den Winkelbereich zwischen θ und θ − dθ gestreut. Wir setzen eine gleichmäßige Verteilung der streuenden Atomkerne in einer so dünnen Folie voraus, dass sich die Wirkungsquerschnitte nicht überlagern und außerdem „Einfachstreuung“ vorliegt, das heißt, dass jedes α-Teilchen höchstens mit einem Atom in WW tritt. Diese Bedingung ist in einer genügend dünnen Streufolie sicher gut erfüllt, da der Streuquerschnitt der Streuzentren, also der Atomkerne, in der Dicke d wegen der Kleinheit der Atomkerne (Radius ca. −14 −28 2 2 10 m = 10 fm 67 ⇒ Querschnittsfläche ca. 10 m = 100 fm ) sehr gering und ihr −10 Abstand dagegen sehr groß ist (Gitterkonstante ca. 4⋅10 m).68 Wenn wir zunächst noch eine Abhängigkeit der Streuung vom Azimutwinkel φ zulassen, so ist die effektive Streufläche eines Atomkerns (siehe oben Gl. I-2.195) Δσ​ (θ​,φ​) = b​ ⋅ d​b​ ⋅ d​φ​ . Bei einer Zahl n der streuenden Atomkerne pro Volumen

66 Siehe Band III, Kapitel „Elektrostatik“, Abschnitt 1.1.2. −15 67 1 Femtometer = 1 fm = 10 m. 2 − 10 2 − 20 2 68 In einer Atomlage der Streufolie kommt auf die Fläche von a​ = (4 ⋅ 10 m) = 16 ⋅ 10 m −28 2 etwa ein streuendes Atom mit einer Streufläche von etwa σ = 10 m . Damit ergibt sich eine Über− 28 2 10 m −6 − 10 = 6 ⋅ 10 deckung von α​ = : In einer Folie von d = 1 μm = 10 m Dicke befinden sich − 20 16 ⋅ 10 m ca.

10

−6

4 ⋅ 10 1,5 ⋅ 10

−6

m

− 10

2

= 2500 Atomlagen, sodass die Überdeckung noch immer erst α = 6 ⋅ 10

m

beträgt!

−10

⋅ 2500 =

Anhang 2 Stoßprozesse (collisions) und Streuung (scattering)

125

d​N​ (θ​,φ​) an α-Teilchen, der auf den Bereich (b,b + db) N​0 um ein Atom trifft und damit den Strahl in den Raumwinkel d2Ω verlässt, als Verhältnis der Gesamtfläche n​ V​Δσ​ aller Kern-Streuflächen zur gesamten Fläche A der Folie, also ergibt sich daher der Anteil

d​N​ (θ​,φ​) n​ ⋅ V​ ⋅ b​ d​b​ d​φ​ n​ ⋅ d​ ⋅ A​ d​σ​ 2 = = Δσ​ = n​ ⋅ d​Δσ​ = n​ ⋅ d​ (θ​,φ​)d​ Ω . N​0 A​ A​ d​Ω

(I-2.205)

Für die Zahl der α-Teilchen, die pro Zeiteinheit in das Raumwinkelelement d2Ω gestreut werden ergibt sich daher d​N​ (θ​,φ​) d​σ​ 2 = n​ ⋅ d​ (θ​,φ​)d​ Ω . N​0 d​Ω

(I-2.206)

Das ist ein allgemeiner Ausdruck für die messbare Streuung von Teilchen an im Volumen homogen verteilten Streuzentren unabhängig vom speziellen Ausdruck für den differentiellen Wirkungsquerschnitt. Setzen wir jetzt den oben gewonnenen differentiellen Wirkungsquerschnitt für die Rutherfordstreuung ein (Gl. I-2.204), so erhalten wir entsprechend der Symmetrie des Coulombpotenzials nur mehr eine Abhängigkeit von θ

2

d​N​ (θ​) 1 2 Z​e​ 2 = n​ ⋅ d​ ( ) N​0 4 π​ ε​0 4 E​α​

1 sin4

θ​ 2

d​Ω

Rutherfordsche Streuformel für einen Teilchenstrahl an einer dünnen Folie.

(I-2.207)

Dies ist die vollständige Rutherfordsche Streuformel für die Streuung von α-Teilchen an den Atomkernen einer dünnen Folie. Für Streuwinkel θ​ = 0 (das entspricht b = ∞) wird die Streuformel unbrauchd​N​ = ∞​ wird, also alle Teilchen die Folie ungestreut durchsetzen. Der bar, da dann N​0 Stoßparameter b darf aber nicht unbeschränkt groß sein, sein Maximalwert ist ja durch den mittleren Atomabstand in der Folie beschränkt. Die experimentelle Bestätigung der Rutherfordschen Streuformel durch Geiger und Marsden rechtfertigt einerseits die Annahme eines Coulomb-Streupotenzials zwischen den α-Teilchen und den Atomkernen; andererseits kann man aus den −14 auftretenden Streuwinkeln auf einen beteiligten Stoßparameter von etwa 10 m schließen, der die ungefähre Größe des Atomkerns angibt. Das Coulombpotenzial −14 wirkt also unverändert bis zu Abständen von 10 m.

126

2 Mechanik des Massenpunktes

Beispiel: Energie der α-Teilchen von 222 Rn (Radon) beträgt Eα = 5,59 MeV = 6 −19 −13 5,59⋅10 . 1,602⋅10 J = 8,955⋅10 J. Ordnungszahl (Zahl der Protonen) von Gold Z = 79. Ablenkwinkel: θ = 90° ⇒ cot (θ/2) = cot (45°) = 1. Damit ergibt sich für den Stoßparameter (siehe Anhang A2.4.1, Gl. I-2.193) b​ =

1

2 Z​e​ 2

4 π​ ε​0 2 E​α​

cot​

−19 2 θ​ ) 9 2 ⋅ 79 ⋅ (1,602 ⋅ 10 ⋅ 1 ≅ 2 ⋅ 1014 m = 8,988 ⋅ 10 −13 2 2 ⋅ 8,955 ⋅ 10

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body) Einleitung: Der sogenannte „starre Körper“ ist ein Modell, das über das Verhalten des Massenpunktes hinausgeht und spezielle räumlich ausgedehnte, materielle Objekte beschreibt. Es handelt sich dabei um Systeme von Massenpunkten, deren Abstände voneinander sich im Laufe der Zeit nicht ändern; Deformationen jeglicher Art sind daher ausgeschlossen. Während ein Massenpunkt, der ja kein Volumen besitzt, nur eine Translation, aber keine mechanische Rotationsbewegung ausführen kann, kann ein ausgedehnter starrer Körper translatieren und um eine Körperachse rotieren. In der Quantenmechanik dagegen (Band V, Kapitel „Atomphysik“) wird auch einem punktförmigen Mikroteilchen ein Eigendrehimpuls (Spin) zugeordnet. Die Gesamtbewegung des starren Körpers kann als Translation seines Schwerpunkts und als zusätzliche Rotation um den Schwerpunkt beschrieben werden. Der Drehimpuls des starren Körpers ist das Produkt aus dem Trägheitstensor, der seine Massenverteilung berücksichtigt, und der Winkelgeschwindigkeit der Rotation, wobei der Drehimpulsvektor i. Allg. nicht in die Richtung der Winkelgeschwindigkeit weist. Zusätzlich zur Translationsenergie besitzt der rotierende starre Körper Rotationsenergie.

3.1 Statik und Gleichgewicht (statics and equilibrium) Bisher haben wir den idealisierten Massenpunkt, unser Teilchen, betrachtet, jetzt geben wir einen Teil der Idealisierung auf: Wir betrachten ein ganzes System von Massepunkten, sie seien allerdings starr miteinander verbunden, d. h. Deformationen des Gesamtkörpers (Dehnung, Biegung, Scherung) bleiben unberücksichtigt. Wir können uns so einen ‚starren Körper‘ am besten als unregelmäßig geformten Felsbrocken vorstellen, dürfen aber nicht davon ausgehen, dass seine Massendichte homogen ist. Wir müssen also jetzt die Massenverteilung in unserem starren Körper berücksichtigen. Dazu zerlegen wir den Körper in kleine Volumenelemente ΔVi mit dem Ortsvektor r​⇀i​ und der Masse Δmi (Abb. I-3.1). Im starren Körper müssen alle Vektoren r​⇀i​k​ zwischen den einzelnen Volumenelementen zeitlich konstant sein. Wir kommen dann zum Gesamtvolumen und zur Gesamtmasse, indem wir über die einzelnen Volumenelemente (= Massenelemente) aufsummieren, bzw. im Grenzübergang aufintegrieren:

Gesamtvolumen:

V​ = ∑ΔV​i​ i​

$$/

ΔV​i​ % 0

V​ = ∫d​V​ V​

(I-3.1)

128

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)



ρ(r )



rik



ΔVi , Δmi

rk



ri z

x

O

y

Abb. I-3.1: Zur Berücksichtigung der Massenverteilung im starren Körper.

Gesamtmasse:

M​ = ∑ Δm​i​ = ∑ ρ​i​ ΔV​i​ i​

dabei ist ρ​i​ =

i​

$$/

ΔV​i​ % 0

M​ = ∫ρ​ ⋅ d​V​

(I-3.2)

V​

Δm​i​ d​m​ bzw. ρ​ = . ΔV​i​ d​V​

Ist der Körper homogen, so gilt: M​ = ρ​∫d​V​ = ρ​ ⋅ V​ .

(I-3.3)

V​

Im Unterschied zum Massenpunkt hat der starre Körper zwei Bewegungsmöglichkeiten: 1. Translation (translational motion): Alle MP eines Körpers besitzen in einem bestimmten Zeitpunkt dieselbe Geschwindigkeit υ​⇀i​ (t​), die aber von der Zeit abhängen kann. Unter dem Einfluss einer resultierenden äußeren Kraft F​⇀R​ = ∑F​⇀i​ erfolgt die Translation beschleunigt. i​

2.

Rotation (rotational motion): Alle MP führen eine Kreisbewegung um eine momentane Drehachse mit der Winkelgeschwindigkeit ω​⇀(t​) aus, deren Größe und Richtung von der Zeit abhängen kann. Unter dem Einfluss eines resultie⇀i​ erfolgt die Rotation beschleunigt. ⇀R​ = ∑D​ renden äußeren Drehmoments D​ i​

⇀ an die Stelle der Kraft F​⇀. Bei der Rotation tritt also das Drehmoment D​ Die allgemeinen Gleichgewichtsbedingungen (Bedingungen für den nicht beschleunigten Zustand) eines starren Körpers lauten daher:

3.1 Statik und Gleichgewicht (statics and equilibrium)

1.

F​⇀R​ = ∑F​⇀i​ = 0

129 (I-3.4)

i​

Die translatorische Komponente der Beschleunigung verschwindet, wenn die Summe aller am starren Körper angreifenden Kräfte (resultierende Kraft F​⇀R​ ) verschwindet. Der lineare Impuls ist dann konstant, also p​⇀= const. 2.

⇀R​ = ∑D​ ⇀i​ = 0 D​

(I-3.5)

i​

Die rotatorische Komponente der Beschleunigung verschwindet, wenn die Summe aller am starren Körper angreifenden Drehmomente (resultierendes ⇀R​) verschwindet. Der Drehimpuls ist dann konstant, also Drehmoment D​ ⇀ L​ = const. Diese beiden Gleichungen (I-3.4) und (I-3.5) enthalten auch den Fall des statischen Gleichgewichts: p​⇀= L​⇀= 0 .

(I-3.6)

⇀R​ in ihrer Wirkung Andererseits sind alle Kraftsysteme mit gleichem F​⇀R​ und D​ gleichwertig.

3.1.1 Drehmoment und Bezugspunkt Das Drehmoment, das eine Kraft am starren Körper ausübt, ist i. Allg. vom Bezugspunkt abhängig, es ist kein ‚freier Vektor‘. Wir wählen einen beliebigen Bezugspunkt B, der nicht mit dem Ursprung O zusammenfällt (Abb. I-3.2).

v

Fi

v v

Pi

ri – R B B

v

v

ri

RB O Abb. I-3.2: Zum Drehmoment einer im Punkt P​i​ am starren Körper angreifenden Kraft F​⇀i​ .

130

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

Für das Gesamtdrehmoment bezüglich B gilt:

⇀R​ = ∑ D​⇀B​i​ = ∑ [(r​⇀i​ − r​⇀B​ ) × F​⇀i​] = ∑ r​⇀i​ × F​⇀i​ − ∑ ( ⏟ D​ r​⇀B​ × F​⇀i​ ) = i​

i​

i​

i​

const.

=∑r​⇀i​ × F​⇀i​ − r​⇀B​ × ∑F​⇀i​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ i​

(I-3.7)

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ i​

∑D​⇀i​ b​e​z​ü​g​l​i​c​h​ (O​)

G​e​s​a​m​t​k​r​a​f​t​ F​⇀R​

i​

Damit erhalten wir für das Gesamtdrehmoment bezüglich B: R​ D​⇀B​ = ∑r​⇀i​ × F​⇀i​

− ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ r​⇀B​ × F​⇀R​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ i​ S​u​m​m​e​ a​l​l​e​r​ D​r​e​h​m​o​m​e​n​t​e​ b​e​z​ü​g​l​i​c​h​ O​

.

(I-3.8)

D​r​e​h​m​o​m​e​n​t​ d​e​r​ i​n​ B​ a​n​g​r​e​i​f​e​n​d​e​n​ G​e​s​a​m​t​k​r​a​f​t​ F​⇀R​ b​e​z​ü​g​l​i​c​h​ O​

Spezialfall: Das Kräftepaar (= Drehzwilling, couple) Führt der starre Körper keine oder eine unbeschleunigte Translationsbewegung aus (sein Schwerpunkt ruht also oder bewegt sich gleichförmig geradlinig), d. h. die resultierende Gesamtkraft verschwindet, so ist F​⇀R​ = ∑F​⇀i​ = 0. In diesem Fall i​

gilt D​⇀B​R​ = ∑r​⇀i​ × F​⇀i​ ,

(I-3.9)

i​

das Drehmoment ist dann vom Bezugspunkt unabhängig (torque). Wenn also der Schwerpunkt des starren Körpers ruht oder sich gleichförmig geradlinig bewegt, ist ein allfällig wirkendes Drehmoment vom Bezugspunkt unabhängig, es ist dann ein ‚freier Vektor‘. Das Kraftsystem lässt sich dann immer auf ein Kräftepaar (Drehzwilling) reduzieren (Abb. I-3.3). F​⇀1 = F​⇀, F​⇀2 = −F​⇀⇒

∑F​⇀i​ = 0 , i​

⇀ = ∑D​ ⇀i​ = r​⇀1 × F​⇀+ r​⇀2 × (−F​⇀) D​ i​



⇀ = (r​⇀1 − r​⇀2 ) × F​⇀ D​

Drehmoment eines Kräftepaares (Drehzwilling).

(I-3.10)

Obwohl also keine resultierende Kraft wirkt, also F​⇀R​ = ∑F​⇀i​ = 0 ist, gibt es ein i​

resultierendes, nicht verschwindendes Drehmoment, das vom Bezugspunkt un⇀ steht normal auf der durch die Kräfte gebildeten Ebene. abhängig ist. D​

3.1 Statik und Gleichgewicht (statics and equilibrium)

131

ln

 





‧ F2





F1 = – F2

r1 – r2 α

  F r 1



1

• O

r2

Abb. I-3.3: Das Kräftepaar = der Drehzwilling.

Für den Betrag des Kräftepaares gilt: |

⇀| = D​ = (r​1 − r​2 ) ⋅ F​ ⋅ sin α​ = l​n​ ⋅ F​ . D​

(I-3.11)

l​n​ ist der Normalabstand (der ‚Arm‘) des Kräftepaares. Kräftepaare können (als ‚reines Drehmoment‘) im starren Körper beliebig verschoben werden (freier Vektor) 1. Ein frei beweglicher starrer Körper dreht sich so, dass seine Drehachse durch den Massenmittelpunkt geht, da dieser im Falle ∑F​⇀i​ = 0 stets in Ruhe bleibt (Impulssatz eines Teilchensystems). i​

Über zwei Trinkhalme strömt Wasser aus einer drehbar aufgehängten Flasche aus (offener Pfeil ) und verursacht an der Flasche einen Drehzwilling (voller Pfeil ). Die Distanz der Ausströmöffnungen ist in allen drei Fällen gleich, ihre Anordnung aber verschieden: symmetrisch (links), asymmetrisch (Mitte), beide Öffnungen auf einer Seite der Drehachse (rechts). Die Drehung erfolgt immer gleich um den Schwerpunkt.

1 Es muss nur das Produkt l​n​ ⋅ F​ erhalten bleiben, nur wenn bei der Verschiebung die Kräfte kons⇀, wie er zustande tant sind, muss auch l​n​ erhalten bleiben. Frei verschiebbar ist eben der Vektor D​ kommt ist gleichgültig!

4

132

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

Die Arbeit des Drehzwillings bzw. des Drehmoments Für eine Translation d​r⇀(konstant ​ für den ganzen Körper) verrichtet der Dreh⇀ ⇀ zwilling wegen F​1 = −F​2 keine Arbeit. Für eine Rotation um den kleinen Winkel d​φ⇀= ​ ω​⇀d​t​ gilt mit d​r⇀​1 = (ω​⇀× r​⇀1 )d​t​ und d​r⇀​2 = (ω​⇀× r​⇀2 )d​t​ ⇀1 − r​⇀2 )] = d​Wr​ ot = F​⇀1 d​t​ [ (ω​⇀× r​⇀1 ) − (ω​⇀× r​⇀2 )] = d​t​ F​⇀1 ⋅[ω​⇀× (r​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ r​⇀

⇀d​φ⇀. ⇀× F​⇀1 ) = D​ = ⏟⏟⏟⏟⏟ d​t​ω⇀​ (r​⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ​

(I-3.12)

⇀ D​

d​φ⇀​

Diese Beziehung ist analog zur linearen Bewegung d​Wl​ in = F​⇀d​r⇀​ , es entspricht also das ⇀ der Kraft F​⇀und das Drehwinkelelement d​φ⇀dem Drehmoment D​ ​ Wegelement d​r⇀​ . 3.1.2 Der Massenmittelpunkt (= Schwerpunkt) Wir können die Wirkung von Kräften auf den starren Körper bezüglich seiner Translationsbewegung so beschreiben, dass wir ihn als MP ansehen, dessen Gesamtmasse M​ = ∑Δm​i​ im Massenmittelpunkt S vereinigt ist (siehe Kapitel i​

„Mechanik des Massenpunkts“, Abschnitt 2.4 ‚Massenpunktsysteme und Erhaltungssätze‘, Gl. I-2.63): r​⇀S​ =

1 M​

∑ r​⇀i​ Δm​i​ i​

bzw. im Grenzübergang ΔV​i​ % 0 r​⇀S​ =

1 1 ∫r​⇀d​m​ = ∫r​⇀⋅ ρ​ (r​⇀)d​V​ . M​ V​ M​ V​

(I-3.13)

Liegt der Koordinatenursprung im Schwerpunkt, dann ist r​⇀S​ = 0 und daher

∑r​⇀i​ Δm​i​ = 0 bzw. i​

∫r​⇀d​m​

= 0 (Schwerpunktsbedingung). Für einen homogenen

V​

Körper ( ρ = M/V ) stimmt der Massenmittelpunkt mit dem Mittelpunkt des Volumens überein: r​⇀S​ =

1 ∫r​⇀d​V​ . V​ V​

(I-3.14)

Die Koordinaten des Massenmittelpunkts lauten also:

x​S​ =

∫ρ​ ⋅ x​ d​V​

∫ρ​ ⋅ y​ d​V​

V​

V​

,

y​S​ =

∫ρ​ ⋅ z​ d​V​

,

z​S​ =

V​

.

∫ρ​ d​V​

∫ρ​ d​V​

∫ρ​ d​V​

V​

V​

V​

(I-3.15)

3.2 Kinematik und Freiheitsgrade (kinematics and degrees of freedom)

133

Wie groß ist das Drehmoment der Gewichtskraft in Bezug auf den Massenmittelpunkt (r​⇀B​ = r​⇀S​ , siehe Abb. I-3.2)? Es gilt

F​⇀i​ = ∑ Δm​i​ g​⇀



G​ D​↼S​ = ∑(r​⇀i​ × Δm​i​ g​⇀) − r​⇀S​ × ∑Δm​i​ g​⇀=

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ i​

i​

M​

= ∑ Δm​i​ r​⇀i​ × g​⇀− M​ ⋅ i​

r​⇀S​ ⏟ 1 M​

× g​⇀=

∑ Δm​i​ r​⇀i​ × g​⇀− ∑ Δm​i​ r​⇀i​ × g​⇀= 0 .

(I-3.16)

i​

∑ Δm​i​ r​⇀i​ i​

G​

also: D​⇀S​ = 0 . Ein Körper, der drehbar um seine Schwerpunktsachse aufgehängt ist oder frei fällt, erfährt also durch die Schwerkraft kein Drehmoment, er bleibt im Gleichgewicht oder fällt drehungsfrei 2.

3.2 Kinematik und Freiheitsgrade (kinematics and degrees of freedom) 3.2.1 Allgemeine Bewegung der Massenpunkte eines starren Körpers Um zu einer Beschreibung des Bewegungszustandes des starren Körpers zu gelangen, denken wir uns den starren Körper wieder in kleine Volumenelemente ΔVi mit einem Mittelpunkt Pi zerlegt, zu dem der Ortsvektor r​⇀i​ führt. Zum Schwerpunkt S S​ zeigt der Vektor r​⇀S​ . Wir geben jetzt auch alle jene Vektoren r​⇀i​ an, die vom Schwerpunkt zu den einzelnen Volumenelementen führen (Abb. I-3.4). Der starre Körper kann eine Translation durchführen und/oder eine Rotation um eine augenblickliche Drehachse. Die momentane Geschwindigkeit des Volumenelements ΔVi und damit von Pi in Bezug auf das verwendete Koordinatensystem sei υ​⇀i​ , die Geschwindigkeit des Massenmittelpunktes S sei υ​⇀S​ . Dann ergibt sich S​ für die Relativgeschwindigkeit υ​⇀i​ des Volumenelements in Bezug auf den Schwerpunkt S: S​ υ​⇀i​ =

d​r⇀ ​ S​i​ = υ​⇀i​ − υ​⇀S​ . d​t​

(I-3.17)

2 Diese Überlegungen gelten für alle parallelen Massenkräfte, also auch für die Trägheitskräfte bei wirkender Translationsbeschleunigung (Linearbeschleunigung) A​⇀linear : Es tritt keine Drehung um den Schwerpunkt bei einer Translationsbeschleunigung A​⇀linear auf, g​⇀ist oben einfach durch A​⇀linear zu ersetzen.

134

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

v ʋv v ʋ

ʋi

S

v

S i

90° Pi • ΔVi Δmi

v

ʋS

r iS

v

•S

ri

v

rS

v

M⋅g = g⋅Σ Δmi i

Abb. I-3.4: Zur Beschreibung des Bewegungszustandes eines starren Körpers.

S​

Wir beachten, dass die r​⇀i​ zwar andauernd ihre Richtung ändern, wenn der Körper S​ rotiert, dass ihr Betrag | r​⇀i​ | aber zeitlich konstant ist, es handelt sich ja um einen

‚starren‘ Körper. Es muss also gelten: 2

S​ S​ ​ i​ d​((r​⇀i​ ) ) S​ d​r⇀ S​ S​ = 2 ⋅ r​⇀i​ = 2 ⋅ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ r​⇀i​ ⋅ υ​⇀i​ = 0 , d​t​ d​t​ S​k​a​l​a​r​p​r​o​d​u​k​t​

(I-3.18)

S​ S​ also υ​⇀i​ ⊥ r​⇀i​ ! S​ S​ S​ S​ υ​⇀i​ ⊥ r​⇀i​ bedeutet nur, dass υ​⇀i​ in einer Ebene ⊥ zu r​⇀i​ liegt und durch Drehung S​

( | r​⇀i​ | = const.!) um eine durch S gehende Achse ω​⇀(t​) erfolgt, die wegen der Starrheit des Körpers für alle Volumenelemente ΔV​i​ identisch ist. Dieses ω​⇀(t​) bestimmt für einen Augenblick die gesamte Rotation des starren Körpers. Für die GeschwindigS​ keit υ​⇀i​ der Volumenelemente ΔV​i​ bei einer Rotationsbewegung um eine Drehachse S​ durch S gilt daher für alle Elemente mit dem Ortsvektor r​⇀i​ S​ S​ υ​⇀i​ = ω​⇀× r​⇀i​ ,

(I-3.19)

wobei zu beachten ist, dass ω​⇀= ω​⇀(t​) im Allgemeinen eine Funktion der Zeit ist, also sowohl seine Größe, als auch seine Richtung im Laufe der Zeit ändert. Damit ergibt sich die allgemeine Bewegung der Volumenelemente, d. h. der Punkte Pi in einem Inertialsystem zu S​ S​ υ​⇀i​ = υ​⇀S​ + υ​⇀i​ = υ​⇀S​ + ω​⇀× r​⇀i​ .

(I-3.20)

Die allgemeine Bewegung des starren Körpers setzt sich also aus einer Translation des Schwerpunkts und einer Rotation um den Schwerpunkt zusammen. Die Bestim-

135

3.2 Kinematik und Freiheitsgrade (kinematics and degrees of freedom)

mung der Rotation ω​⇀(t​) eines starren Körpers unter der Einwirkung von Kräften stellt das zentrale Problem der Kreiseltheorie dar. Zu beachten: Die Rotationsachse (durch den Schwerpunkt) braucht nicht raumfest zu sein, sondern kann ihre Richtung im Laufe der Zeit ändern, auch wenn keine Kräfte auf den Körper wirken (siehe Abschnitt 3.4 „Kreiselbewegung“).3 3.2.2 Die Freiheitsgrade des starren Körpers Ein völlig frei beweglicher starrer Körper kann durch die Angabe von 6 Koordinaten beschrieben werden: 1. Die 3 Ortskoordinaten des Schwerpunkts r​⇀S​ (t​) = {x​S​ (t​),y​S​ (t​),z​S​ (t​)} beschreiben die Translation. 2. 3 Winkelkoordinaten, die Eulerschen Winkel φ(t), θ(t), ψ(t) beschreiben die Rotation um S (Abb. I-3.5). z

z

y′

z θ

θ z′ φ

φ y

y

φ x

raumfestes System (x,y,z)

φ

φ x

x′

y

ψ

x

körperfestes System (x′,y′,z′)

Abb. I-3.5: Die Eulerschen Winkel vermitteln zwischen dem ‚körperfesten‘, mitrotierenden Koordinatensystem (x′,y′,z′) und dem ‚raumfesten‘ Koordinatensystem (x,y,z). Als z′-Achse im körperfesten System wird üblicherweise eine Hauptträgheitsachse (siehe Abschnitt 3.3.2) gewählt. φ … Präzessionswinkel, θ … Pendelungswinkel, ψ … Eigendrehungswinkel.

Insgesamt ergeben sich so für den starren Körper 6 Freiheitsgrade, 3 der Translation und 3 der Rotation (freier Kreisel, z. B. Erdsatellit). Wird ein Punkt des starren Körpers festgehalten, so ist keine Translation mehr möglich und es bleiben nur mehr die 3 Freiheitsgrade der Rotation (z. B. ‚unterstützter Kreisel‘, z. B. Kompassnadel). Erfolgt die Rotation zusätzlich um eine raumfeste Achse, so bleibt nur mehr 1 Freiheitsgrad der Rotation, der Drehwinkel Φ (z. B. Turbinenwelle).

3 Für einen freien Körper gibt es keinen ‚Erhaltungssatz der Drehachse‘ etwa in Analogie zum Erhaltungssatz des linearen Impulses und des Drehimpulses.

136

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie (dynamics, moment of inertia, rotational energy) Die Newtonsche Bewegungsgleichung müssen wir auch beim starren Körper für die Translationsbewegung wieder finden, zusätzlich muss aber noch eine Bewegungsgleichung für die Rotation gelten.

3.3.1 Bewegungsgleichungen des starren Körpers Wie wir schon aus Abschnitt 3.2.1 wissen, setzt sich die allgemeine Bewegung des starren Körpers so zusammen: 1. Translation des Schwerpunkts: d​p⇀​S​ d​υ⇀​S​ F​⇀= = M​ d​t​ d​t​

Satz von der Bewegung des Massenmittelpunktes. (I-3.21)

Die Translation des Schwerpunkts erfolgt so, als wäre die Gesamtmasse in ihm konzentriert.

1

2.

Rotation um den Schwerpunkt: ⇀ ⇀ = d​L​ = ∑ (r​ S​i​ × F​⇀i​ ) D​ d​t​ i​

Rotation um den Schwerpunkt.

(I-3.22)

Beim starren Körper dürfen die Kräfte F​⇀i​ in ihrer Richtung verschoben werden, ⇀ zu ändern (Linienflüchtigkeit der Kraft); dies ermöglicht die Reduktion des ohne D​ gesamten Kräftesystems auf eine Einzelkraft und einen Drehzwilling (Kräftepaar, siehe Abschnitt 3.1.1). Wir sehen sofort: Für

F​⇀R​ = ∑F​⇀i​ = 0 ⇒ p​⇀S​ = M​ ⋅ υ​⇀S​ = const.

(I-3.23)

i​

1

Wenn auf einen starren Körper keine resultierende Kraft ausgeübt wird, bleibt sein linearer Schwerpunktsimpuls erhalten. und Für

⇀R​ = ∑D​ ⇀ = 0 ⇒ L​⇀= const. D​ i​

(I-3.24)

3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie

137

Wenn auf einen starren Körper kein Drehmoment ausgeübt wird, bleibt sein Drehimpuls erhalten.

1

3.3.2 Das Trägheitsmoment (moment of inertia) Der Drehimpuls L​⇀muss aus der Bewegung der Massenelemente Δmi berechnet werden. Das Wesentliche dabei ist eine entsprechende Berücksichtigung der Massenverteilung. Wir betrachten dazu die Rotation eines starren Körpers (O = S) und beschreiben seine Drehbewegung mit υ​⇀i​ = ω​⇀× r​⇀i​ . Für den Drehimpuls eines einzelnen Massenelements gilt dann: L​⇀i​ = r​⇀i​ × p​⇀i​ = Δm​i​ (r​⇀i​ × υ​⇀i​ ) = Δm​i​ (r​⇀i​ × (ω​⇀× r​⇀i​ )) .

(I-3.25)

Wir erinnern uns, dass für ein Vektor-Tripelprodukt gilt: a​⇀× (b​⇀× c​⇀) = b​⇀⋅ (a​⇀⋅ c​⇀) − c​⇀⋅ (a​⇀⋅ b​⇀) .

1

Hier ist a​⇀= r​⇀i​ , b​⇀= ω​⇀, c​⇀= r​⇀i​ und damit 2 L​⇀i​ = Δm​i​ r​ i​ ω​⇀− Δm​i​ r​⇀i​ (r​⇀i​ ⋅ ω​⇀) .

(I-3.26)

Den gesamten Drehimpuls erhalten wir durch Integration über alle Massenelemente: 2 2 L​⇀= ∫[r​ ω​⇀− (r​⇀⋅ ω​⇀) ⋅ r​⇀] d​m​ = ∫[r​ ω​⇀− (r​⇀⋅ ω​⇀) ⋅ r​⇀] ρ​d​V​ . V​

(I-3.27)

V​

Wie sehen die Komponenten von L​⇀aus? Dazu beachten wir, dass r​ 2 = x​ 2 + y​ 2 + z​ 2 und r​⇀⋅ ω​⇀= x​ωx​ ​ + y​ωy​ ​ + z​ωz​ ​ und erhalten: x​ 2 ω​x​ + y​ 2 ω​x​ + z​ 2 ω​x​ − x​ 2 ω​x​ − x​y​ωy​ ​ − x​z​ωz​ ]d​ L​x​ = ∫[⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ​ m​ = (y​ 2 + z​ 2 )ω​x​ = (r​ 2 − x​ 2 )ω​x​

V​

= ∫ (r​ 2 − x​ 2 )d​m​ ⋅ ω​x​ − ∫x​y​d​m​ ⋅ ω​y​ − ∫x​z​d​m​ ⋅ ω​z​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​ I​x​x​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

I​x​y​

I​x​z​

L​y​ = ∫[x​ 2 ω​y​ + y​ 2 ω​y​ + z​ 2 ω​y​ − y​x​ωx​ ​ − y​ 2 ω​y​ − y​z​ωz​ ]d​ ​ m​ = V​ 2

2

= − ∫y​x​d​m​ ⋅ ω​x​ + ∫ (r​ − y​ )d​m​ ⋅ ω​y​ − ∫y​z​d​m​ ⋅ ω​z​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

I​y​x​

I​y​y​

I​y​z​

138

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

L​z​ = ∫[x​ 2 ω​z​ + y​ 2 ω​z​ + z​ 2 ω​z​ − z​x​ωx​ ​ − z​y​ωy​ ​ − z​ 2 ω​z]d​ ​ m​ = 2 2 = − ∫z​x​d​m​ ⋅ ω​x​ − ∫z​y​d​m​ ⋅ ω​y​ + ∫ (r​ − z​ )d​m​ ⋅ ω​z​ .

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

I​z​x​

I​z​y​

I​z​z​

(I-3.28)

Die 6 Terme Inm = Imn bilden die Komponenten des Trägheitstensors I​ ̃ (moment of inertia tensor), eines symmetrischen Tensors 2. Stufe. Für den Drehimpuls L​⇀gilt also mit dm = ρdV die folgende in ω​⇀lineare Vektorfunktion 2

L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀

mit

r​ − x​ I​ ̃ = ∫d​V​ρ​ (x​,y​,z​) (− y​x​ V​ − z​x​

2

− x​y​ 2 2 r​ − y​ − z​y​

− x​z​ − y​z​ ) 2 2 r​ − z​

(I-3.29)

oder ausgeschrieben (I-3.30) I​x​x​ = ∫ (r​ 2 − x​ 2 )ρ​d​V​

I​x​y​ = −∫x​y​ρ​d​V​

I​x​z​ = −∫x​z​ρ​d​V​

V​

V​

V​

L​x​ = (I​y​x​ = I​x​y​ (L​y) ​ L​z​ I​z​x​ = I​x​z​

2

2

I​y​y​ = ∫ (r​ − y​ )ρ​d​V​ V​

I​z​y​ = I​y​z​

ω​x​

I​y​z​ = −∫y​z​ρ​d​V​

)(ω​y) ​ . ω​z​

V​ 2

2

I​z​z​ = ∫ (r​ − z​ )ρ​d​V​ V​

Dabei sind (x,y,z) die Koordinaten des Massenelements und ρ (x,y,z) ist die Massendichte. Die 6 voneinander unabhängigen Elemente des Trägheitstensors berücksichtigen die Massenverteilung des starren Körpers. Ixx , Iyy, Izz heißen Trägheitsmomente, es sind die Trägheitsmomente bei Rotation um die feste x-, y-, z-Achse durch den Schwerpunkt (vgl. Abschnitt 3.3.4), sie sind stets positiv. Ixy, Iyz , Izx heißen Deviations- oder Zentrifugalmomente, sie können positiv oder negativ sein. Es ist zu beachten, dass sich die Koordinaten x, y, z auf ein raumfestes Koordinatensystem beziehen, also zeitabhängig sind: x = x(t), y = y(t), z = z(t). Daher sind alle obigen Tensorkomponenten zeitabhängig! Wichtig: Im Allgemeinen tragen alle Elemente des Trägheitstensors zum Trägheitsverhalten bei, der Drehimpuls liegt dann nicht in Richtung der Drehachse, d. h. der Winkelgeschwindigkeit: L​⇀n​i​c​h​t​ // ω​⇀!

3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie

139

Beispiel: Wir betrachten eine freie Drehung um die x-Achse, diese werde also nicht festgehalten. Es gilt: ωx = ω, ωy = 0, ωz = 0. Wir erhalten: L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀= e​⇀x​ (ω​x​ I​x​x​ + ω​y​ I​x​y​ + ω​z​ I​x​z​ ) + + e​⇀y​ (ω​x​ I​y​x​ + ω​y​ I​y​y​ + ω​z​ I​y​z​ ) + + e​⇀z​ (ω​x​ I​z​x​ + ω​y​ I​z​y​ + ω​z​ I​z​z​ ) = e​⇀x​ ω​I​x​x​ + e​⇀y​ ω​Ix​ ​y​ + e​⇀z​ ω​I​x​z​ L​⇀ kann also trotz augenblicklicher Rotation um die x-Achse Komponenten normal dazu haben, die von Ixy und Ixz herrühren! Die Drehung um die x-Achse bleibt daher nicht erhalten, deshalb der Name Deviationsmomente für Ixy, Iyz , Izx . Auch hier besteht wieder eine formale Analogie zwischen der linearen Bewegung ( p​⇀= m​υ⇀​) und der Drehbewegung (L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀): der Drehimpuls L​⇀entspricht dem linearen Impuls p​⇀, der Trägheitstensor I​ ̃ der skalaren Masse m und die Winkelgeschwindigkeit ω​⇀ der Bahngeschwindigkeit υ​⇀. Wir beachten aber den Unterschied zur Translation: Der lineare Impuls p​⇀= m​υ⇀hat ​ immer die Richtung von υ​⇀(m ist ein Skalar)! Ebenso hat die Kraft F​⇀= m​a⇀, ​ wenn die Masse konstant bleibt, die Richtung des Beschleunigungsvektors a​⇀.4 Bei der Rotation eines starren Körpers muss der Drehimpuls aber nicht in die Richtung des Vektors der Winkelgeschwindigkeit weisen, also parallel zur Drehachse sein! In Bezug auf ein körperfestes Koordinatensystem wird der Trägheitstensor zeitunabhängig und es lässt sich immer ein Koordinatensystem finden, in dem nur mehr die Diagonalelemente von I​ ̃ nicht verschwinden: ‚Hauptachsentransformation‘. Der Trägheitstensor nimmt dann folgende Form an: I​a​ 0 0 I​ ̃ = I​ ̃0 = (0 I​b​ 0 ) . 0 0 I​c​

(I-3.31)

Die Achsen a, b, c des entsprechenden Bezugssystems nennt man Hauptträgheitsachsen (= Hauptachsen), die Trägheitsmomente Ia , Ib , Ic sind die Hauptträgheitsmomente.

3.3.3 Die Rotationsenergie Bei der Rotation beschreiben alle Volumenelemente Kreisbogenelemente um die momentane Drehachse mit der Geschwindigkeit υ​⇀i​ = ω​⇀× r​⇀i​ . Damit erhalten wir für die Rotationsenergitee 4 Dies gilt allerdings nicht mehr für die relativistische Punktmechanik. Für relativistische Geschwindigkeiten hat die Kraft im Allgemeinen eine Komponente, die von der Richtung der Be-

140

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

1 1 1 E​rot = ∑ m​i​ ⋅ υ​⇀i​ ⋅ υ​⇀i​ = ∑(ω​⇀× r​⇀i​ ) ⋅ m​i​ υ​⇀i​ = ∑ω​⇀⋅ (r​⇀i​ × m​i​ υ​⇀i​ ) = ⏟ 2 2 i​ 2 i​ i​ m​i​t​ (a​⇀× b​⇀)⋅c​⇀= a​⇀⋅ (b​⇀× c​⇀) =

1 ω​⇀∑ (r​⇀i​ × m​i​ υ​⇀i​ ) 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ i​

(I-3.32)

L​⇀

also:

E​rot =

ω​x​ I​x​x​ I​x​y​ I​x​z​ 1 ⇀ 1 1 ω​⇀L​ = ω​⇀⋅ I​ ̃ ⋅ ω​⇀= (ω​x,ω​ ​ y,ω​ ​ z​ ) (I​y​x​ I​y​y​ I​y​z​ )(ω​y​ ) = 2 2 2 I​ I​ I​ ω​ z​x​ z​y​ z​z​

z​

1 2 2 2 = (I​x​x​ ω​ x​ + I​y​y​ ω​ y​ + I​z​z​ ω​ z​ + 2 I​x​y​ ω​x​ ω​y​ + 2 I​x​z​ ω​x​ ω​z​ + 2 I​y​z​ ω​y​ ω​z​ ) . 2

(I-3.33)

Rotationsenergie des starren Körpers Im Hauptachsensystem gilt für die Rotationsenergie E​rot =

1 2 2 2 (I​a​ ω​ a​ + I​b​ ω​ b​ + I​c​ ω​ c​ ) . 2

(I-3.34)

Dabei sind ω​a,​ ω​b,​ ω​c​ die (sich zeitlich ändernden) Komponenten der Winkelgeschwindigkeit in Richtung der Hauptachsen.5 Für die Translationsenergie gilt: E​trans =

1 1 1 2 m​ υ​ S​ = υ​⇀S​ m​υ⇀​S​ = υ​⇀S​ p​⇀S​ . 2 2 2

(I-3.35)

Damit erhalten wir für die Gesamtenergie des starren Körpers: E​ges = E​rot + E​trans =

1 ⇀ 1 1 ω​⇀L​ + υ​⇀S​ p​⇀S​ = (ω​⇀I​ ̃ω​⇀+ υ​⇀S​ m​ υ​⇀S​ ) . 2 2 2

(I-3.36)

Gesamtenergie des starren Körpers

3.3.4 Rotation um eine feste Achse Wir nehmen als feste Achse einfach die z-Achse, dann weist ω​⇀ in z-Richtung, ω​⇀= ω​ ⋅ e​⇀z​ (Abb. I-3.6). Den Trägheitstensor berechnen wir im körperfesten System {e​⇀x​,e​⇀y​,e​⇀z​ } , das sich mit ω​⇀relativ zum raumfesten System dreht. schleunigung abweicht, ist also nicht mehr parallel zu a​⇀(siehe dazu Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“, Abschnitt 3.10.3). 5 Ist Erot zeitlich konstant (kräftefreie Bewegung), so stellt die obige Beziehung E​rot = E​ ( ω​i)​ eine Fläche 2. Grades in den Komponenten ωi dar (‚Energieellipsoid‘), auf der die Spitze des Vektors stets liegt (siehe Abschnitt 3.3.6).

3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie

141



ω



ey





ez rn

Ln Ly

Lz

S Lx

dV, dm



ex

  

ex, ey, ez sind körperfest!

z Abb. I-3.6: Rotation um eine feste Achse.

a) Für den Drehimpuls L​⇀gilt mit ω​⇀= {0,0,ω​} L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀= (I​x​z​ ⋅ ω​)e​⇀x​ + (I​y​z​ ⋅ ω​)e​⇀y​ + (I​z​z​ ⋅ ω​)e​⇀z​ ,

(I-3.37)

er weist also nicht in die Richtung von ω​⇀= ω​ ⋅ e​⇀z​ . Die Komponente ⊥ ω​⇀ L​⇀n​ = L​x​ e​⇀x​ + L​y​ e​⇀y​ dreht sich mit dem körperfesten System um die z-Achse. Es muss daher durch die ebenfalls umlaufenden Lagerkräfte ein entsprechendes ⇀ = L​⇀̇ n​ erzeugt werden 6. Drehmoment D​ b) Für die Rotationsenergie um die feste z-Achse gilt, da ω​⇀= {0,0,ω​} :

E​rot =

1 2 ω​ z​ I​z​z​ 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ a​l​l​e​ a​n​d​e​r​e​n​ T​e​r​m​e​ = 0

=

1 2 ω​ ∫ 2 V​

2 (x​ + y​ 2 ) ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ N​o​r​m​a​l​a​b​s​t​a​n​d​ r​ n​2

d​m​ =

ω​ 2 2 ∫r​ n​ d​m​ 2 V​

(I-3.38)

Wir sehen also jetzt, dass Izz die für die Rotationsenergie maßgebliche Körpereigenschaft bei Drehung um die z-Achse ist. Analog sind Ixx und Iyy die Träg-

⇀ = L​⇀̇ n​ = (ω​⇀× L​⇀n​) = −ω​Ly​​ e​⇀x​ + ω​L​x​ e​⇀y​ = ω​ 2(−I​x​z​ e​⇀x​ + I​y​z​ e​⇀y​) . D​ ⇀ liegt also 6 Für dieses Drehmoment gilt D​ ebenfalls senkrecht zur Drehachse ω​⇀= ω​ ⋅ e​⇀z​ und eilt dem rotierenden L​⇀n​ um den Winkel π​/2 voraus ̇ (negatives Vorzeichen von Dx !), steht also ⊥ auf L​⇀n​ und daher // zu L​⇀n​ , wie es nach dem Drehim⇀. Es wird pulssatz sein muss. Die Lagerkräfte als Reaktionskräfte liefern dann das geforderte − D​ nur durch die Deviationsmomente verursacht und wird als Zentrifugalmoment bezeichnet (siehe Anhang A1.3). Fällt ω​⇀mit einer Hauptträgheitsachse zusammen (siehe Abschnitte 3.3.6 und 3.3.7), dann verschwinden Ixz und Iyz und es tritt kein Zentrifugalmoment, also keine zusätzliche Lagerbeanspruchung auf (dynamisches Auswuchten von Rädern).

142

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body) 2

2

2

heitsmomente um die x- und y-Achse. x​ + y​ = r​ n​ sind die Normalabstände der Volumenelemente von der festen Drehachse. Damit ergibt sich das Trägheitsmoment um die z-Achse: 2

2

I​z​z​ = I​z​ = ∫ r​ n​ d​m​ = ∫ρ​ r​ n​ d​V​ . V​

(I-3.39)

V​

Dies gilt für jede beliebige feste Achsenrichtung A (Isotropie des Raumes), sodass bei Drehung um A mit der Winkelgeschwindigkeit ω​⇀gilt:

E​rot =

1 2 I​A​ ω​ 2 2

I​A​ = ∫r​ n​ d​m​

Rotationsenergie und Trägheitsmoment für einen starren Körper, der um eine beliebige, feste Achse A rotiert.

(I-3.40)

V​

Beispiel: Wir betrachten das Trägheitsmoment einer massiven Kugel an einer Schnur bezüglich einer festen Drehachse. A

A

A 4 kg

9 kg 1m

36 kg

2m

3m

In allen drei Fällen der Zeichnung ergibt sich das gleiche Trägheitsmoment. Beispiele für Trägheitsmomente symmetrischer Körper. Körper Kugel

Trägheitsmoment 2 5

dünne Kreisscheibe

1 2

Zylinder

1 2

Quader (a,b,c), Rotation parallel zu a

1 12

m​r​

m​r​

m​r​

2

2

2

2

2

(b​ + c​ )

3.3.5 Der Steinersche Satz (parallel axes theorem) Wie sieht das Trägheitsmoment in Bezug auf eine Achse A′ aus, die nicht durch den Schwerpunkt geht?

3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie

A

A′

v v

rn – RBn dV, dm

B

v R

v r

143

n B

n

S=O

Abb. I-3.7: Zum Steinerschen Satz. A und A′ sind parallele, feste Achsen, A ist eine Schwerpunktsachse.

Entsprechend Abb. I-3.7 gilt

B​ I​A​′ = ∫ (r​⇀n​ − r​⇀B​n​ )2 d​m​ = ∫ (r​ n​ )2 d​m​ − 2 r​⇀B​n​ ∫r​⇀n​ d​m​ + ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ (r​⇀n​ )2 ∫d​m​ V​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​

I​A​

0

(I-3.41)

const. ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ V​ M​

Der mittlere Term verschwindet nach der Definition des Schwerpunkts ∫r​⇀ d​m​ = M​r⇀​S​, da hier ja gilt r​⇀S​ = 0 (S = O) und damit ∫r​⇀d​m​ = ∫r​⇀n​ d​m​ = 0 . Mit dem V​

V​

Abstand der Achsen l​ = R​ B​n​ bekommen wir den Steinerschen Satz:

I​A​′ =

I​A​ ⏟ T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ u​m​ S​c​h​w​e​r​p​u​n​k​t​s​a​c​h​s​e​

2

+

l​ M​ ⏟⏟⏟⏟⏟

Steinerscher Satz.

(I-3.42)

T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ d​e​r​ G​e​s​a​m​t​m​a​s​s​e​ i​n​ S​ u​m​ A​′

3.3.6 Trägheits- und Energieellipsoid Jedem symmetrischen Tensor 2. Stufe kann eine Fläche 2. Grades zugeordnet werden, das Tensorellipsoid. Das Tensorellipsoid des Trägheitstensors wird als Trägheitsellipsoid bezeichnet. Wir betrachten eine beliebige Drehachse durch den Koordinatenursprung, der nicht mit dem Schwerpunkt zusammenfallen muss. Die Drehachse (gegeben durch den Vektor der Winkelgeschwindigkeit ω​⇀) schließe mit den Koordinatenachsen die Winkel α, β und γ ein: ω​⇀= {ω​ ⋅ cos α​,ω​ ⋅ cos β​,ω​ ⋅ cos γ​} . Wir setzen die Komponenten ωx , ωy, ωz in die Formel für die Rotationsenergie ein und erhalten die Energie für die Rotation um die Achse ω​⇀:

144

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

E​rot =

1 1 2 2 2 2 2 2 ω​⇀⋅ I​ ̃ ⋅ ω​⇀= (ω​ cos​ α​ ⋅ I​x​x​ + ω​ cos​ β​ ⋅ I​y​y​ + ω​ cos​ γ​ ⋅ I​z​z​ + 2 2

+ 2 ω​ 2 cos α​ cos β​ ⋅ I​x​y​ + 2 ω​ 2 cos α​ cos γ​ ⋅ I​x​z​ + 2

+ 2 ω​ cos β​ cos γ​ ⋅ I​y​z​ ) =

1 2 I​ω​ . 2

(I-3.43)

Dabei ist I das Trägheitsmoment um die Achse ω​⇀ mit der Richtung e​⇀n​ = (cos α​, cos β​, cos γ​), wobei |e​⇀n​ | = 1 . Ist also der Trägheitstensor I​ ̃ gegeben, dann erhält man das Trägheitsmoment für eine Drehachse in Richtung e​⇀n​ zu I​ = e​⇀n​ ⋅ I​ ̃ ⋅ e​⇀n​ , also I​ = I​x​x​ cos 2 α​ + I​y​y​ cos 2 β​ + I​z​z​ cos 2 γ​ + + 2 I​x​y​ cos α​ cos β​ + 2 I​x​z​ cos α​ cos γ​ + 2 I​y​z​ cos β​ cos γ​ .

Wir tragen einen Vektor r​⇀der Länge

1

√I​

(I-3.44)

in Richtung der Drehachse mit den Kom-

1 1 1 ⋅ cos α​, y​ = ⋅ cos β​, z​ = ⋅ cos γ​} ab. Damit ergibt ponenten R​⇀= {x​ = √I​ √I​ √I​ sich das Trägheitsmoment zu I​ = I​ ⋅ x​ 2 I​x​x​ + I​ ⋅ y​ 2 I​y​y​ + I​ ⋅ z​ 2 I​z​z​ + 2 I​ ⋅ x​y​I​x​y​ + 2 I​ ⋅ x​z​I​x​z​ + 2 I​ ⋅ y​z​I​y​z​ oder 2

2

2

x​ I​x​x​ + y​ I​y​y​ + z​ I​z​z​ + 2 x​y​I​x​y​ + 2 x​z​I​x​z​ + 2 y​z​Iy​ ​z​ = 1 .

(I-3.45)

Dies ist die Gleichung eines allgemeinen Ellipsoids (nicht in Hauptlage). Diese Flä1 die Werte der che 2. Ordnung gibt über die Länge seines Ortsvektors R​ = √I​ Trägheitsmomente für unterschiedliche Raumrichtungen der Rotationsachse an. Transformieren wir jetzt auf das Hauptachsensystem (a, b, c), so verschwinden die Deviationsmomente Ixy etc. und es gilt I​a​ a​ 2 + I​b​ b​ 2 + I​c​ c​ 2 = 1 .

(I-3.46)

Dies ist ein Ellipsoid in Hauptlage mit den Halbachsen A​ * =

1

√I​a​

,

B​ * =

1

√I​b​

,

C​ * =

1

√I​c​

.

(I-3.47)

3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie



L 1 _____ IA

P

 ω __

145

A

ω

Abb. I-3.8: Trägheitsellipsoid: Für den Abstand vom Zentrum zum Durchstoßpunkt P in Richtung 1 der Drehachse A gilt ; er liefert also das Trägheitsmoment IA für diese Drehachse A. √I​A​ Der Vektor des Drehimpulses L​⇀steht senkrecht auf die Tangentialebene an das Trägheitsellipsoid im Punkt P.

Im körperfesten Koordinatensystem Σ′ = {a,b,c} lässt sich jedem Punkt eines starren Körpers ein Trägheitsellipsoid zuordnen. Üblicherweise erfolgt die Beschreibung der Lage des Körpers im raumfesten System durch Angabe des mit dem Körper fest verbundenen Trägheitsellipsoids um den Schwerpunkt in Hauptlage. Wenn die Hauptträgheitsmomente bekannt sind, kann man das Trägheitsmoment IA zu jeder beliebigen, durch den Punkt gehenden Achse A so finden (Abb. I-3.8): Der Abstand 1 vom Zentrum des Ellipsoids zum Durchstoßpunkt der Drehachse A ist . √I​A​ Im Allgemeinen ist das Trägheitsellipsoid nicht rotationssymmetrisch, dies gilt nur dann, wenn zwei Hauptträgheitsmomente gleich groß sind. Wir betrachten nochmals die Rotationsenergie, jetzt im Hauptachsensystem (vgl. Gl. I-3.43): E​rot​ =

1 2 2 2 (I​a​ ω​ a​ + I​b​ ω​ b​ + I​c​ ω​ c​ ) . 2

(I-3.48)

Für Erot = const. (kräftefreier Körper) ist das ein Ellipsoid auf dem die Spitzen der Vektoren ω​⇀liegen. Man nennt es das Energieellipsoid: I​b​ I​c​ I​a​ 2 2 2 ω​ a​ + ω​ b​ + ω​ c​ = 1 2 E​rot​ 2 E​rot​ 2 E​rot​

(I-3.49)

mit den Halbachsen



2 E​rot​ , I​a​



2 E​rot​ , I​b​



2 E​rot​ . I​c​

ωa , ωb , ωc sind die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit ω​⇀ in Richtung der körperfesten Hauptachsen. Sie ändern sich bei der Bewegung des Körpers.

146

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

z



Figurenachse c

S





L

ω



ωL

y

invariante Ebene (projizierend)

x Energietensor fläche

Abb. I-3.9: Poinsotsche Bewegungsdarstellung mit dem Energieellipsoid.

Das Energieellipsoid ist eine Fläche konstanter Rotationsenergie für verschiedene Drehachsen ω​⇀durch einen Punkt des starren Körpers. Da Erot für eine feste Drehachse nur vom zugehörigen Trägheitsmoment abhängt, sind das Trägheitsellipsoid und das Energieellipsoid zueinander ‚ähnlich‘. Ein Vergleich mit den Achsen des Trägheitsellipsoids zeigt, dass der Proportionalitätsfaktor √2 E​rot​ beträgt. Wir haben bereits gesehen, dass der Vektor der Winkelgeschwindigkeit (= Drehachse) nicht mit dem Vektor des Drehimpulses übereinstimmen muss. Grund dafür ist ja, dass zwischen beiden der Trägheitstensor vermittelt. Das Energieellipsoid (oder das Trägheitsellipsoid) ermöglicht jetzt eine graphische Ermittlung der Richtung des Drehimpulses und seiner Größe (‚Poinsot-Konstruktion‘, ‚Poinsotsche Bewegungsdarstellung‘ (nach Louis Poinsot, 1777–1859), Abb. I-3.9). Man ermittelt den Durchstoßpunkt der Drehachse durch das Energieellipsoid und konstruiert in diesem Punkt die Tangentialebene (‚invariante Ebene‘, sie ist bei der Körperbewegung raumfest). Der Drehimpuls steht dann normal auf diese Tangential2 E​rot​ ebene an das Energieellipsoid, sein Betrag ist |L​⇀| = . Falls das Ellipsoid rotaω​L​ tionssymmetrisch ist, liegen die Figurenachse c​⇀, L​⇀und ω​⇀stets in einer Ebene, einer Meridianebene des Ellipsoids. Sie wird Nutationsebene genannt und dreht sich bei der Bewegung des Körpers um die bei einem kräftefreien Körper raumfeste Drehimpulsachse L​⇀, die sie ja enthält. 3.3.7 Freie Achsen Wenn Drehimpuls und Drehachse zusammenfallen, also wenn gilt L​⇀// ω​⇀, dann dreht sich der freie starre Körper wegen der Erhaltung des Drehimpulses um eine raumfeste Drehachse mit konstanter Winkelgeschwindigkeit, das heißt, die Bewegung erfolgt auch ohne festgehaltene Achse so, als würde die Achse festgehalten werden. Solche Achsen nennt man freie Achsen.

3.3 Dynamik, Trägheitsmoment, Rotationsenergie

147

Unter welchen Umständen gilt für eine nicht festgehaltene Achse L​⇀// ω​⇀? Aus der Poinsotschen Darstellung (Abb. I-3.9) folgt sofort: 1. Der Körper rotiert um eine Hauptträgheitsachse: Die Hauptachsen sind freie Achsen, eine Rotation ist ohne feste Achslager möglich. Im Speziellen ist für einen sphärischen Körper (= Kugel), für den gilt Ia = Ib = Ic , jede Schwerpunktsachse eine freie Achse. Körper mit kubischer Symmetrie (z. B. Würfel, Kugel, Oktaeder etc.) sind „dynamisch kugelsymmetrisch“. 2. Der Körper ist rotationssymmetrisch. In diesem Fall ist neben der Symmetrieachse auch jede Schwerpunktsachse normal zur Symmetrieachse eine freie Achse. Eine stabile Rotation erfolgt aber nur um die Achse mit dem kleinsten und dem größten Trägheitsmoment 7. Quader, Imax

Quader, Imin > I > Imax

Quader, Imin

4

Stange

Kette

Doppelkugel

4

Die Stange rotiert um die Achse mit Imax

Die Kette rotiert um die Achse mit Imax

Zwei Kugeln unterschiedlicher Masse rotieren um eine Achse durch den gemeinsamen Schwerpunkt.

Diese drei Körper sind nicht kräftefrei, da der Schwerpunkt nicht unterstützt ist. Es wirkt daher ein Drehmoment um den Aufhängepunkt, das durch die Gewichtskraft hervorgerufen wird. Die Körper führen daher neben der Rotation um die Hauptträgheitsachse noch eine kleine Präzessionsbewegung aus (die Hauptträgheitsachse bewegt sich auf einem schlanken Kegelmantel).

7 Es zeigt sich, dass bei Vorliegen von Energiedissipation eines freien Körpers, z. B. bei der Energieabstrahlung eines rotationsstabilisierten Satelliten, auch die Achse mit dem kleinsten Trägheitsmoment instabil wird.

148

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

3.4 Kreiselbewegung (motion of a top) Unter einem Kreisel versteht man einen rasch rotierenden starren Körper mit einem festen Punkt, bei dem keine Achse festgehalten wird. Wir unterscheiden zwischen – asymmetrischem Kreisel: alle Hauptträgheitsmomente sind verschieden (Ia ≠ Ib ≠ Ic ≠ Ia) und – symmetrischem Kreisel: 2 Hauptträgheitsmomente sind gleich, das Trägheitsellipsoid ist daher ein Rotationsellipsoid. Es gibt 2 Möglichkeiten: Ia < Ib = Ic (prolat, langgestreckt) oder Ia = Ib < Ic (oblat, gestaucht).

Kreisel

Hauptträgheitsmomente

Trägheitsellipsoid

Kugel, Würfel, Tetraeder

Ia = Ib = Ic

Kugel

prolat: Wellen, axialsymmetrisch, spindelförmig lang gestreckt

Ia < Ib = Ic

lang gestrecktes Rotationsellipsoid

oblat: Scheiben, axialsymmetrisch, tellerförmig gestaucht

Ia = Ib < Ic

gestauchtes Rotationsellipsoid

asymmetrisch

Ia ≠ Ib ≠ Ic ≠ Ia

allgemeines Ellipsoid

3.4.1 Der kräftefreie, symmetrische Kreisel Bei einem symmetrischen Kreisel sind also 2 Hauptträgheitsmomente gleich (z. B. Ia = Ib). In die Richtung der Figurenachse zeigt ein Vektor c​⇀. Wird der Kreisel im Schwerpunkt S unterstützt, so gilt ∑F​⇀ext = 0. Wird kein i​ i​

äußeres Drehmoment ausgeübt, ist also

∑D​⇀i​ = 0, so ist der Drehimpuls i​

konstant, also L​⇀= const., d. h. der Kreisel rotiert im kräftefreien Fall so, dass die Figurenachse c​⇀um die raumfeste Drehimpulsachse L​⇀ rotiert und die momentane Drehachse ω​⇀, die Figurenachse c​⇀und der Drehimpuls L​⇀stets in einer Ebene verbleiben (vgl. Abschnitt 3.3.4). Dreht sich der Kreisel insbesondere um seine Figurenachse, so gilt L​⇀// ω​⇀// c​⇀, das heißt, die drei Richtungen stimmen in jeder Lage überein (Abb. I-3.10). Im allgemeinen Fall sind jedoch alle drei Richtungen verschieden: 1. die raumfeste Drehimpulsachse L​⇀, 2. die momentane Drehachse ω​⇀, die nicht raumfest ist, 3. die Figurenachse c​⇀, die ja nur raumfest ist, wenn L​⇀in der Figurenachse liegt (ω​⇀// c​⇀).

3.4 Kreiselbewegung (motion of a top)

149

v

raumfester Drehimpuls L

invariante Ebene

v

Winkelgeschwindigkeit ω

v

Kreisel

Figurenachse c

Abb. I-3.10: Kräftefreier Kreisel, der sich um seine Figurenachse dreht.

In diesem allgemeinen Fall führen die Drehachse ω​⇀ und die Figurenachse c​⇀eine Bewegung um den raumfesten Drehimpuls aus, die Nutation genannt wird. ω​⇀und c​⇀beschreiben einen Kreiskegel um den raumfesten Drehimpuls L​⇀(Abb. I-3.11).



raumfester Drehimpuls L



Figurenachse c



Winkelgeschwindigkeit ω

invariante Ebene

Abb. I-3.11: Allgemeiner, kräftefreier Kreisel.

Dabei rollt das Ellipsoid bei der momentanen Drehung um ω​⇀ auf der invarianten Ebene so ab, dass der Berührungspunkt (= Spitze von ω​⇀) einen raumfesten Kreis (‚Herpolhodie‘) beschreibt. Auf dem bewegten Ellipsoid entsteht ein körperfester Kreis (‚Polhodie‘, nicht eingezeichnet). Beide Kreise rollen aufeinander ab, ihr Berührungspunkt ist die Spitze von ω​⇀. Da der Schwerpunkt S fest ist, muss bei dieser Bewegung die Länge des ω​⇀-Pfeiles (also der Betrag von ω​⇀) konstant sein: ω​⇀muss sich auf einem Kegel um L​⇀bewegen (Rastpolkegel). Dasselbe gilt für die Figurenachse c​⇀, da c​⇀, ω​⇀, L​⇀stets in einer Ebene liegen (siehe Energieellipsoid, Abb. I-3.9). Die Figurenachse c​⇀ist Achse eines weiteren Kegels, des Gangpolkegels, der bei der Bewegung des Kreisels am Rastpolkegel abrollt. In der Berührungslinie der beiden Kegel liegt ω​⇀(Abb. I-3.12).

150

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)



Rastpolkegel

L



c



ω

Nutationskegel Gangpolkegel

S Abb. I-3.12: Bewegung des oblaten Kreisels mit dem Drehimpuls L​⇀zwischen der Figurenachse c​⇀ und der augenblicklichen Drehachse ω​⇀. Beim prolaten Kreisel liegt ω​⇀zwischen c​⇀und L​⇀.

Bei einem kräftefreien, symmetrischen Kreisel, der sich zunächst um seine Figurenachse dreht, kann der allgemeine Bewegungsfall leicht dadurch erreicht werden, dass man der Achse des Kreisels einen kurzen Schlag versetzt, also kurzzeitig ein Drehmoment einwirken lässt. Dadurch wird die Drehimpulsachse gegenüber der ⇀⋅ Δt​ versetzt (D​ ⇀ = r​⇀⋅ K​⇀, wenn K​⇀ momentanen Rotationsachse plötzlich um ΔL​⇀= D​ die beim Schlag einwirkende Kraft ist und r​⇀der Abstand der rotierenden Scheibe

4

Vor dem Schlag: L​⇀// ω​⇀// c​⇀

Nach dem Schlag: Nutation der Figurenachse c​⇀(weiss) um den raumfesten Drehimpuls L​⇀(schwarz).

Vor dem Schlag: von oben gesehen

Nach dem Schlag: der Kreisel nutiert asymmetrisch zur ursprünglichen Achse

v

v

v

r S

L

D

v

K

v

ω

v

L

v

c

S

v v

v v v

ω ΔL = D ⋅dt = (r × K )dt

v

ΔL

v

c

3.4 Kreiselbewegung (motion of a top)

151

vom Auflagepunkt = Schwerpunkt), da diese auf Grund der Massenträgheit während des kurzen Schlages ihre Lage beibehält und es kommt zur Nutation. 8 Die momentane Drehachse kann z. B. durch eine auf die Achse gesetzte Scheibe sichtbar gemacht werden, die in drei Segmente unterschiedlicher Farbe geteilt ist. Beim Durchstoßpunkt der Drehachse durch die Scheibe, der keine momentane Drehbewegung ausführt, sich aber um den raumfesten Drehimpuls L​⇀ bewegt, erscheint eine eindeutige Farbe, außerhalb sieht man eine Mischfarbe. 3.4.2 Der ‚schwere Kreisel‘ ⇀ ⇀ = d​L​ = r​⇀× F​⇀, so bleibt der Drehimpuls Wirkt auf den Kreisel ein Drehmoment D​ d​t​ nicht raumfest, sondern ändert seine Richtung und Größe. a) Der symmetrische Kreisel dreht sich um seine Figurenachse c​⇀ Ausgangssituation: Die Richtungen von L​⇀, ω​⇀und c​⇀fallen zusammen, es tritt also keine Nutation auf. Wird der Kreisel nicht im Schwerpunkt unterstützt, so ist er ‚schwer‘, d. h. es wirkt ein dauerndes Drehmoment durch die Gewichtskraft: ⇀ ⇀ = d​L​ = r​⇀× F​⇀= r​⇀× m​g⇀.​ D​ d​t​

(I-3.50)

Dabei führt der Vektor r​⇀vom Unterstützungspunkt zum Angriffspunkt der Kraft (hier der Schwerpunkt). ⇀ norIn unserem Fall gilt L​⇀// ω​⇀// r​⇀, daher steht der Vektor des Drehmoments D​ ⇀ ⇀ mal auf L​ und m​g⇀​ , der Drehimpulsvektor L​ , der durch die anfängliche Rotation ω​⇀ ⇀ dauernd seine Richerzeugt wird, ändert also durch das wirkende Drehmoment D​ tung auf einem Kegelmantel und wenn sich der Kreisel rasch dreht, also L​⇀groß ist, bleibt die Figurenachse in der Nähe von L​⇀, er präzediert (Abb. I-3.13).9 Wir betrachten das Zeitintervall dt, in dem sich L​⇀um dφ dreht: dφ

v

v

dL

L

d​L​ = |d​L⇀​ | = L​ ⋅ d​φ​ ⇒

d​L​ d​φ​ = L​ d​t​ d​t​

(I-3.51)

8 Auch das „Einschalten“ eines Drehmoments durch Gewichtauflage auf die Figurenachse führt zu einer plötzlichen Verlagerung des ursprünglichen Drehimpulses und damit zu Nutationen. 9 Die stets zusätzlich vorhandenen Nutationen werden durch Reibungsmomente weggedämpft.

152

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)





L



dL (infolge der Schwerkraft, //D )



  

L (Rotation, groß)

D =r ×F



r





F = m⋅g

Abb. I-3.13: „Schwerer Kreisel“: symmetrischer Kreisel, der sich um seine Figurenachse c​⇀dreht. Er führt eine Präzessionsbewegung aus, er präzediert um den Unterstützungspunkt.

Für die Präzessionsfrequenz ωP ergibt sich

ω​ P​ = _

d​φ​ 1 d​L​ D​ = = = d​t​ L​ d​t​ L​

m​g​r​ L​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

=

m​g​r​ D​ = , I​_ ⋅ ω​ I​ ⋅ ω​

(I-3.52)

∠(r​⇀,F​⇀) = 90°

bzw. in Vektorschreibweise ⇀ = I​ (ω​⇀P​ × ω​⇀) . D​

(I-3.53)

Dabei ist I das Trägheitsmoment um die Figurenachse. 4

Symmetrischer, ‚schwerer‘ Kreisel, nicht aufgezogen

Rotierender Kreisel führt eine Präzessionsbewegung aus; da er sich um die Figurenachse dreht, liegt keine Nutation vor.

3.4 Kreiselbewegung (motion of a top)

153

Diese Präzessionsfrequenz der Figurenachse gilt nur, solange der durch die Kreiselbewegung erzeugte Drehimpuls groß ist gegen den durch das Drehmoment der Gewichtskraft erzeugten zusätzlichen Drehimpuls. Andernfalls kann die sich nur langsam drehende Figurenachse der raschen Drehung der Drehimpulsachse nicht folgen. Ist das Trägheitsmoment des gesamten Kreiselsystems (= Kreisel + Lagerung) bezüglich der vertikalen z-Achse I​sys, z​ und präzediert der Kreisel mit ω​P​ , dann beträgt der vertikale Drehimpuls L​sys, z​ = I​sys, z​ ⋅ ω​P​ . Durch das Drehmoment der Gewichtskraft, das stets in der Horizontalebene liegt, kann L​sys, z​ nicht erzeugt werden. Aus D​z​ = 0 folgt, dass sich der vertikale Drehimpuls L​z​ des Kreiselsystems nicht ändern kann. Die Figurenachse c​⇀des Kreisels, um die er mit der Winkelgeschwindigkeit ω rotiert, muss um den Winkel ε nach unten kippen, damit die dadurch entstehende Vertikalkomponente L​z​ des Kreiselimpulses L​⇀= I​ ⋅ ω​⇀ den „Präzessionsimpuls“ L​sys, z​ kompensieren kann (siehe Abb. I-3.14). Während der Präzessionsbewegung (nach Abklingen der Nutation durch Reibung) bewegt sich die Figurenachse auf einem Kegelmantel mit dem spitzen Winkel (180 − 2 ε).

z



ωP

L sys,z

ε ω



L



Lz



c , Figurenachse Abb. I-3.14: Zur Lage der Figurenachse bei der Präzessionsbewegung.

I​sys, z​ ⋅ ω​P​ Für ε folgt aus |L​⇀sys​, z​ | = |L​⇀z​ | : I​sys​, z​ ⋅ ω​P​ = I​ ⋅ ω​ ⋅ ⏟⏟⏟⏟⏟ sin ε​ und damit ε​ = ≪ 1. I​ ⋅ ω​ ≈ ε​ b) Allgemeiner Fall Wenn der Kreisel nicht um die Figurenachse rotiert, z. B. nach einem Schlag gegen die Achse oder nach plötzlichem Aufbringen eines Drehmoments, führt die Figurenachse zusätzlich eine Nutation um den präzedierenden Drehimpuls aus (Abb. I-3.15).

154

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

Abb. I-3.15: Nutation (strichliert) und gleichzeitige Präzession des Drehimpulses (volle Kurve).

Beispiel: Die Erde als Kreisel. Wir haben im Abschnitt 2.3.4 die Erde als rotierendes Bezugssystem betrachtet und dabei stillschweigend angenommen, dass die Drehachse der Erde (Polachse) raumfest ist. In Wirklichkeit stellt die Erde einen Kreisel dar, auf den Sonne, Mond und Planeten Kräfte ausüben. Wesentlich dabei ist, dass das ‚Geoid‘ der Erde (in guter Näherung ein Rotationsellipsoid) von der Gestalt einer Kugel abweicht: Der Durchmesser am Äquator ist um etwa 43 000 m größer, als über die Pole gemessen (‚Äquatorwulst‘). Erdachse

Präzessionskegel

Äquatorwulst Äquator Ebene der Ekliptik

S1

23,5° S2

Richtung Mond und Sonne

Drehzwilling

Die ganz überwiegend von Sonne und Mond (‚Lunisolarpräzession‘) auf den näheren (S2 ) und ferneren Schwerpunkt (S1 ) des Äquatorwulstes ausgeübten Kräfte 2 sind ungleich (F ~ 1/r ) und erzeugen daher ein Kräftepaar (Drehzwilling), das

3.4 Kreiselbewegung (motion of a top)

155

versucht, die Erdachse gegen die Achse der Ekliptik aufzurichten, also die ‚Schiefe der Ekliptik‘ zu verkleinern. Die Erdachse weicht dazu senkrecht aus und beschreibt einen Präzessionskegel. Ein voller Umlauf der Erdachse dauert 25 780 Jahre (= Platonisches Jahr). Im Moment zeigt die Erdachse in Richtung Polarstern, aber in etwa 12 000 Jahren wird sie in Richtung Vega zeigen. Die auf den Äquatorwulst wirkenden Kräfte sind selbst wieder sehr kleinen Schwankungen unterworfen, die zu einer Nutation führen. Hauptsächlich wird die Nutation der Erdachse durch den Mond verursacht, dessen Achse um ca. 5,1° gegen die Ekliptikebene geneigt ist und dessen Anziehungskraft auf den Äquatorwulst daher nicht immer genau in dieselbe Richtung wirkt. Dies führt zu einer elliptischen Bewegung der Erdachse (‚Nutationsellipse‘), die der Präzessionsbewegung überlagert ist. Die aus Präzession und Nutation zusammengesetzte Gesamtbewegung der Erdachse verläuft also wellenartigen wie auf der vorhergehenden Skizze (Abb. I-3.15) gezeigt.

3.4.3 Die Eulerschen Kreiselgleichungen Wir können die 3-dimensionale Rotation eines starren Körpers unter der Wirkung externer Kräfte im ‚raumfesten‘ Koordinatensystem mit der Bewegungsgleichung (I-3.22) beschreiben: ⇀ ⇀ = d​L​ = L​⇀̇ , D​ d​t​

wobei

L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀.

(I-3.54)

Für die x-Komponente gilt z. B.: D​x​ = L​̇ x​ =

d​ (I​x​x​ ω​x​ + I​x​y​ ω​y​ + I​x​z​ ω​z​ ) . d​t​

(I-3.55)

Im Allgemeinen sind ωx , ωy, ωz und Ixx , Ixy, Ixz , … zeitabhängig, d. h. die Bewegungsgleichung für die Rotation ist eine komplizierte Differentialgleichung zur Bestimmung der ωx , ωy, ωz . Die Beschreibung wird wesentlich einfacher, wenn wir die Rotation im ‚körperfesten‘ Bezugssystem betrachten, das starr mit dem Körper verbunden ist und gegen das raumfeste Koordinatensystem rotiert. Lassen wir die Koordinatenachsen des körperfesten Bezugssystems mit den Hauptachsen des Körpers zusammenfallen, so gilt L​⇀= {I​a​ ω​a​ , I​b​ ω​b​ , I​c​ ω​c}​ .

(I-3.56)

Wir haben früher gesehen (Ableitung der Coriolis- und Zentripetalbeschleunigung, siehe Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“, Abschnitt 2.3.3), dass in einem rotierenden Koordinatensystem für jeden Vektor gilt:

156

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

(

d​u⇀​ d​u⇀​ ) = ( ) + ω​⇀× u​⇀. 10 d​t​ fix d​t​ rot

(I-3.57)

Das können wir auch hier für die Ableitung von L​⇀verwenden und erhalten so die Bewegungsgleichung ⇀ ⇀ ⇀fix​ = (d​L​ ) = ( d​L​ ) + ω​⇀× L​⇀. D​ d​t​ fix d​t​ rotierend

(I-3.58)

e​⇀a​ e​⇀b​ e​⇀c​ ω​b​ ω​c​ | , also z. B. für Da L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀, gilt für ω​⇀× L​⇀= ω​⇀× (I​ ̃ ⋅ ω​⇀) = | ω​a​ I​a​ ω​a​ I​b​ ω​b​ I​c​ ω​c​ die a-Komponente: (ω​⇀× L​⇀)a​ = ω​b​ L​c​ − ω​c​ L​b​ = ω​b​ ⋅ I​c​ ω​c​ − ω​c​ ⋅ I​b​ ω​b​ = ω​b​ ω​c​ (I​c​ − I​b​ ) . Ia , Ib , Ic sind die Hauptträgheitsmomente und ωa , ωb , ωc die Komponenten von ω​⇀in Hauptachsenrichtung im körperfesten Bezugssystem. Damit erhalten wir die Eulerschen Kreiselgleichungen (nach Leonhard Euler, 1707–1783): D​a​

I​a​ ω​̇ a​

ω​b​ ω​c​ (I​c​ − I​b​ )

(D​b​ ) = (I​b​ ω​̇ b​ ) + (ω​c​ ω​a​ (I​a​ − I​c​ ) ) . D​c​

I​c​ ω​̇ c​

(I-3.59)

ω​a​ ω​b​ (I​b​ − I​a​ )

Das Drehmoment ist meist in raumfesten Koordinaten gegeben, hier aber natürlich nach körperfesten Koordinaten zerlegt, die beiden Seiten einer Gleichung müssen sich ja auf dasselbe Koordinatensystem beziehen 11. Die Eulerschen Kreiselgleichungen sind nichtlineare, gekoppelte Differentialgleichungen für die körperfesten Winkelgeschwindigkeiten ωa , ωb , ωc . Die früher kennen gelernten Eulerschen Winkel Φ, θ und ψ (Abschnitt 3.2.2, Abb. I-3.5) vermitteln zwischen dem raumfesten und dem körperfesten Koordinatensystem. Wenn die Funktionen Φ(t), θ(t) und ψ(t) bekannt sind, ist die Lage des Körpers im raumfesten System zu jedem Zeitpunkt festgelegt. Zwischen der 10 Im Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“, Abschnitt 2.3.3 ‚Rotierende Bezugssysteme‘, wurde ein Vektor u mit Koordinaten in Bezug auf das rotierende System Σ′ als u′ bezeichnet. Da hier nur im mit dem Körper rotierenden System gearbeitet wird, wird im folgenden auf die ‚Striche‘ verzichtet. 11 Diese körperfesten Koordinaten sind wegen der Drehung des körperfesten Hauptachsensystems Funktionen der Zeit, also D​a​ = D​a​ (t​) usf. Dies macht die Lösung der Gleichungen, die außerdem in den Variablen nichtlinear sind, nicht gerade einfach! Eine allgemeine Lösung ist derzeit nicht bekannt.

3.4 Kreiselbewegung (motion of a top)

157

Winkelgeschwindigkeit ω​⇀ und den Eulerschen Winkeln besteht folgender Zusammenhang: ω​a​ = φ​̇ sin θ​ sin ψ​ + θ​̇ cos ψ​ ω​⇀= (ω​b​ = φ​̇ sin θ​ cos ψ​ − θ​̇ sin ψ​) . ω​c​ = φ​̇ cos θ​ + ψ​̇

(I-3.60)

Wenn also die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit in Richtung der Hauptachsen ωa (t), ωb (t), ωc (t) durch Lösen der Eulerschen Gleichungen einmal bekannt sind, kann die zeitliche Entwicklung der Eulerschen Winkel und damit die zeitliche Entwicklung der Lage des starren Körpers im raumfesten System durch Integration des obigen Gleichungstripels zumindest grundsätzlich bestimmt werden. Beispiel 1: Ein starrer Körper rotiere um eine im Raum und im Körper feste Achse mit konstanter Winkelgeschwindigkeit, also ω​̇ a​ = ω​̇ b​ = ω​̇ c​ = 0. Die Komponenten des Drehmoments in Richtung der körperfesten Hauptachsen, die vom Lager aufgenommen werden müssen, sind dann: D​a​ = ω​b​ ω​c​ (I​c​ − I​b​ )

(D​b​ = ω​c​ ω​a​ (I​a​ − I​c​ ) ) . D​c​ = ω​a​ ω​b​ (I​b​ − I​a​ ) Fällt die Drehachse in die a-Hauptachse, so gilt: ωb = ωc = 0, ωa = ω. Damit verschwinden die Komponenten des Drehmoments, also Da = Db = Dc = 0, die Hauptachse ist also eine freie Achse, das Lager wird nicht belastet – es braucht also gar nicht vorhanden zu sein! Deshalb auch der Name ‚freie Achse‘. Beispiel 2: Ein Körper rotiere wieder mit fester Achse, die aber keine Hauptträgheitsachse sein soll. ω​⇀besitze im Hauptachsensystem die Richtung e​⇀n​ = { cos α​, cos β​, cos γ​} ; dann gilt ω​a​ = ω​ cos α​, ω​b​ = ω​ cos β​, ω​c​ = ω​ cos γ​ . Wir setzen in die Eulergleichungen ein, das ergibt mit ω​⇀= const.:

D​a​ ⇀ = {D​b​} = D​ D​c​

ω​ 2 cos β​ cos γ​ (I​c​ − I​a​ ) 2 ω​ cos α​ cos γ​ (I​b​ − I​c​ ) 2 ω​ cos α​ cos β​ (I​b​ − I​a​ )

{

}.

⇀ auf die ω​⇀-Achse verschwindet offensichtlich, denn es Die Projektion von D​ ⇀ gilt D​⇀⋅ e​⇀n​ = D​a​ cos α​ + D​b​ cos β​ + D​c​ cos γ​ = 0 , das heißt, das Drehmoment D​ steht senkrecht auf der Drehachse ω​⇀ und rotiert als körperfester Vektor mit ω. Vergleiche mit Abschnitt 3.3.4, wo dasselbe Problem ohne Verwendung der ⇀ hier durch die Hauptachsen behandelt wurde: Während das Drehmoment D​

158

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

Hauptträgheitsmomente Ia , Ib , Ic dargestellt ist, war dort die Ermittlung des Trägheitsmoments Ixx = Iω sowie der Deviationsmomente Ixz und Iyz erforderlich.12

Zusammenfassung 1. Die Bewegung des starren Körpers setzt sich aus einer Translation des Schwerpunkts (3 Freiheitsgrade) und einer Rotation um den Schwerpunkt (3 Freiheitsgrade) zusammen. Für die Bewegung eines Massenelements i gilt: S​ υ​⇀i​ = υ​⇀s​ + ω​⇀× r​⇀i​ .

2. Für beide Bewegungsarten gilt je eine Newtonsche Bewegungsgleichung: %

d​p⇀​S​ d​υ​ S​ d​υi​ ​ F​⇀= = ∑m​i​ = M​ d​t​ d​ t ​ d​t​ i​

/

Translation,

wenn ∑F​⇀i​ = 0 ⇒ Gleichgewicht (keine beschleunigte Translation). i​

⇀ ⇀ = d​L​ = ∑ (r​⇀S​i​ × F​⇀i​ ) D​ d​t​ i​ wenn

/

Rotation,

∑D​⇀i​ = 0 ⇒ Gleichgewicht (keine beschleunigte Rotation). i​

3. Das Drehmoment ist i. Allg. vom Bezugspunkt r​⇀B​ abhängig: R​ D​⇀B​ =

∑r​⇀i​ × F​⇀i​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ i​ S​u​m​m​e​ a​l​l​e​r​ D​r​e​h​m​o​m​e​n​t​e​ b​e​z​ü​g​l​i​c​h​ O​





r​⇀B​ × F​R​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

.

D​r​e​h​m​o​m​e​n​t​ d​e​r​ i​n​ B​ a​n​g​r​e​i​f​e​n​d​e​n​ G​e​s​a​m​t​k​r​a​f​t​ F​⇀R​ b​e​z​ü​g​l​i​c​h​ O​

Verschwindet aber die resultierende Gesamtkraft F​⇀R​ , so ist ein eventuell noch vorhandenes Drehmoment unabhängig vom Bezugspunkt (‚freier Vektor‘). Dies gilt insbesondere für den Drehzwilling (Kräftepaar): ⇀ = (r​⇀1 − r​⇀2 ) × F​⇀. D​

12 Anmerkung: Beide Beispiele zählen zu den mechanischen Problemen 1. Art, bei denen die Geschwindigkeiten υ​⇀bzw. ω​⇀ vorgegeben sind und die erforderlichen Kräfte bzw. Drehmomente gesucht werden. Sie sind i. Allg. leichter zu lösen als die Probleme 2. Art, bei denen umgekehrt die Kräfte bzw. Momente gegeben sind und die Geschwindigkeiten υ​⇀bzw. ω​⇀gesucht werden.

Zusammenfassung

159

4. Wesentlich für die Rotation des starren Körpers ist seine Massenverteilung. An die Stelle der skalaren Masse bei der Translation tritt im Falle der Rotation der symmetrische Trägheitstensor:

L​⇀= I​ ̃ ⋅ ω​⇀

y​ 2 + z​ 2 I​ ̃ = ∫d​V​ ρ​ (x​,y​,z​) (− y​x​ V​ − z​x​

mit

− x​y​ 2 2 x​ + z​ − z​y​

− x​z​ − y​z​ ) . 2 2 x​ + y​

5. Für die Rotation um eine feste Schwerpunktsachse A gilt:

E​rot =

1 2 I​A​ ω​ 2

mit

2

I​A​ = ∫r​ n​ d​m​ V​

Geht die Achse A′ nicht durch den Schwerpunkt, sondern befindet sie sich im Abstand l​ von S, so gilt der Steinersche Satz:

I​A​′ =

I​A​ ⏟ T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ u​m​ d​i​e​ p​a​r​a​l​l​e​l​e​ S​c​h​w​e​r​p​u​n​k​t​s​a​c​h​s​e​

2

+

l​ M​ ⏟⏟⏟⏟⏟

.

T​r​ä​g​h​e​i​t​s​m​o​m​e​n​t​ d​e​r​ G​e​s​a​m​t​m​a​s​s​e​ i​n​ S​ u​m​ A​′

6. Auch für die Rotationsenergie ist der Trägheitstensor maßgebend:

E​rot =

I​x​x​ I​x​y​ I​x​z​ ω​x​ 1 ⇀ 1 1 ω​⇀L​ = ω​⇀⋅ I​ ̃ ⋅ ω​⇀= (ω​x​ , ω​y​ , ω​z​ ) (I​y​x​ I​y​y​ I​y​z​ )(ω​y​ ) = 2 2 2 I​ I​ I​ ω​ z​x​ z​y​ z​z​

=

z​

1 2 2 2 (I​x​x​ ω​ x​ + I​y​y​ ω​ y​ + I​z​z​ ω​ z​ + 2 I​x​y​ ω​x​ ω​y​ + 2 I​x​z​ ω​x​ ω​z​ + 2 I​y​z​ ω​y​ ω​z​ ). 2

7. Es kann immer ein ‚Hauptachsensystem‘ a,b,c gefunden werden, in dem gilt: I​a​ 0 0 I​ ̃ = I​0̃ = (0 I​b​ 0 ) 0 0 I​c​

und

E​rot =

1 2 2 2 (I​a​ ω​ a​ + I​b​ ω​ b​ + I​c​ ω​ c​ ) . 2

Ia , Ib , Ic sind die Hauptträgheitsmomente, ω​a,​ ω​b,​ ω​c​ die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit in Richtung der Hauptachsen. 8. Der Wert des Trägheitsmoments sowie Richtung und Größe des Drehimpulses können mit Hilfe des Trägheitsellipsoids bzw. des Energieellipsoids bestimmt werden, wenn die Hauptträgheitsmomente bekannt sind.

160

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

9. Nutation des kräftefreien Kreisels: Momentane Drehachse ω​⇀und Figurenachse c​⇀des Kreisels bewegen sich auf Kegelmänteln um den raumfesten Drehimpuls L​⇀. Ein Kegel mit L​⇀als Achse ist raumfest (Rastpolkegel), während der zweite Kegel mit c​⇀als Achse sich auf dem Rastpolkegel abwälzt (Gangpolkegel), wobei die Berührungslinie der beiden Kegel die momentane Drehachse ω​⇀bildet. 10. Präzession eines Kreisels: Ein äußeres Drehmoment D​⇀ bewirkt eine dauernde Richtungsänderung des Drehimpulses L​⇀. Dreht sich der Kreisel nicht um seine Figurenachse c​⇀, kommt es zusätzlich noch zur Nutation. 11. Die allgemeine Rotation des starren Körpers wird einfacher in körperfesten (mitrotierenden) Koordinaten angegeben als in raumfesten. Nimmt man als körperfeste Achsen die Hauptachsen, so ergeben sich als Bewegungsgleichungen der Rotation die ‚Eulerschen Kreiselgleichungen‘ I​a​ ω​̇ a​ ω​b​ ω​c​ (I​c​ − I​b​ ) D​a​ (D​b​ ) = (I​b​ ω​̇ b​ ) + (ω​c​ ω​a​ (I​a​ − I​c​ ) ) I​c​ ω​̇ c​ ω​a​ ω​b​ (I​b​ − I​a​ ) D​c​ zur Bestimmung von ω​⇀. Mit Hilfe der Eulerschen Winkel kann so die Bewegung des starren Körpers zu jedem Zeitpunkt auch im raumfesten Koordinatensystem angegeben werden.

5

Übungen: 1. Eine waagrechte, kreisrunde Plattform rotiert reibungsfrei gelagert um eine senkrechte, durch ihren Mittelpunkt gehende Achse. Die Masse der Plattform beträgt 300 kg, ihr Radius ist 2,0 m, ihr Trägheitsmoment bezüglich 2 der angegebenen Achse beträgt 300 kg m . Eine Person mit 60 kg Masse rotiert mit der Plattform mit und bewegt sich langsam vom Rand der Plattform in Richtung ihres Mittelpunkts. Vor dieser Bewegung drehte sich die Plattform mit einer Winkelgeschwindigkeit von 1,5 rad/s. Wie groß ist die Winkelgeschwindigkeit, wenn sich die Person nur noch 0,5 m von der Mitte entfernt befindet? 2. Ein symmetrischer Kreisel mit der Masse 100 g dreht sich um seine Symmet−1 rieachse mit einer Frequenz ν = 10 s um seine Achse. Bei Auslenkung aus der Vertikalen um einen Winkel β​ = 30° führt er unter dem Einfluss seines Gewichtes eine Präzessionsbewegung aus. Die Präzessionsfrequenz beträgt −1 νp = 0,9 s , der Abstand des Fußpunktes vom Kreiselschwerpunkt ist 6 cm. Wie groß ist das Trägheitsmoment des Kreisels? 3. Berechne die Trägheitsmomente folgender Körper: a) Eine homogene Kreisscheibe der Masse M, bezüglich der Symmetrieachse und bezüglich einer dazu parallelen Achse, die durch den Halbierungspunkt des Radius geht.

161

Zusammenfassung

b) Ein aus einem dünnen, homogenen Blech geschnittenes gleichseitiges Dreieck bezüglich einer mit einer Dreiecksseite zusammenfallenden Achse. x​ y​ z​ c) Ein Ellipsoid + + = 1 , das homogen mit Masse erfüllt ist und 2 2 a​ b​ 2 a​ die Gesamtmasse M hat, bezüglich der z-Achse. 4. Ein Gyrobus 13 bezieht seine Energie aus einem Schwungrad (Masse m, Trägheitsmoment I), das an den Endstationen aufgeladen, d. h. in schnelle Rota-

13 Ein Gyrobus ist ein elektrisch angetriebener Autobus, der seine Energie aber nicht aus einer Oberleitung bezieht, sondern aus der Rotationsenergie eines mitgeführten Schwungrades. An den Endstationen kann das Schwungrad mit Stromabnehmern wieder elektrisch beschleunigt werden.

5

7

3

8

11

10 1

2

6

4 9

12 13

Gyrobus der Schweizer Maschinenfabrik Örlikon für die Verkehrsbetriebe Zürich um 1950 (rechts unten). Die Masse des Schwungrades mit 1,6 m Durchmesser (links) betrug 1,5 t, die maximale Drehzahl war 3000 U/min; das bedeutet eine Umfangsgeschwindigkeit von ca. 900 km/h. Die Achse des Schwungrades war mit einem 3-Phasen Asynchronmotor verbunden, der das Schwungrad in den Ladestationen in 2–5 min wieder auf die maximale Drehzahl beschleunigte, im Fahrbetrieb aber als Generator für den 52 kW Antriebsmotor wirkte. Im Normalbetrieb konnte die Drehzahl des Schwungrades von 3000 U/min bis auf 2100 U/min abnehmen; damit wurde eine Reichweite von ca. 6 km erzielt. Stand das Schwungrad einmal still, dauerte es ca. 40 min bis die erforderliche Drehzahl wieder erreicht war; das Schwungrad wurde daher auch über Nacht in Rotation gehalten. Die maximale Geschwindigkeit des Gyrobusses lag bei etwa 55 km/h.

162

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

tion versetzt wird. Wie lange kann der Bus mit einer mittleren Leistung fahren, bis das Schwungrad nur noch mit der halben ursprünglichen Winkelgeschwindigkeit rotiert? Berechne das Ergebnis für folgende speziellen Werte: Tourenzahl −1 2 des Kreisels beim Start n = 3000 min , I = 250 kg m , L = 20 kW. Warum empfiehlt es sich, zwei gegenläufig rotierende Kreisel zu verwenden?

Anhang 1 Weiteres vom Kreisel A1.1 Gleichsinniger Parallelismus ⇀ zu einer BeweWird ein Kreisel durch ein von außen einwirkendes Drehmoment D​ gung seiner Achse gezwungen und ist dieses Drehmoment nach Größe und Rich⇀ tung konstant, dann wird die Drehimpulsachse schließlich in die Richtung von D​ ⇀ gedreht, wobei der Drehimpuls L​ wächst (Abb. I-3.16).

v v

ΔL = D ⋅dt

v

L Kreisel

Abb. I-3.16: Zum gleichsinnigen Parallelismus. Ein von außen auf die Kreiselachse einwirkendes ⇀ dreht die Drehimpulsachse In Richtung von D​ ⇀. Drehmoment D​

Diese Erscheinung heißt Tendenz zum gleichsinnigen Parallelismus. Ist der Drehimpuls des Kreisels Null (nicht aufgezogener Kreisel), dann bewirkt ein aufge⇀ (Achsendrehung) eine Drehbeschleunigung um die Richbrachtes Drehmoment D​ tung des Drehmoments, der Kreisel „folgt“ dem Moment, während der aufgezogene Kreisel dem Moment „ausweicht“. 14 Versucht man z. B. beim aufgezogenen schweren Kreisel (siehe 3.4.2, Abb. I-3.13) die Präzessionsfrequenz ω​P​ dadurch zu erhöhen oder zu erniedrigen, dass ein beschleunigendes oder verzögerndes Drehmoment ⇀A​ in Richtung der Achse A mit der Hand ausgeübt wird (Drehung der Achse), D​ ⇀A​ ⋅ d​t​ ist entweder dann stellt sich der Kreisel auf bzw. kippt nach unten: ΔL​⇀= D​ nach oben oder nach unten gerichtet und addiert sich zum vorhandenen Dreh-

⇀⋅ d​t​ . 14 In beiden Fällen ist aber natürlich der Drehimpulszuwachs im Zeitelement dt: ΔL​⇀= D​

Anhang 1 Weiteres vom Kreisel

163

impuls L​⇀, der selbst um A präzediert). Es gelingt auf diese Weise nicht, die Präzes⇀A​ senkrecht aus. sionsfrequenz ω​P​ zu verändern, der Kreisel weicht dem Moment D​



A1.2 Der Kreisel im mit der Präzessionsfrequenz Ω rotierenden Bezugssystem ⇀ = ω​⇀P​ rotierenden Bezugssystem steht der In einem mit der Präzessionsfrequenz Ω präzedierende Kreisel mit Winkelgeschwindigkeit ω​⇀still. (Das ist analog zu einem Massenpunkt im Schwerefeld in einem mit der Erdbeschleunigung g​⇀beschleunigten Bezugssystem, dem „fallender Kasten“, siehe Kapitel „Mechanik des Massenpunktes, Abschnitt 2.3.2). Die Summe der auf den Kreisel wirkenden Drehmomente ⇀, das im Inertialsystem muss also Null sein, oder: Das physikalische Drehmoment D​ die Präzession ω​P​ verursacht, wird durch ein Trägheitsdrehmoment, das Coriolismoment ω​⇀T​ , kompensiert und es gilt (siehe 3.4.2, Gl. I-3.53) ⇀ = −I​ (ω​⇀P​ × ω​⇀) . ⇀T​ = −D​ D​

(I-3.61)

⇀ rotierendes Bezugssystem ist also ein beschleunigtes Bezugssystem, in Ein mit Ω dem Trägheitsdrehmomente auftreten; so wie der „fallende Kasten“ ein beschleunigtes Bezugssystem ist, in dem Trägheitskräfte F​⇀T​ = −m​ ⋅ g​⇀auftreten. Diese Träg⇀T​ , welche aufgrund ihrer Ursache als Coriolismomente beheitsdrehmomente D​ zeichnet werden, sind im drehenden (beschleunigten) Bezugssystem genauso wie etwa vorhandene physikalische Drehmomente (Kräfte) zu behandeln (siehe auch Kapitel „Mechanik des Massenpunkts“, Abschnitt 2.3.3).

⇀: Im Beispiel 1: Im drehenden Bezugssystem wirkt kein physikalisches Moment D​ Inertialsystem ist der Kreisel kräftefrei. Dann wirkt im rotierenden System nur ⇀T​ = −I​ (ω​⇀P​ × ω​⇀) , das den Kreisel im rotierenden Sysdas Trägheitsdrehmoment D​ ⇀ präzedieren lässt. tem mit der Winkelgeschwindigkeit −Ω

Beispiel 2: Kreisel im rotierenden Erdsystem – Kreiselkompass. 2 π​ 2 π​ = nimmt jetzt im Die Winkelgeschwindigkeit der Erdrotation ω​⇀E​ = Tag d ⇀T​ = −I​ (ω​⇀P​ × ω​⇀) . Wird der Kreisel mit ⇀T​ die Stelle von ω​P​ ein: D​ Coriolismoment D​ seinem Lagergehäuse fest mit der rotierenden Erde verbunden, so ist er gezwungen, die Erdrotation ω​⇀E​ voll mitzumachen, sodass er relativ zur Erde ruht. Dann ⇀Z​w​ erzeugen, welches das Coriolismüssen Lagerkräfte ein Zwangsmoment D​ ⇀ moment kompensiert: D​Z​w​ = I​ (ω​⇀E​ × ω​⇀). Ist der Kreisel andererseits so gelagert, dass er nur eine Komponente, die Horizontalkomponente ω​⇀E​H​ von ω​⇀E​ mitzumachen gezwungen ist (Kreiselkompass), dann wird auch nur diese Komponente

164

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

⇀′Z​w​ = I​ (ω​⇀E​ × ω​⇀) hervorrufen, das vertikal nach oben ω​⇀E​H​ ein Zwangsmoment D​ H​ zeigt (in Zenitrichtung).



ωE



ωEV



ωEH

 ω

φ A′

N

A

Horizont

φ

S

Dieses vertikale Zwangsmoment ist aber nur vorhanden, solange ω​⇀E​H​ und ω​⇀ nicht parallel sind, die Kreiselachse also nicht in der Meridianebene der Erde ⇀′Z​w​ den Kreiselrahmen samt Kreisel beschleunigt um die liegt. Dann wird aber D​ Achse AA′ in die Meridianebene zurückdrehen und darüber auf Grund der Trägheit hinaus schwingen, sodass die Einstellung in die Meridianebene in Form gedämpfter Schwingungen erfolgt. Die freie Komponente ω​⇀E​H​ von ω​⇀E​ bewirkt eine Präzession des Kreisels mit ω​⇀P​ = ω​⇀E​H​ , welche den Kreisel aus der Meridian⇀′Z​w​ ebene nach Ost hinausdreht, das dadurch entstehende Zwangsmoment D​ führt ihn aber wieder in die N-S-Richtung zurück. Am Nordpol ist der Kreisel-

Anhang 1 Weiteres vom Kreisel

165

kompass wegen des Verschwindens von ω​⇀E​H​ unwirksam. In dieser Region wird astronomisch bzw. heute mit GPS 15 navigiert. Bewegungsgleichung des Kreisels für kleine Winkelabweichungen α von der Meridianebene: ⇀′Z​w​ = I​ (ω​⇀E​ × ω​⇀) ⇒ D​′Z​w​ = |D​′Z​w​ | = I​ ⋅ ω​E​ ⋅ ω​ ⋅ sin α​ ≅ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ I​ω​E​ ω​ cos φ​ ⋅ α​ = I​A​A​′ α​̈ . D​ H​ H​ = D​

Dies ist die Schwingungsgleichung eines physikalischen Pendels mit dem Direktionsmoment (zum Richtmoment, siehe Kapitel „Deformierbare Körper“, Abschnitt 4.2.2, Beispiel ‚Torsion eines Stabes‘) D​ = I​ω​E​ ω​ cos φ​

mit

ω​E​ =

2 π​ 2 π​ −5 −1 = = 7,3 ⋅ 10 rad s . d 86 164 s

Die Idee zum Kreiselkompass stammt von L. Foucault (Jean Bernard Léon Foucault, 1819–1868) aus dem Jahre 1856. Wegen der Kleinheit des Direktionsmoments gelang die erste praktische Ausführung erst zu Beginn des 20. Jh.s Hermann Anschütz-Kaempfe (1872–1931) in einer von der beschriebenen Ausführung abweichenden Form, indem die Bindung an die Horizontalebene nicht durch einen um die Achse AA′ gelagerten Rahmen, sondern durch Pendelaufhängung gesichert wird, wobei der Kreisel an einem vertikalen Arm und dieser an einem Schwimmer montiert ist, der in einer Quecksilberwanne allseits beweglich getragen wird. Dadurch treten neben den Coriolismomenten auch noch physikalische Pendelmomente auf, die das Direktionsmoment vergrößern. Der Kreisel ist als Läufer eines Drehstrommotors mit 20 000 U/min ausgeführt und −3 2 besitzt ein Trägheitsmoment I = 14⋅10 kg m (⌀ = 0,15 m, m = 5 kg, L = 28⋅ 4 2 −3 10 kg m /s). Damit ergibt sich am Äquator ein Richtmoment von D = 2⋅10 Nm. Zum Vergleich: Ein Fadenpendel mit l = 1 m Länge und der Masse m = 1 g besitzt ein Richtmoment von −3

D​P​ = m​g​l​ = 10

kg ⋅ 9,81 m/s2 ⋅ 1 m = 9,81 ⋅ 10− 3 Nm .

15 Global positioning system: Genaue Positionsbestimmung aus der Laufzeit von Signalen elektromagnetischer Wellen zu geostationären Navigationssatelliten. Geostationärer Satellit: künstlicher Erdsatellit auf einer Bahn 35 786 km über dem Äquator („geostationäre Umlaufbahn“) mit genau einer Erdumrundung pro Tag. Die Position eines geostationären Satelliten ist daher in Bezug auf die Erdoberfläche konstant.

166

3 Mechanik des starren Körpers (rigid body)

A1.3 Das Zentrifugalmoment eines Körpers, der nicht um eine Hauptträgheitsachse rotiert Ein symmetrischer Körper mit den Hauptachsen a und c rotiert um eine in Lagern gehaltene Achse x ≠ a ≠ c (Abb. I-3.17).

c

F

μ

S

x



F

ωa l a

Abb. I-3.17: Zum Zentrifugalmoment eines Körpers, der nicht um eine Hauptträgheitsachse rotiert.

Es gilt: ω​a​ = ω​ ⋅ sin μ​ ,

ω​̇ a​ = 0

ω​b​ = 0 ,

ω​̇ b​ = 0

ω​c​ = ω​ ⋅ cos μ​ ,

ω​̇ c​ = 0

(I-3.62)

Aus den Euler-Gleichungen (Abschnitt 3.4.3, Gl (I-3.59)) folgt mit Ia = Ib < Ic D​a​ = 0 −D​b​ = (I​c​ − I​a​ )ω​ 2 sin μ​ cos μ​ = F​l​

(I-3.63)

D​c​ = 0 . Das auf den Kreisel wirkende Moment −D​b​ = F​l​ wird von den Lagerkräften ausgeübt. Es steht senkrecht auf der durch die Hauptachsen a und c aufgespannten Ebene und dreht sich mit der Winkelgeschwindigkeit ω​⇀ um die Achsrichtung x. −D​b​ wird Zentrifugalmoment genannt und bewirkt eine umlaufende Lagerbeanspruchung durch die Kräfte F.

4 Mechanik deformierbarer Körper Einleitung: Der „starre Körper“ ist ein Modell für Körper, deren Gestalt auch beim Wirken von Kräften unverändert bleibt. Reale Festkörper sowie Flüssigkeiten und Gase können dagegen unter dem Einfluss äußerer Kräfte ihre Gestalt und ihr Volumen verändern. Feste Körper erfahren bei Wirkung äußerer Kräfte elastische (reversible) und plastische (irreversible) Formänderungen. Je nach der Art der am Festkörper angreifenden Kräfte wird er gedehnt, gebogen, tordiert (verdrillt) oder abgeschert. Flüssigkeiten und Gase („Fluide“)setzen reinen Formänderungen, die nicht mit Volumenänderungen verbunden sind, keinen Widerstand entgegen; daher können Fluide durch Rohre strömen. Diese Strömung kann entweder wirbelfrei (Potenzialströmung) oder mit Wirbeln vor sich gehen, wobei sie, abhängig von den Reibungsverhältnissen in der Flüssigkeit und an der Rohrwandung, auch turbulent verlaufen kann.

4.1 Aggregatzustände und Bindungen Die Materie ist aus Atomen und Molekülen aufgebaut. Die Elektronen der Atomhülle und ihre Wechselwirkungen (WW) sind für die Eigenschaften der Materie, wie z. B. die chemischen, die elektrischen und optischen, verantwortlich. Man unterscheidet vier Aggregatzustände fest, flüssig, gasförmig und plasmaartig.1 Wir schauen uns die drei klassischen Aggregatzustände genauer an:

Gas ideal

real

WW zwischen den Atomen oder Molekülen

keine

schwach

Beweglichkeit der Teilchen

hoch bewegen sich unabhängig voneinander

bei mechanischer Krafteinwirkung

hohe Kompressibilität

Dichte (Normaldruck, 300 K)

~ 1 kg/m

T steigt: abnehmend, verflüssigbar

3

1 Plasma ist ein Zustand der Materie, in dem die Atome weitgehend oder vollständig von ihren Elektronen getrennt sind, also ein Teilchengemisch aus Ionen und Elektronen vorliegt.

168

4 Mechanik deformierbarer Körper Flüssigkeit 2

WW zwischen den Atomen oder Molekülen

ideal

real

reibungsfrei Schermodul G = 0

reibungsbehaftet

WW stärker als im Gas, schwächer als im FK, ungerichtete Bindung Beweglichkeit der Teilchen

Teilchen leicht verschiebbar bewegen sich unabhängig voneinander

T steigt: zunehmend

bei mechanischer Krafteinwirkung

Volumenbeständigkeit, geringe Kompressibilität

Dichte (Normaldruck, 300 K)

~ 10 kg/m

3

3

Festkörper (FK) ideal

real

WW zwischen den Atomen oder Molekülen

starke WW; kristallin (Atome in regelmäßigem Raumgitter), Kettenstruktur (Polymere) oder amorph (unterkühlte Flüssigkeit, z. B. Glas)

Beweglichkeit der Teilchen

Teilchen sind ortsfest, schwingen um ihre Ruhelage (thermische Bewegung)

bei mechanischer Krafteinwirkung

Formbeständigkeit, geringe Kompressibilität, Elastizität

Dichte (Normaldruck, 300 K)

~ 10 kg/m

3

geringe, stark von der Temperatur abhängige Beweglichkeit, im Kristall durch Gitterdefekte

3

4.1.1 Gasförmiger Zustand Die Atome oder Moleküle sind praktisch frei beweglich und nehmen jeden gebotenen Raum ein (Expansionsdruck), wodurch auch der mittlere Abstand zwischen den Teilchen bestimmt wird. Die Gasdichte ist gegeben durch ρ​ =

M​ V​

bzw. durch

ρ​ (r​⇀) =

d​m​ . d​V​

(I-4.1)

2 Wegen der starken Ähnlichkeit im Verhalten äußeren Kräften gegenüber, werden Gase und Flüssigkeiten in der Hydromechanik unter dem Namen Fluide zusammengefasst.

4.1 Aggregatzustände und Bindungen

169

Dabei gilt M = N⋅m, wobei N die Zahl der Moleküle mit Masse m ist. Unterhalb einer gewissen Temperatur ist die mittlere Ekin der Gasmoleküle zu gering, um den gasförmigen Zustand (Verdampfung) gegen die Anziehung der Moleküle (Bindungsenergie) aufrecht zu erhalten und es setzt Kondensation (Verflüssigung) ein (siehe dazu Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.3.3.1).

4.1.2 Flüssiger Zustand Die Verflüssigung (Phasenumwandlung vom gasförmigen in den flüssigen Zustand) ist mit einem sehr großen Anstieg der Dichte verbunden. Die Dichte von Flüssigkeiten ist nahezu so hoch wie jene von Festkörpern. Die Atome oder Moleküle einer Flüssigkeit weisen bereits eine gewisse topologische Nahordnung auf, d. h. wenn man nur wenige Atomdistanzen betrachtet, findet man eine gewisse Regelmäßigkeit ihrer Anordnung (Abb. I-4.1). Dies ist die Folge einer schwach gerichteten, anziehenden Wechselwirkung zwischen den Flüssigkeitsmolekülen (in Abb. I-4.1 durch Striche dargestellt).

Abb. I-4.1: Anordnung von Molekülen (links) und Bewegung von Molekülen in einer Flüssigkeit (rechts).

Wird die Temperatur kleiner als die Schmelztemperatur, dann ist die Ekin der Flüssigkeitsmoleküle so klein, dass die Bindungsenergie zwischen den Atomen oder Molekülen ausreicht, um sie gegen die Stöße der Nachbarteilchen auf festen Plätzen zu halten.

4.1.3 Fester Zustand Das atomare Potenzial zwischen zwei wechselwirkenden Atomen eines Festkörpers ist asymmetrisch und ergibt sich aus der Überlagerung von Abstoßungskräften und Anziehungskräften (Abb. I-4.2). Die Abstoßung wächst sehr stark mit der Annäherung der Atome, während die Anziehung mit ihrer Distanz schwächer abnimmt.

170

4 Mechanik deformierbarer Körper

V(r)

r

Abstoßung E2,T2 E1,T1 E0

Anziehung

statische Gleichgewichtslage

Abb. I-4.2: Schematische Darstellung des Potenzials zwischen zwei wechselwirkenden Atomen eines Festkörpers.

Dies führt zu einer Gleichgewichtslage für den Atomabstand, der von der Temperatur abhängt. Die Asymmetrie des Atompotenzials bedingt eine Anharmonizität der Atomschwingungen und ist für die Wärmeausdehnung der Festkörper verantwortlich, da sich der Schwingungsmittelpunkt bei größeren Amplituden (höherer Temperatur) zu größeren Atomabständen verschiebt. Bindungsarten Wir unterscheiden 5 Bindungsarten des festen Zustands 3 : Ionenbindung (Abb. I-4.3): starke elektrostatische WW durch e−-Verlagerung kovalente Bindung: stark gerichtete Bindung, zwei Atome teilen sich ein e−-Paar (Molekülbindung) metallische Bindung: die äußersten e− sind im Kristall nicht mehr lokalisiert, sie gehören dem Gitter als Ganzes an (‚superkovalent‘), hohe Leitfähigkeit van der Waals Bindung: schwach anziehende WW durch Polarisierung der e−-Hülle Wasserstoffbrückenbindung: Ionenbindung durch Elektronentransfer zwischen einem H-Atom und zwei Fluor-, Sauerstoff- oder Stickstoffatomen. Die physikalischen Eigenschaften ‚homogener Körper‘ (z. B. Dichte, Elastizität, Härte) sind im Inneren überall gleich. Ist der Körper isotrop, dann sind die Eigenschaften auch unabhängig von der Richtung. Die meisten Kristalleigenschaften sind aber anisotrop. Ein Beispiel für Anisotropie ist die Doppelbrechung von Kalkspat (siehe Band IV, Kapitel „Wellenoptik“, Abschnitt 1.4.5): Dieser Kristall ist zwar

3 Siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.1.1.

4.1 Aggregatzustände und Bindungen

Na+

171

Cl–

Abb. I-4.3: Kochsalzkristall (NaCl) als Beispiel für die Bildung einer Kristallstruktur durch − + Ionenbindung zwischen den größeren Chlorionen (Cl ) und den kleineren Natriumionen (Na ). Jedes Ion besitzt sechs nächste Nachbarn der anderen Sorte.

homogen, aber anisotrop; eindringende Lichtstrahlen, werden in zueinander senkrecht polarisierte Komponenten mit unterschiedlicher Phasengeschwindigkeit zerlegt (Abb. I-4.4). Die Geschwindigkeit einer der beiden Komponenten ist richtungsabhängig (außerordentlicher Strahl).

Abb. I-4.4: Doppelbrechung von Calcit (Kalkspat, CaCo3 ) als Beispiel für anisotrope Eigenschaften.

172

4 Mechanik deformierbarer Körper

1941 schrieb R. W. Pohl in seinem dreibändigen Lehrbuch ‚Einführung in die Physik‘: „Die festen Körper spielen für unser ganzes Dasein eine schlechthin entscheidende Rolle. Selbst eine kühne Phantasie vermag sich kein organisches Leben ohne feste Körper auszumalen. So ist eine bessere Erforschung des festen Zustandes die heute vielleicht vordringlichste Aufgabe der physikalischen Forschung.“

Die Forschung in der Festkörperphysik hat tatsächlich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gewaltige Fortschritte gemacht, man denke nur an die Entwicklung der Elektronik seit der Erfindung des Transistors 1948. Heute steht die Physik fester Stoffe wieder an einer entscheidenden Stelle. Die Möglichkeit der ‚Nanostrukturierung‘ von Materialien (Nanomaterialien) ist gerade dabei, die technischen Möglichkeiten zu revolutionieren. Unter Nanomaterialien versteht man Strukturen oder Strukturelemente mit Abmessungen zwischen 1–100 nm. Wenn eine oder mehrere Dimensionen eines Stoffes in diese Größenordnung fallen (dünne Filme, Nanodrähte, Nanopunkte), kommt es zu teilweise drastischen Änderungen der physikalischen Eigenschaften und der vermittelnden Prozesse. Wir werden im Kapitel ‚Materialphysik‘ in Band VI auf diesen hochaktuellen Themenkreis zurückkommen.

4.2 Deformation fester Körper 4.2.1 Hookesches Gesetz, Elastizitätsmodul Im elastischen Verformungsbereich (Hookescher Bereich) verschwindet die Verformung vollständig, wenn die verformende Kraft nicht mehr wirkt. Beim Zugversuch (Abb. I-4.5) gilt daher im elastischen Bereich eine Proportionalität zwischen der Längenänderung Δl​ und der wirkenden Zug- oder Druckkraft F: Δl​ 1 F​ = ⋅ . l​0 E​ q​0

q0 d0 l0 d

F Δl 1 ___ = __ ⋅ ___ l0 E q0

Δl



F

Abb. I-4.5: Zugversuch an einer stabförmigen Probe (blau).

(I-4.2)

173

4.2 Deformation fester Körper

Wir definieren als Normalspannung σ die auf den Anfangsquerschnitt q0 bezogene Kraft normal zur Angriffsfläche, also σ​ =

F​ q​0

(I-4.3)

ε​ =

Δl​ . l​0

(I-4.4)

und als relative Dehnung

Damit erhalten wir das Hooksche Gesetz (nach Robert Hooke, 1635–1703: ‚ut tensio, sic vis‘):

ε​ =

1 σ​ E​

Hookesches Gesetz.

(I-4.5)

Dabei ist

E​ =

σ​ ε​

(I-4.6)

bzw. für differentielle Spannungsänderungen

E​ =

d​σ​ d​ε​

der Elastizitätsmodul (= E-Modul, Young’s modulus)

(I-4.7)

2

(nach Thomas Young, 1773–1829) mit der Einheit [E] = 1 N/m = 1 Pa. Ein großer E-Modul bedeutet: Für eine vorgegebene Längenänderung brauchen wir eine große Kraft bzw. eine vorgegebene Kraft bewirkt eine kleine Längenänderung. Isotrope Elastizitätskonstanten einiger fester Materialien. Material Aluminium Eisen Gold Kupfer Wolfram Chromstahl Messing Wolframkarbid Eis (−4 °C) Quarzglas

E (GPa) 70 211 78 128 405 215 105 534 10 73

μ 0,34 0,29 0,43 0,34 0,28 0,28 0,35 0,22 0,33 0,17

K (GPa) 75 168 185 136 307 160 117 318 10 37

2

κ (m /N)

G (GPa) −11

1,33 ⋅ 10 −12 5,95 ⋅ 10 −12 5,40 ⋅ 10 −12 7,35 ⋅ 10 −12 3,26 ⋅ 10 −12 6,25 ⋅ 10 −12 8,55 ⋅ 10 −12 3,14 ⋅ 10 −10 1,00 ⋅ 10 −11 2,70 ⋅ 10

26 82 27 48 158 82 39 219 4 31

174

4 Mechanik deformierbarer Körper −2

9

2

Beispiel: Eine Klaviersaite (Stahldraht, E = 21 500 kN/cm = 215⋅10 N/m = 215 GPa) von 0,5 mm Durchmesser und 1 m Länge dehnt sich nach Anhängen eines Gewichts von 10 kg (entspricht 98,1 N) um Δl​ = l​0

F​ 98,1 −3 = 2,3 ⋅ 10 m = 2,3 mm = 1⋅ 3 4 2 −6 E​ ⋅ q​ 21 500 ⋅ 10 ⋅ 10 ⋅0,25 ⋅ 10 ⋅ π​

Bei der Dehnung eines Polykristalls, der aus vielen kleinen Einkristallen 4 (Körnern) zusammengesetzt ist, treten mehrere Verformungsbereiche auf (Abb. I-4.6):

Zugspannung σ = F/q0 q0 Ausgangsquerschnitt

Streckgrenze Bruch

Zugfestigkeit

Elastiziätsgrenze

Verfestigungsbereich Fließbereich elastischer Bereich 0 Bruchdehnung

örtliches Fließen Einschnürung Dehnung ε = Δl/l

Abb. I-4.6: Spannungs-Dehnungsdiagramm eines Polykristalls.

1. 2.

Der elastische Bereich: Die Verformung geht wieder völlig zurück. Der Fließbereich: Der Kristall verformt sich ohne wesentliche Spannungssteigerung, er ‚fließt‘. Hier kommt es durch den Einbau von Gitterdefekten (im Wesentlichen von Versetzungen 5) zu plastischen Verformungen, die nach dem Wirken der Kraft nicht mehr zurückgehen.

4 Bei einem Einkristall ändert sich die Orientierung des Kristallgitters in seinem ganzen Volumen nicht. 5 Wie der Name sagt, sind dies Störungen im regelmäßigen Gitteraufbau, die sich nicht auf eine Gitterstelle beschränken, sondern einen ‚versetzten‘, flächenförmigen Bereich umfassen (siehe dazu Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.2.6.2. Die Berandungslinie heißt ‚Versetzungslinie‘

4.2 Deformation fester Körper

175

3.

Der Verfestigungsbereich: Durch WW der erzeugten Kristalldefekte nimmt die Spannung bei einer weiteren Verformung stark zu und führt zu einer Steigerung der Festigkeit des Kristalls. Schließlich wird die maximale Zugfestigkeit des Kristalls erreicht. 4. Der Einschnürbereich: Durch örtlich beschränktes Fließen auf Grund von Unregelmäßigkeiten des Querschnitts längs des Stabes kommt es zu einer starken lokalen Einschnürung, die zum Bruch führt. weichgeglühter Kupferstab (Durchmesser: 1 cm)

der Stab kann relativ leicht verbogen werden

der Stab kann praktisch nicht zurück gebogen werden (Verfestigungseffekt)

Erklärung: 9 −2 Der weichgeglühte Cu-Stab enthält verhältnismäßig wenige Versetzungen (≈ 10 m ), diese Gitterdefekte wurden durch die Glühbehandlung ‚ausgeheilt‘. Durch die plastische Verformung 13 −2 beim Verbiegen, wurden sehr viele Versetzungen erzeugt (≈ 10 m ), die in unterschiedlichen 6 ‚Gleitebenen‘ des Kristalls liegen. Bei der weiteren Verformung behindern sich die Versetzungen gegenseitig und machen eine größere plastische Verformung sehr schwer.

Bei der Dehnung eines festen Stoffes kommt es zu einer Änderung der Querdimension, die eine Querschnittsverminderung verursacht. Sie wird durch die Poissonsche Zahl μ beschrieben: Δd​ d​ r​e​l​a​t​i​υ​e​ Q​u​e​r​k​o​n​t​r​a​k​t​i​o​n​ μ​ = = Δl​ r​e​l​a​t​i​υ​e​ L​ä​n​g​e​n​ä​n​d​e​r​u​n​g​ l​

Poissonsche Zahl

(I-4.8)

(nach Siméon Denis Poisson, 1781–1840). Für die Volumenänderung bei der einseitigen Verformung gilt

oder kurz ‚Versetzung‘. Die Versetzungsdichte wird als die Zahl der Versetzungslinien angegeben, die die Einheitsfläche durchstoßen (siehe Experiment unten ‚Biegung eines Cu-Stabes‘). 6 Gleitebenen sind ausgezeichnete Ebenen des Kristallgitters mit dichter Atombelegung, in denen die Versetzungen relativ leicht beweglich sind, also ‚gleiten‘ können (siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.2.6.2).

4

176

4 Mechanik deformierbarer Körper

bei Zug

Δd​ 2 σ​ ΔV​ Δl​ Δd​ Δl​ d​ = −2 = (1 − ) = (1 − 2 μ​) , Δl​ E​ V​ l​ d​ l​ l​

bei Druck

ΔV​ P​ = (1 − 2 μ​) V​ E​

mit

P​ = −σ​

… Druck.

(I-4.9)

(I-4.10)

Die angegebenen Werte für μ zeigen also, dass sich das Volumen eines Probekörpers bei Zug vergrößert und bei Druck verkleinert.

Beispiel: Die Biegung eines Balkens. Wenn wir einen Radiergummi fest zwischen Daumen und Zeigefinger zusammenbiegen, werden die Oberflächen nicht nur gekrümmt, sondern auch gewölbt: Es treten nicht nur Normalspannungen, sondern auch Schubspannungen auf, die bei einer exakten Festigkeitsberechnung zu berücksichtigen sind. J. Bernoulli hat in seiner vereinfachten Behandlungsweise der Balkenbiegung, der wir hier folgen wollen, diese Verformung der Querschnittsebene des Balkens vernachlässigt. Unser Balken sei einseitig fest eingespannt, an seinem Ende bei x = a sei er belastet, es wirke die Gewichtskraft G = m⋅g. Die Achse des Balkens, die durch die Schwerpunkte der Querschnittsflächen geht, wird zu einer Kurve gebogen, die in der Vertikalebene des Balkens liegt.

z y a

b

c x

dx dφ

ρ

G = mg

4.2 Deformation fester Körper

177

Wir betrachten horizontale Schichten des Balkens (‚Fasern‘). Diese werden oberhalb der Balkenmitte gedehnt (Zugspannung) und unterhalb gestaucht (Druckspannung). Bei der Biegung bleibt die mittlere Faser in ihrer Länge unverändert, sie ist spannungsfrei (neutrale Faser). Wir nehmen an, dass die ebenen Querschnitte auch nach der Biegung auf der Achse des Balkens senkrecht stehen. Zwei Querschnittsflächen im Abstand dx, die vorher parallel waren, bilden nach der Biegung den Winkel dφ. Für die relative Längenänderung einer horizontalen Schicht des Balkens, die den Abstand z von der neutralen Faser hat, ergibt sich 1 d​φ​ ) aus der Zeichnung (Krümmung = ρ​ d​x​ Δl​ ( ρ​ + z​) d​φ​ − ρ​ d​φ​ d​φ​ z​ = = z​ = . l​0 d​x​ d​x​ ρ​ Die Dehnung und Stauchung unter dem Einfluss einer verformenden äußeren Kraft führt zu elastischen Gegenkräften, die durch den E-Modul beschrieben Δl​ 1 F​ werden (siehe oben Gl. I-4.2) = ⋅ . Danach ist die elastische Kraft, die an l​0 E​ q​0 E​ ⋅ z​ einem Flächenelement df des Querschnitts angreift d​F​ = d​f​ und die Gesamtρ​ kraft an der Querschnittsfläche E​ F​ = ∫z​ d​f​ . ρ​ Da laut Voraussetzung die Querschnittsfläche bezüglich der neutralen Faser keine Verschiebung, sondern nur eine Verdrehung erfährt, muss diese resultierende elastische Gesamtkraft in Balkenlängsrichtung verschwinden, was gleichzeitig bedeutet, dass die neutrale Faser durch die Schwerpunkte der Querschnittsflächen verläuft (Flächenschwerpunkt: ∫z​ d​f​ = 0), also durch die Achse des BalA​

kens. Es bleibt aber ein resultierendes elastisches Drehmoment (Drehzwilling), das die Querschnittsfläche A um eine Achse zu drehen versucht, die durch die neutrale Faser parallel zur y-Achse geht.

Drehmomentvektor aus der Papierebene heraus.

Es ist in Richtung der negativen y-Achse gerichtet und hat den Betrag E​ E​ D​ = ∫z​ d​F​ = ∫z​ 2 d​f​ = J​ , ρ​ A​ ρ​

mit

178

4 Mechanik deformierbarer Körper

2

J​ = ∫z​ d​f​

Flächenträgheitsmoment um die y-Achse.

A​ 2

J hat nur die ‚Form‘ des Trägheitsmoments um eine feste Achse ∫r​ n​ d​m​ , aber V​

nicht dessen Dimension, es können aber die Berechnungsformeln des Trägheitsmoments zur Berechnung des Flächenträgheitsmoments von Konstruktionselementen (z. B. von Deckenträgern) verwendet werden, wenn die Masse m durch die Querschnittsfläche A ersetzt wird. Im obigen Falle eines rechteckigen Querschnitts ist die Integration von y = 0 bis y = b und von z = −c/2 bis z = +c/2 zu erstrecken. Das Drehmoment an der Stelle x, das durch die äußere Kraft, also die Belastung des Balkens bei x = a, verursacht wird, ist D​′ = G​ ⋅ (a​ − x​) . Es ist in die Richtung der positiven y-Achse gerichtet und wird durch das Drehmoment der elastischen Kräfte im Gleichgewicht gehalten, also gilt E​ J​ = G​ (a​ − x​) . ρ​ Die Differentialgeometrie liefert für die Krümmung einer Kurve z(x) 2

1 = ρ​

d​ z​ d​x​ 2

≅ ⏟

3/2

(1 + (

d​ z​ 2 )) d​x​

(

d​ z​ d​x​

2

d​ 2 z​ d​x​

, 2

also

d​ 2 z​ d​x​

2

=−

G​ (a​ − x​) . E​ ⋅ J​

) ≪ 0

Die Krümmung ist negativ, konkav in Richtung −z (zur x-Achse hin). Zweimalige Integration ergibt z​ = −

G​ a​x​ 2 x​ 3 ( − ) + C​1 x​ + C​2 . E​ ⋅ J​ 2 6

Für x = 0 gilt z = 0 und dz/dx = 0 und daher C1 = C2 = 0. Für die Senkung des Balkenendpunkts, den Biegepfeil s = za erhalten wir so mit x = a s​ = z​a​ = −

G​ a​ 3 . E​ ⋅ J​ 3

Die Durchbiegung wächst also mit der dritten Potenz der Balkenlänge! Beim 3 rechteckigen Querschnitt gilt J = b⋅c /12, das heißt, die Durchbiegung wächst indirekt proportional zur dritten Potenz der Balkendicke (Jakob Bernoulli, 1654– 1705).

4.2 Deformation fester Körper

179

Die allseitige Kompression wird mit einem eigenen Modul geschrieben, dem Kompressionsmodul (bulk modulus) K bzw. der Kompressibilität (compressibility) κ 1 ΔV​ = − ΔP​ = −κ​ ⋅ ΔP​ , V​ K​

(I-4.11)

ΔP​ 1 = ΔV​ κ​

Kompressionsmodul,

(I-4.12)

1 1 ΔV​ =− K​ V​ ΔP​

Kompressibilität,

(I-4.13)

K​ = −V​ 2

Einheit: [K] = 1 Pa = 1 N/m , κ​ = −1

2

Einheit: [κ] = 1 Pa = 1 m /N (siehe dazu auch Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.2.2 und Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Anhang 1). Bei allseitigem Druck P setzt sich die Volumenänderung aus drei analogen Anteilen für jede Kantenlänge l​i​ , wie oben berechnet, zusammen und man erhält K​ =

E​ 3(1 − 2 μ​)

bzw.

κ​ =

1 3(1 − 2 μ​) = . K​ E​

(I-4.14)

4.2.2 Scherung und Torsion d d

τ τ τ

α

τ

Abb. I-4.7: Bei einer Scherung um den Winkel α auftretende Schubspannungen τ.

Scherkräfte greifen tangential zu den Endflächen eines quaderförmigen Probekörpers (Volumenelement) an. Da sich der Quader im Gleichgewicht befindet, müssen auch an den geneigten Endflächen gleich große, entgegengesetzt gerichtete Schubspannungen wirken, damit das gesamte Drehmoment verschwindet (Abb. I-4.7). Wir definieren als Schubspannung τ τ​ =

F​ q​

Schubspannung.

(I-4.15)

180

4 Mechanik deformierbarer Körper

Für kleine Scherwinkel α gilt wieder das Hookesche Gesetz der Proportionalität zwischen Spannung und Verzerrung, hier zwischen der Schubspannung τ und dem Scherwinkel α: τ​ = G​ ⋅ α​

G​ =

(I-4.16)

ist der Schubmodul (= Schermodul, Torsionsmodul, shear modulus)

d​τ​ d​α​

(I-4.17)

−2

mit der Einheit [G] = 1 Nm = Pa. Beispiel: Die Torsion eines Stabes oder Drahtes. Ein Stab (Radius R, Länge l) wird an seiner Oberseite um einen Winkel φ (Winkelelement dψ) gegen die festgehaltene Unterseite verdreht (verdrillt). dψ R



φ

ρ

τ

s B′

B

α

l

A

Wir betrachten einen dünnen Zylindermantel vom Radius ρ (Dicke dρ), stark eingezeichnet. Seitenlinien, die vor der Deformation senkrecht waren (z. B. A​B​ ),̄ schließen jetzt den Winkel α mit der Senkrechten ein (A​B​′).̄ Für die Bogenlänge s der Verdrehung gilt: s​ = ρ​ ⋅ tan φ​ s​ = l​ ⋅ tan α​

an der Oberseite berechnet, an der Seitenfläche berechnet.

Für kleine Torsionswinkel φ(tan φ = φ) gilt also: l​ ⋅ α​ = ρ​ ⋅ φ​



α​ =

ρ​ ⋅ φ​ . l​

Die für die Scherung eines dünnen Stabelements mit AB als Zentrallinie aus der Lage B in die Lage B′ nötige Schubspannung ist τ​ ( ρ​) = G​

ρ​ ⋅ φ​ , l​

4.2 Deformation fester Körper

181

sie nimmt also proportional zum Radius ρ von innen nach außen zu. Durch Integration über alle Stabelemente des Stabquerschnitts q erhalten wir für das zugehörige Drehmoment D​ = ∫ ρ​ ⋅ τ​ ( ρ​) d​q​ . q​

Mit d​q​ = ρ​ d​ρ​ d​ψ​ folgt 2 π​

R​

​ ρ​ D​ = ∫ d​ψ∫ 0

wobei D​ * =

0

G​ ρ​φ​ π​ G​ ⋅ R​ 4 ⋅ ρ​ d​ρ​ = φ​ = D​ * ⋅ φ​ , l​ 2 l​

π​ G​ ⋅ R​ 4 das Direktionsmoment (= Richtmoment, Drehmoment pro 2 l​ 4

Winkeleinheit) ist ([D* ] = 1 Nm/rad). Man beachte D und D* ∝ R ! Für die maximale Schubspannung τmax am Umfang des Stabes folgt τ​max​ =

G​ ⋅ R​ ⋅ φ​ 2 D​ , = l​ π​ R​ 3

eine für die Dimensionierung von Antriebswellen sehr wichtige Beziehung. τmax ist für jeden Werkstoff und die Beanspruchungsart erfahrungsmäßig vorgegeben. Beispiel: Der Schnelldampfer ‚Bremen‘ wurde von 4 Schiffsschrauben mit 5 m Durchmesser angetrieben. Durch eine Welle von 600 mm Durchmesser und 54 m Länge (aus 8 Stücken zusammengesetzt!) wurde von der Turbine zur Schraube eine Leistung von 16 000 kW bei einer Drehzahl von n = 180 U/min geleitet. Wie groß waren die Verdrehung der Welle und τmax am Wellenumfang? ω​ = 2 π​ ν​ = 2 π​

n​ π​ ⋅ 180 −1 = = 18,85 s , 60 30 10

−2

−2

GStahl = 8,044⋅10 Nm (= 820 000 kp/cm ). Wir haben beim Kräftepaar (Kapitel „Mechnik des starren Körpers“, Ab⇀⋅ d​φ⇀und schnitt 3.1.1) gesehen, dass für die Rotationsarbeit gilt d​Wr​ ot = D​ ​ erhalten daher für die entsprechende Leistung als in der Zeiteinheit verrichtete Arbeit ⇀ d​φ⇀​ = D​ ⇀⋅ ω​⇀. Für die gesamte übertragene Leistung gilt daher N​ = D​ ⋅ ω​ N​ = D​ d​t​ und damit D​ =

3 N​ 16 000 ⋅ 10 5 = = 8,488 ⋅ 10 Nm . ω​ 18,85

182

4 Mechanik deformierbarer Körper

Damit ergeben sich der Winkel φ der Verdrehung der Welle und die maximale Schubspannung τmax zu 2 l​ D​

φ​ =

π​ ⋅ G​ ⋅ R​ τ​max =

2 D​ π​ R​

3

4

=

2 ⋅ 54 ⋅ 8,488 ⋅ 105

=

10

4

= 4,48 ⋅ 10

−2

rad = 2,57° ,

π​ ⋅ 8,044 ⋅ 10 ⋅0,3 2 ⋅ 8,488 ⋅ 105 π​ ⋅ 0,3

3

7

−2

−2

= 2,00 ⋅ 10 Nm ( = 204 kp cm ) .

Durch Messung von l, R und D kann der Torsionsmodul G bestimmt werden (statische Bestimmung). Hängt man an den Stab oder Draht einen Körper mit bekanntem Trägheitsmoment, so kann der Torsionsmodul auch schwingend bestimmt werden (dynamische Bestimmung). Die elastischen Kräfte des Festkörpers verursachen bei der Verdrillung ein dem Verdrillungsmoment D gleich großes rücktreibendes Drehmoment D​r​ = −D​ *⋅ φ​ , sodass der Körper nach der Auslenkung Drehschwingungen ausführt. Für die Schwingungsdauer dieser Torsionsschwingungen gilt: T​ = 2 π​√

I​S​ D​ *

= 2 π​√

2 l​ I​S​ π​ ⋅ G​ ⋅ R​

4

.

(I-4.18)

Damit kann entweder der Torsionsmodul bei bekanntem Trägheitsmoment oder das Trägheitsmoment bei bekanntem Torsionsmodul bestimmt werden. Durch Messung der Schwingungsdauern mit einem bekannten Trägheitsmoment (z. B. einer Scheibe) und dem unbekannten plus dem bekannten Trägheitsmoment (durch Auflegen des Probekörpers auf die Scheibe) kann das gesuchte Trägheitsmoment ohne Kenntnis von G (bzw. D* ) bestimmt werden. Wir haben bisher 4 elastische Moduln (= elastische Konstanten) kennen gelernt: E, μ, K (oder κ = 1/K) und G. Die Theorie zeigt aber, dass im isotropen Festkörper nur 2 unabhängige Konstanten zur Beschreibung der elastischen Verformung notwendig sind, das heißt aber, die 4 Moduln sind – wie die Elastizitätstheorie zeigt – miteinander verknüpft: E​ = 1 − 2 μ​ 3 K​

und

E​ 2 G​ 1 − 2 μ​ = 1 + μ​ ⇒ = . 2 G​ 3 K​ 1 + μ​

(I-4.19)

4.2.3 Elastische Konstanten und Kristallstruktur Im Festkörper hält die Bindungsenergie die Atome auf festen Plätzen. Die Elastizität fester Körper ist daher die Folge der Wechselwirkung (WW) der Atome über das Atompotenzial.

4.2 Deformation fester Körper

183

Wir wollen nun zeigen, wie der E-Modul als Folge dieser atomaren Wechselwirkung berechnet werden kann.

V(r)

Abstoßung:

1 / r 12 r

r0 Anziehung:

1/r

6

Gleichgewichtslage Abb. I-4.8: Annäherung des Atompotenzials wechselwirkender Atome im Festkörper durch das Lennard-Jones Potenzial (schematische Darstellung).

Für viele Materialien (z. B. Ionenkristalle, Metalle und ihre Legierungen) kann das Atompotenzial durch das Lennard-Jones Potenzial (benannt nach dem Physiker John Edward Lennard-Jones, 1894–1954) beschrieben werden (Abb. I-4.8, siehe dazu auch Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.1.1.3):

E​pot = V​ (r​) = b​ ⋅

a​ 12 a​ 6 ( ) − ( ) [ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ r​ r​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ A​b​s​t​o​ß​u​n​g​

]

Lennard-Jones 6–12 Potenzial.

(I-4.20)

A​n​z​i​e​h​u​n​g​

Wir bestimmen den Gleichgewichts(GG-)abstand durch Differenzieren und Nullsetzen: d​V​ (r​) d​r​

= | − 12 b​

a​ 12 13

+ 6 b​

r​ 0

a​ 6 7

=0⇒2

r​ 0

a​ 6 6

=1

(I-4.21)

r​ 0

6 ⇒ r​0 = √ 2 ⋅ a​ .

(I-4.22)

Damit ergibt sich für die potenzielle Energie im GG-Abstand: a​ 12

V​ (r​0 ) = b​ 12

12

a​ ⋅ (√2 ) 6

a​ 6

− b​ 6

= 6

a​ ⋅ (√2 ) 6

b​ b​ b​ − =− . 4 2 4

(I-4.23)

184

4 Mechanik deformierbarer Körper

Für den E-Modul können wir schreiben: 1 d​F​ d​ (F​ / A​) r​0 d​F​ d​σ​ A​ = = . = E​ = d​ε​ A​d​r​ 1 r​ − r​0 d​ ( r​ − r​ ) ( ) d​ 0 r​0 r​0

(I-4.24)

F​ gleich der Kraft, die an der Querschnittsfläche des A​ Δl​ r​ − r​0 . Atoms angreift, und = l​ r​0 Dabei ist die Spannung σ​ =

Für die Abstandsabhängigkeit der Kraft F *, die aus der atomaren WW resultiert, können wir gemäß der allgemeinen Beziehung F​⇀* = −grad V​ und der Tatsache, dass V = Epot nur von r abhängt, setzen F​ * = −



d​F​ *

=−

2 d​ V​ (r​)

d​r​

d​r​ 2

d​V​ (r​) d​r​

= b​ (

(I-4.25)

156 a​ 12 r​ 14



42 a​ 6 r​ 8

).

(I-4.26)

Damit ergibt sich für den E-Modul im GG-Abstand (r = r0 ): (I-4.27) a​ ⋅ √2 6

E​ (r​0 ) =

A​

⋅ b​ ⋅

156 a​

12

( 14 6 a​ 14 ⋅ (√ 2)



42 a​ 6 8)

6 a​ 8 ⋅ (√ 2)

=

b​ 156 42 18b​ ( . − )= A​r0​ 4 2 A​r0​ _

Wir versuchen eine Abschätzung mit atomaren Werten für das kubisch-flächenzentrierte γ-Eisen: −12 2 −20 2 Querschnittsfläche des Fe-Atoms A​ ≈ (125 ⋅ 10 ) π​ = 5 ⋅ 10 m , r0 ≈ −10 2,5⋅10 m. Der Parameter b folgt aus Epot = −b/4 und der WW der nächsten Nachbaratome: Die Bindungsenergie eines Fe-Atoms beträgt nämlich EB = 350 kJ/mol = −19 3,6 eV = 5,76⋅10 J und da ein Fe-Atom im kubisch-raumzentrierten Gitter 8 −19 nächste Nachbarn hat, ergibt sich für b ein Wert von b ≈ 2,9⋅10 J. 7 11 2 Damit erhalten wir für den E-Modul E ≈ 4⋅10 N/m = 400 GPa, ein Wert, der recht gut mit dem experimentell für Fe-Einkristalle gemessenen Werten von ca.

7 Dieser Wert ergibt sich aus der Dissoziationsenergie (= Verdampfungswärme) des Kristalls pro Atom, denn dies entspricht der Entfernung der Atome aus ihrer GG-Lage ins Unendliche.

4.2 Deformation fester Körper 11

185

2

2⋅10 N/m = 200 GPa übereinstimmt (siehe Tabelle in Abschnitt 4.2.1) 8. Unsere Vorstellung vom Zusammenhang zwischen den elastischen Kräften und dem Atompotenzial ist also offensichtlich richtig. 4.2.4 Der Elastizitätstensor, allgemeines Hookesches Gesetz Die vier elastischen Konstanten, die wir bisher kennen gelernt haben, sind den experimentellen Bedürfnissen beim Zugversuch oder bei der Tordierung angepasst. Wie sieht es aber bei einer beliebigen Verformung des Festkörpers aus? Wenn z. B. an einem Würfel an allen Flächen Spannungen in beliebigen Richtungen wirken, so werden durch eine Überlagerung von Stauchungen und Dehnungen, Scherungen und Volumenänderungen – die Längen der Würfelkanten in allen 3 Raumrichtungen verändert, – alle Würfelkanten verkippt, – das Gesamtvolumen verändert. Zunächst soll der Spannungszustand eines Volumenelements des Probekörpers beschrieben werden. Wir stellen uns ein würfelförmiges Volumenelement vor; auf jeder seiner Flächen greife eine Kraft in beliebiger Richtung an. Diese Kräfte sind nach den Koordinatenachsen in jeweils 2 Schubspannungen und eine Normalspannung zerlegbar (Abb. I-4.9). So ist z. B. τyz die Schubspannung in y-Richtung, die z σzz τxz

τyz τzy

τzx σxx

τyx

τxy

σyy y

x Abb. I-4.9: Kräfte, die in beliebiger Richtung an den Seitenflächen eines würfelförmigen Volumenelements eines Körpers angreifen, können in jeweils zwei Schubspannungen τij und eine Normalspannung σij zerlegt werden.

8 Die obige Übereinstimmung darf nicht überbewertet werden, da der E-Modul von Einkristallen 11 2 sehr stark von der Verformungsrichtung abhängt: Emax = 2,85 ⋅ 10 N/m bei Zug längs der Würfel11 2 diagonale, Emin = 1,32 ⋅ 10 N/m bei Zug längs der Würfelkante. Der E-Modul (und auch der Schubmodul G) sind anisotrope Kristalleigenschaften.

186

4 Mechanik deformierbarer Körper

an jener Fläche angreift, die normal zur z-Richtung orientiert ist, also erster Index: Kraftrichtung, zweiter Index: Flächennormale. Bei den insgesamt 6 Flächen des Würfels führt dies zu 6⋅3 = 18 Spannungskomponenten. Wir fordern aber, dass der Schwerpunkt des Würfels in Ruhe bleiben soll; dann muss die Summe aller Kräfte verschwinden und es gilt daher σ​−i​−i​ = σ​i​i​ ,

τ​−i​−j​ = τ​i​j​ .

(I-4.28)

Außerdem fordern wir, dass keine Verdrehung stattfindet; dann muss die Summe aller Drehmomente verschwinden und es gilt daher τij = τji .

(I-4.29)

Damit erhalten wir schließlich 6 voneinander unabhängige Spannungskomponenten, die zu einem Tensor zusammengefasst werden können:

σ​x​x​ τ​x​y​ τ​x​z​ σ​ ̃ = (τ​y​x​ σ​y​y​ τ​y​z​ ) τ​z​x​ τ​z​y​ σ​z​z​

Spannungstensor (stress tensor) mit τij = τji .

(I-4.30)

Dabei sind die σii Normalspannungen und die τij Schubspannungen. Bei Kenntnis der 6 Komponenten des Spannungstensors σ​ ̃ , die aus den Randbedingungen des elastischen Problems, also den Kräften an der Oberfläche und den Volumskräften (z. B. Schwerkraft) zu ermitteln sind, kann für jede vorgegebene Richtung e​⇀n​ (Einheitsvektor in der gewählten Richtung) die Spannung σ berechnet werden, da gilt σ​⇀= σ​ ̃ ⋅ e​⇀n​ . Diese Spannung wird i. Allg. nicht senkrecht auf das zu e​⇀n​ senkrechte Flächenelement d​f⇀ ​ = d​f​ ⋅ e​⇀n​ stehen. Da σ​ ̃ ein symmetrischer Tensor ist, kann er auf Hauptachsen transformiert werden; dann bleiben nur mehr die Diagonalelemente σI , σII , σIII übrig. Das sind Normalspannungen, sie werden Hauptspannungen genannt. Ähnlich geht man bei der Beschreibung des Deformationszustands auch von einem würfelförmigen Volumenelement aus. Es treten relative Längenänderungen Δl​i​ unter dem Einfluss der Normalspannungen auf und der Würfelkanten ε​i​i​ = l​ Scherwinkel γij (i, j = x, y, z), das sind die Winkeländerungen, die die ursprünglich senkrechten Achsrichtungen e​⇀i​ und e​⇀j​ unter dem Einfluss der Schubspannungen erfahren. Beide werden zum Deformationstensor zusammengefasst: ε​x​x​ γ​x​y​ γ​x​z​ ε​ ̃ = (γ​y​x​ ε​y​y​ γ​y​z​) γ​ z​x​ γ​z​y​ ε​z​z​

Deformationstensor (= Verzerrungstensor, strain tensor) mit γij = γji .

(I-4.31)

4.2 Deformation fester Körper

187

Ist r​⇀der Ortsvektor eines Punktes im elastischen Körper, dann geht dieser durch die Verschiebung s​⇀= {u​,υ​,w​} = ε​ ̃ ⋅ r​⇀in den Punkt r​⇀υ​ = r​⇀+ ε​ ̃ ⋅ r​⇀über (Abb. I-4.10).



r



s

 



rʋ = r + ε̃⋅r

Abb. I-4.10: Der Ortsvektor r​⇀eines Punktes im elastischen Körper geht durch die Verschiebung s​⇀= {u​,υ​,w​} = ε​ ̃ ⋅ r​⇀in den Punkt r​⇀υ​ = r​⇀+ ε​ ̃ ⋅ r​⇀über.

Diese lineare Transformation des ursprünglichen Körpers (‚r​⇀-Raum‘) in den verzerrten Körper (‚r​⇀υ​-Raum‘) stellt eine affine Abbildung dar. Dabei gehen Geraden und Ebenen wieder in (andere) Geraden und Ebenen über, Parallelitäten bleiben erhalten, ein würfelförmiger Körper geht also in ein allgemeines Rhomboeder (a​ ≠ b​ ≠ c​, α​ ≠ β​ ≠ γ​ ) über. Der Verzerrungstensor ε​ ̃ kann als symmetrischer Tensor so wie der Spannungstensor σ​ ̃ auf Hauptachsen transformiert und durch eine Ellipsoidfläche (Deformations-Tensorellipsoid) dargestellt werden. Dann bleiben nur mehr die Diagonalelemente εI , εII , εIII über, die Hauptdilatationen heißen. Um die Verschiebungen s​⇀= {u​,υ​,w​} eines Kräften und Momenten unterworfenen Körpers berechnen zu können, benützt man einen Zusammenhang zwischen den Verzerrungskomponenten des ε​ ̃ -Tensors und den Spannungskomponenten des σ​ ̃ -Tensors. Dieser ist für kleine Verschiebungen durch das allgemeine Hookesche Gesetz gegeben, wonach im allgemeinen Fall alle Verzerrungskomponenten lineare Funktionen aller Spannungskomponenten sind. Diesen Zusammenhang beschreibt der Elastizitätstensor (elasticity tensor) E​ ̃ = C​m​n​p​q​ = C​μ​ν​ , ein symmetrischer Tensor 4. Stufe: 3

3

σ​m​n​ = ∑∑ C​m​n​p​q​ ⋅ ε​p​q​ p​ = 1 q​ = 1

mit

6

oder

σ​μ​ = ∑C​μ​ν​ ⋅ ε​ν​ ν​ = 1

xx / 1, yy / 2, zz / 3, yz / 4, zx / 5, xy / 6 .

(I-4.32)

Dies ist die allgemeine Form des Hookeschen Gesetzes. Die σμ sind die 6 Komponenten des symmterischen Spannungstensors, die εν sind die 6 Komponenten des symmetrischen Deformationstensors und Cμν ist der symmetrische Elastizitätstensor.

188

4 Mechanik deformierbarer Körper

In Komponenten geschrieben gilt: σ1 = C11 ε1 + C12 ε2 + C13 ε3 + C14 γ4 + C15 γ5 + C16 γ6 σ2 = C21 ε1 + C22 ε2 + C23 ε3 + C24 γ4 + C25 γ5 + C26 γ6 σ3 = C31 ε1 + C32 ε2 + C33 ε3 + C34 γ4 + C35 γ5 + C36 γ6 τ4 = C41 ε1 + C42 ε2 + C43 ε3 + C44 γ4 + C45 γ5 + C46 γ6 τ5 = C51 ε1 + C52 ε2 + C53 ε3 + C54 γ4 + C55 γ5 + C56 γ6 τ6 = C61 ε1 + C62 ε2 + C63 ε3 + C64 γ4 + C65 γ5 + C66 γ6

allgemeines Hookesches Gesetz

(I-4.33)

2

Die 36 Konstanten Cμν der Dimension Kraft/Fläche (N/m ) werden elastische Moduln (elastic moduli) genannt. Umgekehrt lassen sich aus dem Gleichungssystem die Verzerrungen als lineare Funktionen der Spannungen darstellen. Die dann auftretenden Konstanten heißen elastische Konstanten (elastic constants) Sμν mit ε​μ​ = ∑ S​μ​ν​ ⋅ σ​ν​ .

(I-4.34)

Da auf Grund des Energiesatzes der Elastizitätstensor symmetrisch ist, können je nach Kristallsymmetrie maximal 21 unabhängige Komponenten Cμν auftreten. Diese Zahl verringert sich aber mit steigender Kristallsymmetrie sehr stark: – triklines Kristallsystem (niederste Symmetrie): 21 Konstanten – kubisch: 3 Konstanten (C11, C12, C44 ) – isotrop: 2 Konstanten (C11 = 2 C44 + C12 , C12 , C44 ). Für die Fälle kubisch und isotrop haben die Elastizitätstensoren folgende Gestalt: C​11 C​12 C​ E​ ̃ = ( 12 0 0 0

C​12 C​11 C​12 0 0 0

C​12 C​12 C​11 0 0 0

0 0 0 C​44 0 0

0 0 0 0 C​44 0

0 0 0 ) 0 0 C​44

Elastizitätstensor im kubischen Kristallsystem.

(I-4.35)

In dem sehr wichtigen Fall des isotropen Festkörpers liegen also nur zwei unabhängige Moduln C12 = λ und C44 = m vor, die als Lamésche Elastizitätskonstanten bezeichnet werden. Mit Hilfe des E-Moduls E und der Poissonsche Zahl μ folgt für die Moduln C​11 = E​ ⋅

1 − μ​ ; (1 + μ​) (1 − 2 μ​)

C​12 = E​ ⋅

μ​ ; (1 + μ​) (1 − 2 μ​)

C​44 = E​ ⋅

1 = G​ . 2(1 + μ​) (I-4.36)

Werden diese Komponenten des homogenen Festkörpers in den Elastizitätstensor eingesetzt, so ergeben sich die folgenden 6 Beziehungen zwischen den Spannungsund Verzerrungskomponenten:

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

σ​1 =

E​ μ​ {ε​1 + (ε​1 + ε​2 + ε​3 )} ; 1 + μ​ 1 − 2 μ​

τ​4 =

E​ γ​4 2(1 + μ​)

σ​2 =

E​ μ​ {ε​2 + (ε​1 + ε​2 + ε​3 )} ; 1 + μ​ 1 − 2 μ​

τ​5 =

E​ γ​5 2(1 + μ​)

σ​3 =

E​ μ​ {ε​3 + (ε​1 + ε​2 + ε​3 )} ; 1 + μ​ 1 − 2 μ​

τ​6 =

E​ γ​6 . 2(1 + μ​)

189

(I-4.37)

Dies ist das allgemeine Hookesche Gesetz für einen isotropen elastischen Körper. Wie hier nicht abgeleitet werden soll, bestehen zwischen den Komponenten des Verzerrungstensors ε​ ̃ und den 3 Komponenten {u​,υ​,w​} des Verschiebungsvektors s​⇀= ε​ ̃ ⋅ r​⇀folgende Beziehungen: ε​1 =

∂​u​ , ∂​x​

γ​4 =

∂​u​ ∂​υ​ + , ∂​y​ ∂​x​

ε​2 =

∂​υ​ , ∂​y​ γ​5 =

ε​3 =

∂​w​ ; ∂​z​

∂​υ​ ∂​w​ + , ∂​z​ ∂​y​

γ​6 =

∂​w​ ∂​u​ + . ∂​x​ ∂​z​

(I-4.38)

Zum statischen Gleichgewicht am isotropen elastischen Körper siehe Anhang 1.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden) Flüssiger und gasförmiger Zustand setzen im Idealfall einer reinen Formänderung ohne Volumenänderung keinen Widerstand entgegen, es verschwindet also der Schermodul einer ‚idealen‘ Flüssigkeit: G = 0. 9 Die Kompressibilität von Flüssigkeiten ist aber äußerst gering (ähnlich wie die fester Stoffe), während die Kompressibilität von Gasen sehr groß ist. Es gilt also: In einer idealen Flüssigkeit verschwindet der Schubmodul: G = 0. Daraus ergibt sich, dass die Flüssigkeitsoberfläche immer normal auf der resultierenden Gesamtkraft steht, also eine Äquipotenzialfläche darstellt. Daraus folgt sofort, dass die Flüssigkeitsoberfläche einer rotierenden Flüssigkeit ein Rotationsparaboloid sein muss.

9 Es existiert jedoch sowohl in Gasen wie in Flüssigkeiten eine Volumselastizität, die die Ausbreitung von Kompressionswellen (= Longitudinalwellen) ermöglicht.

1

190

4 Mechanik deformierbarer Körper

Beispiel: Flüssigkeit in einem rotierenden Gefäß (siehe dazu auch Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“, Experiment am Ende von Abschnitt 2.3.3).

z Äquipotenzialfläche

r

Δm



Z z O

  Δm⋅g = G



Fgesamt

r

Da eine (ideale) Flüssigkeit keine Tangentialkräfte übertragen kann, muss die resultierende Gesamtkraft auf ein Flüssigkeitsteilchen Δm der Oberfläche normal auf der Oberfläche stehen ⇒ die Oberfläche ist eine Äquipotenzialfläche. Epot setzt sich im rotierenden Bezugssystem aus einem Anteil zusammen, der durch die Schwerkraft verursacht wird G​⇀= −Δm​ ⋅ g​⇀ ⇒

E​pot,G​ = −∫F​⇀⋅ d​r⇀= ​ −Δm​∫ (−g​) d​z​ = Δm​ ⋅ g​ ⋅ z​

und einem Anteil, der von der Zentrifugalkraft stammt Z​⇀= Δm​ r​⇀ω​ 2



E​pot,Z​ = −Δm​ ω​ 2 ∫r​ d​r​ = −

Δm​ 2 2 ω​ r​ . 2

Für die gesamte potenzielle Energie muss also gelten (Ekin = 0 im rotierenden System) E​pot = Δm​ (g​ z​ −

ω​ 2 2 r​ ) = const. = 0 , 2

denn für r = 0 ist auch z = 0. Damit erhalten wir für die Flüssigkeitsoberfläche z​ =

ω​ 2 2 ⋅ r​ , 2 g​

das ist die Gleichung eines Rotationsparaboloids. Die wirkende Gesamtkraft F​⇀= G​⇀+ Z​⇀steht immer senkrecht auf der Äquipotenzialfläche.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

191

Zur Beschreibung der Bewegung (Strömung) von Flüssigkeiten oder Gasen (Fluiden) ist es nicht mehr zweckmäßig, die Bewegung der einzelnen Massenpunkte zu beschreiben. Wir betrachten stattdessen die Bewegung eines kleinen Flüssigkeitselements ΔV an der Stelle r​⇀, das eine gewisse Zahl ΔN an Molekülen enthält. Wir charakterisieren das Fluid durch seine Massendichte: N​

∑m​i​ ρ​ (r​⇀,t​) =

i​ = 1

ΔV​

=

Δm​ . ΔV​

(I-4.39)

Dabei ist es wichtig, dass unser Flüssigkeitselement ΔV groß gegen das Volumen der Teilchen ist, für die enthaltenen Moleküle also gilt ΔN ≫ 1. Andererseits soll es aber so klein sein, dass innerhalb von ΔV keine Änderung der makroskopischen Eigenschaften auftritt, sodass ρ​ (r​⇀,t​) nicht von der Größe des gewählten ΔV abhängt. 7

Beispiel: Wir wählen für ΔN = 10 Moleküle. Dann ergibt sich für eine Flüssigkeit −21 3 −18 3 ΔV ≈ 10 m , für ein Gas unter Normalbedingungen ΔV ≈ 10 m . An die Stelle der Geschwindigkeit eines individuellen MP tritt jetzt ein Geschwindigkeitsfeld, also die Angabe der mittleren Geschwindigkeit υ​⇀(r​⇀,t​) eines Flüssigkeitselements ΔV für alle Punkte im strömenden Fluid zu einem bestimmten Zeitpunkt: 1 υ​⇀(r​⇀,t​) = ΔN​

N​

∑ υ​⇀i​ = 〈υ​⇀i​〉 .

(I-4.40)

i​ = 1

〈υ​⇀i​〉 ist die mittlere Geschwindigkeit der ΔN Moleküle im Volumenelement ΔV. Bezüglich der Geschwindigkeiten υ​⇀i​ der N Moleküle sind zwei Anteile zu unterscheiden: Temp ; für sie gilt 1. die ungeordnete, statistisch verteilte Temperaturbewegung υ​⇀i​ Temp 〉 = 0; 〈υ​⇀i​ ord 2. die allen N Teilchen gemeinsame, geordnete Geschwindigkeit υ​⇀i​ ; für sie gilt ord ord 〈υ​⇀i​ 〉 = υ​⇀i​ . Es gilt also: Temp ord ord ord 〈υ​⇀i​〉 = 〈υ​⇀i​ + υ​⇀i​ 〉 = 〈υ​⇀i​ 〉 = υ​⇀i​ = υ​⇀(r​⇀,t​) ;

(I-4.41)

die in der Hydromechanik auftretenden Geschwindigkeiten sind immer die geordneten Geschwindigkeiten.

192

4 Mechanik deformierbarer Körper

Beispiel: Einzelne Luftmoleküle im Raum haben Spitzengeschwindigkeiten von ungefähr 300 m/s durch ihre ungeordnete Temperaturbewegung (siehe Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.2.5). Die mittlere Strömungsgeschwindigkeit der Luftmoleküle ist aber um viele Größenordnungen kleiner (geordnete Geschwindigkeit υ​⇀(r​⇀,t​) , z. B. ein Luftzug). Wir unterscheiden im Geschwindigkeitsfeld die Bahnlinien und die Stromlinien der Flüssigkeitselemente. Während die Bahnlinien die Wege der einzelnen Flüssigkeitsteilchen im Laufe der Zeit beschreiben, sind die Stromlinien Kurven, deren Tangentenrichtung an jedem Ort mit der augenblicklichen Strömungsgeschwindigkeit zusammenfällt. Bahnlinien und Stromlinien fallen für eine stationäre Strömung zusammen, sind aber für nichtstationäre Strömung verschieden, d. h. die Teilchenbahn folgt hier keiner Stromlinie. Bei einer stationären Strömung ist die Geschwindigkeit an jedem Ort und zu jeder Zeit konstant. Beispiele: Das Strömungsfeld einer Flüssigkeit, die im Unendlichen die Geschwindigkeit υ​⇀besitzt und eine ruhende Kugel umströmt ist stationär, Stromlinien und Bahnlinien fallen zusammen. Ein Beispiel für eine instationäre Strömung ist das Strömungsfeld einer ruhenden Flüssigkeit, durch die eine Kugel mit der Geschwindigkeit −υ​⇀bewegt wird. Stromlinien und Bahnlinien sind verschieden, die Stromlinien (ein Dipolfeld) werden von der Kugel ‚mitgeführt‘. Die Bahnlinien eines Massenelements mi ergeben sich durch Addition der in den aufeinanderfolgenden Zeitelementen dt erfolgenden Verschiebungen d​s⇀​i​ = υ​⇀i​ (t​)d​t​. Von der bewegten Kugel aus beobachtet ist das Strömungsfeld allerdings wieder stationär und stimmt mit dem der bewegten Flüssigkeit überein. Die Stromlinien durch die Berandung einer Fläche d​A⇀​ im Strömungsfeld bilden einen Stromfaden (Abb. I-4.11), durch den Flüssigkeit weder ein- noch austritt (υ​⇀ liegt in der Mantelfläche). Deshalb ist der Fluss (Volumen pro Zeiteinheit) d​V​ = d​Q​ = υ​⇀d​A⇀​ längs der gesamten Stromlinie konstant, vorausgesetzt, dass d​t​

v

ʋ

A

Abb. I-4.11: Stromfaden.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

193

ρ​ = const. ; andernfalls ist im stationären Fall der Massenfluss (Masse pro Zeitd​m​ einheit) = ρ​d​Q​ längs einer Stromlinie konstant. d​t​ Im flüssigen oder gasförmigen Medium herrscht ein Druck: P​ = P​ (r​⇀,t​) =

ΔF​ ; ΔA​

(I-4.42)

−2

Einheit [P] = 1 Pa (Pascal 10) = 1 Nm (nach Blaise Pascal, 1623–1662). ΔF ist die resultierende Kraft, ΔA die Fläche, auf die die Kraft wirkt. P ist von der Orientierung der Fläche ΔA unabhängig. Wenn ΔV entsprechend den obigen Bedingungen gewählt wird, sind die drei Felder ρ​ (r​⇀,t​), υ​⇀(r​⇀,t​), P​ (r​⇀,t​) von ΔV unabhängig. Eine Flüssigkeit, für die diese drei Felder (2 Skalarfelder und ein Vektorfeld) zur Beschreibung ausreichen, ist eine ideale Flüssigkeit. 4.3.1 Die Kontinuitätsgleichung Wir betrachten ein Flüssigkeitsvolumen V (Abb. I-4.12). Teilchenstrom ein



df



en

A

V Teilchenstrom aus Abb. I-4.12: Zur Ableitung der Kontinuitätsgleichung.

Für ein Flächenelement der Oberfläche d​f⇀ ​ gilt: ⇀ d​f​ = d​A​ ⋅ e​⇀n​ , wobei e​⇀n​ der Einheitsvektor in Normalenrichtung ist (positiv nach außen). Die Gesamtmasse im Volumen V ist

5

10 10 Pa = 1 bar = 750,062 mm Hg; 1 mm Hg = 1 Torr. Der normale Luftdruck ist als „1 (physikalische) Atmosphäre“ = 1 atm festgelegt. 1 atm = 760 Torr = 101 325 Pa = 1,01325 bar. 1 ‚technische At2 mosphäre‘ = 1 at = 1 kp/cm = 980 665 Pa.

194

4 Mechanik deformierbarer Körper

M​ = ∫ρ​d​V​ .

(I-4.43)

V​

Wir fragen uns zunächst, wie viel Masse pro Zeiteinheit aus der gesamten Oberfläche von V heraustritt. Die Differenz zwischen austretenden und eintretenden Flüssigkeitselementen muss den Massenstrom bilden, der aus der Oberfläche (= ‚Rand‘) von V heraustritt 11 : ∂​M​ ∮ ρ​ ⋅ υ​⇀⋅ d​f⇀ ​= ∮ j​⇀⋅ d​f⇀ ​ = ∂​t​ O​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​ (V​ ) O​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​ (V​ )

(I-4.44)

kg mit der Stromdichte j​⇀(r​⇀,t​) = ρ​ ⋅ υ​⇀(r​⇀,t​) . Einheit [j​] = 1 . 2 m s Die Änderung der gesamten Masse im Inneren von V ergibt sich aus der Dichteänderung zu ∂​ρ​ ∂​M​ ∂​ ∫ρ​ d​V​ = ∫ = d​V​ . ∂​t​ ∂​t​ V​ ∂​t​ V​ Bei Massenerhaltung (

(I-4.45)

∂​M​ = 0) muss die durch die Oberfläche austretende Masse ∂​t​

der durch die Dichteänderung im Inneren bereitgestellten Masse gleich sein, also 12: ∂​ρ​ j​⇀d​f⇀ ​ − ∫ d​V​ = 0 . ∂​t​ O​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​ (V​ ) V​ ∮

1

(I-4.46)

Wir erinnern uns an den Gaußschen Integralsatz: ∮ u​⇀d​f⇀ ​ = ∫div u​⇀⋅ d​V​ O​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​ (V​)

V​

11 Im Folgenden wird angenommen, dass sich im Volumen V keine Quellen befinden, die ständig Masse nachliefern. 12 Sind im Inneren von V Quellen vorhanden (siehe die „Radialströmung“ als Beispiel zur Poten∂M​ zialströmung in Abschnitt 4.3.6), so gilt = ∫div j​⇀d​V​ = ∮ j​⇀d​f⇀ ​ ≠ 0 . Kontinuierlich verteilte ∂t​ O​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​ (V​ ) V​ Quellen liegen vor, wenn div j​⇀≠ 0 ist. Ist div j​⇀= 0 mit Ausnahme singulärer Stellen, dann liegen Punktquellen vor (siehe Beispiel „Radialströmung“ in Abschnitt 4.3.6).

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

195

Wir können daher das Integral über die geschlossene Oberfläche in ein Volumsintegral umwandeln und so die beiden Integrale zusammenfassen: ∫ (div j​⇀+ V​

∂​ρ​ )d​V​ = 0 . ∂​t​

(I-4.47)

Diese Gleichung gilt für beliebige Volumina, solange V > ΔV ist, der Integrand selbst muss also verschwinden und es gilt daher Kontinuitätsgleichung (continuity equation).

∂​ρ​ + div j​⇀= 0 ∂​t​

(I-4.48)

Für ein quellenfreies, inkompressibles Fluid (ρ = const.) folgt daraus div υ​⇀= 0 .

(I-4.49)

Dabei gibt Q​ =

∮ υ​⇀d​f⇀ ​ = ∫ div υ​⇀d​V​ O​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​ (V​ )

(I-4.50)

V​

den Überschuss des pro Zeiteinheit nach außen strömenden Flüssigkeitsvolumens an. Befindet sich keine Quelle im Inneren von V, so muss das Integral verschwinden. Liegen Quellen im Inneren von V, so stellt das Integral ein Maß für die Ergiebigkeit der Quellen (Quellergiebigkeit, Quellstärke, source strength) von V dar.

4.3.2 Die Eulergleichung Wir wollen jetzt die Bewegungsgleichung der Volumenelemente aufstellen. Dazu greifen wir ein kleines ΔV heraus und betrachten die Bewegung der zugehörigen Masse Δm = ρ⋅ΔV. Die Newtonsche Bewegungsgleichung (Newton 2) lautet: Δm​

d​υ⇀​ (r​⇀,t​) d​υ⇀​ (r​⇀,t​) = ρ​ (r​⇀,t​) ΔV​ = ΔF​⇀(r​⇀,t​) = ΔF​⇀ext​ + ΔF​⇀Druck​ . d​t​ d​t​

(I-4.51)

Dabei haben wir angenommen, dass die auf Δm wirkende Kraft sich aus einer in der Flüssigkeit immer wirkenden Druckkraft ΔF​⇀Druck und einer externen Kraft ΔF​⇀ext (z. B. Schwerkraft ΔF​⇀ext = ρ​ ⋅ g​⇀⋅ ΔV​ ) zusammensetzt. Den Anteil der Druckkraft kann man durch Betrachtung der Druckunterschiede am Flüssigkeitselement in den verschiedenen Koordinatenrichtungen erhalten (Abb. I-4.13):

196

4 Mechanik deformierbarer Körper

z

y ΔV Δy⋅Δz⋅P(x)

Δy⋅Δz⋅P(x + Δx)

x Abb. I-4.13: Druckunterschiede am Flüssigkeitselement ΔV.

ΔF​⇀Druck = −e​⇀x​ Δy​ Δz​ (P​ (x​ + Δx​) − P​ (x​)) − e​⇀y​ Δx​ Δz​ (P​ ( y​ + Δy​) − P​ ( y​)) − − e​⇀z​ Δx​ Δy​ (P​ (z​ + Δz​) − P​ (z​)) = = −ΔV​ (e​⇀x​

P​ (x​ + Δx​) − P​ (x​) P​ ( y​ + Δy​) − P​ ( y​) P​ (z​ + Δz​) − P​ (z​) ). + e​⇀y​ + e​⇀z​ Δx​ Δy​ Δz​ (I-4.52)

Wir sehen, dass in der Klammer partielle Differentialquotienten des Drucks nach den Koordinaten stehen, wenn wir den Grenzübergang Δx​ % d​x​ etc. durchführen: ∂​P​ ∂​P​ ∂​P​ ⇀P​) ⋅ ΔV​ . ) = −(grad P​)ΔV​ = −(∇ ΔF​⇀Druck = −ΔV​ (e​⇀x​ + e​⇀y​ + e​⇀z​ ∂​x​ ∂​y​ ∂​z​

Die substanzielle Beschleunigung 1. 2.

(I-4.53)

d​υ⇀​ hat zwei Anteile (Abb. I-4.14): d​t​

υ​⇀(r​⇀,t​) hängt am Ort r​⇀von der Zeit t ab (lokale Änderung) das Massenelement bewegt sich während der Zeit dt vom Ort r​⇀, an dem die mittlere Geschwindigkeit den Wert υ​⇀(r​⇀) hat, nach r​⇀+ d​r⇀= ​ r​⇀+ υ​⇀d​t​ , wo die Geschwindigkeit einen anderen Wert υ​⇀(r​⇀+ d​r⇀​ ) = υ​⇀+ d​υ⇀​ besitzt (konvektive Änderung).

Wir bilden daher das vollständige Differential, das die totale Änderung von υ​⇀(r​⇀,t​) beschreibt d​υ⇀= ​

∂​υ⇀​ d​t​ ∂​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ z​e​i​t​l​. Ä​n​d​e​r​u​n​g​ a​m​ O​r​t​, l​o​k​a​l​e​ B​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

+

∂​υ⇀​ ∂​υ⇀​ ∂​υ⇀​ d​x​ + d​y​ + d​z​ ∂​ x ​ ∂​ y ​ ∂​z​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ö​r​t​l​i​c​h​e​ (k​o​n​v​e​k​t​i​v​e​) Ä​n​d​e​r​u​n​g​

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

197



substantielle Änderung dʋ



ʋ (r,t)

z

konvektive Änderung y



Bahnkurve

 ʋ (r,t)



ʋ (r,t) + dʋ ΔV

lokale Änderung

 ∂ʋ ___ ∂t

dt

ΔV

x Abb. I-4.14: Zur Ableitung der Eulergleichung: lokale und konvektive Änderung der Geschwindigkeit eines Volumenelements ΔV der Flüssigkeit.

und davon die zeitliche Änderung

∂​ ∂​ ∂​ d​υ⇀​ ∂​υ⇀​ ∂​υ⇀​ d​x​ ∂​υ⇀​ d​y​ ∂​υ⇀​ d​z​ ∂​υ⇀​ + + = = + + (υ​x​ + υ​y​ + υ​z​ ) υ​⇀= d​t​ ∂​t​ ∂​x​ ⏟ d​t​ ∂​y​ ⏟ d​t​ ∂​z​ ⏟ d​t​ ∂​t​ ∂​x​ ∂​y​ ∂​z​ υ​x​

υ​y​

∂​υ⇀​ = + ∂​t​

υ​z​

(I-4.54)

⇀⋅ grad) υ​⇀. (υ​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ υ​⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ -V​e​k​t​o​r​g​r​a​d​i​e​n​t​

υ​x​ υ​x​ υ​x​

∂​υx​​ ∂​x​ ∂​υy​​ ∂​x​ ∂​υz​​ ∂​x​

+ υ​y​ + υ​y​ + υ​y​

∂​υx​​ ∂​y​ ∂​υy​​ ∂​y​ ∂​υz​​ ∂​y​

+ υ​z​ + υ​z​ + υ​z​

∂​υx​​ ∂​z​ ∂​υy​​ ∂​z​ ∂​υz​​

= υ​⇀-V​e​k​t​o​r​g​r​a​d​i​e​n​t​ v​o​n​ υ​⇀

∂​z​

Der Operator (υ​⇀⋅ grad​) heißt ‚υ​⇀-Vektorgradient‘. ⇀υ​⇀= G​̅, das ist die Der Vektorgradient von υ​⇀ist dagegen das ‚dyadische‘ Produkt ∇ ∂​υi​ ​ Matrix der 9 Größen (i,k = x,y,z) in folgender Form: ∂​k​

⇀υ​⇀= G​̅ = ∇

∂​υx​ ​ ∂​υ​x​ ∂​υx​ ​ ∂​x​ ∂​y​ ∂​z​ ∂​υy​ ​ ∂​υy​ ​ ∂​υ​y​ ∂​x​ ∂​y​ ∂​z​ ∂​υz​ ​ ∂​υz​ ​ ∂​υz​ ​ ∂​x​ ∂​y​ ∂​z​

.

1

198

4 Mechanik deformierbarer Körper

Damit wird ⇀) υ​⇀= (υ​⇀⋅ grad) υ​⇀, ⇀υ​⇀) = (υ​ ⋅ ∇ υ​⇀⋅ G​ ̅ = ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ υ​⇀⋅ (∇ M​a​t​r​i​x​p​r​o​d​u​k​t​

das ist der υ​⇀-Vektorgradient von υ​⇀. 13 Während der ‚υ​⇀-Vektorgradient‘ ein Skalar ist, ist der ‚υ​⇀-Vektorgradient von υ​⇀‘ ein Vektor und der ‚Vektorgradient von υ​⇀‘ eine Dyade. 1

Gradient eines Skalarfeldes: ⇀) Φ = d​Φ , der d​s⇀​-Gradient des Skalarfeldes Φ gibt an, wie sich die skalare (d​s⇀​ ⋅ ∇ Größe Φ ändert, wenn man sich im Raum um d​s⇀weiter ​ bewegt. Vektorgradient eines Vektorfeldes: ⇀) υ​⇀, der d​s⇀​-Vektorgradient des Vektorfeldes υ​⇀gibt an, wie sich der Vektor (d​s⇀​ ⋅ ∇ υ​⇀ändert, wenn man sich im Raum um d​s⇀weiter ​ bewegt. Er ist nichts anderes als ein d​s⇀​-Gradient, angewendet auf jede Komponente des Vektors υ​⇀. Es gilt also d​υ⇀​ d​t​ ⏟ s​u​b​s​t​a​n​t​i​e​l​l​e​ B​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

=

∂​υ⇀​ ∂​t​ ⏟

⇀) υ​⇀ . + ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ (υ​⇀⋅ ∇

z​e​i​t​l​. Ä​n​d​e​r​u​n​g​ a​m​ g​l​e​i​c​h​e​n​ O​r​t​, l​o​k​a​l​e​ B​e​s​c​h​l​.

(I-4.55)

K​o​n​v​e​k​t​i​o​n​s​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

Damit wird die Bewegungsgleichung mit der Gewichtskraft G​⇀= ΔF​⇀ext = ρ​ ⋅ g​⇀⋅ ΔV​ als einziger externer Kraft zu ρ​ ⋅ ΔV​ (

∂​υ⇀​ ⇀P​) ⋅ ΔV​ + ρ​ ⋅ g​⇀⋅ ΔV​ ⇀) υ​⇀) = −(∇ + (υ​⇀⋅ ∇ ∂​t​

(I-4.56)

und damit zu

ρ​ (

∂​υ⇀​ ⇀P​ + ρ​ ⋅ g​⇀ ⇀)υ​⇀) = −∇ + (υ​⇀⋅ ∇ ∂​t​

Eulergleichung.

(I-4.57)

13 Zur Matrixmultiplikation: Das Element aik der Produktmatrix ergibt sich als Skalarprodukt des k-ten Spaltenvektors der 1. Matrix mit dem i-ten Zeilenvektor der 2. Matrix, beide Vektoren müssen gleich viele Elemente besitzen.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

199

Diese nichtlineare, partielle Differentialgleichung erster Ordnung beschreibt reibungsfreie, ideale Fluide. Sie wurde 1755 von Leonhard Euler (1707–1783) aufgestellt. Will man reale, reibungsbehaftete, also ‚zähe‘ Fluide beschreiben, muss man noch eine zusätzliche Reibungskraft hinzunehmen. Diese lautet für eine inkompressible Flüssigkeit (vergleiche Abschnitt 4.3.7.2): ΔF​⇀Reibung = η​ ⋅ Δυ​⇀ΔV​ ,

∂​ 2 υ​x​ ∂​x​ mit

Δυ​⇀=

2

∂​ 2 υ​y​ ∂​x​

2

+

∂​y​ +

∂​x​ 2

Laplace-Operator Δ =

∂​ 2 ∂​x​ 2

+

∂​ 2 ∂​y​ 2

+

∂​ 2 ∂​z​ 2

+

2

∂​ 2 υ​y​ ∂​y​

2

∂​ υ​z​

∂​ 2 υ​x​

2

∂​ 2 υ​z​ ∂​y​ 2

+

(I-4.58)

∂​ 2 υ​x​ ∂​z​

+

2

∂​ 2 υ​y​ ∂​z​

+

1

2

∂​ 2 υ​z​ ∂​z​ 2

, angewendet auf den Geschwindigkeits-

vektor υ​⇀. Hier ist η die (dynamische) Zähigkeit (= Viskosität) des Fluids. 2 Einheit [η] = N⋅s/m = Pa⋅s. Dynamische Zähigkeit η einiger Flüssigkeiten und Gase 14. Flüssigkeit Aceton Glycerin Quecksilber Wasser Luft

(20 °C)

η (m Pa ⋅ s)

(20 °C/60 °C) (25 °C/75 °C) (27 °C/127 °C)

0,320 1480/81 1,554 0,890/0,378 0,0186/0,0231

Wenn wir diese Reibungskraft (Gl. I-4.58) in der Bewegungsgleichung (I-4.57) berücksichtigen, erhalten wir die Navier-Stokes-Gleichung:

ρ​ (

∂​υ⇀​ ⇀P​ + ρ​ ⋅ g​⇀+ η​ ⋅ Δυ​⇀. ⇀) υ​⇀) = −∇ + (υ​⇀∇ ∂​t​

(I-4.59)

14 Man beachte die Abnahme der Zähigkeit von Flüssigkeiten (z. B. Wasser) mit der Temperatur, hingegen den Anstieg bei Gasen (z. B. Luft)!

200

4 Mechanik deformierbarer Körper

Die Eulergleichung (oder die Navier-Stokes-Gleichung) und die Kontinuitätsgleichung stellen 4 partielle Differentialgleichungen für die fünf Feldgrößen ρ​ (r​⇀,t​), υ​⇀(r​⇀,t​), P​ (r​⇀,t​) dar. Wir benötigen also eine weitere Gleichung, um ein Strömungsproblem lösen zu können. Dies ist die Zustandsgleichung P​ = P​ ( ρ​ (r​⇀,t​)) , die einen Zusammenhang zwischen Druck und Dichte angibt. Für ideale Gase (vergleiche Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitte 1.1.2 und 1.2.1) gilt bei isothermen Prozessen P⋅V = const. (Boyle-Mariottesches Gesetz). Bei adiabatischen Prozessen, also für isolierte Systeme ohne Energieausκ​ tausch mit der Umgebung gilt P​ ⋅ V​ = const. (Poisson-Gleichung = adiabatische Zustandsgleichung). Für die meisten Systeme lässt sich in der Praxis ein Wärmeaustausch mit der Umgebung nicht verhindern, er läuft aber andererseits meist so schnell ab, dass es zu keiner vollständigen Temperaturangleichung mit der Umgebung kommt, also kein isothermer Prozess vorliegt. Das Verhalten solcher, sehr unterschiedlicher Systeme kann durch die polytrope Zustandsgleichung n​

P​ ⋅ V​ = const.

(I-4.60)

beschrieben werden. Diese Beziehung kann bei geeigneter Wahl des Polytropenexponenten n alle Zustandsänderungen beschreiben. 1

Prozesse am idealen Gas: isochor isobar isotherm isentrop polytrop

n = ∞ 15 n=0 n =1 n=κ 1< n < κ

(V = const.) (P = const.) (P⋅V = const.) κ​ (= adiabatisch, Entropie S = const., P​ ⋅ V​ = const.)

Die Eulergleichung (und die Navier-Stokes-Gleichung) ist eine partielle nichtlineare Differentialgleichung. Probleme der Strömungsmechanik unterliegen daher der nichtlinearen Dynamik und führen zum deterministischen Chaos (vergleiche Band II, Kapitel „Nichtlineare Dynamik und Chaos“). Während das Vielteilchensystem eines idealen Gases der Thermodynamik mikroskopisch chaotisch ist, das heißt, dass die Gasmoleküle zu einem bestimmten Zeitpunkt weder einen voraussagbaren Aufenthaltsort, noch einen voraussagbaren Impuls haben, können bei nichtlinearen Systemen differentiell kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen sehr schnell anwachsen und trotz vollständiger Kenntnis aller Systemparameter zur völligen Unvorhersagbarkeit des Bewegungsablaufs führen (deterministisches Chaos).

n​

15 P​ ⋅ V​ = const. ⇒ V​ =

const. 1

P​ n​

;

für

n​ % ∞​ 0

1 n​

1

% 0 ⇒ P​ n​ % 1 ,

also

V = const.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

201

4.3.3 Ruhende Flüssigkeit im Schwerefeld Erstes Anwendungsbeispiel der Eulergleichung ist der hydrostatische Druck in einer Flüssigkeit. Wie sehen die Felder aus? – Die Dichte der Flüssigkeit ist zeitlich konstant: ρ​ (r​⇀,t​) = ρ​ (r​⇀) . – Die Flüssigkeit ruht, also υ​⇀(r​⇀,t​) = 0 . – Der Druck ist zeitlich konstant: P​ (r​⇀,t​) = P​ (r​⇀) . Da also gilt

∂​ρ​ =0 ∂​t​

u​n​d​

j​⇀= ρ​ ⋅ υ​⇀= 0 , ist die Kontinuitätsgleichung (I-4.48) in tri-

vialer Weise erfüllt. Die Eulergleichung (I-4.57) wird dann zu −grad P​ + ρ​ ⋅ g​⇀= 0 ,

(I-4.61)

es herrscht also Gleichgewicht zwischen den äußeren Kräften und den Druckkräften grad P​ = ρ​ ⋅ g​⇀= −ρ​ ⋅ g​ ⋅ e​⇀z​ ,

(I-4.62)

mit e​⇀z​ als Einheitsvektor in der Gegenrichtung z der Schwerkraft. Druck und Dichte können nur von der z-Richtung abhängen, also d​P​ = −ρ​ (z​) ⋅ g​ . d​z​

(I-4.63)

Ist die Flüssigkeit inkompressibel, gilt also ρ​ (r​⇀) = const. = ρ​0 , so kann einfach integriert werden d​P​ = −ρ​0 ⋅ g​ ⋅ d​z​ ⇒

P​ = −ρ​0 ⋅ g​ ⋅ z​ + P​0

hydrostatischer Druck,

(I-4.64)

mit P = P0 für z = 0. Der hydrostatische Druck nimmt also linear mit der Tiefe (z < 0) zu! Beispiel: Der hydrostatische Druck beträgt in 10 m Wassertiefe 3 −3 −2 4 −1 −2 P​ = ρ​ g​ h​ = 1 ⋅ 10 kg m ⋅9,81 m s ⋅ 10 m = 9,81 ⋅ 10 kg m s = 0,981 bar = −2 1 kp cm = 1 technische Atmosphäre = 1 at ( ≅ Luftdruck auf der Erdoberfläche).

Durch den atmosphärischen Luftdruck kann Wasser daher höchstens 10 m gehoben werden. Der Druck ist richtungsunabhängig. Dies ist die Voraussetzung für die Entstehung des Auftriebs.

202

4 Mechanik deformierbarer Körper





dGO = ρg hdf

ΔVi

Δh





dGU = ρg (h + Δh)df Abb. I-4.15: Zur Entstehung des Auftriebs.

Grenzen wir innerhalb eines Körpers ein Volumenelement ΔV​i​ vom Querschnitt df parallel zu g​⇀ ab, so gilt für die Vertikalkräfte, die an der oberen bzw. unteren Begrenzungsfläche angreifen im Grenzfall verschwindenden Querschnitts (Abb. I-4.15). – Vertikale Druckkraft auf der Oberseite: d​G⇀​O​ = ρ​g⇀​ h​d​f​ – Vertikale Druckkraft auf der Unterseite: d​G⇀​U​ = ρ​g⇀​ (h​ + Δh​)d​f​ , ρ ist die Dichte der Flüssigkeit. Die Differenz stellt den Auftrieb dar: d​G⇀​A​ = d​G⇀​O​ − d​G⇀​U​ = −ρ​g⇀​ Δh​d​f​ = −ρ​g⇀​ ΔV​ .

(I-4.65)

Wird nun über alle Volumenelemente ΔV​i​ summiert, so ergibt sich als gesamte Vertikalkraft am Körper G​⇀A​ = −ρ​g⇀V​ ​

Auftrieb.

(I-4.66)

Die Auftriebskraft GA ist also numerisch gleich dem Gewicht der vom Körper verdrängten Flüssigkeitsmenge (Archimedisches Prinzip). G​⇀A​ greift, wie in der Mechanik der Massenpunktsysteme gezeigt wurde (Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“, Abschnitt 2.4.1), im Schwerpunkt der verdrängten Flüssigkeitsmenge an. Bei einem inhomogenen Körper muss dieser nicht mit dem Körperschwerpunkt zusammenfallen. Der dann resultierende Drehzwilling dreht den eingetauchten Körper so lange, bis der Körperschwerpunkt unter dem Auftriebsschwerpunkt in einer Vertikalen liegt. Bei dieser Bewegung bleibt der Körperschwerpunkt in Ruhe, da die Summe aller am Körper angreifenden Kräfte gleich Null ist. Bei einem homogenen Körper ist seine Lage in der Flüssigkeit im indifferenten GG, jede Lage ist gleichberechtigt.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

203

4.3.4 Ruhendes ideales Gas bei konstanter Temperatur im Schwerefeld Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist die Druckzunahme in einem Gas im Schwerefeld bzw. die Abnahme des Luftdrucks mit zunehmender Höhe. Für ein ideales Gas gilt (vergleiche Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.1.2) P​ ⋅ V​ = N​ ⋅ k​ ⋅ T​

Zustandsgleichung idealer Gase.

(I-4.67)

Dabei ist N die Gesamtzahl der Moleküle im Volumen V und k die Boltzmann-KonM​ N​ ⋅ m​ stante. Für die Gasdichte gilt: ρ​ = = , wenn M die Gesamtmasse der N MoleV​ V​ küle mit Masse m ist. Damit wird P​ =

ρ​ N​ k​T​ = k​T​ V​ m​

und

ρ​ =

m​ ⋅ P​ . k​T​

(I-4.68)

Wie bei der vorigen Anwendung (hydrostatischer Druck) folgt aus der Eulergleichung grad P​ = −ρ​ ⋅ g​ ⋅ e​⇀z​ und es hängen ρ und P nur von der z-Koordinate ab. d​P​ Man erhält damit wieder = −ρ​ (z​) ⋅ g​ , nun aber mit variabler Dichte ρ​ (z​) und d​z​ damit d​P​ = −

m​ ⋅ g​ P​ (z​)d​z​ . k​T​

(I-4.69)

Nach der Trennung der Variablen d​P​ m​ ⋅ g​ =− d​z​ P​ k​T​

(I-4.70)

kann einfach integriert werden wenn man annimmt, dass die Temperatur in allen Höhen gleich ist (T0), also isotherme Verhältnisse vorliegen. 16 Mit P0 als Druck im Bezugsniveau z0 folgt ln P​ − ln P​0 = ln​

und man erhält mit

P​ m​ ⋅ g​ =− ⋅ (z​ − z​0 ) P​0 k​T0​

(I-4.71)

m​ ρ​0 = nach Gl. (I-4.68) k​T0​ P​0

16 Die Schwerebeschleunigung kann für kleine Höhen in guter Näherung als konstant angenommen werden.

204

4 Mechanik deformierbarer Körper

P​ (z​) = P​0 exp​ (−

ρ​0 ⋅ g​ ⋅ (z​ − z​0 ) m​ ⋅ g​ ⋅ (z​ − z​0 ) ) ⏟ ) = P​0 exp​ (− k​T0​ P​0 m​ ρ​ k​T0​

=

0

P​0

(I-4.72)

barometrische Höhenformel.

Aus der barometrischen Höhenformel kann durch Messung des Drucks P(z) in der Höhe z und des Bezugsdrucks P0 die Höhendifferenz (z − z0 ) berechnet werden. Der Druck nimmt also beim Eintauchen in die Atmosphäre exponentiell mit der Tiefe zu, mit der Höhe (z. B. über Meeresniveau) exponentiell ab. Da die Luft kompressibel ist, nimmt die Gewichtskraft eines bestimmten Luftvolumens beim Eintauchen für jeden Meter Höhenunterschied um das Gewicht der auf dieser Strecke hinzukommenden Luftmasse zu. Diese Masse und ihr Gewicht hängen aber wieder vom dort herrschenden Luftdruck ab. Der Luftdruck wächst also umso schneller, je höher er bereits ist, also exponentiell. 5

Beispiel: Für Luft bei 273 K gilt ρ​0 = ρ​L​ = 1,293 kg/m3 und P0 = 1,0133⋅10 Pa und ρ​0 g​ 1 −4 −1 −1 daher = 1,251 ⋅ 10 m = 0,1251 km = . P​0 8 km Damit wird P(z) = P0 ⋅exp(−z/8 km). Das heißt: Bei z = 8 km, also in 8 km Höhe über Meeresniveau, gilt P = P0/e; der Druck ist also auf den e-ten Teil (≈ 1/2,7) gefallen. Die Annahme einer isothermen Atmosphäre ist eine recht grobe Näherung und kann durch Berücksichtigung der experimentell bestimmten linearen Temperaturabnahme mit zunehmender Höhe verbessert werden: T(z) = T(z0) − A⋅(z − z0).

(I-4.73)

A ist der atmosphärische Temperaturgradient, angegeben in K/100 m. Damit kann integriert werden: z​

ln​

z​

m​ ⋅ g​ m​ ⋅ g​ P​ (z​) d​z​ = =∫ d​z​ = −∫ P​ (z​0 ) z​ k​T​ k​ (T​ (z​0 ) − A​ ⋅ (z​ − z​0 )) z​ 0

0

z​

=

z​ m​ ⋅ g​ −1 m​ ⋅ g​ 1 ∫ d​z​ = { ln​ (T​ (z​0 ) + A​ ⋅ z​0 − A​ ⋅ z​) | } = k​ z​ T​ (z​0 ) + A​ ⋅ z​0 − A​ ⋅ z​ k​ A​ z​0 0

m​ ⋅ g​ 1 = (ln​ (T​ (z​0 ) + A​ ⋅ z​0 − A​ ⋅ z​) − ln​ (T​ (z​0 ) + A​ ⋅ z​0 − A​ ⋅ z​0 )) = k​ A​ =

A​ ⋅ (z​ − z​0 ) m​ ⋅ g​ 1 T​ (z​0 ) − A​ ⋅ (z​ − z​0 ) m​ ⋅ g​ 1 ) )= ln ​ ( ln ​ (1 − k​ A​ T​ (z​0 ) k​ A​ T​ (z​0 ) (I-4.74)

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

Dabei wurde verwendet: ∫

205

1 1 d​x​ = − ln ​ (a​−b​x​) . a​ − b​x​ b​

1

Es ergibt sich m​ ⋅ g​

A​ ⋅ (z​ − z​0 ) A​ ⋅ (z​ − z​0 ) k​A​ m​ ⋅ g​ 1 )) = P​ (z​0 ) (1 − ) . P​ (z​) = P​ (z​0 ) exp ​ ( ln ​ (1 − k​ A​ T​ (z​0 ) T​ (z​0 ) (I-4.75) Für die in der Luftfahrt wichtige Normalatmosphäre gilt A = 0,65 K/100 m bis zu einer Höhe ΔzM = 11 km. Ab dieser Höhe gilt TM = −56,5 °C konstant; die Bodentemperatur wird T(z0) = 15 °C gesetzt. Das Archimedische Prinzip gilt auch für Körper in einer Gasatmosphäre. Auch hier entsteht eine Auftriebskraft, die so groß ist wie das Gewicht der vom Körper verdrängten Gasmenge. Wegen der wesentlich kleineren Dichte von Gasen ist der Auftrieb viel kleiner als in Flüssigkeiten. Damit z. B. ein Ballon fliegen („fahren“) kann, muss seine Auftriebskraft größer sein als sein Gesamtgewicht inklusive Gondel, Fracht und Füllgas, es muss also für einen Ballon mit Gesamtmasse M und Gesamtvolumen V gelten M⋅g = V⋅ρL ⋅g .

(I-4.76)

Das Füllgas muss daher eine kleinere Dichte als die ihn umgebende Luft haben, z. B. Helium, Wasserstoff oder auch mit einem Brenner erwärmte heiße Luft (Heißluftballon). 3

Beispiel: Ballondurchmesser D = 16,84 m ⇒ Vmax = 2500 m ; M = 1100 kg; 2 T0 = 293 K; P0 = 101 325 Pa; ρ0L = 1,205 kg/m . Es ergibt sich (einsetzen in obige Gleichung für P(z) und iterativ lösen) eine maximal erreichbare Höhe zM = 9500 m und ein Luftdruck P(zM ) = 29 190 Pa (mit der barometrischen Höhenformel isotherm gerechnet ergibt sich P (zM,isotherm ) = 33 450 Pa). Die Temperatur ist T(zM ) = 293 − A ⋅ zM = 231,3 K = −41,7 °C. War der Ballon beim Abheben am Boden nur halb gefüllt (V0 = ½ Vmax , Gewichtsersparnis!), dann erreicht er in zP = 5700 m (‚Prallhöhe‘) seinen vollen Durchmesser.

4.3.5 Die Bernoulli-Gleichung Wir betrachten eine kräftefreie, stationäre Strömung einer idealen, inkompressiblen Flüssigkeit, die Flüssigkeit ströme z. B. reibungsfrei durch ein Rohr. Für die Felder gilt also

206

4 Mechanik deformierbarer Körper

ρ​ (r​⇀,t​) = ρ​0 ,

υ​⇀(r​⇀,t​) = υ​⇀(r​⇀) ,

P​ (r​⇀,t​) = P​ (r​⇀)

(I-4.77)

und die Eulergleichung wird zu ⇀) υ​⇀= −∇ ⇀P​ − ρ​0 g​⇀. ρ​0 (υ​⇀⋅ ∇

1

(I-4.78)

Wir benützen einen Satz aus der Vektoranalysis 17: ⇀)υ​⇀ = ⇀⋅ ∇ (υ​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ K​o​n​v​e​k​t​i​o​n​s​b​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​

1 ⇀ × υ​⇀) ⇀υ​ 2 − ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ υ​⇀× (∇ ∇ 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ Ä​n​d​e​r​u​n​g​ v​o​n​ |υ​⇀|

Ä​n​d​e​r​u​n​g​ d​e​r​ R​i​c​h​t​u​n​g​ = W​i​r​b​e​l​b​e​w​e​g​u​n​g​

Damit schreiben wir die stationäre Eulergleichung (

∂​υ⇀​ = 0) um ∂​t​

ρ​0 2 grad υ​ − ρ​0 υ​⇀× rot υ​⇀= −grad P​ − ρ​0 g​⇀. 2

(I-4.79)

Schon früher wurde definiert (Abschnitt 4.3), dass Stromlinien in jedem Punkt parallel zu υ​⇀(r​⇀) sind, im stationären Fall (Bahnlinie = Stromlinie) sind also die Bahnelemente d​s⇀// ​ υ​⇀. Wir integrieren die Eulergleichung längs einer Stromlinie zwischen den Punkten A und B, damit das Integral mit rot​ υ​⇀verschwindet: B​

B​

B​

B​

ρ​0 2 ⇀× rot υ​⇀) d​s⇀​ + ∫⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ grad P​ d​s⇀​ + ρ​0 ∫ ⏟⏟⏟⏟⏟ g​⇀d​s⇀​ = 0 . grad υ​ d​s⇀​ − ∫ρ​0 (υ​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 2 2 A​ A​ A​ A​ = −g​d​h​ d​υ​ ⊥ υ​⇀ d​P​



(I-4.80)

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ = 0, d​a​ d​s⇀// ​ υ​⇀

Nach der Definition des Gradienten als Änderung des Skalarfeldes u bei Bewe2 gung in Richtung d​s⇀​ gilt d​s⇀​ ⋅ grad u​ = d​u​ und damit grad υ​ 2 d​s⇀= ​ d​υ​ , bzw. grad P​ d​s⇀= ​ d​P​ . Die Integration ergibt: B​

B​

∫ A​

B​

ρ​0 2 B​ ρ​0 2 B​ B​ | υ​ | + | P​ | + | ρ​ g​ h​ | = 0 d​υ​ + ∫d​P​ − ρ​0 g​∫d​h​ = 0 A​ A​ A​ 2 2 A​ A​



ρ​0 2 ρ​0 2 υ​ 0 + P​0 + ρ​0 g​h​0 = const. , υ​ + P​ + ρ​0 g​ h​ = 2 2

(I-4.81)

(I-4.82)

17 Dieser Satz wird aus dem ‚Entwicklungssatz‘ A​⇀× (B​⇀× C​⇀) = B​⇀(A​⇀⋅ C​⇀) − C​⇀(A​⇀⋅ B​⇀) abgeleitet.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

207

also ρ​0 2 υ​ + P​ + ρ​g​h​ = const. 2

entlang einer Stromlinie Bernoulli-Gleichung.

(I-4.83)

Diese allgemeine Bernoulli-Gleichung (nach Daniel Bernoulli, 1700–1782) gilt auch für wirbelbehaftete Strömungen, die Konstante variiert dann allerdings von Stromlinie zu Stromlinie. Ist die Strömung aber wirbelfrei, so gilt rot υ​⇀= 0 und die Eulergleichung lautet ρ​0 2 ρ​0 2 grad υ​⇀ + grad P​ + ρ​0 g​ ⋅ grad z​ = grad ( υ​⇀ + P​ + ρ​0 g​z​) = 0 2 2

18

(I-4.84)

und damit ρ​0 2 ρ​0 2 υ​ + P​ + ρ​0 g​h​ = υ​ 0 + P​0 + ρ​0 g​h0​ = const.​ 2 2

(I-4.85)

im gesamten Strömungsfeld. Für eine horizontale Strömung mit h = h0 gilt dann ρ​0 2 ρ​0 2 υ​ + P​ = υ​ 0 + P​0 = P​gesamt = const. 2 2

(I-4.86)

ρ​0 2 υ​ + P​ = P​gesamt . 2

(I-4.86a)

oder

In einem Punkt des Strömungsfeldes, in dem υ​⇀= 0 ist (Staupunkt), herrscht der ρ​0 2 2 Gesamtdruck P​ = P​gesamt . Der nur von υ abhängige Term P​S​ = υ​ heißt Stau2 druck. Der statische Druck P = Pstat = Pgesamt − PS wird umso kleiner, je größer die Strömungsgeschwindigkeit υ ist. −3

Beispiel: Ein Luftstrahl ( ρL = 1,2 kg m ) besitze die Geschwindigkeit −1 υ​0 = 50 m s = 180 km/h. Die Druckerhöhung beim Aufprall auf eine Wand

18 Hier wurde die äußere Kraft (Schwerkraft) als negativer Gradient der potenziellen Energie geschrieben.

208

4 Mechanik deformierbarer Körper

(υ​ = 0) beträgt P​ − P​0 =

ρ​L​ 2 1,2 2 υ​ 0 = ⋅ 50 = 1300 Pa. Bei einem normalen Luft2 2

5

druck von ca. 10 Pa bedeutet dies nur eine Drucksteigerung um 1,3 %. Damit ist für viele Gasströmungen die Annahme der Inkompressibilität gerechtfertigt. Die Abnahme des statischen Drucks mit zunehmender Strömungsgeschwindigkeit kann experimentell beim Durchströmen enger Rohre mit unterschiedlichem Querschnitt gezeigt werden und führt zum hydrodynamischen Paradoxon. 4

Ein horizontales Glasrohr, dessen Querschnitt im mittleren Teil deutlich kleiner ist, wird mit Luft aus einem Gebläse durchströmt.

Vor dem Versuch sind die beiden Flüssigkeitssäulen in den angesetzten dünnen Glasröhrchen, die als Manometer dienen, gleich.

Wenn das horizontale Rohr durchströmt wird, herrscht im dicken Rohrteil ein Überdruck (schwarze Pfeile), im dünnen Rohrteil aber ein Unterdruck (weiße Pfeile).

Der Glastrichter ist an das Gebläse angeschlossen, aus dem Trichter wird Luft heraus geblasen.

Bei genügender Annäherung an den Kartonkegel wird dieser in den Trichter hineingezogen, da die Luft im engen Spalt zwischen Glastrichter und Kartonkegel sehr rasch herausströmt (Pfeile) und so ein Unterdruck erzeugt wird. 19

19 Wenn der Kegel so eng im Trichter sitzt, dass keine Luft mehr an ihm vorbei streichen kann, wird er wieder etwas aus dem Trichter gedrückt, anschließend aber sofort wieder durch die hohe

209

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

Ein Tischtennisball wird in einen eng begrenzten Luftstrom gebracht, er ‚schwebt‘. Da er von rasch strömenden Luftschichten umgeben ist, wird er an der Stelle gehalten, denn weicht er aus der Strahlmitte aus, kommt er in einen Bereich geringerer Geschwindigkeit, also größeren Drucks und wird zurückgetrieben.

Eine Anwendung dieses Effektes ist die Wasserstrahlpumpe: Durch eine hohe Strömungsgeschwindigkeit im Hauptrohr wird Luft aus dem Rezipienten gesaugt (Abb. I-4.16). qe,ve H2O-Strahl

Pe

qa,va Pa

Rezipient

Abb. I-4.16: Wasserstrahlpumpe zur Gefäßevakuierung.

Die Bernoulli-Gleichung lautet in diesem Fall

P​e​ = P​a​ −

ρ​υ​ 2e​ ρ​υ​ a2 ​ + P​e​ = + P​a​ ; damit wird 2 2

ρ​ 2 ρ​ υ​ a2 ​ υ​ 2e​ 2 = P​ − (υ​ e​ − υ​ a) ( 2 − 1) . ​ a​ 2 2 υ​ a​

(I-4.87)

Mit der Kontinuitätsgleichung für inkompressible Strömung q​a​ υ​a​ = q​e​ υ​e​ folgt daher P​e​ = P​a​ −

ρ​ υ​ a2 ​ q​ a2 ​ ( 2 − 1) . 2 q​ e​

(I-4.88)

Bei Sturm führt der Effekt unter widrigen Umständen zum Abdecken von Häusern, da am Giebel die Strömungsgeschwindigkeit sehr hoch werden kann. Umströmungsgeschwindigkeit angezogen und so fort. Es kommt zu einer Schwingung, die auch akustisch zu hören ist.

4

210

4 Mechanik deformierbarer Körper

4.3.6 Die Potenzialströmung (wirbelfreie Strömung) Die allgemeine Bewegung eines Flüssigkeitselements ΔV besteht aus drei Anteilen: 1. Translation, 2. Verzerrung, 3. Rotation. Es ist aber wegen der mathematischen Behandlung zweckmäßig, die Anteile 1 und 2 als Potenzialströmung getrennt vom 3. Anteil, der Wirbelströmung zu behandeln, auch wenn i. Allg. alle 3 Anteile gleichzeitig vorhanden sind (z. B. Bewegung eines Rauchringes in einer Horizontalströmung). Wir betrachten eine stationäre und rotationsfreie Strömung. Es gilt also rot υ​⇀(r​⇀) = 0

(I-4.89)

und alle Feldgrößen sind zeitunabhängig. Wir erinnern uns an ein konservatives Kraftfeld (Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“, Abschnitt 2.2.3): Dort galt rot​ F​⇀= 0 und da rot grad V​ = 0 immer erfüllt sein muss, konnte mit F​⇀= −grad V​ die zum Potenzial V gehörige konservative Kraft gebildet werden. Für unsere Strömung muss es offenbar ein Geschwindigkeitspotenzial Φ(r​⇀) geben, sodass υ​⇀(r​⇀) = grad Φ(r​⇀) . 20

(I-4.90)

∂​ρ​ = 0 , so ∂​t​ ⇀υ​⇀= 0 und folgt aus der Kontinuitätsgleichung div j​⇀= ρ​0 ⋅ div υ​⇀= 0 , also div υ​⇀= ∇ damit

Ist die Flüssigkeit auch inkompressibel, also ρ = const. = ρ0 und daher

⇀⋅ υ​⇀= ρ​0 ∇ ⇀⋅ (∇ ⇀Φ) = ρ​0 ΔΦ = 0 ρ​0 ∇

(I-4.91)

und so ΔΦ = 0

mit dem Laplace-Operator

Δ=

Laplace-Gleichung ∂​

2

∂​x​ 2

+

∂​ 2 ∂​y​ 2

+

∂​ 2 ∂​z​ 2

(I-4.92)

.

Jede Funktion Φ, die der Laplaceschen Differentialgleichung (I-4.92) genügt, stellt also das Geschwindigkeitspotenzial einer wirbelfreien, inkompressiblen Strömung dar. Die Laplace-Gleichung kann so zur Berechnung der wirbelfreien Umströmung

20 Φ hat hier das positive Vorzeichen, d. h. das Fluid strömt in die Richtung steigenden Potenzials Φ(r​⇀) . In manchen Lehrbüchern wird auch hier das negative Vorzeichen genommen.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

211

von Körpern benützt werden, 21 die Eulergleichung dient nur zur Berechnung der Druckverteilung im Strömungsfeld. Beispiel: Radialströmung. Wir betrachten bei einer räumlichen Potenzialströmung die kugelsymmetrische Lösung der Laplace-Gleichung (I-4.92), also eine kugelsymmetrische Strömung. Wir nehmen daher an, dass für alle Variablen nur eine Abhängigkeit vom Abstand r* vom Zentrum Z der Kugel (Ortsvektor r​⇀0) besteht, also nur eine radiale Abhängigkeit. ∂​Φ d​Φ ∂​r​ d​Φ x​ 2 2 2 und = = Mit Φ = Φ(r* ) und r​ * = √x​ + y​ + z​ wird ∂​x​ d​r​ * ∂​x​ d​r​ * r​ * 2

∂​ Φ ∂​x​

2

=

∂​

d​Φ

x​

d​r​ *

√x​ 2 + y​ 2 + z​ 2

(

∂​x​

2

)=

d​ Φ x​

2

2

2

d​r​ * r​ *

2

Hinzu kommt analog

+

∂​ Φ ∂​y​ 2

d​Φ

∂​z​ 2

.

2

d​r​ *

∂​ 2 Φ

und

x​ 2 r​ *

r​ − r​ *

.

Damit wird der Laplace-Operator zu ΔΦ =

d​ 2 Φ d​r​

*2

(

x​ 2 + y​ 2 + z​ 2 r​

*2

)+

d​Φ

2

(

3 r​ * − x​ 2 − y​ 2 − z​ 2

d​r​

r​

*3

)=

d​ 2 Φ d​r​

*2

+

2 d​Φ r​ * d​r​ *

und die Laplace-Gleichung zu ΔΦ =



d​r​



ʋ

d​ 2 Φ *2

+

2 d​Φ

= 0.

r​ * d​r​ *

ʋ



ʋ

 r

Z





ʋ

r*

0

 r

P



ʋ

O

21 Auch nahezu ‚ideale‘ Flüssigkeiten mit sehr geringer Zähigkeit bleiben an der Oberfläche von Hindernissen haften. In der Grenzschicht herrscht daher ein großer Geschwindigkeitsgradient und rot υ​⇀verschwindet nicht mehr, es kommt zum Abreißen von Wirbeln. Mathematisch hat man jedoch die Möglichkeit, einer wirbelfreien Potenzialströmung Wirbel zu überlagern.

212

4 Mechanik deformierbarer Körper

Eine Lösung ist Φ =

überzeugt (

d​ Φ

=−

d​r​ *

a​ a​ + b​ = + b​, wie man sich durch differenzieren * |r​⇀− r​⇀0| |r​⇀| a​

(r​ * )2

d​ 2 Φ

,

(d​ r​ * )2

= 2 a​

1 (r​ * )3

).

Die Geschwindigkeit erhält man durch Gradientenbildung: υ​⇀= grad ​Φ (r​ * ) =

∂​ Φ (r​ * ) ∂​r​ *

=−

a​ 2 (r​ * )

⋅ e​⇀r​⇀* = −

a​ 2 (r​ * )



r​⇀− r​⇀0

=

|r​⇀− r​⇀0|

− a​ 3 (r​ * )

⋅ r​⇀* .

Die Strömung verläuft also radial, und zwar für a < 0 von Z ausgehend (Punktquelle in Z), für a > 0 auf Z zulaufend (Senke in Z). Die Konstante a wird durch die Flüssigkeitsmenge bestimmt, die pro Zeit durch eine Kugel um Z hindurchtritt (Quellergiebigkeit = Quellstärke Q, Dimension Volumen/Zeit, also gemessen 3 in m /s): Q​ =

a​ M​ ∮ υ​⇀d​f⇀ ​ = −4 π​ (r​ * )2 = −4 π​ a​ . = ​ ρ K​u​g​e​l​o​b​e​r​f​l​ä​c​h​e​ (r​ * )2

Q​ Für die Konstante a folgt also a​ = − und für die Geschwindigkeit daher 4 π​ r​⇀* Q​ . ⋅ υ​⇀= 4 π​ (r​ * )3 Die Konstante b ist für die Strömung ohne Bedeutung, da sie bei der Gradientenbildung herausfällt. Wenn man wie üblich das Potenzial so normiert, dass es für r / ∞ verschwindet, so wird b = 0. Q​ r​⇀* ) = 0 folgt, dass das StröAus ΔΦ(r​) = div grad Φ(r​) = div υ​⇀(r​) = div ( 4 π​ r​ * 3 mungsfeld im gesamten Raum quellenfrei ist, die singuläre Stelle bei r​⇀= r​⇀0 ausgenommen. Besitzt die inkompressible Strömung kontinuierlich verteilte Quellen, dann gilt ρ​0 div υ​⇀= q​ ≠ 0 . ⇀Φ folgt dann Mit υ​⇀= ∇ ρ​0 div grad Φ = ρ​0 ΔΦ = q​ (r​⇀) .

(I-4.93)

Für die aus dem Volumen V pro Zeiteinheit austretende Flüssigkeitsmasse gilt M​ ​ = ∫ ρ​0 div υ​⇀d​V​ = ∫ q​ (r​⇀) d​V​ . = ∮ ρ​0 υ​⇀d​f⇀ t​ F​ V​ V​ q​ (r​⇀) = ρ​0 div υ​⇀ist die Quelldichte der Strömung.

(I-4.94)

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

213

In diesem Fall wird das Geschwindigkeitspotenzial zu ΔΦ =

q​ (r​⇀) ρ​0

Poisson-Gleichung. 22

(I-4.95)

Die Potenzialströmung inkompressibler Fluide hat eine sehr große Bedeutung in der technischen Anwendung bei der Umströmung von Körpern, deren eine Dimension die beiden anderen stark übertrifft, z. B. Tragflügel, Säulen usw. Dann liegt nämlich eine ebene Strömung vor, die nur von den zwei Variablen x und y abhängt und für die die komplexe Analysis Lösungsmethoden bereitstellt.

4.3.7 Wirbelströmung (vortical flow), Turbulenz 4.3.7.1 Ideale, reibungsfreie Flüssigkeit, Wirbelsätze Bei der Wirbelbewegung einer Flüssigkeit sind zwei Formen zu unterscheiden (Abb. I-4.17). Unter dem Kern eines Flüssigkeitswirbels verstehen wir ein Flüssig⇀ wie ein starrer Körper rotiert. keitsvolumen, das mit der Winkelgeschwindigkeit Ω



ʋ



Ω



ʋ



Ω ⇀, Abb. I-4.17: Blick auf eine Wirbelröhre (links). In der Wirbelröhre liegt der Wirbelvektor Ω ⇀. die Flüssigkeit rotiert in der Röhre ⊥ zu Ω Blick in eine Wirbelröhre (rechts). Die Flüssigkeit rotiert (im Wirbelkern) wie ein starrer Körper mit ⇀ , die nach außen hin mit r proportional zunimmt, wenn Ω ⇀ im Kern der Winkelgeschwindigkeit Ω konstant ist. Außerhalb des Wirbelkerns führt die Flüssigkeit eine Zirkulationsbewegung aus, die Geschwindigkeit nimmt mit 1/r ab.

Außerhalb des Wirbelkerns führen die Flüssigkeitsteilchen eine Zirkulationsbewegung aus (Abb. I-4.18). Dabei strömt die Flüssigkeit noch immer um ein Zentrum, aber die Flüssigkeitsteilchen drehen sich nicht mehr um die Achse, sondern translatieren auf geschlossenen Bahnen. In diesem Bereich des Strömungsfeldes ist ⇀= 0 Ω

22 Die allgemeine Lösung der Poisson-Gleichung lautet Φ =

−1 4 π​ ρ​0

ΦLaplace eine beliebige Lösung der Laplace-Gleichung ΔΦ = 0 bedeutet.

∫ V​

q​(r​⇀) r​

d​V​ + ΦLaplace , wobei

214

4 Mechanik deformierbarer Körper



ʋ



r

ʋ

⅟ᵣ r

A Rotation im Wirbelkern der Fläche A ʋ r

Zirkulation im Außenraum (‚Potenzialwirbel‘) rot ʋ = 0





Abb. I-4.18: Rotation im Wirbelkern und Zirkulationsbewegung im Außenraum eines Wirbels bei der Wirbelbewegung einer Flüssigkeit.

Wir definieren als Zirkulation Γ längs einer geschlossenen Kurve C ​ 23 Γ​ = ∮ υ​⇀d​s⇀.

(I-4.96)



C

Im Wirbelkern (starrer Körper) gilt für die Geschwindigkeit υ​⇀eines Massenpunktes am Ort r​⇀ ⇀ × r​⇀ υ​⇀= Ω

(I-4.97)

⇀, rot υ​⇀= 2Ω

(I-4.98)

und damit

da gilt

(I-4.99)

⇀ × r​⇀) = ∇ ⇀ × (Ω ⇀× ( rot υ​⇀= ∇

⇀c​ Ω ⏟

⇀(∇ ⇀⋅ ∇ ⇀− Ω ⇀= 2 Ω ⇀ . 24 ⇀r​⇀) − (Ω ⇀)r​⇀= 3 Ω × r​⇀) = Ω

⇀g​e​g​e​b​e​n​ Ω u​n​d​ c​o​n​s​t​.

⇀ = 1 rot υ​⇀, der Wirbelvektor (vortex vector), der die Drehachse der Der Vektor Ω 2 Flüssigkeitsteilchen angibt, ist die entscheidende Größe für die gesamte Wirbelbewegung der Flüssigkeit, auch für die Zirkulation, da gilt (Stokesscher Satz) 23 Im Falle der Kreissymmetrie gilt für Kreislinien C, die den Wirbel umfassen (Stokesscher Satz, ⇀ = const.​) ⇒ 2 r π υ = 2 WA siehe auch weiter unten): ∮ υ​⇀d​s⇀= ​ ∫rot υ​⇀d​f⇀ ​ = 2 Ω A​ = 2 W​A​ (für rot υ​⇀= 2 Ω C​

⇒ υ​ =

W​A​

A​

, wobei WA die ‚Wirbelstärke‘ ist.

r​ π​ ⇀∇ ⇀. ⇀r​⇀= 3 , (Ω ⇀)r​⇀= Ω 24 div r​⇀= ∇

215

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

⇀d​f⇀ ​ ∫rot υ​⇀d​f⇀ ​ = 2 ∫Ω ​ . 25 Γ​ = ∮ υ​⇀d​s⇀= C​

A​

(I-4.100)

A​

⇀(r​⇀) ist in idealen Flüssigkeiten als Anfangsbedingung vorDer Wirbelvektor Ω gegeben, da er, wie gleich gezeigt wird, in einer idealen Flüssigkeit nicht entstehen kann. Wir schreiben nochmals die ‚umgeschriebene‘ Eulergleichung ohne externe Kräfte an, um nur jene Eigenschaften der Flüssigkeit zu betrachten, die mit Wirbelbewegung zusammenhängen

(

∂​υ⇀​ 1 1 ∂​υ⇀​ ⇀ × υ​⇀) = − ∇ ⇀)υ​⇀) = ⇀υ​ 2 − υ​⇀× (∇ ⇀P​ . + (υ​⇀∇ + ∇ ∂​t​ ∂​t​ 2 ρ​

(I-4.101)

Bilden wir nun die Rotation der Eulergleichung

rot (

∂​υ⇀​ 1 1 ⇀ × υ​⇀) = − rot ( ∇ ⇀υ​ 2 ) − rot (υ​⇀× ∇ ⇀P​) = 0 ) + rot​ ( ∇ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ∂​t​ 2 ρ​ ⇀ rot​ υ​⇀= 2

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ =

∂​ ∂​t​

(rot​ υ​⇀)

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ rot​ grad​ υ​⇀≡ 0

⇀× (υ​⇀× rot υ​⇀) =∇

(I-4.102)

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ rot​ grad​ P​ ≡ 0

⇀ ein, so folgt als Wirbelgleichung und setzen nach Gl. (I-4.98) für rot υ​⇀= 2 Ω ⇀ ∂​Ω ⇀ × υ​⇀) = 0 ⇀ × (Ω +∇ ∂​t​

Wirbelgleichung.

(I-4.103)

a) ideale Flüssigkeit ohne Wirbel: ⇀ ⇀ = 1 rot υ​⇀= 0 und daher ∂​Ω = 0 , also Es muss gelten (Gl. I-4.98): Ω 2 ∂​t​ Eine wirbelfreie ideale Flüssigkeit bleibt für alle Zeiten wirbelfrei. b) ideale Flüssigkeit mit Wirbeln: Die Wirbelbewegung wird durch die Sätze von Thomson (William Thomson, später Lord Kelvin (eigentlich Baron Kelvin of Largs), 1824–1907) und Helmholtz (Hermann von Helmholtz, 1821–1894) beschrieben, wobei die ⇀ als zu einem Zeitpunkt t0 vorgegebene Größen aufzufassen Wirbelvektoren Ω sind, also als Anfangsbedingungen.

25 Auch wenn in einer Strömung rot υ​⇀überall verschwindet (ausgenommen an singulären Linien), kann die Zirkulation von Null verschieden sein, nämlich dann, wenn der Integrationsweg eine Singularität umfasst.

1

216

4 Mechanik deformierbarer Körper

Ohne Beweis sei hier der Thomsonsche Satz von der Erhaltung der Zirkulation angeführt: 1

Die Zirkulation Γ längs einer aus denselben Flüssigkeitsteilchen bestehenden geschlossenen Kurve (‚flüssige Linie‘ 26) ist zeitlich konstant (konservative äußere Kräfte vorausgesetzt). Es gilt also:

d​Γ​ = 0 ⇒ Γ​ = const. für eine flüssige Linie. d​t​

Analog zu den Stromlinien können wir im Strömungsfeld der Flüssigkeit Kurven bilden, deren Tangentenrichtung an jedem Ort mit der augenblickli⇀ zusammenfällt, die Wirbellinien. chen Richtung des Wirbelvektors Ω Eine Wirbelröhre (Abb. I-4.19, siehe auch Abb. I-4.17) ist eine schlauchartige Fläche, die von Wirbellinien gebildet wird. Der flüssige Inhalt aus rotierenden Flüssigkeitsteilchen einer Wirbelröhre heißt Wirbelfaden. Für sehr dünne ⇀ über den Querschnitt A const. Wirbelröhren ist Ω





2Ω = rot ʋ

A

Abb. I-4.19: Wirbelröhre (Oberfläche) bzw. Wirbelfaden (flüssiger Inhalt).

Wir bezeichnen als Wirbelstärke (vorticity) WA in der Fläche A W​A​ =

1 ⇀ | rot​ υ​ ⇀ A​ | ⋅ A​ = | ΩA​ | ⋅ A​ = ΩA​ ⋅ A​ , 2

(I-4.104)

das ist der Fluss der Wirbellinien durch den Querschnitt A des Wirbelfadens. 1858 entdeckte Helmholtz aus der Analogie zur Elektrodynamik (Magnetfeld von Strömen) seine Wirbelsätze.

26 Eine ‚flüssige Linie‘ bewegt sich mit der Flüssigkeit mit und zerreißt dabei nicht!

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

217

Helmholtzsche Wirbelsätze: 1.

1

⇀ = 1 rot υ​⇀ ⇒ Ω 2

1 ⇀ = div rot υ​⇀≡ 0 . 27 div Ω ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 2 Q​u​e​l​l​e​r​g​i​e​b​i​g​k​e​i​t​

(I-4.105)

f​ü​r​ W​i​r​b​e​l​

Es existieren also weder Quellen noch Senken für die Wirbellinien, die Wirbel⇀ sind daher stets geschlossene Linien oder reichen bis ins Unendlinien // Ω liche oder an die Behälterwand. 2. Die Wirbelstärke WA = Ω⋅A der Wirbelfäden ist in einer idealen Flüssigkeit längs einer Wirbelröhre zeitlich und örtlich konstant. In einer idealen Flüssigkeit können Wirbel also weder entstehen noch vergehen. 3. Jeder Wirbelfaden besteht dauernd aus denselben rotierenden Flüssigkeitsteilchen, da durch seine Mantelfläche keine Wirbellinien ein- oder austreten. Er wandert also mit der Flüssigkeit mit. In zähen Flüssigkeiten können allerdings Wirbel entstehen, verändert werden und wieder vergehen.

4.3.7.2 Reibungsbehaftete (zähe) Flüssigkeiten In reibungsfreien Flüssigkeiten können also keine Wirbel gebildet werden. Sie sind entweder schon vorhanden oder die Flüssigkeit bleibt wirbelfrei. In Flüssigkeiten mit starker Reibung tritt laminare Strömung auf, das ist eine Strömung, bei der sich die Stromlinien nicht vermischen, also keine Turbulenz auftritt. Die Bildung von Wirbeln geschieht dagegen in Flüssigkeiten mit kleiner Reibung an jenen Stellen, an denen der Geschwindigkeitsgradient besonders groß ist, d. h. an Wänden und Hindernissen. Die großen Geschwindigkeitsgradienten führen zu starken Tangentialkräften zwischen benachbarten Flüssigkeitsschichten und auf diese Weise zur Bildung von makroskopischen Wirbeln. a) Laminare (= ‚schlichte‘) Strömung Die Flüssigkeit kann in glatte Schichten zerlegt werden, die mit differentiell steigender Geschwindigkeit aneinander vorbei gleiten. Gleichmäßige Strömung ohne Turbulenz und makroskopische Wirbelbildung ist zu erwarten, wenn die Reibungs-







∂x​ ∂y​ ∂z​ ⇀⋅ (∇ ⇀ × υ​⇀) = ∂ ∂ ∂ ≡ 0 , denn eine Determinante verschwindet, wenn zwei 27 div rot υ​⇀= ∇ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ‚S​p​a​t​p​r​o​d​u​k​t​‘ ∂x​ ∂y​ ∂z​ υ​x​ υ​y​ υ​z​

|

Zeilen gleich sind.

|

218

4 Mechanik deformierbarer Körper

kräfte zwischen den Flüssigkeitsmolekülen groß gegen die beschleunigenden Kräfte sind, d. h. bei kleinen Strömungsgeschwindigkeiten. Im einfachsten Fall gleiten parallele Flüssigkeitsschichten mit gleicher Strömungsrichtung aneinander vorbei. Durch die inneren Reibungskräfte übt die schneller fließende Schicht auf die angrenzende eine Beschleunigung aus (Reibungskräfte ∝ υ), indem sie diese mitzunehmen versucht, während die langsamere Schicht die schnellere hemmt. Nach Newton ist diese in bewegten, zähen Flüssigkeiten auftretende Scherspannung proportional zur Fläche A der sich berührenden Schichten und der Änderung der ∂​υx​ ​ ). Strömungsgeschwindigkeit senkrecht zur Strömung (τ​ ∝ ∂​z​ Wir betrachten den einfachen Fall einer zähen Flüssigkeit, die horizontal, parallel zur x-Achse strömt und deren Geschwindigkeit sich in Richtung der z-Achse verändert. Für die Scherspannung gilt dann d​υ⇀​ 28 . F​⇀Reibung = η​ ⋅ A​ ⋅ d​z​

(I-4.106)

Die Reibungskraft hat hier die Richtung der positiven x-Achse. η ist wieder der Koeffizient der dynamischen Zähigkeit (Viskosität). Laminare Strömung bildet sich z. B. bei langsamem Durchfluss zäher Flüssigkeiten durch Rohre mit kreisförmigem Querschnitt aus. An der Rohrwand haftet d​υ​ ist die Flüssigkeit, die Geschwindigkeit nimmt daher zur Rohrachse hin zu, d​r​ daher negativ (Abb. I-4.20).

r



ʋ=

1 ʋ 2 max

P1

P2 ʋmax

x

l Abb. I-4.20: Laminare Strömung einer langsam fließenden, zähen Flüssigkeit durch ein Rohr mit kreisförmigem Querschnitt.

28 Um die Reibungskraft auf ein Volumenelement dV = dx ⋅ dy ⋅ dz zu berechnen multipliziert man gemäß der bewährten ‚Viskositätshypothese‘ die Komponenten des Tensors der Deformationsgeschwindigkeit mit 2 η. Dadurch ergibt sich der Tensor der Reibungsspannungen. Durch Umrechnung der Oberflächenkräfte auf Volumenskräfte erhält man schließlich die weiter oben (Abschnitt 4.3.2, Gl. I-4.58) für die Navier-Stokes-Gleichung (I-4.59) verwendete Beziehung ΔF​⇀Reibung = η​ ⋅ Δυ​⇀ΔV​.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

219

Es bildet sich ein parabolisches Strömungsprofil aus und für den Flüssigkeitsstrom V​ I​ = (= pro Zeiteinheit durch ein Rohr strömende Flüssigkeitsmenge) gilt das t​ Hagen-Poiseuillesche Gesetz (nach dem Ingenieur Gotthilf Heinrich Ludwig Hagen, 1797–1884 und dem Arzt Jean Louis Marie Poiseuille, 1797–1869):

I​ =

π​ ⋅ R​ 4 ΔP​ ⋅ 8 η​ l​

Hagen-Poiseuillesche Gesetz.

(I-4.107)

Dabei ist R der Rohrradius, l die Rohrlänge, ΔP die Druckdifferenz und η die dynamische Zähigkeit. 29 Die durch ein Rohr strömende Flüssigkeitsmenge ist also zur vierten Potenz des Rohrradius proportional, jeder Millimeter zählt! Beispiel: Der menschliche Blutkreislauf. Dass die in Rohrsystemen strömende Flüssigkeitsmenge zur vierten Potenz des Rohrradius proportional ist, hat auch eine Bedeutung für den Blutkreislauf unseres Körpers: Die Regulation der Blutzirkulation erfolgt durch Variation des Kapillardurchmessers. Bei Muskelbetätigung z. B. erfolgt eine Erweiterung der Kapillaradern und den Blutspeichern Milz und Leber wird Blut entzogen und an die Orte des Verbrauchs geführt. Unser Kapillarsystem hat eine Länge von ca. 5 10 km, das entspricht etwa dem 2,5-fachen Erdumfang. Der Kapillardurchmesser liegt zwischen 5 μm und 30 μm, das Gesamtvolumen des Kapillarsystems ist aber größer als das Blutvolumen von ca. 5 l, da nicht alle Körperregionen gleichzeitig gleichstark mit Blut gefüllt sind. Mit einer mittleren Strömungsgeschwindigkeit υ​ ̅ kann man für den Flüssigkeits2 strom I​ = υ​ ̅ ⋅ R​ π​ setzen und erhält für die Kraft auf die Rohrwand pro Längeneinheit 2 2 2 υ​ ̅ ⋅ R​ π​ ⋅ R​ π​ F​ ΔP​ ⋅ R​ π​ = 8 π​η​υ​ ̅ . = = 8 η​ ⋅ I​ I​ π​ R​ 4

(I-4.108)

Mit Hilfe der Navier-Stokes Gleichung (I-4.59) und einigem mathematischen Aufwand lässt sich der Reibungswiderstand einer Kugel vom Radius r, die sich mit der Geschwindigkeit υ durch eine zähe Flüssigkeit bewegt, näherungsweise berechnen:

⇀ bei der Strömung durch 29 Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass der Wirbelvektor Ω ein horizontales Rohr nicht verschwindet, sondern dass die strömende Flüssigkeit aus geschlossenen Wirbelringen besteht, die normal zur Ausbreitungsrichtung liegen. Diese Rotationsbewegung der Flüssigkeitsteilchen führt zusammen mit der Verzerrungsbewegung zu dem Geschwindigkeitsfeld mit geraden Stromlinien.

220

4 Mechanik deformierbarer Körper

F​⇀r​ = −6 π​η​r​υ⇀​

Stokessches Widerstandsgesetz.

(I-4.109)

Anwendungen dieses Gesetzes (nach Sir George Gabriel Stokes, 1819–1903, irischer Mathematiker und Physiker) finden sich in der Bewegung von Aerosolen (Schwebeteilchen in der Luft) und z. B. von Öltröpfchen bei der Bestimmung der Elementarladung mit der Millikan-Methode (siehe Band III, Kapitel „Elektrostatik“, Abschnitt 1.1.2). b) Turbulenz, Reynoldssche Zahl Wenn die Strömungsgeschwindigkeit einen kritischen Wert übersteigt, reicht der dämpfende Einfluss der Reibung nicht mehr aus und es kommt zur Vermischung der Stromlinien und zur Wirbelbildung, also zur Turbulenz. Turbulente Strömung ist folgendermaßen charakterisiert: – die Ausströmgeschwindigkeit ist nicht mehr proportional zur Druckdifferenz, sondern wächst langsamer an; – die Werte für Strömungsgeschwindigkeit und Druck an einem bestimmten Ort sind zeitlich nicht konstant, sondern schwanken um einen Mittelwert; – die Bahnen der einzelnen Teilchen verlaufen nicht mehr geradlinig, es kommt zu einer Vermischung der Teilchenbahnen. Offensichtlich kann die Position eines Flüssigkeitsteilchens in diesem Fall nicht mehr vorausgesagt werden. Dies ist eine Folge der Nichtlinearität der Eulerschen Bewegungsgleichung, also eine Folge der nichtlinearen Dynamik (siehe Band II, Kapitel „Nichtlineare Dynamik und Chaos“). Der zu erwartende Strömungszustand einer Flüssigkeit, laminar oder turbulent, wird durch eine charakteristische, dimensionslose Größe, die Reynoldssche Zahl (nach dem britischen Physiker Osborne Reynolds, 1842–1912) bestimmt, die durch das Verhältnis der Beschleunigungsarbeit (kinetische Energie) zur Reibungsarbeit gegeben ist: R​e​ =

m​ ⋅ a​ B​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​s​a​r​b​e​i​t​ B​e​s​c​h​l​e​u​n​i​g​u​n​g​s​k​r​a​f​t​ = = = υ​ R​e​i​b​u​n​g​s​a​r​b​e​i​t​ R​e​i​b​u​n​g​s​k​r​a​f​t​ η​ ⋅ A​ l​ 3 ρ​l​ ⋅

= η​ ⋅

l​ t​ 2

l​ 2 ⋅ l​ l​t​

=

ρ​l​ 2 ρ​l​υ​ = = R​e​ η​t​ η​

R​e​ =

l​ ⋅ ρ​ ⋅ υ​ η​

Reynoldssche Zahl.

(I-4.110)

Dabei ist l der Rohrdurchmesser oder eine gewählte charakteristische Länge (z. B. Flügeltiefe) eines umströmten Hindernisses, ρ die Flüssigkeitsdichte, υ die Strömungsgeschwindigkeit und η die Zähigkeit der Flüssigkeit.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

221

Kleines Re bedeutet starke Reibung und es ergibt sich laminare Strömung, großes Re bedeutet Überwiegen der kinetischen Energie und damit Turbulenz und Wirbelbildung. Für den Umschlag von laminarer zu turbulenter Strömung gibt es eine relativ scharfe untere Grenze von Re. Diese kritische Reynoldszahl Rekrit hat je nach Geometrie des um- oder durchströmten Körpers einen experimentell zu bestimmenden Wert. Beim Durchströmen von Rohren liegt er zwischen 1000 und krit 2000. In glatten Rohren gilt Re = 1160. Für das Umströmen von Flügelprofilen krit 6 oder Schiffskörpern gilt andererseits Re ≈ 10 . Die Reynoldssche Zahl hat eine entscheidende Bedeutung bei der Ausführung von Strömungsmessungen an Modellen in Windkanälen. Die Strömungsformen von Original und Modell sind nur dann ähnlich, wenn das Verhältnis von Trägheitskraft zu Reibungskraft, also die Reynoldszahl, in beiden Fällen gleich ist.

4.3.8 Oberflächenspannung und Kapillarität Wie wir gesehen haben, zeigen reale Flüssigkeiten als Folge der Wechselwirkung ihrer Moleküle untereinander und mit den Molekülen anderer Stoffe (z. B. Gefäßoder Rohrwand) eine „innere“ Reibung, die zur Viskosität der Flüssigkeit führen (siehe Abschnitt 4.3.2, Gl. I-4.58 und Abschnitt 4.3.7.2). Diese molekularen Wechselwirkungen (siehe dazu auch den Abschnitt über die chemischen Bindungen in Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.1) werden unter den Begriffen Kohäsion 30 und Adhäsion 31 zusammengefasst. Unter Kohäsion versteht man die attraktive Wechselwirkung 32 zwischen den Molekülen eines Fluids, die mit der Entfernung rasch abnehmen und daher im gasförmigen Zustand vernachlässigbar sind. Die Adhäsion beschreibt den mechanischen Zusammenhalt an einer Grenzschicht zwischen Flüssigkeiten und Feststoffen oder auch zwischen zwei unterschiedlichen Flüssigkeiten (z. B. H2O/Hg), die durch molekulare Wechselwirkungen zwischen den Molekülen dieser beiden Substanzen in der Grenzflächenschicht hervorgerufen wird.

4.3.8.1 Spezifische Oberflächenenergie, spezifische Grenzflächenenergie, Oberflächenspannung, Grenzflächenspannung Die Moleküle an der Oberfläche einer Flüssigkeit oder eines Festkörpers, die an Vakuum oder ein Gas (z. B. Luft) grenzen, erfahren aus der äußeren Hälfte der 30 Nach lat. cohaerere: zusammenhängen. 31 Nach lat. adhaerere: anhaften. 32 Diese Wechselwirkungen sind elektrischer Natur, die Massenanziehung ist im atomaren und molekularen Bereich vernachlässigbar. Im astronomischen Bereich sind dagegen die elektrischen Wechselwirkungen (van der Waals WW ∝ r−6, siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.1.1.3) wegen der hier riesigen interatomaren Abstände gegen die Massenanziehung zu vernachlässigen.

222

4 Mechanik deformierbarer Körper

Wirkungssphäre der Molekularkräfte (van der Waals Kräfte mit Epot ∝ r−6, siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.1.1.3) von ca. 100 Moleküldurchmessern praktisch keine Anziehungskräfte, sodass auf jedes Oberflächenmolekül ein Zug nach innen resultiert. Um also ein Molekül vom Inneren an die Oberfläche zu bringen, ist gegen diesen Zug eine reversible Arbeit aufzuwenden. Die Oberfläche ist daher Sitz von potenzieller Energie, die pro Flächeneinheit als spezifische Oberflächenenergie 33 (specific surface energy = surface free energy), σ bezeichnet wird. 34 −2 −1 Einheit der spezifischen Oberflächenenergie σ: [σ] = Jm = Nm . Als „prakti−3 −2 −3 −1 sche“ Einheit, die handlichere Zahlen ergibt, wird 10 Jm = 10 Nm verwendet. σ ist – unabhängig von der Gestalt der Oberfläche – eine für jede Substanz positive, temperaturabhängige Größe. −3

Werte von σ in 10

−2

Jm

Wasser Schwefelkohlenstoff Essigsäure Tetrachlorkohlenstoff Benzol Mineralöl Quecksilber Glas Acrylglas (= Plexiglas) Teflon Aluminium Kupfer Eisen Stahl

72,82 32,4 27,7 26,7 29,2 36 474 300−500 36 18−20 1140 ± 200 1710 ± 100 2150 ± 320 29−50

20 °C 20 °C 20 °C 20 °C 20 °C 20 °C 20 °C 20 °C 20 °C 20 °C 200 °C 1000 °C 1380 °C 20 °C

fest fest fest fest

33 Thermodynamisch exakt: spezifische freie Oberflächenenthalpie, das ist die Arbeit, die erforder2 lich ist, um reversibel bei konstantem Druck und konstanter Temperatur die Oberfläche A = 1 m zu erzeugen. 34 Ein Schnitt senkrecht zur Oberfläche zeigt, dass auf dieser an beiden Seiten des Schnitts Moleküle vorhanden sind (etwa halb so viele wie im Inneren), die einen Zusammenhalt (eine Normalspannung als Zug- oder Druckspannung) parallel zur Oberfläche bewirken, der sich als Oberflächenspannung bemerkbar macht. In zur Oberfläche senkrechter Richtung fehlen den unmittelbaren Oberflächenmolekülen ihre „molekularen Partner“, sodass in dieser Richtung keine Normalspannung vorhanden ist – sie wächst aber nach innen bis zum Verschwinden der Grenzschicht in einer Tiefe von ca. 100 Moleküldurchmessern an. Die Kraftwirkung auf ein Molekül in der Oberflächenschicht ist also – im Gegensatz zum Flüssigkeitsinneren – richtungsabhängig; die Normalspannung in der Flüssigkeitsoberfläche ist ein zweistufiger Tensor mit zwei ungleichen Hauptwerten (Diagonalelement nach Hauptachsentransformation), im Inneren der Flüssigkeit sind die Hauptwerte gleich, das Tensorellipsoid wird zur Kugel. Im Gegensatz zu elastischen Membranen (z. B. aus Gummi) ändert sich die Oberflächenspannung bei einer Verzerrung nicht! Allerdings wird dann der Krümmungsdruck (siehe Abschnitt 4.3.8.2) wichtig (vgl. einen Wasserläufer auf der Wasseroberfläche).

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

223

Die Werte von σ für feste Stoffe schwanken erheblich wegen unterschiedlicher Reinheit und Bearbeitung der Oberfläche. G

L B

A h

Lamelle (Fläche A)

F Flüssigkeitsoberfläche Flüssigkeit

Abb. I-4.21: Drahtbügelmethode nach Lenard zur Messung der spezifischen Oberflächenenergie von Flüssigkeiten.

σ von Flüssigkeiten kann z. B. nach Lenard 35 mit Hilfe einer Waage aus der Zugkraft F einer Lamelle ermittelt werden, die an einem dünnen (∅ ≈ 5 μm) horizontalen Drahtstück AB der Länge L (≈ 4 cm) hängt. Das Drahtstück ist in einem rechteckigen Rahmen montiert (Gesamtgewicht eingetaucht: G), der nach dem Eintauchen in die Flüssigkeit etwas hochgezogen wird (Abb. I-4.21). Es gilt (vgl. weiter unten Gl. I-4.116) F​ , σ​ = (I-4.111) 2 L​ da die Lamelle ja zwei Oberflächen besitzt. 36 Für die Zugkraft F gilt: F = G (mit Lamelle) − [G (ohne Lamelle + Lamellengewicht 37)]

(I-4.112)

Grenzen zwei kondensierte Phasen α und β aneinander, dann ist auch in diesem Fall die Trennfläche Sitz potenzieller Energie, die jetzt von den beiden Stoffen α und β abhängt und pro Flächeneinheit als spezifische Grenzflächenenergie σαβ

35 Philipp Eduard Anton Lenard, 1862–1947, österreichisch-ungarischer Physiker; für seine Arbeiten über Kathodenstrahlen erhielt er 1905 den Nobelpreis. 36 Wenn der Bügel bis zur Höhe h über die Flüssigkeitsoberfläche gehoben wird, ist die verrichtete F​ Arbeit W​ = F​ ⋅ h​ = σ​ ⋅ 2 A​ = σ​ ⋅ 2 L​h​ ⇒ σ​ = (F ist ja unabhängig von A, also auch von h, vgl. 2 L​ Fußnote 33). 37 Dieses kann vernachlässigt werden, wenn man – wie üblich – kurz vor dem Abreißen der Lamelle misst, wenn sie schon extrem dünn ist.

224

4 Mechanik deformierbarer Körper −2

bezeichnet wird (Einheit wieder [σαβ ] = Jm ). Auch hier (siehe Fußnote 34) folgt wieder für den Rand der Grenzfläche eine einwärts wirkende, die Grenzfläche zu α​ β​ α​ β​ −2 −1 verkleinern suchende Grenzflächenspannung F​ C​ = σ​α​β​ mit [F​ C​ ] = Jm = Nm . Sie ist immer kleiner als die größere der beiden kombinierenden Oberflächenspannungen. Anmerkung: Die spezifische Grenzflächenenergie σαβ hat in der Festkörper- und Materialphysik eine große Bedeutung, da die technisch wichtigen Werkstoffe ein mehrphasiges Gefüge besitzen, also Ausscheidungen (precipitates, „Teilchen“) enthalten, die eine sehr große innere Oberfläche darstellen (siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.2.6.4). Damit ist eine große innere Energie verbunden, die bei genügend hoher Temperatur – beim Einsetzen der Atomdiffusion – dadurch abgebaut wird, dass durch Diffusionsprozesse die „Teilchen“ wachsen, ihre Anzahl aber entsprechend verkleinert wird, wodurch die innere Oberfläche und damit auch die innere Energie abnehmen. Dieser Prozess wird als Vergröberung bezeichnet – er ist meist unerwünscht, da er zu einer Entfestigung der Werkstoffe führen kann. Beispiel: Spreitung, Benetzung, Nichtbenetzung. Ein Flüssigkeitstropfen (σ​Fl ) wird im Schwerefeld auf eine ebene, horizontale Platte (σ​Fl,fest ) gebracht; die Grenzflächenenergie zwischen Flüssigkeit und Platte ist σ​Fl,fest . Längs der aus Symmetriegründen kreisförmigen Begrenzungslinie bildet sich im Kräftegleichgewicht ein Randwinkel θ aus, dessen Größe zur Einteilung der Erscheinungen dient. θ=0 Spreitung = vollständige Benetzung Beispiel: Wasser auf Glas

0 < θ ≤ 90°

90° < θ ≤ 180°

Benetzung

Nichtbenetzung

z.B.: Mineralöl auf Stahl oder Plexiglas σFl

Flüssigkeit (σFl )

σfest

z.B. Quecksilber auf Glas σFl θ

θ σFl, fest

σFl, fest

σfest

Feststoff (σfest )

Es gilt (vgl. z. B. mittleres Bild): σ​fest = σ​Fl,fest + σ​Fl cos θ​

Youngsche Gleichung,

(nach Thomas Young 1773–1829, englischer Augenarzt und Physiker). Es folgt, dass für σ​fest > σ​Fl + σ​Fl,fest kein Gleichgewicht längs der Randlinie möglich ist und die Flüssigkeit bis zu einer monomolekuaren Schicht auseinandergezogen wird (Spreitung) mit θ = 0.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

225

Der Randwinkel θ ist die bestimmende Größe für die in allen Lebensbereichen wichtige Kapillarität (siehe Abschnitt 4.3.8.3). Für große Tropfen nimmt die Oberfläche in genügender Entfernung von der Randkurve die horizontale Gestalt einer Äquipotenzialfläche im Schwerefeld an. Betrachtet man eine Flüssigkeitsmenge, die keinen äußeren Kräften unterworfen ist, so nimmt diese die Form einer Kugel an, da sie in diesem Fall die kleinste mögliche Oberfläche, also die geringste potenzielle Energie besitzt. Ein Beispiel dafür sind fallende Wassertropfen. Die potenzielle Energie der Flüssigkeitsmenge enthält daher einen Anteil, der zur Oberfläche und einen Anteil, der zum Volumen proportional ist. Die Oberflächenenergie wird umso wichtiger, je kleiner das Volumen, also je kleiner die betrachtete Flüssigkeitsmenge ist. Für die Oberflächenenergie einer beliebigen Fläche A können wir also ansetzen: O​

E​ pot = σ​ ⋅ A​ .

(I-4.113)

Die Proportionalitätskonstante σ ist die spezifische Oberflächenenergie (siehe Fuß−2 note 33) mit der Einheit [σ] = Jm . Wir wollen jetzt zeigen, dass aufgrund der Oberflächenenergie (bzw. der Grenzflächenenergie) längs eines beliebigen Randes der Oberfläche (Grenzfläche) eine konstante Zugkraft normal zur Randkurve wirkt. Dazu grenzen wir auf einer Flüssigkeitsoberfläche ein Stück ab, das durch die geschlossene Kurve C begrenzt wird. Bei einer Vergrößerung der Oberfläche geht diese Kurve C in C′ über (Abb. I-4.22).



δn



ds FC ds

δA

C C′ Abb. I-4.22: Vergrößerung eines Stücks der Flüssigkeitsoberfläche. Die Randkurve C geht in C′ über.

Die Arbeit, die zur Vergrößerung der Oberfläche durch die differentielle senkrechte Verschiebung δ​n⇀von ​ C notwendig ist, muss gegen eine Kraft pro Längeneinheit F​⇀C​ verrichtet werden, die entlang der Randkurve C senkrecht zu dieser angreift und die −1 Oberfläche aus energetischen Gründen zu verkleinern sucht (Einheit: [FC] = Nm ). Verschiebt man ein Linienelement ds der Randkurve um δ​n⇀in ​ der Oberfläche in Richtung der Normalen von C, so beträgt die gesamte zur Verschiebung von C verrichtete Arbeit δW

226

4 Mechanik deformierbarer Körper

δ​W​ = ∮F​C​ d​s​δ​n​

(I-4.114)



C

mit F​⇀C​ // δ​n⇀. ​ Diese Arbeit steckt im Oberflächenzuwachs δ​A​ = ∮d​s​d​n​ mit d​s⇀⊥ ​ δ​n⇀​ ​ C als potenzielle Energie. Daraus folgt δ​W​ = ∮ σ​d​s​d​n​ .

(I-4.115)



C

Die beiden Beziehungen Gl. (I-4.114) und Gl. (I-4.115) für δW gelten für alle Kurven C. Daher folgt F​C​ = σ​ . 38

(I-4.116)

Ebenso wie σ ist auch FC eine längs der Kurve C konstante Größe, die nicht von der Ausdehnung der umrandeten Fläche A abhängt. Die Randspannung FC (Kraft pro Längeneinheit) längs der Begrenzungslinie C der Oberfläche A ist also numerisch der spezifischen Oberflächenenergie σ gleich; daher wird σ auch als Oberflächenspannung bezeichnet und synonym zu spezifische Oberflächenenergie verwendet. Die Oberflächenspannung ist also (auch) −1 eine Kraft pro Längeneinheit (Einheit: [FC ] = Nm ).

4.3.8.2 Normaldruck gekrümmter Oberflächen Betrachten wir zunächst eine zylindrische, also einfach gekrümmte Oberfläche und die Kräfte, die an einem Flächenelement ds1 ds2 angreifen, das von zwei Mantellinien (ds1 ) und von zwei dazu senkrechten Kurven (ds2 ) begrenzt wird (Abb. I-4.23). Die Kräfte, die an den beiden Linienelementen ds2 angreifen, liegen in der Oberfläche parallel zu den Mantellinien. Sie erzeugen daher keine Kraft senkrecht zur Oberfläche. Die an den Linienelementen ds1 angreifenden Kräfte schließen dagegen den Winkel dφ miteinander ein und erzeugen daher für kleine Winkel dφ d​φ​ die Kraft d​F1​ = 2 F​C​ d​s1​ sin = F​C​ d​s1​ d​φ​ . Ist R1 der Krümmungsradius der zylindri2 d​s2​ schen Oberfläche, so gilt mit d​φ​ = R​1 d​F1​ = F​C​

F​C​ d​A​ σ​d​A​ d​s1​ d​s2​ = = R​1 R​1 R​1

(I-4.117)

38 Diese Gleichung wurde bereits bei der Besprechung der Drahtbügelmethode verwendet (Gl. I-4.111).

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

227

FC ds2

dA ds1 dφ ds2 FC ds1

dF1

FC ds2

FC ds1

R1 dφ

Abb. I-4.23: Zur Ableitung des Krümmungsdrucks.

und damit für den Druck („Krümmungsdruck“) P​1 =

d​F​1 σ​ = . d​A​ R​1

(I-4.118)

Im Falle einer doppelt gekrümmten Fläche wird das Flächenelement durch zwei Paare benachbarter Hauptkrümmungslinien begrenzt. Da die beiden Hauptkrümmungslinienpaare aufeinander normal stehen, kann die obige Betrachtung einer zylindrische Oberfläche für jedes das Flächenelement begrenzende Linienpaar durchgeführt werden und die sich ergebende, gesamte Kraft normal zum Flächenelement wird 1 1 d​F​ = σ​ ( + )d​A​ . R​1 R​2

(I-4.119)

Damit ergibt sich für den Normaldruck 1 1 P​ = σ​ ( + ) . R​1 R​2

(I-4.120)

R1 und R2, die beiden Hauptkrümmungsradien, sind positiv zu nehmen, wenn der Krümmungsmittelpunkt im Inneren der Flüssigkeit liegt. Die Krümmungsdruckkraft weist immer von der konkaven Seite der Oberfläche weg. Flüssigkeitslamellen, z. B. eine Seifenblase, bestehen aus zwei eng benachbarten parallelen Oberflächen. Sind keine äußeren Kräfte vorhanden (Vernachlässigung der Schwerkraft), dann nimmt jeder Tropfen und auch die Blase aus Symme-

228

4 Mechanik deformierbarer Körper

triegründen Kugelgestalt an. Für eine Seifenblase gilt daher R​1 = R​2 = R​ und es herrscht im Inneren der Druck 4 σ​ 39 1 1 . P​ = 2 σ​ ( + ) = R​ R​ R​

(I-4.121)

Für einen Flüssigkeitstropfen mit nur einer Oberflächenschicht gilt P​ =

2 σ​ . R​

(I-4.122)

Sind die Tröpfchen sehr klein (Nebel), dann wird der Innendruck P und mit ihm auch der Dampfdruck PD groß (siehe dazu Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.3.3.1). Für H2O wird bei 2 R​ = 1 μm der Innendruck P = 2,92 bar = 5 2,92 ⋅ 10 Pa = 292 kPa und bei T = 20 °C der Dampfdruck P​D​ = 2,95 PD​,0 (PD,0 = Dampfdruck bei T = 20 °C und P = 1 bar), was für die Keimbildung von Bedeutung ist. Für begrenzte Flüssigkeitslamellen (z. B. innerhalb eines beliebig verbogenen Drahtringes ausgespannt) ist der Druck auf beiden Seiten der Lamelle gleich und somit die Druckdifferenz in jedem Punkt der Fläche gleich Null, also 1 1 P​ = σ​ ( + ) = 0 . Daraus folgt unmittelbar R​1 = −R​2 . Eine derartige Fläche R​1 R​2 heißt Minimalfläche, sie besteht nur aus Sattelpunkten.

4.3.8.3 Kapillarität In der Praxis wird eine Flüssigkeit meist von einer Gefäßwand begrenzt, die aus der Flüssigkeitsoberfläche eine Randkurve ausschneidet (Abb. I-4.24). An der Berührungsfläche der Flüssigkeit mit der Wand bewirkt die Adhäsion eine Grenzflächenspannung σWF , die vom Material der Wand und von der Flüssigkeit abhängt. 40 Im Gleichgewicht müssen die in der Wand liegende Komponente

39 Dieser Druck folgt auch aus der Energieerhaltung bei der reversiblen isotherm-isobaren Vergrößerung (siehe dazu Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.3.1.2) der kugelförmigen Blase 2 um das Volumen d​V​ = 4 R​ π​dR ​ ​ durch Einblasen des Luftvolumens dV beim Druck P, wobei die Ar2 beit P​dV ​ ​ = P​4 R​ π​dR ​ ​ verrichtet wird. Diese Arbeit geht nicht verloren, da keine dissipativen Kräfte vorhanden sind, und wird als innere Energie U​0 = σ​dA ​ ​ in der um d​A​ = 8 R​π​d​R​ vergrößerten Oberflä4 σ​ 2 . (Die innere Volumsenergie der Luft UV che gespeichert. ⇒ P​ ⋅ 4 R​ π​dR ​ ​ = 2 σ​8 R​π​dR ​ ​ ⇒ P​ = R​ ändert sich ja bei diesem Prozess nicht! UV dV wird durch das isobar-isotherme Einblasen geliefert). 40 Streng genommen ist auch die Oberflächenspannung einer Flüssigkeit eine Grenzflächenspannung zu ihrem eigenen Dampf.

4.3 Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden)

229

der Oberflächenspannung σF cos θ der Flüssigkeit und die Grenzflächenspannung σWF der Oberflächenspannung entlang der Wand σW das Gleichgewicht halten. 41

Meridiankurve σF cos θ

σW σWF

σF

σW

Meridiankurve

θ σF cos θ

θ

σF σWF

Abb. I-4.24: Randwinkel θ einer benetzenden (links, z. B. Plexiglas-Mineralöl) und einer nicht benetzenden Flüssigkeit (rechts, z. B. Glas-Hg).

Ist θ der Randwinkel zwischen Wand und Flüssigkeit, so muss im Gleichgewicht gelten (vgl. die Youngsche Gleichung in Abschnitt 4.3.8.1, Beispiel Spreitung, Benetzung, Nichtbenetzung): (I-4.123) σ​F​ cos θ​ + σ​W​F​ = σ​W​ bzw. cos θ​ =

σ​W​ − σ​W​F​ . σ​F​

(I-4.124)

Im Fall einer benetzenden Flüssigkeit mit dem Randwinkel θ​ < 90° (⇒ cos θ​ > 0) ist σ​W​ − σ​W​F​ > 0 . Gilt σ​W​ − σ​W​F​ > σ​F​ , so besteht nach Gl. (I-4.124) in der Randkurve kein Gleichgewicht und die Flüssigkeit überzieht (benetzt) die ganze Wand: Die Flüssigkeit bildet auf der ganzen Wand einen dünnen Film und es gilt θ​ = 0 . Auch bei einer senkrechten Wand ist die gegen die Schwerkraft zu verrichtende Arbeit vernachlässigbar klein, wenn der Film genügend dünn ist. Die Gestalt der Meridiankurve (Oberflächenprofil) wird vom Randwinkel θ aus1 1 gehend durch das Zusammenwirken des Krümmungsdrucks P​ = σ​ ( + ) (siehe R​1 R​2 Abschnitt 4.3.8.2, Gl. I-4.120) und des hydrostatischen Drucks (Abschnitt 4.3.3, Gl. I-4.64) P​stat = ρ​g​z​ bestimmt. In einiger Entfernung von der Wand ist nur mehr der hydrostatische Druck wirksam und die Oberfläche wird eine Äquipotenzialfläche im Schwerefeld, also eine Horizontalebene.

41 Die Normalkomponente wird von der festen Wand kompensiert.

230

4 Mechanik deformierbarer Körper

In einem engen Rohr führt dies bei einer benetzenden Flüssigkeit zum Ansteigen der Flüssigkeitssäule gegenüber dem Flüssigkeitsniveau außerhalb des Rohres, bei einer nicht benetzenden Flüssigkeit zu einer Depression der Flüssigkeitssäule. In einem engen Rohr ist der Meniskus (Flüssigkeitsoberfläche) in guter Näherung kugelförmig und daher gilt für den zum Kugelmittelpunkt gerichteten Normaldruck der Flüssigkeitsoberfläche nach Abschnitt 4.3.8.2, Gl. (I-4.122) mit R​1 = R​2 = R​ cos θ: P​R​ =

2 σ​ cos θ​ . R​

(I-4.125)

Dieser Druck hält dem von der Gewichtskraft der Flüssigkeitssäule erzeugten Druck P​G​ = ρ​F​ g​h​ (ρF … spezifisches Gewicht der Flüssigkeit, g … Betrag der Erdbeschleunigung, h … Steighöhe der Flüssigkeitssäule) das Gleichgewicht.



h​ =

2 σ​ cos θ​ R​ρF​ ​ g​

Steighöhe bzw. Kapillardepression.

(I-4.126)

Die maximale Steighöhe stellt sich also bei vollständig benetzenden Flüssigkeiten (θ = 0°) ein: h​max =

2 σ​ 42 . R​ρ​F​ g​

(I-4.127)

h bzw. hmax können zur Messung der Oberflächenspannung (= spezifische Grenzflächenenergie) σ verwendet werden. Zusammen mit der Osmose (gerichteter Fluss von Molekülen durch eine halbdurchlässige Trennschicht) ist die Kapillarität für das Hochsteigen der Pflanzensäfte und den Wassernachschub von den Wurzeln verantwortlich. Die Saugwirkung von Papier, Dochten und Schwämmen ist ebenfalls eine Folge der Kapillarität.

42 Diese Beziehung folgt auch aus dem Energiesatz: Zum Heben der Flüssigkeitssäule der Län2 2 2 ge h (m​ = ρ​F​ R​ π​h​ ) vom Bezugsniveau bis zur Höhe h ist die Arbeit W​ = m​g​h​ = ρ​F​ g​R​ π​h​ aufzuwenden. Gewonnen wird die Energie, die durch die Reduzierung der Flüssigkeitsoberfläche um 2 σ​ 2 2 . A​ = 2 R​π​h​ frei wird. ⇒ ρ​F​ g​R​ π​h​ = 2 R​π​h​σ​ ⇒ h​max = R​ρF​ ​ g​

Zusammenfassung

231

Beispiel: Steighöhe in einem engen Rohr. Druck in Punkt 2 = = Druck im Bezugsniveau = P0

P0 2R R r = _____ cos θ

P0 – Pr + ρF gh = P0

r θ

Pr 2σ 2σ cos θ h = ____ = ____ = ________ ρF g rρF g RρF g

Pr

θ

h

P0 = Luftdruck 2 Bezugsniveau

Für eine nichtbenetzende Flüssigkeit wird in der allgemeinen Gleichung (I-4.126) cos θ < 0, h wird negativ (Kapillardepression).

Zusammenfassung 1. Wir unterscheiden 4 Aggregatzustände der uns umgebenden Materie, die drei klassischen fest, flüssig und gasförmig und den plasmaartigen Aggregatzustand. Sie sind eine Folge der Stärke der interatomaren Wechselwirkung im Verhältnis zur kinetischen Energie ihrer Bestandteile, also zur Temperatur. 2. Die elastische Verformung fester Körper unter dem Einfluss äußerer Spannungen kann im allgemeinen Fall anisotroper Stoffe (Kristalle) durch die allgemeine Form des Hookeschen Gesetzes beschrieben werden 6

σ​μ​ = ∑C​μ​ν​ ⋅ ε​ν​ . ν​ = 1

Die σμ sind die 6 Komponenten des symmterischen Spannungstensors, die εν sind die 6 Komponenten des symmetrischen Deformationstensors und Cμν ist der symmetrische Elastizitätstensor, der für die niederste Kristallsymmetrie (triklin) 21 unabhängige elastische Konstanten enthält. Im kubischen Kristall-

232

4 Mechanik deformierbarer Körper

system sind nur mehr 3 Konstanten unabhängig (C11, C12, C44 ), im isotropen Festkörper nur mehr 2 (C11, C44 ). Vier elastische Konstanten sind für das Experiment von besonderer Bedeutung:

Der Elastizitätsmodul E

d​σ​ E​ = d​ε​

(σ … Normalspannung, Δl​ ε​ = ), l​

der Schubmodul G

G​ =

d​τ​ d​α​

(τ … Schubspannung, α … Scherwinkel),

die Poissonzahl μ

Δd​ d​ μ​ = Δl​ l​

und der Kompressionsmodul K bzw. die Kompressibilität κ

ΔV​ 1 = − ΔP​ = −κ​ ⋅ ΔP​ . V​ K​

3.

In idealen Flüssigkeiten und Gasen (Fluiden) treten keine Scherkräfte auf, der Schubmodul G = 0. 4. Die Strömung (Stromdichte: j​⇀= ρ​ ⋅ υ​⇀) in Fluiden wird durch 3 Felder beschrieben: das Dichtefeld ρ​ (r​⇀,t​), das Geschwindigkeitsfeld υ​⇀(r​⇀,t​) und das Druckfeld P​ (r​⇀,t​) . Zur Lösung stehen 3 Gleichungen zur Verfügung: Die Kontinuitätsgleichung

∂​ρ​ + div j​⇀= 0 , ∂​t​

die Eulergleichung

ρ​ (

∂​υ⇀​ ⇀P​ + ρ​ ⋅ g​⇀ ⇀)υ​⇀) = −∇ + (υ​⇀⋅ ∇ ∂​t​

und die polytrope Zustandsgleichung

5.

P⋅V n = const.

mit n als Polytropenexponent (n​ ≥ 0 , abhängig von der vorliegenden Zustandsänderung). Als Anwendung ergaben sich: Der hydrostatische Druck

P​ = −ρ​0 ⋅ g​ ⋅ z​ + P​0 ,

Zusammenfassung

233

ρ​0 ⋅ g​ ⋅ (z​ − z​0 ) ), P​0

die barometrische Höhenformel

P​ (z​) = P​0 exp​ (−

die Bernoulli-Gleichung

ρ​0 2 υ​ + P​ + ρ​0 g​h​ = const. 2

und die Potenzialströmung

ΔΦ = 0 .

6. Für die Wirbelströmung einer idealen Flüssigkeit gilt die Wirbelgleichung ⇀ ∂​Ω ⇀ × υ​⇀) = 0 . ⇀ × (Ω +∇ ∂​t​ Die Strömungsverhältnisse bei Wirbelströmung werden in folgenden Sätzen zusammengefasst: ⇀ ∂​Ω = 0 , Wirbel können weder entstehen noch vergehen; ∂​t​ ​ zeitlich konstant (Thomsonscher Satz). die Zirkulation Γ​ = ∫υ​⇀d​s⇀ist C​

Helmholtzsche Wirbelsätze: ⇀ a) div Ω = 0 , es gibt weder Quellen noch Senken für Wirbel; ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ Q​u​e​l​l​e​r​g​i​e​b​i​g​k​e​i​t​ f​ü​r​ W​i​r​b​e​l​

7.

b) die Wirbelstärke WA = Ω⋅A der Wirbelfäden ist zeitlich und örtlich konstant; c) die Wirbelfäden bestehen dauernd aus denselben rotierenden Flüssigkeitsteilchen. In zähen Fluiden gilt das Hagen-Poiseuillesche Gesetz für den FlüssigkeitsV​ strom I​ = t​

I​ =

π​ ⋅ R​ 4 ΔP​ ⋅ , 8 η​ l​

das wichtig für die Blutzirkulation unseres Körpers ist. 8. Der Reibungswiderstand eines kugelförmigen Teilchens beträgt F​⇀R​ = −6 π​η​R​υ​ .

234 9.

4 Mechanik deformierbarer Körper

Ob bei einer Strömung laminares oder turbulentes Strömungsverhalten vorliegt, kann durch Bestimmung der Reynoldsschen Zahl abgeschätzt werden

R​e​ =

r​ ⋅ ρ​ ⋅ υ​ . η​

In glatten Rohren gilt für den Umschlag von laminarer zu turbulenter Strökrit mung Re = 1160.

5

Übungen: 1. a) Zeige, dass die Volumenänderung eines Stabes bei einem einachsigen Zugversuch durch ΔV /V = σ/E⋅(1 − 2 μ) gegeben ist, wobei σ die Zugspannung, E der Elastizitätsmodul und μ die Poissonsche Querkontraktionszahl ist. b) Zeige, dass für eine isostatische = allseitige Kompression mit dem Druck P gilt ΔV /V = −3 P/E⋅(1 − 2 μ). 2.

Gegeben sei ein Verbundwerkstoff, der aus lamellenförmigen Phasen mit den elastischen Dehnungsmoduln (Young’s moduli) E1 und E2 und gleicher Poissonscher Querkonzentrationszahl μ besteht. Überlege den effektiven Dehnungsmodul Eeff , wenn der Werkstoff wie in der Abbildung in der Art a) bzw. b) belastet wird. Wie ist das Verhalten in beiden Fällen, wenn eine Phase elastisch wesentlich weicher ist als die andere, z. B. E1 ≫ E2 . (Im Fall a) wird angenommen, dass die Deck- und die Grundfläche auch nach der Belastung eben bleiben). b)

a)

F

d D

F

Zusammenfassung

3.

235

Eine massive zylindrische Stahlsäule ist 3,5 m lang und hat einen Durchmesser von 10 cm. Wie groß ist ihre Längenabnahme, wenn sie eine Last von 11 80 t trägt? Ihr Dehnungsmodul betrage E = 2,20⋅10 Pa. 10 4. Der Kompressionsmodul K von Quecksilber beträgt 2,8⋅10 Pa. Berechne 3 die Volumenkontraktion von 1600 cm Quecksilber, wenn es einem Druck 6 von 1,4⋅10 Pa unterworfen wird. 5. Anwendung der Bernoulli-Gleichung: Wenn Wasser schnell strömt, dann kann der Druck so weit erniedrigt werden, dass er kleiner als der Gleichgewichtsdampfdruck des Wassers wird. In diesem Fall bilden sich Dampfblasen. Dieses als Kavitation bekannte Phänomen ist in der Schiffstechnik unerwünscht, da es zur Verminderung des Wirkungsgrades, zu Vibrationen und zu Beschädigungen z. B. an den Spitzen schnell drehender Schiffsschrauben führt. Wie groß muss die Strömungsgeschwindigkeit sein, damit in 2 m Tiefe 3 Kavitation auftritt? (Dichte von Wasser: 1000 kg/m , Gleichgewichtsdampfdruck P​H2 O = 23,3 mbar bei 20 °C; auf der Wasseroberfläche laste eine Stan5 dardatmosphäre = 1 bar = 10 Pa). 6. Ein Stück Glasröhre, das einen äußeren Durchmesser von 4 cm und einen inneren Durchmesser von 3,5 cm besitzt, steht senkrecht mit einem Ende in Wasser eingetaucht. Wie groß ist die nach unten gerichtete Kraft auf die Röhre als Folge der Oberflächenspannung? Die Oberflächenspannung von Wasser gegen Luft beträgt σ = 0,074 N/m. Annahme: Das Wasser benetzt das Glas vollständig und die Oberflächenspannung Wasser–Glas ist vernachlässigbar. −3 7. Ein Fass mit dem Durchmesser von 1 m ist mit Glyzerin ( ρF = 1260 kg m ) gefüllt. Dessen Viskosität wird dadurch bestimmt, dass man eine Stahlkugel −3 mit dem Durchmesser 2 r = 6 mm ( ρs = 7800 kg m ) im Glyzerin sinken −1 lässt und die konstante Sinkgeschwindigkeit von υ = 9 cm s misst. Wie groß ist die Viskosität η?

236

4 Mechanik deformierbarer Körper

Anhang 1 Gleichgewicht im elastischen Körper: Grundgleichung der Elastostatik Wir betrachten ein endliches Volumen V im isotropen elastischen Körper (Abb. I-4.25):



σdf dV



n

 

df = ndf



V

fV dV

O Abb. I-4.25: Endliches Volumen V in einem isotropen elastischen Körper.

Im Inneren wirken auf jedes Volumenelement dV die Massenkräfte (z. B. die 3 Schwerkraft im Erdschwerefeld) d​F⇀​ = f​⇀V​ d​V​ ( f​⇀V​ … Kraftdichte, [ fV ] = N/m ) und an der Oberfläche O auf jedes Oberflächenelement df die Spannungskräfte σ​⇀d​f​ (im Inneren annullieren sich alle Spannungskräfte an den Oberflächen der Volumenelemente dV). Im statischen Gleichgewicht (GG) muss die Summe aller Kräfte Null sein, daher gilt ∫f​⇀ V​ d​V​ V​

+ ∮ σ​⇀d​f​ = 0 .

(I-4.128)

O​

Die Spannung σ​⇀auf der Oberfläche im Flächenelement df mit der Normalen n​⇀folgt aus dem Spannungstensor σ​ ̃ (Abschnitt 4.2.4, Gl. (I-4.30)) σ​⇀= σ​ ̃ ⋅ n​⇀= (σ​ ⇀x​ + (τ​ ⇀y​ + 1 n​x​ + τ​6 n​y​ + τ​5 n​z​ ) e​ 6 n​x​ + σ​2 n​y​ + τ​4 n​z​ ) e​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ = P​⇀1 ⋅n​⇀

= P​⇀2 ⋅n​⇀

⇀z​ . + (τ​ 5 n​x​ + τ​4 n​y​ + σ​3 n​z​ ) e​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

(I-4.129)

= P​⇀3 ⋅n​⇀

Damit folgt für die x-Komponente von Gl. (I-4.128):

∫f​ V​x​ d​V​ V​

+ ∮ P​⇀1 ⋅ n​⇀⋅ d​f​ = ∫f​ V​x​ d​V​ + ∮ P​⇀1 ⋅ d​f⇀ ​ ⏟ = O​

V​

O​

(I-4.130) ∫f​ V​x​ d​V​

G​a​u​ß​s​c​h​e​r​ V​ S​a​t​z​

+ ∫div P​⇀1 d​V​ = 0 V​

Anhang 1 Gleichgewicht im elastischen Körper: Grundgleichung der Elastostatik

237

und damit ∂​σ​1 ∂​τ​6 ∂​τ5​ + + =0 f​V​x​ + div P​⇀1 = f​ V​x​ + ∂​x​ ∂​y​ ∂​z​

(I-4.131)

sowie zwei analoge Gleichungen für die y- und z-Koordinaten. Werden in diesen drei Gleichungen die Spannungen (σi , τi ) unter Benützung des Hookeschen Gesetzes durch die Verzerrungen (εi , γ i ) bzw. die Verschiebungen s​⇀= {u​,v​,w​} = ε​ ̃ ⋅ r​⇀ausgedrückt, so ergibt sich schließlich 43 die fundamentale Beziehung zwischen der Kraftdichte f​⇀V​ und den Verschiebungen s​⇀= {v​,υ​,w​} zu f​⇀V​ +

E​ μ​ {Δs​⇀+ grad div s​⇀} = 0 2(1 + μ​) 1 − 2 μ​

(I-4.132)

Grundgleichung der Elastostatik . 44 Ist die äußere Kraftdichte f​⇀V​ vorgegeben, so können mit Gl. (I-4.132) unter Berücksichtigung der Randbedingungen die Verschiebungen s​⇀berechnet werden.

43 Die Komponenten des Deformationstensors ε​ ̃ können aus den Verschiebungen s​⇀= {u​,υ​,w​} nach Gl. (I-4.38) berechnet werden. Damit wird die Dimension des zweiten Terms der nachfolgenden N​ m​ N​ [F​ ] Gl. (I-4.132) zu ⋅ = = = [ f​V​ ] und stimmt daher mit dem ersten Term, der Kraftdichte, 2 2 3 [V​ ] m​ m​ m​ überein. 44 Gl. (I-4.132) ist der statische Spezialfall der allgemeinen Grundgleichung der Elastokinetik: 2 E​ μ​ ∂ s​⇀ grad div s​⇀} = ρ​ f​⇀V​ + {Δs​⇀+ . Das ist die bestimmende Gleichung der linearen 2 2 (1 + μ​) 1 − 2 μ​ ∂t​ Mechanik elastischer Körper, die auch die Wellenausbreitung in elastischen Medien beschreibt. Genauere Darstellung in H. Stephani und G. Kluge, Theoretische Mechanik; Punkt- und Kontinuumsmechanik. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1995.

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves) Einleitung: Mechanische Schwingungen, die sich als Wellen in einem Medium im Raum ausbreiten können, stellen ein fundamentales Kapitel der Mechanik dar. Im Gegensatz zu den hier untersuchten mechanischen Wellen breiten sich elektromagnetische Wellen ohne vermittelndes Medium im leeren Raum aus (Band III, Kapitel „Wechselstromkreis und elektromagnetische Schwingungen und Wellen“). Die einfachste Schwingungsform stellt der (ungedämpfte) „Harmonische Oszillator“ dar: Ein Massenpunkt wird aus der Ruhelage ausgelenkt und führt nun fortwährend harmonische Schwingungen aus, wenn auf ihn nur eine Kraft wirkt, die ihn in die ursprüngliche Position zurücktreibt und deren Stärke proportional zur Auslenkung ist. Wirkt zusätzlich eine Reibungskraft, so klingen die Schwingungen exponentiell ab. Wird die Schwingung von außen durch eine periodische Kraft angetrieben („erzwungen“), so kommt es – abhängig von der Dämpfung – zu überhöhten Schwingungsamplituden (Resonanz), wenn die Frequenz der Anregung mit der Eigenfrequenz des Oszillators nahezu übereinstimmt. Harmonische Schwingungen können sich überlagern (Superpositionsprinzip) und sind i. Allg. wieder durch eine periodische Funktion darstellbar. Umgekehrt lässt sich jede periodische Funktion als Summe von harmonischen Schwingungen darstellen (Fourierzerlegung); die Amplituden dieser Teilschwingungen sind die Fourierkoeffizienten. Diese Zerlegung kann auf unperiodische Funktionen ausgedehnt werden (Fourierintegral); die Amplitudenfunktion ist dann kontinuierlich (Fouriertransformierte). Wird das Fourierintegral nicht von einer Zeitfunktion, sondern von einer Ortsfunktion gebildet, dann ist die Fouriertransformierte eine Funktion im reziproken k​⇀-Raum. Ist ein schwingender Massenpunkt mit benachbarten Massenpunkten gekoppelt, z. B. durch ein elastisches Medium, so kann sich die Schwingung als Welle im Raum ausbreiten und es wird Schwingungsenergie räumlich transportiert. Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Phase („augenblicklicher Schwingungszuω​ stand“) einer Welle gilt υ​p​h​ = ν​ ⋅ λ​ = . Hängt die Phasengeschwindigkeit von der k​ Wellenlänge ab (Dispersion), so verliert sie ihre Bedeutung für die Ausbreitung eines tatsächlichen Wellenvorgangs, der immer einen Anfang und ein Ende hat, d​ω​ d​υp​ ​h​ und die Gruppengeschwindigkeit υ​g​r​ = = υ​p​h​ − λ​ tritt an ihre Stelle. Sie d​k​ d​λ​ beschreibt die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Energiezentrums einer Wellengruppe und somit auch die jeglicher Information. Zur Lösung eines Wellenproblems, also zur Bestimmung der Wellenfunktion, muss die Wellengleichung unter den gegebenen Randbedingungen gelöst werden. Damit lässt sich zeigen, dass die Transversalschwingungen einer beidseitig fest

240

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

eingespannten Saite stehende Wellen sind, deren diskrete Frequenzen bzw. Wellenlängen vom Abstand der Einspannung abhängen. Analog ergibt die Lösung der Wellengleichung für Materiewellen, der Schrödingergleichung, stehende Materiewellen, die einem Materieteilchen zugeordnet werden, wenn es in einem unendlich tiefen Potenzialtopf eingesperrt ist (Band V, Kapitel „Atomphysik“). Die Akustik beschäftigt sich mit der Erzeugung und Übertragung von Schall; Schallwellen werden z. B. von der menschlichen Stimme erzeugt, von der Luft als Medium übertragen und vom menschlichen Ohr empfangen, also gehört. Bewegt sich die Schallquelle oder der Schallempfänger, so ergibt sich am Ort des Empfängers eine Frequenzänderung, die unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob sich die Quelle oder der Empfänger bewegt (akustischer Dopplereffekt). An der Ausbreitung elektromagnetischer Wellen ist dagegen kein Medium beteiligt, daher tritt dieser Unterschied dort nicht auf (Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“). Wenn ein physikalisches System (Massenpunkt, starrer Körper, Atom oder Molekül usw.) aus seiner Ruhelage = stabile Gleichgewichtslage ausgelenkt wird, beginnt es um seine Ruhelage zu schwingen. 4

Eine Kugel hängt an einer Spiralfeder in Ruhe. 1

Wird die Kugel a) aus der Ruheposition nach unten gestoßen oder b) langsam aus der Ruhelage etwas nach unten gezogen und dann losgelassen, beginnt die Kugel um die Ruhelage (Pfeil) zu schwingen.

Die Frage ist nun: Welche Parameter bestimmen die Schwingungsfrequenz, wie sieht der zeitliche Ablauf der Bewegung der Kugel aus, wie lange schwingt die Kugel?

1 Die Feder erfüllt bei diesem Versuch zwei Funktionen: Erstens kompensiert sie nach entsprechender Vordehnung die Gewichtskraft der Kugel, sodass das System im Potenzialminimum zur Ruhe kommt; zweitens dient sie im Schwingfall als Energiespeicher (siehe Abschnitt 5.2.4).

Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

241

Schwingungen sind nicht nur in der Mechanik wichtig, sondern auch in allen anderen Bereichen der Physik (Elektrodynamik und Optik, Strahlung und Atomphysik, Kernphysik, Festkörperphysik). Schwingungen können zur Ausbreitung von Wellen führen, wenn eine große Anzahl an Oszillatoren (= Schwingern) aneinander ‚gekoppelt‘ sind, d. h. wenn von einem schwingenden System auf das nächste Energie übertragen werden kann. Eine Reihe von gleichartigen Fadenpendeln sei durch dünne Fäden miteinander verbunden, an denen kleine Massen hängen (Kopplung). Wenn das erste Pendel etwas ausgelenkt und losgelassen wird, überträgt sich die Pendelschwingung der Reihe nach auf die nächsten Pendel und das erste Pendel kommt zur Ruhe. Es breitet sich eine Welle der Ausschläge aus, mit der Energie transportiert wird. Ist das letzte Pendel der Reihe in Schwingung geraten, überträgt es seine Energie zurück auf das vorletzte usf., die Welle wird reflektiert. 2 4

Zwei gekoppelte Pendel: Links sind beide Pendel in Ruhe. In der Mitte wird das rechte Pendel ausgelenkt und losgelassen, das linke ist in Ruhe. Das rechte Pendel schwingt und gibt Energie an das linke Pendel ab, das langsam zu schwingen beginnt. Nach einiger Zeit kommt das rechte Pendel zur Ruhe und das linke schwingt voll (rechtes Bild). Dann gibt es seine Energie langsam wieder an das rechte Pendel zurück, sein Ausschlag wird immer kleiner, während das rechte wieder zur vollen Schwingung ausholt.

In der Akustik wird die Erzeugung, Ausbreitung und Absorption von Wellen studiert, die in den Hörbereich fallen (Schallwellen). Musikinstrumente besitzen spezielle schwingende Systeme (Saite, Federzunge, Luftsäule mit Wirbelschneide bei Pfeifen und Flöte usw.), die Schallwellen einer besonderen Zusammensetzung (Klangfarbe etc.) erzeugen, die dann durch geeignete ‚Resonanzkörper‘ verstärkt bzw. modifiziert werden.

2 Die tatsächlich auftretende Bewegungsform hängt wesentlich vom Verhältnis der Koppelkraft zur Rückstellkraft der Pendel ab. Der beschriebene Vorgang gilt für „sehr weiche“ Kopplung (weak coupling); bei „sehr harter“ Kopplung (strong coupling) wird die Stoßenergie sehr rasch an die folgenden Pendel weitergeleitet, sodass ein „Schallpuls“ (sound pulse wave) durch die Kette läuft, dem sich noch eine pendelnde Schwerpunktsbewegung überlagert, deren Größe von der Dauer der Stoßkraft (Auslenkung) abhängt.

242

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations) 5.1.1 Der freie, ungedämpfte harmonische Oszillator (simple harmonic oscillator) ‚Harmonisch‘ (griechisch) heißt: Im Einklang befindlich, wohlklingend, ausgewogen im Verhältnis und hat mit dem Wohlklang entsprechend zusammengesetzter, akustischer harmonischer Schwingungen zu tun. Ein Massenpunkt (MP) befinde sich in der Ruhelage bei x = 0. Wird der MP aus der Ruhelage ausgelenkt, wirkt (außer der Schwerkraft, die wir beiseite lassen, sie wird durch die Aufhängung und die Federvordehnung kompensiert) die rücktreibende Kraft der Feder (Abb. I-5.1).

x=0 x Abb. I-5.1: Der MP (blau) hängt an einer sehr leichten Feder, sodass die Federbewegung unberücksichtigt bleiben kann.

Ist die Auslenkung so klein, dass die Verformung der Feder im Hookeschen Bereich bleibt, in dem die Federkraft proportional zur Auslenkung ist (siehe Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.2.1), so sprechen wir von einer harmonischen Kraft. Dasselbe gilt auch für die Atome eines Festkörpers, die im Kristallgitter entsprechend der Temperatur um ihre Ruhelage schwingen. 3 Die rücktreibenden Kräfte sind eine Folge der interatomaren Wechselwirkungen (WW) und können in erster Näherung als harmonisch, also als proportional zur Auslenkung, angenommen werden. Wir setzen die wirkende, rücktreibende Kraft für kleine Auslenkungen x daher so an F​⇀= −k​ ⋅ x​ ⋅ e​⇀x​

(I-5.1)

3 Die Schwingungen sind allerdings nur bei sehr niedriger Temperatur (sehr kleiner Auslenkung) harmonisch. (Siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.4.1).

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

243

Den Proportionalitätsfaktor k nennen wir Federkonstante. Sie beschreibt die Stärke der rücktreibenden Kraft (Stärke der interatomaren WW). Wie kommen wir zur Bewegung, die der MP ausführt? Wir setzen in die Bewegungsgleichung (= 2. Newtonsches Axiom = Newton 2) ein (siehe Kapitel „Mechanik des Massenpunktes“, Abschnitt 2.2.1). Hier ist die Bewegung eindimensional (wenn wir in der Richtung der Federachse auslenken) und Newton 2 führt auf eine lineare, homogene Differentialgleichung (DG) −k​ ⋅ x​ (t​) = m​

2 d​ x​ (t​)

d​t​



x​̈ (t​) +

2

,

bzw.

m​x​̈ (t​) + k​x​ (t​) = 0

Schwingungsgleichung des ungedämpften harmonischen Oszillators.

k​ x​ (t​) = 0 m​

(I-5.2)

(I-5.3)

4

Die zeitlich aufgelöste Bewegung eines harmonischen Oszillators kann so gewonnen werden: Auf der Tafel wird zunächst die eindimensionale Schwingung horizontal mit der Kreide ausgeführt (ganz links). Dann wird die Tafel bei fortgesetzter Schwingungsbewegung der Kreidehand gleichmäßig nach oben geschoben. Es ergibt sich eine etwa sinusförmige Kreidelinie.

Da die zweite Ableitung einer Sinusfunktion bis auf das Vorzeichen gleich der Funktion selbst ist, wählen wir daher als Ansatz für die allgemeine Lösung der DG eine Kombination aus Sinus- und Kosinusschwingungen 4 mit zunächst unbekannter Kreisfrequenz ω​ = 2 π​ ν​ x(t) = C1 cos(ωt) + C2 sin(ωt).

(I-5.4)

Einmal und zweimal differenziert ergibt d​x​ = −C​1 ω​ sin (ω​t​) + C​2 ω​ cos (ω​t​) d​t​ d​ 2 x​ d​t​

2

2

2

= −C​1 ω​ cos (ω​t​) − C​2 ω​ sin (ω​t​) ,

(I-5.5)

(I-5.6)

4 Dies ist gleichbedeutend mit einer Sinusschwingung mit einer willkürlichen Phasenkonstante.

244

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

und in die Bewegungsgleichung eingesetzt folgt − C​1 ω​ 2 cos (ω​t​) − C​2 ω​ 2 sin​ (ω​t​) +

k​ k​ C​1 cos (ω​t​) + C​2 sin​ (ω​t​) = 0 m​ m​

und damit C​1 cos (ω​t​)(

= (

k​ k​ 2 2 − ω​ ) + C​2 sin​ (ω​t​)( − ω​ ) = m​ m​

k​ 2 C​1 cos (ω​t​) + C​2 sin​ (ω​t​)) = 0 − ω​ ) (⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ m​

(I-5.7)

k​ ( − ω​ 2 ) ⋅ x​ (t​) = 0 . m​

(I-5.8)

x​ (t​)

also

Für eine tatsächliche Schwingung um die Ruhelage kann x(t) nicht dauernd verschwinden. Daher ist diese Gleichung nur erfüllt, wenn gilt 2 ω​ =

k​ 2 ≡ ω​ 0 . m​

(I-5.9)

Damit wird die Schwingungsgleichung zu

2

x​̈ + ω​ 0 x​ = 0

Schwingungsgleichung des ungedämpften, harmonischen Oszillators.

(I-5.10)

Für die gesuchte Kreisfrequenz ω ergibt sich also eine feste Eigenfrequenz ω0 der Schwingung, die nur von der rücktreibenden Kraft, also der Federkonstante, und der Masse des schwingenden Systems abhängt, nicht aber von der Auslenkung (im Rahmen kleiner Auslenkungen, wie vorausgesetzt). Für die Dauer T einer Schwingungsperiode (Zeit zwischen zwei gleichen Schwingungszuständen) ergibt sich mit

ω​0 = 2 π​ ν​0 = 2 π​ / T​ = √

T​ = 2 π​√

m​ . k​

k​ m​

(I-5.11)

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

245

Die Schwingungsdauer sieht für andersartige Oszillatoren (z. B. Schwerependel oder Drehpendel) analog aus: unter der Wurzel im Zähler eine Trägheitskonstante und im Nenner eine Kraftkonstante. 5 Damit erhalten wir die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung des MP, also seine zeitliche Bewegung

x​ (t​) = C​1 cos (ω​0 t​) + C​2 sin ​ (ω​0 t​) .

(I-5.12)

Es verbleibt die Aufgabe, die Konstanten C1 und C2 zu bestimmen. Wir benützen dazu die Anfangsbedingungen. Zur Zeit t = 0 sei der MP an der Stelle x = x0 und habe die Geschwindigkeit ̇ = υ0 . Wir setzen in der Lösung t = 0: υ(0) = x​(0) x(0) = C1 cos(0) + C2 sin(0) = x0



x​̇ (0) = −C1 ω0 sin(0) + C2 ω0 cos(0) = v0



C1 = x0 C2 = v0/ω0 .

Damit erhalten wir die endgültige Lösung der Differentialgleichung für die Bewegung des MP zu

x​ (t​) = x​0 cos (ω​0 t​) +

υ​0 sin ​ (ω​0 t​) ω​0

Bewegung des schwingenden MP.

(I-5.13)

Andere Vorgehensweise zur Lösung der Bewegungsgleichung Lösungsansatz:

x​ (t​) = c​ ⋅ e​ λ​t​ ,

(I-5.14)

denn die Exponentialfunktion reproduziert sich bei der Differentiation. c und λ sind zunächst unbestimmte Konstanten, die auch komplex sein können. Einmal und zweimal nach der Zeit differenziert unter Beachtung von d​ (e​ a​x​ ) = a​e​ a​x​ liefert d​x​ x​̇ = c​λ​e​ λ​t​ ,

x​̈ = c​λ​ 2 e​ λ​t​ .

(I-5.15)

5 Beim Schwerependel (T​ = 2 π​√l​/g​) fällt die Masse m heraus, da sie auch in der Kraftkonstanten auftritt. Beim Drehpendel sind m durch das Trägheitsmoment Θ und k durch das Direktionsmoment (= Richtmoment, Winkelrichtkraft) D* zu ersetzen. (Siehe Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.2.2).

246

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Eingesetzt in die Bewegungsgleichung ergibt sich c​λ​ 2 e​ λ​t​ +

k​ λ​t​ c​e​ = 0 . m​

(I-5.16)

λ​t​ λ​t​ Die Exponentialfunktion e​ kann nicht verschwinden und damit auch nicht c​ ⋅ e​ . Es bleibt also

2

λ +

k​ =0 m​

(I-5.17)

2

Wir setzen k​/m​ = ω​ 0 und erhalten die charakteristische Gleichung 2

2

λ​ + ω​ 0 = 0 .

(I-5.18)

Die Auflösung dieser quadratischen Gleichung nach λ ergibt λ1 = iω0 λ2 = −iω0 .

(I-5.19)

Eingesetzt in den Lösungsansatz x​1 (t​) = c​1 e​

i​ω0​ t​

,

x​2 (t​) = c​2 e​ −i​ω0​ t​

(I-5.20)

erhält man die allgemeine Lösung zu x​ (t​) = c​1 e​ i​ω0​ t​ + c​2 e​ −i​ω0​ t​ .

(I-5.21)

Dabei sind c1 und c2 komplexe Konstanten. Das Ergebnis, also die Bewegung des i​ω​ t​ − i​ω​ t​ MP, muss aber reell sein. Da e​ 0 und e​ 0 zueinander konjugiert komplex sind, müssen die beiden Konstanten daher auch zueinander konjugiert komplex sein, damit x(t) reell wird, also c​2 = c​ *1 = c​ * und c​1 = c​ *2 = c​ mit c = a + ib, c* = a − ib, a, b … reell. Damit wird die Lösung zu x​ (t​) = c​e​ i​ω0​ t​ + c​ * e​ − i​ω0​ t​ .

(I-5.22)

Die Bestimmung der reellen Konstanten a und b des Real- und Imaginärteils der komplexen Koeffizienten erfolgt wieder aus den Anfangsbedingungen x(0) = x0 und x​̇ (0) = υ(0) = υ0 .

247

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

e0 = 1

Aus also

x(0) = c + c* = x0



a + ib + a − ib = 2 a = x0 x​̇ (0) = i​ ⋅ c​ ⋅ ω​0 ⋅ e​

i​ω0​ ⋅0

−i​ ⋅ c​ * ⋅ ω​0 ⋅ e​

c​ − c​ * = a​ + i​b​ − a​ + i​b​ = 2 i​b​ =

also

c​ =

x​0 υ​0 − i​ 2 2 ω​0

und

a = x0/2

⇒ − i​ω0​ ⋅0

υ​0 i​ω0​

c​ * =

(I-5.23) (I-5.24)

= i​ω0​ (c​ − c​ * ) = υ​0 . b = −v0/2 ω0 ,



x​0 υ​0 . + i​ 2 2 ω​0

(I-5.25)

(I-5.26)

Um zu zeigen, dass diese Form der Lösung mit der vorhergehenden übereinstimmt, setzen wir die Konstanten in die Lösung ein und benützen die Eulerschen Formeln iz −z e = cos(z) + i sin(z) und e = cos(z) − i sin(z): x​ (t​) = (a​ + i​b​)e​ i​ω0​ t​ + (a​ − i​b​)e​ −i​ω0​ t​ =(

=(

=

x​0 υ​0 υ​0 x​0 )[cos (ω​0 t​) + i​ sin ​ (ω​0 t​)] +( + i​ )[cos (ω​0 t​) − i​ sin ​ (ω​0 t​)] = − i​ 2 2 ω​0 2 2 ω​0

υ​0 x​0 υ​0 x​0 sin ​ (ω​0 t​) + sin ​ (ω​0 t​) = cos (ω​0 t​) + cos (ω​0 t​) + 2 2 ω​0 2 2 ω​0

= x​0 cos (ω​0 t​) + ⇒

x​0 x​0 υ0 υ​0 −i​ω​ t​ )e​ i​ω0​ t​ +( + i​ )e​ 0 = − i​ 2 2 ω​0 2 2 ω​0

υ​0 sin ​ (ω​0 t​) . ω​0

(I-5.27)

Das Ergebnis stimmt mit dem vorhergehenden überein, es handelt sich also um völlig äquivalente Beschreibungen!

Der Vergleich mit den Konstanten C1 und C2 der Gleichung (I-5.4) ergibt unter Beachtung der Gleichungen (I-5.23) und (I-5.25) C1 = x0 = c + c* = 2 a,

C2 = υ0/ω0 = i(c – c*) = −2 b .

(I-5.28)

Eine andere Darstellung von c und c* ist die ‚Polardarstellung‘ iφ

c = |c|⋅e ,

−iφ

c* = |c|⋅e

.

(I-5.29)

Sie führt auf

x​ (t​) = |c​ |[e​ i​ (ω​0 t​ + φ​) + e​ −i​ (ω​0 t​ + φ​)]

(I-5.30)

248

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

mit |

c​ | = √c​ ⋅ c​ * =

1 √C​ 21 + C​ 22 = √a​ 2 + b​ 2 2

(I-5.31)

und tan ​φ​ =

Im c​ b​ 6 = , Re ​c​ a​

(I-5.32)

wobei c = a + ib. Zu einer weiteren Schreibweise gelangt man, indem man C1 = A cos φ und C2 = −A sin φ setzt und cos (α + β) = cos α sin β − sin α sin β verwendet: x​ (t​) = A​ ⋅ cos (ω​0 t​ + φ​)

(I-5.33)

mit A​ = √C​ 21 + C​ 22 = 2 |c​ | ,

tan ​φ​ = −

C​2 b​ = . C​1 a​

(I-5.34)

Die Bewegung des harmonischen Oszillators (= Schwingung eines MP unter der Wirkung einer harmonischen Kraft) lässt sich also in vier völlig äquivalenten Weisen angeben: 1. Gl. (I-5.12)

x​ (t​) = C​1 cos (ω​0 t​) + C​2 sin ​ (ω​0 t​)

2. Gl. (I-5.33)

x​ (t​) = A​ cos (ω​0 t​ + φ​)

3. Gl. (I-5.22)

x​ (t​) = c​e​ i​ω​0 t​ + c​ *e​ −i​ω​0 t​

4. Gl. (I-5.30)

x​ (t​) = |c​ |[e​ i​ (ω​0 t​ + φ​) + e​ −i​ (ω​0 t​ + φ​)]

Die vier äquivalenten Darstellungen der Bewegung des ungedämpften harmonischen Oszillators.

In jedem Fall treten 2 Integrationskonstanten auf, durch die die Amplitude und die Phasenlage der Schwingung bestimmt sind: C1 und C2, A und φ, c bzw. c*, |

c​ | und φ. 7

6 Denn: c​ =

cos ​φ​ =

1 2

(c​1 − i​c2​ ) ;

c​1

√ + 2 c​ 1

, 2 c​ 2

sin ​φ​ =

c​ * =

1 2

(c​1 + i​ c​2)

c​2

√ + 2 c​ 1

e​

i​ φ​

c​

= |

⇒ 2 c​ 2

und

tan ​φ​ = −

c​2 c​1

=

b​ a​

c​ |

=

c​1 − i​ c​2

√c​ 2 + c​ 2 1

= cos ​φ​ + i​ sin ​φ​ ⇒

2

.

7 In der komplexen Amplitude c bzw. c* sind bereits 2 Konstanten, nämlich |c| und φ enthalten; c und c* sind nicht unabhängig voneinander!

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

249

Anmerkung: Aus der Darstellung 4 ersieht man, dass der Realteil beider Summanden mit der Darstellung 2 übereinstimmt (man benützt die Eulerschen Formeln). Es wird daher oft anstelle von Darstellung 2 die Darstellung A​ ⋅ e​ i​ (ω​o​ t​ + φ​) bzw. A​ ⋅ e​ −i​ (ω​0 t​ + φ​) mit der stillschweigenden Übereinkunft benützt, dass im Endergebnis nur der Realteil zu verwenden ist!

Veranschaulichung des Schwingungsvorganges im Zeigerdiagramm Man kann komplexe Zahlen z​ = |c​ | ⋅ e​ i​φ​ in der Gaußschen (= komplexen) Zahlenebene darstellen, die von der imaginären Achse (Ordinate) und der reellen Achse (Abszisse) aufgespannt wird (Abb. I-5.2):

Im

z = |z|eiφ = a + ib

c b

φ Re a a = Re(z) = |c| cos φ, b = Im (z) = |c| sin φ

Abb. I-5.2: Darstellung einer komplexen Zahl als „Zeiger“ (blau) in der Gaußschen Zahlenebene.

Für die Koeffizienten der komplexen Zahl z​ = |z​ |e​ i​φ​ = a​ + i​b​ gilt: a​ = Re ​ (z​) = |c​ | cos φ​,

b​ = Im ​ (z​) = |c​ | sin ​φ​ .

(I-5.35)

Für unsere komplexen Lösungen der Schwingungsgleichung (Versionen 3 und 4) lassen wir den Punkt c = a + ib mit der Winkelgeschwindigkeit ω​ = 2 π​ ν​ = 2 π​/T​ als „Zeiger“ in der Gaußschen Zahlenebene rotieren, wobei der positive Drehsinn gegen den Uhrzeiger läuft (Abb. I-5.3). Zu einem beliebigen Zeitpunkt gilt für die Projektion auf die reelle Achse a = Re(c) = |c| cos(ω t + φ) ,

(I-5.36)

für die Projektion auf die imaginäre Achse b = Im (c) = |c| sin(ω t + φ) .

(I-5.37)

Zusätzlich rotiert die zu c konjugiert komplexe Größe c* mit umgekehrtem Umlaufsinn. Beide rotieren mit der Frequenz ν = ω/2 π = 1/T.

250

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Im

positiver Drehsinn = Antiuhrzeigersinn t=0

ωt c = a + ib

|c| φ

ωt + φ Re c* = a − ib

Abb. I-5.3: Darstellung der Zeitabhängigkeit in der Gaußschen Zahlenebene. Der „Zeiger“ c = a + ib (blau) rotiert bei positivem Drehsinn gegen den Uhrzeiger (c* = a − ib rotiert dann im Uhrzeigersinn).

φ ist der Phasenwinkel, den der im positiven Sinn (Gegenuhrzeigersinn) rotierende Zeiger c zum Zeitpunkt t = 0 mit der positiven reellen Achse einschließt. Wir entnehmen also der komplexen Darstellung

i​ (ω​t​ + φ​) = |c​ | ⏟⏟⏟⏟⏟ e​ i​ω​t​ z​ = |c​ |e​

i​φ​ e​⏟

(I-5.38)

Z​e​i​t​f​a​k​t​o​r​ Phasenfaktor

|

c​ | , als Betrag des Zeigers,

(ω t + φ), die Phase und φ, den Phasenwinkel als Phase zum Zeitpunkt t = 0. i​ (ω​t​ + φ​) + e​ −i​ (ω​t​ + φ​)] oder c​ ⋅ e​ i​ω​t​ + c​ * ⋅ e​ −i​ω​t​ Die Summe der rotierenden Zeiger |c​ |[e​

gibt die gesamte reelle Lösung der Schwingungsgleichung, da sich die Imaginärteile wegheben. Die Vorteile der komplexen Schreibweise sind: iωt 1. die einfache Differentiation von e durch Multiplikation der Zeigerlänge mit π​

2.

i​ ω und Drehung um +90° (Multiplikation mit +i, denn i​ = e​ 2 , Abb. I-5.4 und Abb. I-5.5) und die bequeme Vektoraddition ohne Benutzung der umständlichen Additionstheoreme (siehe dazu Abb. I-5.8).

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

251

Im i⋅c = –b + ia

c = a + ib +90° –90°

Re

–i⋅c = b – i⋅a Abb. I-5.4: Multiplikation einer komplexen Zahl mit der imaginären Einheit i (bzw. −i ): Drehung um +90° (−90°) in der Zahlenebene.

Im

Beschleunigung: i⋅i⋅ω02⋅c⋅eiω0t = ω02⋅c⋅ei(ω0t + π/2)

Geschwindigkeit: v(t) = i⋅ω⋅c⋅e iω0t = ω0⋅c⋅ei (ω0t + π/2)

Re Weg: x(t) = c⋅e iω0t

Abb. I-5.5: Vorteil der komplexen Darstellung. Die Differentiation nach der Zeit wird in der Gaußschen Zahlenebene sehr einfach: Multiplikation der Zeigerlänge mit ω und Drehung um +90°. Hier als Beispiel: Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung.

Aus dem Zeigerdiagramm ist sofort ersichtlich, dass die Geschwindigkeit υ(t) dem Ausschlag x(t) um π/2, die Beschleunigung um π vorauseilt.

Das Weg-Zeit-Diagramm Die zeitliche Bewegung des harmonischen Oszillators kann zeitaufgelöst dargestellt werden (Abb. I-5.6). 2 π​ Dabei ist die Schwingungsdauer T​ = die Zeit zwischen zwei gleichen Schwinω​0 gungszuständen. Die maximale Auslenkung A heißt Amplitude.

252

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

x T = 2 π/ω0 x = A cos (ω0t + φ) A

A t

t = –φ/ω0 = –t0 –A

Abb. I-5.6: Zeitaufgelöste Darstellung der Bewegung des ungedämpften harmonischen Oszillators.

Für die Bewegung des schwingenden Systems (z. B. des MP) hat sich ergeben (Darstellungsversion 2, Gl. I-5.33)

φ​/ω​0 )] . x​ (t​) = A​ cos (ω​0 t​ + φ​) = A​ cos [ω​0 (t​ + ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ t​0

Das Argument des Kosinus, also (ω0 t + φ), nennt man die Phase (phase) der Schwingung. Sie gibt den augenblicklichen Schwingungszustand an. φ ist der Phasenwinkel (= Phasenkonstante, phase angle or phase constant), er gibt den Anfangszustand der Schwingung bei t = 0 an. Ist der Phasenwinkel φ ≠ 0, so wird die maximale Auslenkung nicht für t = 0 bzw. n⋅T erreicht, sondern bei t​ = −

φ​ 2 n​ π​ 1 φ​ + n​T​ ⏟ = − + = (2 n​ π​ − φ​) . ω​0 ω​0 ω​0 ω​0 T​ =

(I-5.39)

2 π​ ω​0

In der obigen Abb. I-5.6 läuft die Schwingung schon zur Zeit t = −φ/ω0 = −t0 durch das Maximum, bei t = 0 ist es bereits überschritten, die Auslenkung ist wieder kleiner als die Amplitude.

Harmonische Schwingung bei beliebiger Auslenkung im Raum Die bisher betrachtete harmonische Schwingung war eindimensional, da die Anfangsgeschwindigkeit υ​⇀0 (falls vorhanden) in der Richtung der Auslenkung r​⇀0 erfolgte. Gilt für kleine Auslenkungen in einer beliebigen Richtung r​⇀wieder eine rücktreibende Kraft proportional zur Auslenkung, hier also proportional zum Ortsvektor r​⇀(F​⇀= −k​r⇀, ​ der Ursprung des Koordinatensystems liege im Ruhepunkt des MP), so weist die rücktreibende Kraft ständig zum Ursprung des Koordinatensystems, ist also eine Zentralkraft und die resultierende Bewegung eine Zentralbewegung mit konstantem Drehimpuls (L​⇀= 0, wenn die Anfangsgeschwindigkeit zum Zentrum weist):

253

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

̈ r​⇀(t​ )+

Mit dem Ansatz r​⇀(t​) = c​⇀e​ λ​t​ und ω​ 20 = i​ω​ t​ −i​ω​ t​ r​⇀(t​) = c​⇀e​ 0 + c​⇀* e​ 0

k​ r​⇀(t​) = 0 . m​

(I-5.40)

k​ ergibt sich damit die Bewegung des MP zu m​ r​⇀(t​) = C​⇀1 cos (ω​0 t​) + C​⇀2 sin ​ (ω​0 t​) .

oder

(I-5.41)

Die Konstanten sind jetzt Vektoren, die wieder aus den Anfangsbedingungen folgen: r​⇀(0) = r​⇀0 ,

̇ r​⇀(0) = υ​⇀0

C​⇀1 = r​⇀0 ,



1 C​⇀2 = υ​⇀0 ω​0

und man erhält als allgemeine Lösung (I-5.42)

r​⇀(t​) = r​⇀0 cos (ω​0 t​) +

| υ​ ⇀0 | υ​⇀0 r​⇀0 sin ​ (ω​0 t​) = ⋅ |r​⇀0 | cos (ω​0 t​) + sin ​ (ω​0 t​) . ω​0 ω​0 ⏟⏟⏟⏟⏟ | r​ ⇀0 |

⏟⏟⏟⏟⏟

e​⇀υ​⇀0

e​⇀r​⇀0

Der Vektor r​⇀(t​) setzt sich offensichtlich aus zwei Vektoren zusammen, die in Richtung der (ausgelenkten) Anfangslage und der Anfangsgeschwindigkeit weisen und deren Beträge periodische Funktionen der Zeit mit der gleichen Frequenz sind. Wir wählen als Ursprung des Koordinatensystems die Ruhelage des MP und führen zwei schiefwinkelige Koordinatenachsen ξ und η mit den Einheitsvektoren e​⇀r​⇀0 und e​⇀υ​⇀0 in Richtung der Anfangslage und der Anfangsgeschwindigkeit ein (Abb. I-5.7). In diesem Koordinatensystem hat der MP folgende Koordinaten ξ = r0 cos (ω0t), η = (υ0/ω0 ) sin (ω0t) ,

(I-5.43)

da die ξ-Achse in die Richtung der Auslenkung (Anfangslage) zeigt und die η-Achse in die Richtung der Anfangsgeschwindigkeit. Daraus folgt ξ/r0 = cos (ω0t)

und

η ω0/υ0 = sin (ω0t) .

Beide Gleichungen quadriert und addiert ergeben als Bahnkurve ξ​ 2 (t​) 2

r​ 0

+

η​ 2 (t​) 2

2

= 1,

υ​ 0 (1/ω​ 0 )

in der die Zeit nicht mehr explizit, sondern nur als Parameter aufscheint.

(I-5.44)

254

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

z η



e ʋ0 y



er0

x ξ

Abb. I-5.7: Bahnkurve des MP bei beliebiger Auslenkung im Raum.

Wir sehen damit, dass der MP eine Ellipse beschreibt, wobei r​⇀0 und υ​⇀0 in die Richtung konjugierter Durchmesser zeigen. Es handelt sich also um eine ebene Bewegung im Raum, wie es von einer Zentralbewegung verlangt wird (siehe Kapitel „Mechanik des Massenpunktes, Anhang A1.2 ‚Das Keplerproblem‘). 8

5.1.2 Überlagerung von harmonischen Schwingungen (superposition of harmonic oscillations) Die Schwingungsgleichung des harmonischen Oszillators ist eine lineare DG (sie folgt ja unmittelbar aus dem linearen 2. Newtonschen Axiom (Newton 2) mit einem linearen Kraftansatz). 1

Für lineare Gleichungen gilt das Superpositionsprinzip: Die Summe von Lösungen ist wieder eine Lösung der Differentialgleichung. Sind also f(x) und g(x) Lösungen (mögliche Zustände des Systems), dann gilt dies auch für c1 f(x) + c2 g (x) mit c1 und c2 als Konstanten.

8 Auch bei der Planetenbewegung weist die wirkende Kraft ständig auf ein Zentrum (die Sonne) hin, sie ist allerdings im Gegensatz zum Oszillator proportional zu 1/r2. Dennoch resultiert wieder eine elliptische Bahn! Jetzt liegt aber das Kraftzentrum in einem Ellipsenbrennpunkt, während es beim harmonischen Oszillator im Ellipsenmittelpunkt liegt. Die Geschwindigkeiten in den Scheitelpunkten (‚Perihel‘ und ‚Aphel‘) sind bei der Planetenbewegung unterschiedlich, beim Oszillator gleich.

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

255

Wir können also entweder Lösungen mit Hilfe der Additionstheoreme der Winkelfunktionen zusammensetzen oder in der komplexen Zahlenebene addieren.

Eindimensionale Schwingungen Wir nehmen an, dass alle Auslenkungen in dieselbe Richtung erfolgen. Für die einzelne Schwingung gilt x1 (t) = A1 cos (ω1t + φ1 ) .

(I-5.45)

Für eine Summe von n Schwingungen ergibt sich daher x​ (t​) = ∑x​n​ (t​) = ∑A​n​ cos (ω​n​ t​ + φ​n​ ) . n​

(I-5.46)

n​

Die Summenschwingung ist also abhängig von den Amplituden An , den Frequenzen ωn und den Phasenwinkeln φn .

a) Zwei Schwingungen gleicher Frequenz x1 (t) = A1 cos (ωt + φ1 ), x2 (t) = A2 cos (ωt + φ2 )

(I-5.47)

Für die Summenschwingung gilt x(t) = x1 (t) + x2 (t) = A cos (ωt + φ) ,

(I-5.48)

wie eine umständliche Umrechnung unter Benützung der Additionstheoreme zeigt. Es ergibt sich also eine Schwingung gleicher Frequenz, aber anderer Amplitude und Phase als jener der Teilschwingungen (ausgenommen, wenn φ1 = φ2 ). Sehr einfach gestaltet sich diese Addition als Vektoraddition im Zeigerdiagramm und liefert Betrag und Richtung, also auch den Phasenwinkel φ (Abb. I-5.8). Für die Amplitude und die Phase der zusammengesetzten Schwingung (Abb. I-5.9) gilt 2

2

A​ = √A​ 1 + A​ 2 + 2 A​1 A​2 cos (φ​2 − φ​1 ) , tan ​φ​ =

A​1 sin ​φ1​ + A​2 sin ​φ2​ , A​1 cos φ​1 + A​2 cos φ​2

(I-5.49) (I-5.50)

also Quotient der Summen der Projektionen von A1 und A2 auf die x- bzw. y-Achse.

256

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Im

x = x1 + x2 A

A2 x2

x1

A1

φ2 φ

φ1

Re

Abb. I-5.8: Im Zeigerdiagramm gestaltet sich die Addition von Schwingungen sehr einfach: Die Summe ergibt sich aus der ‚normalen‘ Vektoraddition und liefert Betrag und Richtung, also auch den Phasenwinkel.

x

–φ/ω

x1 = A1 cos (ωt + φ1) x2 = A2 cos (ωt + φ2)

–φ2/ω –φ1/ω

A2 A

A1 t

x = x1 + x2 = A cos (ωt + φ) Abb. I-5.9: Überlagerung zweier Schwingungen gleicher Richtung und gleicher Frequenz, aber unterschiedlicher Amplitude und Phase. Die Summenschwingung (durchgezogen blau) hat wieder die gleiche Frequenz, aber andere Amplitude und Phase als die Teilschwingungen.

b) Schwingungen unterschiedlicher Frequenz Bildet man die Summe zweier Schwingungen unterschiedlicher Frequenz, aber gleicher Amplitude und gleicher Phase x1 (t) = A cos (ω1t), x2 (t) = A cos (ω2t) ,

(I-5.51)

so erhält man unter Verwendung des Additionstheorems cos α​ + cos β​ = 2 cos

α​ − β​ α​ + β​ cos 2 2

(Abb. I-5.10): x​ = x​1 + x​2 = 2 A​ cos (

ω​1 − ω​2 ω​1 + ω​2 t​) cos ( t​) . 2 2

(I-5.52)

257

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

x1 = A cos (ωt)

x1

t

x2

x2 = A cos (2 ωt) t

cos [(1/2)ωt]

x1 + x2

t cos [(3/2)ωt] x1 + x2 = 2 A cos [(1/2)ωt] cos [(3/2)ωt] Abb. I-5.10: Überlagerung zweier Schwingungen x1 = A cos (ωt) und x2 = A cos (2 ωt) in gleicher Richtung. Das Ergebnis zeigt, dass in der Summenschwingung die Schwingung 2 A cos [(3/2) ωt ] mit cos [(1/2) ωt ] moduliert ist.

Wenn ein sehr kleiner Frequenzunterschied vorliegt, die Frequenzdifferenz Δω also sehr viel kleiner als die Mittelfrequenz ω​ ̅ ist, wenn also gilt Δω​ = ω​1 − ω​2 ≪

1 (ω​1 + ω​2 ) = ω​ ̅ , 2

(I-5.53)

dann kann die Schwingung als Schwingung mit der Mittelfrequenz ω​ ̅ aufgefasst Δω​ werden, deren Amplitude A​ (t​) = x​S​ = 2 A​ cos t​ eine langsam veränderliche 2 Funktion ist. Eine derartige Schwingung mit sich langsam periodisch verändernder Amplitude nennt man Schwebung (beats, Abb. I-5.11). Es gilt x​S​ = 2 A​ cos

Für

t=0

| 2 A​ cos

ist

Δω​ t​ ⋅ cos ω​t̅ ​ 2

2 A​ cos

mit

Δω​ t​ = 2 A​; 2

Δω​ = ω​1 − ω​2, ω​ ̅ =

der

nächste

1 (ω​1 + ω​2 ) . 2

Zeitpunkt

t1,

(I-5.54)

für

den

Δω​ 2 π​ t​1 | = 2 A​ wird, ist t​1 = T​S​ = . Die Zeitpunkte tn , für die die Schwin2 Δω​

gungsamplitude maximal wird, sind also t​n​ = n​ ⋅

2 π​ , n = 0, 1, 2, … Δω​

258

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

TS = 1/νS x(t)

t

Abb. I-5.11: Bei Überlagerung zweier Schwingungen mit kleinem Frequenzunterschied (Δω​ ≪ ω​ ̅) tritt eine Schwebung auf.

1 Die Schwebungsfrequenz ν​S​ (T​S​ = … Abstand zweier Schwebungsmaxima/ ν​S​ -minima) beträgt ν​S​ =

1 Δω​ = . T​S​ 2 π​

(I-5.55)

Schwebungen sind gut beobachtbar (in der Akustik gut hörbar) und dienen zum Abgleichen von Frequenzen (z. B. zum Stimmen von Instrumenten, die Töne sind gleich, wenn die Schwebung verschwindet). 1

Bei eindimensionaler Überlagerung zweier Schwingungen mit kleinem Frequenzunterschied (Δω​ ≪ ω​ ̅) tritt eine Schwebung auf.

4

Zwei Stimmgabeln gleicher Frequenz sind an einem Schenkel mit einem Stimmgabel kleinen Spiegel versehen. Sie sind rotierender Spiegel parallel zueinander orientiert und werden elektromagnetisch zu Laser Schwingungen angeregt. Von einem Lichtstrahl (z. B. Laser) werden die Spiegel an beiden Stimmgabeln hintereinander beleuchtet. Der Lichtstrahl wird vom Spiegel der ersten Stimmgabel auf die zweite Gabel gelenkt und von dort über einen senkrecht zur Bewegungsrichtung der Stimmgabeln rotierenden Spiegel (Würfelspiegel) auf einen Schirm geworfen.

λ(t1 )

λ(t2 )

Man sieht am Schirm das Summensignal der sich überlagernden Schwingungen der beiden Stimmgabeln zeitlich aufgelöst. Anschließend wird eine der beiden Stimmgabeln durch Verschiebung einer kleinen Masse auf einer Zinke leicht verstimmt: Es ist eine Schwebung zu beobachten.

259

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

Zweidimensionale Überlagerung von Schwingungen Wir summieren jetzt zwei zueinander normale Schwingungen gleicher Frequenz x(t) = A1 cos (ωt), y(t) = A2 cos (ωt + φ) .

(I-5.56)

Dabei ist φ die relative Phasenverschiebung zwischen den beiden Schwingungen. Um zur Bahnkurve der zusammengesetzten Schwingung zu gelangen, wird die Zeit eliminiert. Dazu bilden wir mit dem Additionstheorem x​/A​1 = cos (ω​t​) und y​/A​2 = cos (ω​t​) cos φ​ − sin ​ (ω​t​) sin ​φ​. Für cos (ωt) in y/A2 wird x/A1 eingesetzt y/A2 = (x/A1 ) cos φ − sin (ωt) sin φ

(I-5.57)

⇒ sin (ωt) sin φ = (x/A1 ) cos φ − y/A2 .

(I-5.58) x​ 2

Quadrieren unter Verwendung von sin​ 2 (ω​t​) = 1 − cos2 (ω​t​) = 1 −

2

gibt

A​ 1

(1 −

x​ 2 2

x​ 2

) sin​ 2 φ​ =

A​ 1

cos2 φ​ −

2

2 x​y​

cos φ​ +

A​1 A​2

A​ 1

y​ 2 2

A​ 2

(I-5.59)

und damit sin​ 2 φ​ =

x​ 2 2 A​ 1

+

y​ 2 2 A​ 2

2 x​ y​



cos φ​

(I-5.60)

A​1 A​2

bzw. x​ 2 2 A​ 1

+

2

sin​ φ​

y​ 2 2 A​ 2

2

sin​ φ​



2 x​y​ cos φ​ A​1 A​2 sin​ 2 φ​

= 1.

(I-5.61)

Mit den Abkürzungen A = A1 sin φ und B = A2 sin φ erhalten wir schließlich x​ 2 A​

2

+

y​ 2 B​

2



2 x​y​ cos φ​

= 1.

(I-5.62)

A​B​

Das ist die Gleichung einer Ellipse, die gegen das Achsenkreuz um einen Winkel ψ 2 A​1 A​2 cos φ​ gedreht ist (tan ​2 ψ​ = ) und die Bahnkurve unseres schwingenden MP 2 2 A​ 1 − A​ 2 in der x-y-Ebene beschreibt (Abb. I-5.12).

260

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

A1 ≠ A2

y φ = 0° B

A2

φ = 60°

A

x

A1

φ = 90°

Abb. I-5.12: Bahnkurven des MP für die Überlagerung zweier Schwingungen gleicher Frequenz, aber unterschiedlicher Amplitude, die normal zueinander sind. Die Phasen unterscheiden sich um den Winkel φ.

Spezialfälle: 1. φ = 0: ⇒ x/A1 = y/A2 oder y = (A2/A1) x. Das ist die Gleichung einer Geraden durch den Ursprung (Abb. I-5.13). 2. φ = (π/2) = 90°: ⇒ cos φ = 0 und sin φ = 1, also A = A1 , B = A2 und es gilt x2/A21 + y2/A22 = 1. Das ist eine Ellipse in Hauptlage und für den Fall A1 = A2 (gleiche Amplituden der sich normal überlagernden Schwingungen) ergibt sich ein Kreis (Abb. I-5.13).

A1 = A2 φ = 0°

φ = 90°

φ = 45°

φ = 135°

Abb. I-5.13: Bahnkurven des MP für die Überlagerung zweier Schwingungen gleicher Frequenz und gleicher Amplitude, die normal zueinander sind. Die Phasen unterscheiden sich um den Winkel φ.

4

Die beiden Stimmgabeln des vorherigen Experiments gleicher Frequenz werden nun normal zueinander orientiert und wieder zu Schwingungen angeregt. Der Lichtstrahl, der von den Spiegeln beider Stimmgabeln kommt, wird jetzt direkt auf den Schirm geworfen. Man sieht am Schirm das Summensignal beider schwingenden Stimmgabeln, eine allgemeine Ellipse.

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

261

(fortgesetzt) −3

Werte von σ in 10

−2

Jm

Jetzt wird wieder eine der beiden Stimmgabeln leicht gegen die andere verstimmt. Damit schwingen die Stimmgabeln mit den leicht unterschiedlichen Frequenzen ω1 und ω2: Es ergibt sich am Schirm eine komplizierte Bahnkurve und nur dann eine geschlossene Kurve, wenn das Verhältnis der Frequenzen ω1/ω2 rational ist. Bei irrationalen Verhältnissen der Frequenzen erfüllt die Bahnkurve im Laufe der Zeit die ganze Fläche des Rechteckes mit den Seiten 2 A1 und 2 A2.

Die geschlossenen Bahnkurven für rationale Frequenzverhältnisse nennt man nach Jules Antoine Lissajous (1822–1880) ‚Lissajous-Figuren‘ (Abb. I-5.14).

Δφ = φ1– φ2 0°

45°

90°

135°

180°

1

ω1/ω2

1/2

1/3

2/3

Abb. I-5.14: Lissajous-Figuren für verschiedene rationale Frequenzverhältnisse und Phasendifferenzen. Lissajous-Figuren können beim elastischen Schwingen von Stahlstäben unterschiedlichen Querschnitts (Quadrat, Rechteck, Kreis) sichtbar gemacht werden (Wheatstonesches Kaleidophon). Die unterschiedliche Biegesteifigkeit in den verschiedenen Schwingungsrichtungen führt zu Lissajous-Figuren, wenn man die Stäbe von oben beobachtet.

4

262

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

5.1.3 Zerlegung von periodischen und unperiodischen Funktionen, Fourieranalyse und Fouriertransformation Wir haben gesehen: Wenn N harmonische Schwingungen mit unterschiedlichen Frequenzen ωn und Anfangsphasen φn überlagert werden, so ergibt sich für die Summenschwingung (Gl. I-5.46) N​

x​ (t​) = ∑A​n​ cos (ω​n​ t​ + φ​n​ ). n​ = 1

Diese Summenfunktion ist bei rationalen Frequenzverhältnissen immer noch periodisch und hat die Periodendauer T = 2 π/ωg, wobei ωg der größte gemeinsame Teiler aller beteiligten Frequenzen ist (Abb. I-5.15).

x

x

t = π/ω sin (ωt) t

x

t = π/ω

sin (4ωt) t

x sin (2ωt) t

x

t = π/ω

sin (5ωt) t

x sin (3ωt) t

5



1 sin [(2n – 1)ωt] –1 t

n = 1 2n 5

∑ sin (nωt)

n=1

Abb. I-5.15: Überlagerung von 5 Schwingungen gleicher Amplitude der Frequenzen nω bzw. (2 n − 1)ω für n = 1, 2, 3, 4, 5. Die Amplitude der Summenfunktion ist verkleinert. (Nach W. Demtröder, Experimentalphysik 1: Mechanik und Wärme, Springer 1998.)

Gilt z. B. ωn = n⋅ω1 mit n = ganz, so ist die Periode von x(t) T = 2 π/ω1 . Für ω1 = 4 ω, ω2 = 6 ω, ω3 = 10 ω wäre T = 2 π/2 ω = π/ω. Als Umkehrung gilt das Fouriersche Theorem (nach Joseph Fourier, 1768–1830): 1

Jede periodische Funktion f(t) mit f(t) = f(t + T) lässt sich in Summen von harmonischen Schwingungen (Sinus- und Kosinusfunktionen) zerlegen, für deren Frequenzen ωn = n.ω1 gilt, die also ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz 2π​ ω​1 = sind: T​

263

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations) ∞​

f​ (t​) = A​0 +

∑ A​n​ cos (n​ ω​1 t​ − φ​n​ ) = n​ = 1 ∞​

=

∞​

a​0 + ∑ a​n​ cos (n​ ω​1 t​) + ∑ b​n​ sin ​ (n​ ω​1 t​) 2 n​ = 1 n​ = 1

(I-5.63)

Fourierreihenzerlegung (= Fourierreihe, Fourier series) mit a​n​ = A​n​ cos φ​n​

und

b​n​ = A​n​ sin ​φn​ ​ .

Dabei ist ω1 die Grundfrequenz, die höherfrequenten Anteile n ω1 nennt man Oberschwingungen. Die Koeffizienten an und bn sind die Fourierkoeffizienten (Fourier coefficients) der Fourierzerlegung. Die Form des gesamten Schwingungsvorgangs ist durch die Amplituden An und die Phasen φn oder durch die an und bn eindeutig bestimmt. Mit der komplexen Schreibweise erhält man unter Beachtung von 1 1 i​α​ −i​α​ sin ​α​ = (e​ i​α​ −e​ −i​α​ ) cos α​ = (e​ + e​ ) und 2 2 i​

−1

∞​

f​ (t​) =

a​0 i​n​ω​ t​ 1 i​n​ω​ t​ 1 + ∑e​ 1 [ (a​n​ − i​bn​ ​ )] + ∑e​ 1 [ (a​− n​ + i​b−​ n​ )] . 9 2 2 2 1 −∞​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ c​n​, n​ > 0

(I-5.64)

c​n​, n​ < 0

Setzen wir c0 = a0/2, so können wir die beiden Summen von 1 bis ∞ und von −∞ bis −1 in eine Summe von −∞ bis +∞ zusammenfügen und erhalten schließlich

+∞​

(I-5.65)

f​ (t​) = ∑ c​n​ e​ i​n​ω1​ t​ . n​ = −∞​

9 a​n​ cos​ (n​ ω​1 t​) = b​n​ sin​ (n​ ω​1 t​) =

= e​

i​n​ω1​ t​

1 2

(a​ e​

1 2 i​

i​n​ω1​ t​

n​

(

b​n​ e​

+ a​n​ e​

i​n​ω1​ t​

S

) PPPPPP

−i​n​ω1​ t​

− b​n​ e​

)

−i​n​ω1​ t​

T ⇒ a​n​ cos​ (n​ ω​1 t​) + b​n​ sin​ (n​ ω​1 t​) = P P P P P P U

1 −i​n​ω1​ t​ 1 i​n​ω​ t​ 1 i​n​ω​ t​ 1 [ (a​n​ − i​b​n​)] + e​ [ (a​n​ + i​b​n​)] = e​ 1 [ (a​n​ −i​bn​​ )] + e​ 1 [ a​−n​ + i​b​−n​)] 2 2 2 2

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ n​ > 0

n​ > 0

n​ < 0

264

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Der Zusammenhang der komplexen Koeffizienten cn mit den reellen Koeffizienten an und bn , bzw. An und φn , ist daher so gegeben:

c​n​ −∞​ ≤ n​ ≤ ∞​

=

1 (a​n​ − i​bn​ ​ ) 2 a​0 2 1 (a​−n​ + i​b−​ n​ ) 2

a​0 = 2 c​0 ,



f​ü​r​ n​ > 0 f​ü​r​ n​ = 0, A​n​ = √a​ n​ + b​ n,​ tan ​φn​​ = 2

2

b​n​ 10 . a​n​

(I-5.66)

f​ü​r​ n​ < 0

a​n​ = c​n​ + c​−n​ ,

b​n​ = i​ (c​n​ − c​−n​ ) ,

1 ≤ n​ ≤ ∞​.

Bestimmung der Amplituden Um den Koeffizienten der m-ten Komponente zu finden, wird die Fourierzerlegung −i​m​ω1​ t​ multipliziert (dadurch wird, wie sich später zeigt, der Koeffizient cm mit e​ ausgewählt) und über eine ganze Periode integriert T​

+∞​ T​

T​ +∞​

∫f​ (t​)e​

−i​m​ω1​ t​

d​t​ = ∫ ∑ c​n​ e​

0

0

− ∞​

i​n​ω1​ t​ −i​m​ω1​ t​

e​

d​t​ = ∑∫c​n​ e​

i​ (n​ − m​)ω​1 t​

d​t​

(I-5.67)

−∞​ 0

1 a​x​ a​x​ Unter Beachtung von ∫e​ d​x​ = e​ und ω1 = 2 π/T (im Nenner lassen wir ω1 stea​ hen) gilt T​

∫e​ 0

i​ (n​ − m​)ω​1 t​

d​t​ =

1 e​ 2 π​i​ (n​ − m​) − 1 (e​ i​ (n​ − m​)ω​1 T​ − 1) = . i​ (n​ − m​)ω​1 i​ (n​ − m​)ω​1

(I-5.68)

Für den Fall n ≠ m folgt n − m = k = ganz und es ergibt sich 2 k​π​i​ −1 e​ =0 i​ (n​ − m​)ω​1

(d. h. e​

i​n​ω1​ t​

(I-5.69)

und e​ i​m​ω1​ t​ sind orthogonal 11), da gilt e​ 2 k​π​i​ = 1.

* 10 cn und c−n sind also konjugiert komplexe Zahlen: c​n​ = c​ −n​ . 11 Wenn das Integral zweier Funktionen f(t) und g(t) über den ‚Grundbereich‘ von t verschwindet (wie bei unseren Exponential- und Winkelfunktionen), dann nennt man die beiden Funktionen in Anlehnung an das Verschwinden des Skalarprodukts zweier senkrecht stehender Vektoren ‚orthogonal‘. Anmerkung: Die eben behandelten Funktionen (Winkelfunktionen bzw. komplexe Exponentialfunktionen stellen zwar die wichtigsten, aber nicht die einzigen orthogonalen Funktionensysteme

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

265

Für den Fall n = m folgt sofort T​

∫e​

i​ ⋅ 0

d​t​ = T​ .

(I-5.70)

0

Es bleibt also in der Reihe nur der Term mit cn = cm über 12 und wir erhalten also T​

∫f​ (t​)e​

−i​m​ω1​ t​

d​t​ = c​m​ ⋅ T​ = c​n​ ⋅ T​

(I-5.71)

0

(da ja n = m). Für den Fourierkoeffizienten gilt daher T​

1 −i​n​ω1​ t​ d​t​ . c​n​ = ∫f​ (t​)e​ T​ 0

(I-5.72)

Die gesamte Fourierzerlegung kann also in komplexer Darstellung so geschrieben werden: ∞​

T​

f​ (t​) = ∑c​n​ e​ i​n​ω1​ t​

mit

− ∞​

Fourierreihenzerlegung

1 c​n​ = ∫f​ (t​)e​ −i​n​ω1​ t​ d​t​ . T​ 0

(I-5.73)

Fourierkoeffizienten

Über den bereits oben angegebenen Zusammenhang zwischen den komplexen und den reellen Koeffizienten (Gl. I-5.66) erhält man die reellen Amplituden des Fourierspektrums: für n = 0:

a0 = 2 c0,

für n > 0:

an = cn + c−n

und

bn = i(cn − c-n) .

dar. In der Quantenmechanik sind es vor allem die Legendreschen und die Laguerreschen Funktionen (beim Wasserstoffatom), die Hermiteschen Polynome (beim harmonischen Oszillator), wie überhaupt die Lösungen der so genannten Eigenwertgleichungen, also partieller Differentialgleichungen mit bestimmten Randwertbedingungen. Es sind dies orthogonale Funktionensysteme, mit deren Hilfe beliebige Funktionen als unendliche Reihen – wie oben mit Hilfe der Winkelfunktionen – dargestellt werden können. Sie stellen die Basisvektoren eines so genannten Hilbertraumes dar. Beispielsweise sind die oben betrachteten imaginären Exponentialfunktionen die Lösungen für die Eigenwertgleichung (also die Eigenfunktionen) der z-Komponente des Drehimpulses eines Elektrons im Zentralkraftfeld. 12 Dies ist eine Folge der Orthogonalität der verwendeten Exponentialfunktionen, sodass gilt T​

∫e​ 0

i​(n​−m​)ω​ t​ 1

d​t​ = T​ ⋅ δ​n​m​ . Dabei ist δmn das Kronecker Symbol: δmn = 1 für m = n, δmn = 0 für m ≠ n.

266

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Somit ergibt sich das Fourierspektrum eines periodischen Vorgangs als Linienspektrum mit scharfen Linien bei ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz ω1 = 2 π/T mit den Amplituden (‚Längen‘) an und bn (Abb. I-5.16). F(ω)

f(t) periodischer Vorgang

diskretes Frequenzspektrum

2T

T

3T

t

4π ___ 6π ___ T T

14 π ____ T

Abb. I-5.16: Zerlegung eines periodischen Vorgangs in eine Fourierreihe.

Beispiel: Fourieranalyse einer Rechteckschwingung. A​ f​ü​r​ 0 ≤ t​ ≤ T​/2 : f​ (t​) = { 0 f​ü​r​ T​/2 ≤ t​ ≤ T​ f (t) A

t 0

T/2

2T

T

Fourierzerlegung: +∞​

f​ (t​) = ∑c​n​ e​

i​n​ω1​ t​

−∞​

Koeffizienten: T​

T​/2

1 1 A​ A​ T​ A​ c​0 = ∫f​ (t​)e​ 0 d​t​ = ∫ A​ d​t​ = |t​ |T​0/2 = ⋅ = T​ 0 T​ 0 T​ T​ 2 2 T​/2

c​1 =

− A​ A​ 1 −i​ω1​ t​ T​/2 A​ T​ −i​ω1​ t​ | =− ∫ e​ d​t​ = | − e​ (e​ T​ 0 T​ i​ ω1​ T​ 2 π​i​ 0

=−

A​ A​ −i​π​ (e​ ⏟⏟⏟⏟⏟ − 1) = π​i​ 2 π​i​ −1

2 π​i​ T​ T​

2

− 1) =

ω

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

c​−1 =

A​ A​ i​π​ (⏟⏟⏟⏟⏟ e​ − 1) = − 2 π​i​ −1 π​i​

c​2 =

T​/2 A​ A​ 1 A​ T​ ( −2 i​ω​1 t​ −2i​ω​ t​ e​ ∫ e​ d​t​ = | − e​ 1 | = − T​ 0 T​ 2 i​ ω1​ T​ 4 π​i​ 0

(folgt auch daraus, dass c​−n​ = c​ *n). ​

T​/2

=−

−4 π​i​ T​ T​

2

) −1 =

A​ −2 π​i​ (e​⏟⏟⏟⏟⏟ − 1) = 0 . 4 π​i​ +1

Allgemein gilt: T​/2

A​ A​ − 1 −i​n​ω1​ t​ T​/2 − A​ −i​n​π​ | = c​n​ = ∫ e​ −i​n​ω1​ t​d​t​ = | e​ − 1) (e​ T​ 0 T​ i​ n​ω1​ i​2 n​π​ 0 Da e​ ±i​2 m​π​ = 0 ; e​ −i​ (2 m​ − 1)π​ = −1 ; e​ −i​ (−2 m​ + 1)π​ = −1 ; m = 1, 2, 3, … ergibt sich A​ (2 m​ − 1)i​π​ A​ = (−2 m​ + 1)i​π​

f​ü​r​ n​ > 0

c​2 m​ − 1 =

f​ü​r​ n​ < 0

c​−2 m​ + 1

für n = 2 m

c​2 m​ = 0, c​0 =

⇒ c​n​ = −c​−n​

A​ . 2

In unserem Beispiel ergeben sich damit folgende reelle Koeffizienten: a0/2 = A/2, an≠0 = cn + c−n = 0, bn = gerade = 0, b​n​ = ungerade = i​ (c​n​ − c​−n​ ) = i​ ⋅ 2 c​2 m​ − 1 =

i​ ⋅ 2 A​ 2 A​ = , (2 m​ − 1)i​π​ (2 m​ − 1)π​

also b​1 =

2 A​ 2 A​ 2 A​ , b​3 = (da m = 2), b​5 = (m = 3), usw., b2 = 0, b4 = 0, usw. π​ 3 π​ 5 π​

267

268

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

F(ω) = bn

f(t)

A A __ 2

T Rechteckschwingung

ω

t

0

ω1 2ω1 3ω1 4ω1 5ω1 6ω1

Fourierspektrum = Linienspektrum der periodischen Rechteckschwingung

Ausdehnung auf unperiodische Funktionen f(t) sei jetzt eine unperiodische Funktion. Wir lassen daher die Periode T in der Fourierzerlegung gegen ∞ gehen. Für eine endliche Periode T gilt 1 ω​1 = ν​1 = , T​ 2 π​

(I-5.74)

der Abstand der Frequenzen in der Fourierreihe ist Δω = (n + 1)ω1 − nω1 = ω1 . Für T​ =

(I-5.75)

2 π​ / ∞ gilt daher ω​1 % 0, d. h. ω1 wird differentiell klein, also ω​1

ω​1 = Δω​ / dω. Die in der Fourierreihe auftretenden Frequenzen n⋅ω1 liegen nun unendlich dicht, sodass n⋅ω1 zu einer stetigen Variablen ω wird, also n⋅ω1 / ω, jetzt kontinuierlich. 1 ω​1 Der im Fourierkoeffizienten vor dem Integral stehende Faktor = geht für T​ 2 π​ 1 ω​1 d​ω​ = lim​ = = d​ν​ . T​ % ∞​ über in lim​ T​ % ∞​ T​ ω​1 % 0 2 π​ 2 π​ Also: d​ω​ 1 % d​ν​ = . T​ 2 π​

(I-5.76)

Wir schreiben noch einmal die Fourierreihe mit eingesetzten Fourierkoeffizienten an, wobei wir aus Gründen der Übersichtlichkeit beim Übergang T / ∞ die Zeitgrenzen von {0,T} auf {−T/2, T/2} ändern (‚Zeitverschiebung‘):

269

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)

∞​ i​n​ω1​ t​

−∞​

∞​

T​/2

∞​

f​ (t​) = ∑c​n​ e​

1 −i​n​ω1​ t​ i​n​ω​ t​ = ∑[ ∫ f​ (t​)e​ d​t] ​ e​ 1 = T​ −∞​ −T​/2

T​/2

−∞​

T​/2

∞​

= ∑[ ∫ f​ (t​)e​ −i​n​ω1​ t​d​t] ​ e​ i​n​ω1​ t​ −T​/2

1 Δω​ ∑ [ ∫ f​ (t​)e​ −i​n​ω1​ t​d​t] ​ e​ i​n​ω1​ t​ Δω​ . = 2 π​ 2 π​ −∞​ −T​/2 ⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

= 1/T​

c​n​

(I-5.77)

Beim Grenzübergang T / ∞ gilt +∞​

+∞​

+∞​

∑/ ∫ , Δω / dω, n ω1 / ω, cn / F​ (ω​) = −∞​

−∞​

∫ f​ (t​)e​

− i​ω​t​

d​t​ ,

(I-5.78)

−∞​

das heißt, die Fourierkoeffizienten cn werden nun zu einer stetigen Funktion F (ν) der Frequenz ν bzw. F (ω) der Frequenz ω (Fouriersches Integraltheorem) +∞​

+∞​

i​2π​ν​t​ d​ν​ = f​ (t​) = ∫ F​ (ν​)e​ −∞​

1 i​ω​t​ ∫ F​ (ω​)e​ d​ω​ 2 π​−∞​

Fourierintegral (Fourier integral).

(I-5.79)

die Fouriertransformierte der Funktion f (t) (= Dichte des Spektrums oder Spektralfunktion, Fourier transform). 13

(I-5.80)

Hierbei ist

+∞​ −i​ω​t​ d​t​ F​ (ω​) ≡ ∫ f​ (t​)e​ −∞​

13 So wie man bei der Fourierreihe von der reellen zur komplexen Darstellung und umgekehrt wechseln kann (siehe Gl. I-5.64–Gl. I-5.73), – physikalische Realität besitzt nur die reelle Darstellung, die komplexe ist aber mathematisch weit vorteilhafter – so kann man auch vom komplexen Fourierintegral mit seinem komplexen Spektrum zur reellen Darstellung durch die Kosinustransformierte ∞​

∞​

F​cos​ (ω​) = ∫f​ (t​) cos ​ω​t​d​t​ und die Sinustransformierte F​sin​ (ω​) = ∫f​ (t​) sin ​ω​t​d​t​ übergehen: 0

f​ (t​) =

1

0

∞​

∫[F​cos​ (ω​) cos ​ω​t​

2 π​ 0

Aus F​ (ω​) =

1 2

+ F​sin​ (ω​) sin ​ω​t​]d​t​ =

1

+∞​



1

[F​cos​ (ω​) − i​F​sin​ (ω​)]e​

2 π​ −∞​2⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

i​ω​t​

d​ω​ =

1

+∞​

∫ F​ (ω​)e​ 2 π​ −∞​

i​ω​t​

d​ω​ .

F​(ω​) ∗



[F​cos​ (ω​) − i​F​sin​ (ω​)] folgt: F​cos​ (ω​) = F​ (ω​) + F​ (ω​); F​sin​ (ω​) = i​[F​ (ω​) − F​ (ω​)], womit die

reellen Kosinus- und Sinustransformierten aus der komplexen Fouriertransformierten gewonnen sind.

270

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

F (ν)dν bzw. F(ω)dω entspricht also den früheren Entwicklungskoeffizienten (Fourierkoeffizienten) der periodischen Funktion. Man beachte, dass die Dimension der 2 π​ Variablen ω​ = der Fouriertransformierten reziprok zur Zeit t ist, also reziprok T​ zur Dimension der Variablen des Fourierintegrals: Man spricht von ‚Reziprozität‘. In der Praxis liegt eigentlich immer eine zeitlich begrenzte harmonische Schwingung vor, sie besitzt einen Anfang und ein Ende, es handelt sich also um einen ‚Puls‘. Davon kann keine Fourierreihenzerlegung in harmonische Schwingungen angegeben werden. Es ist aber durch Bildung des Fourierintegrals möglich, die Frequenzverteilung des Schwingungsvorgangs zu ermitteln (Abb. I-5.17). Je kürzer der Puls, umso breiter wird der zur Beschreibung nötige Frequenzbereich, je länger der Schwingungsvorgang andauert, umso schmäler wird sein Frequenzbereich. unperiodischer Vorgang

f(t)

kontinuierliches Frequenzspektrum

F(ω)

T

2π/T

t

ω

Abb. I-5.17: Zerlegung eines unperiodischen Vorgangs in ein Fourierintegral.

Die Fouriertransformierte einer reinen, zeitlich unbegrenzten Sinusschwingung der Frequenz ω1 ergibt eine unendlich schmale, unendlich hohe Funktion F(ω), die um die Frequenz ω1 zentriert ist. Sie wird δ-Funktion genannt 14. Ein zeitlich konstanter Wert ergibt als Transformierte eine δ-Funktion bei ω = 0, und umgekehrt (Abb. I-5.18). 15 In anderen Bereichen der Physik, z. B. in der Wellenlehre (Akustik, Wellenoptik), wird häufig noch das Fourierintegral einer Ortsfunktion f(x) über 2 π/λ ge+∞​

14 Die δ-Funktion besitzt folgende wichtige Eigenschaft:

∫ f​ (x​) ⋅ δ​ (x​

− x​0 ) d​x​ = f​ (x​0), sie bildet

−∞​

also die Funktion f(x) auf ihren Wert an der Stelle x0 ab, sie ist ein Funktional (wie z. B. auch jedes +∞​

bestimmte Integral). Mit x​0 = 0 gilt daher:

∫ f​ (x​) ⋅ δ​ (x​) d​x​

= f​ (0).

−∞​

15 Die nachfolgend angegebenen Fouriertransformierten (= Spektralfunktionen) folgen sofort aus der Integraldarstellung der δ-Funktion: δ​(ω​) =

1

∞​

∫ e​ 2 π​ −∞​

−i​ω​t​

d​t​. Denn:

5.1 Ungedämpfte harmonische Schwingungen (undamped harmonic oscillations)



F(ω)

f(t)

1 __ 2π

δ-Funktion δ(ω – ω1)

1 f(t) = f(t + T) = __ eiω1t 2π

0 t

2π T = ___ ω1

Re f(t)

271

ω1

δ-Funktion: δ(x) = ∞ für x = 0 δ(x) = 0 sonst

F(ω)

f(t)

ω

+∞

mit ∫ δ(x) = 1 1 __ 2π

δ-Funktion δ(ω)

f(t) = const. = 1/2π

–∞

t

ω ω=0

Abb. I-5.18: Fouriertransformation einer reinen, zeitlich unbegrenzten Sinusschwingung (oben) und eines zeitlich konstanten Wertes (unten).

bildet, die Fouriertransformierte ist dann eine Funktion im reziproken Raum: Man spricht von Transformationspaaren (auch von ‚Dualität‘ oder ‚dualen Räumen‘). f​ (t​) ↔

= Fouriertransformierte der Zeitfunktion ,

F​ (ω​) ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

(I-5.81)

F​r​e​q​u​e​n​z​s​p​e​k​t​r​u​m​ E​n​e​r​g​i​e​s​p​e​k​t​r​u​m​ (E​ = ħ​ω​)

Kreisfrequenz ω = 2 π/T = 2 π v und Zeit t sind ein duales Paar. f​ (x​) ↔

F​ (k​x​ ) ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ I​m​p​u​l​s​s​p​e​k​t​r​u​m​ (p​ = ħ​k​)

= Fouriertransformierte der Ortsfunktion ,

(I-5.82)

Wellenzahl kx = 2 π/λ (λ … Wellenlänge) und Ort x sind ein duales Paar und es gilt +∞​

f​ (x​) =

+∞​

F​ (ω​) =



1 i​kx​ ​ x​ ∫ F​ (k​x​ )e​ d​kx​ ​ 2 π​−∞​

1

e​

i​ω1​ t​

e​

2 π​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ −∞​

−i​ω​t​

d​t​ =

1

+∞​

mit

F​ (k​x​ ) = F​ (

2 π​ ) = ∫ f​ (x​)e​ −i​kx​ ​ x​ d​x​ . λ​x​ −∞​

+∞​

∫ e​

2 π​ −∞​

+∞​ − i​(ω​ − ω​1)t​

d​t​ = δ​ (ω​ − ω​1 )

und

f​ (t​)

F​ (ω​) =



1

e​

2 π​ ⏟⏟⏟⏟⏟ −∞​

(I-5.83)

−i​ω​t​

d​t​ = δ​ (ω​).

f​ (t​) +∞​

Für die ‚Fläche‘, die die δ-Funktion umschließt, gilt

∫ δ​ (ω​

− ω​1)d​ω​ = 1. Außer der Stelle ω = ω1 ist

−∞​

die Funktion überall Null, woraus folgt, dass ihre Höhe ∞ ist.

272

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Sowohl ω⋅t als auch kx ⋅x sind dimensionslos, wie es sein muss, wenn sie als Exponent von e auftreten. Es gilt folgende Analogie: 2 π/T = (Kreis)frequenz ω ([1/T] = s−1 ); 2 π/λ = (Kreis)wellenzahl k ([1/λ] = m−1 ).

5.2 Der freie, gedämpfte Oszillator 4

Die Kugel hängt wieder an einer Spiralfeder in Ruhe, taucht aber jetzt in ein Becherglas mit einer zähen Flüssigkeit ein (z. B. Glycerin). Wird die Kugel a) aus der Ruhelage nach unten gestoßen oder b) langsam aus der Ruheposition etwas nach unten gezogen und dann losgelassen, so beginnt die Kugel wieder um die Ruhelage zu schwingen, die Amplitude der Schwingung nimmt aber mit jeder Schwingung stark ab und die Kugel kommt nach einigen wenigen Schwingungen wieder zur Ruhe. x(t)

t

Die Änderung der Auslenkung eines MP wird also nicht nur durch die rücktreibende Federkraft bestimmt, sondern auch durch die Reibungskraft, wenn energieverzehrende (dissipative) Prozesse vorliegen. Für den Reibungswiderstand einer Kugel in Flüssigkeiten gilt im Falle stationärer Bewegung näherungsweise das Stokessche Widerstandsgesetz für zähe Flüssigkeiten (vergleiche Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.3.7.2) F​R​ = −6π​η​r​υ​. Dabei ist r der Radius einer Kugel, die von einer mit der Geschwindigkeit υ​ strömenden Flüssigkeit der Zähigkeit η umströmt wird oder sich mit υ​ durch eine ruhende Flüssigkeit bewegt. Ganz allgemein setzt man eine Reibungskraft proportional zur Geschwindigkeit υ des sich bewegenden Körpers an 16, solange diese Geschwindigkeiten hinreichend klein sind 17, also 16 Es gibt kein allgemeingültiges Reibungsgesetz. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Reibungskraft stets den Betrag der Geschwindigkeit eines bewegten Körpers verkleinert und entgegengesetzt zur Richtung der Geschwindigkeit wirkt. Dies ist eine notwendige Folge der dissipativen Reibungsprozesse. 17 Tritt bei der Bewegung des Körpers Wirbelbildung auf (Auto, Flugzeug), so ist die Widerstands2 kraft zu υ proportional.

5.2 Der freie, gedämpfte Oszillator

F​⇀R​ = −β​ x​e​̇ ⇀x​ .

273 (I-5.84)

Außerdem wirkt wie bisher die rücktreibende Federkraft (Abschnitt 5.1.1, Gl. I-5.1) F​⇀= −k​ x​e⇀​x​ . In Newton 2 eingesetzt ergibt das m​x​̈ = −k​x​ − β​x​̇ und wir erhalten x​̈ +

Wir setzen wie früher γ​ =

β​ ̇ k​ x​ + x​ = 0 . m​ m​

(I-5.85)

k​ β​ 2 ≡ ω​ 0 und jetzt zusätzlich 2 γ​ = , m​ m​ β​ ist die dabei die Dämpfungskonstante . 2 m​

(I-5.86)

So erhalten wir die Schwingungsgleichung des gedämpften Oszillators 2

x​̈ + 2 γ​ x​̇ + ω​ 0 x​ = 0 .

(I-5.87)

Mit demselben Lösungsansatz wie für die ungedämpfte Schwingung (Abschnitt 5.1.1, Gl. I-5.14) x​ (t​) = c​e​ λ​t​ und x​̇ = c​λ​e​ λ​t​ und x​̈ = c​λ​ 2 e​ λ​t​ ergibt sich die Bestimmungsgleichung (= charakteristische Gleichung) für λ zu 2

λ​ 2 + 2 γ​λ​ + ω​ 0 = 0 .

(I-5.88)

Die Lösung dieser quadratischen Gleichung liefert λ​1,2 = −γ​ ± √γ​ 2 − ω​ 20 und damit die allgemeine Lösung der Schwingungsgleichung x​ (t​) = e​ −γ​t​ [c​1 ⋅ e​ √γ​

2

2

− ω​ 0 ⋅ t​

+ c​2 ⋅ e​ −√ γ​

2

2

− ω​ 0 ⋅ t​

].

(I-5.89) 2

2 Das zeitliche Verhalten von x(t) hängt ganz wesentlich von (γ​ − ω​ 0) ab und es lassen sich drei Fälle unterscheiden:

2

2

2

5.2.1 γ < ω0, 5 β < 4 km, schwache Dämpfung (underdamped) ω​ 20 ist größer als γ​ 2, wir schreiben daher die Wurzel λ so: λ​1,2 = −γ​ ± √−(ω​ 0 − γ​ 2 ) = −γ​ ± √− ω​ ′2 = −γ​ ± i​ ⋅ ω​′ , 2

(I-5.90)

274

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

wobei wir für √ω​ 0 − γ​ ≡ ω​′ gesetzt haben. λ ist also in diesem Fall komplex. 2

2

Damit wird die allgemeine Lösung zu x​ (t​) = e​

−γ​ t​

(c​e​

i​ω​′t​

+ c​ * e​

−i​ω​′t​

) = A​0 e​

−γ​ t​

cos (ω​′t​ + φ​) .

(I-5.91)

Die Koeffizienten c und c* sind jetzt wieder zueinander konjugiert komplexe Zahlen. In der komplexen Zahlenebene bedeutet diese Gleichung (Abb. I-5.19): Der Punkt c läuft auf einer logarithmischen Spirale im Gegenuhrzeigersinn gegen den Nullpunkt (analog der Punkt c* im Uhrzeigersinn).



r = et(−−iω′)

δ

φ



Im

c

Im



dr

dr x

φ

Re

δ Re

δ δ c*

⎞ ⎛ __ δ = arc cos ⎝ω ⎠ = const. 0

Abb. I-5.19: Darstellung der komplexen Koeffizienten c (rechts) und c* (links) der Gl. (I-5.91) in der komplexen Zahlenebene.

Beispiel: Berechnung des Winkels δ zwischen einer beliebigen Geraden durch den „Pol“ einer logarithmischen Spirale und der Tangente an die Kurve im Schnittpunkt mit der Geraden, als Beispiel für das Rechnen mit der komplexen Exponentialfunktion. Gesucht ist der Winkel δ​ =∠(r​⇀,−d​r⇀​ ) . Es gilt: t​ (−γ​+i​ω​′) x​⇀(t​) = r​⇀= e​

und damit d​r⇀= ​

d​r⇀​ e​ t​ ( − γ​ + i​ω​′) = k​r⇀​ ⋅ e​ i​φ​ ⋅ d​t​, φ​ =∠(r​⇀,d​r⇀​ ) , d​t​ = d​t​ (⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ −γ​ + i​ω​′) ⋅ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ d​t​ i​φ​ k​ ⋅ e​

r​⇀

wobei die Exponentialdarstellung einer komplexen Zahl benutzt wurde: a​ + i​b​ = √a​ 2 + b​ 2 ⋅ e​ i​φ​ = k​ ⋅ e​ i​φ​

mit

tan ​φ​ =

b​ . a​

275

5.2 Der freie, gedämpfte Oszillator

ω​′ , wobei φ der Winkel γ​ ω​′ zwischen r​⇀und d​r⇀ist. ​ Für δ gilt δ​ = π​ − φ​ , also tan δ​ ​ = tan ​ (π​ − φ​) = −tan φ ​ ​= . γ​ In unserem Fall ist mit k​ ⋅ e​

i​φ​

= −γ​ + i​ω​′ / tan ​φ​ = −

Daraus erhalten wir wegen cos α​ =

1

√1 + tan​ α​

/ cos δ​ =

2

und damit δ​ = arccos​

1

√1 + tan​ δ​

=

1

2

= 2

√1 +

ω​ ′ 2 γ​

γ​ 2

= 2

γ​ + ω​ ′

√⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

γ​ ω​0

ω​ 20

γ​ . ω​0

Es ergibt sich also wieder eine harmonische Schwingung cos (ω​′t​ + φ​), die aber mit der Funktion f​ (t​) = A​ (t​) = A​0 ⋅ e​ −γ​t​ moduliert ist, das heißt, die Amplitude A nimmt von ihrem Ausgangswert A0 bei t = 0 exponentiell mit der Zeit ab. Die Gesamtbewegung ist daher nicht mehr harmonisch, man nennt sie quasiharmonisch (Abb. I-5.20).

x(t)

(a)

A0

A(t) = A0e–t T =

2π ω20 – 2

t

A0/e (b) 1/

Abb. I-5.20: Zeitaufgelöste Bewegung des gedämpft schwingenden MP für die Fälle: a) aus der Ruhelage gestoßen (blau) und b) aus der Ruhelage ausgelenkt und losgelassen (schwarz).

Die dabei auftretende Kreisfrequenz ω​′ = √ω​ 0 − γ​ 2 ist trotz gleicher Rückstellkraft 2

kleiner als bei der ungedämpften Schwingung. γ muss die Dimension einer reziproken Zeit haben: nach der Zeit τ = 1/γ ist die Einhüllende der gedämpften Schwingung auf 1/e des Ausgangswertes gefallen 1 1 (A​0 e​ −γ​ τ​ = A​0 ⇒ τ​ = ). e​ γ​

276

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Für das Verhältnis zweier aufeinander folgender Ausschläge, die genau eine 2 π​ Schwingungsperiode T​ = auseinander liegen, gilt ω​′ x​ (t​) = A​0 e​

−γ​ t​

cos (ω​′t​ + φ​)

x​ (t​ + T​) = A​0 e​ −γ​ t​ e​ −γ​ T​ cos (ω​′t​ + φ​) ,

(I-5.92)

da ex+y = ex ⋅ey und cos [ω(t + T) + φ] = cos (ωt + φ). Damit ergibt sich für das Verhältnis der Ausschläge x​ (t​ + T​) −γ​ T​ . = e​ x​ (t​)

(I-5.93)

Man nennt den Logarithmus des Kehrwerts dieses Verhältnisses der Ausschläge x​ (t​) ] = γ​ ⋅ T​ ≡ δ​ ln​[ x​ (t​ + T​)

logarithmisches Dekrement.

(I-5.94)

Wenn die Dämpfung klein ist, kann man für die Schwingungsdauer jene der ungedämpften Schwingung einsetzen und erhält δ​ = γ​ ⋅ T​ ≈ 2 π​γ​

m​ β​ m​ π​β​ 1 . = 2 π​γ​√ = 2 π​ = √ ω​0 k​ 2 m​ k​ √m​k​

(I-5.95)

Das logarithmische Dekrement δ hängt also von allen drei die Schwingung bestimmenden Konstanten m, k und β ab.

2

2

2

5.2.2 γ > ω0, 5 β > 4 km, starke Dämpfung (overdamped) Die Wurzeln der charakteristischen Gleichung sind jetzt reell λ​1,2 = −γ​ ± √γ​ 2 − ω​ 20 = −γ​ ± α​

mit

α​ = √γ​ 2 − ω​ 0 < γ​ . 2

(I-5.96)

Die allgemeine Lösung lautet daher x​ (t​) = e​

−γ​t​

[C​1 ⋅ e​ α​t​ + C​2 ⋅ e​ −α​t​] .

(I-5.97)

Die beiden Exponentialfunktionen der Lösung sind jetzt reell, daher sind auch die beiden Konstanten reell. Wegen γ > α ist auch der erste Summand eine fallende (α​ − γ​) t​ . Exponentialfunktion x​1 (t​) = C​1 e​

5.2 Der freie, gedämpfte Oszillator

277

Zur Bestimmung der Koeffizienten aus den Anfangsbedingungen wählen wir zunächst x(t = 0) = x(0) = 0 und x​̇ (t​ = 0) = x​̇ (0) = υ​0, das heißt wir stoßen den MP aus seiner Ruhelage heraus. Damit ergibt sich C1 + C2 = 0,

also

C2 = −C1 .

(I-5.98)

Aus x​̇ = −γ​e​ −γ​ t​ [C​1 e​ α​t​ + C​2 e​ −α​t]​ + e​ −γ​ t​ [C​1 α​e​ α​t​ − C​2 α​e​ −α​t]​

(I-5.99)

erhält man x​̇ (0) = −γ​ (C​1 + C​2 ) + α​ (C​1 − C​2 ) = υ​0. Der erste Term der Summe verschwindet (Gl. I-5.98), sodass gilt υ​0 . α​

(I-5.100)

υ​0 υ​0 , C​2 = − . 2 α​ 2 α​

(I-5.101)

C​1 − C​2 = 2 C​1 = Für die Koeffizienten gilt also C​1 =

Für die Bewegung des MP ergibt sich daher x​ (t​) =

υ​0 −γ​ t​ α​t​ −α​t​ e​ [e​ − e​ ] . 2α​

(I-5.102)

1 Wir verwenden die Definition sinh​ (x​) = (e​ x​ − e​ −x​ ) und erhalten schließlich für 2 die Bewegung x​ (t​) =

υ​0 −γ​ t​ e​ sinh​ (α​t​) . α​

(I-5.103)

Die Schwingung besteht jetzt aus einer einzigen Auslenkung, die langsam gegen Null geht. Wegen α < γ wird x = 0 für t / ∞: Da [e​ α​t​ −e​ − α​t]​ stets positiv ist, tritt keine quasiperiodische Oszillation mehr auf, sondern es wird nur mehr ein einziges Maximum des Ausschlags durchlaufen, es ist ein aperiodischer Kriechfall (Abb. I-5.21). Lassen wir andererseits den MP von einer ausgelenkten Anfangslage x0 losschwingen, so ist x(0) = x0, x​̇ (0) = υ​0 = 0. C​1 + C​2 ) + α​ (⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ C​1 − C​2 ) = 0. Damit wird C1 + C2 = x0 und x​̇ (0) = −γ​ (⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ x​0

2 C​1 − x​0

x​0 x​0 Man erhält C​1 = (α​ + γ​) und C​2 = (α​ − γ​) und damit die zeitliche 2α​ 2α​ Bewegung zu

278

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

x​ (t​) = e​

−γ​ t​

x​0 [ (α​ + γ​)e​ α​t​ + (α​ − γ​)e​ −α​t]​ . 2 α​

(I-5.104)

In diesem Fall ‚kriecht‘ der MP also in die Ruhelage zurück, ohne dass er ein Maximum der Auslenkung durchläuft (Abb. I-5.22). x

ʋ0te–t

ʋ0 –t e sinh(αt) α

ʋ0/(⋅e)

t Abb. I-5.21: Kriechfall (blaue Kurve) und aperiodischer Grenzfall (schwarz strichliert, siehe Abschnitt 5.2.3), wenn der MP aus der Ruhelage gestoßen wird (α = 0,8; γ = 1).

x x0 __ e–t 2α [(α + )eαt + (α – )e–αt ]

x0(1 + t)e–t

t Abb. I-5.22: Kriechfall (blaue Kurve) und aperiodischer Grenzfall (strichliert, siehe Abschnitt 5.2.3), wenn der MP von der ausgelenkten Anfangslage x0 losgelassen wird (α = 0,8; γ = 1).

2

2

2

5.2.3 γ = ω0, 5 β = 4 km, α​ = √γ​ 2 − ω​ 0 = 0, kritische Dämpfung 2

(= aperiodischer Grenzfall, critically damped) Die Wurzeln λ der charakteristischen Gleichung sind jetzt entartet; da der Wurzelterm

√γ​ 2 − ω​ 20 verschwindet, gilt λ1 = λ2 = −γ ≡ λ .

(I-5.105)

Es muss aber immer noch zwei Integrationskonstanten geben. Um sie zu bestimmen, setzen wir eine Lösung mit einem zeitabhängigen Vorfaktor im verbleibenden Rest der allgemeinen Lösung an

279

5.2 Der freie, gedämpfte Oszillator

x​ (t​) = C​ (t​)e​ λ​t​ .

(I-5.106)

Durch differenzieren erhalten wir x​̇ (t​) = C​e​̇

λ​ t​

+ C​λ​e​

λ​ t​

und

x​̈ (t​) = C​e​̈

λ​ t​

+ C​λ​̇ e​

λ​ t​

2 λ​ t​

+ C​λ​ e​

λ​ t​

+ C​λ​̇ e​ .

2

In die Bewegungsgleichung (x​̈ + 2 γ​x​̇ + ω​ 0 x​ = 0 , Gl. I-5.87) eingesetzt ergibt das 2

2

C​̈ + C​̇ (2 λ​ + 2 γ​) + C​ (⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ λ​ + 2 λ​γ​ + ω​ 0 ) = 0 , ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ =0

(I-5.107)

=0

da ja gilt: γ = ω0 (kritisch gedämpft) und daher λ = −γ = −ω0. d​C​ Damit ist C​̈ = 0 und es folgt C​̇ = = const. mit der Lösung d​t​ C = C1 ⋅t + C2 .

(I-5.108)

Die allgemeine Lösung sieht daher so aus x​ (t​) = (C​1 ⋅ t​ + C​2 )e​ −γ​t​ .

(I-5.109)

Für den Fall des MP, der aus der Ruhelage (x = 0) gestoßen wird (x​̇ (0) = υ​0), erhalten wir für die Konstanten C1 und C2 x(0) = C2 = 0

und

x​̇ (0) = C​1 e​

−γ​ ⋅ 0

−γ​ (C​1 ⋅ 0 + C​2 )e​

−γ​ ⋅ 0

= C​1 = υ​0 .

(I-5.110)

Damit wird die zeitliche Bewegung zu x​ (t​) = υ​0 t​ ⋅ e​ −γ​t​ ,

(I-5.111)

sie ist also wieder aperiodisch, der MP kehrt aber in diesem Fall nach Durchlaufen einer maximalen Auslenkung schnellstmöglich in seine Ruhelage zurück: aperiodischer Grenzfall (Abb. I-5.20, schwarz strichlierte Kurve). Wird der MP aus der Anfangslage x0 ≠ 0 losgelassen, gilt also jetzt x(0) = x0 und x​̇ (0) = υ​0 = 0, so ergibt sich als Lösungsfunktion x​ (t​) = x​0 (1 + γ​ t​)e​ −γ​ t​ ,

(I-5.112)

es wird kein Maximum mehr durchlaufen, da die 1. Ableitung für alle t negativ ist. Auch in diesem Fall erfolgt die Rückkehr in die Ruhelage maximal rasch (Abb. I5.21, schwarz strichlierte Kurve).

280

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Die rasche Dämpfung beim aperiodischen Grenzfall hat eine besondere Bedeutung für technische Anwendungen, bei denen meist unerwünschte Schwingungen des Systems verhindert werden sollen. 18

5.2.4 Die Energie der Schwingungsbewegung In einem abgeschlossenen System bleibt die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie erhalten, also Egesamt = Ekin + Epot = const. Wird der harmonische Oszillator daher von außen nicht beeinflusst, so gilt: 1

Ist der ungedämpfte harmonische Oszillator ein abgeschlossenes System, so bleibt seine Gesamtenergie erhalten. Für die kinetische und die potenzielle Energie des harmonischen Oszillators gilt x​

x​

1 1 2 2 E​kin​ = m​x​ ̇ , E​pot = −∫F​ (x​)d​x​ = −∫ (−k​x​)d​x​ = k​x​ . 2 2 0 0 Der Energiesatz

(I-5.113)

1 2 1 2 m​x​ ̇ + k​x​ = const. gibt mit x​ (t​) = A​ cos (ω​0 t​ + φ​) 2 2 2

m​ω​ 0 2 2 k​ 2 sin​ (ω​0 t​ + φ​) + A​ cos (ω​0 t​ + φ​) = 2 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ A​

2

E​kin​

= A​ 2

=

E​pot​

m​ k​ 2 2 k​ 2 sin ​ (ω​0 t​ + φ​) + A​ cos (ω​0 t​ + φ​) = 2 m​ 2

2 A​ 2 A​ 2 ⋅ k​ = m​ω​ 0 = const. 2 2

(I-5.114)

Über eine Schwingungsperiode gemittelt erhält man so 2

̅ = A​ E​kin​

2

m​ω​ 0 2 k​ ̅ . ⏟ = A​ = E​pot​ 4 ω​ 2 = k​ 4 0

(I-5.115)

m​

18 Noch schneller kehrt der MP für praktische Zwecke zur Ruhelage zurück, wenn er einmal gerade noch merklich durch die Nulllage hindurchschwingt (weitere Nulldurchgänge sind wegen der starken Dämpfung nicht mehr beobachtbar)! Dies wird bei Messgeräten mit Federrückstellung ange2 wendet (schwach unterkritische Dämpfung: ω​ 0 wenig größer als γ2 ).

281

5.2 Der freie, gedämpfte Oszillator

− φ​ max​ 2 k​ ist E​ pot​ = A​ und Ekin = 0 (maximal ausgelenkte Position); für ω​0 2 2 m​ω​ 0 − φ​ π​ max​ max​ 2 k​ + ist E​ kin​ = A​ 2 = A​ = E​ pot​ und Epot = 0 (Durchlaufen der Ruhet​ = ω​0 2 2 2

Für t​ =

position). Die Erhaltungsgröße des (Abb. I-5.23). E

Energiesatzes

ist

also

max​

max​

E​ kin​ = E​ pot​ = const.

1 max max Egesamt = Ekin = Epot = __ mω20 A2 2 1 Epot = __ kx2 2

1 Ekin = Epot = __ mω20 A2 4 1 Ekin = __ mẋ 2 2

x –A

0

A

Abb. I-5.23: Kinetische und potenzielle Energie beim ungedämpften harmonischen Oszillator als Funktion des Ausschlags.

Die Energie des gedämpften Oszillators nimmt dagegen mit e​ −2 γ​ t​ ab (x​ 2̇ ∝ e​ −2 γ​ t​ ) E​ged. =

1 1 2 1 2 1 2̇ 2̇ + k​x​ ged.​ = e​ − 2γ​ t​ ( m​x​ unged. + k​x​ unged. ) , m​x​ ged.​ 2 2 2 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

(I-5.116)

= E​unged.

das System des Oszillators ist also nicht abgeschlossen, sondern es wird Energie nach außen abgegeben. Der Energieverlust des gedämpften Oszillators tritt als eine bisher nicht betrachtete Energieform, nämlich als Wärmeenergie, in der Umgebung des schwingenden Systems in Erscheinung. In unserem Experiment des in einer zähen Flüssigkeit schwingenden MP am Beginn von Abschnitt 5.2 erwärmt sich die dämpfende Flüssigkeit etwas. Wir untersuchen nun, wie sich die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie W zeitlich ändert

1

282

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

d​W​ d​ m​ 2̇ 1 2 = ( x​ + k​x​ ) = m​x​x​̇ ̈ + k​x​x​̇ d​t​ d​t​ 2 2

(I-5.117)

und erkennen, dass die rechte Seite die Summe des mit x​̇ multiplizierten ersten und dritten Terms der Bewegungsgleichung des gedämpften harmonischen Oszillators darstellt (Gl. I-5.85). Wir multiplizieren daher diese Schwingungsgleichung des gedämpften Oszillators mit x​̇ und erhalten für die Abnahme der Gesamtenergie d​W​ 2 = m​xx​​̇ ̈ + k​x​x​̇ = −2 γ​m​x​ ̇ . d​t​

(I-5.118)

Um die pro Schwingungsperiode in Wärme umgewandelte Energie WT (t) zu erhalten, betrachten wir die Energieänderung in einer Schwingungsperiode T E​ (t​) =

E​ (t​ + T​) =

m​ 2 2 m​ 2 2 −2 γ​t​ , ω​ 0 A​ (t​) = ω​ 0 A​ 0 e​ 2 2 m​ 2 2 −2 γ​ (t​ + T​) m​ 2 2 −2 γ​t​ −2 γ​T​ = ω​ 0 A​ 0 e​ ⋅ e​ . ω​ 0 A​ 0 e​ 2 2

(I-5.119)

Daraus erhalten wir WT, wobei wir für sehr schwache Dämpfung (γ ≪ ω0 und γ⋅T ≪ 1) mit 1 − e​ −x​ ≈ x​ näherungsweise setzen 1 − e​ −2 γ​T​ = 2 γ​T​: W​T​ = E​ (t​) − E​ (t​ + T​) =



m​ 2 2 −2 γ​t​ ⋅ (1⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ − e​ −2 γ​T​ ) ≈ ω​ 0 A​ 0 e​ 2 ≈ 2 γ​T​ = T​/τ​

m​ 2 2 t T​ 1 m​ 2 2 − t​ m​ 2 2 −2 γ​t​ ⋅ 2 γ​T​ = ω​ 0 A​ 0 e​ − τ​ = ω​ 0 A​ 0 e​ ω​ 0 A​ 0 e​ τ​ ⋅ T​ = 2 2 τ​ τ​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 2 ̅ (t​) + E​ ̅ (t​) E​ ̅(t​) = E​kin pot

=

E​ ̅(t​) ⋅ T​ . τ​

(I-5.120)

1 gesetzt, wobei τ die Energierelaxationszeit ist. τ​ Die Reibungsverluste steigen in diesem Fall also proportional zur Dämpfungskonstante γ bzw. indirekt proportional zur Energierelaxationszeit an. Ein für praktische Schwingungsprobleme (Akustik, Hochfrequenztechnik) viel verwendeter Begriff für die Bewertung der Dämpfung einer Schwingung ist die Oszillatorgüte Q, in der Hochfrequenztechnik ‚Kreisgüte‘ genannt. Die Oszillatorgüte ist definiert durch (für kleine Dämpfung ist ja ω​′ = ω​0)

Dabei wurde 2 γ​ =

Q​ = 2 π​

M​i​t​t​e​l​w​e​r​t​ d​e​r​ g​e​s​p​e​i​c​h​e​r​t​e​n​ E​n​e​r​g​i​e​ 2 π​E​ ̅(t​) 2 π​E​ ̅(t​) = = , m​i​t​t​l​e​r​e​r​ E​n​e​r​g​i​e​υ​e​r​l​u​s​t​ i​n​ e​i​n​e​r​ P​e​r​i​o​d​e​ W​T​ E​ ̅(t​) ⋅ T​ τ​

(I-5.121)

5.3 Erzwungene Schwingung und Resonanz

283

also

Q​ = 2 π​

ω​0 τ​ = ω​0 τ​ = T​ 2 γ​

Oszillatorgüte = Kreisgüte = Gütefaktor (quality factor, Q-factor).

(I-5.122)

Die Oszillatorgüte ist gleich dem 2 π-fachen der Anzahl der Schwingungen in der Relaxationszeit der Energie. Die Relaxationszeit τ ist dabei die Zeit, in der die Energie des Oszillators auf den Bruchteil 1/e gefallen ist.

Oszillatorgüte schwingender Systeme. schwingendes System

Oszillatorgüte Q

Klaviersaite, Geige, Erdbeben angeregtes Atom angeregter Fe57 Atomkern

10 7 10 12 3 ⋅ 10

3

5.3 Erzwungene Schwingung und Resonanz 5.3.1 Periodische Anregung, komplexe und reelle Amplituden der erzwungenen Schwingung Ein schwingungsfähiges System kann von außen zu Schwingungen angeregt werden. Wir lassen dazu auf unseren gedämpft schwingenden MP eine periodische i​ω​t​ wirken. Damit erhalten wir folgende Schwingungsäußere Kraft F​a​ = F​0 ⋅ e​ gleichung

2

x​̈ + 2 γ​ x​̇ + ω​ 0 x​ = a​0 ⋅ e​

i​ω​t​

mit

a​0 =

F​0 (reell) , m​

(I-5.123)

wobei a0 die Beschleunigungsamplitude der äußeren Kraft ist. Dies ist eine lineare, inhomogene DG. Die allgemeine Lösung erhalten wir als Summe der allgemeinen Lösung der zugehörigen homogenen DG (allgemeine Lösung der gedämpften Schwingung) und einer partikulären Lösung der inhomogenen DG. Wir nehmen als allgemeine Lösung der homogenen DG die Lösung für einen schwach gedämpften Oszillator (Gl. I-5.91) und als spezielle Lösung der inhomogenen DG eine periodische Schwingung mit der äußeren Anregungsfrequenz ω x​ (t​) = e​ −γ​t​ [c​ ⋅ e​ i​ω​′t​ + c​ * ⋅ e​ −i​ω​′t​] + c​′ ⋅ e​ i​ω​t​

mit

ω​′ ≡ √ω​ 0 − γ​ 2 . 2

(I-5.124)

284

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Der erste Summand stellt den Einschwingvorgang dar, der weitgehend durch die Eigenfrequenz ω0 des schwingenden Systems bestimmt wird. Er ist in der musikalischen Akustik für die Klangfarbe der Musikinstrumente mitverantwortlich. Dieser Schwingungsanteil der erzwungenen Schwingung klingt mit e​ −γ​t​ ab. Der zweite Summand, der nach Abklingen des Einschwingvorgangs bestehen bleibt, stellt den eigentlichen, stationären Schwingungsvorgang der erzwungenen Schwingung dar, der von der Anregungsfrequenz ω bestimmt wird. Wir betrachten daher im Folgenden nur mehr den stationären Schwingungsfall, nehmen also an, dass der Einschwingvorgang bereits abgeklungen ist. Als Lösungsansatz verwenden wir x​ (t​) = c​′ ⋅ e​ i​ω​t​, bilden x​̇ = i​ω​c​′ ⋅ e​ i​ω​t​ und x​̈ = −ω​ 2 c​′ ⋅ e​ i​ω​t​ und setzen in die Bewegungsgleichung ein 2

2

(−ω​ c​′ + 2 i​γ​ω​ c​′ + ω​ 0 c​′) ⋅ e​

i​ω​t​

= a​0 ⋅ e​

i​ω​t​

.

(I-5.125)

Es gilt also c​′ (ω​ 20 − ω​ 2 + 2 i​γ​ω​) = a​0 bzw. c​′ =

=

a​0

=

2

ω​ 0 − ω​ 2 + 2 i​γ​ω​

a​0 (ω​ 20 − ω​ 2 − 2 i​γ​ω​) 2

(ω​ 0 − ω​ 2 )2 + (2 γ​ ω​)2

a​0 (ω​ 20 − ω​ 2 ) − 2 i​a​0 γ​ω​ 2 (ω​ 0

2 2

− ω​ ) + (2 γ​ ω​)

2

=

= = a​ − i​b​ = |c​′ |e​ i​φ​

(I-5.126)

mit 2

a​ =

a​0 (ω​ 0 − ω​ 2 ) 2

(ω​ 0 − ω​ 2 )2 + (2 γ​ ω​)2

für den Realteil der Amplitude

(I-5.127)

für ihren Imaginärteil,

(I-5.128)

und b​ =

wobei

a​

|

2 a​0 γ​ω​ 2 (ω​ 0

− ω​ 2 )2 + (2 γ​ ω​)2

c​′ | = √a​ 2 + b​ 2 ; tan ​φ​ = 2

−b​ a​

(also φ = −arc tan (b/a)) mit b > 0 und

2

>0

f​ü​r​ ω​ 0 > ω​

=0

f​ü​r​ ω​ 0 = ω​ 2

ω​ 20 in Gegenphase (φ = −π); bei ω = ω0 springt die Phase um −π.

Phasenwinkel φ

–π

 = 0,05 = 0,10 = 0,15 = 0,30 = 0,50 = 1,00

–π/2

0 0

1

ω/ω0

2

Abb. I-5.25: Phasenlage φ zwischen der erzwungenen Schwingung und der Erregerschwingung für verschiedene Werte der Dämpfungskonstante γ.

5.3.2 Resonanz Wir fragen: Wann wird die Amplitude Astat der stationären erzwungenen Schwingung maximal? Dazu bilden wir die erste Ableitung von |c​′ | nach der Anregungsfrequenz ω und setzen Null 1

∂​ − (a​0 [ (ω​ 20 − ω​ 2 )2 + (2 γ​ ω​)2] 2 ) = ∂​ω​ 3

=−

=

1 2 2 2 2 2 − 2 a​0 [ (ω​ 0 − ω​ ) + (2 γ​ ω​) ] 2 [2(ω​ 0 − ω​ ) ⋅ (−2 ω​) + 4 γ​ω​ ⋅ 2 γ​] = 2

a​0 (2 ω​ (ω​ 20 − ω​ 2 ) − 4 γ​ 2 ω​) 3

[

2 (ω​ 0

2 2

2

− ω​ ) + (2 γ​ ω​)

]2

=

a​0 ⋅ 2ω​ ( (ω​ 20 − ω​ 2 ) − 2 γ​ 2 ) 3

[

2 (ω​ 0

2 2

=0

(I-5.133)

2

− ω​ ) + (2 γ​ ω​)

]2

Auch bei sehr kleiner Dämpfung bleibt der Nenner endlich und ungleich Null, der Zähler muss also verschwinden. Daher muss gelten

287

5.3 Erzwungene Schwingung und Resonanz

ω​ 20 − ω​ 2R​ − 2 γ​ 2 = 0

(I-5.134)

und damit ω​R​ = √ω​ 0 − 2 γ​ 2 < ω​0 2

Resonanzfrequenz

(I-5.135)

mit ω​R​ < ω​0 für γ​ ≠ 0. Bei sehr kleiner Dämpfung γ ≪ ω0 liegt die Resonanzfrequenz sehr dicht bei der Eigenfrequenz, also ωR ≈ ω0, und für ω = ω0 kommt es für γ = 0 (keine Dämpfung) zur Resonanzkatastrophe mit Astat / ∞. Der Maximalwert der Amplitude beträgt a​0

A​max​ =

√(

2 ω​ 0



2 ω​ R​

)

a​0

=

2



2 γ​√

2 ω​ 0

− γ​

2

a​0

⏟ = 2 ω​ 2R​ = ω​ 20 − 2 γ​ 2

+ (2 γ​ ωR​ ​ )

√(2 γ​

2

2

)

+ 4 γ​

2

= 2 ω​ 0

(

a​0 τ​ ω​0

− 2 γ​

2

)

(I-5.136)

1 (Relaxationszeit der Energieabnahme). 19 2 γ​ a​0 Für ω = 0 (statische Auslenkung A0 ) ist A​0 = 2 (Gl. I-5.130) und es ergibt sich ω​ 0 daher (Gl. I-5.122) mit τ​ =

A​max​ = ω​0 τ​ = Q​ . A​0

(I-5.137)

Das Verhältnis Amax /A0 heißt Resonanzüberhöhung und ist also gleich der Oszillatorgüte. Für γ / 0 (ungedämpfte Schwingung) gilt Amax / ∞ (Resonanzkatastrophe). Wegen des Einschwingvorgangs tritt Amax / ∞ aber erst für t / ∞ ein, es handelt sich also um eine ‚vorhersagbare Katastrophe‘. Es zeigt sich, dass die Resonanzkurven (Abb. I-5.26) asymmetrisch um ω0 γ​ liegen, die Asymmetrie steigt mit . 20 ω​ 19 Durch Elimination von γ2 aus den Beziehungen für ωR und Amax ergibt sich: 1 A​max​ = A​0 . 2 1 − (ω​ R​ / ω​0) 20 Eine

analoge

υ​ = x​̇ = |c​′ |i​ω​ e​

i​(ω​t​ + φ​)

Rechnung

zeigt,

dass

die

Geschwindigkeit

des

Massenpunktes

unabhängig von der Dämpfung γ stets für ωvR = ω0 das Maximum besitzt

(υ​max​ = a​0 / 2 γ​ = a​0 τ​).

288

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

10 Astat 8

 = 0,05 = 0,10 = 0,15 = 0,30 = 0,50 = 1,00

6

4

2 1 0 0

ωR/ω0 1

ω/ω0

2

Abb. I-5.26: Resonanzkurven der erzwungenen Schwingung für verschiedene Werte der Dämpfungskonstante γ. Die Maxima liegen auf einer zwischen ω/ω0 = 0 1 und ω/ω0 = 1 hyperbolisch ansteigenden Kurve: A​max​ = A​0 . 2 1 − (ω​ R​ / ω​0 )

Wir bemerken einen kleinen Unterschied der Resonanzfrequenz ω​R​ = √ω​ 0 − 2γ​ 2 2

zur Eigenfrequenz des schwach gedämpften Oszillators, bei dem ω​′ = √ω​ 0 − γ​ 2 2

war.

5.3.3 Energiebilanz der erzwungenen Schwingung Wie beim gedämpften Oszillator multiplizieren wir die Bewegungsgleichung (Gl. I-5.123) mit x​̇ , um die zeitliche Energieänderung zu sehen 2

m​x​x​̇ ̈ + k​x​x​̇ = ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ − 2 γ​ m​x​ ̇ + ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ g​e​s​a​m​t​e​ E​n​e​r​g​i​e​ä​n​d​e​r​u​n​g​ p​r​o​ Z​e​i​t​

E​n​e​r​g​i​e​υ​e​r​l​u​s​t​ d​u​r​c​h​ R​e​i​b​u​n​g​ p​r​o​ Z​e​i​t​

F​ (t​) ⋅ x​̇ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

.

(I-5.138)

υ​o​n​ a​u​ß​e​n​ z​u​g​e​f​ü​h​r​t​e​ E​n​e​r​g​i​e​ p​r​o​ Z​e​i​t​

Im stationären Zustand muss die Gesamtenergie konstant sein, also Eges = const. und damit m​x​x​̇ ̈ + k​x​x​̇ = 0 . Mit F​ (t​) = a​0 cos ω​t​ und x​ (t​) = |c​′ | cos (ω​t​ − φ​) folgt 2 F​ (t​) ⋅ x​̇ = 2 γ​ m​x​ ̇ =

2 γ​m​a​ 20 ω​ 2 2 ω​ 0

(

− ω​

2 2

2

) + (2 γ​ ω​)

sin​ 2 (ω​t​ − φ​) .

(I-5.139)

5.4 Gekoppelte Oszillatoren

289

Im stationären Fall der erzwungenen Schwingung wird also die gesamte von außen durch die Erregungskraft zugeführte Energie in Reibungswärme umgewandelt. Für den Resonanzfall ω​ ≅ ω​0, φ = −π/2 gilt

F​ (t​) ⋅ x​̇ =

m​a​ 20 π​ m​a​ 20 2 ⋅ sin​ (ω​t​ − ), im Zeitmittel: P​ = 〈F​ (t​)x​〉̇ = . 2 γ​ 2 4 γ​

(I-5.140)

Im Falle kleiner Dämpfung muss also bei Resonanz von der erregenden Kraft eine größere Leistung P erbracht werden als im Falle großer Dämpfung, da das Geschwindigkeitsquadrat mit fallender Dämpfung mit 1/γ 2 wächst (Gl. I-5.141). Für die Geschwindigkeit gilt im Resonanzfall x​̇ = −

a​0 π​ a​0 sin ​ (ω​t​ − ) = cos ω​t​ . 2 γ​ 2 2 γ​

(I-5.141)

Die Geschwindigkeit ist daher bei kleiner Dämpfung γ sehr groß und für den hohen Leistungsaufwand im Resonanzfall verantwortlich. Erregende Kraft und Geschwindigkeit sind im Resonanzfall in Phase, während die Auslenkung x um π/2 nacheilt. Um zu möglichst großen Ausschlägen zu kommen, stößt man daher die Schaukel immer im Nulldurchgang an, wenn die Geschwindigkeit maximal und die treibende Kraft mit ihr in Phase ist. 21

5.4 Gekoppelte Oszillatoren Besteht zwischen schwingungsfähigen Systemen eine Wechselwirkung, sodass die Schwingung eines Systems von der Schwingung des anderen beeinflusst wird, so spricht man von gekoppelten Oszillatoren (coupled oscillators); die Beeinflussung erfolgt durch Kopplungsglieder. Gekoppelte Oszillatoren haben in der Physik eine große Bedeutung, da die Schwingungsenergie von einem System auf das andere übertragen werden kann und es so zur Ausbreitung von Wellen kommt, wenn viele Schwinger beteiligt sind.

21 Allerdings liegt im Falle einer angestoßenen Schaukel keine sinusförmige Antriebskraft vor, sondern ein Kraftpuls. Die Grundfrequenz in der Fourierzerlegung des Kraftpulses muss mit der Eigenfrequenz ω0 der Schaukel übereinstimmen, denn zur Grundfrequenz gehört die größte Kraftamplitude a1 (≡ a0 in obiger Bezeichnung).

1

290

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

k1

m1

0

k12

x1

m2

0

k2

x2

Abb. I-5.27: Zwei Federpendel mit den Punktmassen m1 und m2 und den Federkonstanten k1 und k2, sind durch eine Koppelfeder mit der Federkonstante k12 (Kopplungskonstante) gekoppelt.

Wir betrachten 2 Federpendel mit den Punktmassen m1 und m2 und den Federkonstanten k1 und k2, die durch eine Koppelfeder mit der Federkonstante k12 (Kopplungskonstante) gekoppelt sind (Abb. I-5.27). Die Ausdehnung der mittleren Feder hängt von der jeweiligen Position xi beider Massenpunkte ab, dadurch hängt auch die Kraft auf jeden MP nicht nur von seiner eigenen Position ab, sondern auch von der Position des anderen MP. Für die Bewegungsgleichungen der beiden MP ergibt sich (x1, x2 Auslenkungen aus der Ruhelage) m​1 x​1̈ = −k​1 x​1 − k​12 (x​1 − x​2 ) }. m​2 x​2̈ = −k​2 x​2 − k​12 (x​2 − x​1 )

(I-5.142)

Dies sind gekoppelte Differentialgleichungen, sie enthalten die Auslenkungen x1 und x2 beider Massenpunkte. Wenn wir annehmen, dass die beiden Oszillatoren gleiche Massen und gleiche Federkonstanten haben, dass also gilt m1 = m2 = m und k1 = k2 = k, so ist eine Entkopplung der Gleichungen leicht möglich 22 m​x​1̈ = −k​x1​ − k​12 (x​1 − x​2 ) m​x​2̈ = −k​x2​ − k​12 (x​2 − x​1 ) .

(I-5.143)

Die Gleichungen werden addiert bzw. subtrahiert, das ergibt m​ (x​1̈ + x​2̈ ) = −k​ (x​1 + x​2 ) m​ (x​1̈ − x​2̈ ) = −k​ (x​1 − x​2 ) − 2 k​12 (x​1 − x​2 ) .

(I-5.144)

22 Mit entsprechendem mathematischem Aufwand ist eine Entkopplung selbst eines N-Teilchensystems immer möglich!

5.4 Gekoppelte Oszillatoren

291

Wir führen neue Variablen durch neue Koordinaten ein 1 (x​1 + x​2 ) 2

und

ξ​ − =

ξ​ + + ξ​ − = x​1

und

ξ​ − ξ​ = x​2 .

+ ξ​ =

1 (x​1 − x​2 ) 2

(I-5.145)

also +



(I-5.146)

und erhalten m​ξ​ +̈ = −k​ξ​ + m​ξ​ −̈ = −(k​ + 2 k​12 )ξ​ − .

(I-5.147)

Damit sind die DG’s entkoppelt! Als Lösungen in den neuen Koordinaten ξ​ + und ξ​ − setzen wir folgende harmonische Schwingungen an ξ​ + (t​) = A​1 ⋅ cos (ω​1 t​ + φ​1 ) − ξ​ (t​) = A​2 ⋅ cos (ω​2 t​ + φ​2 ) . 2

Dabei gilt (Gl. I-5.147) ω​ 1 =

(I-5.148)

k​ k​ + 2 k​12 2 und ω​ 2 = . m​ m​

Die Schwingungen des gekoppelten Systems ergeben sich als Überlagerung der + − Schwingungen ξ​ (t​) und ξ​ (t​) mit den Frequenzen ω1 und ω2 , den Normalschwingungen (= Fundamentalschwingungen, normal modes). Die nicht miteinander gex​1 + x​2 x​1 − x​2 − koppelten Koordinaten ξ​ + = und ξ​ = heißen Normalkoordinaten des 2 2 gekoppelten Systems. Welche Schwingungen führt das gekoppelte System in den üblichen Raumkoordinaten x1 und x2 aus? Wir nehmen vereinfachend an, dass die beiden Amplituden A1 und A2 gleich sind und setzen A1 = A2 = A. Damit erhalten wir für die Schwingung der Massenpunkte mit x​1 = ξ​ + + ξ​ − und x​2 = ξ​ + − ξ​ − x​1 = A​[cos (ω​1 t​ + φ​1 ) + cos (ω​2 t​ + φ​2 )] = = 2 A​[cos

ω​1 t​ + ω​2 t​ + φ​1 + φ​2 ω​1 t​ + φ​1 − ω​2 t​ − φ​2 ]= cos 2 2

ω​1 − ω​2 φ​1 − φ​2 ω​1 + ω​2 φ​1 + φ​2 = 2 A​ cos ( t​ + ) cos ( t​ + ) 2 2 2 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ S​c​h​w​e​b​u​n​g​s​f​r​e​q​u​e​n​z​

(I-5.149)

292

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

und x​2 = A​[cos (ω​1 t​ + φ​1 ) − cos (ω​2 t​ + φ​2 )] = = −2 A​ sin ​ (

ω​1 − ω​2 φ​1 − φ​2 ω​1 + ω​2 φ​1 + φ​2 ) sin ​ ( ). t​ + t​ + 2 2 2 2

(I-5.150)

Es ergeben sich also Schwebungen, die um π/2 gegeneinander phasenverschoben sind, sodass sich ein Pendel in Ruhe befindet, wenn das andere maximal ausgelenkt ist (Abb. I-5.28). x1(t) 1

0

t

–1 x2(t) 1

0

–1

t

π/2

Abb. I-5.28: Auf die Maximalauslenkung normierte Auslenkungen x1 und x2 der beiden gekoppelten Pendel als Funktion der Zeit. Es ergeben sich Schwebungsschwingungenen, die um π/2 gegeneinander phasenverschoben sind: Ein Pendel befindet sich in Ruhe, wenn das andere gerade maximal ausgelenkt ist.

Wie sehen die beiden Normalschwingungen ξ​ +(t​) und ξ​ − (t​) der gekoppelten Oszillatoren aus? Wir setzen zuerst die Anfangsbedingungen so, dass beide Massen um denselben Betrag ausgelenkt werden, die Koppelung also nicht beansprucht wird. Dann gilt wegen der Identität der beiden Schwinger, dass beide Massen gleichphasig mit k​ der gleichen Frequenz ω​1 = √ schwingen (Abb. I-5.29, links), also m​ x​1 (t​) = A​ ⋅ cos (√k​/m​ ⋅ t​ + φ​)

und

x​2 (t​) = A​ ⋅ cos ( √k​/m​ ⋅ t​ + φ​) . (I-5.151)

5.4 Gekoppelte Oszillatoren +

293



Für ξ​ und ξ​ folgt in diesem Falle ξ​ + (t​) =

1 (x​1 + x​2 ) = x​1 (t​) = A​ cos (ω​1 t​ + φ​1 ) 2

(I-5.152)

und ξ​ − =

1 (x​1 − x​2 ) = 0 . 2

(I-5.153)



+

ξ (t)

ξ (t)

t

ω1 =

t

k __ m

ω2 =

k + 2k12 _______ m

Abb. I-5.29: Gleichphasige (links) und gegenphasige (rechts) Normalschwingung der gekoppelten Pendel.

Wählen wir dagegen die Anfangsbedingungen so, dass beide Massen genau gegenphasig schwingen (Abb. I-5.29, rechts), dass also gilt x1(t) = −x2(t) mit Frequenz ω​2 = √

2 k​12 k​ + 2 k​12 2 = √ ω​ 1 + , so ist m​ m​ x​1 (t​) = A​ ⋅ cos (√ω​ 1 + 2 k​12/m​ ⋅ t​ + φ​) und 2

x​2 (t​) = −A​ ⋅ cos (√ω​ 1 + 2 k​12/m​ ⋅ t​ + φ​) 2

(I-5.154)

und es gilt jetzt + ξ​ =

1 (x​1 + x​2 ) = 0 2

(I-5.155)

294

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

und ξ​ − (t​) =

1 (x​1 − x​2 ) = −x​2 (t​) = A​ cos (ω​2 t​ + φ​2 ) . 2

(I-5.156)

Beide Pendel schwingen also genau gegenphasig mit der höheren Frequenz ω2. Die N Teilchen eines gekoppelten Systems von z. B. Atomen oder Molekülen eines Festkörpers mit 3 N Freiheitsgraden (siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.5) führen bei kleinen Auslenkungen aus der Ruhelage harmonische Schwingungen aus, wobei i. Allg. 3 N verschiedene Frequenzen, eine für jeden Freiheitsgrad, möglich sind (Normalschwingungen = Eigenschwingungen). Im Gegensatz zu den tatsächlichen Schwingungen der einzelnen Atome sind die fiktiven Normalschwingungen völlig unabhängig voneinander, also entkoppelt.

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves) Sind Massenpunkte z. B. durch Bindungskräfte mit anderen, räumlich benachbarten, gekoppelt, so kann sich die Schwingung eines Massenpunktes so weit im Raum ausbreiten, als es angekoppelte Massenpunkte gibt. 1

Bei der Ausbreitung von Wellen wird Schwingungsenergie räumlich transportiert. Wir sprechen auch von Strahlung, z. B. Schallstrahlung. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wellen hängt von der Kopplung und der Masse der schwingenden Systeme ab.

5.5.1 Ebene Wellen (plane waves), Phasengeschwindigkeit (phase velocity) Wir nehmen also jetzt an, dass der ganze Raum mit gekoppelten Oszillatoren gefüllt sei und betrachten nicht nur den Schwingungszustand an einem gewissen Punkt, sondern an allen Punkten des Raumes. Wir nehmen zunächst vereinfachend an, dass ein sich in x-Richtung ausbreitender Schwingungszustand von der y- und z-Koordinate unabhängig sei, also nur eine Funktion von x ist. Eine Welle liegt vor, wenn an der Stelle x dieselbe Schwingungsbewegung besteht wie am Ort x = 0, von der sie sich nur durch eine Phasenverschiebung unterscheidet, die der endlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit υ der Phase entspricht. 23 Gemäß unserer Annahme hängt der Schwingungszustand der 23 Der Schwingungszustand eines angekoppelten Atoms ist nach dem Vorhergehenden eine erzwungene Schwingung mit der Frequenz ω, die von der erregenden Kraft der Schwingungsbewegung herrührt. ω0 hingegen ist die Eigenfrequenz des angekoppelten Atoms. Die Phasenverschiebung der Schwingung des angekoppelten Atoms und damit die Ausbreitungsgeschwindigkeit der

295

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

Welle nur von der Koordinate in der Ausbreitungsrichtung ab, ist also für jeden Punkt jeder Ebene normal zur Ausbreitungsrichtung gleich, wir sprechen dann von einer ebenen Welle ( plane wave). Am Ort x = 0 herrsche zur Zeit t der folgende periodische Schwingungszustand u​ (0,t​) = u​0 cos (ω​ t​) .

(I-5.157)

Durch die Phasenverzögerung, die sich durch die endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit υ der Phase (= Schwingungszustand) ergibt, herrscht am Ort x ≠ 0 jener x​ Schwingungszustand, der am Ort x = 0 zur früheren Zeit t​ = geherrscht hat 24 υ​

x​ u​ (x​,t​) = u​0 cos [ω​ (t​ − ) ] . υ​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

(I-5.158)

P​h​a​s​e​

Diese harmonische Welle wird also durch eine Wellenfunktion (wave function) u(x,t) beschrieben, die eine periodische Funktion der Zeit (am gleichen Ort, Abb. I-5.30) und eine periodische Funktion des Ortes zu einem bestimmten Zeitpunkt (Momentaufnahme im ganzen Raum, Abb. I-5.31) ist.

T

u

x = x0 t t

t+T

t=0 Abb. I-5.30: Eindimensionale harmonische Welle, betrachtet am festen Ort x = x0 als Funktion der Zeit.

Die Wellenlänge λ ist der Abstand zwischen zwei benachbarten Punkten desselben Schwingungszustandes, also derselben Phase, zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Welle hängt wesentlich vom Verhältnis der erregenden Frequenz ω zur Eigenfrequenz ω0 ab und erklärt so das Auftreten der Dispersion. 24 t = x/υ ist die Zeit, die die Erregung braucht, um von x = 0, an den Ort x zu gelangen.

296

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

λ

u

x t = t 0 t = t1 x=0

Δx

Abb. I-5.31: Eindimensionale harmonische Welle, betrachtet als Momentaufnahme zu den Zeitpunkten t = t0 (durchgezogen) und t = t1 (punktiert).

Wir betrachten einen Momentanwert der Wellenfunktion zum Zeitpunkt t = 0 am Ort x = x0 u​ (x​0 ,0) = u​0 cos [ω​ (−

x​0 )] . υ​

(I-5.159)

An der Stelle x = x0 + λ muss der gleiche Schwingungszustand herrschen, also gelten cos [ω​(−

(x​0 + λ​) x​0 )] = cos [ω​( − )] . υ​ υ​

(I-5.160)

Die Argumente der Winkelfunktionen müssen sich daher um 2 π unterscheiden ω​x​0 ω​λ​ ω​x0​ + = + 2 π​ υ​ υ​ υ​

(I-5.161)

und wir erhalten ω​λ​ = 2 π​ υ​

bzw.

υ​ =

ω​ λ​ = ν​ ⋅ λ​ . 2 π​

Das ist die für die Wellenlehre grundlegende Gleichung für die Ausbreitungsgeschwindigkeit υ der Phase, die in abgeänderter Form – siehe Fußnote – auch Dispersionsrelation (dispersion relation) genannt wird: 25 υph = ν⋅λ 1

(I-5.162)

Die Phasengeschwindigkeit einer Welle ist gleich dem Produkt aus Frequenz und Wellenlänge. 25 Allgemein versteht man unter der Dispersionsrelation die Abhängigkeit der Kreisfrequenz ω von der Wellenzahl k = 2 π/λ, also ω = ω(k). Da die Phasengeschwindigkeit in materiellen Medien von 2 π​ ω​ υ​ph(k​) = also ω​ = ⋅ υ​ph(k​) = k​ ⋅ υ​ph(k​) = ω​(k​) Disperk abhängt, also υph = υph (k), ist hier 2 π​ λ​ λ​ sionsrelation.

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

297

2 π​ und erhalten damit für die Wir definieren als Wellenzahl (wave number) k​ = λ​ Phasengeschwindigkeit υph υ​ph = ν​ ⋅ λ​ = ν​ ⋅

2 π​ ω​ = . k​ k​

Damit können wir die Dispersionsrelation auch schreiben als

υ​ph (k​) =

ω​ k​

Dispersionsrelation (dispersion relation).

(I-5.163)

Wir kommen damit zu einer einfacheren Form der Wellenfunktion Wellenfunktion (wave function) einer ebenen Welle in x-Richtung.

u​ (x​,t​) = u​0 cos (ω​t​ − k​x​)

(I-5.164)

Die vollständige Beschreibung einer Welle, die keine reine Sinuswelle sein muss, erfordert wie bei der Schwingung eine Summe aus Sinus- und Kosinusfunktionen und kann auch in komplexer Darstellung erfolgen

u​ (x​,t​) = ∑ (A​i​ cos (ω​i​ t​ − k​i​ x​) + B​i​ sin ​ (ω​i​ t​ − k​i​ x​)) = i​ i​ (ω​ t​ − k​ x​) −i​ (ω​i​ t​ − k​i​ x​)) . = ∑(c​i​ e​ i​ i​ + c​ *i​ e​

(I-5.165)

i​

Meist schreibt man für einen Wellenzug verkürzt u​i​ (x​,t​) = A​i​ cos (ω​i​ t​ − k​i​ x​) = c​i​ e​ i​ (ω​i​ t​ − k​i​ x​) mit ci = ai + i bi und

(I-5.166)

c​i​ | = √a​ i​ + b​ i​ 2

2

und versteht darunter stillschweigend b​i​ i​ (ω​i​ t​ − k​i​ x​)) i​φi​ ​ ( . Mit c​i​ = |c​i​ |e​ , tan ​φi​ ​ = wird Re​ c​i​ ⋅ e​ a​i​ |

i​ (ω​ t​ − k​ x​ + φ​i​ ) u​i​ (x​,t​) = |c​i​ |e​ i​ i​

u​i​ (x​,t​) = Re​ |c​i​ |e​

i​ (ω​i​ t​ − k​i​ x​ + φ​i​ )

bzw. = |c​i​ | cos (ω​1 t​ − k​i​ x​ + φ​i​ ) ;

(I-5.167)

eine komplexe Amplitude ist also gleichbedeutend mit der Einführung eines Phasenwinkels.

298

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

5.5.2 Die Gruppengeschwindigkeit Die Phasengeschwindigkeit kann bei der Wellenausbreitung in Medien von der Wellenlänge abhängen (Dispersion), dann gilt also υph = υph (ω) = υph (λ) und es breiten sich Wellenzüge mit unterschiedlicher Wellenlänge auch mit unterschiedlicher Phasengeschwindigkeit aus. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Naturvorgänge, die stets einen Anfang haben, nicht durch harmonische Funktionen beschrieben werden können, weil Sinus- und Kosinusfunktionen definitionsgemäß weder Anfang noch Ende besitzen. Die Berechtigung zur Beschreibung von Naturvorgängen mit harmonischen Funktionen beruht auf dem Fourierschen Integraltheorem, nach dem auch eine unperiodische Funktion durch Überlagerung von harmonischen Funktionen beschrieben werden kann. Die Wellenfunktion kann damit als Summe von unendlich vielen harmonischen Teilwellen (= Partialwellen, partial waves) dargestellt werden, die man Wellenpaket (= Wellengruppe, wave packet) nennt.

Beispiel: Wir betrachten die einfachste denkbare Wellengruppe, bestehend aus zwei Wellenzügen k und l​ mit den Wellenlängen λk und λ​l​ = λ​k​ + Δλ​ , die sich mit unterschiedlichen Phasengeschwindigkeiten υ​ pk​ h = ν​k​ ⋅ λ​k​ =

1 λ​k​ T​k​

und

l​

υ​ ph = ν​l​ ⋅ λ​l​ =

1 (λ​k​ + Δλ​) T​l​

ausbreiten. Die ‚längere‘ l​-Welle habe die größere Phasengeschwindigkeit (das entspricht der normalen Dispersion in der Optik, siehe Band IV, Kapitel „Wellenoptik“, Abschnitt 1.3.3) und ihre Phase laufe in der gleichen Zeit weiter vor (in der Zeichnung unten nach rechts), als die Phase der k-Welle. Im Zeitraum Δt​ überhole die schnelle l​-Welle die k-Welle um Δλ. Die Differenzgeschwindigkeit Δυph der beiden Wellen ergibt sich also zu l​

k​

Δυ​ph = υ​ ph − υ​ ph =

Δλ​ Δt​

und

Δt​ =

Δλ​ . Δυ​ph

Wir betrachten die beiden Wellen k und l​ zur Zeit t: Zu diesem Zeitpunkt sollen beide Wellen in der Ebene A die gleiche Phase haben, nämlich beide ein Auslenkungsmaximum. Dort liegt damit zur Zeit t das Energiezentrum der Wellengruppe, die aus den beiden Einzelwellen k und l​ besteht. Zu diesem Zeitpunkt liegt in der Ebene B das Maximum der l​-Welle um Δλ zurück. Wir betrachten jetzt beide Wellen k und l​ zum Zeitpunkt t + Δt. Im Zeitraum Δt überholt die schnelle l​-Welle die langsamere k-Welle gerade um Δλ und das Energiezentrum der Wellengruppe liegt jetzt (siehe Zeichnung) in der Ebene B. Auf die Phase A der k-Welle bezogen (wir ‚sitzen‘ quasi als Beobachter in der

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

B

u

299

A λk

ʋkph

Welle k x

u

ʋlph > ʋkph

λl

Welle l x

Δλ

langsameren k-Welle) läuft also das Energiezentrum der Wellengruppe in der Zeit Δt von A nach B, also um λk zurück (in der Zeichnung nach links), und zwar λ​k​ Δυ​ph ⏟ mit der Geschwindigkeit λ​k​ = . Δt​ v​o​n​ o​b​e​n​ Δλ​ e​i​n​g​e​s​e​t​z​t​ k​

Da die Phase A der k-Welle aber mit υ​ph = υ​ ph vorläuft (nach rechts), bewegt Δυ​ph langsamer, es gilt also für υgr , die sich das Energiezentrum dazu um λ​k​ Δλ​ Δυ​ph Geschwindigkeit des Energiezentrums, υ​gr = υ​ph − λ​ , bzw. im GrenzüberΔλ​ gang differenziell kleiner Wellenlängenunterschiede υ​gr = υ​ph − λ​

d​υp​ h . d​λ​

Diese Ausbreitungsgeschwindigkeit des Energiezentrums einer Wellengruppe nennt man Gruppengeschwindigkeit (group velocity) υgr . d​υp​ h Der Differentialquotient beschreibt, wie sich die Phasengeschwindigkeit d​λ​ mit der Wellenlänge ändert und heißt Dispersion (dispersion).

300

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Für die allgemeine Ableitung der Gruppengeschwindigkeit gehen wir von einer zeitlich beschränkten harmonischen Schwingung, also von einem Puls aus. Bei Dispersion haben unterschiedliche Wellenlängen (und Frequenzen) eine unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeit, daher ändert sich die Form des Pulses im Laufe der Ausbreitung, er ‚zerfließt‘. Wir betrachten wieder den einfachsten Fall einer Wellengruppe, die nur aus zwei Teilwellen besteht, die sich um Δω in der Frequenz und Δk in der Wellenzahl unterscheiden u​1 (x​,t​) = u​0 cos (ω​ t​ − k​x)​ u​2 (x​,t​) = u​0 cos ( (ω​ + Δω​)t​ − (k​ + Δk​)x​) .

(I-5.168)

Wir überlagern die beiden Wellen u​1 + u​2 = 2 u​0 cos (

(2 ω​ + Δω​)t​ − (2 k​ + Δk​) Δω​ Δk​ ) cos ( t​ − x​) = 2 2 2

= 2 u​0 cos ((ω​ +

Δω​ Δk​ Δω​ Δk​ )t​ −(k​ + )x​) cos ( t​ − x​) . (I-5.169) 2 2 2 2

Unter der Annahme, dass sich die beiden Wellenzüge nur wenig in λ und damit auch in ω und k voneinander unterscheiden, dass also gilt Δω ≪ ω und Δk ≪ k, kann ohne wesentlichen Fehler geschrieben werden

u​1 + u​2 = 2u​0 cos (

mit

Δω​ Δk​ t​ − x​) cos (ω​t​ − k​x)​ = A​ ⋅ cos (ω​t​ − k​x​) 2 2 A​ = 2 u​0 cos (

Δω​ Δk​ t​ − x​) . 2 2

(I-5.170)

Wir erhalten also für die Wellengruppe wieder eine harmonische Welle mit der Frequenz ω und der Wellenzahl k, jedoch mit einer sich räumlich und zeitlich (langsam) ändernden Amplitude. Bei einer Momentaufnahme (t = const.) oder bei festgehaltenem Ort (x = const.) ergibt sich eine Schwebung. Die Amplitude der Wellengruppe breitet sich selbst wellenförmig aus. Während für die Ausbreitungsgeω​ schwindigkeit der Phase gilt υ​ph = , gilt für die Ausbreitungsgeschwindigkeit der k​ Amplitude, also des Energiezentrums der Welle und damit der GruppengeschwinΔω​ digkeit analog υ​gr = . Für beliebig kleine Δω und Δk, das heißt für unendlich Δk​ benachbarte Teilwellen, gilt daher

301

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

d​ω​ d​k​ ω​ υ​ph = k​

υ​gr =

G​r​u​p​p​e​n​g​e​s​c​h​w​i​n​d​i​g​k​e​i​t​ (g​r​o​u​p​ υ​e​l​o​c​i​t​y​) P​h​a​s​e​n​g​e​s​c​h​w​i​n​d​i​g​k​e​i​t​ (p​h​a​s​e​ υ​e​l​o​c​i​t​y​).

Man beachte die Analogie!

Diese Ausbreitungsgeschwindigkeit der Amplitude des Wellenpaketes ist die Gruppengeschwindigkeit des Wellenpakets u. Wir können diese Form der Gruppengeschwindigkeit umschreiben ω​ = υ​ph (k​) ⋅ k​ ⇒

Mit k​ =

υ​gr =

d​ω​ d​υp​ h = υ​ph + k​ ⋅ . d​k​ d​k​

2 π​ folgt λ​ d​k​ = −

2 π​ λ​

2

⋅ d​λ​ .

Oben eingesetzt erhalten wir

υ​gr =

d​ω​ 2 π​ d​υp​ h d​υp​ h​ = υ​ph − λ​ = υ​ph − ⋅ d​k​ λ​ 2 π​ d​λ​ d​λ​ λ​ 2

(I-5.171)

Gruppengeschwindigkeit. Es sind offenbar drei Fälle möglich: Die Gruppengeschwindigkeit kann kleiner, größer oder gleich der Phasengeschwindigkeit der Partialwellen sein, je nachdem, d​υp​ h größer Null (normale Dispersion), kleiner (anomale Disperob die Dispersion d​λ​ sion) oder gleich Null ist (keine Dispersion). Grundsätzlich ist nur die Gruppengeschwindigkeit von Wellen experimentell bestimmbar, da man messbare Signale nur durch Aus- und Einschalten einer Welle geben kann, nicht aber durch die einzelnen Wellenberge oder Wellentäler einer unbegrenzten Welle, die von den benachbarten Bergen und Tälern nicht zu unterscheiden sind. In der obigen Ableitung der Gruppengeschwindigkeit wurde nur die einfachste Möglichkeit einer Wellengruppe betrachtet, die nur aus zwei Teilwellen besteht. Man kann aber zeigen, dass das Ergebnis auch gilt, wenn die Wellengruppe aus

302

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

unendlich vielen Teilwellen besteht, deren Frequenzen und Wellenzahlen jeden möglichen Wert annehmen können, also sich kontinuierlich ändern. Wie bereits in Abschnitt 5.1.3 gesehen, kann das Fouriersche Integraltheorem auf unperiodische raum-zeitliche Funktionen u(x,t) ausgedehnt werden +∞​

u​ (x​,t​) =

1 i​ (ω​ (k​)t​ − k​x​) ∫ F​ (k​) ⋅ e​ d​k​ 2 π​−∞​

Fourierintegral eines Pulses

(I-5.172)

+∞​ −i​ (ω​ (k​)t​ − k​x​) d​x​ F​ (k​) = ∫ u​ (x​,t​) ⋅ e​

Fouriertransformierte eines Pulses.

(I-5.173)

−∞​

Die Fouriertransformierte F(k) stellt das Amplitudenspektrum der durch u(x,t) beschriebenen Wellengruppe dar. Im Allgemeinen führt die Darstellung des sich ausbreitenden Wellenpaketes (Pulses) nur in einem kleinen Raumbereich zu merklichen Amplituden und verschwindet überall sonst im Raum durch destruktive Interferenz. Dies führt dazu, dass das Amplitudenspektrum F (k) nur in einem sehr kleinen Bereich um ein mittleres k0 von Null verschieden ist (Abb. I-5.32). 26

F(k)

–Δk

+Δk

k0

k

Abb. I-5.32: Fouriertransformierte F(k) (= Amplitudenspektrum) der Wellengruppe u(x,t).

In diesem Fall kann man für das Wellenpaket in guter Näherung schreiben

u​ (x​,t​) =

1 2 π​

k​0 +Δk​



F​ (k​) ⋅ e​ i​ (ω​ t​ − k​x​) d​k​ .

(I-5.174)

k​0 −Δk​

26 Hier gilt wieder die Reziprozität: Je breiter der Puls, desto schmäler das Amplitudenspektrum und umgekehrt.

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

303

Wir beziehen jetzt die Wellenzahlen und Frequenzen der Teilwellen auf jene mit der größten Amplitude F(k0), den Schwerpunkt des Wellenpaketes und können so schreiben k = k0 + (k − k0)

und

ω = ω0 + (ω − ω0)

(I-5.175)

und entwickeln jetzt ω = ω(k) in sehr kleiner Umgebung von k0 ω​ = ω​ (k​0 + (k​ − k​0 )) = ω​ (k​0 ) +

d​ω​ d​ω​ | (k​ − k​0 ) = ω​0 + | (k​ − k​0) . d​k​ k​0 d​k​ k​0

(I-5.176)

Für k und ω in u eingesetzt ergibt dies näherungsweise

u​ (x​,t​) ≈

=

1 2 π​

1 2 π​

k​0 +Δk​



F​ (k​) ⋅ e​

i​ (ω​0 t​ +

d​ω​ d​k​

| (k​ − k​0 )t​ − k​0 x​ − (k​ − k​0 )x​) k​0

d​k​ =

k​0 −Δk​

k​0 +Δk​



d​ω​

F​ (k​) ⋅ e​ i​ ( d​k​ |

(k​ − k​0 )t​ − (k​ − k​0 )x​)

k​0

⋅ e​ i​ (ω​0 t​ − k​0 x​) d​k​ =

k​0 −Δk​

= F​′ (x​,t​) ⋅ e​ i​ (ω​0 t​ − k​x​)

(I-5.177)

mit

F​′ (x​,t​) =

1 2 π​

k​0 +Δk​



d​ω​

F​ (k​) ⋅ e​ i​ ( d​k​ | (k​ − k​0 )t​ − (k​ − k​0 )x​)d​k​

(I-5.178)

k​0

k​0 −Δk​

als neuer Amplitudenfunktion des Wellenpaketes 27, deren Schwerpunkt sich an der d​ω​ | (k​ − k​0 )t​ − (k​ − k​0 )x​ der Teilwellen Stelle befindet, an der sich die Phasen φ​ = d​k​ k​0 mit k nicht ändern, also konstruktiv interferieren. Dies ergibt die Bedingung d​φ​ d​ω​ =( t​ − x​) = 0 für den Ort des Maximums der Amplitudenfunktion, das sich d​k​ d​k​ also mit der Geschwindigkeit υ​gr =

x​ , also mit t​ 2

27 Hätten wir auch noch den zweiten Term in der Entwicklung,

d​ ω​ d​k​

2

2



(k​ − k​0) 2

, mitgenommen,

dann hätte sich gezeigt, dass die Halbwertsbreite von F′(x,t) mit der Zeit anwächst, das Wellenpaket also bei seiner Ausbreitung mit der Geschwindigkeit υgr „zerfließt“.

304

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

υ​gr =

d​ω​ (k​) | d​k​ k​0

(I-5.179)

im Raum ausbreitet.

5.5.3 Die Wellengleichung Wir sind bisher von ebenen Wellen ausgegangen, die sich in x-Richtung ausbreiten. Wir wollen jetzt zunächst die Ausbreitung von ebenen Wellen mit beliebiger Ausbreitungsrichtung im Raum betrachten. Zur Beschreibung der Ausbreitungsrichtung verwenden wir den Wellenvektor ⇀ 2 π​ und der Richtung senkk​⇀= {k​x,k​ ​ y,k​ ​ z} ​ mit dem Betrag der Wellenzahl k​ = | k​ | = λ​ recht zu den Wellenflächen, also den Flächen gleicher Phase. Wir betrachten die Ortsvektoren r​⇀1 und r​⇀2 zu zwei Punkten einer Ebene normal zur Ausbreitungsrichtung, also einer Phasenfläche (wavefront) (Abb. I-5.33). Ihr Differenzvektor r​⇀2 − r​⇀1 muss in dieser Ebene liegen, sein Skalarprodukt mit dem Wellenvektor muss daher verschwinden k​⇀⋅ (r​⇀1 − r​⇀2 ) = 0

bzw.

k​⇀⋅ r​⇀1 = k​⇀⋅ r​⇀2 .

(I-5.180)

z



k

d



r2

 

r2 – r1



r1 O

Phasenflächen

y

x Abb. I-5.33: Phasenflächen ebener Wellen mit beliebiger Ausbreitungsrichtung im Raum.

Flächen konstanter Phase, die Phasenflächen, werden daher charakterisiert durch k​⇀⋅ r​⇀= const. = k​ ⋅ r​ ⋅ cos (k​⇀,r​⇀) = k​ ⋅ d​

(I-5.181)

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

305

mit d als Abstand der Phasenflächen vom Ursprung und der Wellenzahl k = 2 π/λ. Für die Darstellung einer ebenen Welle mit beliebiger Ausbreitungsrichtung im Raum folgt dann mit derselben Argumentation wie in Abschnitt 5.5.1 ⇀

⇀ u​ (r​⇀,t​) = u​0 cos (ω​ t​ − k​⇀r​⇀) ≙ c​ ⋅ e​ i​ (ω​ t​ − k​r​ ) = c​ (e​ i​ (ω​t​ − k​d​))

(I-5.182)

Wellenfunktion einer ebenen Welle mit beliebiger Ausbreitungsrichtung k​⇀. Die Phasengeschwindigkeit υph ergibt sich aus

υ​ph =

d​ (ω​t​ − k​d)​ = 0 wieder zu (Gl. I-5.163) d​t​

ω​ . k​

Wir suchen jetzt nach jener Differentialgleichung (DG), für die ebene Wellen eine Lösung darstellen. Dazu setzen wir zunächst eine ganz allgemeine Wellenfunktion für ebene skalare Wellen an 28 u​ (r​⇀,t​) = A​ ⋅ f​ (ω​ t​ − k​⇀r​⇀) = A​ ⋅ f​ (g​)

(I-5.183)

mit g​ = ω​ t​ − k​⇀r​⇀= ω​t​ − k​x​ x​ − k​y​ y​ − k​z​ z​ . Dabei ist f(g) eine beliebige, zweimal differenzierbare Funktion. Auch diese allgemeine Funktion f(g) breitet sich in der k​⇀-Richtung mit der Phasengeschwindigkeit ω​ υ​ph = aus, da die Phasenflächen (ω​t​ − k​⇀r​⇀) = const. wieder senkrecht zu k​⇀liegen. k​ Wir differenzieren zuerst zweimal nach den Ortskoordinaten d​f​ ∂​g​ ∂​ ∂​u​ = A​ ⋅ = −A​ ⋅ f​ ′(g​) ⋅[ (k​x​ x​ + k​y​ y​ + k​z​ z​)] = ∂​x​ d​g​ ∂​x​ ∂​x​

= −A​ ⋅ f​ ′(g​) ⋅(k​x​

∂​x​

) = −A​ ⋅ k​x​ ⋅ f​ ′(g​)

∂​x​ ⏟⏟⏟⏟⏟ =1

2

∂​ u​ ∂​x​

2

= −A​ ⋅ k​x​ ⋅ f​ ″(g​)

∂​g​ 2 = A​ ⋅ k​ x​ ⋅ f​ ″(g​) ∂​x​

(I-5.184)

28 Ein Beispiel für skalare Wellen sind die Druckwellen (= Schallwellen) in einem Gas (z. B. Luft).

306

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

analog für die y- und z-Koordinate 2 ∂​ u​

∂​y​

2

∂​ 2 u​

2

= A​ ⋅ k​ y​ ⋅ f​ ″(g​),

∂​z​

2

2

= A​ ⋅ k​ z​ ⋅ f​ ″(g​)

(I-5.185)

und dann zweimal nach der Zeit ∂​u​ ∂​g​ = A​f​ ′(g​) = A​ ⋅ ω​ ⋅ f​ ′(g​) ∂​t​ ∂​t​ ∂​ 2 u​ ∂​t​

2

= A​ ⋅ ω​ ⋅ f​ ″(g​)

∂​g​

2 = A​ ⋅ ω​ ⋅ f​ ″(g​) .

(I-5.186)

∂​t​

Die Summation der zweifachen Ortsableitungen ergibt den Laplace-Operator Δu​ ∂​ 2 u​ ∂​x​ 2

+

∂​ 2 u​ ∂​y​ 2

+

∂​ 2 u​ ∂​z​ 2

2

2

2

1

∂​ 2 u​

= Δu​ = A​ ⋅ f​ ″(g​) (k​ x​ + k​ y​ + k​ z​ ) = A​ ⋅ k​ 2 ⋅ f​ ″(g​) . 29

(I-5.187)

Aus der zweifachen Zeitableitung folgt f​ ″(g​) =

2

A​ ⋅ ω​ ∂​t​

2

.

(I-5.188)

Wir erhalten durch Elimination von f​ ″(g​) Δu​ A​k​

2

=

1 A​ω​

2



∂​ 2 u​

(I-5.189)

∂​t​ 2

und so Δu​ = A​ ⋅ k​ 2 ⋅

mit υ​ph =

1

∂​ 2 u​

A​ ⋅ ω​ 2 ∂​t​ 2

=

k​ 2 ∂​ 2 u​ ω​ 2 ∂​t​ 2

=

1 ∂​ 2 u​ 2

υ​ ph ∂​t​ 2

(I-5.190)

ω​ . k​

29 Hieraus ist zu ersehen, dass wir die 2. Ableitungen bilden mussten, um im Ergebnis den rich2 tungsunabhängigen Betrag k des Ausbreitungsvektors zu erhalten.

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

307

Damit haben wir eine sehr allgemeine DG erhalten, der alle skalaren, ebenen Wellenfunktionen f​ (ω​t​ − k​⇀r​⇀) genügen 2

Δu​ =

1 ∂​ u​ 2 υ​ ph

∂​t​

2

allgemeine Wellengleichung (wave equation) für ebene skalare Wellenfunktionen.

(I-5.191)

Liegt statt einer ebenen Skalarwelle eine ebene Vektorwelle vor, so gilt die Wellengleichung für jede der drei Komponenten

Δu​⇀=

2 1 ∂​ u​⇀ 2 υ​ ph

∂​t​

2

allgemeine Wellengleichung für ebene vektorielle Wellenfunktionen. 30

(I-5.192)

Eine mögliche Lösung dieser Gleichung stellen harmonische Wellen dar (Gl. I-5.182): ⇀⇀

u​⇀(r​⇀,t​) = u​⇀0 cos (ω​ t​ − k​⇀r​⇀) ≙ c​⇀⋅ e​ i​ (ω​ t​ − k​r​ ). 31 Die Wellengleichung für die Vektorwelle zerfällt also in drei unabhängige skalare Wellengleichungen für die drei Raumkomponenten. Ist der Vektor u​⇀stets parallel zur Ausbreitungsrichtung, so sprechen wir von einer reinen longitudinalen Welle (longitudinal wave). 32 Hat u​⇀ dagegen keine Komponente in der Ausbreitungsrichtung, sondern ist stets normal dazu, sprechen wir von einer reinen Transversalwelle (transverse wave). 33 u​⇀kann dann in zwei Teilkomponenten zerlegt werden, die parallel zu jenen Achsrichtungen sind, die senkrecht auf die Ausbreitungsrichtung stehen. Besteht keine Phasendifferenz zwischen diesen beiden Komponenten des Vektors u​⇀,

30 Für den Laplace-Operator einer vektoriellen Größe siehe Kapitel „Deformierbare Körper“, Abschnitt 4.3.2, Anmerkung zu Gl. (I-4.58). 31 Aus der obigen Ableitung ist ersichtlich, dass jede zweimal differenzierbare Funktion f​ (ω​t​ − k​⇀r​⇀) – wovon wir ja bei unserer Ableitung der DG ausgegangen sind – eine Lösung der Wellengleichung ist. Sie wird als d’Alembertsche Lösung bezeichnet (nach Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, 1717−1783). Die Phasenflächen (ω​t​ − k​⇀r​⇀) = const. bewegen sich mit der Phasengeschwindigkeit ω​ υ​ph = in k​⇀-Richtung. Die Funktion f​ (ω​t​ − k​⇀r​⇀) = f​ (υ​p​h​ t​ − d​) mit d​ = k​⇀0 r​⇀verschiebt sich ohne zu k​ „zerfließen“ in der k​⇀-Richtung weiter, denn bei der Ableitung der d’Alembertschen Lösung ist vorausgesetzt, dass die Phasengeschwindigkeit υph = const. ist. Wenn dies nicht der Fall ist (wie in materiellen Medien), dann muss die Funktion f in n Teile zerlegt werden, für die die zugehörigen Phasengeschwindigkeiten υph,n wieder konstant sind und die n Teile müssen wieder zur Gesamtlösung addiert werden. Dieser Vorgang wird bei der Fouriersynthese praktiziert. 32 Z. B. die Welle der Auslenkung in einer Schallwelle. 33 Z. B. die Scherwelle in einem Kristall oder die Feldstärken in elektromagnetischen Wellen.

308

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

so ist die gesamte Auslenkung bei gleicher Phasengeschwindigkeit der Komponenten an jedem Ort linear. Es handelt sich um eine linear polarisierte (linearly polarized) Welle, die Schwingungsebene des Vektors u​⇀wird von der Ausbreitungsrichtung und der Schwingungsrichtung gebildet. Diese Ebene wird auch Polarisationsebene (plane of polarization) genannt. Bei einer Phasendifferenz zwischen den beiden Komponenten bleibt die Schwingungsebene nicht konstant, sondern dreht sich um die Ausbreitungsrichtung. Überlagern sich zwei zueinander senkrecht stehende, linear polarisierte Wellen, die also normal zur Ausbreitungsrichtung schwingen, so breitet sich i. Allg. (Phasendifferenz Δφ ≠ 0) eine elliptisch polarisierte (eliptically polarized) Welle aus. Ein Spezialfall davon ist die zirkular polarisierte (circularly polarized wave) Welle, wenn die beiden sich überlagernden Wellen um ±π/2 gegeneinander phasenverschoben und die Amplituden gleich sind (links- bzw. rechtszirkular polarisierte (left- and right circularly polarized) Wellen). Siehe dazu auch Band III, Kapitel „Wechselstromkreis und elektromagnetische Schwingungen und Wellen“, Abschnitt 5.5.3 ‚Polarisation elektromagnetischer Wellen‘ und Band IV, Kapitel „Wellenoptik“, Abschnitt 1.4.2. Kugelwellen (siehe dazu auch Abschnitt 5.6.5) In vielen Fällen, z. B. bei Schallwellen, bei denen die Erregung meist in einem Bereich erfolgt, der klein gegen die Wellenlänge ist, breiten sich Wellen im Raum von einem Erregerzentrum ausgehend gleichförmig in allen Richtungen aus und bilden kugelförmige Wellenfronten, die überall senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung stehen (Abb. I-5.34). Wir sprechen von einer Kugelwelle (spherical wave). Im Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.3.6, Beispiel ‚Radialströmung‘ wurde gezeigt, dass im Falle einer kugelsymmetrischen Poten-

ʋph r1

r2 λ

_ _ P P _____ I1 = _____ , I = 4πr 21 2 4πr 22 I1 __ r2 __ = 22 I2 r1

(siehe Text)

Abb. I-5.34: Bei einer Kugelwelle breiten sich Wellen mit kugelförmigen Wellenfronten von einem Erregerzentrum ausgehend gleichförmig in alle Richtungen aus. 2 Ihre Intensität I nimmt mit 1/r ab.

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

309

zialfunktion Φ(r) (Φ(r) hängt nur von r ab), die Laplace-Gleichung folgende Gestalt annimmt: ΔΦ =

2 ∂​ Φ

∂​r​

2

+

2 ∂​ Φ 1 ∂​ 2 (r​ ⋅ Φ) . = r​ ∂​r​ r​ ∂​r​ 2

(I-5.193)

Die Wellengleichung lautet also in diesem Fall Δu​ (r​,t​) =

1 ∂​ 2 1 ∂​ 2 u​ ∂​ 2 (r​u​) r​ ∂​ 2 u​ 1 ∂​ 2 (r​ ⋅ u​) (r​ ⋅ u​ ) = ⇒ = = . 2 2 2 2 2 2 2 r​ ∂​r​ 2 υ​ ph ∂​t​ ∂​r​ υ​ ph ∂​t​ υ​ ph ∂​t​

(I-5.194)

Das ist aber die eindimensionale Wellengleichung in der neuen Variablen (r⋅u), deren Lösung in Form der d’Alembertschen Lösung vorliegt: r​ ⋅ u​ = f​ (υ​ph ⋅ t​ − r​) = f​ (ω​t​ − k​r​) ⇒ u​ =

1 f​ (ω​t​ − k​r​) . r​

(I-5.195)

Im Falle einer harmonischen Kugelwelle kann daher die Wellenfunktion in folgender Weise angeschrieben werden

u​ (x​,t​) =

A​ i​ (ω​t​ − k​r​) A​ cos (ω​t​ − k​r​) = e​ r​ r​

Wellenfunktion einer Kugelwelle.

(I-5.196)

Die Intensität I einer Welle in einem bestimmten Raumpunkt ist die Leistung (Energie pro Zeit), die durch die Einheitsfläche senkrecht zur Ausbreitungsrichtung in diesem Punkt hindurchtritt. Da sich bei einer Kugelwelle die von der Quelle ausgesandte Energie in alle Richtungen gleichmäßig mit der Geschwindigkeit υph ausbreitet, muss diese Energie in jeder Entfernung r vom Erregerzentrum gleichmäßig über die Kugelflächen 4 π r2 verteilt sein und es muss im stationären Zustand für die Intensität im Abstand r gelten

I​r​ =

P​ ̅ 4 π​r​

2

,

also

I​ ∝

1 r​

2

̅ mittlere, von der Quelle (P​… ausgestrahlte Leistung).

(I-5.197)

In Abschnitt 5.5.5 (Gl. I-5.231) wird gezeigt, dass die Intensität einer Welle andererA​ seits proportional zum Quadrat der Schwingungsamplitude ist. Da diese gleich r​ 1 beträgt, nimmt also die Intensität mit ab, wie dies gerade gezeigt wurde. r​ 2

310

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

5.5.4 Ausbreitung von mechanischen Wellen Da in (idealen) Flüssigkeiten und Gasen der Schermodul G = 0 ist, sind nur longitudinale oder skalare Wellen möglich 34. Die Kopplung zwischen den schwingenden Molekülen erfolgt durch lokale Druck- und Dichteänderungen. Schallwellen in Flüssigkeiten und Gasen zeichnen sich dadurch aus, dass die auftretenden Geschwindigkeiten gegenüber ihren zeitlichen und räumlichen Ableitungen so klein sind,dassProduktedieserGrößenmitυ​⇀vernachlässigtwerdenkönnen.Mankanndaher in der Eulergleichung (siehe Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.3.2, Gl. I-4.57) den Vektor-Gradiententerm weglassen und erhält, wenn keine äußeren Kräfte wirken, die linearisierte Eulergleichung 1 ∂​υ⇀​ ⇀P​ . =− ∇ ∂​t​ ρ​

(I-5.198)

Wir untersuchen zuerst Wellen in kompressiblen Medien (Gasen) und nehmen dazu an, dass durch kleine Dichteschwankungen Abweichungen Δρ​ ̅ vom Durchschnittswert ρ​ ̅ verursacht werden, setzen also ρ​ = ρ​ ̅(1 + δ​ (t​,x​,y​,z​))

(I-5.199)

ρ​ − ρ​ ̅ Δρ​ = , der relativen Dichteschwankung und υ​⇀= υ​⇀+ δ​υ⇀​. ρ​ ρ​ ∂​ρ​ Setzen wir das in die Kontinuitätsgleichung + div( ρ​υ⇀​ ) = 0 (Kapitel „Mechanik ∂​t​ deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.3.1, Gl. I-4.48) ein und vernachlässigen die gegen 1 kleine Größe δ, so folgt mit δ​ =

∂​ ( ρ​ ̅ + ρ​δ̅ ​) ∂​ρ​ + div(ρ​υ⇀​ ) = + div( ρ​υ ̅ ⇀+ ​ ρ​δ̅ ​υ⇀​ ) = ∂​t​ ∂​t​ ∂​ρ​ ̅

=

∂​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟ = 0, ρ​ ̅ = const.​

= ρ​ ̅

+ δ​

∂​ρ​ ̅

∂​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

+ ρ​ ̅

=0

∂​δ​ + ρ​ ̅ div υ​⇀= 0 35 ∂​t​

∂​δ​ + div ρ​ ̅ υ​⇀+ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ div ρ​δ̅ ​υ⇀​ = ∂​t​ vernachlässigt

(I-5.200)

34 Eine Ausnahme stellen die Oberflächenwellen von Wasser dar, bei denen die Oberflächenspannung und die Schwerkraft eine rücktreibende Querkraft erzeugen und daher Transversalwellen ermöglichen. In diesen Oberflächenwellen führen die Wassermoleküle Kreisbewegungen aus, diese Wellen zeigen außerdem Dispersion. 35 Im Folgenden bezeichnen wir die mittlere Geschwindigkeit υ​⇀wieder mit υ​⇀.

311

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

und damit ∂​δ​ + div υ​⇀= 0 d​t​

Kontinuitätsgleichung im Schallfeld.

(I-5.201)

⇀P​ durch Wir wollen im Folgenden in der Eulergleichung den Druckgradienten ∇ ⇀δ​ ersetzen, um zu einer Differentialden Gradienten der Dichteschwankungen ∇ gleichung für δ zu gelangen. Da die Dichteschwankungen so rasch erfolgen, dass kein Temperaturausgleich stattfinden kann, müssen wir statt der isothermen Gasgleichung (Boyle-Mariotte) die adiabatische Gasgleichung (Poissongleichung) (siehe Band II, Kapitel „Physik c​P​ verwenden der Wärme“, Abschnitt 1.3.1.2.4) mit dem Adiabatenkoeffizienten κ​ = c​V​ P​ ⋅ V​ κ​ = const. und mit V​ ∝



P​ ⋅ V​ κ​ = P​ ̅ ⋅ V​ ̅ κ​

(I-5.202)

1 ρ​ P​ ρ​ κ​ ρ​ ̅ + ρ​ ̅ δ​ κ​ ) = (1 + δ​ )κ​ ⏟ = (1 + κ​ δ​) . =( ) =( P​ ̅ ρ​ ̅ ρ​ ̅ T​a​y​l​o​r​

(I-5.203)

P​ = P​ ̅ + P​κ̅ ​δ​ und grad P​ = P​ ̅ ⋅ κ​ ⋅ grad δ​ .

(I-5.204)

Damit wird

Unter neuerlicher Vernachlässigung von Produkten kleiner Größen ergibt sich 1 1 1 grad P​ = P​ ̅ ⋅ κ​ ⋅ grad δ​ . grad P​ = ρ​ ̅ + ⏟⏟⏟⏟⏟ ρ​ ̅ δ​ ρ​ ρ​ ̅

(I-5.205)

≈0

In die Eulergleichung (I-5.198) eingesetzt erhalten wir 1 1 ∂​υ⇀​ ⇀P​ = − P​ ̅ κ​ ⋅ ∇ ⇀δ​ . =− ∇ ∂​t​ ρ​ ρ​ ̅

(I-5.206)

Um υ​⇀aus der Eulergleichung und der Kontinuitätsgleichung zu eliminieren, differenzieren wir die Kontinuitätsgleichung (I-5.201) nochmals nach t, wobei wir beachten, dass die zeitliche und die örtliche Differentiation vertauscht werden kann

312

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

∂​ 2 δ​ ∂​t​

2

=−

∂​ ∂​υ⇀​ div υ​⇀= −div . ∂​t​ ∂​t​

(I-5.207)

∂​υ⇀​ aus der Eulergleichung (I-5.206) von oben eingesetzt ergibt ∂​t​ ∂​ 2 δ​ ∂​t​

2

=

1 P​ ̅ ⋅ κ​ P​ ̅ ⋅ κ​ ⋅ div grad δ​ = − Δδ​ . ρ​ ̅ ρ​ ̅

(I-5.208)

So erhalten wir schließlich die gesuchte DG für die Dichteschwankung δ Δδ​ =

ρ​ ̅

2 ∂​ δ​

P​ ̅ ⋅ κ​ ∂​t​ 2

.

(I-5.209)

Für die Abweichung der Dichte δ​ρ​ ̅ vom Mittelwert ρ​ ̅ ergibt sich also eine Wellengleichung mit der Phasengeschwindigkeit

υ​ph = √

P​ ̅ ⋅ κ​ . ρ​ ̅

(I-5.210)

Da die mittlere Dichte temperaturabhängig ist, gilt nach der Gasgleichung (Band P​ ̅ P​0̅ II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.1.2, Gl. II-1.9) und so = ρ​ ̅ ⋅ T​ ρ​0̅ ⋅ T​0 273,15 + ϑ​ P​0̅ P​ ̅ P​0̅ ⋅ (1 + α​ ϑ​) , = = ρ​ ̅ ρ​0̅ 273,15 ρ​0̅

(I-5.211)

wobei P​0̅ und ρ​0̅ die Normalwerte von Druck und Dichte, ϑ die Temperatur in Grad Celsius und α der thermische Ausdehnungskoeffizient des idealen Gases mit 1 −1 α​ = °C sind. 273,15 Die Schallgeschwindigkeit bei der Temperatur ϑ beträgt daher

υ​p​h​ = √

P​0̅ ⋅ κ​ ⋅ (1 + α​ ϑ​) κ​ ⋅ R​ =√ (1 + α​ ϑ​) ρ​0̅ M​

̅ = 36 Aus der Gasgleichung P​V​

m​ M​

Schallgeschwindigkeit in Gasen. 36

R​T​ (m = Gasmasse, M = Molekulargewicht, R = ‚ideale Gaskons-

tante‘ = NAk = 6,02214 ⋅ 1023 mol−1 ⋅ 1,38066 ⋅ 10−23 J K−1 = 8,31451 J mol−1 K−1) folgt P​ ̅ und damit υ​ph = √

κ​ R​ T​ M​

=√

(I-5.212)

κ​ R​(1 + α​ ϑ​) M​

.

V​ m​

=

P​ ̅ ρ​ ̅

=

R​T​ M​

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

313

Die Phasengeschwindigkeit sinkt also mit steigendem Molekulargewicht M des Gases, ‚schwere‘ Gase haben geringere Schallgeschwindigkeit als ‚leichte‘. Beispiel: Nimmt man etwa in einem Vorlesungsversuch einen tiefen Atemzug mit Helium-Gas (leichter als Luft, etwa 3-fache Schallgeschwindigkeit) aus einer Gasflasche, so wird der Ton der Stimme beim Sprechen stark erhöht (MickeyMouse-Effekt). 37 Wird der Versuch mit Wasserstoff durchgeführt (etwa 4-fache Schallgeschwindigkeit), so kann man überhaupt nicht mehr sprechen, da die Resonanzräume des Mund- und Rachenraumes nicht mehr ‚stimmen‘. Im Hörbereich zeigen Schallwellen keine Dispersion, die Gruppengeschwindigkeit ist konstant gleich der Phasengeschwindigkeit – andernfalls würde sich Musik schrecklich anhören! Die sensible Größe ist jedoch der Adiabatenkoeffizient R​ c​p​ c​υ​ + R​ = 1 + ; bei Frequenzen im MHz-Bereich beginnen die inneren κ​ = = c​υ​ c​υ​ c​υ​ Freiheitsgrade mehratomiger Moleküle (Schwingungen und Rotation) „einzufrieren“, cυ wird dadurch kleiner und die Schallgeschwindigkeit größer, es zeigt sich jetzt Dispersion. Der Effekt wurde 1881 von H. A. Lorentz vorausgesagt. Da ρ0 proportional zum Druck ist, ist die Schallgeschwindigkeit in Gasen vom Druck unabhängig und nur zur Temperatur ϑ proportional. Schallgeschwindigkeiten einiger Gase. Gas

υph (m/s) bei 0 °C

Luft Sauerstoff Helium Wasserstoff

331,5 316 965 1284

Auch in Flüssigkeiten können sich nur Longitudinalwellen bzw. Skalarwellen ausbreiten, wenn man von den Oberflächenwellen absieht. Die Phasengeschwindigkeit erhält man nach derselben Vorgehensweise, wenn man berücksichtigt, dass jetzt einfacher gilt Δρ​ ΔV​ −P​ = =− = −δ​ , V​ K​ ρ​

(I-5.213)

37 Die Ursache des Effekts ist komplizierter als oft angenommen, da die Frequenz durch die Stimmbänder vorgegeben ist. Was sich zunächst ändert, ist die Wellenlänge, diese wird wegen der größeren Phasengeschwindigkeit υph größer. Der Stimmapparat reagiert nun reflektorisch zu höherer Frequenz, um wieder kleinere Wellenlängen zu erzeugen, damit der Rachen-Resonanzraum wirksam bleiben kann. Beim Wasserstoff ist diese Kompensation nicht mehr möglich.

314

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

also P​ = K​δ​ ⇒ grad P​ = K​ grad δ​ .

(I-5.214)

K ist dabei der Kompressionsmodul (siehe Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.2.1, Gl. I-4.12). Bei Gasen galt grad P​ = P​ ̅ ⋅ κ​ ⋅ grad δ​ (Gl. I-5.204); dies zeigt, dass P​ ̅ κ​ in Gasen durch K in Flüssigkeiten zu ersetzen ist und wir erhalten

υ​ph = √

K​ ρ​ ̅

Schallgeschwindigkeit in Flüssigkeiten.

(I-5.215)

Schallgeschwindigkeiten einiger Flüssigkeiten. Flüssigkeit

υph (m/s)

Wasser (20°) Quecksilber Öl (SAE20/30)

1484 1450 1740

Für die longitudinale Schwingung fester Körper betrachten wir zum Zeitpunkt t ein kurzes Stück dx (ABCD) eines dünnen Stabes, das sich zur Zeit t + dt leicht gedehnt in der Position (A′B′C′D′) befindet (Abb. I-5.35).

dx A

q

A′

σ

B

B′

dσ σ + ___ dx dx

dm

D u

D′

C

C′

x du u + ___ dx dx

Abb. I-5.35: Kurzes Stück dx eines dünnen Stabes. Zur Zeit t = 0 nimmt es die Position ABCD ein, zur Zeit t = t′ die gedehnte Position A′B′C′D′.

Seine Masse ist dm = q ρ dx (q … Stabquerschnitt). Am linken Ende wirkt die Spand​σ​ d​x​. σ folgt aus dem Hookeschen Gesetz (Kapitel „Mechanik nung −σ, rechts σ​ + d​x​ deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.2.1, Gl. I-4.2)

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

Δl​

=

d​u​

=

d​x​

l​

σ​

2 d​ u​

=

1 d​σ​

315

.

(I-5.216)

d​σ​ d​σ​ d​x​ − σ​) = q​ d​x​ . d​x​ d​x​

(I-5.217)



E​

d​x​

2

E​ d​x​

Die Gesamtkraft beträgt F​ = q​(σ​ +

Diese Kraft beschleunigt nach Newton 2 das Massenelement d​m​ = q​ρ​d​x​ :

q​

d​σ​

d​x​ = q​ E​

d​x​

2 d​ u​ 2

d​x​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ =

2

d​x​ = ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ q​ρ​d​x​

d​ u​ 2

d​σ​

d​t​ ⏟⏟⏟⏟⏟ a​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

d​x​

N​e​w​t​o​n​ 2

d​m​



d​ 2 u​ d​x​

2

=

1 d​ 2 u​ E​/ρ​ d​t​ 2

.

(I-5.218)

Die Verrückung u breitet sich also mit der Phasengeschwindigkeit υ​ph = √

E​ ρ​

Schallgeschwindigkeit in dünnen Stäben

(I-5.219)

aus. Sie wird also in dünnen Stäben nur vom Elastizitätsmodul E und der Dichte ρ bestimmt. 38 In unendlich ausgedehnten, homogenen und isotropen Festkörpern führt die Gleichgewichtsbedingung des elastisch verformten Körpers zu folgender Phasengeschwindigkeit für longitudinale Wellen (= Verdichtungswellen) Phasengeschwindigkeit für Longitudinalwellen = Verdichtungswellen in Festkörpern.

E​ (1 − μ​) υ​ph,long = √ ρ​ (1 + μ​) (1 − 2 μ​)

(I-5.220)

Sie ist größer als in dünnen Stäben; 39 die unendlich ausgedehnten Medien sind sozusagen ‚steifer, unnachgiebiger‘ als dünne Stäbe 40. 38 Der Querschnitt q, der infolge der Querkontraktion nicht konstant ist, kürzt sich weg. Die Massenelemente besitzen aber auf Grund der Querkontraktion auch eine Beschleunigung senkrecht zur x-Achse, die hier nicht berücksichtigt wurde. Der obige Ausdruck für die Phasengeschwindigkeit ist daher nur näherungsweise richtig, und zwar umso mehr, je dünner der Stab im Verhältnis zur untersuchten Wellenlänge ist. 1 − μ​

=

1 − μ​

1

> 1 für 0 ≤ μ​ ≤ 1/2. Für viele Metalle liegt μ bei 2 2 μ​ 1 − μ​ ca. 0,3 (siehe Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.2.1). 40 Dies liegt an der Randbedingung bei dünnen Stäben, die an ihrer Mantelfläche keiner Spannung unterworfen sind, also der Querkontraktionskraft nachgeben können.

39

(1 + μ​)(1 − 2 μ​)

1 + μ​ − 2 μ​ − 2 μ​

2

=

1−

316

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Bei Transversalwellen bestimmen der Schermodul G und die Dichte ρ die Phasengeschwindigkeit

υ​ph,trans = √

G​ E​ 1 =√ ρ​ ρ​ 2(1 + μ​)

Phasengeschwindigkeit für Transversalwellen = Scherwellen in Festkörpern.

(I-5.221)

Da i. Allg. gilt G < E ( z. B. GStahl = 8,2⋅105, EStahl = 2,1⋅106) folgt, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer transversalen Schwingung und damit auch die Geschwindigkeit einer transversalen Schallwelle im Festkörper kleiner ist als die Geschwindigkeit einer longitudinalen Welle. Dies wird auch bei Erdbebenwellen festgestellt: Die Verdichtungswelle mit υlong = 8–13,5 km/s (im festen Erdmantel und im flüssigen Erdkern) ist rascher als die Scherungswelle mit υtrans = 4,4–7,5 km/s (tritt nur im Erdmantel auf). Schallgeschwindigkeiten einiger Feststoffe. Feststoff

υph (m/s) bei 0 °C

Eis (−4 °C) Glas Aluminium Kupfer Stahl Diamant

3 250 5 300 6 300 (long.), 3 080 (trans.) 4 660 (long.), 2 260 (trans.) 5 920 (long.), 3 255 (trans.) 17 500 (höchster Wert aller Festkörper)

Ohne Ableitung sei noch die Phasengeschwindigkeit der Transversalwelle einer schwingenden Saite angegeben:

υ​ph = √

σ​ ρ​

Phasengeschwindigkeit der Transversalwelle einer schwingenden Saite,

dabei sind σ die Spannkraft der Saite in N = kg m/s2 und ρ​ = in kg/m.

(I-5.222)

m​ die lineare Dichte l​

5.5 Mechanische Wellen (mechanical waves)

317

Beispiel: Bestimmung des E-Moduls in der Kundtschen41 Röhre. Stab

Kolben

λStab/4

λLuft

Ein Stab ist in seiner Mitte fest eingeklemmt. Eines seiner Enden, an dem sich zur Schallübertragung ein ganz leichtes Plättchen (z. B. aus Kork) befindet, ragt in ein Glasrohr, das am anderen Ende mit einem beweglichen Kolben abgeschlossen ist. Wird der Stab an seinem freien Ende, z. B. durch Reiben mit einem Lederlappen, zu Longitudinalschwingungen angeregt, so dringen diese in das luftgefüllte Glasrohr ein und werden am Kolben reflektiert. Bei geeigneter Kolbenstellung können sich so im Glasrohr stehende Wellen ausbilden und z. B. mit feinem Kork- oder Lycopodiumpulver sichtbar gemacht werden, das nur an den Schwingungsknoten liegen bleibt. Der Abstand der Knoten in der Luftsäule beträgt λLuft /2, die Wellenlänge λStab im Stab ist doppelt so groß wie die Stablänge. Für das Verhältnis der Wellenlängen ergibt sich so, da die Frequenz im Stab und in der Luft gleich ist (λ = υph/v) λ​Luft υ​Luft = . λ​Stab υ​Stab Bei bekannter Schallgeschwindigkeit in Luft (man beachte die Temperaturkorrektur entsprechend Gl. I-4.212!) folgt unmittelbar die Schallgeschwindigkeit des E​ Stabmaterials und damit auch dessen Elastizitätsmodul aus υ​ph = √ . ρ​ Durch Vergleich mit dem luftgefüllten Rohr kann die Schallgeschwindigkeit anderer Gase über die geänderte Wellenlänge im Rohr bei gleicher, durch den Stab vorgegebener Frequenz, bestimmt werden. P​0̅ ⋅ κ​ ⋅ (1 + α​ ϑ​) Aus der Schallgeschwindigkeit von Gasen folgt mit υ​ph = √ ρ​0̅ weiters der Adiabatenkoeffizient κ​ =

c​P​ . c​V​

41 Nach August Adolph Eduard Eberhard Kundt, 1839–1894, Lehrer Röntgens.

318

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

5.5.5 Energiedichte und Energietransport Das einzelne Massenelement einer mechanischen Welle Δm = ρ⋅ΔV führt Schwingungen aus, die durch die Kopplung an die Nachbarelemente zu einer räumlichen Ausbreitung der Schwingung führt. Das heißt aber, dass die kinetische und die potenzielle Energie der Schwingung sich mit der Wellengeschwindigkeit (= Phasengeschwindigkeit), aber ohne Massentransport ausbreiten. Wir betrachten zunächst die kinetische Energie eines schwingenden Massenelements Δm in einer ebenen Welle u​ = u​0 ⋅ cos (ω​ t​ − k​ x​) E​kin =

1 1 2 2 2 2 Δm​u̇ ​ = ρ​ ̅ ΔV​ u​ 0 ω​ sin​ (ω​ t​ − k​ x​) . 2 2

(I-5.223)

Mitteln wir nun über eine Schwingungsperiode am Ort x und beachten dabei, dass T​

1 1 2 ∫ sin​ (ω​t​ − k​x​)d​t​ = , so folgt für die mittlere kinetische Energie im VolumenT​ 0 2 element ΔV Für die kinetische Energiedichte (energy density) wkin erhalten wir also w​̅kin =

E​ ̅ 1 2 2 = ρ​ ̅ u​ 0 ω​ . ΔV​ 4

(I-5.225)

Wir wenden uns jetzt der potenziellen Energie eines Massenelements zu, das unter Einwirkung einer „harmonischen“ rücktreibenden Kraft F(z) = −k⋅z schwingt u​

u​

E​pot = −∫F​ (z​)d​ z​ = k​∫z​ d​ z​ = 0

0

1 2 1 2 2 k​u​ = k​ u​ 0 cos (ω​ t​ − k​ x​) . 2 2

(I-5.226)

Über eine Schwingungsperiode gemittelt ergibt das wieder unter Beachtung von T​

1 1 2 ∫cos (ω​ t​ − k​ x​)d​ t​ = : T​ 0 2 ̅ = E​pot

1 2 k​u​ 0 4

⏟ = 2

m​i​t​ ω​ =

k​

1 1 2 2 2 2 Δm​ ω​ u​ 0 = ρ​ ̅ ΔV​ u​ 0 ω​ . 4 4

(I-5.227)

Δm​

Für die potenzielle Energiedichte wpot erhalten wir so w​̅pot =

̅ E​pot 1 2 2 = ρ​ ̅ u​ 0 ω​ = w​̅kin . ΔV​ 4

(I-5.228)

Damit ergibt sich die mittlere mechanische Gesamtenergie eines Volumenelements ΔV einer ebenen Welle zu

5.6 Akustik

̅ + E​pot ̅ = W​̅ = E​kin

1 2 2 ρ​u ̅ ​ 0 ω​ ΔV​ 2

319 (I-5.229)

bzw. die mittlere Energiedichte zu w​̅ =

̅ + E​pot ̅ E​kin 1 2 2 = ρ​u ̅ ​ 0 ω​ ΔV​ 2

mittlere Energiedichte einer ebenen Welle.

(I-5.230)

Für die Intensität (= Energieflussdichte, energy flux density) I, das ist die pro Zeiteinheit durch eine zur Ausbreitungsrichtung normale Flächeneinheit mit der Phasengeschwindigkeit transportierte Energie 42, erhalten wir schließlich I​ = w​̅ ⋅ υ​ph =

1 2 2 υ​ph ρ​ ̅ u​ 0 ω​ 2

Intensität einer ebenen Welle.

(I-5.231)

Die Intensität einer ebenen Welle ist also in einem dispersionsfreien Medium ortsund zeitunabhängig. Sie muss natürlich von der erregenden Kraft (Schallquelle, Sender) aufgebracht werden. Bei einer Kugelwelle, bei der u0 durch u0/r zu ersetzen ist, nimmt die Intensität mit 1/r 2 ab.

5.6 Akustik 5.6.1 Stehende Wellen (standing waves) Wir betrachten die Überlagerung zweier ebener Wellen gleicher Amplitude, die sich in entgegengesetzter Richtung ausbreiten. Die eine Welle laufe in die positive xRichtung u​1 = u​0 ⋅ e​

i​ (ω​t​ − k​x​)

,

(I-5.232)

die andere in die negative x-Richtung mit einer Phasenverschiebung Φ am Ort x = 0 zur Zeit t = 0 u​2 = u​0 ⋅ e​

i​ (ω​t​ + k​x​) + i​φ​

.

(I-5.233)

42 Solange keine Dispersion vorliegt und daher υph = υgr gilt, kann hier statt der Gruppengeschwindigkeit die Phasengeschwindigkeit genommen werden.

320

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves) i​z​

Als Summenwelle ergibt sich mit (e​ = cos z​ + i​ sin ​z​, e​ u​1 + u​2 = u​0 ⋅ e​

i​ω​t​

− i​z​

= cos z​ − i​ sin ​z​)

φ​

φ​

φ​

2

2

2

{e​ −i​k​x​ + e​ i​k​x​ ⋅ e​ i​φ}​ = u​0 ⋅ e​ i​ω​t​ e​ i​ {e​ −i​k​x​ e​ −i​ + e​ i​k​x​ e​ i​ } = φ​

φ​

φ​

= u​0 {e​ −i​ (k​x​ + 2 ) + e​ i​ (k​x​ + 2 )} ⋅ e​ i​ (ω​t​ + 2 ) = 2 u​0 cos (k​x​ + ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

(

φ​

2 cos k​x​ + 2

φ​ φ​ i​ (ω​t​ + 2 ) = ) ⋅ e​ 2

)

φ​ 2 π​x​ φ​ i​ (ω​t​ + 2 ) . + ) ⋅ e​ λ​ 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

= 2 u​0 cos (

(I-5.234)

u​0′

Wir erhalten also eine im ganzen Raum phasengleiche Schwingung u​′0 e​ i​ (ω​t​ + φ​/2), deren Amplitude u​′0 = 2 u​0 cos (k​x​ + φ​/2) eine periodische Funktion von x ist. Der Betrag der Amplitude u​′0 variiert mit der räumlichen Periode λ/2. An den Stellen π​ 2 π​x​ φ​ ( + ) = (2 n​ + 1) ⋅ , n = 0, 1, 2, … ist die Amplitude für alle Zeiten gleich λ​ 2 2 2 n​ + 1 φ​ ). Dazwi− Null. Der Ort dieser Schwingungsknoten (nodes) ist x​min​ = λ​ ( 4 4 π​ n​ φ​ ), bei denen die schen liegen die Schwingungsbäuche (antinodes) x​max​ = λ​ ( − 2 4 π​ Amplitude maximal, nämlich 2 u​′0 , ist. u

λ/2

λ/4

x

λ/2

Abb. I-5.36: Auslenkung u einer stehenden Welle an den Orten x zu verschiedenen Zeitpunkten.

Da die Schwingung sich nicht mehr im Raum ausbreitet, spricht man von einer stehenden Welle (Abb. I-5.36). Sind die beiden Amplituden nicht gleich groß, so überlagert sich der stehenden Welle noch eine fortlaufende Welle in die Richtung der Welle mit der größeren Amplitude mit der Amplitudendifferenz der beiden Wellen als Amplitude. Stehende Wellen erhält man am leichtesten, wenn eine einfallende Welle an einer Wand so reflektiert wird, dass sie der einfallenden Welle wieder entgegenläuft. Je nach der Beschaffenheit der reflektierenden ‚Wand‘ kommt es dort zu einem Knoten,

5.6 Akustik

321

einem Bauch oder einem mittleren Amplitudenwert (man denke z. B. an das Ende offener oder gedackter Pfeifen!). 43 5.6.2 Resonanzbedingung der schwingenden Saite Die Wellengleichung für Transversalschwingungen einer gespannten Saite ρ​ ∂​ 2 u​ Δu​ = mit der Phasengeschwindigkeit υ​ph = √σ​/ρ​ (siehe Gl. I-5.222) kann σ​ ∂​t​ 2 durch fortschreitende Wellen der Form u​1,2 = u​0 ⋅ e​

i​ω​ (t​ ± x​/υ​ph )

= u​0 ⋅ e​

i​ω​ (t​ ± x​

√ρ​/σ​)

(I-5.235)

zwar im Prinzip befriedigt werden, je nachdem, ob die Welle in die positive oder negative x-Richtung läuft. Die Randbedingung, dass die Saite an zwei Punkten, z. B. bei x = 0 und x​ = l​ festgehalten wird und dort daher die Auslenkung verschwinden muss, wird aber durch diese fortschreitenden Wellen nicht erfüllt. Die Wellengleichung muss aber als lineare DG auch durch die Summe bzw. die Differenz der beiden Wellen erfüllt werden (Superpositionsprinzip). Die Randbedingungen der Saite (x​ (0) = 0, x​ (l​ ) = 0) werden am einfachsten durch eine stehende Sinuswelle erfüllt, die sich aus der Differenz einer hin- und einer rücklaufenden Welle gleicher Amplitude ergibt:

u​ = u​1 − u​2 = u​0 ⋅ e​

i​ω​t​

{e​ i​ω​ x​/υ​ph − e​ −i​ω​ x​/υ​ph} ⏟ = 2 i​ u​0 ⋅ sin ​ (ω​ x​/υ​ph ) ⋅ e​ i​ω​t​ . 44 Euler (I-5.236)

Die Forderung u = 0 für x = 0 ist für alle t erfüllt. Dagegen gilt u = 0 für x​ = l​ nur, wenn ω​l​/υ​ph ein ganzzahliges Vielfaches von π ist, also wenn gilt 2 π​ν​l​/υ​ph = n​π​ ⇒ ν​n​ =

n​ n​ σ​ υ​ph = √ , n = 1, 2, 3, … 2 l​ 2 l​ ρ​

(I-5.237)

Für die möglichen Wellenlängen erhalten wir mit λ​ = υ​ph/ν​ λ​n​ =

2 l​ n​

n = 1,2,3, …

(I-5.238)

43 Bei der Reflexion an einer starren (= unverrückbaren) Wand muss an dieser die Auslenkung der Teilchen stets verschwinden, also ein Bewegungsknoten vorliegen, am offenen Rohrende einer Pfeife herrscht konstanter Druck, also liegt dort ein Knoten des Schallwechseldrucks. ​

i​

π

44 Der Faktor i​ = e​ 2 berücksichtigt also einen bei der Schwingung auftretenden Phasenwinkel von π/2 (siehe dazu Abschnitt 5.5.5, Abb. I-5.4).

322

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

3. Oberton: (4th harmonic): 4l λ4 = __ = 2 l 2 2. Oberton: (3rd harmonic): 3l λ3 = __ 2 1. Oberton: (2nd harmonic): 2l λ2 = __ = l 2 Grundton: (fundamental, 1st harmonic) l λ1 = __ 2

l

Abb. I-5.37: Grundschwingung (Grundton) und Oberschwingungen (Obertöne) der beidseitig eingespannten Saite.

Die Schwingung der Saite erweist sich also als stehende Welle, hervorgerufen durch Überlagerung zweier entgegengesetzt laufender Wellen gleicher Frequenz (Abb. I-5.37). Während für eine unendlich lange Saite jede beliebige Frequenz für die stehenden Wellen möglich ist (kontinuierliches Spektrum), werden die möglichen Frequenzen der Wellen durch die Randbedingung der Einspannung auf eine diskrete Folge von Frequenzen eingeschränkt, die Frequenzen sind gequantelt (Quantisierung durch räumliche Einschränkung). Die Anzahl der Frequenzwerte ist dabei immer noch unendlich groß, da n von 1 bis ∞ läuft. 1 σ​ 1 υ​ph der Grundton ( fundamenBei Musikinstrumenten heißt ν​1 = √ = 2 l​ ρ​ 2 l​ tal = 1st harmonic), ν​n​ = n​ ⋅ ν​1 (n = 2, 3, …) heißen 1., 2., … Oberton (2nd, 3rd, … harmonic). Dieselben Erscheinungen treten auch in geschlossenen (halboffenen / anderes n!) 45 oder offenen Luftsäulen in rohrförmigen Behältern auf, den ‚Resonanzkörpern‘ der Blasinstrumente. Der Grundton hat dann die Frequenz

ν​1 =

1 κ​ ⋅ P​ √ ρ​ . 2 l​

(I-5.239)

45 Es liegt ja am offenen Ende ein Bewegungsbauch, am abgeschlossenen Ende ein Bewegungs4 l​ 4 l​ , … λ​n​ = ,… knoten vor ⇒ λ​1 = 4 l​ , λ​2 = 3 2 n​ − 1

5.6 Akustik

323

Ein allgemeiner Weg zur Lösung einer partiellen DG, wie jener der schwingenden ρ​ ∂​ 2 u​ , geht vom Lösungsansatz u​ (x​,t​) = w​ (x​) ⋅ θ​ (t​) aus. Diese LösungsSaite Δu​ = σ​ ∂​t​ 2 methode, die Separation der Variablen durch einen Produktansatz, wird auch zur Lösung partieller DG’s mit mehr als zwei Variablen angewendet (siehe später in der Quantenphysik: Band V, Kapitel „Atomphysik“, Abschnitt 2.3.2 und 2.4.1.1). Wir wenden also zur Lösung der Wellengleichung den Produktansatz u​ (x​,t​) = w​ (x​) ⋅ θ​ (t​) mit zwei Funktionen an, die jeweils nur von einer Variablen abhängen. Wir differenzieren u(x,t) zweimal nach x und t ∂​u​

=

∂​x​

∂​w​

⋅ θ​ ,

∂​x​

2 ∂​ u​

∂​x​ 2

=

∂​ 2 w​ ∂​x​ 2

In die Wellengleichung Δu​ = (Δ ≡

∂​

2

∂​x​ 2

∂​u​

⋅ θ​ ,

= w​

∂​t​ ρ​ ∂​ 2 u​

∂​θ​

2 ∂​ u​

,

∂​t​

∂​t​

2

= w​ ⋅

∂​ 2 θ​ ∂​t​

2

.

(I-5.240)

eingesetzt, ergibt das im eindimensionalen Fall

σ​ ∂​t​ 2

)

∂​ 2 w​ ∂​x​ 2

⋅ θ​ =

ρ​

w​

2 ∂​ θ​

σ​

∂​t​

(I-5.241)

2

und damit σ​



2 1 ∂​ w​

ρ​ w​ ∂​x​ 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ h​ä​n​g​t​ n​u​r​ υ​o​n​ x​ a​b​

1 ∂​ 2 θ​

=

θ​ ∂​t​ 2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

= −ω​ 2 .

(I-5.242)

h​ä​n​g​t​ n​u​r​ υ​o​n​ t​ a​b​

Da die beiden Terme jeweils nur von x bzw. nur von t abhängen, aber gleich sind, können sie nur gleich einer Konstanten sein, die wir aus praktischen Gründen −ω2 setzen. Damit ergibt sich einerseits 2

∂​ θ​ ∂​t​

2

+ ω​ 2 θ​ = 0

(I-5.243)

mit der Lösung θ​ (t​) = a​ ⋅ e​ i​ω​t​

bzw.

θ​ (t​) = a​ ⋅ sin ​ω​t​

oder

θ​ (t​) = a​ ⋅ cos ω​t​ ,

(I-5.244)

andererseits ∂​ 2 w​ ∂​x​

2

+ ω​ 2

ρ​ σ​

w​ = 0

(I-5.245)

324

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

mit der gesamten Lösung ​ ρ​∕σ​ ⋅x​ w​ = b​1 ⋅ e​ i​ω√ + b​2 ⋅ e​

√ ρ​∕σ​ ⋅x​

−i​ ω​

bzw.

ρ​ ρ​ w​ (x​) = b​1 ⋅ sin ​ (ω​√ ⋅ x​) + b​2 cos (ω​√ ⋅ x​) . σ​ σ​

(I-5.246)

Die Randbedingung w(0) = 0 verlangt aber wegen sin ​ (0) + b​2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ cos (0) = b​2 , dass b2 = 0 und damit b1 = b ≠ 0 sein muss. w​ (0) = 0 = b​1 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ =0

=1

Es ergibt sich also für w unter der Berücksichtigung, dass u = 0 für x = 0 sein soll, ρ​ ω​ und mit ω​√ = = k​ σ​ υ​ph w​ (x​) = b​ sin ​k​x​ .

(I-5.247)

Mit den so bestimmten Funktionen w(x) (Gl. I-5.247) und θ(t) (Gl. I-5.244) ergibt sich als Lösung der Wellengleichung mit c = a⋅b und w​ (x​) = sin ​k​ x​ (die Amplitude b ist in c enthalten) u​ (x​,t​) = c​ ⋅ e​

mit k​ = 2 π​ ν​√

i​ω​t​

⋅ sin ​k​ x​

(I-5.248)

2 π​ ρ​ 2 π​ 1 = = . σ​ T​ υ​ph λ​

⏟⏟⏟⏟⏟ 1/υ​ph

Damit auch u = 0 für x = l​ gilt, muss k ein ganzzahliges Vielfaches von π​/l​ sein, daher muss gelten

k​n​ = 2 π​ ν​n​ √

ρ​ n​π​ ω​n​ , = = σ​ l​ υ​ph

n = 1, 2, 3, …

(I-5.249)

Nur in diesem Fall hat das Randwertproblem

∂​ 2 w​ ∂​x​

nichttriviale Lösungen.

2

+ ω​ 2

ρ​ σ​

w​ = 0 , w​ (0) = w​ (l​) = 0

(I-5.250)

5.6 Akustik

325

Man erhält wie vorher aus der obigen Beziehung für kn (Gl. I-5.249)

ω​n​ = 2 π​ ν​n​ =

n​π​ σ​ n​π​ √ ρ​ = l​ υ​ph , n = 1, 2, 3, … l​

Eigenwerte (eigenvalues).

(I-5.251)

Man nennt die Werte ωn = 2 π νn , für die die Lösungsfunktionen die vorgegebenen Randbedingungen der DG erfüllen, Eigenwerte und die zu diesen Eigenwerten gehörenden Lösungsfunktionen wn die Eigenfunktionen: w​n​ = sin ​

n​ π​ x​ l​

Eigenfunktionen (eigenfunctions). 46

(I-5.252)

Die Eigenfunktionen sind Lösungen der Differentialgleichung und erfüllen die Randbedingungen. Da sowohl der Realteil als auch der Imaginärteil unseres Löi​ω​t​ sungsansatzes u​ = c​ ⋅ w​ (x​) ⋅ e​ die Wellengleichung erfüllen muss, ergibt sich die vollständige Lösung für die Saitenschwingung als Überlagerung von zeitlichen Sinus- und Kosinusfunktionen mit örtlich variierender Amplitude wn(x) ∞​

u​n​ (x​,t​) =

∑ c​e​ i​ωn​ ​ t​ sin ​k​n​ x​ = n​ = 1 ∞​

=

∞​

∑ a​n​ sin ​ n​ = 1

n​π​x​ n​π​x​ cos ω​n​ t​ + ∑ b​n​ sin sin ​ω​n​ t​ . 47 l​ l​ n​ = 1

(I-5.253)

Zur tatsächlichen Schwingungsform der Eigenschwingungen einer gezupften Saite siehe Anhang 1.

5.6.3 Physik der Musik, Entwicklung der europäischen Tonleitern Das menschliche Ohr registriert Druckschwankungen der Luft im Frequenzbereich von 16 Hz bis 16 kHz (Hörschall). 1 Hz (Hertz) 48 ist die Einheit der Frequenz: 1 Hz

l​

l​

46 Es gilt ∫w​m​(x​)w​n​(x​)d​x​ =∫sin​ 0

0

m​π​x​ l​

⋅ sin​

n​π​x​ l​

d​x​ = 0 für m ≠ n, die Eigenfunktionen sind also or-

thogonal. Dies gilt ganz allgemein für Eigenfunktionen von Differentialgleichungen mit Randbedingungen. 47 Die noch unbekannten Amplituden an und bn ergeben sich aus den Anfangsbedingungen un(x,0) und u​̇ n​(x​,0) zur Zeit t = 0. 48 Nach Heinrich Hertz, 1857–1894, Nachweis der elektromagnetischen Wellen in den Jahren 1886– 1888.

326

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

bedeutet eine Schwingung pro Sekunde. Bei Schwingungen unter 16 Hz sprechen wir von Infraschall (Gebäudeschwingungen, Erdbebenwellen), ν > 16 kHz heißt Ultraschall und ν > 10 MHz heißt Hyperschall. Wir definieren als Ton 49 – eine annähernd reine harmonische Schwingung, oft auch eine Grundschwingung mit mehreren Obertönen geringerer Intensität. Die Tonhöhe ist durch die Frequenz ν gegeben, die Tonstärke wird durch das Quadrat der Schwingungsamplitude bestimmt. Klang – periodische Bewegung, die im Allgemeinen aber aus vielen sinusförmigen Schwingungen zusammengesetzt ist. Er kann durch Fourierzerlegung in einen Grundton und seine Obertöne zerlegt werden. Es handelt sich beim Klang um die Überlagerung von Tönen. Geräusch – unperiodischer Schallvorgang, das Fourierintegral gibt ein kontinuierliches Frequenzspektrum, das sich zeitlich ändert. Knall – kurzer Schallimpuls in einem gewissen Frequenzbereich. Der Zusammenklang mehrerer gleichzeitig an unser Ohr gelangender Töne kann angenehm sein und als harmonischer Wohlklang empfunden werden, wir sprechen dann von Konsonanz. Andererseits kann die Empfindung auch unangenehm, ja schmerzhaft sein, eine Dissonanz. Wie die Erfahrung zeigt, hängen Konsonanz und Dissonanz nur vom Verhältnis der Schwingungszahlen der zusammenklingenden Töne ab, nicht aber von ihrem absoluten Wert. Beispiel: Eine Lochsirene hat zwei Lochreihen zur Erzeugung von Tönen im Frequenzverhältnis 1:2 und 8:9. Unabhängig von der Drehzahl der Sirene und damit von der Tonhöhe wird das Tonverhältnis 1:2 (Oktave) als angenehm empfunden und das Tonverhältnis 8:9 (Sekunde) als schrill und unangenehm. Von Bedeutung für die Empfindung des Zusammenklangs ist die Zahl der Schwebungen, die im Obertonbereich der zusammenklingenden Töne entstehen. Die Empfindung als Konsonanz oder Dissonanz ist zum Teil eine Folge der Gewöhnung, aber auch des Kulturkreises. Für das Konsonanzempfinden im europäischen Kulturraum hat schon Pythagoras 50 folgende Gesetzmäßigkeit gefunden: 1

Konsonanz liegt vor, wenn im Verhältnis der Schwingungszahlen der beteiligten Töne nur ganze Zahlen kleiner als sieben vorkommen. Gesetz von Pythagoras

49 Jeder Ton hat einen Anfang und ein Ende, er kann daher keine ‚reine‘ Sinusschwingung sein. Je länger er anhält, umso schmäler wird sein Frequenzspektrum, desto ‚reiner‘ wird er (siehe auch Abschnitt 5.1.3). 50 Griechischer Philosoph und Mathematiker, ca. 582–ca. 497 v. Chr., geboren auf Samos, lebte in Süditalien (Kroton und Metaponto).

5.6 Akustik

327

Die erste Tonleiter ergab sich durch die 4 Töne der griechischen Lyra. Diese bestanden aus Grundton und Oktave sowie zwei Zwischentönen, die sich durch einen Quintenschritt (Frequenzverhältnis 3/2 bzw. 2/3) vom Grundton nach oben und einen Quintenschritt von der Oktave nach unten ergaben:

3/2 Grundton

Quinte

Quinte

Oktave

Ton c Frequenzverhältnis 1 ergibt → Grundton

f 4/3 Quarte

2/3 g 3/2 Quinte

c1 2 Oktave

Die Töne der Lyra dienten ursprünglich zum Untermalen der deklamierenden Rede. Bei einer Frage wurde die Stimme über die Quinte zur Oktave gehoben, am Satzende der Antwort von der Quinte über die Quarte zum Grundton abgesenkt. In der Kirchenliturgie wird diese Tonleiter zum Teil noch heute verwendet. Schon im griechischen Altertum wurde diese sehr einfache, aus nur vier Tönen bestehende ‚Tonleiter‘ zu einer auf einem Grundton aufbauenden Tonleiter aus acht Tönen erweitert. Vom Grundton erfolgten zunächst ein Quintenschritt nach unten (Division durch 3/2) und 5 Quintenschritte nach oben (jeweils Multiplikation mit 3/2): 2/3

1

3/2

9/4

27/8

81/16

243/32.

In einem nächsten Schritt wurde jeder Ton, der unter den Grundton oder über die Oktave hinaus fällt, durch die entsprechende Oktave oder Suboktave im Intervall zwischen 1 und 2 ersetzt 51. Außerdem wurde die Oktave hinzugefügt. Damit ergibt sich (/ bedeutet: „geht über in“) 2/3/4/3,

1,

3/2,

9/4/9/8,

27/8/27/16,

81/16/81/64,

243/32/243/128

und wir erhalten – nach steigender Frequenz angeordnet − die aus 8 Tönen gebildete und vom Grundton in 7 Stufen (diatonisch) zur Oktave aufsteigende pythagoreische diatonische Tonleiter in heutiger Bezeichnung: 52

51 Also Multiplikation oder Division der Frequenz mit 2 (bzw. 22 ). 52 Die Tonhöhe, also die Frequenz des Ausgangstons c, braucht zunächst noch nicht festgelegt zu werden – siehe weiter unten: Festlegung eines Grundtons als Kammerton).

328

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

c 1

d 9/8 9/8

e′ 81/64 9/8

f 4/3

g 3/2

256/243

a′ 27/16

9/8

9/8

c1 2

h′ 243/128 9/8

256/243

Diese Tonleiter wird noch heute in den Gregorianischen Chorälen verwendet, sie ist aber für eine polyphone Musik in Akkorden deshalb nicht geeignet, weil abgesehen von Grundton und Oktave nur zwei Töne dem pythagoreischen Gesetz entsprechen, die Quarte mit einem Frequenzverhältnis von 4/3 und die Quinte mit 3/2, das Zusammenklingen der anderen Töne wird als dissonant empfunden (auch Quarte und Quinte ergeben zusammen keinen „pythagoräischen Wohlklang“). 53 Mit dem Aufkommen des protestantischen, mehrstimmigen Kirchengesangs war eine neue Tonleiter erforderlich. Sie geht vom C-Dur Dreiklang c-e-g (1, 5/4, 3/2) aus. In der pythagoreischen Tonleiter wird ersetzt:

81/64

durch 5/4

(große Terz) 54

81 80 5 ( ⋅ = ) 64 81 4

27/16

durch 5/3

(Sexte)

(

27 80 5 ⋅ = ) 16 81 3

243/128

durch 15/8

(Septime)

(

243 80 15 ⋅ = ). 128 81 8

Damit ergibt sich die natürliche diatonische Durtonleiter:

Prime c 1

Sekunde d 9/8

9/8

10/9

Quinte g 3/2

Quarte f 4/3

Terz e 5/4

16/15

9/8

10/9

Septime h 15/8

Sexte a 5/3

9/8

Oktave c1 2

16/15

Alle Töne außer der Sekunde und der Septime bilden jetzt Konsonanzen mit dem Grundton. Es kommen drei Intervalle vor:

53 Ihr Frequenzverhältnis beträgt ja

4/3 3/2

=

8 9

!

54 Im Unterschied zur kleinen Terz mit einem Frequenzverhältnis von 6/5.

5.6 Akustik

großer Ganzton: kleiner Ganzton: großer Halbton:

329

9/8 10/9 16/15.

Der Unterschied zwischen großem und kleinem Ganzton beträgt 80/81, das „syntonische Komma“. In ganz ähnlicher Weise kann die Moll-Tonleiter aus dem Moll-Dreiklang entwickelt werden, bei dem die große Terz durch die kleine Terz ersetzt wird. Die natürliche diatonische Tonleiter hat immer noch zwei Nachteile. Erstens liegen in einer Oktave immer noch recht wenige Töne. Zweitens ist es nicht möglich, die Tonleiter von einem beliebigen Ton aus zu beginnen, man kann nicht ‚transponieren‘, also eine bestimmte Melodie nicht in beliebiger Tonhöhe spielen. Dazu ist es notwendig, weitere Halbtonschritte in die Ganztonintervalle einzufügen. Es wird ein zweiter, ‚kleiner‘ Halbton so konstruiert, dass er zusammen mit 25 16 10 ⋅ = . dem großen Halbton (16/15) einen kleinen Ganzton (10/9) ergibt: 24 15 9 Der gesuchte kleine Halbtonschritt beträgt also 25/24. Durch Einschieben des Halbtonschritts in die Ganztonintervalle kommt man zu den 13 Tönen der chromatischen Tonleiter. Diese können in zwei Weisen gebildet werden, entweder durch Erhöhung um 25/24 (Vorzeichen ‚Kreuz‘ ♯) des jeweils niedrigeren oder durch Erniedrigung um 24/25 des jeweils höheren Tones (Vorzeichen ‚b‘ ♭): fis = ᅊf g gis = ᅊg a ais = ᅊa c1 c cis = ᅊc d dis = ᅊd e f h 1 25/24 9/8 75/64 5/4 4/3 25/18 3/2 25/16 5/3 125/72 15/8 2 25/24 27/25 25/24 16/15 16/15 25/24 27/25 25/24 16/15 25/24 27/25 16/15 ges = ᅈg g as = ᅈa a hes = b c1 c des = ᅈd d es = ᅈe e f h 8/5 1 27/25 9/8 6/5 5/4 4/3 36/25 3/2 5/3 9/5 15/8 2 27/25 25/24 16/15 25/24 16/15 27/25 25/24 16/15 25/24 27/25 25/24 16/15

Es bleiben bei diesen Tonleitern Probleme. Erstens führen zwölf aufeinander geschichtete Quinten nicht zu einem geschlossenen Quintenzirkel. Der 13. Ton ist um das pythagoreische Komma höher als die entsprechende Oktave des Ausgangstons 55. Zweitens ergibt sich ein Problem für die Tasteninstrumente, z. B. dem Klavier, die mit einer Sorte von Halbtönen (schwarzen Tasten) auskommen sollen. Da

55 Es sollte sich c7 ergeben, man erhält aber ein his. Die Schwingungsdifferenz ist das Pythagorei7 12 19 12 sche Komma: 2 / (3/2) = 2 / 3 = 524 288 / 531 441.

330

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

es sinnvoll ist, nur eine Sorte von eingeschobenen Halbtönen (schwarze Tasten) zu verwenden, ersetzt man die jeweils zwei möglichen Halbtöne durch einen Zwischenton, sodass cis = des wird usf. (enharmonische Verwechslung). Es wurden im 18. Jahrhundert, insbesondere vom Orgelbauer und Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645–1706), verschiedene ‚Stimmungen‘ untersucht, wobei sich zwei prinzipielle Möglichkeiten herauskristallisierten. Entweder gelang es, die Tonarten mit wenigen Vorzeichen möglichst klar klingen zu lassen, aber auch diejenigen mit vielen Vorzeichen zumindest noch spielbar zu machen oder es waren alle Tonarten gut spielbar, aber dann auch alle mit einem etwas matteren Klang (‚wohltemperierte Stimmung‘). Dies führte dazu, dass sich im 19. Jahrhundert die heute gebräuchliche gleichstufige Temperatur (= gleichschwebende Stimmung) durchsetzte. Dabei teilt man die Oktave einfach in 12 gleich große Halbtonschritte x 12 x​ = 2



x​ = 12√2 = 1,05946309 .

(I-5.254)

Werden die Instrumente danach gestimmt, so enthält die Oktave kein einziges, rein gestimmtes Intervall mehr und man muss einen etwas matteren Klang aller Tonarten in Kauf nehmen, der aber heute allgemein akzeptiert wird. Für das Zusammenspiel wichtig ist auch die Festlegung eines Grundtons. Dies ist der Kammerton a1 mit ν​a1​ = 440 Hz, obwohl zur Zeit eine Tendenz der Orchester dazu besteht, auf ν​a1​ = 443 Hz zu stimmen. Dies wird mit der etwas höheren Brillanz der Klänge begründet, die dadurch erzielt wird. Frequenzbereich der Grundtöne einiger Instrumente. Instrument

Frequenzbereich (Hz)

Klavier Geige Viola Violoncello Kontrabass Trompete Klarinette Oboe

30−3000 150−3000, (−20 000 mit Obertönen) 100−1000 70−800 40−400 150−1000 160−1300 200−1300

5.6.4 Schallfeldgrößen und ihre Messung Unser Ohr registriert den Schalldruck P, der durch die schwingenden Luftteilchen übertragen wird. Wir setzen für die Auslenkung der Luftmoleküle die Form einer ebenen Welle in x-Richtung an (siehe Abschnitt 5.5.1, Gl. I-5.164) u​ (x​,t​) = u​0 cos (ω​ t​ − k​ x​) ,

331

5.6 Akustik

u0 ist hier die Bewegungsamplitude (Abb. I-5.38). Für die Geschwindigkeit der Luftmoleküle υ bei der Schwingungsbewegung (Schallschnelle) erhalten wir υ​ (x​,t​) =

∂​u​ (x​,t​) = −u​0 ω​ sin ​ (ω​t​ − k​x​) = −υ​0 sin ​ (ω​t​ − k​x​) ∂​t​

(I-5.255)

Schallschnelle mit der Geschwindigkeitsamplitude (= Schallschnellenamplitude) υ0 = u0 ⋅ω. 1

2

3 4

ruhende Luftteilchen schwingende

Verdünnung

Verdichtung

u3

0

x3

Verdünnung

Schallschnelle ʋ

x Auslenkung u ~ Schalldruck P Ausbreitungsrichtung λ

Abb. I-5.38: Schwingende Luftteilchen und Schallfeldgrößen in einer Schallwelle. 2π​ T​ T​ ⋅ − k​ ⋅ 0) = 0. Das Bild gilt für den Zeitpunkt t = T/4, da u​(0, ) = u​0 cos ( 4 T​ 4

Für die Beschleunigung

∂​υ​ ∂​υ​ ergibt sich dann = −υ​0 ω​ cos (ω​t​ − k​x​). Anderer∂​t​ ∂​t​

seits gilt die linearisierte Eulergleichung (≡ Newtonsche Bewegungsgleichung) 1 ∂​υ⇀​ ⇀P​ 56 und daher für das hier vorliegende eindimensionale Problem =− ∇ ∂​t​ ρ​ ∂​P​ = υ​0 ρ​ ̅ ω​ cos (ω​ t​ − k​ x​) . ∂​x​

(I-5.256)

56 Der nichtlineare Term der Eulergleichung (υ​⇀⋅ grad) υ​ ̅ wird vernachlässigt (vergleiche Kapitel „Mechanik deformierbare Körper“ 4.3.2, Gl. (I-4.57) und oben Abschnitt 5.5.4, Gl. (I-4.198)). Dadurch können Effekte in sehr energiereichen Schallfeldern (Schallstrahlungsdruck, Stoßwellen) in dieser Näherung nicht berechnet werden.

332

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Der Schwingungszustand (= die Bewegungsamplitude) jedes Teilchens bleibt in der Ausbreitungsrichtung der Welle in seiner Phase (= augenblickliche Auslenkung) um einen bestimmten Betrag gegenüber dem vorausgehenden Teilchen zurück. 57 Dieser ist umso kleiner, die resultierende Wellenlänge umso größer, je stärker die Kopplung der Teilchen ist; dasselbe gilt dann für die Phasengeschwindigkeit υph = v⋅λ der Welle. Durch Integration unter Vernachlässigung der Dichteschwankungen gegenüber ω​ ρ​ ̅ und mit υ​ph = ergibt sich der Schalldruck P in Phase mit der Schallschnelle υ k​ P​ = P​0 − A​P​ sin ​ (ω​ t​ − k​ x​)

Schalldruck

⇒ P​ ̃ = P​ − P​0 = −u​0 ρ​ ̅ ω​υp​ h sin ​ (ω​ t​ − k​ x​) = −A​P​ sin ​ (ω​ t​ − k​ x​) , 58

(I-5.257) (I-5.258)

Schallwechseldruck wobei P0 (= Schallgleichdruck) der äußere Luftdruck ohne Schallwellen ist. Schallwechseldruck P​ ̃ und Schallschnelle υ sind also bei unserer ebenen Welle gleichphasig. A​P​ = u​0 ρ​ ̅ ω​υp​ h = υ​0 ρ​ ̅ υ​ph ist die Amplitude des Schallwechseldrucks, die Druckamplitude. Maßgebend für das Schallfeld sind die Druckschwankungen A​P​ P​ ̃ = P​ − P​0. Der Quotient Z​W​ = = ρ​ ̅ υ​ph ist im Fall ebener Wellen reell, er wird als υ​0 Schallwellenwiderstand (Kennwiderstand) bezeichnet und ist die für alle Vorgänge an Grenzflächen (Reflexion, Brechung) entscheidende Größe. Schalldruck und Schallschnelle laufen der Auslenkung räumlich in der Phase um π/2 nach. Mit der mittleren Schalldichte (= mittlere Energiedichte) nach Abschnitt 5.5.5, Gl. (I-5.230) w​̅ =

2 π​ 2 1 2 2 2 ρ​ ̅ ω​ u​ 0 = 2 ρ​ ̅ u​ 0 2 T​

ergibt sich die Schallintensität (= Schallstärke), das ist die pro Sekunde durch die Flächeneinheit transportierte Schallenergie, zu 57 In Abb. I-5.38 ist bei einer Kontrolle die jeweilige Schwingungsrichtung (Schallschnelle) zu beachten! 58 Die Integration erfolgte unter der Annahme ρ = const. In starken Schallfeldern ist dies nicht P​ zulässig und es muss für die Dichteänderungen die adiabatische Gasgleichung = const. zugrunde κ​ ρ​ gelegt werden (siehe Band II, Kapitel „Physik der Wärme“, Abschnitt 1.3.1.2.4 und oben Abschnitt 5.5.4), wobei κ der Adiabatenexponent cP/cV ist (Quotient der spezifischen Wärmen bei konstantem Druck und konstantem Volumen). Dies führt zu anharmonischen Druckänderungen mit einem nichtverschwindenden Mittelwert des Wechseldrucks, der als Rayleighscher Schallstrahlungsdruck pstr bezeichnet wird.

5.6 Akustik

I​ = w​ ⋅ υ​ph =

333

2

1 1 1 2 2 2 υ​ph ρ​ ̅ u​ o​ ω​ = ρ​ ̅ υ​ph υ​ 0 = A​P​ υ​0 2 2 2

⏟ = υ​0 =

A​P​

1 A​ P​ . 2 ρ​ ̅ υ​ph

(I-5.259)

ρ​ ̅ υ​ph

2

Schallintensität (in W/m ). 59 Der Ausdruck I​ =

1 A​P​ υ​0 zeigt, wie die Schallleistung durch jeden Querschnitt im 2

Schallfeld transportiert wird. Er besitzt innerhalb der linearen Akustik (linearisierte Eulergleichung) allgemeine Gültigkeit, wenn berücksichtigt wird, dass AP und υ0 eine Phasenverschiebung besitzen können (z. B. bei einer stehenden Welle um π/2, sodass I = 0 wird). Beispiel: Eine Geige besitzt im fortissimo (= laut) eine Schallleistung von L = 10−3 W; in r = 15 m Entfernung beträgt daher die Intensität L​ 10− 3 2 −7 I​ = = = 3,54 ⋅ 10 W/m . Daraus folgt für die Druckamplitude AP 2 2 4 r​ π​ 4 ⋅ 15 ⋅ π​ −3

−1

in Luft ( ρ​ ̅ = 1,293 kg m , υph = 344 m s ): A​P​ = √2 ρ​ ̅ υ​ph I​ = √2 ⋅ 1,293 ⋅ 344 ⋅ 3,54 ⋅ 10−7 = 1,77 ⋅ 10−2 Pa . Die Schallschnelle υ0 beträgt: υ​0 =

A​P​ 1,77 ⋅ 10−2 −5 = = 4,0 ⋅ 10 m s. ρ​ ̅ υ​ph 1,293 ⋅ 344

Bei 1000 Hz ist die Auslenkungsamplitude der Schallwelle: υ​0 4,0 ⋅ 10−5 −9 u​0 = = = 6,37 ⋅ 10 m = 6,37 nm, das sind nur einige Molekülω​ 2 π​ ⋅ 1000 durchmesser!

59 Dies kann auch so geschrieben werden: I​ =

1 2

2

2

Z​W​ υ​ 0 =

1 A​ P​ 2 Z​W​

. Man beachte die Analogie zu den

Formeln der Wechselstromenergie, wenn υ0 der Stromamplitude i0~, AP der Spannungsamplitude u0~ und ZW dem Ohmschen Widerstand analog sind. Falls ZW eine komplexe Größe ist (allgemeine A​⇀P​ D​r​u​c​k​a​m​p​l​i​t​u​d​e​ in Anlehnung an das OhmImpedanz), dann wird der Quotient Z​⇀S​ = = υ​⇀0 S​c​h​a​l​l​s​c​h​n​e​l​l​e​n​a​m​p​l​i​t​u​d​e​ sche Gesetz als Schallimpedanz (= Wellenwiderstand) bezeichnet. A​⇀P​ und υ​⇀0 sind die komplexen Druck- und Geschwindigkeitsamplituden, also unter Einbeziehung allfälliger Phasenverschiebun1 gen, und es gilt für die Schalleistung: L​ = |A​P​ | |υ​0 |cos ​φ​ (cos Φ = Leistungsfaktor) entsprechend 2 u​0 i​0 der mittleren Wechselstromleistung cos ​φ​ . Im Falle einer ebenen, ungedämpften Welle gilt 2 υ​0 ρ​ ̅ υ​ph Z​⇀S​ = = ρ​ ̅ υ​ph = Z​w​ , wobei Z​⇀S​ eine reelle Zahl ist (Druck und Schnelle sind in Phase). υ​0

334

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Schallleistung und Lautstärke einiger Schallquellen. Quelle

Leistung (W)

Lautstärke (Phon) 60 (übliche Entfernung)

Flüstern Zimmerlautstärke Schrei Orchester Presslufthammer Düsentriebwerk

≌ 1 ⋅ 10−7 7 ⋅ 10−6 2 ⋅ 10−3 70 1,0 ca. 10 000

20–30 50 bis 100 bis 100 100–130 130–150

Im Prinzip können sowohl die Bewegungsamplitude u0 als auch die Geschwindigkeitsamplitude υ0 = u0 ⋅ω und die Druckamplitude AP = υ0 ⋅ρ¯ ⋅υph gemessen werden (Schallempfänger). Die Bewegungsamplitude ist aber für technische Schallmessungen ungeeignet, man kann nur das Schwingen kleiner Teilchen (z. B. Rauch) mit einem Mikroskop beobachten. Als Geschwindigkeitsempfänger kann die ‚Rayleighsche Scheibe‘ (nach Lord John William Strutt Rayleigh, 1842–1919) verwendet werden: Eine kleine, kreisförmige Scheibe, die an einem dünnen Torsionsfaden hängt, ist im Strömungsfeld bestrebt, sich normal zur Strömungsrichtung, hier der Schallrichtung, einzustellen. Ohne auf die Ableitung einzugehen gilt für das Quadrat der Geschwindigkeitsamplitude 2

υ​ 0 =

3

D​ 3

2 ρ​ r​ sin ​2 α​

α​ ≠ 0,

(I-5.260)

wobei D das Drehmoment bedeutet, das vom Schallfeld (Medium mit Dichte ρ) auf die Scheibe mit Radius r ausgeübt wird. α ist der Winkel zwischen Scheibennormale und Schallrichtung. Das Drehmoment D kann aus dem Torsionsmodul G des Aufhängedrahtes berechnet werden (siehe Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.2.2, Beispiel ‚Torsion eines Stabes oder Drahtes‘). Die für die Schallmessung wichtigsten Empfänger sind allerdings die Schalldruckempfänger, die auf den Schallwechseldruck P​ ̃ reagieren und daher die Druckamplitude AP liefern. Druckempfänger bestehen entweder aus einer dünnen Membrane, die von den Schallwellen zu erzwungenen Schwingungen angeregt und deren Amplitude gemessen wird, oder der Wechseldruck wird mit Hilfe eines piezoelektrischen Wandlers (z. B. Quarzplatte mit aufgedampften Oberflächenbelegungen) direkt in ein Spannungssignal umgewandelt (Anwendung im Ultraschallbereich).

60 Siehe Abschnitt 5.6.6.

5.6 Akustik

335

Im Mikrophon werden die Schallschwingungen in elektrische Schwingungen umgewandelt. Diese Umwandlung erfolgt entweder über die Änderung des elektrischen Widerstandes einer unter der Membran liegenden Kohleschicht (Widerstandsmikrophon, Kohlemikrophon), über die Veränderung der Kapazität eines Kondensators, dessen eine Platte die Membran ist (Kondensatormikrophon), durch Induktion in einer mit der Membran verbundene Spule in einem Magnetfeld (elektrodynamisches Mikrophon) oder durch Induktion in einer feststehenden Spule mit vormagnetisiertem Eisenkern (Flussänderung durch die bewegte Eisenmembran – elektromagnetisches Mikrophon). Die Membran darf in dem wiederzugebenden Frequenzbereich keine Resonanzstellen besitzen. Die drei letztgenannten Mikrophone sind sogenannte reversible Wandler, sie können genau so gut zur Schallabstrahlung verwendet werden. Das elektromagnetische System wird in großem Umfang in den Telefonapparaten als Hörteil verwendet, als Sprechteil dient ein Kohlemikrophon.

5.6.5 Die Schall-Kugelwelle Die bisher ausschließlich betrachteten ebenen Wellen ergeben sich nur als Grenzfall bei sehr großer Entfernung von der Schallquelle. Im allgemeinen Fall ist analog zur Optik von Kugelwellen auszugehen, die von jedem infinitesimal kleinen Flächenelement dA der Schallquelle (z. B. des Lautsprechertrichters) in den vorderen Halbraum abgestrahlt werden; die Abstrahlung in den hinteren Halbraum erfolgt beim Flächenelement (im Gegensatz zur ‚atmenden Kugel‘, die keine technische Bedeutung hat) um π phasenverschoben. Dies ergibt störende Interferenzen, die durch den Einbau der Lautsprecher in ‚Boxen‘ unterbunden werden. Mit Hilfe der Kugelwellen kann das Schallfeld auch in der Nähe eines ausgedehnten Schallgebers (‚Richtcharakteristik‘) berechnet werden. Aus diesem Grunde soll im Folgenden die Kugelwelle etwas eingehender untersucht werden. Die Schall-Kugelwelle wird von einer ‚atmenden‘ Kugel vom Radius r abgestrahlt (siehe auch in Abschnitt 5.5.3 über Kugelwellen). Die Schallfeldgrößen können aus einem Geschwindigkeitspotenzial Φ abgeleitet werden, da die Bewegung in einem idealen Fluid rotationsfrei ist (siehe dazu Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.3.6). Dabei gehorcht Φ der Wellengleichung, wie hier gezeigt wird. Für die Schnelle gilt also υ​⇀= −grad Φ



∂​υ⇀​ ∂​ Φ = −grad . ∂​t​ ∂​t​

(I-5.261)

(I-5.262)

336

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Die linearisierte Eulergleichung lautet (Abschnitt 5.5.4, Gl. I-5.198) ρ​ ̅

∂​υ⇀​ = −grad P​ ̃ ∂​t​

ρ​ ̅ grad



∂​ Φ = grad P​ ̃ ∂​t​

(I-5.263)

und damit

ρ​ ̅

∂​ Φ

= P​ ̃

2

∂​P​ ̃

bzw.

∂​t​

= ρ​ ̅

∂​t​

∂​ Φ ∂​t​

2

.

(I-5.264)

Aus der Kontinuitätsgleichung (Kapitel „Mechanik deformierbarer Körper“, Abschnitt 4.3.1, Gl. I-4.48) div(ρ​ ⋅ υ​⇀) = ρ​ ̅ div(−grad Φ) = −

∂​ρ​ ∂​t​

folgt ρ​ ̅ ⋅ ΔΦ =

∂​ρ​ . ∂​t​

(I-5.265)

κ​ Aus der adiabatischen Zustandsgleichung P​ = const. ρ​ ergibt sich κ​ ∂​P​ ̃ κ​ ⋅ const. ρ​ ̅ ∂​ρ​ κ​P​ ̅ ∂​ρ​ κ​−1 ∂​ρ​ = const. κ​ ρ​ ̅ = = = ∂​t​ ∂​t​ ρ​ ̅ ∂​t​ ρ​ ̅ ∂​t​

υ​ ph ∂​ρ​ ∂​t​ 2

= ⏟

(Gl. I-5.210)



∂​ρ​ ∂​t​

= ⏟

ρ​ ̅

a​u​s​ (Gl. I-5.264)

=

2 ρ​ ̅ ∂​ Φ 2

υ​ ph ∂​t​ 2

∂​ 2 Φ

(I-5.266)

∂​t​ 2

.

(I-5.267)

Damit erhalten wir mit Gl. (I-5.265) die Wellengleichung für Φ

ΔΦ =

1 ∂​ 2 Φ 2

υ​ ph ∂​t​ 2

.

(I-5.268)

Ist das Geschwindigkeitspotenzial Φ bekannt, dann können υ​⇀ und P​ ̃ aus ∂​ Φ υ​⇀= −grad Φ und P​ ̃ = ρ​ ̅ berechnet werden. ∂​t​

5.6 Akustik

337

Die bisherige Ableitung ist von der Wellenform unabhängig! Da wir uns hier für Kugelwellen interessieren, wird der Laplaceoperator Δ in Kugelkoordinaten dargestellt, wobei nur der r-abhängige Anteil interessiert: Δr​ =

1 ∂​ 2

∂​

2

(r​ ⋅

r​ ∂​r​

).

∂​r​

Damit erhalten wir

Δr​ Φ =

1 ∂​ 2 r​ ∂​r​

(r​ 2

∂​ Φ

1

)=

∂​r​

r​

2

(2 r​

∂​ Φ

2

+ r​

2

∂​r​

∂​ Φ ∂​r​

2 1 ∂​ Φ 1 ∂​ 2 (r​Φ) ∂​ Φ = (2 + r​ 2 ) = r​ ∂​r​ r​ ∂​r​ 2 ∂​r​

2

)=

2 1 1 ∂​61 (r​Φ) . 2 υ​ ph r​ ∂​t​ 2

= ⏟

(I-5.269)

a​u​s​ (Gl. I-5.268)

Das heißt also, für (r Φ) gilt die eindimensionale Wellengleichung ∂​ 2 (r​ Φ) ∂​r​ 2

=

1 ∂​ 2 (r​ Φ) 2

(I-5.270)

∂​t​ 2

υ​ ph

mit der Lösung Φ=

C​ i​ (ω​t​ − k​r​) e​ r​

mit

υ​ph =

ω​ . k​

(I-5.271)

Damit folgen sofort der Schallwechseldruck P​ ̃ und die Schallschnelle υ​⇀: P​ ̃ = ρ​ ̅

∂​ Φ i​ω​ ρ​ ̅ i​ (ω​t​ − k​r​) = C​e​ ∂​t​ r​

υ​⇀= −grad Φ = (

(I-5.272)

⇀ i​k​ 1 r​ i​ (ω​t​ − k​r​) 62 . + 2 ) C​e​ |⇀ | r​ r​ r​

(I-5.273)

⏟ ⇀ r​0

61

∂(r​Φ)

= Φ + r​

∂Φ

∂r​ 62 grad Φ ≡ ⇀ r​0

∂r​ ∂Φ ∂r​

2

,

∂ (r​Φ) ∂r​

2

=



(Φ + r​

∂r​

, da Φ nur von r abhängt.

∂Φ ∂r​

)=

∂Φ ∂r​

+

∂Φ ∂r​

2

+ r​

∂Φ ∂r​

2

=2

∂Φ ∂r​

2

+

r​∂ Φ ∂r​

2

338

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

P​ ̃ und υ​⇀sind nicht mehr gleichphasig wie bei der ebenen Welle. 63 Für sehr großes r geht die Kugelwelle in die Planwelle über. 64

5.6.6 Stimme und Ohr, Lautstärke Von ihrem Aufbau her entspricht das menschliche Stimmorgan einer Zungenpfeife mit zwei Zungen, den Stimmbändern (= Polsterpfeife). Rachen-, Mund- und Nasenhöhle dienen als Resonanzhohlraum. Jedem Sprech- oder Singlaut entspricht eine andere, ganz bestimmte Stellung des Mund-Rachenraums, wodurch eine akustische Filterwirkung bezüglich des sehr reichhaltigen Frequenzspektrums eintritt. Unabhängig von der Grundfrequenz (der ‚Höhe‘) eines gesungenen oder gesprochenen Vokals treten immer vier ausgezeichnete Frequenzbereiche (die sogenannten ‚Formantenbereiche‘) auf, die für die einzelnen Vokale in charakteristischer Weise ausgeprägt sind (zwischen ca. 500 Hz und 3000 Hz) und in ihrer Intensität (‚Tonstärke‘) von Vokal zu Vokal verschieden sind. Die stimmlosen Konsonanten sind unperiodisch und besitzen deshalb ein kontinuierliches Spektrum (‚Explosivlaute‘, z. B. „p“, „t“). Die stimmhaften Konsonanten besitzen bei tiefen Frequenzen wie die Vokale ein Linienspektrum, im hohen Frequenzbereich aber ein kontinuierliches Spektrum (z. B. „s“, „j“, „w“). Das relativ komplizierte menschliche Ohr ist ein Druckempfänger und besteht aus dem äußeren Ohr (Ohrmuschel und Gehörgang 65) zum Einfangen der Schallwellen (kleine Schallimpedanz infolge der Luftleitung), dem durch das Trommel-

63 Der Wellenwiderstand i​ω​ρ​ ̅ A​⇀P​ r​ Z​⇀S​ = = υ​⇀0 i​k​ 1 + r​ r​ 2

= ⏟

i​ρk​ ̅ ​υph​ ​ ⋅ r​ i​k​r​ + 1

= i​ρ​υ̅ ​ph​

k​r​ 1 + i​k​r​

= Z​ ⋅ e​

i​φ​

ω​ = k​ ⋅ υ​ph​

(mit: Z​ =

k​r​

√1 + k​ 2 r​ 2

,

tan ​φ​ =

1 k​r​

)

ist jetzt komplex, Schalldruck und Schnelle sind also bei der Kugelwelle nicht mehr in Phase, die 1 voraus, Druckamplitude AP eilt der Geschwindigkeitsamplitude υ0 um den Winkel φ​ = arc tan​ k​r​ wird aber in großer Entfernung gleichphasig 64 lim​

r​ % ∞​

k​r​ 1 + i​k​r​

φ​ = 0). (r​lim​ % ∞​

= −i​ ⇒ Z​⇀S​ = ρ​ ̅ ⋅ υ​ph​ , also reell. r​ % ∞​

65 Der äußere Gehörgang von der Ohrmuschel bis zum Trommelfell ist ca. L = 24 mm lang und stellt einen einseitig gedackten Resonator für die Grundwelle λ/4 = L dar. Die erste Resonanzfre−1 υ​ 340 m s υ​ ≈ ≈ 3500 Hz. Im Bereich dieser durch Resonanz im äuquenz beträgt daher ν​0 = = λ​ 4 L​ 4 ⋅ 0,024 m ßeren Ohr verstärkten Frequenz liegt die maximale Empfindlichkeit des Ohres (siehe ‚Hörfläche‘, Abb. I-5.39). Die bei höheren Frequenzen rasch abnehmende Empfindlichkeit wird vor allem durch die einsetzenden Trägheitswirkungen in den Gehörknöchelchen hervorgerufen.

5.6 Akustik

339

fell 66 vom äußeren Gehörgang abgetrennten Mittelohr mit den Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss, Steigbügel) und dem flüssigkeitsgefüllten Innenohr (große Schallimpedanz infolge der Flüssigkeitsleitung) mit dem Vorhof, den Bogengängen (Gleichgewichtsorgan) und der ca. 34 mm langen Schnecke (Cochlea), in der das Cortische Organ (nach Alfonso Corti, 1822–1876, ital. Anatom) mit den Hörsinneszellen und den Verstärkerzellen (auf eine Sinneszelle kommen drei Verstärkerzellen) liegt. Der Mechanismus der Gehörknöchelchen bewirkt die Transformation von der sehr kleinen Impedanz der Luftleitung im äußeren Ohr auf die hohe Impedanz im Innenohr (ca. 22-fache Druckverstärkung). Ohne Mittelohr würden nur 2 % der Schallenergie in das Innenohr gelangen, mit Gehörknöchelchen sind es über 60 %. Die Haarzellen (= Sinnes- und Verstärkerzellen) liegen zwischen zwei elastischen Membranen, der Basilarmembran und der Deckmembran; die Basilarmembran ist ca. 3,3 cm lang und am Beginn der Schnecke ca. 0,08 mm, am Ende ca. 0,5 mm breit. Die Frequenzselektivität des Gehörs kommt durch einen doppelten Mechanismus zustande: 1. Wanderwellentheorie. Zunächst wird durch die Bewegung der Steigbügelplatte im ovalen Fenster des Vorhofs auf der Basilarmembran des elastischen Schneckenkanals eine Biegewelle hervorgerufen 67 – also keine Schallwelle! Diese schaukelt sich während des Fortschreitens von der Schneckenbasis zur Schneckenspitze an einem von der Erregerfrequenz abhängigen Ort zu einem ausgeprägten Maximum auf und läuft sich dann am weiteren Weg tot. Am Ort des Maximums kommt es zu einer merklichen Verschiebung der Deckmembran gegen die Basilarmembran, wodurch die Haarfortsätze der Sinnes- und Verstärkerzellen verbogen werden und so die spezifischen Sinnesreize auslösen. Dieses Amplitudenmaximum liegt bei tiefen Frequenzen nahe der Schneckenspitze, bei hohen nahe der Basis. Eine genauere Darstellung wird in Anhang 2 gegeben. 2. Cochleärer Verstärker. Eine bedeutende Verschärfung und Erhöhung des Maximums wird durch einen biomechanischen Rückkopplungsprozess durch die Verstärkerzellen bewirkt. Diese können sich bei Biegung ihrer Sinneshaare und durch eintreffende Nervenimpulse kontrahieren und dilatieren (bis zu 20 kHz schnell!) und pumpen auf diese Weise weitere mechanische Energie in das schon vorhandene Amplitudenmaximum. Durch die Verbiegung der Basilarmembran werden die Sinneshärchen der Haarzellen unterhalb der Deckmembran ebenfalls gebogen und lösen dadurch in dem zu-

66 Beim Hören eines Tons von 250 Hz mit einer Lautstärke von 75 Phon beträgt die Schwingungsamplitude des Trommelfells nur etwa 12,5 Å = 1,25 ⋅ 10−9 m = 1,25 nm! Zum Vergleich: Die Wellenlänge von sichtbarem Licht (blaugrün) beträgt 500 nm. 67 Dies geht auf ausführliche Untersuchungen von Georg von Békésy (1899–1972, ungarisch-amerikanischer Biophysiker an der Harvard University, 1961 Nobelpreis für Medizin) zurück.

340

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

gehörigen Nervenfortsatz periodische Aktionspotenziale aus, deren Frequenz eine monotone Funktion der Schallintensität, also der Lautstärke ist. 68 Diese gelangen unter Zwischenschaltung weiterer Nervenzellen im Stammhirn schließlich zu den Neuronen in den beiden Hörzentren im transversalen Scheitellappen des Großhirns (auditorischer = auditiver Cortex). Hier haben die Schallqualitäten ‚Tonhöhe‘ und ‚Lautstärke‘ ihren Ursprung. Durch Verschaltung der Nervenzellen der Hörbahn im Stammhirn und im auditiven Cortex werden bestimmte Nervenzellen auf gewisse Schallmuster oder Frequenzmodulationen geprägt, wodurch erst unser Sprachund Musikverständnis ermöglicht wird. Während also die Tonfrequenz durch die Lage des Wanderwellenmaximums im Cortischen Organ erkannt wird, wird die Tonstärke (Intensität) durch die Frequenz der Nervenaktionspotenziale codiert – langsame Abfolge der Potenziale bei kleiner Schallintensität, rasche bei großer. So wie unser visueller Eindruck nicht durch die entsprechende Optik im Auge entsteht, sondern im Gehirn, entsteht auch unser akustisches Empfinden nicht wirklich im Ohr, sondern ebenfalls erst im Gehirn. 69 Das Richtungshören beruht auf der Fähigkeit der auditorischen Neuronen im Stammhirn, Laufzeitunterschiede von ≥ 3⋅10−5 s (entspricht 3° Abweichung von der Mittenebene) und Intensitätsunterschiede von ≥ 1 dB (entspricht 26 %) sicher zu erkennen. Die Entscheidung ‚vorn – hinten‘ wird durch die Form der Ohrmuschel erleichtert. Die Schwelle für die Erkennung von Frequenzunterschieden beträgt bei 1000 Hz etwa 3 Hz, also 0,3 %. Unser Ohr ist einerseits ein sehr empfindliches Registrierungsgerät, kann aber andererseits auch noch sehr hohe Schallintensitäten verarbeiten. Die maximale Empfindlichkeit liegt bei etwa 1 kHz, die Hörschwelle I0 beträgt hier ca. 10−12 W/m2. Wenn wir für die Fläche der Ohrmuschel grob 10 cm2 = 10−3 m2 ansetzen, sehen wir, dass eine Schalleistung von 10−15 W gerade noch hörbar ist. I = 10−12 W/m2 entspricht einer Schwingungsamplitude der Luftteilchen von 7⋅10−9 cm = 7⋅10−11 m, also etwa 1/10 Moleküldurchmesser. Die Schmerzgrenze wird erst erreicht, wenn die Schallstärke die Hörschwelle um 1013 übersteigt. Unser Ohr kann also Schallintensitäten gleich gut registrieren, wenn sie sich um einen Faktor 1013 unterscheiden! Ausführliche experimentelle Untersuchungen haben ergeben, dass sich die subjektive Empfindungsstärke (Lautstärke) Λ viel langsamer ändert als die objektive Reizstärke I. Weber und Fechner (Ernst Heinrich Weber, 1795–1878 und Gustav Theodor Fechner, 1801–1887) haben folgenden Zusammenhang postuliert (Achtung: Die Empfindungsstärke ist keine physikalische Größe!)

68 Die Frequenz der Aktionspotenziale ist der Schallintensität (Lautstärke) proportional, die Höhe der Aktionspotenziale ist konstant. 69 Die Sinnesorgane wandeln mit Hilfe spezifischer Sinneszellen die für sie adäquate physikalische Energie (mechanische, elektrische, chemische) unter Zwischenschaltung geeigneter physikalischer Vorrichtungen (z. B. Augenlinse, Iris, Gehörknöchelchen, Ohrmembran) in eine mehr oder minder rasche Folge von Pulsen von Nerven-Aktionspotenzialen um, die zu bestimmten Gehirnrindenregionen weitergeleitet werden und dort die spezifischen Sinnesempfindungen auslösen.

5.6 Akustik

Λ = const. log10 I

341 (I-5.274)

Die Empfindungsstärke wächst mit dem Logarithmus der Reizstärke (Schallintensität). Weber-Fechnersches Gesetz 70 Da die Schallintensität über viele Größenordnungen variieren kann, ist es daher von Vorteil, ein logarithmisches Maß für die Lautstärke zu verwenden. Das führt zur Definition der subjektiven Lautstärke für die Frequenz 1000 Hz Λ​ = 10 ⋅ log​10

I​ (ν​) I​0 (1000 Hz)

subjektive Lautstärke bei 1000 Hz,

(I-5.275)

Einheit: [Λ] = Phon. 71 I0 (1000 Hz) ist die Hörschwellintensität bei 1 kHz, sie beträgt I0 = 10−12 W/m2. Diese Beziehung gilt nur für die Frequenz von 1000 Hz, da sie auf die Frequenzabhängigkeit der Empfindlichkeit keine Rücksicht nimmt. Bei anderen Frequenzen wird die Lautstärke durch subjektiven Vergleich mit dem 1 kHz-Ton bestimmt – siehe weiter unten. Wenn die Intensität nicht auf die minimale Hörschwelle bei 1 kHz bezogen wird, also nur das Verhältnis von Schallstärken betrachtet wird, wird Λ in B (Bel 72, in der Praxis Dezibel = dB = 0,1 B) angegeben 73. W Das logarithmische Intensitätsverhältnis Γ​ = 10 ⋅ log​10 dB (dezibel) wird auch W0 im Bereich der Nachrichtentechnik vielfach angewendet. Also gilt bei einer Frequenz von 1 kHz: I = 10−12 W/m2 / I = 1 W/m2

0 Phon bzw. 0 dB

/ 120 Phon bzw. 120 dB

130 Phon entsprechen 1013 ⋅Hörschwelle = Schmerzgrenze.

70 Das „Gesetz“ beruht auf der Erfahrung, dass eine merkbare Änderung dΛ der Empfindungsstärd​I​ der Reizstärke proportional ist: Großer Reiz I erfordert für eine merkke der relativen Änderung I​ d​I​ liche Erhöhung der Empfindung dΛ eine große Reizerhöhung dI ⇒ d​Λ​ = k​ . I​ 71 Ist also z. B. die Intensität I(ν) einer Quelle mit ν = 1 kHz 100 mal stärker als die Hörschwellen100 ⋅ I​0 intensität I0 , dann beträgt die Lautstärke Λ​ = 10 ⋅ log​10 ⋅ . I​0 72 Nach Alexander Graham Bell, 1847–1922, britischer, später US-amerikanischer Physiologe und Telephonpionier, Gründer der Bell Telephone Company. 73 3 dB bedeuten Verdopplung, −3 dB Halbierung, 30 dB Vertausendfachung.

1

342

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Da die Schallintensität I zum Quadrat der Druckamplitude AP proportional ist (siehe 5.6.4, Gl. I-5.259), folgt λ​ = 20 ⋅ log​

A​P​ A​P​0

Schalldruckpegel in dB,

(I-5.276)

mit AP0 als Bezugsschalldruck. Nach Übereinkunft gilt AP0 = 20 μPa, das entspricht einer Schallintensität von I0 = 4,5⋅10−13 W/m2, also etwas kleiner als die Hörschwellenintensität I0. λ wird Schalldruckpegel genannt. Die Lautstärke beruht auf einer subjektiven Empfindung, für die es kein physikalisches Messverfahren gibt. 74 Daher wurde das Lautstärkemaß in Phon durch subjektiven Hörvergleich mit einem Normalton von ν0 = 1000 Hz und variablem Schalldruckpegel (in dB) eingeführt: Wird ein Ton beliebiger Frequenz gleichlaut wie ein Normalton von 1000 Hz empfunden, so wird der gemessene Schalldruckpegel des Normaltons als Lautstärkemaß genommen und das dB durch Phon ersetzt. 75 Für einen Ton von 1000 Hz stimmt daher die Lautstärke in Phon mit dem Schalldruckpegel in dB überein, bei anderen Frequenzen sind die Schalldruckpegel bei gleicher Lautstärke wegen der frequenzabhängigen Gehörempfindlichkeit von jenem des Normaltons verschieden.

140 Schmerzgrenze

Schalldruckpegel [dB]

120 100 80

Musikwahrnehmbarkeit

60

Sprachwahrnehmbarkeit

40 20

Hör sch we lle

on ph 0 10 on ph 80 on ph 0 6 on ph 0 4 on ph 20 n ho 3p

0 0,02

0,05

0,1

0,2 0,3 1 2 Frequenz υ [kHz]

5

10

20

Abb. I-5.39: Menschliche ‚Hörfläche‘ (nach Wikipedia).

74 Von zwei Schallquellen kann bezüglich ihrer Lautstärke quantitativ nur (innerhalb gewisser Fehlergrenzen) ihre Gleichheit festgestellt werden, wenn man von den Feststellungen ‚lauter‘, ‚leiser‘ absieht. (Siehe auch Fußnote 70 zum Weber-Fechnerschen Gesetz.) 75 Der Lautstärkevergleich von Tönen, deren Frequenzen stark differieren, wird mittels eingeschobener Zwischentöne mit jeweils gleicher Lautstärke vorgenommen.

5.6 Akustik

343

Wird im Hörbereich von 20 Hz bis 20 kHz ein Lautstärkevergleich bei verschiedenen Schalldruckpegeln des Normaltons durchgeführt, so können über den gesamten Frequenzbereich Kurven gleicher Lautstärke (Isophonen) gezeichnet werden, wenn die Schalldruckpegel bei den verschiedenen Frequenzen gemessen werden. Das resultierende Diagramm mit dem Schalldruckpegel (in dB) als Ordinate und der Frequenz (in Hz) als Abszisse stellt die menschliche ‚Hörfläche‘ dar (Fletcher-Munson Kurven, Abb. I-5.39). Es zeigt sich, dass bei kleinen und großen Frequenzen der Schalldruckpegel gleich laut empfundener Töne (Töne auf einer Isophone) wesentlich größer ist, als beim gleichlauten Normalton von 1000 Hz. Die Hörfläche wird nach unten durch die Isophone der Hörschwelle, nach oben durch jene der Schmerzgrenze begrenzt. Diese Definition der Lautstärke bringt es mit sich, dass eine Verdopplung der Schallquellen (= Intensitätsverdopplung, entspricht einer Leistungsverdopplung) unabhängig von der jeweiligen Lautstärke Λ1× einen Lautstärkezuwachs von 3 Phon bringt: Λ​2 × = 10 ⋅ log ​

2I​ I​ = 10 ⋅ log ​2 + 10 ⋅ log ​ = 3 + Λ​1× . I​0 I​0

(I-5.277)

Anmerkung zur menschlichen Hörfläche Die in der Hörfläche eingezeichneten Kurven gleicher Lautstärke (Isophonen) sagen nichts darüber aus, wie sich die Lautstärkeempfindung (die „Lautheit“) ändert, wenn sich die Lautstärke um ΔΛ Phon ändert. Umfangreiche Untersuchungen an einer großen Zahl von Probanden hat gezeigt, dass im Bereich von Λ = 30 Phon bis Λ = 110 Phon eine Erhöhung der Lautstärke um jeweils 10 Phon eine Verdopplung der empfundenen Lautheit zur Folge hat. Eine Erhöhung der Lautstärke um z. B. 3 30 Phon bedeutet also eine Steigerung der Lautheit um den Faktor 2 = 8. In der Schallmesstechnik wird der 40-Phon-Lautstärke die Lautheit 1 Sone per definitionem zugeordnet. Entsprechend besitzt ein Schallgeber von 50 Phon eine Lautheit von 2 Sone, einer von 80 Phon eine solche von 16 Sone. Ein Schallgeber von 30 Phon ist 0,5 Sone laut, wird also nur halb so laut empfunden wie eine 40-Phon-Schallquelle. Beispiel 1: Ein Motorrad erzeuge eine Lautstärke von 80 Phon. Dann haben zwei Motorräder 83 Phon. Dies sagt aber nichts über die subjektive Empfindung der Lärmsteigerung aus! Die Unterschiedsschwelle des Ohres für Lautstärken liegt bei ca. 1 Phon.

344

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Beispiel 2: Wie groß ist die Lautstärke einer fortissimo spielenden Geige (L = 10−3 W) bei ν = 1000 Hz in r = 15 m Entfernung? L​ I​ = = 3,54 ⋅ 10−7 W/m2 (siehe 5.6.4, Beispiel zum fortissimo der Geige), 2 4 r​ π​ mit Z​W​L​ = ρ​L​ υ​phL​ = 1,293 ⋅ 344 = 444,8 kg m−2 s−1 (Wellenwiderstand in Luft) und A​ P2 ​ −7 −2 I​ = ⇒ A​P​ = √2 ⋅ I​ ⋅ Z​W​L​ = √2 ⋅ 3,54 ⋅ 10 ⋅ 444,8 = 1,77 ⋅ 10 Pa. 2 Z​W​L​ 2

Da gilt I​ ∝ A​ P​ , berechnen wir den Schalldruckpegel nach A​P​ 1,77 ⋅ 10−2 3,54 ⋅ 10−7 λ​ = 20 ⋅ log​ = 20 ⋅ log​ = 10 ⋅ log​ = Λ​ = 59 dB, −6 −13 A​P0​ 20 ⋅ 10 4,5 ⋅ 10 das entspricht 59 Phon bei 1000 Hz (bei 100 Hz wären es bei gleichem Schalldruckpegel, also gleicher Geigenleistung, gemäß der Hörfläche nur 50 Phon).

5.6.7 Ultraschall und seine Anwendungen Wie schon früher erwähnt bezeichnet man Schall mit Frequenzen unterhalb der Hörfrequenz als Infraschall. Dazu gehören insbesondere Erdbebenwellen. Schall oberhalb der Hörgrenze bis 10 MHz nennt man Ultraschall, darüber Hyperschall. In Festkörpern werden die sehr raschen Schwingungen der Gitteratome (Größenordnung bis zu 10 THz = 1013 Hz) als Quasiteilchen (Phononen) betrachtet (siehe Band VI, Kapitel „Festkörperphysik“, Abschnitt 2.4.1). Von besonderer Bedeutung in der technischen und medizinischen Anwendung ist der Ultraschall.

Erzeugung von Ultraschall Neben der Möglichkeit von Ultraschallpfeifen, bei denen ein Luftstrom mit hoher Geschwindigkeit an einer scharfen, ringförmigen Schneide (Galtonpfeife) vorbeigeführt wird (ν = 10−100 kHz), werden besonders magnetostriktive (Echolot) und elektrostriktive Schwingsysteme verwendet. Beim magnetostriktiven System werden elastische Schwingungen in ferromagnetischen Materialien in einem magnetischen Wechselfeld (z. B. wechselstromdurchflossene Spule) angeregt, die sich auf das umgebende Gas (oder Flüssigkeit) übertragen. Analog wird beim elektrostriktiven System eine piezoelektrische Substanz (piezoelektrische Keramik oder piezoelektrischer Quarz 76) im elektrischen Wechselfeld zu elastischen Längsschwingungen angeregt. Beim Schwingquarz handelt es sich

76 Der piezoelektrische Effekt, das Auftreten von Flächenladungen bei der Druck- oder Zugbeanspruchung eines Kristalls parallel zu einer polaren Achse – der Effekt ist umkehrbar – wurde 1881 von den Brüdern Curie entdeckt (Pierre Curie, 1859–1906; Paul-Jacques Curie, 1855–1941).

5.6 Akustik

345

Abb. I-5.40: Schwingquarz mit ca. 4 MHz Eigenfrequenz (nach Wikipedia).

um ein aus einem Quarzkristall senkrecht zur Prismenachse (c-Achse) geschnittenes Plättchen, das beidseitig metallisiert ist (Abb. I-5.40). Wenn die Frequenz des anregenden Wechselfeldes gleich der Eigenfrequenz des Plättchens ist 77, wirkt der Schwingquarz wie ein Resonanzkreis mit sehr geringer Dämpfung, d. h. mit sehr hohem Gütefaktor (vgl. Abschnitt 5.2.4) und sehr hoher Frequenzstabilität. Anwendung: Zählgeräte, Digitalmessgeräte, Quarzuhren mit einem Gangfehler von minimal 1 ms/Monat. Die mit magneto- oder elektrostriktiven Schallgebern erzeugten Schallintensitäten erreichen 105 W/m2, Schallwechseldrücke von einigen 105 Pa und Beschleunigungsamplituden von mehr als 105 m/s. Zur Messung von Ultraschall kann ebenso ein piezoelektrisches System verwendet werden: Die Ultraschallwellen erregen die Quarzplatte zu erzwungenen Schwingungen, die in ein elektrisches Signal umgewandelt werden. Die Quarzplatte ist also ein reversibler Wandler.

Anwendung des Ultraschalls Wegen seiner kurzen Wellenlänge eignet sich der Ultraschall zur Messung von Schallgeschwindigkeiten und Absorptionskoeffizienten. Die großen Druck- und Beschleunigungsamplituden führen zu großen Kraftgradienten zwischen den verschiedenen Substanzen an Grenzflächen. Ultraschall wird daher in weiten Bereichen zur Reinigung von Oberflächen in Ultraschallbädern verwendet. Andererseits

77 Dichte von Quarz ρ = 2650 kg m−3; E-Modul (parallel zur polaren Achse): 7,721 ⋅ 1010 Nm−2 ⇒ Eigenfrequenz einer Quarzplatte der Dicke d in der Grundschwingung, bei der sich in der Mitte der 1 E​ 2700 Platte ein Auslenkungsknoten befindet: ν​ = √ = d​ Hz (d in m). 2 d​ ρ​

346

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

lassen sich unmischbare Flüssigkeiten mit Ultraschall emulgieren bzw. homogene Pulvermischungen für die Pulvermetallurgie und die Pulverbeschichtung herstellen. Die günstigen Reflexionseigenschaften von Ultraschall an Grenzflächen können zum Abtasten von Grenzflächen im Inneren undurchsichtiger Materialien (Echolot im Wasser, Prüfen von metallischen Werkstücken auf Poren und Lunker) benützt werden. Hauptanwendungsgebiet von Ultraschall in der Medizin sind die unter Sonographie zusammengefassten bildgebenden Verfahren zur Untersuchung in der Human- und Veterinärmedizin (z. B. Echokardiographie, Pränataldiagnostik), die frei sind vom Strahlenrisiko einer Röntgenuntersuchung. Durch Anwendung des Dopplereffekts (siehe Abschnitt 5.6.8) kann die Strömungsrichtung und Strömungsgeschwindigkeit des Blutes bestimmt und dadurch die Aussagekraft der Echokardiographie stark erhöht werden.

5.6.8 Akustischer Dopplereffekt 78, Kopfwellen Die Schallausbreitung in Gasen, z. B. in Luft, erfolgt durch Dichteschwankungen in Ausbreitungsrichtung. Schallwellen in Gasen sind daher longitudinale Wellen, die Kopplung der schwingenden Massenelemente (Gasmoleküle) erfolgt über die zwischen ihnen wirkenden Druckkräfte. Dabei ist die Schallgeschwindigkeit in Luft (T = 273 K = 0 °C) υph = υS = 331,5 m/s.

(I-5.278)

5.6.8.1 Zentraler Dopplereffekt Wir setzen zunächst voraus, dass sich Quelle und Beobachter direkt aufeinander zu oder voneinander wegbewegen – zentraler Dopplereffekt.

Schallquelle und Beobachter in Ruhe Im Folgenden ist stets ν0 die Frequenz, der von der Quelle ausgesandten Wellen, ν die Empfangsfrequenz des Beobachters. Die Schallquelle sendet also pro Sekunde ν0 Verdichtungen (= Wellenfronten) aus, die im Abstand λ0 = υph/ν0 aufeinander folgen (Abb. I-5.41).

78 Nach Christian Doppler, 1803–1853, erster Direktor des Physikalischen Instituts in Wien.

5.6 Akustik

Verdichtung

347

Verdünnung

ʋph λ0 = ___ ν0 Abb. I-5.41: Wellenfronten einer sich ausbreitenden Schallwelle.

Am Ort des ruhenden Beobachters ziehen pro Sekunde υph /λ = ν0 Wellenfronten vorbei, der Beobachter hört also genau die Frequenz (= Tonhöhe), welche die Schallquelle aussendet.

Schallquelle in Ruhe, Beobachter bewegt 79 Der Beobachter bewege sich jetzt mit der Geschwindigkeit υB auf die Schallquelle zu (Abb. I-5.42). Die Zahl der an ihm pro Sekunde vorbeilaufenden Wellenfronten erhöht sich gegenüber dem Wert ν0 beim ruhenden Beobachter daher um die Zahl der Wellenlängen λ0, die in die Wegstrecke fallen, die der Beobachter pro Sekunde zurücklegt. Die pro Sekunde zurückgelegte Wegstrecke ist gerade υB und die Frequenzerhöhung beträgt daher υB/λ0.

ʋB

Q

B

λ

λ

λ

Abb. I-5.42: Ein Beobachter bewegt sich auf eine ruhende Schallquelle zu.

79 Alle im Folgenden verwendeten Geschwindigkeiten beziehen sich auf ein System, das im Ausbreitungsmedium ruht.

348

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Für die wahrgenommene Frequenz gilt also

ν​ = ν​0 +

υ​B​ υ​B​ υ​B​ ) = ν​0 + ⋅ ν​0 = ν​0 (1 + λ​0 υ​ph υ​ph

(I-5.279)

Frequenzerhöhung bei Annäherung eines Beobachters an eine ruhende Quelle.80 Bewegt sich der Beobachter von der Quelle weg, so trifft er auf entsprechend weniger Wellenfronten und damit

ν​ = ν​0 −

υ​B​ υ​B​ ) = ν​0 (1 − λ​0 υ​ph

(I-5.280)

Frequenzerniedrigung bei Entfernung eines Beobachters von einer ruhenden Quelle.



relative Frequenzänderung:

υ​B​ ν​ − ν​0 Δν​ = =± . ν​0 ν​0 υ​ph

(I-5.281)

Beobachter in Ruhe, Schallquelle bewegt (eigentlicher Dopplereffekt) Bei der ruhenden Quelle wandert die Phase, z. B. die Verdichtung, in einer Schwingungsperiode T = 1/ν0 um die Strecke λ0 weiter. Bewegt sich die Schallquelle mit der Geschwindigkeit υQ auf den Beobachter zu, so rückt sie in einer Schwingungsυ​Q​ υ​Q​ periode um υ​Q​ ⋅ T​ = = ⋅ λ​0 weiter Abb. I-5.43). ν​0 υ​ph Das heißt aber, dass sich der Abstand der Quelle von der von ihr um eine Periode früher ausgesandten Wellenfront in einer Schwingungsperiode um

80 Alternative Herleitung: Wenn ein Maximum den Beobachter B erreicht hat (t = 0), befindet sich das nächste Maximum eine Wellenlänge λ vor B. Dieses Maximum erreicht B′ zur Zeit t​′ = 1/ν​′ , in der sich B um υB ⋅ t′ auf das Maximum zubewegt hat. Also gilt: υ​ph​ 1 = υ​ph​ ⋅ t​′ + υ​B​ ⋅ t​′ = (υ​ph​ + υ​B​) λ​ = ν​ ν​′ 1. Max 2. Max ʋph⋅t′ ʋB⋅t′

B′ λ ⇒ ν​′ = ν​(1 +

υ​B​ υ​ph

).

B

5.6 Akustik

349



Q(t)

ʋQ

B

Q(t + T )

λ

Abb. I-5.43: Eine Schallquelle bewegt sich auf einen ruhenden Beobachter zu.

Δλ​ =

υ​Q​ ⋅ λ​0 verringert hat. Das gilt auch für den Abstand der folgenden Wellenυ​ph

fronten, die nächste Verdichtung wird ja bereits an der neuen Position ausgesandt. Die ausgesandten Wellenfronten sind daher nicht mehr konzentrisch, es ergibt sich daher eine Verkürzung der Wellenlänge λ​ = λ​0 −

υ​Q​ υ​Q​ ) λ​0 = λ​0 (1 − υ​ph υ​ph

(I-5.282)

und damit

ν​ =

υ​ph = λ​

υ​ph λ​0 (1 −

υ​Q​ ) υ​ph

1

= ν​0 1−

υ​Q​ υ​ph

(I-5.283)

Frequenzerhöhung bei Annäherung einer Quelle an einen ruhenden Beobachter. Analog ergibt sich eine Verlängerung der Wellenlänge, wenn die Schallquelle vom Beobachter wegläuft, also 1

ν​ = ν​0 1+

υ​Q​ υ​ph

Frequenzerniedrigung bei Entfernung einer Quelle von einem ruhenden Beobachter.

(I-5.284)

350

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)



relative Frequenzänderung:

ν​ − ν​0 Δν​ υ​Q​ . = =± ν​ ν​ υ​ph

(I-5.285)

Beachte: Im Gegensatz zur Formel beim bewegten Beobachter steht hier die geänderte Frequenz ν im Nenner, die Frequenzänderung ist eben nicht symmetrisch! Durch Substitution von ν aus der obigen Beziehung (I-5.285) folgt Δν​ Δν​ υ​Q​ υ​Q​ )= und man erhält = (1 ∓ ν​ ν​0 υ​ph υ​ph Δν​ υ​Q​ / υ​ph​ = . ν​0 1 ∓ υ​Q​ / υ​ph​

(I-5.286)

Beim akustischen Dopplereffekt ergibt sich eine unterschiedliche Frequenzänderung, je nachdem, ob sich der Beobachter oder ob sich die Schallquelle bewegt. Die Ursache dafür liegt darin, dass für die Schallausbreitung ein übertragendes Medium (z. B. Luft) vorhanden sein muss. Dieses gibt ein ausgezeichnetes Koordinatensystem vor, auf das alle Bewegungen bezogen werden müssen. Es kann daher unterschieden werden, wer sich gegen das Medium bewegt, der Beobachter oder die Schallquelle. Für die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen ist dagegen kein Trägermedium erforderlich, sie können sich auch im leeren Raum (Vakuum) ausbreiten; es kommt daher nur auf die Relativgeschwindigkeit von Quelle und Beobachter an. Bei elektromagnetischen Wellen (z. B. sichtbares Licht) tritt daher kein Unterschied zwischen bewegtem Beobachter und bewegter Lichtquelle auf. Die Formeln für die Frequenzänderung müssen daher modifiziert werden (siehe Band II, Kapitel ‚Relativistische Mechanik‘, Abschnitt 3.5). Wir betrachten jetzt den Unterschied zwischen bewegter Quelle und bewegtem Beobachter. Für die auf den Beobachter zu bewegte Quelle haben wir gefunden (Gl. I-5.283) ν​ = ν​0 (1 −

1

υ​ Q​ −1 ) . υ​ph

Reihenentwicklung für x ≪ 1: (1 + x​ )n​ = 1 + n​ ⋅ x​ +

n​ (n​ − 1) 2 x​ + … 2

Bei uns ist x = −υQ/υph und n = −1, die Entwicklung ergibt also

(1 −

υ​ Q​ −1 υ​Q​ υ​ Q​ 2 ) =1+ +( ) . υ​ph υ​ph υ​ph

(I-5.287)

5.6 Akustik

351

Damit wird die Frequenz der bewegten Schallquelle zu ν​ = ν​0 (1 +

υ​Q​ υ​ Q​ + ( )2) . υ​ph υ​ph

(I-5.288)

Für den bewegten Beobachter bei ruhender Schallquelle ergibt sich dagegen (Gl. I-5.279) ν​ = ν​0(1 +

υ​B​ ). υ​ph

υ​ Q​ 2 Der Unterschied beträgt ( ) , ist also von zweiter Ordnung im Geschwindigυ​ph keitsverhältnis und daher für vQ ≪ vph zu vernachlässigen. Für genügend große Geschwindigkeiten ist der Effekt aber messbar und es kann bestimmt werden, ob sich die Quelle oder der Empfänger bewegt.

Allgemeiner Dopplereffekt Wenn sich sowohl die Quelle als auch der Beobachter relativ zum Ausbreitungsmedium bewegen, so treten beide oben berechneten Frequenzänderungen gleichzeitig auf und es gilt für die resultierende Frequenzänderung, indem man in der Formel für die Frequenzänderung bei bewegtem Beobachter (Gln. (I-5.279) und (I-5.280)) die Frequenz ν0 durch die Frequenz ν der bewegten Quelle (Gln. (I-5.283) und (I-5.284)) ersetzt 1± ν​ = ν​0 ⋅

υ​B​ υ​ph

υ​ 1 ∓ Q​ υ​ph

= ν​0

υ​ph ± υ​B​ υ​ph ∓ υ​Q​

allgemeiner Dopplereffekt.

(I-5.289)

Die Vorzeichen sind entsprechend den Überlegungen der einfachen Effekte zu wählen.

5.6.8.2 Nichtzentraler Dopplereffekt Beim bisher betrachteten Effekt (Quelle und Beobachter bewegen sich direkt aufeinander zu oder entfernen sich voneinander) hängt die Frequenzänderung nur von der Geschwindigkeit, nicht aber von der relativen Entfernung von Quelle und Beobachter ab, Δν ändert sich unstetig („schlagartig“) bei ihrem Zusammentreffen. Das ändert sich, wenn Quelle und Beobachter sich im Abstand d aneinander vorbeibewegen (nichtzentraler Dopplereffekt, Abb. I-5.44). Dabei bewirkt nach den Überlegungen des einfachen Effekts nur die zum jeweiligen Zeitpunkt t vorhandene

352

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

0 ≤ θ(t) ≤ π d ≤ r(t) ≤ ∞ ʋB//

B ʋB d

θ(t) ʋB⊥ = ʋB⋅cos θ(t)

r(t) Q

ʋph⋅(t – T )

ʋph⋅t

Abb. I-5.44: Ruhende Quelle, bewegter Beobachter.

Komponente υ​B​, ⊥ senkrecht zur gerade vorhandenen Wellenfront (υ​B​, ⊥ = υ​B​ cos θ​) eine Frequenzänderung um den Betrag 81

Δν​ = ν​ − ν​0 = ± ν​0 ⋅

Δν​ = ν​ − ν​0 = ± ν​ ⋅

υ​B​ cos θ​ (t​) υ​ph

υ​Q​ cos θ​ (t​) υ​ph

ruhende Quelle, bewegter Beobachter.

(I-5.290)

ruhender Beobachter, bewegte Quelle.

(I-5.291)

Jetzt hängt die Frequenzänderung Δν vom zeitlich veränderlichen Winkel θ(t) zwid​ schen υ​⇀B​ und υ​⇀B​, ⊥ ab, und damit vom Abstand Quelle–Beobachter r​ (t​) = sin ​θ​ π​ (Abb. I-5.45). Für θ​ (t​) = (Beobachter und Quelle auf gleicher Höhe, also r (t) = d) 2 verschwindet die Frequenzänderung (Δν = 0). Die Bedeutung des Dopplereffekts liegt vor allem im Bereich der elektromagnetischen Wellen (vgl. Band II, Kapitel „Relativistische Mechanik“ Abschnitt 3.5 und Band III, Kapitel „Statische Magnetfelder“, Abschnitt 3.3) und dient z. B. zur Geschwindigkeitsmessung aufgrund der Frequenzverschiebung von Radarwellen (elektromagnetische Wellen im Radiofrequenzbereich, ca. 30–300 MHz), die an bewegten Objekten reflektiert wurden. In der Spektroskopie und Astronomie sind seine Anwendungen grundlegend (Dopplerverbreiterung von Spektrallinien durch die regellose Bewegung der emittierenden Atome, Messung der Radialgeschwindigkeit

81 Die Formeln gelten mit großer Genauigkeit nur für υB ≪ υph und d ≥ υph ⋅ T, das heißt für einen Beobachter, der sich relativ langsam in nicht zu kleiner Entfernung an der Quelle vorbeibewegt. Der Einfluss der Parallelkomponente υB// auf die Frequenzänderung wird dann verschwindend gering. Ohne diese Beschränkung erweist sich die Berechnung des nichtzentralen Dopplereffekts (entsprechend der Methode von Fußnote 80) als recht kompliziert.

5.6 Akustik

353

Δν(θ) θ(t) = 0 +Δν

π r = –∞

π/2 r=d

υB υQ , bzw. arc tan ν ___ α = arc tan ν0 ___ υph υph 0 r = +∞ θ(t)

–Δν

Abb. I-5.45: Frequenzänderung als Funktion des sich ändernden Winkels θ(t).

heller Sterne, Untersuchung von Doppelsternen, Rotverschiebung weit entfernter Galaxien und Quasare, Hubble-Konstante, siehe dazu auch Band V, Kapitel „Subatomare Physik“, Abschnitt 3.2.6).

5.6.8.3 Kopfwellen Wir betrachten eine punktförmige Schallquelle, die sich mit der Geschwindigkeit υQ in die positive x-Richtung bewegt und fortwährend kugelförmige Schallwellen der Frequenz ν0 aussendet, die sich überlagern. Wir betrachten die ausgesandten Wellenfronten zu drei äquidistanten Zeitpunkten (t0 ,t1 ,t2 ) für unterschiedliche Verhältnisse υQ/υph (Abb. I-5.46). Sobald sich die Schallquelle bewegt (υQ ≠ 0), hängt der Abstand der Phasenflächen vom Winkel β gegen die Bewegungsrichtung ab: Die ausgesandte Wellenlänge λ0 ist im Verhältnis der auf die Beobachtungsrichtung projizierten Geschwindigkeit der Schallquelle υQ zur Schallgeschwindigkeit υph verkürzt. Wir erhalten so für t0, t1, t2

r0

t0 t1 t2 Beobachtungsrichtung, Beobachter sehr weit entfernt λ0

λ = λ(β) β x

ʋQ = 0

ʋQ

x

0 < ʋQ < ʋph

Abb. I-5.46: Eine punktförmige Schallquelle, die sich vorher in Ruhe befand (links), bewegt sich mit der Geschwindigkeit υQ in die positive x-Richtung (rechts).

354

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

die Wellenlänge als Funktion des Winkels zwischen Beobachtungsrichtung und Bewegungsrichtung der Quelle für sehr große Entfernung von der Quelle λ​ (β​) = λ​0 (1 −

υ​Q​ cos β​ υ​ph υ​Q​ cos β​ υ​ph − υ​Q​ cos β​ 82 )= (1 − )= . υ​ph ν​0 υ​ph ν​0

(I-5.292)

Für υQ = υph verschwindet in der Bewegungsrichtung (β = 0) der Abstand der Wellenfronten (λ​υQ​​ = υ​ph ( β​ = 0) = 0), die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausgesandten Wellen überlagern sich in der Bewegungsrichtung der Schallquelle in Phase und bilden eine Kopfwelle („Stoßfront“, Abb. I-5.47). ʋKW = ʋph t0 t1

Kopfwelle

t2 t3

t0

t1

t2

t3

Kopfwelle

r0 = ʋph⋅(t3 – t0) α ʋQ

x

S0

S1

S2

Sn ʋQ

x

ʋQ⋅(t3 – t2) ʋQ⋅(t3 – t1) ʋQ⋅(t3 – t0)

Kopfwelle ʋQ = ʋph

ʋQ > 0, α = 90° – β

Abb. I-5.47: Ausbildung einer Kopfwelle, sobald die Geschwindigkeit υQ der Quelle die Schallgeschwindigkeit υph erreicht.

Für υQ > υph gilt λ​ (β​) = 0

für

β​ = arc cos (

υ​ph ). υ​Q​

(I-5.293)

Kleinere Winkel β sind nicht zu berücksichtigen, da dann λ < 0 würde.

82 Die exakte Formel muss auch die Geschwindigkeitskomponente senkrecht zur Beobachtungsrichtung (also υ​Q​, ⊥ = υ​Q​ ⋅ sin β​) berücksichtigen. Dann zeigt sich, dass die angegebene Formel für 2

2

υ​ Q​ λ​ ≪ 1 eine gute Näherung ist, also entweder für eine langsam bewegte λ(β) nur im Falle ( ) ⋅ 2 υ​ ph r​ 0 Quelle oder einen sehr weit entfernten Beobachter, oder beides. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, dann wird λ(β) eine Funktion der Zeit, da sich dann sowohl der Abstand Beobachter-Quelle als auch die Beobachtungsrichtung β mit der Zeit ändern.

Zusammenfassung

355

Wenn die Quelle die Strecke S​0 S​3 in̄ der Zeit t3 − t0 zurücklegt, dann ist der Radius der bei S0 ausgesandten Wellenfront r0 = υph ⋅(t3 − t0). Analog haben die bei S1 , S2 , … ausgesandten Wellenfronten nach den Zeiträumen t3 − t1 , t3 − t2 , … die Radien r1 = υph ⋅(t3 − t1 ), r2 = υph ⋅(t3 − t2 ), …, die alle zu den Strecken S​1 S​3, ̄ ̄ proportional sind. Alle Wellenfronten liegen daher auf Kegelmänteln, die S​2 S​3, … den Mach-Kegel bilden. Für den Öffnungswinkel α, den Mach-Winkel 83, gilt sin ​α​ =

r​1 υ​ph​ 1 = =…= = ̄ ̄ S​0 S​n​ S​1 S​n​ υ​Q​ M​ r​0

(I-5.294)

mit M​ =

υ​Q​ υ​ph​

Machzahl.

(I-5.295)

Die Kopfwelle von Schallquellen, die sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegen (z. B. Düsenjäger), ist als Überschallknall zu hören, sobald sie den Beobachter erreicht.

Zusammenfassung 1.

Ungedämpfter, freier harmonischer Oszillator: Schwingungsgleichung: 2

mit ω​ 0 =

2

x​̈ (t​) + ω​ 0 x​ (t​) = 0 ,

k​ … Eigenfrequenz, k … Federkonstante, m … Masse m​

Lösung = Bewegung des MP: x​ (t​) = C​1 cos (ω​0 t​) + C​2 sin ​ (ω​0 t​) = A​ cos (ω​0 t​ + φ​) = = c​e​ i​ω0​ t​ + c​ * e​ − i​ω0​ t​ = |c​ |[e​ i​ (ω​0 t​ + φ​) + e​ − i​ (ω​0 t​ + φ​)]. C1 ,C2 , A​ = √C​ 1 + C​ 2 reell; c = a + ib komplex; a = C1 /2; b = −C2 /2; tan Φ = −C2 /C1 2

2

= b/a. Die Schwingungsgleichung ist eine lineare DG ⇒ das Superpositionsprinzip gilt ⇒ Lösungen als Überlagerungen von Schwingungen sind möglich. 3. Fourieranalyse: Jede mit T periodische Funktion kann in harmonische Komponenten zerlegt werden.

2.

83 Nach Ernst Mach, 1838–1916, österreichischer Physiker und Philosoph.

356

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves) ∞​

f​ (t​) = A​0 +

∑ A​n​ cos (n​ω​1 t​ + φ​n​ ) = n​ = 1 ∞​

∞​

∞​

a​0 i​n​ω​ t​ + ∑ a​n​ cos (n​ω​1 t​) + ∑ b​n​ sin ​ (n​ω1​ t​) = ∑c​n​ e​ 1 , = 2 n​ = 1 n​ = 1 −∞​

ω​1 =

2 π​ T​

T​

mit

1 c​n​ = ∫f​ (t​)e​ − i​n​ω1​ t​ d​t​ , T​ 0

a0 = 2 c0, an = cn + c−n sowie

A​n​ = √

2 a​ n​

+

2 b​ n​

und und

bn = i(cn − c−n ) a​n​ tan ​φ​ = . b​n​

mit

n > 0,

Das Frequenzspektrum der Zerlegung weist diskrete Frequenzen auf (Linienspektrum). 4. Wenn eine nichtperiodische Funktion f(t) vorliegt oder eine periodische Funktion nur in einem beschränkten Zeitintervall existiert, kann man ein kontinuierliches Frequenzspektrum angeben: + ∞​

Fourierintegral

f​ (t​) =

1 i​ω​t​ ∫ F​ (ω​)e​ d​ω​ 2 π​ − ∞​ + ∞​

mit der Fouriertransformierten

F​ (ω​) ≡ ∫ f​ (t​)e​ − i​ω​t​ d​t​ − ∞​

5.

als kontinuierlichem Frequenzspektrum. Freier, gedämpfter Oszillator: Schwingungsgleichung:

2

x​̈ + 2 γ​ x​̇ + ω​ 0 x​ = 0,

γ = β/2 m … Dämpfungskonstante (F​R​ = −β​ ⋅ x​̇ ). Allgemeine Lösung:

x​ (t​) = e​ −γ​t​ [c​1 ⋅ e​ √γ​

2

2

− ω​ 0 ⋅ t​

+ c​2 ⋅ e​ −√ γ​

2

2

− ω​ 0 ⋅ t​

]

3 Fälle: 1. γ2 < ω02 ⇒ Wurzeln der charakteristischen Gleichung werden komplex. −γ​ t​ i​ω​′ t​ + c​ * e​ −i​ω​′ t​ ) = A​e​ −γ​ t​ cos (ω​′t​ + φ​) , das ist eine Bewegung: x​ (t​) = e​ (c​e​ harmonische Schwingung der Frequenz ω​′ = √ω​ 20 − γ​ 2 mit zeitlich expo-

357

Zusammenfassung

nentiell abnehmender Amplitude, die Schwingung ist daher insgesamt nicht mehr harmonisch (bei schwacher Dämpfung ‚quasiharmonisch‘). Für die Abnahme der Amplitude gilt das logarithmische Dekrement: x​ (t​) ] = γ​ ⋅ T​ ≡ δ​ ln​[ x​ (t​ + T​) γ 2 > ω02 ⇒ aperiodischer Kriechfall γ 2 = ω02 ⇒ kritisch gedämpft, aperiodischer Grenzfall, schnellste Rückkehr in die Ruhelage, wichtig für technische Anwendungen. 6. Durch periodische äußere Kraft F erzwungene Schwingung: 2. 3.

2

x​̈ + 2 γ​ẋ ​ + ω​ 0 x​ = a​0 ⋅ e​

Schwingungsgleichung:

i​ω​t​

,

a​0 =

F​ m​

allgemeine Lösung (= Lösung der homogenen DG + partikuläre Lösung der inhomogenen DG): x​ (t​) = e​ −γ​t​ [c​ ⋅ e​ i​ω​′t​ + c​ * ⋅ e​ −i​ω​′t​] + c​′ ⋅ e​

−i​ (ω​t​ + φ​)

⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟

,

E​i​n​s​c​h​w​i​n​g​υ​o​r​g​a​n​g​, υ​e​r​s​c​h​w​i​n​d​e​t​ n​a​c​h​ g​e​n​ü​g​e​n​d​ l​a​n​g​e​r​ Z​e​i​t​

reelle Amplitude:

A​stat​ = |c​′ | =

a​0



2 (ω​ 0

2 2

, 2

− ω​ ) + (2 γ​ ω​)

Phasenlage zwischen Erregerfrequenz und erzwungener Schwingung: b​ 2 γ​ω​ tan​ φ​ = = , ω0 … Kreisfrequenz des ungedämpften Oszillators, 2 ​ a ω​ 0 − ω​ 2 Resonanzfrequenz für maximale Elongation: ω​R​ = √ω​ 20 − 2 γ​ 2 < ω​0 für γ​ ≠ 0. 7.

Energiebilanz der Schwingungen: ungedämpfter harmonischer Oszillator: Gesamtenergie ist erhalten gedämpfter Oszillator: Energieverlust tritt als Wärme auf; Oszillatorgüte: Q​ = 2 π​

τ​ T​

mit der Energierelaxationszeit τ (Zeit für die Abnahme der Energie auf den e-ten Teil). Bei der stationären erzwungenen Schwingung wird die gesamte von außen zugeführte Energie an die Umgebung abgegeben (Reibung, Strahlung). 8. Gekoppelte Oszillatoren: Gekoppelte DG’s werden für gleiche Masse und gleiche Federkonstante der schwingenden MP durch Transformation auf Normalkoordinaten

358

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

1 1 − (x​1 + x​2 ) und ξ​ = (x​1 − x​2 ) entkoppelt. Die Schwingung der gekoppel2 2 ten Oszillatoren (Kopplungskonstante k12 ) kann durch Überlagerung der beiden Normalschwingungen dargestellt werden: gleichphasige Schwingung +

ξ​ =

x​1 (t​) = A​ ⋅ cos (√k​/m​ ⋅ t​ + φ​) x​2 (t​) = A​ ⋅ cos (√k​/m​ ⋅ t​ + φ​) gegenphasige Schwingung x​1 (t​) = −A​ ⋅ cos (√k​ + 2 k​12/m​ ⋅ t​ + φ​) x​2 (t​) = A​ ⋅ cos (√k​ + 2 k​12/m​ ⋅ t​ + φ​). 9. Die Kopplung von schwingenden Systemen führt zur Ausbreitung der Schwingung in der Form von mechanischen Wellen. Die Wellenausbreitung ist ein räumlicher Transport der Schwingungsenergie, die Ausbreitungsgeschwindigkeit wird durch die Kopplung bestimmt. Die Welle wird also durch eine Wellenfunktion beschrieben, die eine periodische Funktion der Zeit (am gleichen Ort) und eine periodische Funktion des Ortes (Momentaufnahme im ganzen Raum) ist: x​ u​ (x​,t​) = u​0 cos [ω​ (t​ − )] = u​0 ⋅ cos (ω​t​ − k​x​) = c​ ⋅ e​ i​ (ω​t​ − k​x​) , k = 2 π/λ . υ​ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ P​h​a​s​e​

10. Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Phase, also des augenblicklichen Schwingungszustands eines Oszillators, gilt die Dispersionsrelation: υ​ph = ν​ ⋅ λ​ =

ω​ . k​

Breiten sich die Wellen in einem Medium mit Dispersion aus, dann ist die Phasengeschwindigkeit von der Wellenlänge abhängig, es gilt also υph = υph(λ). Die Wellen eines Wellenpakets laufen dann auseinander, die Phasengeschwindigkeit verliert an Bedeutung. Entscheidend ist dann die Gruppen- oder Signalgeschwindigkeit: υ​gr =

d​ω​ d​υp​ h = υ​ph − λ​ . d​k​ d​λ​

11. Die Wellenausbreitung wird durch die allgemeine Wellengleichung beschrieben

Zusammenfassung

Δu​ =

1 ∂​ 2 u​ 2

υ​ ph ∂​t​

2

bzw.

Δu​⇀=

359

1 ∂​ 2 u​⇀ , 2 2 υ​ ph ∂​t​

die z. B. durch die Wellenfunktion für ebene Wellen, die sich in beliebiger Richk​⇀ tung im Raum ausbreiten (oder auch für Kugelwellen), befriedigt wird ⇀| | k​ ⇀

⇀ u​⇀(r​⇀,t​) = u​⇀0 cos (ω​t​ − k​⇀⇀ r​ ) = c​⇀⋅ e​ i​ (ω​t​ − k​r​ ).

Ist die schwingende Größe skalar, wie etwa bei reinen Druckwellen, handelt es sich um Skalarwellen. Ist die schwingende Größe vektorieller Natur, so sind auch Transversalwellen möglich, etwa Scherwellen im Festkörper oder elektromagnetische Wellen. 12. Energie von Schwingungen und Wellen: Der ungedämpfte, freie harmonische Oszillator ist ein abgeschlossenes System, dessen Gesamtenergie erhalten bleibt. Es gilt also: E​gesamt = E​kin + E​pot . Die Energie des gedämpften Oszillators nimmt mit e​ −2γ​t​ ab, das System ist nicht abgeschlossen, es wird Energie nach außen abgegeben, die als Wärme- oder Strahlungsenergie in der Umgebung des schwingenden Systems in Erscheinung tritt. Im stationären Fall der erzwungenen Schwingung wird die gesamte von außen durch die Erregungskraft zugeführte Energie an die Umgebung abgegeben. Die mittlere mechanische Gesamtenergie einer Welle ergibt sich als Summe der über eine Schwingungsperiode gemittelten kinetischen und potenziellen ̅ ̅ + E​pot 1 E​kin 2 2 = ρ​A​ ω​ . Energie, die mittlere Energiedichte ist daher w​ = ΔV​ 2 Die der Messung zugängliche ‚Intensität‘, das ist die pro Zeiteinheit durch eine zur Ausbreitungsrichtung normale Flächeneinheit mit der Phasengeschwindigkeit transportierte Energie, ergibt sich zu

I​ = w​ ⋅ υ​ph =

1 2 2 υ​ph ρ​ A​ ω​ . 2

13. In entgegengesetzter Richtung laufende Wellen gleicher Amplitude setzen sich zu einer ‚stehenden Welle‘ zusammen; sie bilden eine Schwingung, die im ganzen Raum phasengleich ist, deren Amplitude aber von Ort zu Ort periodisch schwankt und an Stellen, die um λ/2 auseinander liegen, ganz verschwindet.

360

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

14. Wird eine Saite eingespannt, so sind für ihre Schwingung durch die Randbedingungen nur mehr bestimmte Wellenlängen möglich / Quantisierung durch räumliche Einschränkung: λ​ =

2 l​ . n​

15. Die europäischen Tonleitern haben sich aus den 4 Tönen der griechischen Lyra entwickelt. Heute teilt man die Oktave allgemein geometrisch in 12 gleiche 12 12 Teile x, also x​ = 2 ⇒ x​ = √2 = 1,05946309 und kommt so zur chromatischen Tonleiter in ‚gleichstufiger Temperatur‘. 16. Im Schallfeld sind die Bewegung der Luftmoleküle, ihre Geschwindigkeit und der entstehende Schallwechseldruck von Bedeutung. Für die Schallintensität einer ebenen, fortschreitenden Welle ergibt sich mit der mittleren Energiedichte E​,̅ der Bewegungsamplitude u0, der Geschwindigkeitsamplitude υ0 und der Druckamplitude A0 I​ = E​ ̅ υ​ph =

1 1 1 1 A​ 20 2 2 2 . υ​ph ρ​u​ o​ ω​ = ρ​ υ​ph υ​ 0 = A​0 υ​0 = 2 2 2 2 ρ​ υ​ph

17. Nach dem ‚Weber-Fechnerschen Gesetz‘ wächst die Empfindungsstärke mit dem Logarithmus der Reizstärke (Schallintensität). Man definiert daher die (subjektive) Lautstärke Λ durch die gerade noch wahrnehmbare Minimalintensität I0 (1000 Hz) bei 1000 Hz (10−12 W/m2 ) Λ​ = 10 ⋅ log​10

I​ (ν​) I​0 (1000 Hz)

Phon.

18. Die Bewegung des Empfängers oder der Schallquelle führt am Ort des Empfängers zu einer Frequenzänderung. Da das übertragende Medium ein ausgezeichnetes Bezugssystem ist, kann zwischen der Bewegung des Beobachters und der Bewegung der Schallquelle unterschieden werden. Bewegen sich Beobachter B und Quelle Q direkt aufeinander zu oder voneinander weg (zentraler Dopplereffekt), dann gilt Bewegter Beobachter: B/Q

ν​ = ν​0 (1 +

υ​B​ ) υ​ph

Frequenzerhöhung,

Q

ν​ = ν​0 (1 −

υ​B​ ) υ​ph

Frequenzerniedrigung.

)B

Zusammenfassung

361

Bewegte Schallquelle:

Q/B

1

ν​ = ν​0 1−

)Q

B

Frequenzerhöhung,

υ​Q​ υ​ph

1

ν​ = ν​0 1+

Frequenzerniedrigung.

υ​Q​ υ​ph

Beobachter (υB ) und Quelle (υQ ) relativ zum ruhenden Ausbreitungsmedium bewegt (allgemeiner Dopplereffekt):

ν​ = ν​0

υ​ph ± υ​B​ . υ​ph ∓ υ​Q​

Beobachter (Quelle) und Quelle (Beobachter) bewegen sich im Abstand d aneinander vorbei (nichtzentraler Dopplereffekt): B/Q () B

Q) ν​ = ν​0(1+

(−)

Q/B () Q

υ​B​ cos θ​) ; υ​ph 1

B) ν​ = ν​0 1− (+)

υ​Q​ cos θ​ υ​ph

mit cos θ = d/r, r = Abstand Beobachter-Quelle. 19. Schallquellen, die sich schneller bewegen als die Schallgeschwindigkeit (υQ > υph ) erzeugen eine kegelförmige Kopfwelle für deren Öffnungswinkel α gilt sin α​ =

υ​ph 1 = , υ​Q​ M​

wobei M = υQ/υph die Machzahl ist.

Übungen: 1. Ein Lautsprecher erzeugt den Klang durch eine schwingende Membran. Angenommen, die Amplitude der Schwingung wird auf 10‒3 mm begrenzt. Für welche Frequenzen ist der Betrag der maximalen Beschleunigung größer als g (Erdbeschleunigung)?

5

362 2.

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Ein im Wasser schwimmender Holzquader (Bild unten) mit der Höhe h und der Dichte ρH führt nach einmaligem Anstoß eine auf und nieder schwingende Bewegung aus. Welcher Ausdruck ergibt sich für die Periodendauer? Weshalb kann eine im Wasser schwimmende Holzkugel keine harmonischen Schwingungen ausführen?

ρH

h

Um eine Schraubenfeder um Δx = 8 cm zu dehnen, ist die Arbeit W = 2⋅10−3 N erforderlich. Welche Periodendauer der Schwingung ergibt sich beim Anhängen eines Massenstückes von m = 50 g? 4. Berechne die Schwingungsdauer eines Pendels der Länge L = 98,1 cm in Luft unter Vernachlässigung der Reibung. Um wie viele Prozent ändert sich die Schwingungsdauer, wenn das Pendel in Glyzerin getaucht wird, wobei es eine Reibungskraft FR = −βυ, β = 0,2 kg s−1 erfährt? Die Masse des Pendels sei m = 50 g. 5. Zwei parallele Schwingungsbewegungen von gleicher Amplitude und gleicher Phasenkonstante mit nur gering unterschiedlicher Periodendauer T1 = 3 s und T2 = 3,1 s überlagern sich zu einer resultierenden Bewegung. Ermittle die Periodendauer der resultierenden Schwingung und die der Schwebung. 6. a) Beim Herannahen eines Rennmotorrades nimmt man am Straßenrand einen Ton wahr, der um eine harmonische Quart ( f1 : f2 = 4 : 3) höher ist als der Ton beim Davonfahren der Maschine. Welche Geschwindigkeit hat diese? b) Wie verändert sich die Tonhöhe einer Schallquelle, die am Straßenrand steht, für den vorbeifahrenden Motorradfahrer? 7. Ein Benzinmotor hat den Schallpegel 80 Phon. Welchen Schallpegel haben a) 3 Motoren und b) 60 Motoren? c) Wie viele Motoren müssten gleichzeitig laufen, damit 130 Phon (Schmerzgrenze) erreicht wird? 3.

363

Anhang 1 Schwingungsformen einer gezupften Saite

Anhang 1 Schwingungsformen einer gezupften Saite In allen praktisch wichtigen Fällen wird die beidseitig eingespannte Saite nicht – wie in Abschnitt 5.6.2 behandelt – zu einer sinusförmigen Schwingung angeregt. Als Beispiel einer tatsächlich vorkommenden Anregung soll hier die Bewegung einer in den Punkten A,B auf der x-Achse eingespannten Saite (A​B​ =̄ L​) untersucht werden, die zwischen A und B angezupft wird. Die Schwingungsform zum Zeit2 L​ punkt (0 ≤ t​ ≤ T​, T​ = … Schwingungsdauer) kann rechnerisch schnell gefunden υ​ werden: Die gesuchte zeitabhängige Auslenkung A(x,t) kann als Teil einer stehenden, nicht-sinusförmigen Welle behandelt werden, die durch Überlagerung (= Addition) einer auf einer unendlich langen Saite nach +x und einer nach −x laufenden Welle der Form a​ ± (υ​t​ ∓ x​) gebildet wird. 84 Ist A(x,0) die dreiecksförmige Auslenkung für t = 0, dann muss für diesen Zeitpunkt von A bis B gelten ±

a​ A​,B​ (x​,0) =

A​ (x​,0) , 2

(I-5.296)

damit die Überlagerung von a​ + (x​,0) und a​ − (x​,0) die vorgegebene Auslenkung A(x,0) ergibt. Dies ist aber nur die eine Hälfte einer vollständigen Welle mit dem räumlichen Mittelwert Null; die andere Hälfte von A bis C (spiegelbildlich bezüglich A) muss noch hinzugefügt werden, um a​ ± (x​,0) von B bis C zu ergeben (Abb. I5.48). 85 a D A(x,0) a±A,B(x,0)

a−(x,0) C

A

B

0

L

x

+

a (x,0)

± ̄ Abb. I-5.48: Bei D angezupfte Saite A​ B​ (blau). Von A bis B ist a​ A​,B​ (x​,0) =

A​ (x​,0) 2

.

84 Nach Abschnitt 5.5.3, sind diese Funktionen Lösungen (d’Alembertsche Lösungen) der Wellengleichung. 85 Der von x = −∞ bis x = +∞ reichende vollständige Wellenzug ergibt sich durch wiederholtes Aneinanderfügen von a± (x,0) in beiden Koordinatenrichtungen. Der gesamte Wellenzug bewegt sich mit ±υ nach beiden Richtungen; für t = 0 fallen die beiden Wellenzüge zusammen und ergeben zwischen A und B die vorgegebene Auslenkung A(x,0).

364

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves) ±

Nun kann durch zeichnerisches Verschieben von a​ (x​,0) um Δx​ = ±υ​ΔT​ und nachfolgendes Addieren von a​ + (x​,ΔT​ ) und a​ − (x​,ΔT​ ) die zu t = ΔT gehörende Auslenkung A(x,ΔT) zwischen den Knoten A und B gefunden werden. Es gilt Δx​ = υ​ΔT​ = υ​T​ für ΔT​ =

ΔT​ ΔT​ ΔT​ = λ​ = 2 L​ , T​ T​ T​

(I-5.297)

T​ erfolgt somit die Verschiebung Δx​ = ± L​, von A nach B bzw. von A nach 2

C. In Abb. I-5.49 ist die Auslenkung A​ (x​,

T​ T​ L​ ) für t​ = konstruiert (Δx​ = ) . 16 16 8

a T t = ___ 16

D

L Δx = __ 8 T A(x,___ ) 16 T a−(x, ___ ) 16

C

A

B L

0

x

T a+(x, ___ ) 16 −Δ x +Δ x L

−L

Abb. I-5.49: Konstruktion der Schwingungsform für t​ =

T​ 16

.

Abb. I-5.50 zeigt die augenblicklichen Schwingungsformen der gezupften Saite während einer halben Schwingungsperiode.

t=0 T 12 2T t= 12 t=

t=

4T 12 5T t= 12 T t= 2 t=

3T 12

Abb. I-5.50: Momentane Schwingungsformen der gezupften Saite während einer halben Schwingungspoeriode. (Nach L. Bergmann und Cl. Schaefer, Lehrbuch der Experimentalphysik, Band 1, 7. Auflage, deGruyter, Berlin 1965.)

Anhang 2 Frequenzauflösung im Ohr durch Transversal-Wanderwellen

365

Wird hingegen die Lösung durch Fourierzerlegung der Auslenkungsfunktion A(x,0) vorgenommen, dann ist das Resultat nicht sofort ersichtlich, man erkennt aber, dass zwischen A und B stehende Sinuswellen mit relativer Phasenverschiebung 2 L​ sowie alle harmonischen Oberschwingungen aufund der Grundfrequenz ν​0 = υ​ treten, deren relative Intensitäten von der Lage des Anzupfpunktes D zwischen A und B abhängen. Die Klangfarbe, die durch das Oberschwingungsspektrum gegeben ist, hängt daher ebenfalls von der Anzupfstelle ab. Das Gleiche gilt auch für die gestrichene Saite und die Stelle des Anstreichpunktes.

Anhang 2 Frequenzauflösung im Ohr durch TransversalWanderwellen

0,5 mm breit

0,08 mm breit

Die Zuordnung der Tonfrequenzen zu bestimmten Hörnervenfasern (FrequenzOrtszuordnung) erfolgt mittels stark gedämpfter Transversal-Wanderwellen 86 auf der Basilarmembran, angeregt durch die Druckwellen in der Perilymphe (Flüssigkeit im Innenohr) als Folge der schwingenden Steigbügelkippbewegung am ovalen Fenster (Abb. I-5.51).

Bewegung der Perilymphe

ovales Fenster

Basilarmembran Schneckenloch scala vestibuli scala tympani

0,5 mm

Steigbügel Δx

y rundes Fenster

34 x [mm]

0

8 kHz

2 kHz

500 Hz

Auslenkung, stark vergrößert Abb. I-5.51: Transversal-Wanderwellen unterschiedlicher Frequenz auf der Basilarmembran (Schneckengang abgewickelt).

86 Zum Unterschied von stehenden Wellen.

366

5 Mechanische Schwingungen und Wellen (oscillations and waves)

Auf der Basilarmembran befindet sich das Cortische Organ mit vier Längsreihen von Haarsinneszellen (insgesamt ca. 30 000 Zellen), die durch die Deckmembran nach oben abgeschirmt sind. In der inneren Zellreihe mit 3600 Transduktorzellen werden die Nervenaktionspotenziale erzeugt. Die drei äußeren Zellreihen dienen als Schalldruckverstärker: Die scharfen Maxima der Breite Δx der Wanderwellen am Ort x kommen durch einen biophysikalischen Prozess zustande, indem die kontraktilen Härchen der drei äußeren Zellreihen als Pumpen wirken, die die mechanisch erzeugte Druckamplitude um den Faktor 1000 verstärken können! Bei einer schwingenden Bewegung der Basilarmembran werden im Elongationsmaximum die Härchen der Transduktorzellen umgebogen, wodurch sich in der Zellmembran Ionenkanäle öffnen und so die Aktionspotenziale erzeugt werden. Diese werden im Gehirnnerv VIII (nervus vestibulocochlearis) über mehrere Schaltganglien zum Hörbereich im Scheitellappen des Großhirns geleitet. Die drei Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel sind von fundamentaler Wichtigkeit, da sie eine Schallbrücke (Druckwandler) von der kleinen Luftschallimpedanz des äußeren Ohres (ZLuft = ρL υL = 43 g cm−2 s−1 ) zur großen Schallimpedanz der Perilymphe (Flüssigkeit im Innenohr, ZPeri ≌ ZH2O = ρH2O υH2O = 146 000 g cm−2 s−1 ) bilden. Ohne diese Knöchelchen würden 98 % der auf das ovale Fenster auftreffenden Schallintensität reflektiert werden gegenüber nur 40 % mit der Schallbrücke. Während also die Frequenz eines Tones durch die Lage des Wanderwellenmaximums auf der Basilarmembran bestimmt ist, wird seine Stärke (Intensität) durch die mehr oder weniger rasche Abfolge (Frequenz) der stets gleich starken Nervenimpulse (Aktionspotenziale) codiert.

Literatur Für die Themen aller Bände geeignete Literatur David Halliday, Robert Resnick, Jearl Walker. 1997. „Fundamentals of Physics, Extended“. 5th edition. John Wiley & Sons, New York. Stephen W. Koch, David Halliday, Robert Resnick, Jearl Walker. 2005. „Physik“. Wiley-VCH. Michael Mansfield, Colm O’Sullivan. 1998. „Understanding Physics“. John Wiley & Sons, New York. Paul A. Tipler. 1994. „Physik“. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg. Wolfgang Demtröder. 1998. „Experimentalphysik, 1. Mechanik und Wärme“. Springer. Wolfgang Demtröder. 2008. „Experimentalphysik, 2. Elektrizität und Optik“. Springer. Wolfgang Demtröder. 2003. „Experimentalphysik, 3. Atome, Moleküle Festkörper“. Springer. Wolfgang Demtröder. 2009. „Experimentalphysik, 4. Kern-, Teilchen- und Astrophysik“. Springer. Charles Kittel, Walter D. Knight, Malvin A. Ruderman. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 1 Mechanik“. Vieweg. Edward M. Purcell. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 2. Elektrizität und Magnetismus“. Vieweg. Frank S. Crawford, Jr. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 3. Schwingungen und Wellen“. Vieweg. Eyvind H. Wichmann. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 4. Quantenphysik“. Vieweg. Frederick Reif. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 5. Statistische Physik“. Vieweg. Alan M. Portis. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 6. Physik im Experiment“. Vieweg. Christian Gerthsen, Hans Otto Kneser, Helmut Vogel. 1974. „Physik“. Springer. R. W. Pohl. 1941. „Einführung in die Mechanik, Akustik und Wärmelehre“. Springer. R. W. Pohl. 1940. „Einführung in die Elektrizitätslehre“. Springer. R. W. Pohl. 1941. „Einführung in die Optik“. Springer. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 1. Mechanik, Relativität, Wärme. De Gruyter, Berlin. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 2. Elektromagnetismus. De Gruyter, Berlin. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 3. Optik. De Gruyter, Berlin. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 4. Bestandteile der Materie. De Gruyter, Berlin. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 5. Gase, Nanosysteme Flüssigkeiten. De Gruyter, Berlin. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 6. Festkörper. De Gruyter, Berlin. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 7. Erde und Planeten. De Gruyter, Berlin. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 8. Sterne und Weltraum. De Gruyter, Berlin. Georg Joos. 1964. „Lehrbuch der Theoretischen Physik“. Akademische Verlagsgesellschaft Leipzig.

368

Literatur

Speziell für die Themen von Band I geeignete und weiterführende Literatur Wolfgang Demtröder. 1998. „Experimentalphysik, 1. Mechanik und Wärme“. Springer. Charles Kittel, Walter D. Knight, Malvin A. Ruderman. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 1. Mechanik“. Vieweg. Frank S. Crawford, Jr. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 3. Schwingungen und Wellen“. Vieweg. Alan M. Portis. Berkeley Physik Kurs (Berkeley Physics Course). „Band 6. Physik im Experiment“. Vieweg. Bergmann-Schaefer. „Lehrbuch der Experimentalphysik“. Band 1. Mechanik, Relativität, Wärme. De Gruyter, Berlin. R. W. Pohl. 1941. „Einführung in die Mechanik, Akustik und Wärmelehre“. Springer. R. C. Jennison. 1961. „Fourier Transforms and Convolutions for the Experimentalist“. Pergamon Press. Georg Joos. 1964. „Lehrbuch der Theoretischen Physik“. Akademische Verlagsgesellschaft Leipzig. Clemens Schaefer, Max Paesler. 1970. Einführung in die Theoretische Physik. Band I. De Gruyter, Berlin.

Register A abgeschlossenes System 60 Adhäsion 221 Adiabatenkoeffizienten 311 Aggregatzustand 3, 167 Aktionspotenzial 340, 366 allgemeine Bewegung 134 allgemeine Bewegung des MP 22 allgemeine Kreisbewegung 26 allgemeine, krummlinige Bewegung 25 allgemeine Relativitätstheorie 35, 48, 92 allgemeine Wellengleichung für ebene skalare Wellenfunktion 307 allgemeine Wellengleichung für ebene vektorielle Wellenfunktion 307 allgemeiner Dopplereffekt 351 allgemeines Hookesches Gesetz 188 Amboss (Ohr) 366 Amplitude 251 Andreas Werckmeister 330 anisotrop 170 aperiodischer Grenzfall 279 aperiodischer Kriechfall 277 Arbeit 39 Arbeitsrate 45 Archimedisches Prinzip 202 asymmetrischer Kreisel 148 α-Teilchen 114 Atompotenzial 170 auditiver Cortex 340 Auftrieb 201–202 Augenblicksleistung 46 äußere Kräfte 60 Azimutwinkel 120 B Bahndrehimpuls 36 Bahndrehimpuls eines Teilchens auf einer geraden Bahn 38 Bahnkurve 20 Bahnlinie 192 ballistisches Pendel 110 barometrische Höhenformel 204 Basilarmembran 339, 365 Beharrungsvermögen 34 beidseitig eingespannte Saite 363 Békésy, Georg von 339 Bel 341

Bell, Alexander Graham 341 Benetzung 224 Bernoulli, Daniel 207 Bernoulli, Jakob 176 Bernoulli-Gleichung 205, 207 Beschleunigung 21 Bewegungsamplitude 331 Bewegungsänderung 32 Bewegungsgleichung 32, 243 Bewegungsgleichungen des starren Körpers 136 Bewegungsgröße 31, 40 Bezugspunkt 129 Bezugssystem 32, 47 Biegung eines Balkens 176 Bindungsart 170 Blutkreislauf 219 Bose-Einstein-Statistik 4 Boson 4 Brennstrahl 38 Bruch 175 C Cavendish Experiment 71, 89 Cavendish, Henry 71, 88 charakteristische Gleichung 246 chromatische Tonleiter 329 Cochleärer Verstärker (Ohr) 339 Coriolis, Gaspard Gustave de 54 Coriolisbeschleunigung 155 Corioliskraft 54 Coriolismoment 163 Cortisches Organ 339, 366 Coulombfeld 114 Coulombkraft 114 Coulombstreuung 114 Coulomb-WW 114 Curie, Paul-Jacques 344 Curie, Pierre 344 D d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 54, 307 d’Alembertsche Lösung 307, 309 Dämpfungskonstante 273 de Brahe, Tycho 73 Deformation 127 Deformationstensor 186 Deformations-Tensorellipsoid 187

370

Register

Deformationszustand 186 deterministisches Chaos 200 Deviationsmoment 138, 141 Dezibel 341 Dichteschwankung 312 Dicke, Robert Henry 34, 92 differentieller Wirkungsquerschnitt 119, 121– 122 Direktionsmoment 85, 181 diskrete Folge von Frequenzen 322 Dispersion 298 Dispersionsrelation 296 Dissipation 42 dissipativ 272 Dissonanz 326 Dissoziationsenergie 184 Doppler, Christian 346 Dopplereffekt 346 Dopplerverbreiterung von Spektrallinien 352 Drahtbügelmethode 223 Drehimpuls 118, 129, 137, 141 Drehimpulssatz 62 Drehmoment 36–37, 128–129, 163 Drehmoment eines Kräftepaares 130 Drehschwingung 182 Drehzwilling 130 Druckamplitude 332 Dynamik 29 E ebene Welle 295 ebener Winkel 6 effektives Potenzial 75 Eigenfrequenz 244 Eigenfunktion 325 Eigenwert 325 Eigenwertgleichung 265 Einfachstreuung 124 Einkristall 174 Einschwingvorgang 284 Einstein, Albert 35 Einsteinsches Äquivalenzprinzip 35 elastisch 172 elastische Konstanten 182, 188 elastische Moduln 182, 188 elastischer Stoß 96 Elastizitätsmodul 172–173, 315 Elastizitätstensor 185, 187–188 Elastostatik 236 elektromagnetische WW 4, 31

Elektron 3 elliptisch polarisiert 308 Energie 39 Energiedichte 318 Energieellipsoid 140, 143, 145 Energieflussdichte 319 Energierelaxationszeit 282 Energiesatz 46 Energiesatz der Mechanik 46, 65 enharmonische Verwechslung 330 Eötvös, Loránd 34, 92 Erdbeschleunigung 81 Erde als Kreisel 154 Erdmasse 93 Ergiebigkeit 195 Erhaltungssätze 60 erzwungene Schwingung 283 Euler, Leonhard 156, 199 Eulergleichung 195, 198, 310 Eulersche Formel 247 Eulersche Kreiselgleichungen 155–156 Eulerscher Winkel 135, 156 Expansionsdruck 168 exzentrischer Stoß 105 Exzentrizität (Ellipse) 78 F falsifizieren 2 Fechner, Gustav Theodor 340 Federkonstante 243 Fehlerfortpflanzungsgesetz 12 Feldstärke 30 Fermion 4 Fermi-Statistik 4 Fernwirkung 30 feste Achse 140 fester Zustand 169 Figurenachse 146 Flächengeschwindigkeit 38 Flächensatz 37, 80 Fluchtgeschwindigkeit 79 Fluide 189 Fluss 192 flüssig 169 Flüssigkeitslamelle 228 Flüssigkeitstropfen 228 Flüssigkeitswirbel 213 Folge von Frequenzen, diskrete 322 Foucault, Léon 60, 165 Foucaultsches Pendel 60

Register Fourier, Joseph 262 Fourieranalyse 266 Fourierintegral 269, 302 Fourierkoeffizient 263, 265 Fourierreihe 263 Fourierreihenzerlegung 263, 265 Fouriersches Integraltheorem 269 Fouriersches Theorem 262 Fourierspektrum 265 Fouriertransformierte 269, 302 freie Achse 84, 146 freie Drehung 139 freier Fall 25 freier, gedämpfter Oszillator 272 freier, ungedämpfter harmonische Oszillator 242 freier Vektor 129, 130–131 Freiheitsgrade 135 Frequenzselektivität des Gehörs 339 fundamentale Kraft 4 fundamentale Wechselwirkung 4, 30 Fundamentalschwingungen 291 Funktional 270 G Galilei, Galileo 1 Galilei-Transformation 47 Gangpolkegel 149 gasförmig 168 Gauß, Carl-Friedrich 8 Gaußsche (= komplexe) Zahlenebene 249 Gaußverteilung 11 gedackte Pfeifen 321 gegenphasig 293 Gehörknöchelchen 339 Geiger, Johannes Wilhelm 114 gekoppelte Oszillatoren 289 geordnete Geschwindigkeit (Fluide) 191 gequantelt 322 geradlinig beschleunigtes Bezugssystem 50 Geräusch 326 Gesamtdrehimpuls 62 Gesamtdruck 207 Gesamtenergie 63 Gesamtenergie des starren Körpers 140 Geschwindigkeit 21 Geschwindigkeitsamplitude 331 Geschwindigkeitsfeld 191 Geschwindigkeitspotenzial 210, 335 Gesetz von Pythagoras 326

gezupfte Saite 363 gleichförmig beschleunigte Bewegung 25 gleichförmige Kreisbewegung 28 gleichphasig 292 gleichschwebende Stimmung 330 gleichsinniger Parallelismus 162 Gluon 4 Gravitation 4, 31, 70 Gravitationsgesetz 71 Gravitationskonstante 71, 88, 93 Gravitationspotenzial 74 Graviton 4 Grenzflächenenergie, spezifische 230 Grenzflächenspannung 221, 224 Grundfrequenz 263 Grundgleichung der Elastokinetik 237 Grundgleichung der Elastostatik 237 Grundton 322 Gruppengeschwindigkeit 298, 299, 301 Gyrobus 161 H Hagen, Gotthilf Heinrich Ludwig 219 Hagen-Poiseuillesches Gesetz 219 Hammer (Ohr) 366 harmonisch 275 harmonische Kraft 242 Hauptachse 139 Hauptachsensystem 140 Hauptachsentransformation 139 Hauptdilatation 187 Hauptspannung 186 Hauptträgheitsachse 139 Hauptträgheitsmoment 139 Heißluftballon 205 Helmholtzsche Wirbelsätze 217 Hertz, Heinrich 325 Hilbertraum 265 Hooke, Robert 173 Hookescher Bereich 242 Hookesches Gesetz 172–173, 314 Hörschall 325 Hörschwelle 340 Huygens, Christiaan 83 hydrodynamisches Paradoxon 208 hydrostatischer Druck 201 Hyperschall 326, 344 I ideale Flüssigkeit 193 ideale Gase 200

371

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Register

Impuls 31, 40 Impulssatz 61 inelastischer Stoß 96, 109 Inertialsystem 32, 47 Infraschall 326, 344 innere Kräfte 60 innere Reibung 221 Intensität 309, 319 Intensität einer ebenen Welle 319 invariante Ebene 146 Ionenbindung 170 isotrop 170 Isotropie des Raumes 142 J Joule, James Prescott 41 K Kammerton 327, 330 Kapillardepression 230 Kapillarität 228 kartesische Koordinaten (cartesian coordinates) 20 Kepler, Johannes 37 Keplerproblem 73, 115 Keplersche Gesetze 37 1. Keplersches Gesetz 37, 78 2. Keplersches Gesetz 37, 80 3. Keplersches Gesetz 38, 81 Kinematik 19, 133 kinetische Energie 41 Klang 326 Klangfarbe 284, 365 Knall 326 Kohäsion 221 komplexe Konstante 246 komplexe Zahlenebene 249 komplexer Koeffizient 246 Kompressibilität 179 Kompressionsmodul 179, 314 Kondensation 169 konservatives Kraftfeld 41 Konsonanz 326 kontinuierliches Spektrum 322 Kontinuitätsgleichung 193, 195, 310 konvektive Änderung 196 Koordinaten 20 Kopfwellen 353 Kopplungskonstante 31, 290 körperfestes Bezugssystem 155

körperfestes Koordinatensystem 139 Korrespondenzprinzip 2 Kosinustransformierte 269 kovalente Bindung 170 Kraft 30 Kraftdichte 236 kräftefreier, symmetrischer Kreisel 148 Kräftepaar 130 Kraftfeld 30 Kraftstoß 39, 110 Kreisel 148 Kreiselbewegung 148 Kreiselkompass 163 Kreisfrequenz 243, 272 Kreispendel, mathematisches ebenes 82 Kreiswellenzahl 272 kritische Dämpfung 278 kritische Reynoldszahl 221 kritisches Experiment 2 Krümmung 25 Krümmungsdruck 227 Kugelkoordinaten 20 Kugelwellen 308 Kundtsche Röhre 317 L Laborsystem 97 Lamésche Elastizitätskonstante 188 laminare Strömung 217 Laplace-Gleichung 210 Lautheit 343 Lautstärke 341 Lautstärkeempfindung 343 Leistung 45, 309 Lenard, Philipp Eduard Anton 223 Lennard-Jones, John Edward 183 Lennard-Jones Potenzial 183 Lepton 3 linear polarisiert 308 Linienflüchtigkeit 136 Lissajous, Jules Antoine 261 Lissajous-Figur 261 logarithmische Spirale 274 logarithmisches Dekrement 276 lokale Änderung 196 longitudinale Welle 307 Lunisolarpräzession 154 M Mach, Ernst 355 Mach-Kegel 355

Register Mach-Winkel 355 Machzahl 355 Marsden, Sir Ernest 114 Massendichte 191 Massenerhaltung 194 Massenmittelpunkt 60, 103, 132 Massenpunkt 127 Massenpunkt (MP) 19 Massenpunktsystem 60 Massenverteilung 127 mathematisches ebenes Kreispendel 82 mathematisches Pendel 81 Maxwellsches Rad 33 Meniskus 230 menschliche Hörfläche 343 Meridiankurve 229 Messfehler 7 Messgenauigkeit 7 metallische Bindung 170 Mikrometer 12 Mikrometerschraube 12 Mikrophon 335 Minimalfläche 228 Minkowskidiagramm 49 Mittelohr 339 Mittelwert 8 mittlere Energiedichte einer ebenen Welle 319 mittlerer Fehler 9–10 Myon 3 N Nahwirkung 30 Nanomaterialien 172 Navier-Stokes-Gleichung 199, 218–219 negative Beschleunigung 33 neutrale Faser 177 Neutrino 3 Newton, Isaac 31 Newtonsche Axiome 31 Newtonsches Reibungsgesetz 43 Nichtbenetzung 224 nichtkonservatives Kraftfeld 41 nichtlineare Dynamik 200, 220 nichtlineare Systeme 200 nichtstationäre Strömung 192 nichtzentraler Dopplereffekt 351 Normalatmosphäre 205 Normalbeschleunigung 23 Normaldruck 226 Normalkoordinaten 291

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Normalschwingungen 291, 294 Normalspannung 173, 186 Normalverteilung 11 Nutation 149, 154

O Oberflächenenergie, spezifische 221, 225 Oberflächenspannung 221, 226 Oberflächenspannung = spezifische Grenzflächenenergie 230 Oberschwingungen 263 Oberton 322 Ohr 338 Oppenheimer-Phillips-Prozess 96 Ortsvektor 20 Oszillator 241 Oszillatorgüte = Kreisgüte = Gütefaktor 283

P Parameter der Ellipsenbahn 78 Partialwellen 298 Pascal, Blaise 193 Pendel 81 Phase 252 Phasenfläche 304 Phasengeschwindigkeit 296, 305 Phasengeschwindigkeit der Transversalwelle einer schwingenden Saite 316 Phasengeschwindigkeit für Longitudinalwellen = Verdichtungswellen in Festkörpern 315 Phasengeschwindigkeit für Transversalwellen = Scherwellen in Festkörpern 316 Phasenumwandlung 169 Phasenwinkel = Phasenkonstante 250, 252 Phon 341 Photon 4 physikalisches Pendel 83, 84 piezoelektrischer Wandler 334 Planetenbewegung 70 plastische Verformung 174 Poinsot, Louis 146 Poisson, Siméon Denis 175 Poisson-Gleichung 213 Poissonsche Zahl 175 Polardarstellung 247 Polarisationsebene 308 Polykristall 174 polytrope Zustandsgleichung 200

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Register

Popper, Karl 2 Positron 3 Potenzial 45 Potenzialstreuung 114 Potenzialströmung 210 potenzielle Energie 44 präzedieren 151 Präzession 152, 154 Präzessionsfrequenz 153 Präzessionsimpuls 153 Produktansatz 323 Pythagoras 326 pythagoreisches Komma 329 Q Quantelung 322 Quantisierung 322 Quarks 3–4 quasiharmonisch 275 Quelldichte 212 Quelle 195 Quellergiebigkeit 195 Quellstärke 195 R Radarwellen 352 Radialströmung 211 Randbedingung der Saite 321 Randwertproblem 324 Rastpolkegel 149 raumfestes Koordinatensystem 138, 155 Raumwinkel 7, 119 Rayleigh, Lord John William Strutt 334 Rayleighsche Scheibe 334 reaktiver Stoß 96 reduzierte Masse 99 reduzierte Pendellänge 85 reelle Amplitude der erzwungenen Schwingung 285 Reibungswärme 289 relative Dehnung 173 Relativvektor 104 Resonanz 286 Resonanzfrequenz 287 Resonanzkatastrophe 287 Resonanzkurve 287 Resonanzüberhöhung 287 reversible Wandler 335 Reversionspendel 86–87 Reynoldssche Zahl 220

reziproker Raum 271 Reziprozität 270 Richtmoment 181 Richtungshören 340 Rotation 128 Rotation um den Schwerpunkt 134, 136 Rotationsenergie 139, 141 rotierendes Bezugssystem 52 Rotverschiebung 353 rücktreibende Kraft 242 Rutherford, Sir Ernest 114 Rutherfordsche Streuformel 119, 124–125 S Schalldichte 332 Schalldruck 330, 332 Schalldruckempfänger 334 Schalldruckpegel 342 Schallgeschwindigkeit in dünnen Stäben 315 Schallgeschwindigkeit in Flüssigkeiten 314 Schallgeschwindigkeit in Gasen 312 Schallgeschwindigkeit in Luft 346 Schallgleichdruck 332 Schallimpedanz 333, 338, 366 Schallintensität = Schallstärke 332 Schall-Kugelwelle 335 Schallschnelle 331 Schallstrahlung 294 Schallwechseldruck 332 Schallwellenwiderstand 332 Scheinkraft 48 Schermodul 180, 189, 316 Scherung 179 schiefer Wurf 25 Schmerzgrenze (Ohr) 341 Schnecke (Ohr) 339 Schublehre 12 Schubmodul 180, 189 Schubspannung 179, 186 schwache Dämpfung 273 schwache WW 4, 31 Schwebung 257, 292, 300 Schwebungsfrequenz 258 schwere Masse 34 schwerer Kreisel 151 Schwerpunkt 60, 62, 103, 132, 134 Schwerpunktsystem 103 schwingende Saite 321 Schwingquarz 344 Schwingungsbauch 320

Register Schwingungsdauer 251 Schwingungsebene 308 Schwingungsgleichung des ungedämpften, harmonischen Oszillators 243, 244 Schwingungsknoten 320 Schwingungsperiode 244 Seifenblase 227 senkrechter Wurf 46 Separation der Variablen 323 SI-Basiseinheit 5, 17 SI-Einheit 5 Sinustransformierte 269 Sone 343 Sonnenmasse 93 Sonographie 346 Spannungs-Dehnungsdiagramm 174 Spannungstensor 186 Spannungszustand 185 Spektralfunktion 269 spezifische Grenzflächenenergie 221 spezifische Oberflächenenergie 221, 225 Spreitung 224 Standardabweichung 9 Standardabweichung des Mittelwertes 10 starke Dämpfung 276 starke WW 4, 31 starrer Körper 127 stationäre Strömung 192 stationärer Schwingungsvorgang 284 statischer Druck 207 statisches Gleichgewicht 129 statistischer Fehler 8 Staudruck 207 Staupunkt 207 stehende Welle 320 Steigbügel (Ohr) 366 Steighöhe 230 Steinerscher Satz 142 Stimme 338 stimmhafte, stimmlose Konsonanten 338 Stokes, Sir George Gabriel 220 Stokessches Widerstandsgesetz 220, 272 Stoß gegen eine feste Wand 102 Stoßfront 354 Stoßparameter 105, 114, 119 Stoßpendel 110 Stoßprozess 95 Strahlung 294 Streuung 95 Streuwinkel 99, 119

stripping reaction 96 Stromdichte 194 Stromfaden 192 Stromlinien 192, 206 Strömung 191 subjektive Lautstärke 341 substanzielle Beschleunigung 196 Superpositionsprinzip 254, 321 symmetrischer Kreisel 148 syntonisches Komma 329 systematischer Messfehler 8

T Tangentialbeschleunigung 22 Tangentialkraft 54 Tauon 3 Taylorentwicklung 12 Teilcheneinfang 109 Teilchenzerfall 113 Thomsonscher Satz 216 Ton 326 Tonleiter 327 Torsion 179 Torsion eines Stabes 180 Torsionsmodul 180 Torsionsschwingung 182 totale Änderung der Strömungsgeschwindigkeit 196 totaler Wirkungsquerschnitt 121 träge Masse 34 Trägheitsellipsoid 143 Trägheitskräfte 47 Trägheitsmoment 137–138, 142 Trägheitssatz 32 Trägheitstensor 138, 146 Transformation des Streuwinkels 108 Transformationspaare (Fouriertransformation) 271 Translation 128 Translation des Schwerpunkts 134, 136 Transversalkraft 54 Transversalwelle 307 Trommelfell 339 Turbulenz 220

U Überschallgeschwindigkeit 355 Überschallknall 355 Ultraschall 326, 344

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Register

unbeschleunigte Bewegung 25 ungedämpfte harmonische Schwingung 242 V van der Waals Bindung 170 Varianz 10 Verdampfung 169 Verdichtungswellen in Festkörpern 315 Verfestigung 175 Verflüssigung 169 Vergröberung 224 Verschiebung 187, 237 Versetzung 174 Vertrauensbereich 11 Verzerrungstensor 186 Viskosität 199, 218 W wahrer Wert 9 Wanderwelle 339, 365 Wasserstoffbrückenbindung 170 Wasserstrahlpumpe 209 Weber-Fechnersches Gesetz 341 Wechselwirkung 30 Wechselwirkungspotenzial 95 Weg-Zeit-Diagramm 251 Welle 294 Wellenfläche 304 Wellenfunktion 295 Wellenfunktion einer ebene Welle 305 Wellenfunktion einer Kugelwelle 309 Wellenpaket = Wellengruppe 298 Wellenvektor 304 Wellenzahl 297, 304 Wheatstonesches Kaleidophon 261 Winkelgeschwindigkeit 26, 128, 163 Wirbelbewegung 213 Wirbelfaden 216

wirbelfrei (konservatives Kraftfeld) 43 Wirbelgleichung 215 Wirbelkern 213 Wirbellinien 216 Wirbelröhre 213, 216 Wirbelstärke 214, 216 Wirbelströmung 213 Wirbelvektor 214 Y Young, Thomas 173, 224 Youngsche Gleichung 224 Z zähe Fluide 199 zähe Flüssigkeit 217 Zähigkeit 199, 218 Zeiger (Darstellung von Schwingungen) 249 Zeigerdiagramm 249 zentraler Dopplereffekt 346 zentraler kollinearer Stoß 101 zentraler Stoß 105 Zentralkraft 37, 74 Zentralkraftfeld 37 Zentrifugalkraft 54 Zentrifugalmoment 138, 166 Zentrifugalpotenzial 75 Zentripetalbeschleunigung 28, 155 Zentripetalkraft 55 zirkular polarisiert 308 Zirkulation 214 Zirkulationsbewegung 213 Zugfestigkeit 175 Zugversuch 172 Zustandsgleichung 200 Zustandsgleichung idealer Gase 203 Zweikörperproblem 73 Zylinderkoordinate 20