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German Pages 384 Year 1972
R. Marten - Existieren, Wahrsein und Verstehen
w DE
G
Rainer Marten
Existieren, Wahrsein und Verstehen Untersuchungen zur ontologischen Basis sprachlicher Verständigung
1972
Walter de Gruyter • Berlin • New York
ISBN 3 11 003583 9 (c) 1971 by Walter de Gruyter & Co, Berlin Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form — durch Fotokopie, Mikrofilm oder irgendein anderes Verfahren — reproduziert oder übersetzt werden. Satz und Druck: Feese & Schulz, Berlin Printed in Germany
F ü r seine Hinweise danke ich U t z Maas, Berlin, f ü r freundliche Mithilfe bei der Durchsicht der
Arbeit
Brigitte u n d K u r t W e i ß h a u p t , Zürich, H a n s Ebeling, Michael L i p p m a n n u n d Matthias Schirn, Freiburg i. Br., u n d Willem van Reijen, Heidelberg.
R. M.
Inhalt I.
Theorie
des
Existenzials
A.
D a s Existenzial im Verständnis der O n t o l o g i e k r i t i k
i
B.
Die provozierte Ontologie
3
C.
D a s vollständige Exixstenzial
6
1. Das Existenzial als konstitutiver Teil einer Sprachhandlung 2. Gibt das Existenzial ein >nacktes Daß< zu verstehen? 3. Ist das Existenzial seiner Vollständigkeit wegen lokativisch z u ergänzen? 4. Stellt das Existenzial eine Klassiiikation dar? Ist das Existenzial seiner Vollständigkeit wegen durch einen Gegenstandsbereich zu ergänzen? . 5. L ä ß t sich das Existenzial quantifikativ ergänzen? 6. D a s vollständige allgemeine Existenzial 7. D a s vollständige Existenzial und der Existenzialquantor 8. Das individuelle Existenzial 9. D a s negative vollständige Existenzial 10. Das vollständige Existenzial und >existiert< als fraglidies Prädikat . . 11. Semantischer und ontologischer Aspekt des vollständigen Existenzials D.
28 32 34 41 45 48 52 $6
D a s E x i s t e n z i a l als Basis sprachlicher V e r s t ä n d i g u n g 1. 2. 3. 4. j. 6. 7. 8.
II.
7 19 23
Existenztatsache und Handlungsschema des Verstehens Existenzial und Prädikation Prädikation und Wahrheitsanspruch Existenzial und Identität Existenzial und performative Äußerung Existenzial und Werturteil/Forderungssatz Existenzial und Zukunftsaussagen Zur Gemeinsamkeit der existenzialen Basis bei sprachlicher Interaktivität
Bewährung
der Theorie
des Existenzials
aus der philosophischen
an relevanten
78 86 99 137 162 166 170 172
Beispielen
Überlieferung
A.
»Es g i b t I d e e n . . . « ( P i a t o n )
182
B.
»Gott e x i s t i e r t . . . « (Anselm)
185
C.
»Ich b i n , ich e x i s t i e r e . . . «
202
1. Descartes 2. Fichte D.
»Der Mensch allein e x i s t i e r t . . . « (Heidegger) 1. Der Engel ist 2. Der Engel existiert nicht 3. Der Mensdi allein existiert
204 207 211 221 225
Inhalt
VIII
4. Der Mensch existiert in . . . / a l s . . . / w e n n 5. Universalität des Seinsverstehens und Jemeinigkeit des Daseins 6. Ob der Mensch seinsverstehend existiert
III.
Theorie
des
. . . .
*38 244 250
Veridikals
A.
Tarskis Deutung der wahren Aussage
252
B.
Ich lüge
265
C.
Wahrheitswert und Verständigungswert (Wahrheitsanspruch
und
Wahrheitsentscheidung
der
vollständigen
Sprachhandlung)
276
D.
»Das ist w a h r « — performativ oder konstatierend?
286
E.
D a s vollständige Veridikal 1. Veridikation und Verifikation 2. Das Wahre als solches 3. Beispiel eines vollständigen Veridikals
F.
299 301 304
Z u r T y p o l o g i e des Veridikals: V o n der Verschiedenartigkeit des kritischen Einverständnisses 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
G.
Ist ein Handlungsschema des Verstehens wahrheitskritischer als das andere? Ist Dialektik ein mögliches Handlungsschema des Verstehens? . . . . Differenziertheit des Verstehens und Selbstbestimmung Katalog verschiedenartiger Veridikale Veridikal und Existential Unbestrittene Handlungsschemata des Verstehens Das Denken als Handlungsschema des Verstehens >Erstlidi< Existierendes als erstlich Zuverstehendes?
Z u m Problem einer xoivr) 6ÎQT|VTI des Verstehens
Verzeichnis der zitierten Literatur
321 326 329 331 334 335 339 346 351 36$
I. Theorie des Existenzials
A. Das Existenzial im Verständnis der Ontologiekritik >... und es gibt keine letzten philosophischen Probleme, die Existenz betreffen, außer insoweit, als Existenz durch den Quantor »(Ex)« ausgedrückt wird.< Die historische Quelle dieses von QUINE1 gegen herkömmliche Arten der Ontologie ausgesprochenen Verdikts ist in neuerer Zeit bei FREGE zu suchen. In der Abhandlung Über Begriff und Gegenstand von 1892 bemerkt FREGE2: >Der Satz »es gibt Julius Cäsar« ist weder wahr noch falsch, sondern sinnlos, wiewohl der Satz »es gibt einen Mann mit Namen Julius Cäsar« einen Sinn hatreale Existenz< des Wesens eingeschlossen sei. (Es ist interessant zu bemerken, wie sehr KANT sich in seiner Argumentation — aus freien Stücken — übernimmt, so daß er zum Nachweis der möglichen Nichtexistenz von Julius Cäsar auf das >höchste Wesen< zurückgreifen muß. Der etwa durch überschreitet im Jahre 49 v. Chr. den Rubikon< raum-zeitlich bestimmte Julier existiert nicht notwendig und dies auch dann nicht, wenn es ein Wesen gibt, das ihn in dieser seiner Bestimmtheit >erkenntRathschlußblos möglich Ding< bleibt.) In der Wiederaufnahme dieser Kritik geht es nun nicht mehr besonders um die Desavouierung eines notwendig Existierenden, sondern allgemein um die Frage, ob eine Kombination wie >Julius Cäsar existiert< überhaupt sinnvoll sei. Verstehe man nämlich grammatisch unter ihr eine Aussage, in welcher einem 1
2 s 4
1
1950, 224. Zur Möglichkeit, den Begriff der Existenz von der Qualifikation im Horizont Q u i N E s d i e r Überlegungen zu trennen, s. LEJEWSKI 195 J. S.75. 1748, 191. 1763, 72Marten, Existieren
2
Theorie des Existenzials
Subjekt das Prädikat >existiert< zugesprochen wird, dann erkenne man, logisch gesehen, einem Individuum die Eigenschaft >Existenz< zu. FREGE unterstellt dabei bedenkenlos (wie es anläßlich der Ontologiekritik noch heute üblich ist), daß >Aussagen< dieser Art umgangssprachlich gebräuchlich seien, und daß insofern der ontologische Mißbrauch mit >existiert< schon umgangssprachlich vorgezeichnet sei. >Es gibt Julius Cäsar< ist ein sinnloser Satz, insofern >Julius Cäsar< ein Eigenname ist, der als solcher ein Individuum (sc. ein partikuläres) bezeichnet. >Es gibt einen Mann mit Namen Julius Cäsar< ist ein sinnvoller Satz, insofern >Mann< ein allgemeiner Name ist, der als solcher einen Begriff bezeichnet. Existenz ist somit nach FREGE keine Eigensdiaft von Individuen (Gegenständen), wohl aber eine solche von Begriffen 5 . >Ein Mann< - , der unbestimmte Artikel garantiert hier, daß das Existieren nicht unmittelbar Individuellem zugesprochen wird. >Ein M a n n . . . existiert^ d. h. >Männer existieren.. .Mann< exemplarisch belegt, d. h. die Klasse >Mann< ist keine Nullklasse, sondern eine erfüllte Klasse bzw. eine nichtleere Menge. >Männer existieren . . . < , - um diesen Plural zu rechtfertigen, genügt Julius Cäsar. Dieser ist dann kein Beispiel für einzeln existierende Männer (wie MOORE in seiner Kritik an RUSSELL meint6), sondern für >Mann< als existierenden Begriff 7 . >Löwen existieren(E x) (x ist Löwe)einige x sind Löwen»x ist Löwe« ist möglich bzw. ist manchmal wahrexistiert< als Prädikat einer Satzfunktion nach und entdeckt so - nach seiner Ansicht - die wahre, d. i. die logische >Bedeutung< von s. schon KANT ib.: >Es ist das D a s e i n . . . nicht sowohl ein Prädicat von dem Dinge selbst, als vielmehr von dem Gedanken, den man davon hat.< » 1936, 88 ff. 7 Nach SCHEFFLER/CHOMSKY dagegen wird mit (E x) (x ist ein Tisch) weder die Existenz eines Tisches noch korrekterweise die der Klasse der Tische oder die des Attributs der Tischheit in Ansatz gebracht (1958, 74). Eine Klasse anzunehmen heißt nicht anzunehmen, daß sie existiert, sondern zu unterstellen, daß sie nicht leer ist. Wir werden jedodi zeigen, wie die hierbei in Anschlag gebrachte, formal brauchbare Unterscheidung von intensional und extensional die Klärung des kritischen Gebrauchs von >existiert< blockiert. Die Unterscheidung von Annahme einer Klasse und Existenz einer Klasse ergibt sich, nicht anders als die von Existenz und Entität, nur auf Grund eines untauglichen Problemansatzes als sinnvoll und zwingend. 8 s. vor allem 1918, 228 ff. 5
Die provozierte Ontologie
3
Existenz. M O O R E 8 unterstellt in seiner Kritik an R U S S E L L fälschlicherweise eine Austauschbarkeit von >existiert< und >ist möglich< bzw. von >existiert< und >ist manchmal wahr< in sonst gleichlautenden Sätzen. Doch der Satz (ein vorgebliches Existenzial wie >Löwen existierenexistiert< und mit >ist möglich< bzw. >ist manchmal wahr< sollen, richtig verstanden, nicht dieselben Sätze (sentences), die eben bis auf das ausgetauschte Wort dieselben wären (dieselben Wörter in derselben Reihenfolge), wohl aber dieselben Urteile (propositions) gebildet werden. Gemäß RUSSELLS Theory of description ist ein Satz wie >Menschen existieren< umzuformen in: >»x ist ein Mensch« ist möglich/manchmal wahrEs gibt einen Menschen namens Julius Cäsar< ist besser umzuformen, und zwar in: >»x ist ein Mensch, und x ist äquivalent mit der Entität c« ist möglich — in bezug auf cexistiert< nicht mehr in Erscheinung. M O O R E erkennt nicht, wie die logische >Bedeutung< eines Wortes als syntaktisch bedingter Einheit nicht nach dem üblichen Verständnis des Bedeutunghabens von Wörtern aufzufassen ist10. Soll z.B. das problematische >Vertreten< das Bedeutunghaben erklären, dann macht es einen Unterschied, ob ein Satz einen sg. Sachverhalt oder ob ein Wort einen sg. Gegenstand vertritt. Q U I N E präzisiert später RUSSELLS Auffassung von Existenz, wenn er feststellt, >zu sein< heiße nichts anderes als >Wert einer Variablen zu seinJulius Cäsar existiert^ d. h. bestenfalls: >Ein Mann namens Julius Cäsar existiertLöwen existierenEinige Lebewesen sind LöwenExistenzaussagen