Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht: Eine Untersuchung über den Einfluß europäischer Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV auf das deutsche Strafrecht [Reprint 2017 ed.] 9783110898187, 9783110172102

Ziel der Arbeit ist es, sowohl die rechtstheoretisch bereits erörterten wie auch die in der Praxis bekannt gewordenen Pr

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German Pages 525 [528] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
Einleitung
1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht
2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht
3. Hauptteil: Die Ausdeutung belastender Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht
4. Hauptteil: Die begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht
5. Haupttitel: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht: Eine Untersuchung über den Einfluß europäischer Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV auf das deutsche Strafrecht [Reprint 2017 ed.]
 9783110898187, 9783110172102

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Christian Schröder Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht

Christian Schröder

Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht Eine Untersuchung über den Einfluß europäischer Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV auf das deutsche Strafrecht

w DE

_G 2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Privatdozent Dr. iur. Christian Schröder, Richter am Landgericht Berlin

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

Die Deutsche

Bibliothek

-

CIP-Einheitsaufnahme

Schröder, Christian: Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht: eine Untersuchung über den Einfluß europäischer Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV auf das deutsche Strafrecht / Christian Schröder. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 Zugl.: Osnabrück, Univ., Habil.-Schr., 2000/2001 ISBN 3-11-017210-0

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz, 06773 Gräfenhainichen

für Eva

Vorwort Die Arbeit, die der Fachbereich Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück im Wintersemester 2000/2001 als Habilitationsschrift angenommen hat, untersucht den Einfluß europäischer Richtlinien auf das deutsche Kriminalstrafrecht. Sie differenziert unter strikter Beachtung und ausführlicher Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zwischen der sogenannten „unmittelbaren Wirkung von Richtlinien" und der richtlinienkonformen Auslegung. Die Analyse der fallorientierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs trägt dabei eine gewisse, dem Strafrechtler anfangs befremdlich anmutende Kasuistik in den Gedankengang. Dieses in den übrigen EG-Ländern durchaus übliche Vorgehen ist geboten, weil die dem „case-law" ähnelnde Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als europarechtliche Vorgabe begriffen und sodann in den strafrechtlichen Zusammenhang gestellt werden muß. Dabei werden auch grundlegende Vorfragen angesprochen, um den Richtlinieneinfluß überhaupt klären zu können. Zum Beispiel geht es um die Geltung, die unmittelbare Anwendbarkeit und um den Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien unterscheidet die Arbeit zwischen belastenden und begünstigenden Folgen. Dabei stellt sich heraus, daß sich unmittelbar wirkende Richtlinien entgegen der Auffassung der herrschenden Meinung im Strafrecht belastend auswirken können. Bei der begünstigenden Wirkung geht die Untersuchung der Frage nach, ob dieser Effekt als „milderes" Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB anzusehen ist, was verneint wird. Zur richtlinienkonformen Auslegung zeigt die Arbeit zunächst auf, daß die der Auslegung im Strafrecht durch Art. 103 Abs. 2 G G gezogenen Grenzen uneingeschränkt gelten. Praktisch wird diese Methode im Strafrecht vor allem dann, wenn ζ. B. im Nebenstrafrecht sogenannte Blankettstrafgesetze Normen in Bezug nehmen, die auf einer Richtlinienumsetzung beruhen. Anhand von Beispielen erweist sich ein „blinder Gehorsam" gegenüber Richtlinienvorgaben als nicht sinnvoll, da der Anwendungsbereich einer Strafnorm teilweise bedenklich ausgedehnt würde. Dieser Teil der Arbeit mündet in einen rechtstheoretisch abgesicherten Vorschlag zur Methodik einer richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts. Die Arbeit geht nicht auf einen klassischen akademischen Werdegang zurück. Erst nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Staatsanwalt, Richter und in der Mini-

VIII

Vorwort

sterialverwaltung habe ich das Projekt an der Universität Osnabrück begonnen, das fortan von allen Professoren der dortigen juristischen Fakultät wohlwollend begleitet wurde. In der Anfangsphase gaben mir vor allem Prof. Dr. Joachim Schulz und Prof. Dr. Albrecht Weber wertvolle Anregungen. Herrn Prof. Dr. Hero Schall habe ich für seine mir stets zugewandte Art und die Erstattung des Zweitgutachtens sowie Herrn Prof. Dr. Hans Werner Rengeling für das europarechtliche Drittgutachten zu danken. Mein besonderer Dank gilt einem Mann, den ich als meinen Lehrer bezeichnen möchte: Herrn Prof. Dr. Hans Achenbach. Ohne seine Bereitschaft, mich auf diesem Weg zu begleiten, wäre es zu dieser Arbeit nicht gekommen. Seine mit persönlicher Fürsorge gepaarte Hilfestellung und auch seine Kritik boten mir stets Orientierung bei der Umsetzung meines Vorhabens. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken. Alle früheren und heutigen Mitarbeiter seines Lehrstuhls haben mich vor allem bei der Organisation meiner Lehrtätigkeit tatkräftig unterstützt. Den Herren Marcus Abrecht, Dr. Marco Bartsch, Dr. Andreas Heckler und Dr. Carsten Wegner danke ich herzlich. Herrn Dr. Peter Szczekalla vom Institut für Europarecht an der Universität Osnabrück danke ich für seine stete Bereitschaft, europarechtliche Fragen mit mir zu diskutieren. Eine große Hilfe in allen organisatorischen Fragen war mir auch Frau Heike Höpke. Ich widme dieses Werk einer ganz besonderen Frau, die den Text Korrektur gelesen und mich mit viel Teilhabe durch diese nicht immer einfachen Jahre begleitet hat. Der Präsidentin des Kammergerichts danke ich für die mir zum Zweck der Habilitation gewährte Beurlaubung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die überaus großzügige Finanzierung dieses Buches. Berlin, im Dezember 2001

Christian Schröder

Inhaltsübersicht Vorwort Inhaltsverzeichnis

VII XIII Einleitung

A. Gegenstand und Methodik der Untersuchung B. Aufbau des Gedankengangs

1 3

1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht A. Überblick zum strafrechtlichen Richtlinieneinfluß B. Die Grundstruktur der Richtlinie I. Die Richtlinie als Teil des Sekundärrechts II. Die Richtlinie als Instrument der Rechtsangleichung III. Die unmittelbare Wirkung C. Die begünstigende unmittelbare Wirkung im Strafrecht I. Die BGH-Entscheidung zur sechsten Umsatzsteuerrichtlinie II. Problemaufriß D. Die belastende Wirkung I. Die Vorlage durch den Pretore di Salö II. Der Fall „Kolpinghuis-Nijmegen" III. Der Fall „Arcaro" IV. Das Meinungsbild in der Literatur V. Problemaufriß VI. Zwischenresümee VII. Die belastende Wirkung im Umweltstrafrecht VIII. Zwischenergebnis und Lösungsansätze

5 6 6 7 9 13 13 15 15 16 16 19 20 21 36 38 48

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht A. Das Verhältnis der Rechtsordnungen I. Fragen der Geltung, der Wirksamkeit, der Anwendbarkeit und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts II. Konsequenzen

56 58 98

X

Inhaltsübersicht

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen . 103 I. Einleitung 103 II. Methodisches 103 III. Die allgemeine Kompetenzdiskussion 104 IV. Die eine Strafrechtssetzungskompetenz bejahenden Auffassungen 110 V. Die Argumentation der vorherrschenden Meinung 114 VI. Die Erwiderung der Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz . . . 117 VII. Stellungnahme 118 C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage in dem Zusammenspiel der EG-Verordnung mit dem Strafgesetz 161 I. Einleitung 161 II. Bezugnahmen im Weinstrafrecht 163 III. Bezugnahmen im Fahrpersonalgesetz 167 IV. Konsequenzen für die Gesetzgebung 172 V. Konsequenzen für die Ausdeutung der Einwirkung unmittelbar anwendbaren Sekundärrechts auf das Strafrecht 174 D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen 179 I. Primärrechtlich verankerte Verpflichtungen 180 II. Die allgemeine Verpflichtung zum Schutz gemeinschaftsrechtlicher Interessen 180 III. Die „imperative Anweisungskompetenz" 184 IV. Regelungsintensität 192 E. Das ius non puniendi der Gemeinschaft 196 I. Zur Rechtsprechung des Gerichtshofs 196 II. Zur Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs 200 III. Keine vorschnelle Annahme der Unanwendbarkeit des Strafrechts 205 IV. Ergebnis 207 3. Hauptteil: Die Ausdeutung belastender Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht A. Einleitung B. Problemstellung C. Lösungsansatz: Grundsätzliche Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichtenbegründung D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung durch unmittelbar wirkende Richtlinien I. Die Beeinträchtigung rechtsstaatlicher Prinzipien II. Richtlinienumsetzung und innerstaatliche Entscheidungsprozesse III. Zwischenergebnis IV. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte V. Zwischenresümee VI. Die fehlende Strafrechtswidrigkeit richtlinienbedingter Pflichtverstöße . .

209 209 211 213 213 218 222 224 232 233

Inhaltsübersicht

XI

VII. Begrenzung auf strafbarkeitsbegründende Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien VIII. Ergebnis

245 248

4. Hauptteil: Die begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht A. Einleitung B. Beispielsfälle einer möglichen begünstigenden unmittelbaren Wirkung im Strafrecht I. Das Steuerstrafrecht II. Das Lebensmittelstrafrecht III. Das Umweltstrafrecht C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung I. Allgemeines zur Milderungsproblematik II. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben einer strafrechtlichen Analyse unmittelbar wirkender Richtlinien III. Einordnung im Deliktsaufbau IV. Keine direkte Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB V. Analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB ? VI. Einzelfragen

249 250 250 250 252 254 254 260 279 288 290 300

5. Hauptteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht A. Einleitung 321 I. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu § 326 StGB 322 II. Das Meinungsbild im Überblick 326 B. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen 331 I. Die vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze 331 II. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben 334 C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht 355 I. Verfassungsrechtliche Bindungen 355 II. Das nationale Recht als Ausgangspunkt der richtlinienkonformen Auslegung 359 III. Zur Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen" 362 IV. Zwischenergebnis 367 V. Das Problem detaillierter Richtlinienvorgaben 367 VI. Detaillierte Richtlinienvorgaben aus strafrechtlicher Sicht 370 VII. Ausmaß und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht . 380 D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht 397 I. Zur Notwendigkeit methodischer Überlegungen 397 II. Überblick zur Auslegungsmethodik im Gemeinschaftsrecht 397 III. Wiederkehrende Gesichtspunkte der richtlinienkonformen Auslegung . . . 403

XII

Inhaltsübersicht

IV. Die mehrphasige Auslegung V. Auslegung und Verdrängung E. Was heißt Richtlinienkonformität? I. Einleitung II. Umsetzungsbedingte Auslegungsprobleme des Urheberstrafrechts III. Exkurs: Die Gefahr einer Extension der Strafnorm ohne kriminalpolitische Willensbildung IV. Kein Automatismus einer richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht . V. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte VI. Zwischenergebnis VII. Lösungsvorschlag: Das mehrphasige Auslegungsmodell VIII. Zum Inhalt der Vorzugsregel

408 427 437 437 438 445 449 450 451 451 453

Literaturverzeichnis Sachregister

467 501

Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis

VII IX XIII Einleitung

A. Gegenstand und Methodik der Untersuchung

1

B. Aufbau des Gedankengang

3 1. Hauptteil:

Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht A. Überblick zum strafrechtlichen Richtlinieneinfluß

5

B. Die Grundstruktur der Richtlinie

6

I. Die Richtlinie als Teil des Sekundärrechts II. Die Richtlinie als Instrument der Rechtsangleichung III. Die unmittelbare Wirkung

6 7 9

C. Die begünstigende unmittelbare Wirkung im Strafrecht

13

I. Die BGH-Entscheidung zur sechsten Umsatzsteuerrichtlinie II. Problemaufriß

13 15

D. Die belastende Wirkung I. II. III. IV. V.

Die Vorlage durch den Pretore di Salo Der Fall „Kolpinghuis-Nijmegen" Der Fall „Arcaro" Das Meinungsbild in der Literatur Problemaufriß 1. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten 2. Arbeitsschutzrechtliche Richtlinienvorgaben 3. Der Einfluß von Arbeitsschutzvorschriften im Strafrecht a. Arbeitsschutzvorschriften als Fahrlässigkeitsmaßstab b. Arbeitsschutzvorschriften und Garantenpflichten aa. Modifizierung des Maßstabs bei öffentlichen Arbeitgebern bb. Die strafrechtliche Haftung einzelner Personen ce. Die Bedeutung der Entscheidung des Gerichtshofs im Fall „Telecom Italia"

15

...

16 16 19 20 21 22 24 27 27 29 31 31 32

XIV

Inhaltsverzeichnis

VI. Zwischenresümee VII. Die belastende Wirkung im Umweltstrafrecht 1. Die Grundwasser-Richtlinie 2. Die strafbare Gewässerverunreinigung, § 324 StGB a. Strafbarkeit des Amtsträgers? b. Strafbarkeit Privater? VIII. Zwischenergebnis und Lösungsansätze 1. Die Unterlassungsdelikte 2. Fahrlässigkeitsdelikte

36 38 38 40 42 46 47 48 49

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht A. Das Verhältnis der Rechtsordnungen I. Fragen der Geltung, der Wirksamkeit, der Anwendbarkeit und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts 1. Die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts a. Die unmittelbare Geltung aus der Sicht des Gerichtshofs b. Die unmittelbare Geltung aus der Sicht der Literatur c. Zwischenergebnis d. Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit e. Normentheoretische Überlegungen aa. Normative Geltung und Anwendbarkeit bb. Geltung, Anwendbarkeit und Trennung der Rechtsordnungen d. Die innerstaatliche Wirksamkeit aa. Innerstaatliche Wirksamkeit des Primärrechts bb. Innerstaatliche Wirksamkeit des Sekundärrechts cc. Die terminologische Gleichsetzung von innerstaatlicher Wirksamkeit und unmittelbarer Geltung e. Die Frage nach der unmittelbaren Geltung der Richtlinie aa. Überblick bb. Der eigene Standpunkt f. Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts g. Zwischenergebnis h. Einordnung der unmittelbaren Wirkung aa. Rechtsreflex bb. Normatives Verständnis cc. Der EG-Verordnung „ähnliche Wirkung" im Verhältnis des Bürgers zum Staat dd. Der Fall „Großkrotzenburg" ee. Keine umfassende normative Wirkung ff. Zwischenresümee und Rückblick 2. Rang und Anwendungsvorrang a. Vorrang des Gemeinschaftsrechts

56 58 58 58 59 60 61 62 62 64 67 67 68 69 71 71 74 77 77 78 78 79 80 82 84 87 87 87

Inhaltsverzeichnis b. Der Anwendungsvorrang c. Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts aa. Akzeptanz des Anwendungsvorrangs bb. Teilhabe unmittelbar wirkender Richtlinien am Anwendungsvorrang cc. Grenzen des Vorrangs II. Konsequenzen

XV 89 92 93 94 96 98

B. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen . 103 I. Einleitung II. Methodisches III. Die allgemeine Kompetenzdiskussion 1. Die Bußgeldkompetenz 2. Repressive Verwaltungsmaßnahmen IV. Die eine Strafrechtssetzungskompetenz bejahenden Auffassungen V. Die Argumentation der vorherrschenden Meinung 1. Souveränitätsverzicht und Wortlaut 2. Demokratische Legitimation der Rechtssetzungsakte VI. Die Erwiderung der Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz . . . VII. Stellungnahme 1. Primärrechtlich herzuleitende Argumente a. Das Wortlautargument b. Strafrechtsspezifische Sonderregelungen im Primärrecht 2. Sekundärrechtliche Inbezugnahme nationalen Strafrechts 3. Zwischenergebnis 4. Die Legitimationsfrage a. Der Hinweis auf Grundrechtseingriffe im EG-Kartellrecht b. Zum Erfordernis einer demokratischen Legitimation des Strafgesetzes c. „Nulla poena sine lege parlamentaria" als maßgeblicher Grundsatz? d. Legitimationsfrage und Rechtssetzungskompetenz 5. Der Vertrag von Maastricht im Lichte des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung a. Die Einfügung des Art. 209a EGV v. 1992 b. Die dritte Säule von Maastricht c. Zwischenergebnis d. Gegenargumente e. Die Aktivitäten der Gemeinschaftsorgane 6. Der Vertrag von Amsterdam im Lichte des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung a. Die Befürworter einer partiellen Kompetenz zum Schutz der EG-Finanzinteressen b. Die Gegner einer partiellen Kompetenz zum Schutz der EG-Finanzinteressen c. Kein Kompetenzübergang durch Art. 280 Abs. 4 EGV

103 103 104 107 107 110 114 114 115 117 118 118 118 120 122 123 124 124 125 128 132 135 135 139 141 141 142 143 143 144 145

XVI

Inhaltsverzeichnis aa. Offene Fragen der subsidiären Anwendung einer EG-Strafnorm in der Praxis bb. Exkurs: Das Corpus Juris zum Schutz der Finanzinteressen der EU als Modell im Sinne von Art. 280 Abs. 4 EGV? cc. Art. 31 lit. e EUV und Art. 61 EGV dd. Funktion des Art. 280 Abs. 4 EGV 7. Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 8. Ergebnis

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage in dem Zusammenspiel der EG-Verordnung mit dem Strafgesetz I. II. III. IV. V.

Einleitung Bezugnahmen im Weinstrafrecht Bezugnahmen im Fahrpersonalgesetz Konsequenzen für die Gesetzgebung Konsequenzen für die Ausdeutung der Einwirkung unmittelbar anwendbaren Sekundärrechts auf das Strafrecht

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen I. Primärrechtlich verankerte Verpflichtungen II. Die allgemeine Verpflichtung zum Schutz gemeinschaftsrechtlicher Interessen III. Die „imperative Anweisungskompetenz" IV. Regelungsintensität E. Das ius non puniendi der Gemeinschaft I. II. III. IV.

Zur Rechtsprechung des Gerichtshofs Zur Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs Keine vorschnelle Annahme der Unanwendbarkeit des Strafrechts Ergebnis

146 150 152 154 156 161 161 161 163 167 172 174 179 180 180 184 192 196 196 200 205 207

3. Hauptteil: Die Ausdeutung belastender Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht A. Einleitung

209

B. Problemstellung

209

C. Lösungsansatz: Grundsätzliche Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichtenbegründung 211 D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung durch unmittelbar wirkende Richtlinien I. Die Beeinträchtigung rechtsstaatlicher Prinzipien 1. Europarechtlich diskutierte Aspekte 2. Der Aspekt der Rechtssicherheit aus strafrechtlicher Sicht

213 213 213 215

Inhaltsverzeichnis

XVII

II. Richtlinienumsetzung und innerstaatliche Entscheidungsprozesse III. Zwischenergebnis IV. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte 1. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs a. Das widersprüchliche Verhalten des Staates b. Exkurs: Das unrechtmäßige Verhalten als Verfahrenshindernis? . . . c. Der Sanktionsgedanke d. Der Rechtsschutzgedanke e. Der Gedanke des „effet utile" f. Keine Belastung Privater 2. Deutung der Rechtsprechung für die Problemlösung V. Zwischenresümee VI. Die fehlende Strafrechtswidrigkeit richtlinienbedingter Pflichtverstöße . . 1. Begründung der fehlenden Rechtswidrigkeit 2. Rechtswidrigkeit und Einheit der Rechtsordnung a. Rechtfertigungsgründe b. Außerstrafrechtliche Rechtswidrigkeit und Strafrechtswidrigkeit . . . c. Beispiele diskutierter Teilrechtswidrigkeiten d. Die fehlende Strafrechtswidrigkeit eines Verstoßes gegen unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte VII. Begrenzung auf strafbarkeitsbegründende Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien 1. Verwaltungsakzessorische Straftatbestände 2. Beachtlichkeit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien VI. Ergebnis

218 222 224 224 224 225 226 226 227 228 229 232 233 233 235 235 237 238 242 245 245 247 248

4. H a u p t t e i l : Die begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht A. Einleitung

249

B. Beispielsfalle einer möglichen begünstigenden unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

250

I. Das Steuerstrafrecht II. Das Lebensmittelstrafrecht III. Das Umweltstrafrecht C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung I. Allgemeines zur Milderungsproblematik 1. Die vorherrschende Meinung 2. Die „staatsrechtlich" argumentierende Minderheitsmeinung 3. Die Bedeutung der unterschiedlichen Ansätze II. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben einer strafrechtlichen Analyse unmittelbar wirkender Richtlinien 1. Der Fall „Lemmens"

250 250 252 254 254 254 257 258 260 260

XVIII

Inhaltsverzeichnis

III.

IV V.

VI.

2. Der Fall „Bordessa" a. Die Milderungsproblematik im Fall Bordessa b. Bestätigung der „Bordessa"-Entscheidung im Fall „Awoyemi" . . . c. Würdigung der „Bordessa"-Entscheidung i m Lichte der Fälle „Skanavi" und „Allain" d. Vorverlagerung der unmittelbaren Wirkung 3. Der Fall „Kloppenburg" a. Die Verlängerung der Umsetzungsfrist b. Problemtiefe c. Inividuell-konkrete Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung . . 4. Der Fall „Ratti" 5. Zwischenergebnis Einordnung im Deliktsaufbau 1. Die unmittelbare Wirkung als Erlaubnistatbestand 2. Konkurrierendes Recht mit Vorrangregel 3. Ungeschriebener Strafaufhebungs-oder Strafausschließungsgrund . . . 4. Nicht tatbestandsmäßige Handlung 5. Lösungsvorschlag a. Die Spaltung von Geltung und Anwendbarkeit der Strafnorm . . . . b. Inkorporation der Vorrangwirkung c. Die unmittelbare Wirkung als ungeschriebener Tatbestandsausschluß Keine direkte Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB Analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB? 1. Praktische Bedeutung der Fragestellung 2. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte 3. Innerstaatliche Argumente 4. Lösungsvorschlag a. Richtlinienspezifische Aspekte b. Eingriff in die Gewalt der Legislative c. Kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG 5. Zwischenergebnis 6. Sonderfall: Endgültiger Wegfall der Strafbarkeit Einzelfragen 1. Methodisches 2. Die strafrechtliche Produkthaftung im Lichte der unmittelbaren Wirkung a. Das Beispiel des Umweltgiftes PCP im nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Kontext b. Grenzwertfestlegungen und unmittelbare Wirkung c. Erhöhung der Schwelle zur unerlaubten Gefahr d. Strafrechtliche Produkthaftung e. Ergebnis 3. Strafrechtliche Rechtsfolgen unterlassener Notifizierungen a. Zur Notifizierung nationalen Rechts

265 265 267 268 270 270 270 271 272 275 277 279 279 280 281 283 283 283 284 285 288 290 291 292 293 294 295 296 298 299 299 300 300 300 301 302 303 303 305 306 306

Inhaltsverzeichnis

XIX

b. Das strafrechtliche Problem 309 c. Lösungsvorschlag 309 4. Verwaltungsakzessorische Straftatbestände 311 a. Der Fall „Pieck" 311 b. Denkbare Probleme bei verwaltungsakzessorischen Tatbeständen . . 313 c. Lösungsvorschlag 315 d. Ergebnis 319 5. Hauptteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht A. Einleitung I. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu § 326 StGB II. Das Meinungsbild im Überblick 1. Die Rechtsprechung 2. Die Literatur 3. Zwischenergebnis B. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen I. Die vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze II. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben 1. Art. 10, ex-Art. 5 und Art. 249, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV als gemeinschaftsrechtlicher Ursprung einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung . a. Überblick b. Stellungnahme 2. Gegenstand der richtlinienkonformen Auslegung a. Umsetzungsrecht und sonstiges nationales Recht b. Strafrecht 3. Der Umfang der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 4. Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung a. Exkurs: Sperrwirkung und Maßstabsfunktion der Richtlinie? . . . . aa. Sperrwirkung der Richtlinie bb. Die Richtlinie als Maßstabsnorm b. Zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung aa. Überblick bb. Kein Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung cc. Die richtlinienkonforme Auslegung als Vorzugsregel dd. Zwischenergebnis C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht I. Verfassungsrechtliche Bindungen II. Das nationale Recht als Ausgangspunkt der richtlinienkonformen Auslegung 1. Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts

321 322 326 326 327 331 331 331 334 335 335 336 339 339 340 342 344 344 344 347 350 350 351 353 354 355 355 359 359

XX

Inhaltsverzeichnis

III. IV V. VI.

VII.

2. Keine Gefährdung der Auslegungsgrenzen im Strafrecht durch den Gerichtshof Zur Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen" Zwischenergebnis Das Problem detaillierter Richtlinienvorgaben Detaillierte Richtlinienvorgaben aus strafrechtlicher Sicht 1. Das Beispiel der Geldwäscherichtlinie a. Bedeutung der Kompetenzfrage b. Methodische Grundprobleme aa. Zur Abgrenzung von detaillierter Vorgabe und Gestaltungsspielraum bb. Inhaltliche Divergenzen eines Begriffs trotz orthographischer Identität cc. Das Sprachenbabylon der Gemeinschaft dd. Unbestimmtheit durch detaillierte Vorgaben? 2. Zwischenergebnis Ausmaß und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht . 1. Der Gerichtshof zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht a. „Kolpinghuis Nijmegen" b. Der Fall „Arcaro" c. „Telecom Italia" d. Der Fall „Cantoni" 2. Die Grenzen der Auslegung von richtlinienmodifizierten Bezugstatbeständen 3. Die richtlinienbedingte Normspaltung a. Zur Normspaltung im nationalen Recht b. Gründe für eine richtlinienbedingte Normspaltung 4. Zwischenresümee

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

360 362 367 367 370 370 371 373 374 377 378 379 379 380 380 380 383 385 389 389 390 391 394 396 397

I. Zur Notwendigkeit methodischer Überlegungen 397 II. Uberblick zur Auslegungsmethodik im Gemeinschaftsrecht 397 1. Die grammatikalische Auslegung 398 a. Wortlaut und Wortsinn 398 b. Wortlaut und synoptische Textkritik 399 c. Wortsinn 400 2. Die systematische Auslegung 401 3. Die teleologische Auslegung 401 4. Die historische Auslegung 402 III. Wiederkehrende Gesichtspunkte der richtlinienkonformen Auslegung . . . 403 1. Rechtsgrundlage 404 2. Aufbau der Richtlinie 404 3. Die Erwägungsgründe 405

Inhaltsverzeichnis

XXI

4. Höchst- und Mindeststandards 405 a. Beispiel: BayObLGSt 1992, 105 ff. 406 b. Beispiel: BayObLGSt 1996, 117ff. 407 c. Konsequenzen 407 5. Gleichstellungserfordernis 407 IV. Die mehrphasige Auslegung 408 1. Geschriebenes und ungeschriebenes Primärrecht 409 2. Eigenständige Bedeutung des Primärrechts für die Auslegung 410 a. Primärrechtliche Begrenzungen trotz grundsätzlicher Zulässigkeit strengerer Regelungen 410 aa. Der Fall „Skanavi" 411 bb. Artt. 28, 30, ex-Artt. 30, 36 EGV am Beispiel des Wettbewerbsrechts 414 cc. Die Cassis-Rechtsprechung des Gerichtshofs 415 b. Normenübergreifende Ausstrahlung des Art. 28, ex-Art. 30 EGV im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung am Beispiel des Lebensmittelstrafrechts 416 aa. Die Etikettierungsvorschriften für Lebensmittel 417 bb. Lebensmittelrechtliche Täuschung trotz ordnungsgemäßer Etikettierung? 418 cc. Wettbewerbsrechtliche Täuschung? 420 dd. Die Verbindung zum Strafrecht 421 c. Bedeutung des Primärrechts für die Auslegung einzelner Richtlinieninhalte 422 d. Funktion einer mehrphasigen Auslegung 425 3. Ergebnis 427 V. Auslegung und Verdrängung 427 1. Die Verdrängung als Rechtskonflikt 428 2. Verdrängung und Auslegung am Beispiel des Bilanzstrafrechts 429 a. Das Strafrecht als strengere Lösung? 430 b. § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB und das Verbot der strengeren Lösung . . . 430 aa. Auslegung des Richtlinienartikels 431 bb. Auslegung der Erwägungsgründe 431 cc. Gleichstellungserfordernis 432 dd. Verbot der strengeren Lösung? 432 ee. Das stand-still Gebot 433 ff. Beachtung des Primärrechts 435 c. Ergebnis 435 E. Was heißt Richtlinienkonformität? I. Einleitung II. Umsetzungsbedingte Auslegungsprobleme des Urheberstrafrechts 1. Die EG-Richtlinie über den Rechtsschutz von Computerprogrammen 2. Der strafrechtliche Kontext

437 437 438 . 438 438

XXII

Inhaltsverzeichnis 3. Problemdeutung

440

4. Kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 G G

442

a. Analyse des Richtlinientextes

442

b. Das Gleichstellungserfordernis

443

c. Zwischenergebnis

443

d. Konsequenzen

443

aa. Kein sklavischer Gehorsam trotz wortgetreuer Umsetzung

. . . 443

bb. Keine Richtlinienkonformität als Selbstzweck

444

III. Exkurs: Die Gefahr einer Extension der Strafnorm ohne kriminalpolitische Willensbildung

445

1. Notwendigkeit kriminalpolitischer Willensbildung

445

2. Die kriminalpolitisch unreflektierte Extension der Strafnorm

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3. Die versteckte Verschiebung von Rechtssetzungskompetenzen

448

I V Kein Automatismus einer richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht

. 449

V. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte

450

VI. Zwischenergebnis

451

VII. Lösungsvorschlag: Das mehrphasige Auslegungsmodell

451

1. Die erste Phase: Auslegung des nationalen Rechts

451

2. Die zweite Phase: Auslegung der Richtlinie

451

3. Die dritte Phase: Teleologische Gesamtschau von nationalem Strafrecht und Gemeinschaftsrecht

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VIII. Zum Inhalt der Vorzugsregel

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1. Die Vorzugsregel am Beispiel des Insiderrstrafrechts

453

a. Das Transaktionsverbot nach deutschem Recht

454

b. Zwei Beispiele für eine richtlinienkonforme Auslegung

454

2. Der Verbindlichkeitsgrad der Richtlinienvorgaben für die strafrechtliche Auslegung

456

3. Die Vorzugsregel am Beispiel des JahresabschlußbegrifFs des § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B

457

a. Das innerstaatliche Auslegungsproblem

458

b. Die richtlinienkonforme Auslegung des Merkmals

458

aa. Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts

459

bb. Auslegung der Richtlinie

459

cc. Teleologische Gesamtschau

460

4. Umsetzungsfrist und Vorzugsregel

461

a. Keine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist b. Auslegungsgrenzen nach Art. 103 Abs. 2 G G c. Richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist d. Ergebnis

461 463 . . 464 465

Literaturverzeichnis

467

Sachregister

501

Einleitung Die vorliegende Arbeit versucht, einen Beitrag zur Erforschung des Einflusses zu liefern, den europarechtliche Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV 1 auf das deutsche Kriminalstrafrecht ausüben. Ziel des Gedankengangs ist es, sowohl die rechtstheoretisch bereits erörterten wie auch die in der Praxis bekannt gewordenen Probleme zu deuten und systematisch begründeten Lösungsvorschlägen zuzuführen. Darüber hinaus sollen bisher nicht diskutierte Fragen der Verzahnung des Strafrechts mit dem Richtlinienrecht aufgezeigt und mit einem Lösungsvorschlag unterlegt werden.

A. Gegenstand und Methodik der Untersuchung Ausgangspunkt und Gegenstand der Untersuchung ist damit der status quo des Verhältnisses des deutschen Strafrechts zur europarechtlichen Richtliniendogmatik. Methodisch wird ein praxisorientierter Ansatz gewählt, der den zu analysierenden Einfluß des Richtlinienrechts in seinen konkreten Erscheinungsformen aufzeigt. Da es vorliegend um den Einfluß des Richtlinienrechts auf das nationale Strafrecht geht und der Europäische Gerichtshof 2 gerade das Richtlinienrecht in besonderer 1

2

Durch den Vertrag von Amsterdam wurden die Artikelbezeichnungen im EGV und EUV umgestellt. Es dauert bekanntlich einige Zeit, bis man sich an eine neue Reihenfolge von Vorschriften gewöhnt hat. Damit der Leser ihm bekannte Vorschriften ohne aufwendiges Nachschlagen wiedererkennen kann, wird hier nach der aktuellen Artikelbezeichnung auch noch die nach dem Vertrag von Maastricht gültige Zählweise (ex-Art.) genannt. Auf diese Weise kann der Leser ζ. B. rasch erkennen, daß mit Art. 10, ex-Art. 5 EGV der ihm bekannte Grundsatz der Gemeinschaftstreue gemeint ist. Auch ein Nachlesen hier zitierter Fundstellen wäre anderenfalls sehr aufwendig, da sich der Leser jedes Mal anhand einer Vergleichstabelle vergewissern müßte, ob der hier zitierte Artikel dem in einem Aufsatz oder Urteil genannten entspricht. Indes kam es durch den Vertrag von Amsterdam auch zu erheblichen Änderungen inhaltlicher Art. Wenn diese Änderungen für einen Gedanken dieser Untersuchung wichtig werden, wird darauf hingewiesen. Soweit es maßgeblich auf die jeweilige Fassung nach dem Vertrag von Amsterdam oder dem Vertrag von Maastricht ankommt, werden die Vorschriften alleine zitiert. Der Europäische Gerichtshof wird nachfolgend - soweit Verwechselungen auszuschließen sind - kurz Gerichtshof genannt.

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Einleitung

Weise geprägt und fortgebildet hat, wird diese Rechtsprechung des Gerichtshofs hinsichtlich der europarechtlichen Vorfragen zwar nicht kritiklos übernommen, doch ihr wird herausragende Bedeutung beigemessen. Der Gerichtshof ist die Instanz, in deren Hände die Auslegung des Gemeinschaftsrechts gelegt wurde. Mit dem Europarecht und der deutschen Strafrechtsdogmatik schneiden sich zwei rechtstheoretisch fremdelnde Kreise, da das Europarecht stark von einer fallorientierten, mehr dem anglo-amerikanischen Rechtskreis als der deutschen Strafrechtsdogmatik verwandten Rechtsprechung des Gerichtshofs geprägt wird. Das hat Auswirkungen auf die Methodik der Untersuchung. Es gilt, den Blick bei der strafrechtsdogmatischen Ausdeutung des Richtlinieneinfiusses über die nationale Rechtsordnung hinaus zu richten und stets die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, um so zu einer nach beiden Rechtsordnungen tragfähigen Lösung zu gelangen. Wenn einige Passagen dieser Untersuchung an ein „case-book" erinnern, so ist das eine Konsequenz dieses unabdingbaren Ansatzes. Als Gegengewicht gilt es, die Einwirkung des Richtlinienrechts strafrechtlich zu beleuchten, und es wird sich zeigen, daß sich insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien nicht ohne Brüche in die deutsche Strafrechtsdogmatik einfügen läßt. Entsprechend dem Ziel der Arbeit, den Einfluß der Richtlinie auf das Strafrecht zu erörtern, werden europarechtliche Vorfragen nur in dem dazu erforderlichen Umfang aufgezeigt, wobei versucht werden soll, dem vorwiegend strafrechtlich orientierten Leser diese Vorfragen so aufzubereiten, daß die Untersuchung aus sich heraus lesbar ist. Wenn es im ersten Satz dieser Einleitung heißt, daß ein Beitrag zur Einwirkung des Richtlinienrechts auf das deutsche Strafrecht erbracht werden soll, so liegt darin unter zwei Gesichtspunkten eine notwendige Einschränkung. Es geht um das Richtlinienrecht, weshalb nicht richtlinienspezifische Themen, wie etwa das Problem der sogenannten Inländer- oder Umkehrdiskriminierung 3 nicht vertieft werden. Der Richtlinieneinfluß soll freilich möglichst umfassend dargestellt werden und doch kann an dieser Stelle nur ein Beitrag geliefert werden, da sich das Richtlinienrecht über die gesamte Strafrechtsdogmatik legt. Diese Arbeit wird das Analogieverbot, die Fahrlässigkeitsdelikte, die Unterlassungsdelikte, den Grundsatz der Anwendung des milderen Gesetzes nach § 2 Abs. 3 StGB, das Bilanzstrafrecht, die Geldwäsche, das Insiderstrafrecht, die strafrechtliche Produkthaftung, das Steuer3

Z u m Begriff: Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 33 mwN. Dahinter verbirgt sich folgendes Grundproblem: Wenn eine belastende nationale N o r m in einem Fall mit EG-Bezug unanwendbar ist, m u ß das bei reinen Inlandssachverhalten nicht der Fall sein; Beispiele bei Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1759fF.; Oppermann, Europarecht, Rn. 1511, 1522; Pernice, N J W 1990, 2409, 2417; jeweils mwN.

Einleitung

3

strafrecht, das Umweltstrafrecht, das Urheberstrafrecht und weitere Rechtsgebiete ansprechen. Bei diesem Versuch, einen gleichsam horizontalen Überblick über den Richtlinieneinfluß zu liefern, kann nicht jedes der dabei angesprochenen Themen eines Rechtsgebiets vertikal bis in alle Einzelheiten vertieft werden. An nahezu jeder Stelle sind andere Lösungsansätze und Weiterungen denkbar. Insbesondere dann, wenn eine wissenschaftliche Diskussion eines Aspekts noch nicht stattgefunden hat, wird versucht, Gedankenansätze gleichsam stellvertretend zu erörtern. Sie können und sollen jedoch nicht bis in alle Verästelungen verfolgt werden, da anderenfalls der Blick auf die grundsätzlichen Fragen nicht zu wahren ist.

B. Aufbau des Gedankengangs Am Anfang des ersten Hauptteils steht ein erster summarischer Überblick, der zwei Ziele verfolgt. Einmal soll die Vielfalt der Einwirkungsweisen des Richtlinienrechts aufgezeigt werden. Zum anderen soll dem Strafrechtler in einem knappen Überblick das Instrumentarium des Richtlinienrechts gemäß Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV in Erinnerung gerufen werden. Hierbei wird sich zeigen, daß die Einwirkung von Richtlinien durch zwei Grundkonstellationen geprägt wird. Einmal handelt es sich um den unmittelbar aus Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV herauszulesenden Fall, bei dem die Vorgaben einer Richtlinie durch einen innerstaatlichen Umsetzungsakt in die Formen des innerstaatlichen Rechts gegossen werden. Mit der sogenannten unmittelbaren Wirkung von Richtlinien 4 hat sich jedoch eine zweite Grundkonstellation etabliert, hinter der sich eine spezifische Wirkungsweise des Richtlinienrechts verbirgt. Schon der Begriff der unmittelbaren Wirkung deutet an, daß das Richtlinienrecht dem Rechtsanwender in diesem Fall nicht mittelbar als umgesetztes Recht begegnet. Es geht vielmehr um eine unmittelbare Einwirkung der Richtlinie ohne innerstaatlichen Umsetzungsakt. Diese beiden Grundkonstellationen nimmt der weitere Gedankengang sodann im Verlauf des ersten Hauptteils zum Anlaß, den Einfluß der unmittelbaren Wirkung auf das Strafrecht zu untersuchen und die dabei entstehenden Probleme vorzustellen. Die Lösungsvorschläge zu diesen Problemlagen schließen sich nicht unmittelbar an, sondern finden sich im dritten und vierten Hauptteil. Diese Zäsur hat folgenden Grund: Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit grundsätzlichen Vorfragen des

4

Dieser Ausdruck ist bei genauem Hinsehen nicht ganz präzise, da zumeist nur einzelne Inhalte einer Richtlinie unmittelbar wirken. Wenn von „der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien" oder auch nur kurz von der „unmittelbaren Wirkung" die Rede ist, wird damit in Anlehnung an die europarechtliche Literatur gleiches gemeint.

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Einleitung

Verhältnisses des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht. Es geht um die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts und um die spezifische Aufteilung der Rechtssetzungskompetenzen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Strafrechts. Der fünfte Hauptteil widmet sich sodann ausführlich der richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts. Indem der Gedankengang die aus dem Gemeinschaftsrecht herzuleitende Differenzierung zwischen unmittelbarer Wirkung und richtlinienkonformer Auslegung aufgreift und sich in seinem Aufbau hieran ausrichtet, weicht er bereits im Ansatz von Darstellungen ab, die sich bereits dem Richtlinieneinfluß aus strafrechtlicher Sicht zugewandt haben. Dort wird der Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien nur eher beiläufig von der richtlinienkonformen Interpretation abgegrenzt 5 oder der Überschrift der richtlinienkonformen Auslegung unterstellt. 6 Diese Vorgehensweise kann auch gewählt werden, weil der Strafrechtler in der Rechtsanwendung immer von der nationalen Norm ausgeht. Unmittelbare Wirkung und richtlinienkonforme Auslegung erscheinen ihm sodann als zwei Unterfälle der Auslegung einer Strafnorm. Diese Sichtweise vernachlässigt jedoch nur zu leicht einen rechtstheoretisch wichtigen Unterschied: Unmittelbare wirkende Richtlinieninhalte verdrängen das nationale Recht, während bei der richtlinienkonformen Auslegung die innerstaatliche Norm anwendbar bleibt und nur im Lichte der Richtlinie ausgelegt wird. Daraus ergeben sich aber bedeutende Konsequenzen und deshalb greift die vorliegende Untersuchung die in der europarechtlichen Literatur etablierte Differenzierung auf, 7 weil so von Anfang an schon gedanklich kategorisch zwischen zwei unterschiedlich zu deutenden Einwirkungsarten des Richtlinienrechts unterschieden wird.

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Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 161, der den Fall der unmittelbaren Wirkung als unmittelbare Geltung von Richtlinien bezeichnet (zur Terminologie näher im 2. Hauptteil); deutlicher differenzierend Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 65 ff. Siehe Dannecker, Strafrecht der EG, S. 64, 68 und Schuppen, Bilanzstrafrecht, S. 195 iVm S. 191, der den Fall der unmittelbaren Wirkung der Überschrift „Richtlinie und Auslegung" unterstellt. Siehe nur Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. Iff., 14 ff. Classen, EuZW 1993, 83ff.; Gellermann, Beeinflussung, S. 103ff. und S. 125ff; Scherzberg, Jura 1993, 225ff.; Stern, JuS 1998, 769, 773.

1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht A. Überblick zum strafrechtlichen Richtlinieneinfluß Die Einwirkung von Richtlinien auf das Strafrecht ist offenkundig, wenn der Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung einer Richtlinie Straftatbestände schafft. So steht der im Wertpapierhandelsgesetz normierte Tatbestand des strafbaren Insiderhandels (§38 WpHG) unter dem Einfluß einer Richtlinie, die eine Sanktionierung des Insiderhandels bezweckt.1 Im Strafgesetzbuch wurde mit dem Tatbestand der Geldwäsche in § 261 StGB eine Vorschrift eingefügt, die zumindest auch auf eine Richtlinie zur Bekämpfung der Geldwäsche zurückgeführt werden kann. 2 Weniger augenfällig ist der Einfluß bei Straftatbeständen, die durch Tatbestände ausgefüllt werden, die ihrerseits einem Richtlinieneinfluß unterliegen. So begeht nach § 106 UrhG eine Straftat, wer ohne Einwilligung des Berechtigten ein urheberrechtlich geschütztes Werk vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergibt. Der Begriff der Vervielfältigung erfahrt im weiteren Kontext des Urheberrechtsgesetzes seine nähere Ausgestaltung. Dieser Kontext wurde durch die Umsetzung der sogenannten Softwarerichtlinie 3 in §§ 69a-g, 137d UrhG verändert, indem Regelungen über die Vervielfältigung von Computerprogrammen eingefügt wurden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, wie derartige Änderungen des strafrechtlich relevanten Normenzusammenhangs auf den Anwendungsbereich eines Strafgesetzes ausstrahlen können. Diesen Beispielen ist noch gemein, daß das anzuwendende Strafgesetz selbst oder das den Straftatbestand durch eine Verweisung direkt oder auch nur indirekt aus-

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Richtlinie 89/592 EWG vom 13.11.1989 „zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte", Abi. Nr. L 334, S. 30ff. Richtlinie 91/308/EWG vom 10.6.1991 „zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche", Abi. Nr. L 166, S. 77ff. Richtlinie 91/250/EWG vom 14.5.1991 „über den Rechtsschutz von Computerprogrammen", Abi. Nr. L 122, S. 42 ff.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

füllende Recht als umgesetztes Recht mittelbar einem Einfluß von Richtlinien unterliegt. Damit ist aber nur ein Fall der Richtlinieneinwirkung beschrieben. Darüber hinaus können Richtlinien das vom Strafrichter anzuwendende Recht auch ohne Änderung des geschriebenen Strafrechts oder des positivrechtlichen innerstaatlichen Normenzusammenhangs ändern. Diese Überlagerung des Strafrechts durch das Gemeinschaftsrecht macht es notwendig, einige Grundlagen des Richtlinienrechts näher zu betrachten. Wenn sich die folgenden Gedanken zunächst den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben widmen und den Bezug zum Strafrecht nicht sogleich herstellen, wird die eigentliche Fragestellung nicht aus den Augen verloren. Bestimmte Wirkungsweisen von Richtlinien lassen sich ohne den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund nicht klären. Daher soll zunächst ein summarischer Überblick über das dem Strafrechtler nicht allgegenwärtige Richtlinienrecht gegeben werden.

B. Die Grundstruktur der Richtlinie I. Die Richtlinie als Teil des Sekundärrechts Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts werden bekanntlich in das Primär- und Sekundärrecht unterteilt. 4 Zum Primärrecht zählen die Gründungsverträge (EGKSV, EAGV und EWGV) nebst Anlagen, Protokollen und späteren Änderungen, von denen insbesondere die Einheitliche Europäische Akte (EEA) und der Vertrag von Maastricht (EUV) 5 sowie der Vertrag von Amsterdam zu nennen sind. Ganz überwiegend wird der Begriff des Primärrechts um die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, 6 das allgemeine Völkerrecht und das die Gründungsverträge ergänzende Gewohnheitsrecht erweitert. 7 Die ungeschriebenen Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gelten wiederum als Unterfall der allgemeinen Rechtsgrundsätze. 8 Die Grenzen sind freilich fließend, weil 4

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Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 525 ff; Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 1/5; Oppermann, Europarecht, Rn. 473 ff. Streinz, Europarecht, Rn. 3. Vgl. Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 825 f.; Oppermann, Europarecht, Rn. 482. Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 480, 487; Ehlers, DVB1. 1991, 605; Magiera, Jura 1989, 595, 596. Szczekalla in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 12 Rn. 1. Weiterhin kann man die Grundfreiheiten oder das allgemeine und die besonderen Diskriminierungsverbote etc. als kodifizierte Grundrechte begreifen, siehe Oppermann, Europarecht, Rn. 490; Szczekalla in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 12 Rn. 2. Indes gibt es jedenfalls keinen umfassenden Grundrechtskatalog (vgl. aber Art. 6 EUV) wie wir ihn im Grundgesetz finden. Zum Ganzen zuletzt ausführlich: Schilling, EuGRZ 2000, 3 ff.

Β. Die Grundstruktur der Richtlinie

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man bestimmte Rechte, etwa das Recht auf rechtliches Gehör, als objektiven allgemeinen Rechtsgrundsatz, aber auch als subjektives Grundrecht begreifen kann. 9 Unter dem Sekundärrecht ist das von den Organen der Gemeinschaft nach Maßgabe der Verträge erlassene Gemeinschaftsrecht zu verstehen. 10 Art. 249 Abs. 1, exArt. 189 Abs. 1 EGV gibt einen Überblick über verschiedene Rechtsakte des Sekundärrechts, also die Verordnung, die Richtlinie, die Entscheidung, die Stellungnahme und die Empfehlung." Art. 249 Abs. 1, ex-Art. 189 Abs. 1 EGV bringt mit der Formulierung, daß die Organe „nach Maßgabe dieses Vertrages" handeln, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zum Ausdruck, wonach die Gemeinschaftsorgane nicht generell, sondern nur in den Fällen rechtssetzend tätig werden dürfen, in denen sie durch die Verträge dazu ermächtigt worden sind.12 Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung wurde im Vertragswerk (Art. 5, ex-Art. 3b EGV) eigenständig verankert. 13 Nach diesem Grundsatz kann zwar eine einzelne Bestimmung, die Aufgaben oder Befugnisse zuweist, mit Blick auf die Vertragsziele ausgelegt werden; das Vertragsziel selbst genügt jedoch nicht, um Aufgaben und Befugnisse zu begründen oder zu erweitern.14

II. Die Richtlinie als Instrument der Rechtsangleichung Angesichts des Wortlauts des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV liegt die Schlußfolgerung nahe, Richtlinieninhalte seien für das Strafrecht erst dann relevant, wenn sie im Wege der Umsetzung in die nationale Rechtsordnung integriert wurden. Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV besagt schließlich, daß die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den zuständigen staatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überläßt.

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Szczekalla in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 11 Rn. 3. Grabitz in: Grabitz/Hilf, EU-Kommentar, Altbd. II, Art. 189 Rn. 16 ; Zuleeg, Das Recht, S. 33. Bleckmann, N V w Z 1993, 824, 825. Teilweise wird der Begriff des Sekundärrechts um alle sonstigen Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane erweitert, so Nenstiel, JR 1993, 222; Streinz, Europarecht, Rn. 4. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 380ff.; MaunzIZippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 457; Oppermann, Europarecht, Rn. 513ff. Rengeling, DVB1. 1995, 945, 946. Siehe aber auch Art. 308, ex-235 EGV, der unter den dort genannten Voraussetzungen eine gewisse Kompetenzerweiterung zuläßt, aber nach BVerfGE 89,155, 209 f. keine „KompetenzKompetenz" begründet.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Damit richtet sich die Richtlinie zunächst nur an die Mitgliedstaaten und begründet für sie die Pflicht, die in der Richtlinie formulierten Zielvorgaben zu verwirklichen.15 Diese finden sich in den Richtlinientexten mitunter als sehr präzise, detaillierte Angaben.16 Den Mitgliedstaaten wird im Text der Richtlinie regelmäßig eine Frist zur Umsetzung ihres Inhalts bestimmt, der zwingender Charakter beigemessen wird.17 Aus der Sicht des Marktbürgers kann der Erlaß einer Richtlinie anschaulich als ein Akt indirekter Rechtssetzung umschrieben werden,18 die ihm im Unterschied zu der ebenfalls in Art. 249, ex-Art. 189 EGV geregelten EG-Verordnung grundsätzlich aber keine Pflichten auferlegen19 oder Rechte verleihen kann.20 In diesem Sinne wirkt der Inhalt der Richtlinie für den Marktbürger erst durch ihre Umsetzung in der Gestalt des jeweiligen nationalen Rechts unmittelbar.21 Die Richtlinie erscheint damit als ein Instrument der Rechtsangleichung,22 das es erlaubt, in den Mitgliedstaaten differierende Rechtsvorschriften zu harmonisieren. Der Wortlaut des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV gibt jedoch über den Einfluß der Richtlinie auf die nationale Rechtsordnung und damit auf das Strafrecht keine erschöpfende Auskunft. Die Versäumung der Umsetzungsfrist durch Mitgliedstaaten hat vielmehr das Institut der unmittelbaren Wirkung von Richt15

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Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 21/28ff.; Grabitz in: Grabitz/Hilf, EU-Kommentar, Altbd. II, Art. 189 Rn. 51, 57; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 8; Gellermann, Beeinflussung, S. 9; Oldenbourg, Die unmittelbare Wirkung, S. 4; Rickert, Grundrechtsgeltung, S. 10. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 420fF.; Gellermann, Beeinflussung, S. 9 unter Hinweis auf das Umweltrecht, Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 21/29; Langeheine in: Grabitz/Hilf, EU-Kommentar, Altbd. I, Art. 100 Rn. 38; Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, S. 10; Oldenbourg, Die unmittelbare Wirkung, S. 7; Oppermann, Europarecht, Rn. 551 f.; Timmermanns, RabelsZ 48 (1984), 1,11. Die Zulässigkeit detaillierter Vorgaben wird heute überwiegend nicht mehr bestritten, kritisch ζ. B. Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 50 ff. mwN. Die in der „älteren" Literatur geäußerte Kritik, so ζ. B. Constantinesco, Recht der EG I, Rn. 554; Oldekop, Die Richtlinien der EWG, S. 144ff., hat sich nicht durchgesetzt. Siehe nur EuGH, Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53, 71; Jarass, NJW 1990, 2420, 2423; Klein, Everling-FS, S. 641, 642 f. Fuß, DVB1. 1965, 378, 379; Gellermann, Beeinflussung, S. 10; Molkenbur, Normenharmonisierung, S. 15. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969ff.; Haneklaus, DVB1. 1993, 129, 133; Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 21/23. Gellermann, Beeinflussung, S. 10. EuGH, Urteil vom 6.5.1980, Rs. 102/79, Ε 1980, 1473ff.; Everting, ZGR 1992, 376, 377; Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 825. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 39/12; Grabitz in: Grabitz/Hilf, EU-Kommentar, Altbd. II, Art. 189, Rn. 51; Gellermann, Beeinflussung, S. 10; Scherzberg, Jura 1992, 572, 575; Weigl, ÖJZ1996, 933, 934.

Β. D i e Grundstruktur der Richtlinie

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linien entstehen lassen. Die Frage, welchen Einfluß dieser Effekt auf das Strafrecht ausübt, bildet einen ersten Schwerpunkt der Untersuchung und soll im folgenden beleuchtet werden.

III. Die unmittelbare Wirkung Die Versäumung der Umsetzungsfrist durch Mitgliedstaaten warf die Frage auf, ob und inwieweit sich natürliche oder juristische Personen auf einen für sie günstigen Richtlinieninhalt berufen können, auch wenn dieser nicht in nationales Recht umgesetzt worden war. Obwohl der Wortlaut des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 E G V zunächst gegen eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung spricht, 23 entschied der Gerichtshof, daß Richtlinien unter bestimmten Voraussetzungen direkt wirken können. 24 Er argumentiert, daß der Richtlinie gegenüber den Mitgliedstaaten durch Art. 249, ex-Art. 189 EGV verbindlicher Charakter zukomme. Insbesondere in den Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten mittels einer Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn sich der einzelne vor Gericht hierauf nicht berufen könnte. Ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, könne dem einzelnen nicht entgegenhalten, daß er - der Staat - die aus der Richtlinie erwachsenden Verpflichtungen nicht erfüllt habe. Vielmehr könne sich der einzelne trotz fehlender Umsetzung gegenüber dem Staat auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen. 25 23 24

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Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Scherzberg, Jura 1993, 225. EuGH, Urteil vom 17.12.1970, Rs. 33/70, Ε 1970,1213, 1223 f., wo der Gerichtshof noch vorsichtig eine „Gesamtwürdigung" von primärem Recht und der in Rede stehenden Richtlinie vornimmt. Prägnanter: EuGH, Urteil vom 4.12.1974, Rs. 41/74, Ε 1974, 1337, 1348 f. So etwa EuGH, Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53, 71, im „Fall Becker". Hintergrund dieser Rechtsprechung ist das Bestreben, daß Richtlinien zum Zwecke einer fortschreitenden Integration in der Gemeinschaft auch und gerade dann innerstaatliche Rechtswirkungen entfalten müssen, wenn die Mitgliedstaaten ihrer Umsetzungspflicht nicht (ordnungsgemäß) nachkommen, vgl. Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Müller-Graff, DRiZ 1996, 305, 306. Der Gerichtshof berief sich zur Begründung anfangs auf die Notwendigkeit des „effet utile", der weitestgehenden Wirkung des Gemeinschaftsrechts, siehe EuGH, Urteil vom 4.12.1974, Rs. 41/74, Ε 1974, 1337, 1348. In späteren Entscheidungen griff der EuGH den Gedanken auf, daß sich ein Staat mit seinem Vorverhalten in Widerspruch setze, wenn er dem Bürger die Nichterfüllung der auf Gemeinschaftsebene eingegangenen Pflichten entgegenhalte, vgl. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1642, „estoppel-Prinzip".

10

1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren W i r k u n g im Strafrecht

Selbst dann, wenn der Staat zur Umsetzung einer Richtlinie fristgerecht tätig geworden ist und dabei Richtlinieninhalte nur unzulänglich übernommen hat, können die nicht umgesetzten Vorgaben unmittelbare Wirkung entfalten. 26 Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien gegenüber dem Staat tritt folglich ein, wenn die Richtlinie insgesamt oder teilweise unzulänglich innerhalb der Frist nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde und inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue bzw. bestimmte Vorgaben trifft. 27 Inhaltlich unbedingt ist die Richtlinie dann, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und ihrem Wesen nach keiner weiteren Maßnahme der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf. 28 Mit diesem Kriterium schließt der Gerichtshof solche Richtlinienbestimmungen von der unmittelbaren Wirkung aus, deren Umsetzung von einer gestaltenden Entscheidung eines Gemeinschaftsorgans oder Mitgliedstaats abhängt. 29 Zu denken ist hierbei insbesondere an die Einräumung eines Gestaltungs-, Ermessens- oder Beurteilungsspielraums. 30 Hinreichend bestimmt ist die Richtlinie, wenn sie allgemein und unzweideutig bestimmte Vorgaben zum sachlichen Regelungsgehalt, zum geschützten Personenkreis und zu den durch die Regelungen verpflichteten Einrichtungen trifft. 31 In diesem Sinne muß die den Mitgliedstaaten auferlegte Verpflichtung „rechtlich vollkommen" sein, um unmittelbare Wirkung entfalten zu können. 32 Rechte müssen unmittelbar aus der Richtlinie abgeleitet werden können, was auch als „self-executing"-Charakter der Richtlinie bezeichnet wird.33 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien wurde vom Bundesverfassungsgericht im Grundsatz gebilligt.34 Das Bundesverfassungsgericht erblickt in dieser Rechtsprechung eine Rechtsfortbildung, wenn die Sanktionierung der Nichterfüllung von Richtlinien nicht allein durch eine Verletzungsklage der Gemeinschaft gegen den Mitgliedstaat, sondern auch durch eine 26 27

28

29 30 11 32 33 34

Jarass, Grundfragen, S. 73. Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 422fT.; Arndt, Europarecht, S. 56; Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 67 ff.; Herdegen, Europarecht, Rn. 183; Η. P. Ipsen in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 181 Rn. 61; Jarass, N J W 1990, 2420, 2422; Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, S. 84 ff.; Seherzberg, Jura 1993, 225, 226. Vgl. ζ. B. E u G H , Urteil vom 4 . 1 2 . 1 9 7 4 - Rs. 41/74, Ε 1974, 1337,1349; ferner Arndt, Europarecht, S. 56; Gellermann, Beeinflussung, S. 168; Scherzberg, Jura 1993, 225, 226. Scherzberg, Jura 1993, 225, 226. Näher: Jarass, Grundfragen, S. 74 ff. E u G H , Urteil vom 4.12.1986, Rs. 71/85, Ε 1986, 3855, 3875f.; Jarass, Grundfragen, S. 76. Jarass, G r u n d f r a g e n , S. 76; Müller-Graff, D R i Z 1996, 305, 307. Streinz, Europarecht, Rn. 402. BVerfGE 75, 223ff, wobei das Gericht insbesondere die in E u G H , Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53, 71, niedergelegten Grundsätze hervorhebt.

Β. Die Grundstruktur der Richtlinie

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„Berufung auf die Richtlinie" im Rechtsstreit des einzelnen gegen den Mitgliedstaat erfolge.35 Zwar dürfe auch der Gerichtshof als zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 G G aus ihm übertragenen Hoheitsrechten nicht ausbrechen, jedoch sei es geradezu geboten, vorhandene Kompetenzen der Gemeinschaft im Lichte und im Einklang mit den Vertragszielen auszulegen und zu konkretisieren. 36 Daß Richtlinien unter den beschriebenen Voraussetzungen einer unmittelbaren innerstaatlichen Wirkung fähig sind, kann heute als einhellige Meinung gelten, wobei Gellermann zu Recht betont, daß die wissenschaftliche Diskussion um die tragenden Begründungselemente sowie Deutung, Reichweite und Grenzen dieses Richtlinieneffekts andauert. 37 Umstritten ist die Wirkung im Detail, wenn es etwa um die Frage geht, ob Richtlinien auch dann unmittelbar anzuwenden sind, wenn sie sich belastend auswirken. 38 Dabei geht es weniger um die grundsätzliche Frage nach der belastenden Wirkung von Richtlinien, die den Staat berechtigen und den einzelnen verpflichten. Insoweit hat der Gerichtshof eine belastende Wirkung ausgeschlossen. 39 Ebenso lehnt er eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten jedenfalls im Grundsatz ab.40 Die Problematik verschachtelt sich jedoch, wenn eine Richtlinienbestimmung für eine Person begünstigend wirkt und für eine andere belastende Wirkungen erzeugt. Dabei ist zum einen an Richtlinieninhalte zu denken, die dem Bürger ein bestimmtes Recht einräumen wollen, das belastende Auswirkungen für Dritte hat.41

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36 37 38

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41

BVerfGE 75, 223, 241 f. Seit dem Vertrag von Maastricht besteht die weitere Möglichkeit, gemäß Art. 228, ex-Art. 171 EGV gegen den säumigen Mitgliedstaat ein Zwangsgeld zu verhängen, siehe Gellermann, Beeinflussung, S. 122; Oppermann, Europarecht, Rn. 553. BVerfGE 75, 223, 242. Gellermann, Beeinflussung, S. 125. Für im Einzelfall auch belastende Wirkungen argumentieren u.a. Bach, JZ 1990, 1108, 1114 F.; Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht Rn. 414, 437f.,l 191; Nicolaysen, EuR 1984, 380, 392; Winter, DVB1. 1991, 657, 665. Unter besonderer Berücksichtigung des Zivilrechts: Müller-Graff, NJW 1993, 13, 20fT. Gegen eine „finale" Belastung ζ. B. Classen, EuZW 1993, 83; 84 Dauses, BayVBl 1989, 609, 610; Gellermann, Beeinflussung, S. 172; Jarass, NJW 1991, 2665, 2666, wenngleich diese Autoren teilweise eine Belastung in Dreiecksverhältnissen nicht ausschließen. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969ff. EuGH, Urteil vom 26.2.1986, Rs. 152/84, Ε 1986, 723, 737, 749; EuGH, Urteil vom 14.7.1994, Rs. C-91/92, Ε 1994, 1-3325, 3356. Hier kann jedoch ein gemeinschaftsrechtlich verankerter Staatshaftungsanspruch desjenigen, der durch die Nichtumsetzung einen Schaden erlitten hat, gegen den säumigen Mitgliedstaat greifen, siehe die Entscheidung im Fall „Francovich", EuGH, Urteil vom 19.11.1991, Rs. C-6/90 und C-9/90, Ε 1991,1-5357ff. Jarass, Grundfragen, S. 83.

12

1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Zum anderen geht es um Fälle, in denen belastende Richtlinienbestimmungen den Dritten begünstigen. Hier wird eine unmittelbare Wirkung überwiegend bejaht, wenn die Belastung auf einem dem Dritten in der Richtlinie gegenüber dem Staat eingeräumten Anspruch beruht, sich also etwa der Nachbar einer Schadstoffe emittierenden Anlage zu Lasten des Betreibers gegenüber der Zulassungsbehörde auf die unmittelbare Wirkung nachbarschützender, nicht umgesetzter Richtlinienbestimmungen beruft, die nur geringere Emissionen als das nationale Recht zulassen.42 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die vom Gerichtshof im Fall „Costanzo" zugelassene Belastung eines Privaten, der auf eine Ausschreibung zur Durchführung von Bauarbeiten gemäß dem nationalen Recht den Zuschlag erhalten hatte. Das Gericht hat einen Anspruch des richtlinienwidrig nicht berücksichtigten Konkurrenten auf vorrangige Berücksichtigung bejaht. 43 Daran ist bemerkenswert und für den weiteren Gang dieser Untersuchung von Bedeutung, daß der Gerichtshof ausdrücklich eine Verpflichtung der kommunalen Verwaltung zur Anwendung der unmittelbar wirkenden Richtlinienbestimmung und zur Nichtanwendung des nationalen Rechts annimmt. 44 Nach der Entscheidung im Fall „Großkrotzenburg" 4 5 ist es schließlich denkbar, die Verpflichtung einer Behörde zur Beachtung konkreter Richtlinienvorgaben auch dann anzunehmen, wenn die Richtlinie nicht umgesetzt wurde und eine Berufung des einzelnen auf die Richtlinie nicht möglich ist. Diese Entscheidung geht über den Fall „Costanzo" insoweit hinaus, als die Pflicht der Behörde zur Beachtung der Richtlinie nicht mehr vom Bestehen von Rechten einzelner abhängig gemacht wurde. 46

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43 44

45 46

Siehe Jarass, Grundfragen, S. 84ff.; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 961; kritisch: Scherzberg, Jura 1993, 225,228. EuGH, Urteil vom 22.6.1989, Rs. 103/88, Ε 1989, 1839, 1862 ff. EuGH, Urteil vom 22.6.1989, Rs. 103/88, Ε 1989, 1839, 1862, 1871; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 9. EuGH, Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995,1-2189ff. Epiney, DVB1. 1996, 409, 412; Renke, EG-Richtlinien und Rechtsschutz, S. 40; RoylalLackhoff, DVB1. 1998, 1116, 1118, 1120; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 131. In diesem Sinne kann von einer „objektiven" Wirkung der Richtlinie gesprochen werden, im einzelnen str., siehe Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, S. 81 ff.; Rengeling in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 28 Rn. 71 f. mwN.

C. Die begünstigende unmittelbare Wirkung im Strafrecht

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C. Die begünstigende unmittelbare Wirkung im Strafrecht Nach der Betrachtung dieser Grundstrukturen der unmittelbaren Wirkung ist nunmehr die Verbindung zum Strafrecht herzustellen, wobei sich der Gedankengang in belastende und begünstigende Folgen der unmittelbaren Wirkung verzweigt. Betrachtet wird zunächst die begünstigende Wirkung. Bei der unmittelbaren Wirkung in ihrer klassischen Erscheinungsweise, also mit der Herbeiführung einer dem Bürger im vertikalen Verhältnis zum Staat günstigen Rechtsfolge, handelt es sich um eine für das Strafrecht relevante Fallgestaltung. Sie läßt sich als Konkurrenz zweier Rechtslagen umschreiben. Die Konkurrenz ergibt sich, wenn eine bei isolierter Betrachtung des innerstaatlichen Rechts vorhandene Pönalisierung eines Tuns oder Unterlassens im Widerspruch zu einem unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalt steht. Vor eine derartige Fragestellung sah sich der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur sechsten Umsatzsteuerrichtlinie gestellt. 47

I. Die BGH-Entscheidung zur sechsten Umsatzsteuerrichtlinie Dem Urteil ist die erste Stellungnahme des Bundesgerichtshofs in Strafsachen zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zu entnehmen. Es offenbart, welche Schwierigkeiten das europäische Gemeinschaftsrecht den Instanzgerichten bereiten kann. Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen diverser Vergehen zu einer sechseinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Schuldspruch umfaßte auch den Vorwurf der fortgesetzten Umsatzsteuerhinterziehung, da der Angeklagte in den Jahren 1978 bis 1980 als faktischer Geschäftsführer zweier Gesellschaften unzutreffende Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben oder deren Abgabe unterlassen hatte. Dem hatte der Angeklagte entgegengehalten, vom Schuldspruch umfaßte Umsätze aus Kreditvermittlungen seien nach europäischen Richtlinien nicht der Umsatzsteuer zu unterwerfen gewesen. Die sechste Umsatzsteuerrichtlinie 48 sah in Art. 13 B. lit.d 1. eine Umsatzsteuerbefreiung für Kreditvermittlungen vor. Art. 1 dieser Richtlinie schrieb eine Um-

47 48

BGHSt 37, 168, 174 ff. Sechste Richtlinie 77/388/EWG vom 17.5.1977 „zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage", Abi. Nr. L 145, S. 1 ff.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

setzung bis zum 1. Januar 1978 vor, die in der Bundesrepublik nicht fristgerecht erfolgte. Vielmehr trat das deutsche Ausführungsgesetz erst zum 1. Januar 1980 in Kraft. 49 Das Landgericht stützte seine Entscheidung auf Umsätze, die in den Jahren von 1978 bis 1980 getätigt wurden. Soweit sich der Angeklagte auf die europäische Richtlinie berufen hatte, stellte die Landgerichtskammer fest, sie glaube dem Angeklagten nicht, „daß er bei seinen steuerlichen Fachkenntnissen auch nur im entferntesten davon ausging, daß die deutsche Steuergesetzgebung durch europäische Richtlinien außer Kraft gesetzt wird." 50 Die vom Bundesgerichtshof wörtlich wiedergegebene Feststellung der Kammer bringt deren Überzeugung zum Ausdruck, daß Steuergesetze durch Richtlinien unter keinen Umständen beeinflußt werden könnten. Die Aussage geht in ihrem Kern sogar noch weiter. Sie verwirft die Einlassung als abwegige Schutzbehauptung. Der Bundesgerichtshof bezeichnet diese Auffassung der Vorinstanz als unzutreffend und bezieht sich zunächst auf die vom Europäischen Gerichtshof formulierten Grundsätze zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. Danach kann sich ein Marktbürger auf eine nicht fristgemäß umgesetzte Richtlinie berufen, wenn deren Bestimmungen so klar umrissen sind, daß sie auch ohne Durchführungsmaßnahmen des nationalen Rechts angewendet werden können. 51 Sodann unterstreicht das Gericht, daß die nationalen Verwaltungen und Gerichte diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zu beachten haben. Der nationale Richter müsse im Zweifelsfall bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen des von Art. 234, ex-Art. 177 EGV vorgesehenen Verfahrens eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einholen. 52 Damit ist der Bundesgerichtshof der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Grundsatz gefolgt. Hieraus ergibt sich eine in der Entscheidung nicht angesprochene, aber sehr wichtige Frage. Der vom Bundesgerichtshof entschiedene Fall eignet sich gut zur Illustration dieser Problematik.

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52

Siehe Art. 16 des Gesetzes vom 26.11.1979, BGBl. I, 1953. Zitiert nach BGHSt 37, 168, 174 dritter Absatz a.E. BGHSt 37, 168, 175, unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53,71. BGHSt 37, 168, 175 unter Bezugnahme auf BVerfGE 75, 223, 233 fT.

D. Die belastende Wirkung

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II. Problemaufriß Dem Sachverhalt der Entscheidung ist zu entnehmen, daß dem Täter Umsatzsteuerhinterziehungen in den Jahren 1978 bis 1980 und damit zu einer Zeit vorgeworfen worden waren, in der die Umsetzungsfrist der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie bereits abgelaufen war. Infolge der unmittelbaren Wirkung entstand eine für den Täter günstige Rechtslage. Soweit sich diese Frage bei einer Änderung des nationalen Rechts stellt, steht die Prüfung des § 2 Abs. 3 StGB in Rede. Die N o r m schreibt die Anwendung des mildesten Gesetzes vor, wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat galt, vor der Entscheidung geändert wird. Für die Ermittlung der Tragweite des begünstigenden Richtlinieneffekts ist folglich zu untersuchen, ob dieser Effekt in seinen Auswirkungen einer Gesetzesänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB gleichzustellen oder wie er sonst im Rahmen dieser Vorschrift zu handhaben ist. Mit diesem Problemaufriß soll es hier zunächst sein Bewenden haben. U m den Einfluß der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht umfassend beleuchten zu können, ist es zunächst erforderlich, die Frage nach einem belastenden Effekt der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht zu behandeln.

D. Die belastende Wirkung Die belastende Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie war bisher nicht Gegenstand einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen. Angesichts der Grundsatzentscheidungen des Gerichtshofs in den Fällen „Pretore di Salö" und „Kolpinghuis Nijmegen", die nachfolgend dargestellt werden, überrascht dieser Befund nicht. Einer möglichen Belastung des einzelnen schien eine so klare Absage erteilt worden zu sein, daß auch die strafrechtliche Literatur diesen Gedanken nicht vertiefte. U m so kühner mag die Behauptung erscheinen, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und ihrer Verknüpfung mit dem Strafrecht eine möglicherweise belastende Wirkung herleiten zu können. U m diese These zu belegen, werden zunächst die erwähnten Urteile des Gerichtshofs vorgestellt. Hiernach wird der Gedankengang entwickelt, aus dem sich die Problematik einer möglichen Belastung durch unmittelbar wirkende Richtlinien ergibt.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

I. Die Vorlage durch den Pretore di Salo Der italienische Ermittlungsrichter legte dem Gerichtshof Auslegungsfragen zu einer Gewässerschutzrichtlinie vor, der das italienische Recht nicht entsprach. Nach Ansicht des Pretore di Salö war die Richtlinie für die von ihm zu prüfenden strafrechtlichen Fragen von Belang, „weil sie eine Prämisse für die Untersuchungskriterien ist und weil sie von ausschlaggebender Bedeutung im Hinblick auf die Voraussetzungen der geltenden strafrechtlichen Regelung ist und sich aus ihr unbestreitbar eine Erweiterung des strafrechtlich geschützten Bereichs ergeben kann". 53 Der Pretore schien also von der Voraussetzung auszugehen, eine nicht oder fehlerhaft umgesetzte Richtlinie könne dem einzelnen Bürger Verhaltenspflichten auferlegen, deren Verletzung nach innerstaatlichem Recht strafrechtlich geahndet werden kann. 54 Der Gerichtshof trat dem entgegen. Zunächst deutete er die Vorlagefragen dahin um, daß das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Richtlinie für sich allein und unabhängig vom innerstaatlichen Recht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen. 55 Zur Beantwortung der Frage verwies der Gerichtshof zunächst auf seine Entscheidung im Fall „Marshall", in der er dargelegt hatte, eine Richtlinie könne nicht selbst Verpflichtungen für den einzelnen begründen. 56 Im strafrechtlichem Kontext entschied der Gerichtshof sodann erstmals ausdrücklich, daß die in Rede stehende Richtlinie „für sich allein und unabhängig von den zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen". 57

II. Der Fall „Kolpinghuis-Nijmegen" Die Frage, ob eine nicht fristgemäß umgesetzte Richtlinie zu einer Belastung des einzelnen führen kann, wurde kurz darauf in der vielbeachteten Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen" ungleich ausfuhrlicher behandelt. 58 Diese Entscheidung ist für 53 54

55 56

57 58

EuGH, Urteil vom 11.6.1987, Rs. 14/86, Ε 1987, 2545, 2547. So Generalanwalt Mancini in seinen Schlußanträgen, EuGH, Urteil vom 11.6.1987, Rs. 14/86, Ε 1987, 2545, 2563. EuGH, Urteil vom 11.6.1987, Rs. 14/86, Ε 1987, 2545, 2570. EuGH, Urteil vom 26.2.1986, Rs. 152/84, Ε 1986, 723, 737. Dieser Fall beschäftigte sich mit der unmittelbaren Wirkung zwischen Privaten, auch horizontale Richtlinienwirkung genannt, die vor allem für das Zivilrecht bedeutsam ist. EuGH, Urteil vom 11.6.1987, Rs. 14/86, Ε 1987, 2545, 2570. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969ff.

D. Die belastende Wirkung

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die Analyse des Richtlinienrechts aus strafrechtlicher Sicht von besonderem Interesse, da die ersten beiden Vorlagefragen des niederländischen Strafgerichts sie hier in Rede stehenden Problematik ansprachen. Das Gericht fragte zum einen, ob sich eine innerstaatliche Behörde, hier war es die Strafverfolgungsbehörde, zu Lasten der von ihrer Tätigkeit betroffenen Personen auf eine Bestimmung einer Richtlinie berufen könne, obwohl der betreffende Mitgliedstaat in seinen Rechts- und Verwaltungsvorschriften insoweit keine Regelung getroffen habe. Zum anderen legte es die Frage vor, ob ein innerstaatliches Gericht verpflichtet ist, die hierzu geeigneten Bestimmungen einer nicht durchgeführten Richtlinie auch dann unmittelbar anzuwenden, wenn der Betroffene keinen Anspruch aus diesen Bestimmungen herleitet.59 Der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund der Entscheidung ergibt sich aus einer Richtlinie, 60 die festlegt, unter welchen Voraussetzungen ein Getränk als „Mineralwasser" vertrieben werden darf. Nach Art. 4 der Richtlinie muß Mineralwasser aus einer Quelle gewonnen und darf bis auf den Entzug oder die Zufügung von Kohlensäure nicht weiter behandelt worden sein. Art. 15 der Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten vor, ihre Rechtsvorschriften entsprechend zu ändern und so anzuwenden, daß das Inverkehrbringen von Erzeugnissen, die der Richtlinie nicht entsprechen, vier Jahre nach Bekanntgabe der Richtlinie untersagt ist. Da die Richtlinie den Mitgliedstaaten am 17. Juli 1980 bekannt gegeben wurde, hätte das Verbot spätestens im Juli 1984 in Kraft treten müssen. Eine entsprechende niederländische Verordnung trat jedoch erst am 8. August 1985 in Kraft. Am 7. August 1984, also nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist und vor der Umsetzung in nationales Recht, stellte eine für die Wareninspektion zuständige Behörde fest, daß die Kolpinghuis Nijmegen BV in ihrem Betrieb ein für den Handel und den menschlichen Genuß bestimmtes Getränk unter der Bezeichnung „Mineralwasser" vorrätig hielt, das aus mit Kohlensäure versetztem Leitungswasser bestand, worauf die Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Kolpinghuis Nijmegen BV erhob. 61 Dabei stützte sie sich auf eine innerstaatliche Verordnung, nach der es verboten war, für den Handel und den menschlichen Genuß bestimmte Waren, die aufgrund ihrer Zusammensetzung fehlerhaft sind, zum Verkauf oder zur Lieferung vorrätig zu halten. 62 59 60 61

62

EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3971 a.E.f. Richtlinie 80/777/EWG vom 15.7.1980, Abi. Nr. L 229, S. 1. Bei der BV („Besloten vennootschap met beperkte aansprakelijkheid") handelt es sich um eine der deutschen Gesellschaft mit beschränkter Haftung vergleichbare juristische Person. In Abweichung zum deutschen Strafrecht ergibt sich aus § 51 des niederländischen Strafgesetzbuches die Möglichkeit der Strafbarkeit juristischer Personen, näher de Doelder, Madrid-Symposium, S. 311 f. Weitere Einzelheiten zum Sachverhalt in: EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3971.

18

1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Allein nach der Schilderung des Sachverhalts wird deutlich, daß dieser Fall unter einem weiteren Gesichtspunkt für die Untersuchung der Richtlinienwirkung im Strafrecht von Interesse ist. Es geht um das Ob und - bei Bejahung - um die Grenzen einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Strafrechts. Für den konkreten Fall stellte sich die Frage, ob im Wege der richtlinienkonformen Auslegung das von der Kolpinghuis Nijmegen BV gelagerte Getränk als „fehlerhaft" im Sinne der nationalen Vorschrift einzustufen war. Hinsichtlich der ersten beiden Vorlagefragen fällt das Urteil des Gerichtshofs eindeutig aus. Er weist zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung hin, nach der sich die einzelnen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen können, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in innerstaatliches Recht umsetzt. Diese Rechtsprechung beruhe auf der Erwägung, daß es mit der den Richtlinien durch Art. 249, ex-Art. 189 EGV zuerkannten Verbindlichkeit unvereinbar sei, grundsätzlich auszuschließen, daß sich betroffene Personen auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. 63 Diese Verbindlichkeit der Richtlinie bestehe aber nur für denjenigen Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird.64 Folglich könne eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für den einzelnen begründen, weshalb eine Richtlinienbestimmung als solche gegenüber dem einzelnen auch nicht in Anspruch genommen werden könne. Mithin sei auf die ersten beiden Vorlagefragen zu antworten, daß sich eine innerstaatliche Behörde nicht zu Lasten eines einzelnen auf eine Bestimmung einer Richtlinie berufen könne, deren erforderliche Umsetzung in innerstaatliches Recht noch nicht erfolgt sei.65 Der Gerichtshof hat damit eine belastende, die Strafbarkeit begründende Wirkung einer nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinie abgelehnt. Die dritte Vorlagefrage führt vor Augen, wie eine belastende unmittelbare Wirkung in verkappter Form im Zuge einer richtlinienkonformen Auslegung eintreten kann. Das niederländische Verbot, Getränke in fehlerhafter Zusammensetzung in Verkehr zu bringen, eröffnete die Möglichkeit, die Frage nach der Fehlerhaftigkeit anhand der Richtlinie zu beantworten. Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, alle Träger öffentlicher Gewalt und damit auch die Gerichte seien verpflichtet, nationale Vorschriften und insbesondere das zur Durchführung einer Richtlinie erlassene Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen, 66 63

64

65 66

EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3985 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53 ff. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3985 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 26.2.1986, Rs. 152/84, Ε 1986, 723 ff. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3985 a. Ε. f. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986.

D. Die belastende Wirkung

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womit der Gerichtshof allgemein auf die richtlinienkonforme Auslegung hingewiesen hat. Diese Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, finde jedoch ihre Grenze in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Teil des Gemeinschaftsrechts und insbesondere in dem Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot. 67 Mit dieser vorsichtigen Formulierung hat es das Gericht geschickt vermieden, in eine Prüfung und Auslegung der einschlägigen Vorschrift des niederländischen Rechts zu geraten und gleichwohl den Hinweis gegeben, daß das Gemeinschaftsrecht nicht danach verlangt, belastenden Richtlinieninhalten, die der Mitgliedstaat nicht in nationales Recht gegossen hat, über eine extensive Auslegung von Generalklauseln letztlich doch eine verkappte unmittelbare Wirkung zukommen zu lassen. Das Gericht hat also nicht nur die Möglichkeit verneint, die Strafbarkeit aus einer nicht umgesetzten Richtlinie herzuleiten, sondern zugleich dem Versuch der niederländischen Anklagebehörde eine Absage erteilt, ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal einer zur Tatzeit existierenden Norm des nationalen Rechts als Einfalltor mit der Folge einer im Ergebnis doch belastenden Wirkung der nicht umgesetzten Richtlinieninhalte zu benutzen.

III. Der Fall „Arcaro" Das Urteil im Fall „Arcaro" komplettiert dieses Gerüst der unmittelbaren Wirkung aus strafrechtlicher Sicht, weil diese Entscheidung der fehlerhaften Umsetzung einer Richtlinie galt.68 Italien hatte eine Richtlinie zwar formal umgesetzt, doch dem Mitgliedstaat war ein Fehler unterlaufen. Im nationalen Recht fehlte eine nach den Richtlinieninhalten vorzusehende Genehmigungspflicht, die ihrerseits strafrechtlich relevant war. In der Sache ging es um eine umweltrechtliche Genehmigung zur Ableitung von Cadmium. Italien hatte in das Umsetzungsrecht eine nicht richtlinienkonforme Differenzierung zwischen neuen und alten Betrieben aufgenommen und die Genehmigungspflicht für Altbetriebe von einer weiteren Ministerialverordnung abhängig gemacht, die jedoch auf sich warten ließ und zum Tatzeitpunkt noch nicht erlassen worden war.69 Im Ergebnis kam es zu einer nicht genehmigten und damit richtlinienwidrigen Ableitung von Cadmium durch den von Herrn Arcaro geleiteten Altbetrieb. 67 68 69

EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986. EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705 ff. Vgl. EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705,4721 ff.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Rechtstheoretisch ließe sich in einem solchen Fall der innerstaatliche Umsetzungsakt als Argument dafür anführen, den Fall der fehlerhaften Umsetzung von dem der kompletten Nichtumsetzung zu unterscheiden und eine belastende unmittelbare Wirkung zuzulassen. Aus der Umsetzungsaktivität des Mitgliedstaats wird regelmäßig ein Wille zur Herbeiführung eines richtliniengemäßen Rechtszustands herzuleiten sein. Etwaige Umsetzungsdefizite könnten durch die Heranziehung der entsprechenden Inhalte der Richtlinie geheilt werden. Damit weicht diese Fallkonstellation von der kompletten Nichtumsetzung ab und es stellt sich die Frage, ob eine strafrechtlich relevante Pflichtenbegründung denkbar ist. Die Antwort des Gerichtshofs im Fall „Arcaro" fallt eindeutig aus. Er prüft in der Entscheidung noch nicht einmal, ob die fraglichen Bestimmungen der Richtlinie hinsichtlich der Unbedingtheit und Genauigkeit die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen. Zur Begründung verweist er auf seine Rechtsprechung, nach der eine Richtlinie selbst nicht Verpflichtungen des einzelnen begründen und auch eine strafrechtliche Verantwortung nicht festlegen oder verschärfen kann. 70 Auch für den Fall der fehlerhaften Umsetzung läßt es der Gerichtshof mithin nicht zu, strafrechtlich relevante Pflichten aus nicht umgesetzten Richtlinieninhalten herzuleiten.

IV. Das Meinungsbild in der Literatur Die Literatur beantwortet die Frage, ob die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie die Strafbarkeit einer Person begründen kann, eindeutig. Trotz kontroverser Diskussion um die Tragweite der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien verläuft an dieser Stelle eine Grenzlinie, die nicht überschritten wird. Eine Richtlinie könne für sich allein und unabhängig von einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift insbesondere nicht die Wirkung haben, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen festzulegen oder zu verschärfen, die gegen die in der Richtlinie vorgesehenen Regelungen verstoßen haben. 7 ' Selbst Autoren, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion des Richtlinienrechts partiell 72 oder grundsätzlich 73 für eine den einzelnen belastende unmittelbare 70 71

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73

EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705, 4729f. Bach, JZ 1990; 1108, 1115 a.E.; Cramer, Triffterer-FS, S. 323, 333f.; Dannecker, Strafrecht der EG, S. 2025; Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 160; Hugger, NStZ 1993, 421 f.; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 65fT.; Pananis, Insidertatsache und Primärinsider, S. 80f.; Schölten, Tatortstrafbarkeit, S. 183; Sevenster, CML Rev. 1992, 29,42; Zuleeg, JZ 1992, 761, 765. Jarass, Grundfragen, S. 84f., für belastende Richtlinien mit begünstigender Drittwirkung. Zusammenfassender Uberblick zum Thema der unmittelbaren Wirkung von belastenden Richtlinienbestimmungen bei Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 381 ff. mwN. Emmert, EWS 1992, 56, 64ff.; Winter, DVB1. 1991, 657, 666.

D. Die belastende Wirkung

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Wirkung nicht fristgerecht umgesetzter Richtlinien einsetzen, wollen ihr Eintreten für eine Verpflichtungen begründende unmittelbare Wirkung nicht so verstanden wissen, daß damit eine Strafbewehrung der verpflichtenden Richtlinieninhalte einhergehen könnte. 74 Da der Gerichtshof die belastende, strafbarkeitsbegründende Wirkung einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie verneint, liegt somit die Schlußfolgerung nahe, belastende Richtlinieninhalte könnten den Bürger jedenfalls unter strafrechtlichen Gesichtspunkten erst dann treffen, wenn die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wurde.

V. Problemaufriß Angesichts des klaren Befundes in Rechtsprechung und Literatur erscheint die These, nach der eine belastende Wirkung einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie im Strafrecht gleichwohl denkbar ist, um so gewagter. Bei genauer Betrachtung besagt dieser Befund jedoch nur, daß der nicht umgesetzte, belastende Richtlinieninhalt nicht als Rechtssatz begriffen werden kann, der die Strafbarkeit begründet. Die Strafbarkeit einer Handlung kann mithin nicht einzig und allein aus einem Verstoß gegen ein in der Richtlinie umschriebenes Gebot oder Verbot abgeleitet werden. Wenn also eine nicht umgesetzte Arbeitsschutzrichtlinie dem nationalen Recht bisher unbekannte Regelungen zur Verhütung von Unfällen vorsieht, kann der Richtlinieninhalt für eine Prüfung der §§ 229, 13 StGB nicht herangezogen werden. Es genügt aber nicht, dieses Ergebnis zu konstatieren und daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, eine Wirkung zu Lasten einzelner im Strafrecht sei schlichtweg zu verneinen. Eine solche Sichtweise verliert die Verzahnung des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht aus den Augen. Gerade der Entscheidung im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" ist vielmehr ein in diesem Zusammenhang bedeutender Hinweis zu entnehmen: Der verbindliche Charakter einer Richtlinie besteht für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird. 75 Diese Rechtsverbindlichkeit der Richtlinie für ihre Adressaten 76 führt für den Fall der nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinie aus strafrechtlicher Sicht zu einem

74

75 76

Jarass, Grundfragen, S. 87; Emmert, EWS 1992,56,63, Fn. 74; Winter, DVB1. 1991,657,660. Unklar dagegen Richter, EuR 1988, 394ff., der die Entscheidung des EuGH im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" kritisiert und für die Möglichkeit einer Belastung des einzelnen eintritt, jedoch letztlich die Antwort schuldig bleibt, ob nicht umgesetzte Richtlinieninhalte die Grundlage für eine strafrechtliche Belastung sein können. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3985. Oppermann, Europarecht, Rn. 562.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

überraschenden Befund. Um die Überlegungen zu diesem Punkt zu führen, muß zunächst die durch Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV bewirkte Verpflichtung konkretisiert werden.

1. D i e V e r p f l i c h t u n g der Mitgliedstaaten Die Verpflichtung zur Umsetzung trifft den jeweiligen Adressaten der Richtlinie, also etwa die Bundesrepublik Deutschland als Rechtssubjekt des Gemeinschaftsrechts.77 Der Mitgliedstaat handelt zur Erfüllung der Verpflichtung durch seine Organe, die Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV als innerstaatliche Stellen bezeichnet und denen die Wahl der Form und der Mittel überlassen bleibt. Die innerstaatliche Zuständigkeit für ein entsprechendes Umsetzungsvorhaben richtet sich nach nationalem Recht. Die Richtlinie bedarf in aller Regel der rechtssatzförmigen Umsetzung. 78 Dabei sind wiederum innerstaatlich verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten, weshalb etwa die Umsetzung der zur innerstaatlichen Rechtsgestaltung verpflichtenden Richtlinien in der Bundesrepublik Deutschland dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, wenn es um eine für das Verhältnis von Staat und Bürger „wesentliche" Regelung geht.79 Eine im Einzelfall gegebene Berufungsmöglichkeit des einzelnen auf die unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienvorschriften befreit den Normgeber nicht von der Pflicht, auch diese Bestimmungen der Richtlinie nationales Recht werden zu lassen.80 Diese Skizze beschreibt aber nur einen Teil der von Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV ausgehenden Verpflichtungswirkung. Wie sich aus dem Wortlaut des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV die unmittelbare Wirkung von Richtlinien nicht zwanglos ergibt, so erschließt sich aus der Vorschrift ebensowenig die Verpflichtungsweite einer unmittelbar wirkenden Richtlinie. Dieser Gesichtspunkt verdient unter strafrechtlichen Aspekten besondere Beachtung. Nach der „Costanzo"-Entscheidung 81 des Gerichtshofs verpflichtet eine unmittelbar wirkende Richtlinienvorschrift alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und sonstigen Gebietskörperschaften. Der einzelne Marktbürger könne sich gegenüber diesen Institutionen auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen, 71 78

79 80

81

Scherzberg, Jura 1992, 572, 576. A. Weber, Durchführung, S. 13; zusammenfassend: Renke, EG-Richtlinien und Rechtsschutz, S. 31 ff. Scherzberg, Jura 1992, 572, 576. Gellermann/Szczekalla, NuR 1993; 54, 57; Klein, Everling-FS, 641, 643; A. Weber, Durchführung, S. 15. EuGH, Urteil vom 22.6.1989, Rs. 103/88, Ε 1989, 1839, 1862 ff.

D. Die belastende Wirkung

23

weil die Verpflichtungen, die sich aus diesen Bestimmungen ergeben, für alle Behörden der Mitgliedstaaten gelten.82 Der Gerichtshof ist noch einen Schritt weitergegangen und hat eine privatrechtlich organisierte Einrichtung, die kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringt, der Richtlinienbindung unterstellt. 83 Folglich kann der privatrechtlich handelnde Staat ebenso wie privatrechtliche Einrichtungen, die von ihm beherrscht werden, jedenfalls dann Adressat der unmittelbaren Wirkung sein, wenn öffentliche Aufgaben erfüllt werden. 84 Als durch Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV verpflichtete innerstaatliche Stellen sind also alle Organisationseinheiten anzusehen, die entweder öffentlichrechtlich organisiert sind oder aber in privatrechtlicher Form unter staatlicher Aufsicht Aufgaben im öffentlichen Interesse wahrnehmen. 85 Dabei beschränkt sich die Richtliniengebundenheit nicht nur auf das originäre Tätigkeitsfeld der innerstaatlichen Stelle. Diese Schlußfolgerung ist zu ziehen, wenn der Gerichtshof im Fall „Foster" die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie gegenüber dem Energieversorger „British Gas" bejahte, 86 obwohl der Richtlinieninhalt in keinem Zusammenhang mit der öffentlichen Aufgabe der Energieversorgung stand. 87 Es ging vielmehr um die unmittelbare Wirkung des Art. 5 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie. 88 Zur unmittelbaren Wirkung fähige Richtlinieninhalte können mithin in jeder rechtlichen Beziehung geltend gemacht werden. 89 Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV verpflichtet die innerstaatlichen Stellen also nicht nur, die ihnen bei der Umsetzung der Richtlinie zufallende Aufgabe zu

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EuGH, Urteil vom 22.6.1989, Rs. 103/88, Ε 1989, 1839, 1870f. Vgl. Winter, NuR 1991, 453; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 155, 189. Wie bereits erwähnt, deutet sich in dem „Großkrotzenburg"-Urteil, EuGH, Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995, 1-2189 ff., an, daß der Gerichtshof die behördliche Pflicht zur Beachtung von Richtlinienvorgaben nicht mehr nur mit dem Gedanken eines dem einzelnen günstigen Effekts verknüpft wissen will. Die europarechtliche Diskussion dieser Entscheidung dauert an. Siehe Gellermann, DÖV 1996, 433 ff., aber auch Steinberg, DÖV 1996, 221 ff. Siehe im einzelnen EuGH, Urteil vom 12.7.1990, Rs. C-188/89, Ε 1990,1-3343, 3348. Siehe auch die Schlußanträge des Generalanwalts Lenz in: EuGH, Urteil vom 14.7.1994, Rs. C-91/92, Ε 1994,1-3325, 3336. Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 650ff; Jarass, NJW 1991, 2665f. Hilf, EuR 1993, 1, 9. Siehe auch Götz, NJW 1992, 1849, 1856; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 152; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 236. EuGH, Urteil vom 12.7.1990, Rs. C-188/89, Ε 1990, ί 3313, 3343ff. ; Renke, EG-Richtlinien und Rechtsschutz, S. 43. Gellermann, Beeinflussung, S. 189. Richtlinie 76/207/EWG vom 9.2.1976, Abi. Nr. L 39, S. 40. Es geht dabei um die Gleichbehandlung beim Zugang zum Beruf. Gellermann, Beeinflussung, S. 189; Winter, DVB1. 1991, 657, 663.

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1. Hauptteil: D i e Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

erfüllen. Unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte verpflichten alle innerstaatlichen Stellen eines Mitgliedstaats, diese Inhalte in ihrem Bereich selbst zu verwirklichen. Auch wenn eine solche Stelle für die Umsetzung der Richtlinie nicht zuständig ist, so muß sie bei Ablauf der Umsetzungsfrist sie betreffende Richtlinieninhalte beachten. Die unmittelbare Richtlinienwirkung erschöpft sich folglich nicht in einem durch die „Berufung" aktiv wahrzunehmenden Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat für den Fall, daß ihn der Staat aufgrund einer Vorschrift in die Pflicht nehmen will, die mit einer nicht fristgemäß umgesetzten, unbedingten und hinreichend genauen Richtlinie im Widerspruch steht. Vielmehr haben die innerstaatlichen Stellen für ihren Bereich die einer solchen Richtlinie zu entnehmenden Handlungsgebote zu erfüllen, wenn die Gesetzgebungsorgane mit der Umsetzung des Richtlinieninhalts in Verzug geraten sind. Soweit also eine Richtlinie Arbeitgebern unbedingt und hinreichend genau bestimmte Pflichten auferlegt, so muß der „öffentliche" Arbeitgeber diesen Pflichten mit Ablauf der Umsetzungsfrist nachkommen. Damit ist bereits in die Richtung gewiesen, in der die Frage der strafrechtlichen Belastung einer unmittelbar wirkenden Richtlinie aktuell wird. Vor der Erörterung der Frage, ob und wie aus der Verpflichtung der innerstaatlichen Stellen eine strafrechtliche Verantwortung einzelner Personen folgen kann, soll aber noch die rechtstatsächliche Relevanz von Richtlinienvorgaben für die strafrechtliche Beurteilung der Nichtbefolgung eines Handlungsgebots am Beispiel des Arbeitsschutzrechts dargestellt werden. Denn die These, nach der eine strafrechtliche Belastung durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte denkbar ist, widerspricht derart der ganz vorherrschenden Meinung, daß diese Belastung möglichst konkret zu beschreiben ist. Das durch umfangreiche Aktivitäten der Gemeinschaft geprägte Arbeitsschutzrecht eignet sich dafür besonders gut, denn es zeigt, daß sich die Problematik der belastenden Wirkung von nicht umgesetzten Richtlinien im Strafrecht nicht nur aufgrund einer rechtstheoretischen Erwägung, sondern hier und jetzt stellt.

2. Arbeitsschutzrechtliche Richtlinienvorgaben Das Arbeitsrecht ist Gegenstand mannigfacher gemeinschaftsrechtlicher Regelungen geworden. 90 Für die Betrachtung arbeitsrechtlicher Richtlinienvorgaben aus strafrechtlicher Sicht ist zunächst auf ex-Art. 118a EGV hinzuweisen, auf dem die

90

Müller-Graff,

NJW 1993, 13, 15.

D. Die belastende Wirkung

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erlassenen Richtlinien beruhen. 91 Unter den in ex-Art. 118a Abs. 2 formulierten Voraussetzungen ermächtigte diese Vorschrift des Primärrechts den Rat, durch Richtlinien Mindestvorschriften einzuführen. 92 Auf dieser Grundlage wurde damit begonnen, den betrieblichen Arbeitsschutz planmäßig und umfassend zu regeln. Das Kernstück dieser Richtlinienpolitik bildet die Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 93 von 1989, die auch als „Grundgesetz" für den betrieblichen Arbeitsschutz bezeichnet wird, da sie die grundlegenden Pflichten der Arbeitgeber und die Pflichten und Rechte der Beschäftigten festlegt. 94 Im Gefolge der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie wurden sodann weitere Richtlinien geschaffen, die sich Teilbereichen des Arbeitsschutzes widmen und für die gemäß Art. 16 Abs. 3 der Rahmenrichtlinie deren Bestimmungen gelten.95 Aus den zahlreichen Einzelrichtlinien seien hier exemplarisch nur die über das Arbeiten an Bildschirmarbeitsplätzen 96 , zum Schutz der Lendenwirbelsäule beim Tragen schwerer Lasten 97 , über die Benutzung von Arbeitsmitteln 98 und über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz auf zeitlich begrenzten oder ortsveränderlichen Baustellen 99 genannt. Eine Durchsicht dieses Richtlinienwerks offenbart, daß die als „Mindestvorschriften" deklarierten Vorgaben dezidiert ausfallen, indem zahlreiche Anforderungen katalogartig in Anhängen aufgelistet werden. 100 Inhaltlich werden teilweise hohe Sicherheitsanforderungen gestellt. So wird für Bauarbeiten innerhalb von Räumen vorgesehen, daß Fußböden keine Unebenheiten, Löcher oder gefährliche Neigungen aufweisen dürfen. 101 Für Bildschirmarbeitsplätze werden Mindestmerkmale der Tastatur, des Arbeitsstuhls oder der Arbeitsplatzumgebung vorgegeben.102 Das manuelle Tragen schwerer Lasten ist nach Art. 3 Abs. 1 der entsprechenden 91

92

93 94 95

96 97 98 99 100 101

102

Hinweis: Die sozialpolitischen Regelungen der ex-Art. 117 EGV wurden geändert und sind nach dem Vertrag von Amsterdam nunmehr - bei wesentlichen Änderungen des Wortlauts Art. 136 ff. EGV zu entnehmen. Ex-Art. 118 a EGV ist in dem umfangreicheren Art. 137 EGV aufgegangen. Als Rechtsgrundlage wäre heute Art. 137 Abs. 1 und Abs. 2 EGV einschlägig. Für diese Untersuchung ergeben sich dadurch keine Änderungen. Richtlinie 89/391/EWG vom 12.6.1989, Abi. Nr. L 183, S. 1 ff. Wlotzke, N Z A 1990,417, 419, ders. N Z A 1994, 602, 603; Birk, Wlotzke-FS, 645ff. Zusammenstellung von dreizehn Einzelrichtlinien bei: Kollmer, NZA 1997, 138, 139f., der zugleich die Umsetzung von vier Richtlinien beispielhaft erörtert. Richtlinie 90/270/EWG vom 29.5.1990, Abi. Nr. L 156, S. 14. Richtlinie 90/269/EWG vom 29.5.1990, Abi. Nr. L 156 S. 9. Richtlinie 89/655/EWG vom 30.11.1989, Abi. Nr. L 393, S. 13. Richtlinie 92/57/EWG vom 24.6.1992, Abi. 1992 Nr. L 245, S. 6. Siehe nur Anhang I-IV der Richtlinie 92/57/EWG vom 24.6.1992, Abi. Nr. L 245, S. 6, 11 ff. Anhang IV, Teil B, Abschnitt I, Ziffer 6.1. der Richtlinie 92/57/EWG vom 24.6.1992, Abi. Nr. L 245, S. 6ff. Gemäß Art. 9 a) dieser Richtlinie haben die Arbeitgeber Maßnahmen zu ergreifen, die mit diesen Mindestvorschriften des Anhangs IV übereinstimmen. Siehe den Anhang der Richtlinie 89/391/EWG vom 29.5.1990, Abi. Nr. L 156, S. 14, 17f.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Richtlinie zu vermeiden. Ist es unvermeidbar, muß der Arbeitgeber am Anhang I der Richtlinie orientierte Maßnahmen ergreifen, um die Gefahrdung gering zu halten und gemäß Art. 4 den Arbeitsplatz entsprechend gestalten. 103 Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie finden die Richtlinienvorgaben auch für öffentliche Tätigkeitsbereiche Anwendung, womit über Art. 16 Abs. 3 auch die Einzelrichtlinien für öffentliche Arbeitgeber gelten. 104 In der Bundesrepublik Deutschland sollte das Richtlinien werk 1994 in nationales Rechts umgesetzt werden, 105 wobei die Rahmenrichtlinie als formelles Arbeitsschutzgesetz und die Einzelrichtlinien in der Form der Rechtsverordnung umgesetzt werden sollten.106 Obwohl schon zu dieser Zeit die Umsetzungsfristen zahlreicher Richtlinien abgelaufen waren, 107 scheiterte das Gesetzesvorhaben und es kam erst im Sommer 1996 zu der Umsetzung der Rahmenrichtlinie in nationales Recht. 108 Der ursprünglichen Konzeption folgend, wurde sodann damit begonnen, die Einzelrichtlinien in Gestalt von Rechtsverordnungen in innerstaatliches Recht umzusetzen. 109 Der Detaillierungsgrad der Einzelrichtlinien läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß es sich überwiegend um hinreichend bestimmte, unbedingte, den Arbeitnehmer begünstigende Richtlinienvorgaben im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt. Bedenkt man ferner, daß die Träger öffentlicher Gewalt für ihren Bereich die einer Richtlinie zu entnehmenden Handlungsgebote zu erfüllen haben, wenn die Gesetzgebungsorgane mit der Umsetzung des Richtlinieninhalts in Verzug geraten sind, dann kommt es für die Frage, ob die Arbeitsschutzvorgaben zu beachten sind, nicht darauf an, daß ein Arbeitnehmer seine Rechte geltend macht. Sie sind zu beachten. Götz spricht anschaulich von einer Spaltung der arbeitsrechtlichen Rechtslage in den richtliniengebundenen öffentlichen Sektor und den nicht richtliniengebundenen Privatsektor. 110 103

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105 106 107

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Siehe Richtlinie 90/269/EWG vom 29.5.1990, Abi. Nr. L 156, S. 9ff. Der Anhang I 3. stellt dezidierte Anforderungen an die Arbeitsumgebung, insbesondere den Boden. Richtlinie 89/391/EWG vom 12.6.1989, Abi. Nr. L 183, S. 1. Auf den Ausnahmetatbestand des Art. 2 Abs. 2, der den Besonderheiten bestimmter Bereiche (ζ. B. Polizei, Streitkräfte) Rechnung trägt, sei hier nur hingewiesen. Siehe BT-Dr. 12/6752 vom 3.2.1994; dazu Wlotzke, NZA 1994, 602ff. Näher Wlotzke, N Z A 1994, 602, 606. Siehe nur Art. 18 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie 89/391/EWG vom 12.6.1989, Abi. Nr. L 183, S. 1 ff., der eine Frist bis zum 31.12.1992 vorsieht oder Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie über das Tragen schwerer Lasten, Richtlinie 90/269/EWG vom 29.5.1990, Abi. Nr. L 156 vom 21.6.1990, S. 9, die ebenfalls bis zum 31.12.1992 umzusetzen gewesen wäre. Die Umsetzung erfolgte im Rahmen eines Artikelgesetzes, siehe „das Gesetz zur Umsetzung der EG-Richtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtlinien" vom 7.8.1996, BGBl. I, S. 1246. Vgl. dazu auch Achenbach, Prävention von Unfällen, S. 98f.; Wlotzke, NZA 1996, 1017 fr. Siehe nur Kollmer, NZA 1997, 138 ff. Götz, NJW 1992, 1849, 1856.

D. Die belastende Wirkung

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Es damit ein Punkt erreicht, an dem die Ausgangsfrage nach einer strafrechtlichen Belastung durch eine unmittelbar wirkende Richtlinie zu reflektieren ist. Das trotz fehlender Umsetzung der Richtlinien aus dem Gemeinschaftsrecht herzuleitende Handlungsgebot ist auf seine strafrechtliche Relevanz zu untersuchen, die sich daraus ergibt, daß die Mißachtung der Arbeitsschutzvorgaben einer Richtlinie als fahrlässiges Handeln oder die Nichtvornahme einer gebotenen Handlung strafrechtlich als Unterlassung von Bedeutung sein könnte. Um dem nachzugehen, bietet sich wiederum das Arbeitsschutzrecht zur Konkretisierung der Thematik an, zumal anhand dieser Rechtsmaterie der Nachweis zu führen ist, daß die Frage eines belastenden Effekts einer nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinie nicht etwa nur im Nebenstrafrecht auflebt, sondern auf klassische Bereiche des Kernstrafrechts einwirkt.

3. Der Einfluß von Arbeitsschutzvorschriften im Strafrecht Die Verbindung des Arbeitsschutzrechts mit dem Strafrecht läßt sich grob in zwei Fallgruppen unterteilen. Der erste Komplex folgt aus der Straf- und Bußgeldbewehrung der zahlreichen spezialgesetzlich normierten Handlungspflichten und Kontrollbefugnisse.111 Der zweite Bereich entspringt einer Verflechtung mit dem Kernstrafrecht, die mit Rücksicht auf die unmittelbare Wirkung nähere Aufmerksamkeit verdient. a. Arbeitsschutzvorschriften als Fahrlässigkeitsmaßstab Nach Arbeitsunfällen sind es vor allem die Straftatbestände der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB und der fahrlässigen Körperverletzung nach § 229 StGB, welche mißachtet worden sein und strafrechtliche Verantwortung begründen können.112 Bei der Prüfung, ob dem Täter der eingetretene Erfolg zuzurechnen ist, gewinnen außerstrafrechtliche Sondernormen wie Verkehrsregeln und Unfallverhütungsvorschriften" 3 bis zu technischen Normen 114 besondere Bedeutung. Allgemein und unabhängig von der Fallgruppe der Arbeitsschutzvorschriften wird ganz überwiegend vertreten, daß das Sorgfaltsgebot des Kernstrafrechts und das der außerstrafrechtlichen Sorgfaltsnorm unabhängig voneinander sind,115 wo1 1

'

112 113

114 115

Siehe dazu Achenbach, Prävention von Unfällen, S. 111 ff. Herzberg, D B 1981, 690, 691; K. Tiedemann, Miyazawa-FS, S. 673, 682. Freund, AT, § 5 Rn. 56; Frisch, Zurechnung des Erfolgs, S. 91; Otto, E. A. Wolff-FS, S. 395, 414. Lenckner, Engisch-FS, S. 490fT. BGHSt 4, 182, 184; 12, 78; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, S. 52ff.; Dannecker, ZLR 1993, 251, 269; Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, S. 114 ft

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1. Hauptteil: D i e Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

bei sich die außerstrafrechtlichen Sorgfaltstatbestände in Rechtsnormen und Verkehrsnormen aufspalten lassen.116 Die Überschreitung der allgemein zur Gefahrvermeidung erlassenen Sondernorm 117 führt somit nicht denknotwendig zur Bejahung des strafrechtlich relevanten Sorgfaltsverstoßes. Dieser ist nicht im Sinne einer mathematisch zu ermittelnden Summe zu verstehen, die sich aus einer Addition des Erfolges und der Mißachtung der Sondernorm ergibt. Die Vielfalt und unterschiedlichen Schutzzwecke der Sondernormen lassen diesen Schluß nicht zu, wenngleich sie sich anschaulich als Indikator für einen strafrechtlich relevanten Normverstoß bezeichnen lassen." 8 Hat die Sorgfaltsnorm die Qualität eines Rechtssatzes, so genügt im Normalfall die Übertretung dieser Rechtsnorm, die eine Verhinderung des eingetretenen Erfolgs bezweckt, um die Schaffung einer unerlaubten Gefahr oder eines unerlaubten Risikos zu bejahen. 119 Das Problem stellt sich ähnlich, wenn man in der Fahrlässigkeitsdogmatik von vornherein nicht bei der objektiven Sorgfaltspflicht ansetzt, sondern den Faden bei der Voraussehbarkeit eines Risikos, das außerhalb des erlaubten liegt, aufnehmen will.120 Bei der Bestimmung dessen, was subjektiv vorhersehbar war, werden wiederum die für den Einzelfall einschlägigen Vorschriften relevant.121 Für das hier gewählte Beispiel des Arbeitsschutzrechtes ist die aus einem Verstoß gegen Sicherheitsvorschriften folgende Indizwirkung allgemein anerkannt. 122 Das gilt auch für das umgesetzte „europäische Arbeitsschutzrecht", auf dessen strafrechtliche Bedeutung in der Literatur bereits hingewiesen wurde. Werde ein Beschäftigter im Zusammenhang mit einer Zuwiderhandlung gegen eine Vorschrift des Arbeitsschutzgesetzes oder einer auf dem Arbeitsschutzgesetz beruhenden Rechtsverordnung geschädigt, komme eine Bestrafung des Arbeitgebers wegen einer Körperverletzung in Betracht. 123 Mit Blick auf eine mögliche Verantwortlichkeit 116 117

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121 122

123

C. Roxin, AT, § 24 Rn. 14 ff. Gemeint sind damit im Anschluß an Bohnert, JR 1982, 6, z.B. technische Normen oder Regeln der Technik ohne Rechtssatzqualität; siehe auch Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, S. 114; Lenckner, Engisch-FS, S. 490 ff, Satzger, Europäisierung, S. 609 f. Köhler, Strafrecht, S. 185. C. Roxin, AT, § 24 Rn. 17. Für den Fall, daß eine Sorgfaltsnorm mit Rechtssatzqualität ein Verhalten erlaubt oder verbietet, wird darin teilweise eine strikte Festlegung des strafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabes erblickt, so etwa Herzherg, Arbeitsschutz und Unfallverhütung, S. 159 ff.; Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, S. 116. Jakobs, AT, 9/5 ff. iVm 7/42 ff. Auch hier findet in der Sache eine an der Normqualität orientierte Abstufung bis zur „Indizwirkung" statt, siehe Jakobs, AT 7/44. Vgl. Bohnert, JZ 1982, 6, 10. RGSt 16, 290, 291; 22, 173, 174; Herzberg, D B 1981, 690, 693; Otto, E. A. Wolff-FS, S. 395, 414; C.-P. Schmidt, Verantwortlichkeit für Arbeitsunfälle, S. 86. Kollmer, Das neue Arbeitsschutzgesetz, Rn. 315.

D. Die belastende Wirkung

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wegen fahrlässiger Körperverletzung wurde dieser Gedanke am Beispiel der Bildschirmrichtlinie explizit wiederholt.124 Angesichts der außerordentlichen Regelungstiefe und des Detaillierungsgrades von Richtlinienvorgaben im Arbeitsschutzrecht wird in der Zukunft zur Vermeidung uferloser Strafbarkeiten die Aktivierung eingrenzender Merkmale des Fahrlässigkeitstatbestandes (Vermeidbarkeit, Vorhersehbarkeit, individuelle Sorgfaltspflichtverletzung) an Gewicht gewinnen.125 An der generell zu bejahenden Bedeutung des Arbeitsschutzrechts für §§ 222, 229 StGB ändert das jedoch nichts. Da es dem Arbeitsschutzrecht gerade um Gesundheit und Leben der Arbeitnehmer geht, ist vorbehaltlich der Zurechnungsprobleme des Einzelfalls die grundsätzliche Relevanz dieser Vorschriften für die in ihrer Schutzrichtung verwandten Tatbestände der fahrlässigen Körperverletzung und der fahrlässigen Tötung gegeben.126 Folgt man dieser Aussage, so schließt sich der Kreis zum Problem der strafbarkeitsbegründenden Wirkung einer in ihrer Umsetzungsfrist abgelaufenen Richtlinie. Die Prüfung der strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung knüpft an die Vorschriften zur Arbeitssicherheit an, die der Täter im Zeitpunkt der Tat zu beachten hatte. Die Arbeitsschutzrichtlinien galten von Anfang an auch für die gesamte öffentliche Verwaltung und stellten den öffentlichen Dienst vor die Aufgabe der Umsetzung. 127 Wenn nun nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die „innerstaatlichen Stellen" im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV die Arbeitsschutzrichtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist einzuhalten haben, legen eben die unmittelbar wirkenden Bestimmungen dieser Richtlinien auch arbeitsschutzrechtliche Pflichten fest. Daraus ergibt sich zwanglos die Frage, wie das Strafrecht mit diesen richtlinienbedingten Pflichten umgehen soll. Für die strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung bei Arbeitsunfällen im Bereich der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte ist an dieser Stelle somit die Möglichkeit einer strafrechtlichen Belastung infolge der unmittelbaren Wirkung von Arbeitsschutzrichtlinien zu resümieren. b. Arbeitsschutzvorschriften und Garantenpflichten Arbeitsschutzvorschriften werden aber nicht nur bei der strafrechtlichen Bewertung der unmittelbar rechtsgutschädigenden Handlung herangezogen. Werden Schutzvorschriften an der Arbeitsstätte nicht oder nur unzulänglich beachtet, so kann darin bei Eintritt eines darauf beruhenden Erfolges eine vorsätzliche oder fahr124 125 126

127

Kollmer, NZA 1997, 138, 142. Thomas, NJW 1991, 2233, 2237. Achenbach, Prävention von Unfällen, S. 117; K. Tiedemann, Das deutsche Wirtschaftsstrafrecht, S. 67, 73 a. E. Leisner, Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst, S. 6f.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren W i r k u n g im Strafrecht

lässige Unterlassungstäterschaft gemäß §§ 222,229,13 StGB desjenigen liegen, dem die Sicherungspflicht oblag.128 An erster Stelle ist der Arbeitgeber zu nennen. Dessen umfassender Einwirkungsund Weisungsmacht entspricht strafrechtlich die Garantenpflicht, seinen Herrschaftsbereich so abzusichern, daß sich daraus für Dritte, insbesondere auch für die Arbeitnehmer, 129 keine Gefahren ergeben.130 Er wird als sogenannter Überwachergarant angesehen, 131 wobei sich im Einzelfall und in größeren Unternehmen regelmäßig weitere Garantenstellungen im Wege der Delegation bei Führungspositionen und Tätigkeiten mit arbeitsschutzrechtlichen Bezügen ergeben können. 132 Der Grund für diese Garantenpflicht aus der Überwachung von Gefahrenquellen im eigenen Herrschaftsbereich liegt in dem Vertrauen der Umgebung des Garanten darauf, daß derjenige, der die Verfügungsgewalt oder Kontrolle über einen räumlich abgegrenzten Bereich ausübt, welcher anderen offensteht oder aus dem auf andere in gefahrlicher Weise eingewirkt werden kann, die Gefahren beherrscht, die von Maschinen, Anlagen oder Einrichtungen in oder von diesem Bereich ausgehen können. 133 Bei Arbeitsverhältnissen wird teilweise unter Hinweis auf §§ 617, 618 BGB der Grund für die Garantenpflicht in der aus dem Arbeitsvertrag herrührenden Pflicht des Arbeitgebers zur Fürsorge für Leben und Gesundheit erblickt. 134 § 3 Abs. 1 ArbSchG verpflichtet den Arbeitgeber nunmehr, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen. Darin wird für die dem Anwendungsbereich des Gesetzes unterfallenden Arbeitsverhältnisse eine Normierung der Garantenstellung zu erblicken sein. Unabhängig davon, ob die Garantenstellung nun aus dem Arbeitsvertrag, dem Gedanken der Herrschaft über eine Gefahrenquelle oder aus dem Gesetz abgeleitet wird, besteht im Ergebnis kein Streit darüber, daß dem Arbeitgeber eine auf die Gesundheit der Arbeitnehmer bezogene Garantenstellung zur Sicherung des Betriebes zufallt, wobei die sich hieraus ergebenden Pflichten durch Arbeitsschutznormen konkretisiert und greifbar werden. 135 Schließlich kann die eigentliche 128 129

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134 135

Stockei, Strafschutz der Arbeitskraft, S. 168. BayObLG, G A 1955, 272ff.; Brammsen Die Entstehungsvoraussetzungen von Garantenpflichten, S. 273. Herzberg, D B 1981, 690, 692; siehe auch Otto, Jura 1998, 409,411. Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen von Garantenpflichten, S. 235ff.; 272f.; Herzberg, Arbeitsschutz und Unfallverhütung, S. 229f.; ders. D B 1981, 690, 692f.; Stockei, Strafschutz der Arbeitskraft, S. 169 f. Näher Benz, BB 1991, 1185ff.; Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 97f., 107. Jescheck in: LK, § 13 Rn. 35. Siehe ferner Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 169, 177; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 119; Stree in: SchönkeSchröder, § 13 Rn. 43; Rudolphi in: SK-StGB, § 13 Rn. 35 a. BayObLG, GA 1955, 272 fT.; Eidam, Unternehmen und Strafe, S. 127. Vgl. Eidam, Unternehmen und Strafe, S. 127 und Herzberg, DB 1981, 690, 692f.

D. Die belastende Wirkung

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Schutzvorschrift selbst einen bestimmten Personenkreis in die Pflicht nehmen und so als Begründung einer Garantenstellung mit einhergehender Umschreibung der Pflicht dienen. 136 aa. Modifizierung des Maßstabs bei öffentlichen Arbeitgebern Hat demnach der Arbeitgeber die für seinen Betrieb geltenden Schutzvorschriften zu beachten und dienen diese Vorschriften als Maßstab zur Beantwortung der Frage, ob beispielsweise eine fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht kommt, so schließt sich die Frage an, ob ein nicht fristgemäß umgesetztes Richtlinienwerk zum Arbeitsschutz Einfluß auf die strafrechtliche Beurteilung eines solchen Falles haben kann. Es ist zu prüfen, ob der rechtliche Kontext, anhand dessen die Frage der fahrlässigen Unterlassungstäterschaft untersucht wird, durch ein nicht umgesetztes Richtlinienwerk bei bestimmten Tätergruppen eine Modifizierung erfahrt. Geht man auf der Grundlage der dargelegten Auffassung des Gerichtshofs davon aus, der öffentliche Arbeitgeber habe die Richtlinienvorgaben zu befolgen, so liegt die Schlußfolgerung nahe, diese Pflicht könne die strafrechtliche Haftung aus § 13 StGB auslösen. Gleiches gilt für privatrechtlich organisierte Unternehmen, die vom Staat beherrscht werden und jedenfalls dann Adressat der unmittelbaren Wirkung sind, wenn öffentliche Aufgaben erfüllt werden. bb. Die strafrechtliche Haftung einzelner Personen Zur Vervollständigung des Gedankengangs bedarf es noch der Darlegung, wie die Brücke von der beschriebenen Handlungspflicht der innerstaatlichen Stelle im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV zur strafrechtlichen Verantwortung einzelner Personen zu schlagen ist. Soweit es sich bei einem Straftatbestand um ein Sonderdelikt handelt, die Strafnorm also eine bestimmte Täterrolle wie die des Arbeitgebers in § 266 a StGB voraussetzt, erfolgt die Zurechnung über § 14 StGB.137 Bei den Allgemeindelikten, die keine besondere Täterqualifikation voraussetzen, bedarf es dieser Zurechnungsvorschrift grundsätzlich nicht. Die Täterschaft ist anhand der allgemeinen Regeln nach § 25 StGB zu prüfen. 138 Im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte, also der hier mit Blick auf den Arbeitsschutz in Rede stehenden §§ 222, 229 StGB, trifft den Vertreter im Sinne des § 14 StGB nach vorherrschender Meinung eine eigene Garantenstellung, 136 137

138

Siehe § 13 Abs. 1 Nr. 5 ArbSchG. Achenbach in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 3 Rn. 37ff.; ders., Coimbra-Symposium, S. 283, 285; Otto, Jura 1998, 409, 410; Schall, Probleme der Zurechnung, S. 99, 121; Schroth, Unternehmen als Normadressaten, S. 28. Achenbach, JuS 1990, 601, 602; Otto, Jura 1998, 409, 410.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

die seine strafrechtliche Verantwortlichkeit unmittelbar selbst begründet. 139 Im Fall der Delegation von Herrschafts- und Verantwortungsbereichen steht die strafrechtliche Verantwortung weiterer Personen in Frage. Dabei wird im Rahmen der §§ 222, 229 StGB in der Pflichtenübertragung wiederum die Begründung einer eigenen Garantenstellung erblickt,140 während teilweise § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB zur Begründung der Garantenstellung bemüht wird.141 Diese Differenzierung führt für den hier untersuchten Bereich jedoch nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen, da gemäß § 14 Abs. 2 Satz 3 StGB die Grundsätze des § 14 Abs. 2 Satz 1 StGB für den Bereich der öffentlichen Verwaltung gelten.142 Soweit in einer Behörde, was regelmäßig über Geschäftsverteilungspläne erfolgt, der Bereich der Arbeitsorganisation und Arbeitssicherheit in den Verantwortungsbereich einzelner Personen delegiert wird, ergibt sich folglich entweder aus dieser Zuständigkeit, 143 jedenfalls aber über § 14 Abs. 2 Satz 3 StGB, eine Garantenstellung des Bediensteten. cc. Die Bedeutung der Entscheidung des Gerichtshofs im Fall „Telecom Italia" Angesichts der Vielzahl von Richtlinien, die das Arbeitsschutzrecht zum Gegenstand gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierungsschritte machen, war es nur eine Frage der Zeit, wann der Gerichtshof mit einem strafrechtsspezifischen Problem konfrontiert werden würde, das sich aus der Verzahnung des Strafrechts mit dem Arbeitsschutzrecht ergibt. Ausgangspunkt war ein von italienischen Strafverfolgungsbehörden geführtes Strafverfahren gegen Unbekannt. 144 In Italien war die EG-Bildschirmrichtlinie 145 durch ein Dekret umgesetzt worden, das die Einhaltung des nationalen Umsetzungsrechts mit Strafnormen flankierte. 146 Die Problematik des italienischen Rechts be139

140 141 142 143 144

145 146

Blauth, Handeln für einen anderen, S. 114ff.; Bruns, G A 1982, 1, 24; Lenckner in: SchönkeSchröder, § 14 Rn. 6; Samson in: SK-StGB, § 14 Rn. 2 b. Im einzelnen Str., siehe Schünemann in: LK, § 14 Rn. 25. Herzberg, D B 1981, 690, 693. Benz, BB 1991, 1185, 1188. Marxen in: N K , § 14 Rn. 65. Vgl. auch Schünemann, Grund und Grenzen, S. 297 Fn. 78. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609 ff. Vom Gerichtshof werden Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt als „Strafverfahren gegen X" bezeichnet. Um Verwechselungen auszuschließen, wird diese Entscheidung hier als der Fall „Telecom Italia" bezeichnet, da es sich bei den Tatverdächtigen um noch nicht namentlich benannte Mitarbeiter der Telecom Italia handelte. Richtlinie 90/270/EWG vom 29.5.1990, Abi. Nr. L 156, S. 14. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996, 1-6609, 6631. Den Schlußanträgen des Generalanwalts Colomer, ebenda 1-6619 a. E.f., ist zu entnehmen, daß den Verantwortlichen Freiheits- bzw. Geldstrafen drohten. Siehe zum deutschen Umsetzungsrecht die Strafnorm in § 26 ArbSchG.

D. Die belastende Wirkung

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stand in einer unvollständigen Umsetzung der Richtlinienvorgaben. Es blieb hinter den Standards der Richtlinie zurück. 147 U m einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens bescheiden zu können, stellten sich dem italienischen Ermittlungsrichter Auslegungsfragen, die er dem Gerichtshof vorlegte. D e r Gerichtshof nimmt diese Vorlage zum Anlaß, um grundsätzlich zum Prinzip gesetzlicher Bestimmtheit Stellung zu nehmen: „Insbesondere in bezug auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens, in dem es um den Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geht, die sich aus speziell zur Durchführung einer Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften ergibt, ist festzustellen, daß der Grundsatz, wonach ein Strafgesetz nicht zum Nachteil des Betroffenen extensiv angewandt werden darf, der aus dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen und, allgemeiner, dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, es verbietet, die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Dieser Grundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, ist auch in verschiedenen internationalen Verträgen verankert, u.a. in Art. 7 EMRK (...). Daher ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, bei der Auslegung des zur Durchführung der Richtlinie erlassenen nationalen Rechts unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie für die Einhaltung dieses Grundsatzes zu sorgen." 148 D a s Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit von Strafnormen ist damit klar und eindeutig als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts eingestuft worden. 149 Diese bedeutende Entscheidung des Gerichtshofs betrifft zwar in erster Linie die im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch zu erörternde richtlinienkonforme Auslegung des Strafrechts, doch es ist zu prüfen, ob ihr auch für die hier entwickelte Thematik möglicher belastender Folgen der unmittelbaren Wirkung Bedeutung zukommen könnte. Denn der Gerichtshof erteilt unter Berufung auf das Gesetzlichkeitsprinzip dem Versuch eine Absage, das hinter dem Richtlinienrecht zurückgebliebene nationale Recht im Wege der Auslegung so auszudehnen, daß letztlich nicht umgesetzte Richtlinienvorgaben herangezogen oder vom Mitgliedstaat nicht wahrgenommene Gestaltungsspielräume durch eine Auslegung der Richtlinie ausgefüllt werden. 147

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Siehe im einzelnen die Schlußanträge des Generalanwalts Colomer in EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6614ff. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6637. In diesem Sinne schon EuGH, Urteil vom 10.7.1984, Rs. 63/83, Ε 1984, 2689, 2718; zusammenfassend Hammer-Strnad, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz, S. 61 ff. Hammer-Strnad, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz, S. 71 f.; Szczekalla in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 11 Rn.10, 41, mwN aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Gleichwohl enthält diese Entscheidung für die hier aufgeworfene Problematik keine weiterführenden Erkenntnisse, weil der Fall „Telecom Italia" anders liegt. Wenn der Gerichtshof auf einen etwaigen belastenden Effekt der unmittelbaren Wirkung in ihrer hier problematisierten Bedeutung nicht eingeht, so waren dafür mehrere Gründe ausschlaggebend. Der erste Grund liegt in der Formulierung der Vorlagefragen, die sich nur auf die Auslegung von Inhalten der Richtlinie und nicht auf eine etwaige unmittelbare Wirkung bezogen.150 Ferner hielt der Gerichtshof einen Teil der Richtlinienvorgaben für so unbestimmt, daß sie ihm im strafrechtlichen Kontext noch nicht einmal als Auslegungshilfe genügten. 151 Dann sind sie erst recht nicht fähig, unmittelbar zu wirken. Schließlich bezog sich der Gerichtshof mit seinen Ausführungen zum Gesetzlichkeitsprinzip auf eine strafrechtliche Verantwortlichkeit, die sich aus zur Durchführung einer Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften ergeben könnte. Dabei geht es um Strafnormen, die das Umsetzungsrecht als solches schützen und im Zuge der Richtlinienumsetzung geschaffen werden. In Deutschland wäre das im Fall der EG-Bildschirmrichtlinie der Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 25 Abs. 1 Nr. 1 ArbSchG in Verbindung mit § 7 Bildschirmarbeitsverordnung. 152 Darum dreht es sich bei der hier dargelegten Problematik jedoch nicht. Das Problem sitzt versteckter. Es geht um die strafrechtliche Verantwortlichkeit, die sich ζ. B. aus der Nichtbeachtung von Unfallverhütungsvorschriften ergeben kann, die von Amts wegen von den innerstaatlichen Stellen im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen sind. Gesetzliche Grundlage einer Verurteilung in derartigen Fällen wären nicht wie im Fall „Telecom Italia" speziell zur Durchführung der Richtlinie erlassene Strafvorschriften, sondern ζ. B. § 229 StGB oder §§ 229,13 StGB, die direkt oder indirekt an außerstrafrechtliche Pflichtenstellungen anknüpfen. Es geht mithin nicht um die Wahrung des Gesetzlichkeitsprinzips bei der „Auslegung des zur Durchführung der Richtlinie erlassenen nationalen Rechts". Schließlich könnte die Lösung noch in einer Formulierung zu suchen sein, die eine Grundaussage der „Kolpinghuis Nijmegen"-Entscheidung über die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wiederholt: 153 „Diese Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt einer Richtlinie abzustellen, hat 150

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Vgl. die Schlußanträge des Generalanwalts Colomer, EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-l29/95, Ε 1996,1-6609, 6614f. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-l29/95, Ε 1996, 1-6609, 6638. Auf diese Urteilspassage wird im Zuge der Untersuchung der richtlinienkonforme Auslegung des Strafrechts im 5. Hauptteil dieser Untersuchung noch einzugehen sein. Vgl. Kollmer, NZA 1997, 138, 142. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-l29/95, Ε 1996, 1-6609, 6636.

D. Die belastende Wirkung

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jedoch ihre Grenzen, wenn eine solche Auslegung dazu führt, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Bestimmungen der Richtlinie verstoßen, auf der Grundlage der Richtlinie und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften zu begründen oder zu verschärfen (...)."

Unter Berufung auf dieses Zitat könnte man argumentieren, daß ζ. B. die Berücksichtigung einer Arbeitsschutzvorschrift im Rahmen einer Prüfung des § 229 StGB die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne dieses Zitats begründet. Das ist aber schon fraglich, weil die Garantenstellung des Arbeitgebers ohnehin gegeben ist und nicht durch die Richtlinie begründet wird. Indes kommt es darauf im einzelnen nicht an, da sich der Gerichtshof neben der Begründung auch gegen die Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wendet, die in einem solchen Fall jedenfalls anzunehmen wäre. Ein solche Lösung wäre jedoch janusköpfig. Denn die Rechtspflicht, die Arbeitsschutzvorschriften einzuhalten, entsteht ja nicht im Strafrecht. Das Strafrecht orientiert sich an den Rechtspflichten, die der Arbeitgeber zu beachten hat und der öffentliche Arbeitgeber hat nun einmal unmittelbar wirkende Richtlinienvorschriften von Amts wegen zu beachten. Das heißt nicht, die Entscheidungen „Telecom Italia" und „Kolpinghuis Nijmegen" ignorieren zu wollen, aber wir müssen systematisch vorgehen und dürfen nicht die Lösung vor dem Problem entwickeln. In diesem Sinne enthalten die Urteile des Gerichtshofs eine Botschaft, die das Strafrecht aufnehmen und argumentativ verarbeiten muß; aber sie enthalten kein Dogma, das verbietet, über die beschriebene Pflichtenbegründung nachzudenken. Ein Beispiel belegt, wie fragwürdig es ist, die durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte erzeugten Pflichten pauschal als strafrechtlich irrelevant einzustufen. Nach der Entscheidung im Fall „Großkrotzenburg" 1 5 4 widersprach es der Richtlinie 85/337 EWG 1 5 5 , daß in der Bundesrepublik ein Wärmekraftwerk ohne die in der Richtlinie vorgesehene Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt wurde. Der Genehmigungszeitpunkt lag nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist, aber vor dem Zeitpunkt der Umsetzung. Trotz fehlender Umsetzung sah der Gerichtshof die zuständige innerstaatliche Stelle als verpflichtet an, die Prüfung durchzuführen. 1 5 6 Diese Rechtspflicht kann strafrechtlich relevant werden, wenn etwa der Betreiber einer Anlage dem zuständigen Beamten einen Geldbetrag dafür zahlt, daß dieser das Prüfungsverfahren unterläßt. In der strafrechtlichen Fallprüfung kommt es bei fehlender Umsetzung der Richtlinie und bei gleichzeitigem Ablauf der Umsetzungs-

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EuGH, Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995,I-2189ff. Richtlinie 85/337EWG vom 27.6.1985, Abi. Nr. L 175, S. 40. Man spricht insoweit auch von einer „objektiven Wirkung" der Richtlinie, näher dazu im 2. Hauptteil Α. I. l . h . dd.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

frist ganz entscheidend auf diese Rechtspflicht an, wenn es um die Frage geht, ob ein Fall der Vorteilsgewährung nach §§331, 336 StGB oder der Bestechung gemäß §§ 332, 336 StGB vorliegt, da die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung bei dieser Prüfung den neuralgischen Punkt bildet.

VI. Zwischenresümee Der bisherige Gedankengang belegt, daß sich das Problem eines belastenden Effekts einer unmittelbar wirkenden Richtlinie für das Strafrecht nicht nur abstrakt, sondern sehr konkret stellt. Im Lichte hinreichend bestimmter Richtlinienvorgaben im Arbeitsschutzrecht und bei gleichzeitiger Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Pflicht der „innerstaatlichen Stellen" nach Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 E G V sowie der Einordnung dieser Pflicht in die Dogmatik des unechten Unterlassungsdelikts und der Fahrlässigkeitsdelikte läßt sich die theoretische und praktische Relevanz dieser Problematik nicht bestreiten. Es ist folglich fraglich, ob die unmittelbar wirkende Richtlinie die Strafbarkeit einzelner f ü r den Fall begründen kann, daß sich erst unter Berücksichtigung des Richtlinieninhalts ein Verstoß gegen eine dem nationalen Recht nicht zu entnehmende Handlungspflicht feststellen läßt, deren Beachtung den Eintritt des straftatbestandlichen Erfolges vermieden hätte. Es liegt nahe, diesem Gedankengang den Einwand entgegenzuhalten, der Gerichtshof habe doch im Grundsatz entschieden, eine in ihrer Umsetzungsfrist abgelaufene Richtlinie könne die Strafbarkeit des einzelnen nicht begründen. Dabei ist jedoch eher der Wunsch nach einem möglichst harmonischen Nebeneinander des Gemeinschaftsrechts mit dem Strafrecht als eine unbefangene strafrechtsdogmatische Betrachtung der Vater des Gedankens. In der Sache ginge dieser Einwand fehl. Die hier vorgenommene und am Beispiel des Arbeitsschutzrechts konkret untermauerte Ableitung widerspricht nicht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, sondern beruht auf ihr. Der Gedankengang greift die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung auf und zeigt, welche Folgen aus strafrechtlicher Sicht denkbar werden, wenn den innerstaatlichen Stellen im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 E G V die Beachtung des besagten Effekts auferlegt wird. Der G r u n d dafür, warum dieses Problem in der Literatur bisher nicht diskutiert wurde, wird in dem Umstand zu suchen sein, d a ß die Frage einer strafrechtlichen Belastung durch unmittelbar wirkende Richtlinien stets im Zusammenhang mit der europarechtlichen Fragestellung erörtert wurde, ob unmittelbar wirkende Richtlinien den einzelnen belasten können. Diese Diskussion wird von dem Verhältnis Bürger-Staat geprägt. Hinter dem „einzelnen" verbirgt sich der „private Markt-

D. Die belastende Wirkung

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bürger" als natürliche oder juristische Person. N u r dessen möglicher Belastung widmete sich auch der Gerichtshof in der „Kolpinghuis Nijmegen"-Entscheidung. Die naheliegende Frage, ob eine gemeinschaftsrechtlich unstreitig begründete Pflicht auch strafrechtlich eine Sorgfaltspflicht oder eine Handlungspflicht im Sinne des § 13 StGB für diejenigen begründet, die als natürliche Personen für die innerstaatlichen Stellen im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV zu handeln haben, wurde nicht erörtert. Der Gerichtshof hat die hier aufgezeigte Fragestellung nicht beantwortet, wenn er ausführt, daß eine Richtlinie „für sich allein und unabhängig von den zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen". 157 D a r u m geht es bei der hier interessierenden Problematik nicht. Vielmehr dient die der innerstaatlichen Stelle und nicht dem einzelnen durch die Rechtsprechung des Gerichtshof auferlegte Pflicht als Anknüpfungspunkt. Das Problem stellt sich im übrigen auch, wenn man es aus dem Blickwinkel des innerstaatlichen Rechts betrachtet und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heranzieht. Denn die Richtlinienentscheidung des Bundesverfassungsgerichts stimmt der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung grundsätzlich zu. 158 In diesem Sinne hat die nationale Rechtsordnung die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten unstreitig in sich aufgenommen. Das gilt auch für den Kollisionsfall mit nationalem Recht. Nach dem Richtlinienbeschluß kommt Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts für den Fall des Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu, der auf einer ungeschriebenen N o r m des primären Gemeinschaftsrechts beruhe und dem über die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 G G der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden sei.159 Der Rechtsregel des Anwendungsvorrangs ist der in dem Zustimmungsgesetz liegende Rechtsanwendungsbefehl zuteil geworden, wovon das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung unmittelbar wirkende Richtlinienvorschriften nicht ausgenommen hat. 160

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EuGH, Urteil vom 11.6.1987, Rs. 14/86, E. 1987,2545, 2570; EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986. BVerfGE 75, 223, 241 ff. BVerfGE 75, 223, 244. BVerfGE 75,223, 244. Näher zum Anwendungsvorrang im 2. Hauptteil I. 2. Hier nur soviel: Der Anwendungsvorrang kann als Rechtsregel zur Lösung einer Kollision jeweils unmittelbar anwendbarer Normen des Gemeinschaftsrechts und des innerstaatlichen Rechts umschrieben werden. Er besagt für die Rechtsanwendung, daß von beiden entscheidungserheb-

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte sind also Teil desjenigen Rechts, das die für eine „innerstaaliche Stelle" handelnden Rechtsanwender grundsätzlich zu beachten haben. Die strafrechtliche Fragestellung knüpft lediglich an die in diesem Sinne gemeinschaftsrechtlich und auch innerstaatlich gewollte unmittelbare Wirkung einer Richtlinienvorschrift und die damit bewirkte Pflichtenbegründung an. Somit erfaßt die für das vertikale Verhältnis „Bürger-Staat" geltende Aussage, unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte seien nicht fähig, den einzelnen zu belasten, aus strafrechtlicher Sicht nur einen Teil der Problematik.

VII. Die belastende Wirkung im Umweltstrafrecht Ein Beispiel aus dem Umweltstrafrecht veranschaulicht, auf welche Weise sich die Frage eines belastenden Effekts der unmittelbar wirkenden Richtlinie auch in weiteren Bereichen des Strafrechts stellen kann. Dieses Rechtsgebiet zeichnet sich durch eine enge Verzahnung des Strafrechts mit dem Verwaltungsrecht aus und verdient in dem hier interessierenden Zusammenhang schon deshalb Beachtung, weil die einschlägige Materie des Umweltrechts ihrerseits unter starkem Einfluß des Gemeinschaftsrechts steht.161 Die folgenden Darlegungen zeigen auf, wie die im Umweltstrafrecht ohnehin umstrittene Anbindung des Strafrechts an das Verwaltungsrecht bei Berücksichtigung der unmittelbaren Wirkung mit zusätzlichen Fragen belastet wird. Analog dem Bereich des Arbeitsschutzrechts erschließt sich die Problematik wiederum erst am konkreten Beispielsfall. Dazu wird nachfolgend eine besonders geeignete umweltrechtliche Richtlinie herangezogen, im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs analysiert und in den strafrechtlichen Kontext des § 324 StGB eingeordnet.

1. D i e Grundwasser-Richtlinie Zum Schutz des Grundwassers wurde eine Richtlinie erlassen,162 die den Mitgliedstaaten auferlegte, jegliche direkte Einleitung von Stoffen, die im Anhang der Richtlinie in einer gesonderten „Liste I" aufgeführt werden, zu unterbinden. 163 Die Richtlinie formuliert insoweit ein absolutes, uneingeschränktes Verbot. 164

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liehen Normen diejenige des Gemeinschaftsrechts der Sachentscheidung zugrundegelegt wird und die Vorschrift des nationalen Rechts schlicht unangewendet bleibt, vgl. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/55; Jarass, Grundfragen, S. 3 f. Umfassender Überblick bei DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 8. Richtlinie 80/68/EWG vom 17.12.1979 über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch bestimmte gefahrliche Stoffe, Abi. Nr. L 20, S. 43. Siehe Art. 4 Abs. 1, 1. Spiegelstrich und den engen, in Art. 4 Abs. 2 erwähnten Ausnahmetatbestand. Krämer, WiVerw 1990, 138, 145.

D. Die belastende Wirkung

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In einem Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226, ex-Art. 169 EGV entschied der Gerichtshof, die Bundesrepublik Deutschland habe gegen den Vertrag verstoßen, da nicht fristgerecht alle erforderlichen Maßnahmen erlassen worden seien, um der Grundwasser-Richtlinie nachzukommen. 165 Die Entscheidung erklärt es für unerläßlich, die in der Richtlinie aufgestellten Verbote ausdrücklich in nationale Rechtsvorschriften aufzunehmen, 166 was angesichts des deutschen Wasserhaushaltsrechts, das auf das Instrument der normkonkretisierenden oder ermessensbindenden Verwaltungsvorschriften zurückgreift, Probleme aufwirft. 167 Im Zuge der Erörterung dieser hier nicht zu vertiefenden Fragen enthält die Entscheidung jedoch die interessante Feststellung, daß die Richtlinie Rechte und Pflichten des einzelnen begründen soll.168 In Anbetracht des Fristablaufs, der Begründung von Rechten einzelner und der unbedingten Regelung, die direkte Einleitung bestimmter Stoffe zu unterbinden, ist unter Beachtung der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofs die in der Literatur gezogene Schlußfolgerung konsequent, nach der innerstaatliche Stellen im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV, deren Verhalten zu entsprechenden Direkteinleitungen führt, dies zu unterlassen haben und die zuständigen Stellen verpflichtet sind, solche Einleitungen durch Dritte zu untersagen. 169 Für die hier interessierende Problematik ergibt sich daraus erneut die Frage, ob die soeben beschriebene Pflicht der innerstaatlichen Stellen zur strafrechtlichen Verantwortung einzelner führen kann. Aufmerksamkeit verdient somit § 324 StGB, anhand dessen die Verflechtung des Umweltstrafrechts mit dem Verwaltungsrecht nicht nur theoretisch, sondern mit Blick auf die strafrechtliche Verantwortung einzelner durchaus praktisch beleuchtet werden kann.

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EuGH, Urteil vom 28.2.1991, Rs.C-131/88, Ε 1991, I-825ff. EuGH, Urteil vom 28.2.1991, Rs. C-131/88, Ε 1991,1-825, 867, 870; Engel, Die Verwaltung, 437, 441; Hilf, EuR 1993, 1, 14. Die Entscheidung ist auf teilweise heftige Kritik gestoßen, siehe Salzwedel/Reinhardt, NVwZ 1991, 946, 947 und R. Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, S. 9 ff. Siehe R. Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, S. 9 ff. und die massive Kritik von Salzwedel/Reinhardt, NVwZ 1991,946, 947. Dabei handelt es sich um eine grundsätzliche Problematik des Umweltrechts, da der Gerichtshof letztlich verlangt, daß insbesondere in den Richtlinien vorgegebene absolute Grenzwerte und Einleitungsverbote durch den Mitgliedstaat mit dem Umsetzungsakt in die Form der Rechtsnorm gegossen werden, siehe A. Weber, UPR 1992, 5, 9. EuGH, Urteil vom 28.2.1991, Rs. C-131/88, Ε 1991, 1-825, 867; vgl. auch Fischer, Europarecht, S. 115. Siehe Gellermann, Beeinflussung, S. 197.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

2. Die strafbare Gewässerverunreinigung, § 324 StGB Nach § 324 Abs. 1 StGB ist mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe zu bestrafen, wer unbefugt ein Gewässer verunreinigt oder sonst dessen Eigenschaften nachteilig verändert. Die Strafnorm schützt Gewässer vor nachteiligen Eigenschaftsveränderungen, von denen die äußerlich wahrnehmbare Verunreinigung einen Unterfall darstellt. 170 Die Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Literatur gehen dabei von einer ökologisch orientierten Auslegung aus.171 Geschützt sind die den Gewässern in ihrem Naturzustand innewohnenden Funktionen für die Umwelt und den Menschen.172 Als nachteilige Veränderung im Sinne des Tatbestandes wird daher jede Verschlechterung der natürlichen Gewässereigenschaften im physikalischen, chemischen oder biologischen Sinn eingestuft, die über unbedeutende, vernachlässigbar kleine Beeinträchtigungen hinausgeht. 173 Die Frage, ob eine tatbestandsmäßige Gewässerverunreinigung gleichwohl rechtlich zulässig ist, wird nach vorherrschender Meinung auf der Ebene der Rechtswidrigkeit geprüft, wobei die fachbehördliche Genehmigung, Bewilligung oder sonstige Erlaubnis die Strafrechtswidrigkeit grundsätzlich beseitigen soll.174 Dabei kommt es nach der überwiegenden Meinung nicht auf die materiellrechtliche Richtigkeit, sondern auf die verwaltungsrechtliche Wirksamkeit des Verwaltungsakts an.175 Ein Verwaltungsakt, dessen Rechtswidrigkeit nicht den Grad der Nichtigkeit

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Möhrenschlager, Gewässerstrafrecht, S. 35; Schall, NStZ 1992,209,210; K. TiedemannlKindhäuser, NStZ 1988, 337, 340. Mithin sind auch nicht äußerlich wahrnehmbare Substanzen im Sinne der Grundwasserrichtlinie geeignet, den Tatbestand zu verwirklichen. BGH, NStZ 1987, 323; NStZ 1991, 281, 282; Cramer in: Schönke-Schröder, vor §§324ff. Rn. 8 mwN. Lackner-Kühl, § 324 Rn. 1; Rudolphi, NStZ 1984, 193, 194; aA Papier, Gewässerverunreinigung, S. 28, der als Schutzgut des § 324 StGB das Gewässer in dem Zustand ansieht, welcher der öffentlich-rechtlichen Zweckbestimmung oder Widmung entspricht, was zur Folge hat, daß sich im Rahmen der Widmung haltende Einleitungen nicht tatbestandsmäßig sind, siehe Papier, Strafrechtliche Probleme des Gewässerschutzes, S. 63. BGH, NStZ 1987, 323, 324; Cramer in: Schönke-Schröder, § 324 Rn. 8; K. Tiedemannl Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 340; kritisch Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, S. 149, der darin eine realitätsferne Unrechtsbestimmung erblickt. BayObLG, JR 1983, 120, 121; OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2755; weitere Nachweise aus der Rspr. bei Schall, NStZ 1992, 209, 213; ferner Cramer in: Schönke-Schröder, § 324 Rn. 8 iVm Vorbem. §§ 324 ff. Rn. 14 mwN. R. Breuer, JZ 1994, 1077, 1084; Dolling, JZ 1985,461,469; Lenckner, Pfeiffer-FS, S. 27; Rengier, ZStW 101 (1989), 874 ff.; Rudolphi, NStZ 1984, 193, 196; M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, S. 196,221 fF.; Seier, JA 85,23,24. Vgl. auch OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2755.

D. Die belastende Wirkung

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erreicht,176 ist gemäß § 43 Abs. 1 VwVfG wirksam. Die strafrechtliche Beurteilung der Frage, ob eine tatbestandsmäßige Verunreinigung als erlaubt und damit rechtmäßig anzusehen ist, orientiert sich hiernach daran, ob sie nach Inhalt und Umfang im Rahmen dessen bleibt, was die Verwaltungsbehörde wirksam zugelassen hat.177 Im Ergebnis hängt die Strafbarkeit einer Gewässerverunreinigung nach vorherrschender Meinung folglich davon ab, ob sie sich im Rahmen der behördlichen Erlaubnis hält. Davon abweichend ist nach einer Literaturmeinung bei der rechtfertigenden Genehmigung auf die materielle Rechtmäßigkeit des Bescheids abzustellen.178 Konkret ist im Rahmen des § 324 StGB danach eine Strafbarkeit trotz behördlicher Erlaubnis denkbar, wenn der Täter die Fehlerhaftigkeit der Verwaltungsentscheidung kennt. 179 Die allgemein unter dem Schlagwort der Verwaltungsakzessorietät diskutierte Verknüpfung des Umweltstrafrechts mit dem Verwaltungsrecht war und ist Gegenstand lebhafter wissenschaftlicher Diskussion. Diese Problematik ist zu komplex, um hier umfassend dargestellt zu werden. 180 Eine umfassende Wiedergabe würde aber auch eher vom Thema ablenken, denn für den zu untersuchenden belastenden Effekt einer unmittelbar wirkenden Richtlinie im Umweltstrafrecht führt einmal mehr erst eine anhand der Grundwasserrichtlinie in Verbindung mit § 324 StGB zwar punktuelle, aber für das Grundproblem der Einwirkung von Richtlinien auf verwaltungsakzessorische Tatbestände zugleich exemplarische Erörterung zu weiterführenden Erkenntnissen. Ansatzpunkt ist wiederum die gemeinschaftsrechtlich hervorgerufene Pflicht der „innerstaatlichen Stelle", unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte zu beachten. 176

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Das Strafrecht folgt damit der verwaltungsrechtlichen Differenzierung zwischen nichtigen und lediglich rechtswidrigen Verwaltungsakten, siehe Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 35; Rogall, Die Strafbarkeit von Amtsträgern im Umweltbereich, S. 169ff.; Rühl, JuS 1999, 521, 522; siehe allerdings auch die Kritik von Paeffgen, Stree/Wessels-FS, S. 587, 592, zu bloßen Formalverstößen. Nisipeanu, Abwasserrecht, S. 331. Allgemein: Rengier, ZStW 101 (1989), 874, 890ff. Zu Grenzwertüberschreitungen siehe Möhrenschlager, Gewässerstrafrecht, S. 41 f.; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 1351Γ; Rspr. bei Schall, NStZ 1992, 209, 214. Geulen, ZRP 1988, 323, 325; Schall, NJW 1990, 1263, 1268; Winkelbauer, Verwaltungsakzessorietät, S. 73. Weitere Nachweise bei Perschke, wistra 1996, 166, Fn. 64. Schall, wistra 1992, 1, 5, ders. NJW 1990, 1263, 1268. Ob die Einfügung des § 330 d Nr. 5 StGB durch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 27.6.1994, BGBl. I 1440, daran etwas geändert hat, ist wiederum umstritten, siehe nur Rogall, GA 1995, 299, 317ff., aber auch Perschke, wistra 1996, 161, 166. Statt vieler sei auf die zusammenfassenden Darstellungen von Hirsch, Bekämpfung neuer Kriminalitätsformen, S. 11, 21 ff.; Perschke, wistra 1996; 161 ff.; Schall, NJW 1990, 1263, 1265ff. und Cramer in: Schönke-Schröder, vor §§ 324ff. Rn. 15ff., jeweils mwN verwiesen. Zur Verwaltungsakzessorietät und unmittelbar wirkenden Richtlinien, die den Täter begünstigen, siehe unten 4. Hauptteil Β. VI. 4.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

a. Strafbarkeit des Amtsträgers? Wie bei der Untersuchung der Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte ist fraglich, ob aufgrund der zuvor beschriebenen Verpflichtung der innerstaatlichen Stelle eine strafrechtliche Verantwortlichkeit einzelner Personen denkbar wird. Diese Möglichkeit besteht zunächst bei denjenigen Personen, die für die innerstaatliche Stelle handeln. Das sind die Amtsträger, deren strafrechtliche Haftung im Umweltstrafrecht allgemein in vier Fallgruppen unterteilt werden kann. 181 Denkbar ist zunächst die Verursachung tatbestandsmäßiger Umweltbeeinträchtigungen durch von der öffentlichen Hand betriebene Kraftwerke, Mülldeponien oder sonstige Einrichtungen. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine nur theoretische Möglichkeit. So wurde der für die Verwaltung eines Schwimmbades zuständige Dezernent auf der Grundlage des § 324 StGB als Täter verurteilt, weil er die Abwässer entgegen den einschlägigen Vorschriften nicht in die Kanalisation, sondern in einen Bach ableiten ließ.182 Darüber hinaus lebt die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung des Amtsträgers auf, wenn er Genehmigungen fehlerhaft erteilt, fehlerhafte Genehmigungen nicht zurücknimmt oder gegen rechtswidrige, tatbestandsmäßige Umweltverletzungen Dritter nicht einschreitet. 183 In dem hier zu erörternden Zusammenhang ist die Strafbarkeit von Amtsträgern nach § 324 StGB von besonderem Interesse, da sich die Rolle des Amtsträgers von der eines in der Privatwirtschaft tätigen Angestellten, der für die Entsorgung der Abwässer eines Unternehmens verantwortlich ist, unter strafrechtlichen Aspekten grundsätzlich nicht unterscheidet. Bei § 324 StGB handelt es sich um ein Allgemeindelikt, 184 das von den für die Entsorgung der Abwässer zuständigen Amtsträgern oder privatwirtschaftlich Angestellten gleichermaßen verwirklicht werden kann. 185 Mit Blick auf die vom Gerichtshof bejahte unmittelbare Wirkung von Inhalten der Grundwasser-Richtlinie und der Verpflichtung der innerstaatlichen Stellen im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV, diesen Effekt von Amts wegen

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Unterteilung nach Schall, JuS 1993, 719, 720. OLG Köln, NJW 1988, 2119,2120. Siehe auch OLG Celle, ZfW 1987, 126; LG München II, NuR 1986, 259; ferner Schall, NStZ 1992, 265, 267. Zur Haftung des Amtsträgers für eine Gewässerverunreinigung durch Dritte, BGH St 38, 325ff.; zum Ganzen ausführlich: Steindorf m: LK, § 324 Rn. 54 ff. mwN. DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 28 Rn. 33ff.; Schall, JuS 1993, 719, 720 ff. Achenbach, JuS 1990, 601, 602. R. Breuer, NJW 1988, 2072, 2084; Cramer in: Schönke-Schröder, Vorbem §§ 324ff. Rn. 35; Papier, NJW 1988, 1113; Schall, JuS 1993, 719, 720.

D. Die belastende Wirkung

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zu berücksichtigen, 186 ergibt sich die Fragestellung, ob sich der verantwortliche Amtsträger strafbar macht, wenn die Abwässer abgebende Einrichtung eine dem Tatbestand des § 324 StGB unterfallende Verunreinigung verursacht, die das nationale Wasserrecht zwar zuläßt, die unter Beachtung des unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalts jedoch als unzulässig erscheint. In der Literatur wird zwar angemerkt, in der Sache käme eine Einleitung der nach der Richtlinie verbotenen Stoffe auch nach dem deutschen Wasserrecht nicht in Betracht, 187 doch das ändert nichts an der Tatsache, daß sich hieraus eine der Klärung bedürfende Problematik ergibt, die bei entsprechender Inkongruenz von nationalem Recht und unmittelbar wirkendem Richtlinieninhalt jederzeit aufleben kann. Im Ergebnis wird die Strafbarkeit des Amtsträgers in dieser Fallkonstellation zu verneinen sein, soweit Bund, Länder und Gemeinden, unabhängig von der Frage einer hoheitlichen Betätigung, der Erlaubnis- und Bewilligungspflicht nach dem Wasserrecht unterfallen. 188 Dann entfällt nach vorherrschender Meinung die Strafbarkeit, da die Genehmigung ihre rechtfertigende Wirkung unabhängig von der Frage entfaltet, ob der Bescheid materiell rechtmäßig ist.189 Schwieriger gestaltet sich die Prüfung der Strafbarkeit für die Auffassung, nach der grundsätzlich auf die materielle Rechtmäßigkeit des Bescheids abzustellen ist.190 Für eine Strafbarkeit trotz behördlicher Erlaubnis soll Raum sein, wenn der Täter die Fehlerhaftigkeit der Verwaltungsentscheidung kennt. 191 Folglich steht diese Auffassung vor der Frage, ob sich der für eine Abwässer abgebende Anlage Verantwortliche strafbar macht, wenn er weiß, daß eine im Widerspruch zu dem nationalen Recht stehende, unmittelbar wirkende Richtlinie diese Einleitungen verbietet. Fraglich ist mithin, ob die gemeinschaftsrechtlich begründete Fehlerhaftigkeit des Einleitungsbescheides, der bei rein isolierter Betrachtung des nationalen Rechts als materiell rechtmäßig erscheint, bei entsprechender Kenntnis des Anlagebetreibers für diese Meinung eine Fallkonstellation ergibt, in der die Erlaubnis ihre rechtfertigende Wirkung verliert.

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Die Verpflichtung der Behörden, unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte von Amts wegen zu berücksichtigen, ist heute vorherrschende Meinung, siehe etwa Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 655 f.; Griegerich, JuS 1997, 619, 621; Krämer, WiVerw 1990, 138, 154. Salzwedel/Reinhardt, NVwZ 1991, 946, 947 letzter Absatz. Siehe im einzelnen bei: SiederIZeitlerlDahmke, WHG, § 2 Rn. 6b. LG Hanau, NJW 1988, 571, 574; R. Breuer, NJW 1988, 2072, 2080; Dolling, JZ 1985, 461, 469; Lenckner, Pfeiffer-FS, 27, 39f.; Steindorf in: LK, § 324 Rn. 92. In diesem Sinne auch: BGHSt 39, 381, 387. Auf die davon wiederum denkbaren Ausnahmen kommt es hier nicht an. Siehe dazu Perschke, wistra. 1996, 161, 165 mwN. Geulen, ZRP 1988, 323, 325; Schall, NJW 1990, 1263, 1268; Winkelbauer, Verwaltungsakzessorietät, S. 73. Schall, wistra 1992, 1,5.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Läßt man in dieser Fallkonstellation den Blick von der Betreiberseite auf die der wasserrechtlichen Genehmigungsbehörde wandern, so ergeben sich für die vorherrschende Meinung ähnliche Probleme. So fragt sich, ob nach Ablauf der Umsetzungsfrist eine auf der Grundlage des nationalen Rechts rechtmäßig gegenüber einer im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV innerstaatlichen Stelle erlassene Erlaubnis zur Einleitung bestimmter - nach einer Richtlinie absolut verbotener Stoffe unter Berücksichtigung der unmittelbaren Wirkung einen Fall der sogenannten Erteilung einer fehlerhaften Genehmigung darstellt. 192 Die praktische Relevanz dieser Frage ist angesichts des Umstands, daß die Rechtsprechung bereits in Fällen der Erteilung einer fehlerhaften Genehmigung die Möglichkeit einer Begehung des § 324 StGB in mittelbarer Täterschaft gemäß § 25 Abs. 1 2. Alt. StGB bejaht hat, 193 nicht von der Hand zu weisen. Weiterhin zeigt sich, wie die Frage der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien über die bisher erörterte Unterlassungsproblematik hinaus in den Bereich der Begehungsdelikte jedenfalls dann hineinwirkt, wenn man dem OLG Frankfurt folgt und die Erteilung einer fehlerhaften Erlaubnis als Fall der mittelbaren Täterschaft gemäß §§ 324, 26 Abs. 1 2. Alt. StGB ansieht, den der Täter dem OLG Frankfurt zufolge durch ein rechtmäßig handelndes Werkzeug verwirklicht, da er durch das Offnen der vor jeder Gewässerverunreinigung stehenden Verbotsschranke das Geschehen beherrsche.194 In dieser Entscheidung hat das OLG Frankfurt zugleich eine Aussage getroffen, die abermals die Relevanz der hier behandelten Problematik belegt. Das Gericht meint, der Strafrichter werde infolge des Umstands, daß der Gesetzgeber eine Strafnorm geschaffen hat, die ihre rechtfertigenden Elemente aus einem anderen Rechtsgebiet ableitet, zum gesetzlichen Richter für die Feststellung der materiellen Rechtswidrigkeit von Verwaltungsakten. 195 Bei der Bestimmung der Reichweite des Rechtfertigungsgrundes sei jedoch die wasserhaushaltsrechtliche Pflichtenstellung des Amtsträgers zu berücksichtigen, da ein unauflösbarer Wertungswiderspruch entstünde, wenn ein Verhalten, das verwaltungsrechtlich zulässig sei, vom Strafrichter als verboten erachtet werden würde.196 192

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Zur Strafbarkeit des Amtsträgers durch die Erteilung einer materiell fehlerhaften aber verwaltungsrechtlich wirksamen Erlaubnis siehe den Überblick bei Cramer in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 324ff Rn. 30. OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2757. Zwar ist hiernach für eine Strafbarkeit kein Raum, wenn der Amtsträger bei der Genehmigung innerhalb eines ihm vom Wasserhaushaltsrecht eingeräumten Ermessens- oder Beurteilungsspielraums geblieben ist, doch soweit unmittelbar wirkende Richtlinien bestimmte Stoffe benennen und deren Ableitung oder Emission absolut verbieten, gibt es diesen Spielraum nicht. Siehe auch BGHSt 39, 381, 388 ff. zu § 326 StGB; im einzelnen Str., zusammenfassend Wohlers, ZStW 108 (1996), 61 ff. mwN. OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2757. OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2756 a. E. OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2756f.

D. Die belastende Wirkung

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Soweit der Amtsträger die Fehlerhaftigkeit der Erlaubnis erst im nachhinein erkennt, bleibt er hiernach straflos, wenn er verwaltungsrechtlich gehindert ist, die fehlerhafte Erlaubnis zu beseitigen, oder wenn die Entscheidung in sein Ermessen gestellt ist. Die strafrechtliche Verpflichtung des Amtsträgers, den das Gericht als sogenannten Beschützergaranten ansieht, 197 setze seine verwaltungsrechtliche Verpflichtung zur Rücknahme der Erlaubnis voraus.198 Schließlich bejaht das Gericht eine konkrete Rechtspflicht des Amtsträgers, tatbestandsmäßige Gewässerverunreinigungen Dritter mit dem ihm zur Verfügung stehenden verwaltungsrechtlichen Instrumentarium zu verhindern, wenn eine wasserhaushaltsrechtliche Pflicht gleichen Inhalts bestehe.199 Diese strafrechtlich relevanten Pflichten können sich jedoch unter dem Einfluß des Gemeinschaftsrechts ändern, wenn man davon ausgeht, daß die unmittelbare Wirkung für alle staatliche Gewalt gilt und die Verwaltung verpflichtet, entgegenstehendes innerstaatliches Recht unangewendet zu lassen. Die Nichtbeachtung der unmittelbaren Wirkung macht die betreffende Verwaltungsentscheidung rechtswidrig.200 Im Fall der Grundwasser-Richtlinie mit ihren absoluten Verboten gäbe es bei strikter Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in letzter Konsequenz überhaupt nur eine richtige Entscheidung. 201 In der gemeinschaftsrechtlichen Literatur finden sich in diesem Zusammenhang Ausführungen, die den Gedankengang aus dem Blickwinkel der vorliegenden Untersuchung zuspitzen. Danach stellt eine Nichtbeachtung von unmittelbar wirkenden Richtlinien einen Verstoß gegen beamtenrechtliche Pflichten202 dar und begründet regelmäßig eine Amtspflichtverletzung.2m Jarass will im Fall der unzu-

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Steindorf in: LK, § 324 Rn. 64 mwN. Aus derart spezifischen Amtspflichten kann eine Garantenstellung des Amtsträger erwachsen, siehe dazu Frisch, Zurechnung des Erfolgs, S. 356f., auch mit dem konkreten Beispiel der Gewässerverunreinigung. Ebenso Kühl, AT, § 18 Rn. 99, der ausdrücklich den Fall einbezieht, in dem die Voraussetzungen einer pflichtgemäß erteilten Genehmigung entfallen. Der Umweltbeamte sei verpflichtet, die rechtswidrig gewordene Genehmigung zurückzunehmen, obwohl der sie zu Recht erteilt habe. OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2757. OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2757 a. E. In Rede steht sodann eine strafrechtliche Haftung über§ 13 StGB, siehe Sangenstedt, Garantenstellung, S. 39 mwN. Krämer, WiVerw 1990, 138, 154. Vgl. Gellermann, Beeinflussung, S. 197; Krämer, WiVerw 1990, 138, 145. Aus diesem Grund eignen sich die absoluten Verbote der Grundwasserrichtlinie für diese Thematik besonders gut, weil die den Gedankengang verschachtelnden Probleme der Grenzwerte (siehe Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 135ff.) und der Ermessensspielräume (Nestler, G A 1994, 514, 525 f.) ausgeblendet werden können. Krämer, WiVerw 1990, 138, 155. Krämer, WiVerw 1990, 138, 154 a. E. So auch Jarass, Grundfragen, S. 123.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

reichenden Anwendung unmittelbar wirkender Richtlinien einen Amtshaftungsanspruch nach Art. 34 G G iVm § 839 BGB grundsätzlich zulassen. 204 Strafrechtlich ergibt sich daraus die Frage, ob die Orientierung des Strafrechts an der verwaltungsrechtlichen Zulässigkeit oder der verwaltungsrechtlich gegebenen Pflicht zum Tätigwerden auch unter Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, akzessorisch verläuft. b. Strafbarkeit Privater? U m nachzuweisen, daß die unmittelbare Wirkung in ihrer vom Gerichtshof entwickelten Weite selbst f ü r Private einen strafbarkeitsbegründenden Effekt haben könnte, sei nochmals an die Entscheidung des Gerichtshofs zur GrundwasserRichtlinie 205 , die „Costanzo"-Entscheidung 2 0 6 und an die daraus in der einschlägigen Literatur gezogene Schlußfolgerung erinnert, nach der Art. 4 Abs. 1,1. Sp. für die Mitgliedstaaten, ihre Behörden und sonstigen Einrichtungen die Pflicht begründe, Einleitungen von Stoffen der Liste I in das Grundwasser, die ohne Bodenund Untergrundpassage erfolgen, zu verhindern bzw. zu unterbinden. 207 Denn diese Pflicht zur Verhinderung derartiger Einleitungen soll sich mittelbar auch auf private Dritte, also nicht nur auf privatrechtlich organisierte Einrichtungen des Staates, erstrecken. 208 Soweit die Wasserbehörde in Verfolgung der ihr aus der unmittelbaren Wirkung erwachsenden Pflicht gegen einen Emittenten vorgeht und die Erlaubnis ganz oder teilweise zurücknimmt, dieser aber die nun unerlaubte Gewässerverunreinigung im bisherigen und bei isolierter Betrachtung des nationalen Rechts zulässigem U m f a n g fortsetzt, wird dessen Strafbarkeit denkbar, da sein Verhalten jedenfalls nach herr204

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208

Jarass, Grundfragen, S.123, ders. NJW 1991, 2665, 2669; ebenso Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 154f.; ähnlich Nettesheim, DÖV 1992,999, 1004. Dieser Anspruch ist freilich nicht mit dem gemeinschaftsrechtlich begründeten und verschuldensunabhängigen Staatshaftungsanspruch zu verwechseln. EuGH, Urteil vom 28.2.1991, Rs. C-131/88, Ε 1991,1-825ff. EuGH, Urt. v. 22.6.1989, Rs. 103/88, Ε 1989, 1839ff. Gellermann, Beeinflussung, S. 197. Vgl. auch Krämer, WiVerw, 138, 145; Winter, NuR 1991, 453. Gellermann, Beeinflussung, S. 197; Jarass, Grundfragen, S. 86 f. Die Frage ist strittig. Zur Gegenansicht: Leonard, Die Rechtsfolgen der Nichtumsetzung, S. 89, der eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien für schlechthin ausgeschlossen hält, wenn dies zur „Beeinträchtigung rechtlich geschützter Interessen Privater führt". Daß es in der „Costanzo"-Entscheidung zu der hier interessierenden mittelbaren Belastung Privater gekommen ist, läßt sich jedoch nicht bestreiten. Es stellt für den Teilnehmer X eines Submissionsverfahrens nun einmal einen Rechtsnachteil dar, wenn durch die Berufung des Konkurrenten Y auf eine nicht umgesetzte Richtliniennorm das dem Teilnehmer X günstige nationale Ausschreibungsrecht überlagert und verdrängt wird.

D. Die belastende Wirkung

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sehender Meinung als unbefugt gemäß § 324 StGB anzusehen wäre, weil es hiernach eben nur darauf ankommt, ob sich der Täter im Rahmen der Erlaubnis hält. 209 Zugleich wird abermals deutlich, wie ein strafrechtlich belastender Effekt der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie bis in den Bereich der Begehungsdelikte hineinwirkt. Nun könnte man vom Standpunkt der überwiegenden Meinung aus argumentieren, diese Strafbarkeit sei eben eine Folge der Verwaltungsakzessorietät. Auch das erlaubnisfahige, aber tatsächlich nicht erlaubte Einleiten stelle nun einmal eine Straftat dar. Dieser Gedanke greift jedoch vor dem Hintergrund der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zu kurz. In den Fällen, in denen nicht prima facie ersichtlich ist, ob eine Richtlinienbestimmung die vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien erfüllt, besteht die Gefahr, daß einige Verwaltungsbehörden die unmittelbare Wirkung bejahen, während andere sie ablehnen. Es droht die Gefahr einer Rechtsspaltung, einer „selektiven Gesetzmäßigkeit" der Verwaltung. 210 In letzter Konsequenz wird der Verwaltung für den Einzelfall eine „Normverwerfungskompetenz" 211 zugebilligt, die sehr weit gehen kann, da es sich bei dem vermeintlich oder tatsächlich verdrängten Recht schließlich auch um Parlamentsgesetze handeln kann. 212 Ein uneinheitliches Vorgehen der Verwaltung strahlt bei verwaltungsakzessorischen Tatbeständen auf das Strafrecht aus. Diesen Bedenken kann wiederum entgegnet werden, die Möglichkeit fehlerhafter und uneinheitlicher Verwaltungsentscheidungen sei der Konstruktion des strafbewehrten Verwaltungsakts immanent. Das ist zuzugeben, doch durch die unmittelbare Wirkung von Richtlinien kann dieses Problem im Einzelfall um einen gravierenden Unsicherheitsfaktor angereichert werden.

VIII. Zwischenergebnis und Lösungsansätze Nach dem Gesagten kann aus dem Effekt der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht nicht nur eine begünstigende, sondern auch eine belastende Wirkung erwachsen. Die Tragweite dieser Einwirkung erschließt sich erst durch eine exemplarische Beleuchtung verschiedener Gebiete des Strafrechts. In den Bereichen der unechten 209 210

2,1

212

Statt vieler: R. Breuer, JZ 1994, 1077, 1084. Siehe Cornils, Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, S. 85 f.; Schmidt-Aßmann, DVB1. 1993, 924, 933. Gemeint ist mit diesem Begriff im vorliegenden Zusammenhang die Nichtanwendung europarechtswidriger Gesetze durch die Verwaltung, Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 87 fT.; ausführlich Pietzcker, Everling-FS, S. 1095 ff. Siehe die Kritik bei Pagenkopf.\ NVwZ 1993, 216, 222; Schmidt-Aßmann, DVB1. 1993, 924, 933.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

Unterlassungsdelikte und der Fahrlässigkeitsdelikte betrifft die Problematik vor allem die Personen, die für innerstaatliche Stellen im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV handeln. Uber verwaltungsakzessorische Tatbestände wuchert das Problem bis in den Bereich der Begehungsdelikte, wobei ein belastender Effekt unmittelbar anwendbarer Richtlinien auch bei Privaten in Rede steht. Da diese Fragen - soweit ersichtlich - strafrechtlich bisher nicht diskutiert wurden, sollen sogleich einige Lösungsansätze hypothetisch angesprochen werden, um sodann den eigenen Lösungsweg zu beschreiten. Ein Lösungsweg könnte darin bestehen, die unmittelbare Wirkung jeweils in dem strafrechtlichen Kontext zu beleuchten, in dem sich das Problem stellt. Hier sind zahlreiche Argumente denkbar. Wenn nachfolgend einige dieser Lösungsansätze angesprochen werden, so geschieht dies nicht, um diesen Lösungsweg einzuschlagen, sondern aufzuzeigen, daß die Suche nach einer grundsätzlichen Lösung der vielversprechendere und erforderliche Weg ist.

1. D i e Unterlassungsdelikte Zu § 13 StGB ließe sich aus der durch Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV bewirkten Verbindlichkeit ein Argument gegen die strafrechtliche Haftung des Amtsträgers gewinnen. Nach § 13 StGB ist das Unterlassen nur dann strafbar, wenn der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt. Daran mangele es, da die Richtlinie nur für den Mitgliedstaat und seine innerstaatlichen Stellen verbindlich sei. Der für das Unterlassen verantwortliche Täter nehme im Strafverfahren die Rolle des „privaten Marktbürgers" ein, den nicht umgesetzte Richtlinieninhalte strafrechtlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gerade nicht belasten sollen. Dieser Gedanke überzeugt jedoch nicht, da bei der Prüfung der Unterlassensstrafbarkeit eines Amtsträgers an eine ihm rein dienstlich obliegende Pflicht angeknüpft wird. Nach einem Arbeitsunfall, zu dem es bei Einhaltung unmittelbar wirkender Richtlinieninhalte nicht gekommen wäre, beruht der strafrechtliche Vorwurf nicht darauf, daß der Amtsträger als Privater pflichtwidrig die Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften verabsäumt hat. Der an den Amtsträger gerichtete Vorwurf bestünde wie bei der Verletzung nur national geltender Schutzvorschriften darin, entgegen seiner ihm dienstlich obliegenden Stellung nicht dafür Sorge getragen zu haben, daß die für seinen Dienstherrn oder Arbeitgeber geltenden Schutzvorschriften zur Beherrschung eines Gefahrenbereichs eingehalten wurden. 2 1 3 Um Pflichten, die ihn als Privaten treffen, geht es schon im Ansatz 213

Vgl. Sangenstedt, Garantenstellung, S. 35f. mwN.

nicht.

D. Die belastende Wirkung

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Ferner ließe sich die Unterlassungsthematik im Lichte des Gesetzlichkeitsprinzips diskutieren. Wer vertritt, daß die Begründung der Strafbarkeit über den unbestimmten § 13 StGB im Grundsatz gegen Art. 103 Abs. 2 G G verstößt, 214 wird den gesamten Komplex als eine weitere Frucht des gesetzgeberischen Sündenfalls einstufen. Die zahlreich geübte, wenn auch nicht immer bis zum Vorwurf der Verfassungswidrigkeit reichende Kritik 215 findet eine weitere Bestätigung und belegt, daß mit § 13 StGB die Schleusen für eine uferlose Strafbarkeit geöffnet wurden. Auch dieser Weg wird hier nicht eingeschlagen, denn das Ziel dieser Untersuchung wäre verfehlt, wenn der dargelegte Konflikt nicht als solcher einer Lösung zugeführt wird. Solange das Bundesverfassungsgericht § 13 StGB nicht für verfassungswidrig erklärt hat, stellt sich das Problem der Verzahnung des unmittelbar wirkenden Richtlinienrechts mit der Unterlassungsdogmatik aufgrund der gegebenen Gesetzeslage. Der Konflikt würde nicht als solcher erörtert, sondern auf einem Nebenschauplatz ausgetragen.

2. Fahrlässigkeitsdelikte Ausdrücklich zu warnen ist vor pragmatischen Versuchen, den Ausweg im Einzelfall und damit in einer kasuistischen, täterfreundlichen Auslegung der unmittelbar wirkenden Richtlinienvorschriften zu suchen. Dieses Vorhaben endet zwangsläufig in einer Sackgasse. Im wahrsten Sinne des Wortes steckt der Teufel im Detail. Sind die Inhalte einer Richtlinie so detailliert, daß sie als Sorgfaltsnorm in Frage kommen, werden sie in der Praxis regelmäßig im Zuge des innerstaatlichen Umsetzungsaktes wortgleich umgesetzt. 216 Wer aber zu Zeiten der unmittelbaren Wirkung die Richtlinie täterfreundlich ausgelegt und ihre inhaltliche Qualität als Sorgfaltsnorm bestritten hat, kann bei identischem Wortlaut nach der Umsetzung schwerlich zu einem anderen Ergebnis kommen. Ein weiterer Lösungsansatz bestünde darin, auf den durch die unmittelbare Wirkung begrenzten Täterkreis abzustellen. Es ließe sich argumentieren, daß der allgemeine Sorgfaltsmaßstab über die Strafbarkeit zu entscheiden habe und nicht ein im Wege der unmittelbaren Wirkung für einen bestimmten Personenkreis verschärfter Maßstab. Doch eine solche Lösung überzeugt nicht, da nicht einleuchtet, 214

215 2,6

Vor allem: Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, S. 280, 340, 355; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, S. 187 f. Dazu Vogel, Norm und Pflicht, S. 329 mwN. Zusammenfassung der Kritik bei Seebode, Spendel-FS, S. 317 fF. In der gemeinschaftsrechtlichen Literatur wird in diesen Fällen sogar eine aus strafrechtlicher Sicht noch näher zu vertiefende Pflicht zur richtliniengetreuen Umsetzung bejaht.

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1. Hauptteil: Die Problematik der unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

warum die rechtliche Verbindlichkeit für den Täter nicht auch ein Kriterium seiner Haftung sein sollte. Der Kreis von Personen, die für eine innerstaatliche Stelle handeln und als Täter in Betracht kommen, läßt sich denn auch in einer Gegenargumentation als Verkehrskreis deuten, für den aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben eben erhöhte Sorgfaltsanforderungen gelten. Schließlich hilft dieser Ansatz auch deshalb nicht weiter, weil sich Richtlinien denken lassen, die sich ganz oder fast ausschließlich an staatliche Stellen richten. Ein weiterer Ansatzpunkt besteht in der Autarkie des strafrechtlichen Fahrlässigkeitsurteils. In der Fahrlässigkeitsdogmatik besteht die Tendenz, daß die Bedeutung einer Vorschrift als relevante Sorgfaltsnorm mit ihrem Normcharakter abnimmt. Über das formelle Gesetz, die innerstaatliche Rechtsverordnung, die Verwaltungsvorschrift bis zur technischen Norm nimmt die „imperative Aussagekraft" der Sorgfaltsregel für das strafrechtliche Fahrlässigkeitsurteil kontinuierlich ab. Arbeitsschutzvorschriften oder sonstige Sorgfaltsnormen indizieren regelmäßig nur den strafrechtlichen Sorgfaltsmaßstab und sind für das Strafrecht nicht als vorgegebene und zwingende Definition zu deuten. Diese zutreffende Grundaussage ist jedoch im Kontext der unmittelbaren Wirkung mit Vorsicht zu behandeln, da es problematisch ist, die Arbeitsschutzregelung in Gestalt der unmittelbar wirkenden Richtlinienvorschrift mit innerstaatlich untergesetzlichen Normen gleichzusetzen. Die Raffinesse dieser Einwirkung besteht darin, daß mittels der unmittelbaren Wirkung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht versucht werden soll, die unzureichende Umsetzung von Richtlinien im Sinne der tatsächlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts (effet utile) wettzumachen. 217 Wenn der unmittelbar wirkenden Richtlinie nationales Recht entgegensteht, vermag sie sich wie sonstiges unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht im Wege des Anwendungsvorrangs durchzusetzen. Das richtlinienspezifische Problem ist folgendes: Mit der Umsetzung wird die Richtlinienvorschrift ζ. B. als Rechtsverordnung in die Formen des innerstaatlichen Rechts gegossen. Soweit eine Richtlinie jedoch unmittelbar wirkt, ist die daraus resultierende verwaltungsrechtliche und hier strafrechtlich zu untersuchende Pflichtenbegründung gemeinschaftsrechtlicher Art. Die nach der Umsetzung unterhalb der Ebene des formellen Gesetzes der innerstaatlichen Rechtsordnung entspringende Rechtspflicht scheint paradoxerweise vor der Umsetzung auf eine unbedingte Autorität beanspruchende Ebene katapultiert zu werden, da der unmittelbar wirkende Richtlinieninhalt sogar in der Lage ist, widerstreitendes innerstaatliches Recht zu verdrängen. Die unmittelbare Wirkung führt zu der eigenartigen Folge, daß sich entsprechende Richtlinieninhalte auf der Vorstufe ihrer Umsetzung in 217

Rengeling in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 28 Rn. 68.

D. Die belastende Wirkung

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innerstaatliches Recht gleichsam selbst mit der „Macht" des Gemeinschaftsrechts durchsetzen. Dann ist es jedoch fraglich und näher zu untersuchen, ob sich das Strafrecht für diesen Fall in das Schneckenhaus des autonomen Fahrlässigkeitsurteils zurückziehen darf. Bereits diese Betrachtung möglicher Antworten zeigt zweierlei. So wichtig es war, die Einwirkung der belastenden unmittelbaren Wirkung anhand konkreter Beispiele zu erforschen und transparent zu machen, so gefährlich ist es, diesen Weg nunmehr fortzusetzen. Der Beweis für das mögliche Vorhandensein belastender Folgen der unmittelbaren Wirkung kann als geführt gelten. Das besagt jedoch nicht, daß die Lösung sogleich in der Dogmatik der beispielhaft aufgeführten Deliktskategorie oder des einzelnen Straftatbestandes zu suchen sein muß. Die grundsätzliche Problematik wird nicht gelöst, wenn tatbestandsspezifische Einzelfragen ausgefochten und zu annehmbaren Ergebnissen geführt werden. Groß ist zudem die immanente Gefahr, den Lösungsvorschlag letztlich an kasuistischen, vom jeweiligen Rechtsgebiet oder Straftatbestand geprägten Erwägungen auszurichten. Dieser Weg bewältigt nur die Etappe, aber erreicht nicht das Ziel, weil der wachsende Einfluß des Gemeinschaftsrechts die Problematik schon bald an anderer Stelle aufblühen lassen und die Übertragbarkeit der Einzellösung fraglich werden kann. Deshalb ist ein Lösungsweg anzustreben, an dessen Ende ein Vorschlag zur grundsätzlichen Lösung der Problematik stehen wird. Die konkrete Betrachtung von Rechtsgebieten, die unter dem Einfluß des Gemeinschaftsrechts stehen, unter gleichzeitiger Beachtung ihrer Einwirkung auf das Strafrecht, tritt somit in den Hintergrund. Dieser Ansatz führt die Untersuchung zunächst zu grundsätzlichen Fragen des Verhältnisses des Gemeinschaftsrechts zum Strafrecht.

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht Um für die aufgezeigten Probleme einen Lösungsvorschlag unterbreiten zu können, bedarf es einer Reflexion von Vorfragen, die das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht prägen. Dabei geht es einmal um strafrechtsspezifische Fragen der Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft. Ohne die strafrechtliche Thematik dieser Untersuchung zurücktreten lassen zu wollen, ist es jedoch zunächst erforderlich, einige europarechtliche Aspekte über das Verhältnis von nationaler Rechtsordnung und Gemeinschaftsrechtsordnung zu beleuchten. Dieser Ausflug in außerstrafrechtliche Gefilde ist erforderlich, da das Strafrecht einen Teil der nationalen Rechtsordnung darstellt und europarechtliche Erkenntnisse über das Verhältnis der Rechtsordnungen somit auch das Strafrecht betreffen. Damit stößt die Untersuchung in ein rechtswissenschaftliches Gebiet vor, in dem zahlreiche Ausdeutungsversuche unternommen wurden. Bleckmann umschreibt das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht als eine Materie, in der die juristische Phantasie so viele verschiedene Lösungswege wie in kaum einem anderen Bereich entwickelt hat. 1 Wenn den Darstellungen der verschiedenen Theorien und Denkansätze zur Bestimmung des Verhältnisses von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht an dieser Stelle ganz bewußt keine weitere hinzugefügt wird, so liegt darin eine Funktionszuweisung für die folgenden Darlegungen. Um die Bewältigung europarechtlicher Streitfragen geht es nicht. Dieser Weg ist gangbar, weil ungeachtet unterschiedlicher dogmatischer Begründungen in der europarechtlichen Wissenschaft und Rechtsprechung über die grundsätzliche Lösung des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht Einigkeit besteht: Dem Gemeinschaftsrecht kommt vor nationalem Recht und unabhängig davon Vorrang zu, ob dieser nun mit der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts oder der verfassungsrechtlichen Ermächtigung begründet wird. 2 Die unterschied1 2

Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1070. Siehe nur Streinz, Europarecht, Rn. 179, 186 ff. Zu den völkerrechtlichen, bundesstaatlichen und verfahrensrechtlichen Lösungsansätzen siehe zusammenfassend Bleckmann in: Bleck-

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

liehen europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Ausgangspunkte werden mittlerweile sogar zu gemischt europarechtlich-verfassungsrechtlichen Ansätzen verschmolzen. 3 Darin kommt zum Ausdruck, wie groß der gemeinsame Nenner geworden ist, ohne damit bestehende Differenzen zwischen rein europarechtlichen und innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Denkansätzen überspielen zu wollen. Es hilft der Betrachtung des Gemeinschaftsrechts aus strafrechtlicher Sicht auch nicht weiter, wenn sogleich auf den möglichen Konfliktfall zugesteuert wird, bei dem das Gemeinschaftsrecht mit dem unaufgebbaren Teil unserer Verfassung gemäß Art. 23 G G kollidiert. Leider sind entsprechende Äußerungen in der strafrechtlichen Literatur noch immer vorzufinden. So wird über das Verhältnis des EGRechts zum Recht der Mitgliedstaaten kurz und knapp behauptet, das EG-Recht sei schon wegen mangelnder Strafrechtskompetenz nicht anders zu beurteilen als multilaterale Übereinkommen, und das Bundesverfassungsgericht habe einen „generellen Anwendungsvorrang" des Gemeinschaftsrechts abgelehnt. 4 Dieses Zitat beschreibt eine Grundhaltung, die nicht weiterführt. 5 Freilich gibt es Differenzen zwischen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und der des Bundesverfassungsgerichts. Diese werden nachfolgend auch benannt, aber nicht in den Vordergrund gerückt, zumal es sich bei der Frage, ob dem Gemeinschaftsrecht uneingeschränkter Vorrang zukommt, um ein europarechtliches und nicht strafrechtliches Problem handelt. Der Sinn der folgenden Ausführungen über das Verhältnis von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht liegt vielmehr in einer Klärung gemeinschaftsrechtlicher Vorfragen und vor allem von Begriffen, die eine Ausdeutung des Verhältnisses der Rechtsordnungen und damit die Bewältigung der Richtlinienproblematik im Strafrecht erleichtern soll. Eine abstrakte Erörterung des Vorrangs und seiner Einwirkung auf das Strafrecht muß blutleer bleiben, solange nicht reflektiert wird, was sich hinter Begriffen wie Geltung, Wirksamkeit und Vorrang des Gemeinschaftsrechts verbirgt. Anderernfalls besteht die Gefahr irriger Assoziationen. Denn die strafrechtliche Denkweise ist in dem innerstaatlichen Rechtskreis verhaftet und weist rechtstheoretischen Begriffen wie dem des Vorrangs bestimmte normhierachische Inhalte zu. Wenn in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts gesprochen wird, muß sich das damit Gemeinte inhaltlich jedoch nicht mit dem decken, was aus einer innerstaatlichen

3 4 5

mann, Europarecht, Rn. 1070 ff.; Rengeling/Middeke/Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 929 fT. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, S. 325. Trönd\el Fischer, vor § 3 Rn. 5 b. Auf die Sachaussagen von Tröndle/Fischer, vor § 3 Rn. 5 b, wird nachfolgend schrittweise eingegangen.

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

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Denkweise heraus assoziiert wird. Dahinter verbirgt sich ein nicht zu unterschätzendes Problem des gedanklichen Zugangs zum Gemeinschaftsrecht. Die zu erörternden Vorfragen werden durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs, des Bundesverfassungsgerichts und der europarechtlichen Lehre ausgeformt und festgelegt. Erkenntnisse grundsätzlicher Art, wie das Modell zweier Rechtsordnungen oder die praktische Lösung der Vorrangfrage werden nachfolgend vorgestellt. Sodann wird im einzelnen aber nicht mehr untersucht, ob europarechtlich von den Ausgangspunkten des Gerichtshofs, des Bundesverfassungsgerichts und der überwiegenden Lehre abweichende Lösungsansätze denkbar wären und wie es in einem solchen Fall um die Einwirkung auf das Strafrecht stünde. Dieser Versuch einer gezielten Festlegung von Kernaussagen steht vor schwerwiegenden Ausgangsproblemen. Gerade wenn es um die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Recht geht, hat in der europarechtlichen Literatur zur Geltung, unmittelbaren Wirkung und unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts keine einheitliche Begriffsbildung stattgefunden. 6 Die Begriffe werden synonym oder mit unterschiedlichem Gehalt verwendet. 7 Die ohnehin komplizierte Ausdeutung des Verhältnisses der Rechtsordnungen wird schon im Ansatz durch terminologische Unsicherheiten unübersichtlich. Ferner handelt es sich um rechtstheoretisch vorgeprägte Begriffe, die bereits in der auf die innerstaatliche Rechtsordnung bezogenen Diskussion nicht einheitlich verwendet werden. 8 In dieser Arbeit geht es nicht darum, diese unterschiedlichen rechtstheoretischen Sichtweisen aufzuarbeiten, sondern deutlich werden zu lassen, was sich gemeinschaftsrechtlich hinter einem Begriff wie dem der Geltung oder dem der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts verbirgt. An diesem terminologisch unsicheren Ausgangspunkt ist es um so wichtiger, den Gedankengang zu strukturieren und auf die Ermittlung für den Fortgang dieser Untersuchung wichtiger Kernaussagen zu konzentrieren. Um diese Aussagen treffen zu können, ist es erforderlich, die eng miteinander verwobenen und daher bei genauem Hinsehen sachlich nicht immer scharf voneinander zu trennenden Fragen des Vorrangs, der Geltung und der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts gleichwohl aufzugliedern. Nur so ist es möglich, aus der Sicht des Strafrechts denkbaren Widersprüchen und vor allem nicht ohne weiteres plausibel erscheinenden Aussagen nachzugehen und die Tür zum Gemeinschaftsrecht gedanklich zu öffnen.

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8

Siehe Jarass, NJW 1990, 2420 f.; Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 26 Fn. 13. Siehe die Beispiele bei Dendrinos, Rechtsprobleme, S. 172 f.; Jarass, NJW 1990, 2420; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 3 ff. Am Beispiel des Geltungsbegriffs siehe nur Küpper, Rechtstheorie 22 (1991), S. 71 ff. mwN.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Viele Autoren sprechen nicht aus, was Hassemer wie folgt umschreibt: „Niemand weiß genau, welche europäischen Regelungen das nationale Recht überlagern oder ersetzen, die Medien berichten eher von skurriler Uberregulation ... als von einem systematisch arbeitenden Regelwerk." 9 Es wäre vermessen, diese Unsicherheit vollends beseitigen zu wollen, aber wir können uns aufmachen, das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht klarer zu strukturieren. Auf diesem Weg ist es am Anfang sinnvoll, sich die Ausgangspunkte des Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zum Grundverhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht zu vergegenwärtigen.

A. Das Verhältnis der Rechtsordnungen Das Gemeinschaftsrecht bildet nach Auffassung des Gerichtshofs eine eigenständige Rechtsordnung. 10 Im Unterschied zu anderen internationalen Verträgen habe der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden sei. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten Hoheitsrechten ausgestattet ist, die aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrühren, haben danach die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist." Diese Sichtweise des Gerichtshofs und hieraus abgeleitete Schlußfolgerungen hinsichtlich des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gehen in weiten Teilen auf Η. P. Ipsen zurück. 12 Auch seine klassische Lehre zum Gemeinschaftsrecht versteht das die Gemeinschaften verfassende und das sonstige Primärrecht sowie das Sekundärrecht als eine eigenständige Gemeinschaftsrechtsordnung, die zum nationalen Recht nicht im Verhältnis der Ableitung oder Abhängigkeit steht. 13 Sie bildet danach eine unabhängige, autonome Rechtsordnung, die im Bereich bis dahin nationaler 9 10

11 12

13

Hassemer, KritV 1999, 133 f. Grundlegend: Die Entscheidung „Costa/ENEL", EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Rs 6/64, Ε 1964, 1251fr. EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Rs. 6/64, Ε 1964, 1251, 1269. Streinz, Grundrechtsschutz und EG-Recht, S. 98; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 154, 159 f. H.P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/5.

Α. D a s Verhältnis der Rechtsordnungen

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Rechtsherrschaft Geltung entfaltet. 14 In diesem Sinne ist die Gemeinschaftsrechtsordnung eine nicht-staatliche, gegenüber dem nationalen Recht fremde Rechtsordnung, die mit dem nationalen Recht keine einheitliche Rechtsmasse bildet 15 und die gemäß ihrer eigenen Grundregeln aus sich selbst heraus entsteht. 16 Auch das Bundesverfassungsgericht hat das Gemeinschaftsrecht als eigene Rechtsordnung eingestuft, 17 der sich über Art. 24 GG 1 8 iVm dem Zustimmungsgesetz die nationale Rechtsordnung mit der Folge geöffnet habe, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des nationalen Herrschaftsbereichs Raum gegeben werde.19 Dieses Grundmodell zweier voneinander getrennter Rechtsmassen ist auch für die Frage der Einwirkung von Richtlinien auf das Strafrecht von großer Bedeutung. Es birgt jedoch zugleich die Gefahr eines Mißverständnisses in sich. Die strafrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts baut im Regelfall auf dem in sich geschlossenen System der innerstaatlichen Rechtsordnung auf. Die angesprochene Gefahr besteht in der Schlußfolgerung, mangels Rechtssetzung der Gemeinschaft im Bereich des Kriminalstrafrechts die alleinige Maßgeblichkeit der nationalen Rechtsordnung für das Strafrecht mit dem Grundmodell zweier Rechtsordnungen zu assoziieren und zur Lösung eines Falles nur den Normen der nationalen Rechtsordnung Bedeutung beizumessen. 20 Wenn europarechtliche Literatur und Rechtsprechung das Nebeneinander der Rechtsordnungen betonen, so darf dieser Ausgangspunkt aus der Sicht des Strafrechts nicht als Wegweiser auf die für einen Sachverhalt anzuwendende Rechtsmasse fehlgedeutet werden. In der strafrechtlichen Würdigung eines Geschehens können vielmehr Vorschriften aus beiden Rechtsordnungen Bedeutung gewinnen. Diese Feststellung mag als Selbstverständlichkeit erscheinen, und sie ist es auch. Gleichwohl gilt es, diesen Gedanken festzuhalten. Die Untersuchung wird gewichtige Anhaltspunkte für eine Ursache der in der Strafrechtspraxis zutage getretenen Probleme bieten: Dem Strafrechtler fallt es aus systematischen und strafrechts-

14

Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/5; Nicolay sen, Europarecht, S. 30; Zuleeg, Das Recht, S. 22. 15 Grimm, RdA 1996, 66, 67; Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/5. 16 Oppermann, Europarecht, Rn. 616. 17 BVerfGE 22, 293, 295f; 31, 145, 173; 37, 271, 277f. 18 Heute ist Art. 23 GG die einschlägige Integrationsnorm. " BVerfGE 37, 271, 280; 58, 1, 28. 20 Diesem Irrtum erlag offenbar das erstinstanzliche Gericht in dem von BGHSt 37, 168 ff. entschiedenen „Umsatzsteuerfall".

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

spezifischen Gründen schwer, Normen im Blick zu behalten, die neben denen des nationalen Rechts anwendbar sind. Es soll folglich trotz unbestreitbarer Fehldeutungen nicht damit sein Bewenden haben, Fehleinschätzungen des Verhältnisses der Rechtsordnungen und der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts zu konstatieren und sodann den Vorwurf einer provinziell anmutenden Haltung oder den der mangelnden Rechtskenntnis zu erheben. 21 Aus diesem Grund ist es notwendig, das abstrakte Bild von den nebeneinander existierenden Rechtsordnungen weiter aufzulösen und auf die Geltung, die Wirksamkeit, die Anwendbarkeit und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Bereich einzugehen.

I. Fragen der Geltung, der Wirksamkeit, der Anwendbarkeit und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts 1. D i e u n m i t t e l b a r e G e l t u n g des G e m e i n s c h a f t s r e c h t s a. Die unmittelbare Geltung aus der Sicht des Gerichtshofs Wenn der Gerichtshof in der Entscheidung „Costa/ENEL" bei der Umschreibung des Verhältnisses der Rechtsordnungen von der Verbindlichkeit des Gemeinschaftsrechts spricht und ausführt, dem Gemeinschaftsrecht dürfe keine je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung zukommen, 22 drückt er damit die Notwendigkeit der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten aus. Diese in der Vorrangfrage noch bedeutend werdende Sichtweise des Gerichtshofs geht damit allgemein von einem Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten aus. In der „Simmenthai II"-Entscheidung 23 wird der Begriif der Geltung mit folgenden Ausführungen näher bestimmt: „Unmittelbare Geltung bedeutet (...), daß die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit entfalten müssen. Diese Bestimmungen sind somit unmittelbare Quelle von Rcchten und Pflichten für alle diejenigen, die sie betreffen, einerlei, ob es sich um die Mitgliedstaaten oder um 21

22 25

Vgl. Thomas, NJW 1991, 2233 zu der in BGHSt 37, 168, 174, wiedergegebenen Auffassung der Vorinstanz, Richtlinien könnten nationalem Recht nicht vorgehen. EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Rs. 6/64, Ε 1964, 1251, 1269f. EuGH, Urteil vom 9.3.1978, Rs. 106/77, Ε 1978, 629ff.

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solche Einzelpersonen handelt, die an Rechtsverhältnissen beteiligt sind, welche dem Gemeinschaftsrecht unterliegen." 24

In der europarechtlichen Literatur wird diese Entscheidung als ausdrücklicher Beleg für die einheitliche und unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten gedeutet. 25 b. Die unmittelbare Geltung aus der Sicht der Literatur Ipsen hat auch die Diskussion um die innerstaatliche Geltung des Gemeinschaftsrechts entscheidend geprägt. Geltungsgrund allen Gemeinschaftsrechts im Geltungsbereich der nationalen Rechtsordnungen ist hiernach seine Herkunft aus der öffentlichen Gemeinschaftsgewalt. 26 Ihre Existenz gehe auf die Verfassungsentscheidung zur Öffnung der Staatlichkeit und das dazu erforderliche Zustimmungsgesetz zurück. 27 Mit ihm habe der deutsche Staat den nach Art. 24 G G verfassungsrechtlich erforderlichen, aber auch ausreichenden Weg beschritten, um den Anspruch auf ausschließliche Geltung nationalen Rechts aufzugeben und die Geltung des Gemeinschaftsrechts im deutschen Rechtsraum zuzulassen. 28 Der deutsche Anteil an dem Gesamtakt der Gemeinschaftserrichtung findet im Sinne Ipsens zwar seine Stütze in Art. 24 Abs. 1 GG, ist im übrigen aber nicht an das Grundgesetz gebunden. 29 Der Begriff des Gesamtakts umschreibt die gleichgerichtete Zielsetzung der Gründerstaaten, die sich nicht obligatorisch in ihrer Willenseinigung erschöpft, sondern auf eine Rechtsordnung gerichtet war, die außerhalb der Staaten existiert und ihnen gegenüber selbständig wirkt. 30 Nach der Integration über Art. 24 G G gilt das Gemeinschaftsrecht aus sich heraus. Nicht die nationale Rechtsordnung stellt dessen Geltung her, sondern das Recht der Gemeinschaften gilt durch sich selbst. 31 Das Primärrecht stellt in diesem Sinne ein gemeinschaftliches Verfassungsrecht dar, dessen Entstehung zwar die mitgliedstaatlichen Verfassungen

24 25

26 27 28 29 30 31

EuGH, Urteil vom 9.3.1978, Rs. 106/77, Ε 1978, 629, 643f. Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Furrer, Die Sperrwirkung, S. 13f.; Nicolaysen, Europarecht I, S. 35; Zuleeg, ZGR 1980, 465, 471 Fn. 21. Auf die im Zusammenhang mit der Geltung der Richtlinie abweichenden Deutungen, vgl. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 174, Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 58 ff. und Leonard, Die Rechtsfolgen der Nichtumsetzung, S. 57, sei an dieser Stelle aus Gründen der Übersichtlichkeit nur hingewiesen; siehe dazu 2. Hauptteil A I . I.e. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/7. Η. Ρ Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 2/56 iVm 10/7. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 2/55; 10/7. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/61. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/27. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/51.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

ermöglichten, die sodann aber nicht mehr als Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts anzusehen seien.32 Der Geltungsgrund für das bei der Errichtung der Gemeinschaften noch nicht vorhandene Sekundärrecht wurzelt für Ipsen in der primärrechtlich verankerten Normsetzungsbefugnis der Gemeinschaftsorgane. Das von ihnen gesetzte Sekundärrecht gelte binnenstaatlich, weil seine Erzeugung als Gemeinschaftsrecht durch nicht-nationalstaatliche Gemeinschaftsorgane in den Verträgen zugelassen sei.33 Ipsens Sichtweise wird deutlich, wenn er anhand der europarechtlichen Verordnung erläutert, daß Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV nicht als Gegenstück zum Transformationsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 G G gesehen und als antizipierte Gesetzestransformation gewertet werden darf. 34 Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV sei Konstitutionsnorm der Gemeinschaft geworden. Mit Art. 24 Abs. 1 G G als Integrationshebel habe die Bundesrepublik die Existenz, Geltung und Wirksamkeit von Gemeinschaftsnormen in ihrem Staatsgebiet neben der nationalen Rechtsmasse anerkannt. 35 Das Gemeinschaftsrecht bedarf für Ipsen keiner, auch nicht der antizipierten Transformation. Es trägt seinen Geltungsgrund in sich. Dieser von innerstaatlichen Umsetzungsakten losgelöste Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts wird in der europarechtlichen Literatur überwiegend im Sinne Ipsens gedeutet. Unabhängig davon, ob Ipsens Lehre vom Gesamtakt im einzelnen gefolgt wird, besteht im Ergebnis überwiegend Einigkeit. Das Gemeinschaftsrecht gelte als eigenständige Rechtsordnung auf dem Boden eines jeden Mitgliedstaats. 36 Einmal entstanden, entfalte das Gemeinschaftsrecht die bindende, normative Geltungskraft, die das Wesen jeglicher regulärer Rechtsnorm ausmache. 37 c. Zwischenergebnis Da auch der Gerichtshof von einem umfassenden Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts ausgeht, ist damit die im Europarecht vorherrschende Grundansicht von der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts umschrieben. 38 32 33 34

35 36

37 38

Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 2/30; siehe auch Nicolaysen, Europarecht, S. 30. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 2/56. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 2/56. Seine in NJW 1964, 339 ff. anderslautende Auffassung hat Ipsen noch in demselben Jahr aufgegeben, siehe bei Η. P. Ipsen, Europarechtliches Kolloquium, S. 1, 20. Η. P. Ipsen, Europarechtliches Kolloquium, S. 1, 26. Rengeling/MiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 876 fT.; Zuleeg, ZGR 1980, 470 f. Oppermann, Europarecht, Rn. 675. Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Gellermann, Beeinflussung, S. 16f.; Nicolaysen, Europarecht I, S. 35; Oppermann, Europarecht, Rn. 627; Zuleeg, ZGR 1980,465, 471 Fn. 21.

Α. D a s Verhältnis der Rechtsordnungen

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Diese vorherrschende Sichtweise umschrieben zu haben, bedeutet sogleich, die Aussage relativieren zu müssen. Sobald die gemeinschaftsrechtliche Literatur Einzelfragen der EG-Normen diskutiert, verschwimmt der Geltungsbegriff. Geht man der Frage nach, was die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten konkret bedeutet, so ergeben sich Unklarheiten bei der Verwendung des Begriffs. Die unmittelbare Geltung soll einmal über die innerstaatliche Anwendbarkeit oder Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Auskunft geben, 39 wie andererseits der Begriff der unmittelbaren Geltung im Zusammenhang mit der Richtlinie nichts über die innerstaatliche Anwendbarkeit aussagen soll.40 Aus innerstaatlicher und damit auch strafrechtlicher Sicht liegt darin ein schwieriges Zugangsproblem. Daher ist es erforderlich, der Geltung und der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts weiter nachzuspüren. d. Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit Die einheitliche und unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts impliziert noch nicht die unmittelbare Anwendbarkeit von Normen des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Bereich.41 Diejenigen Normen, die aus der „anderen Rechtsmasse" in die Rechtsfindung eindringen und im Einzelfall zur Anwendung kommen, können anschaulich als Durchgriffsnormen bezeichnet werden. 42 Sie zeichnet aus, daß sie auf die Mitwirkung des Mitgliedstaats zum Eintritt ihrer unmittelbaren Wirksamkeit nicht angewiesen sind. Diese Durchgriffswirkung kommt nach Ipsen im Sekundärrecht der Verordnung nach Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV grundsätzlich zu,43 kann jedoch auch einer Richtlinienregelung für den Fall der unmittelbaren Wirkung zuteil werden. 44 Diese bedeutsame Unterscheidung zwischen Geltung und Anwendbarkeit ist festzuhalten. Oppermann trifft sie in einer Terminologie, die über den in diesem 39 40

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44

Jarass, DVB1. 1995, 954, 955. Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956; siehe auch Koller, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge und des EWG-Vertrages, S. 215: „Nun sind aber vor allem die unmittelbare Geltung und die unmittelbare Anwendbarkeit solch unterschiedliche Sachverhalte, die bei Gemeinschaftsnormen zwar zusammen gegeben sein können, aber keineswegs immer zusammen vorkommen müssen." Siehe Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 42; Koller, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge und des EWG-Vertrages, S. 215; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956; Oppermann, Europarecht, Rn. 675. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 5/49 ff. Die EG-Verordnung muß und darf nicht umgesetzt werden, soweit sie im Einzelfall nicht Bestimmungen enthält, die weiterer Ausführung durch den nationalen Gesetzgeber bedürfen, siehe Everling, Carstens-FS, S. 95, 101. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 5/57f.; ders. in; Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, §181 Rn. 61.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Zusammenhang ebenfalls häufig verwendeten Begriff der unmittelbaren Wirksamkeit näheren Aufschluß gibt. Nachdem er dem Gemeinschaftsrecht die bindende, normative Geltungskraft zugewiesen hat, die das Wesen jeglicher regulärer Rechtsnorm ausmache, folgt diese Präzisierung. Es stelle sich jeweils die Frage, wem gegenüber die EG-Norm gelte, insbesondere, ob sie nur gegenüber den Mitgliedstaaten Wirkung entfalte, oder auch umfassende und unmittelbare Wirkungen gegenüber dem EG-Bürger. 45 Die Frage sei nach dem Charakter des Rechtsakts (EG-Verordnung, Richtlinie, Entscheidung) und den hierfür in den Verträgen festgelegten Regeln einschließlich ihrer Fortentwicklung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beantworten. 46 Mit Ipsens Terminologie läßt sich diese unmittelbare Wirksamkeit gegenüber dem EG-Bürger als Fall des Durchgriffs einer EGNorm umschreiben. Bis hierhin ist eine erste Aussage zum europarechtlichen Verständnis der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts festzuhalten: Die unmittelbare und einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts bedingt in diesem Sinne nicht die unmittelbare Anwendbarkeit im innerstaatlichen Bereich oder die unmittelbare Wirksamkeit gegenüber dem EG-Bürger. e. Normentheoretische Überlegungen Diese Trennung von Geltung und Anwendbarkeit gibt aus innerstaatlicher Sicht Anlaß zu rechtstheoretischen Erwägungen. Gerade für den Strafrechtler ergibt sich ein ungewohntes und zwiespältiges Bild. Denn er haftet geradezu am positiven Recht und ringt akribisch um die Auslegung einzelner Merkmale des Gesetzes, wobei er grundsätzlich voraussetzt, daß geltendes Recht auch anwendbar ist. aa. Normative Geltung und Anwendbarkeit Um sich Fragen der Geltung von Normen zu nähern, bedarf es einer kurzen Bestimmung dessen, was mit dem Begriff der Geltung hier gemeint ist, da bereits innerstaatlich je nach Ausgangspunkt Unterschiedliches angesprochen sein kann. Damit öffnet sich der Blick auf ein weites Feld,47 aber trotz aller Irritationen um den schillernden Geltungsbegriff lassen sich drei Ausgangspunkte als dem Grunde nach anerkannt ausmachen 4 8 Der Gegenstand des soziologischen Geltungsbegriffs ist die soziale Geltung 4 9 In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff der faktischen Geltung ver45 46 47 48 49

Oppermann, Europarecht, Rn. 675. Oppermann, Europarecht, Rn. 675. Siehe nur Küpper, Rechtstheorie 22 (1991), 71; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 298 ff. Vgl. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, S. 30 f. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 139.

Α. D a s Verhältnis der Rechtsordnungen

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wendet. 50 Eine Norm gilt in diesem Sinne sozial oder faktisch, wenn sie von den Normadressaten in der Regel befolgt wird, habituelle Anwendung findet und generell die Chance ihrer Durchsetzbarkeit besteht. 51 Der soziologische GeltungsbegrifT betont damit einen Wirklichkeitsbezug des Rechts.52 Daneben existiert ein ethisch wertorientierter GeltungsbegrifT.53 Als prägnante Ausprägung dieses Ansatzes kann die Darlegung Radbruchs angeführt werden, nach der einer Vorschrift die Rechtsnatur abzuerkennen sei, falls der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreiche.54 Dieser naturrechtliche Ansatz hat bekanntlich in den „Mauerschützenfällen" wieder an Aktualität gewonnen. 55 Hier von Interesse und angesprochen ist der normative GeltungsbegrifT.56 Der Begriff der normativen Geltung meint die Maßgeblichkeit oder Verbindlichkeit einer Verhaltensanforderung oder eines Maßstabes, an dem sich menschliches Verhalten messen lassen muß. 57 Er spricht die ordnungsgemäße Entstehung und die Verbindlichkeit einer Norm an. Wenn der Jurist fragt, ob ein Gesetz „gilt", dann meint er regelmäßig nicht, ob es stets oder auch nur in den meisten Fällen befolgt wird, sondern, ob der ihm als Norm eigene Geltungsanspruch nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften über die Gesetzgebung gerechtfertigt ist.58 In diesem Sinne läßt sich auch von einer Gültigkeit der Norm 59 oder von der verfassungsmäßigen Geltung sprechen. 60 Ist das der Fall, folgt daraus grundsätzlich der Anspruch auf Verbindlichkeit der Norm. 61 Sie ist verbindlich geltendes und anwendbares Recht. 62 50 51 52 53 54

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Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 299. J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 154 f. mwN. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, S. 34. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 141. Radbruch, SJZ 1947, 105, 107; siehe auch BVerfGE 23, 98 und Küpper, Rechtstheorie 22 (1991), 71,85. Siehe nur BGHSt 39, 1, 15 ff. und H. Dreier, JZ 1997, 421 ff. jeweils mwN. Teilweise wird wiederum zwischen der juristischen Geltung im Sinne einer ordnungsgemäßen Entstehung und einer normativen Geltung im Sinne einer Verbindlichkeit der Norm differenziert, siehe Küpper, Rechtstheorie 22 (1991), 71 f., 74. Diese weitere Aufspaltung des normativen Geltungsbegriffs wird hier nicht vollzogen. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 17. Ferner Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 58ff.; Lorenz, Das Problem der Rechtsgeltung, S. lOff. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 18; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 298. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 8. R. Schreiber, Geltung von Rechtsnormen, S. 64. Hoerster, JuS 1987, 182f. Damit soll freilich nicht behauptet werden, daß sich die verschiedenen Geltungsbegriffe scharf voneinander trennen lassen. So muß nach Kelsen eine gewisse Wirksamkeit von Normen zu ihrer Setzung hinzutreten, damit eine Rechtsordnung ihre Geltung nicht verliert, siehe Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 215 ff. Auch Engisch sieht die Geltung der Norm in Frage

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Prinzipiell ist aus der Geltung einer Norm auf ihre Anwendbarkeit zu schließen. 63 Die geltende N o r m hat Anwendungsfahigkeit und Anwendungswillen. Das ist die Normalbefindlichkeit 64 oder das Wesen 65 einer Norm. Sie ist für den Rechtsanwender abstrakt anwendungsfähig. 66 Vor dem Hintergrund des normativen Geltungsbegriffs und der daraus grundsätzlich folgenden Verbindlichkeit und Anwendungsfahigkeit einer Norm erscheint der gemeinschaftsrechtliche Geltungsbegriff nicht ohne weiteres als plausibel, da aus ihm nicht die regelmäßige Anwendbarkeit herzuleiten sein soll. bb. Geltung, Anwendbarkeit und Trennung der Rechtsordnungen Die rechtstheoretischen Aussagen zur Geltung und Anwendbarkeit lassen sich bei isolierter Betrachtung des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich übertragen. Ungeachtet der Besonderheiten beim Zustandekommen des Primärrechts 67 muß auch eine Norm des Gemeinschaftsrecht gültig sein, um Sollensgebote aufstellen zu können. 68 Aufgrund ihrer Geltung wird auch die gemeinschaftsrechtliche Norm grundsätzlich anwendungsfahig. 69 Bis hierhin besteht bei isolierter Betrachtung der Rechtsordnungen eine Parallelität zum innerstaatlich-normativen Geltungsbegriff und der hinsichtlich einer abstrakten Anwendbarkeit zu ziehenden Konsequenzen.

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gestellt, wenn sie „nur noch auf dem Papier" steht, siehe Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 59; ferner Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 322 ff. F ü r die hier vorzunehmende BcgrifTsklärung kommt es darauf aber nicht a n . Es soll nur der gedankliche Ausgangspunkt klargestellt werden: Das ist der normativ-juristische Geltungsbegriff. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 8. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 8. Allerdings weist Klein zu Recht darauf hin, d a ß die Rechtsordnung ein Auseinanderfallen von Geltung und Anwendbarkeit vorsehen kann. So schreibt Art. 115k Abs. 1 G G unter bestimmten Voraussetzungen die Nichtanwendung geltender Gesetze vor. Weiteres Beispiel: Art. 80a GG, siehe Klein, ebenda, S. 8f. Aus strafrechtlicher Sicht sind die Differenzierungen zwischen Geltung und Anwendbarkeit eines Strafgesetzes in § 2 StGB zu erwähnen. Bach, J Z 1990, 1108, 1110; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 135. Bach, J Z 1990, 1108, 1110. Ob sie indes konkret zur Anwendung kommt, ist eine andere Frage. D a s hängt ζ. B. von der Subsumierbarkeit eines Lebenssachverhaltes oder von Normenkonkurrenzen ab. Auf der Ebene des Zustandekommens ist ein nationalstaatlicher Akt (Transformations- oder Vollzugsbefehl) notwendig, um dem Primärrecht Geltung zu verschaffen, siehe Klein, Unmittelbare Geltung, S. 9. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 9. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Maßstabsnormen f ü r das Sekundärrecht siehe Schilling, E u G R Z 2000, 3, 30. Zur verfahrensrechtlichen Seite der Überpüfung des Sekundärrechts durch den Gerichtshof und den unterschiedlichen Rechtsfolgen siehe RengelinglMiddeke!Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 119ff., Rn. 409ff. und passim sowie Schilling, Rang u n d Geltung von N o r m e n in gestuften Rechtsordnungen, S. 5721Γ. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 9.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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Gleichwohl ist mit der Aussage von der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts mehr und auch anderes verbunden. Soweit der Gerichtshof ausführt, dem Gemeinschaftsrecht dürfe keine je nach der innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung zukommen, 70 dann meint er damit zunächst nicht eine juristische Geltung im engeren Sinne. Er spricht damit nicht die Frage an, ob etwa eine EG-Verordnung dem Primärrecht entspricht und ordnungsgemäß erlassen wurde. Das Vorhandensein einer im juristischen Sinne geltenden Vorschrift liegt seinen Ausführungen zugrunde. Der europarechtliche Begriff der unmittelbaren und einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts widmet sich in diesem Sinne nicht isoliert einzelnen Normen des Gemeinschaftsrechts, sondern nimmt mit Blick auf die einheitliche Geltung und Funktionsfahigkeit in den Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht als Ganzes in Bezug.71 Dahinter verbirgt sich inhaltlich ein umfassender Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts, sich frei und unabhängig vom Recht der Mitgliedstaaten entfalten zu können. Indem der Gerichtshof ausführt, unmittelbare Geltung bedeute, daß die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit entfalten müssen,72 umschreibt er damit den Anspruch und das Potential des Gemeinschaftsrechts, aus sich heraus einheitlich in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung kommen zu können. Letztlich drückt dieser Geltungsanspruch den wesentlichen Unterschied zum Völkerrecht aus, weil Normen des Gemeinschaftsrechts ohne nationalen Ratifikationsakt innerstaatliche Bindungen erzeugen können. Wichtig ist der nun folgende Gedankenschritt: Diese unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts impliziert nicht seine Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten im Sinne der Erzeugung von Rechten oder Pflichten der einzelnen Rechtssubjekte. Vielmehr gibt es Normen, die gleichsam auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts verharren und solche, die innerstaatlich wirken. 73 Dem Begriff der unmittelbaren Geltung wohnt somit kein Imperativ hinsichtlich der innerstaatlichen Anwendung einer Norm des Gemeinschaftsrechts inne. Wie überaus kompliziert der Zugang zu diesen Fragen ist, sei anhand von Äußerungen Ipsens belegt. Zur Richtlinie heißt es bei Ipsen: „Richtlinie und EGKSV70 71 72 73

EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Rs. 6/64, Ε 1964, 1251, 1270. Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 627 ff. EuGH, Urteil vom 9.3.1978, Rs. 106/77, Ε 1978, 629ff. Aus der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten kann man freilich solche Normen ausnehmen, die nicht die Mitgliedstaaten ansprechen und auch nicht innerstaatlich wirken. Zu denken ist hierbei ζ. B. an das Recht der Bediensteten der Gemeinschaft, vgl. Zuleeg, Das Recht, S. 25.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Empfehlung haben in dem Sinne, der eine Rechtsnorm derart rechtlich charakterisiert, regelmäßig keine Geltung, da sie mit ihren Folgepflichten nur Mitgliedstaaten als solche, nicht Marktbürger ,anspricht'." 74 Weitere Textpassagen bei Ipsen vermitteln aber einen anderen Eindruck, wenn es heißt, die aus Primär- und Sekundärrecht bestehende Gemeinschaftsrechtsordnung entfalte im Bereich bis dahin nationaler Rechtsherrschaft Geltung. 75 An anderer Stelle heißt es, das Sekundärrecht gelte binnenstaatlich. 76 Der unbefangene Leser fragt sich, was denn nun richtig ist. Da die Richtlinie zum Sekundärrecht zählt und dieses in den Mitgliedstaaten gelte, müsse doch auch die Richtlinie mitgliedstaatlich gelten. Das scheint Ipsen mit seiner ersten und soeben wörtlich zitierten Aussage gerade zu verneinen. Ipsen meint mit seinen Ausführungen jedoch Unterschiedliches. Er verneint mit seiner ersten Aussage eine dem innerstaatlichen Gesetz vergleichbare und umfassende normative Wirkung der Richtlinie. Um es mit Ipsen zu sagen: Sie spricht den Marktbürger grundsätzlich nicht an, wirkt nicht unmittelbar und erzeugt in dem Sinne, der eine Rechtsnorm derart rechtlich charakterisiert, keine Geltung. Die anderen und dazu scheinbar widersprüchlichen Aussagen Ipsens betonen den allgemeinen und einheitlichen Geltungsanspruch des Sekundärrechts in den Mitgliedstaaten. 77 Mit anderen Worten: Wenn Gerichtshof und europarechtliche Literatur von der unmittelbaren und einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten sprechen, wollen sie damit nicht sagen, jedwede in diesem Sinne geltende Norm des Gemeinschaftsrechts sei innerstaatlich auch anzuwenden. Vor dem Hintergrund zweier getrennter Rechtsordnungen kann aus der allgemeinen unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts innerstaatlich, also in einer anderen Rechtsordnung, nicht seine unmittelbare Anwendbarkeit abgeleitet werden, denn die innerhalb einer Rechtsordnung richtige Schlußfolgerung von der Geltung auf die Anwendbarkeit kann nicht unbesehen auf dieses besondere und gemeinschaftsrechtlich geprägte Zusammenspiel zweier Rechtsordnungen übertragen werden. Man kann in diesem Zusammenhang auch von der Ebene des Gemeinschaftsrechts und der Ebene des innerstaatlichen Rechts sprechen. Der Begriff der einheitlichen und unmittelbaren Geltung will noch nichts über die innerstaatliche Anwendbarkeit sagen.78

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Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 21/23. Kursivdruck im Original. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/5. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 2/56. Siehe auch die Differenzierung bei Gellermann, Beeinflussung, S. 16f., 145f. Koller, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge und des EWG-Vertrages, S. 215.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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d. Die innerstaatliche Wirksamkeit Um innerstaatlich angewendet werden zu können, bedarf es vielmehr der innerstaatlichen unmittelbaren Wirksamkeit einer N o r m des Gemeinschaftsrechts. Sie wird auch als unmittelbare Anwendbarkeit bezeichnet. 79 Diese Wirksamkeit einer Norm, die im Sinne Ipsens auch als DurchgrifFsnorm bezeichnet werden kann, entspringt dem Gemeinschaftsrecht selbst. Sie zeigt sich in der Begründung von Rechten oder Pflichten für den Marktbürger. 80 Sie kann N o r m e n des Primär- und Sekundärrechts zuteil werden, denn mit dem Inkrafttreten der Verträge sind nicht nur die eigentlichen Vertragsbestimmungen prinzipiell anwendbar geworden, sondern auch das von den Gemeinschaftsorganen gesetzte Sekundärrecht. 81 Verkürzt läßt sich die Wirksamkeit oder Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts aus der Sicht des innerstaatlichen Rechtsanwenders wie folgt umschreiben: Es handelt sich bei den innerstaatlich wirksamen N o r m e n um die Teilmenge des Gemeinschaftsrechts, die seine Rechtsfindung unmittelbar beeinflussen kann, wobei das Gemeinschaftsrecht aus sich heraus bestimmt, ob es diese unmittelbare Wirksamkeit erzeugen will. 82 aa. Innerstaatliche Wirksamkeit des Primärrechts Die Gründungsverträge binden nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern ihre Bestimmungen können auch unmittelbar Rechte und Pflichten des Marktbürgers begründen. 83 Bei der im weiteren Sinne auch strafrechtliche Bezüge aufweisenden Regelung der Artt. 81, 82, ex-Artt. 85, 86 EGV, handelt es sich um ein eindeutiges Beispiel, da sich die unmittelbare Wirksamkeit dieser primärrechtlichen N o r m e n 79

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Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1172 fT.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 249; Oppermann, Europarecht, Rn. 629, 676. RengelinglMiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 880; Stern, JuS 1998, 769, 770. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 9 f. Zur Terminologie: Es geht bei der Wirksamkeit im Sinne der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts mit dem soeben umschriebenen Inhalt nicht um die Frage, ob eine Norm angewendet wird oder rechtstatsächliche Beachtung findet. Unter diesen Gesichtspunkten wird der Begriff der Wirksamkeit unterschiedlich gedeutet, siehe etwa Hoerster, Marcic-GS, S. 585, 589f., der seinen Blick auf das normkonforme Verhalten der Rechtsunterworfenen richtet und die Wirksamkeit damit in einen Zusammenhang mit der Befolgung einer Norm bringt. Anders dagegen die Definition bei Lippold, Rechtstheorie 19 (1988), 463, 469: „Eine Norm oder eine Gruppe von Normen ist wirksam, wenn sie faktisch in einem bestimmten raumzeitlichen Bereich angewendet werden." Lippold setzt die Wirksamkeit einer Norm also mit ihrer Anwendung in Zusammenhang. Zusammenfassender Überblick bei Küpper, Rechtstheorie 22 (1191), 71, 73 f. mwN. Der Begriff der unmittelbaren Wirksamkeit in dem hier verwendeten Sinne ist mit dieser Diskussion der Wirksamkeit aber nicht zu vermengen. Streinz, Europarecht, Rn. 349.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

zwanglos ergibt. Diese Vorschriften wenden sich schon ihrem Wortlaut nach unmittelbar an einzelne Rechtssubjekte in den Mitgliedstaaten. Im strafrechtlichen Zusammenhang ist jedoch zu betonen: Diese primärrechtliche Grundlage des europäischen Kartellbußgeldrechts vermittelt keinen repräsentativen, sondern einen eher irreführenden Eindruck. 84 Vielmehr können auch Vorschriften, die sich ihrem Wortlaut nach nur an die Mitgliedstaaten richten, unmittelbar wirken und Rechte des einzelnen begründen. Trotz aller Kasuistik lassen sich folgende Grundvoraussetzungen der unmittelbaren Wirksamkeit anführen: 85 Die Norm muß rechtlich vollkommen sein.86 Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Vorschrift ohne weitere Konkretisierung anwendbar ist. Sie muß ferner unbedingt sein und in einer Handlungs- oder Unterlassungspflicht für die Mitgliedstaaten bestehen, die keine weiteren Maßnahmen der nationalen Gesetzgeber erfordern. Schließlich darf sie den Mitgliedstaaten keinen Ermessensspielraum einräumen. Der Gerichtshof hat im Zuge seiner Rechtsprechung zahlreiche Vorschriften des Primärrechts für anwendbar erklärt 87 und so Individualrechte begründet, die dem Marktbürger zur Seite stehen können. bb. Innerstaatliche Wirksamkeit des Sekundärrechts Welchen Sekundärrechtsakten innerstaatliche Wirksamkeit zukommt, bestimmt grundsätzlich Art. 249, ex-Art. 189 EGV. Diese Vorschrift legt das sekundärrechtliche Rechtssetzungsinstrumentarium fest, das Teil der Zustimmungsgesetze war. Darin liegt eine mitgliedstaatliche Anerkennung der Existenz, Geltung und Wirksamkeit von Gemeinschaftsnormen neben der nationalen Rechtsmasse, 88 auch wenn diese Normen im Zeitpunkt der Schaffung und mitgliedstaatlichen Ratifikation des Primärrechts noch nicht existierten. Die Normsetzung mittels dieses Instrumentariums, also der konkrete Rechtsakt, wurde gleichsam in die Hände der Gemeinschaftsorgane gelegt, ohne zu wissen, was da kommt. Die Anwendbarkeit des Sekundärrechts beantwortet also das Gemeinschaftsrecht nach Maßgabe der Verträge selbst,89 wobei auch die grundsätzlich anzuwendende sekundärrechtliche 84 85

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Jarass, NJW 1990, 2420. Siehe Fischer, Europarecht, S. 104f.; Nicolaysen, Europarecht, S. 34; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 375 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 349; Stern, JuS 1998, 769, 771. Grundlegend: EuGH, Urteil vom 5.2.1963, Rs. 26/62, Ε 1963, 3 ff. Siehe etwa die Nachweise bei Fischer, Europarecht, S. 104f.; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 25f. insbesondere Fn. 355; ferner Schmidt in: von der Groeben, EU-/EG-Vertrag, Art. 189 Rn. 9, Fn. 30; Schweitzer!Hummer, Europarecht, Rn. 846. Η. P. Ipsen, Europarechtliches Kolloqium, S. 1, 26. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 10.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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EG-Verordnung „rechtlich vollkommen" sein muß, um innerstaatlich wirken zu können. 90 Nimmt man das Vertragswerk zur Hand und studiert Art. 249, ex-Art. 189 EGV, so kann der Begriff der unmittelbaren Geltung in Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV auch als „unmittelbar anwendbar" gelesen werden. Hier könnte ein G r u n d für die uneinheitliche Terminologie in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur im Zusammenhang mit dem Begriff der unmittelbaren Geltung zu suchen sein und exakt an diesem Punkt ergibt sich ein Verständnisproblem für den am Wortlaut von Normen haftenden Strafrechtler. Wer den Faden vom Wortlaut des EGV her aufwickelt, verbindet mit dem Begriff der unmittelbaren Geltung nur die innerstaatliche Wirksamkeit im Sinne von Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV und wird fortan nicht geneigt sein, allgemein und unter Einschluß aller Rechtsakte von einer unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts zu sprechen. 91 cc. Die terminologische Gleichsetzung von innerstaatlicher Wirksamkeit und unmittelbarer Geltung Nach den vorhergehenden Erwägungen kristallisiert sich eine Ursache für die uneinheitliche Verwendung des Geltungsbegriffs heraus. Die schillernde Terminologie beruht zumindest auch auf dem Wortlaut des Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV und der dadurch bewirkten gedanklichen Gleichsetzung von unmittelbarer Geltung und unmittelbarer Wirksamkeit oder Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts. D a diese terminologischen Unsicherheiten den Zugang zur gemeinschaftsrechtlichen Literatur sehr erschweren, sollen sie anhand einer Gegenüberstellung von Literaturstimmen nochmals konkret herausgearbeitet werden. Bei Jarass heißt es: Solle eine bestimmte Vorschrift des EG-Rechts vor Gerichten der Mitgliedstaaten zur Anwendung kommen, müsse zunächst geklärt werden, ob sie unmittelbare Geltung bzw. Wirkung besitze. Es gehe dabei herkömmlich um die Frage, ob eine EG-Norm allein die Mitgliedstaaten verpflichte oder aber auch inner90

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Vgl. EuGH, Urteil vom 24.10.1973, Rs. 84/71, Ε 1977, 595, 596; RengelinglΜiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 887. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien fügt sich indessen in beide Sichtweisen nicht ein. Sie paßt nicht zum Wortlaut des Art. 249, ex-Art. 189 EGV. Denn auch bei einer Deutung des Begriffs der unmittelbaren Geltung in Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV im Sinne einer unmittelbaren Anwendbarkeit oder Wirksamkeit findet sich eine derartige Formulierung in Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV eben nicht. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung begründet im Ergebnis eine Art partielle Wirksamkeit einzelner Richtlinieninhalte. An diesem Punkt zeigt sich die vom Bundesverfassungsgericht konstatierte und gebilligte Rechtsfortbildung, siehe BVerfGE 75, 223, 241 f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

staatlich zum Tragen komme und daher von den Gerichten der Mitgliedstaaten zu beachten sei. Im zweiten Falle spreche man von unmittelbarer Geltung, unmittelbarer Anwendbarkeit oder unmittelbarer Wirkung. 92 Jarass stellt die unmittelbare Geltung der E G - N o r m also in einen Zusammenhang mit der unmittelbaren Wirkung und unmittelbaren Anwendbarkeit einer E G - N o r m . Diese Ausführungen umschreiben einen Pol des Spannungsfeldes, das auf den Geltungsbegriff einwirkt: Die unmittelbare Geltung einer E G - N o r m steht hiernach in einem Zusammenhang mit der innerstaatlichen Anwendbarkeit der Vorschrift. Ausführungen Langenfelds zur Richtlinie weisen auf den anderen Pol: „Unmittelbare Geltung ... bedeutet danach nichts anderes, als daß Richtlinien ebenso wie Verordnungen als Bestandteil des aus einer autonomen Quelle fließenden Gemeinschaftsrechts, sozusagen kraft ihrer Erzeugung durch die Gemeinschaftsorgane, Teil der nationalen Rechtsordnung werden und keiner Inkorporation bedürfen, um innerstaatlich unmittelbar gelten zu können. Ob die betreffende Norm des Gemeinschaftsrechts darüber hinaus unmittelbarer Anwendung fähig ist und damit unmittelbare Wirkungen im innerstaatlichen Rechtsraum zu erzeugen vermag, hängt freilich von weiteren Bedingungen ab." 93 N a c h diesen Ausführungen gilt das Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten unabhängig von der Frage seiner Anwendbarkeit. D i e vorliegende Untersuchung findet den schillernden Geltungsbegriff vor, aber kann ihn nicht beseitigen, denn er ist in der Welt. D a durch die Terminologie aus einer im innerstaatlichen Recht verhafteten Denkweise heraus unwillkürlich eine irreführende Verknüpfung hergestellt werden kann, versteckt sich an diesem Punkt gleichsam eine Art gedankliche Stolperstelle. 94

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Siehe Jarass, DVB1. 1995,954,955. Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. Nach alledem könnte man rechtstheoretisch erwägen, zwei unterschiedliche Geltungsbegriffe zu verwenden. Die allgemeine unmittelbare Geltung im Sinne des Geltungsanspruchs des Gemeinschaftsrechts und die konkrete unmittelbare Geltung im Sinne der unmittelbaren Wirksamkeit und Anwendbarkeit. In der Literatur taucht dieser Gedanke auch auf: So spricht Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 248 a. E. von „verschiedenen Stufen der innerstaatlichen Geltung". Wehr, Inzidente Normverwerfung, S. 49 Fn. 114, definiert die Geltung allgemein als die Beachtlichkeit eines europäischen Rechtssatzes als objektives Recht und spricht von unmittelbarer Geltung im Fall der unmittelbaren Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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e. Die Frage nach der unmittelbaren Geltung der Richtlinie aa. Überblick Die Ausrichtung dieser Untersuchung verlangt noch, die Frage der unmittelbaren Geltung der Richtlinie anzusprechen. In der europarechtlichen Diskussion des Richtlinienrechts ist diese Frage umstritten. 95 Ein Teil der Literatur spricht der Richtlinie die unmittelbare Geltung ab,96 wie umgekehrt andere Autoren keinen Zweifel an der unmittelbaren Geltung der Richtlinie zulassen. 97 Nach den vorhergehenden Überlegungen überrascht uns dieser Streit nun nicht mehr. Die terminologische Gleichsetzung von unmittelbarer Anwendbarkeit und unmittelbarer Geltung schlägt auf die Einordnung der Richtlinie durch. Das läßt sich konkret nachweisen: Ruft man sich die Grundstruktur der Richtlinie als einen an die Mitgliedstaaten gerichteten Rechtsakt und die zuvor dargelegten Ausführungen von Jarass98 zur unmittelbaren Geltung in Erinnerung, müßte Jarass im Gegensatz zu Langenfeld99 der Richtlinie die unmittelbare Geltung absprechen. Im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung führt Jarass denn auch aus: „Das Kernproblem der richtlinienkonformen Auslegung besteht in der bereits angesprochenen Frage, ob Richtlinien auch dann, wenn sie keine unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten besitzen, über das Institut der richtlinienkonformen Auslegung gleichwohl in die Entscheidungen von nationalen Gerichten einfließen können und müssen." 100

In ihrem Kern entflammt die Diskussion um die unmittelbare Geltung der Richtlinie immer dann, wenn mit dem Begriff der unmittelbaren Geltung gedanklich sogleich die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie mitschwingt. Der Richtlinie wird in Abgrenzung zur Verordnung die unmittelbare Geltung abgesprochen, 101 um 95

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Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Gellermann, Beeinflussung, S. 15; Götz, NJW 1992, 1849, 1851; Langenfeld, DÖV 1992,955,956; Oldenbourg, Unmittelbare Wirkung, S. 14ff.;N. Weber, Die Richtlinie im EWG-Vertrag, S. 105. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 58ff; Leonard, Die Rechtsfolgen der Nichtumsetzung, S. 87ff; Oldenbourg, Unmittelbare Wirkung, S. 14ff. Bach, JZ 1990, S.l 108, 1110; Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 46 f.; Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 2; Dendrinos, Rechtsprobleme, S. 160f.; Gellermann, Beeinflussung, S. 16 f.; Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 48, ders. EuR 1971, 1, 8; Haneklaus, DVB1. 1993, 129f.; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 12; N. Weber, Die Richtlinie im EWG-Vertrag, S. 105. Jarass, DVB1. 1995, 954, 955. Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. Jarass, EuR 1991,211,213. Siehe ζ. B. Everting, Carstens-FS, S. 95, 107. Dort heißt es: „Der Gerichtshof hat freilich der Richtlinie nicht wie der Verordnung allgemein unmittelbare Geltung zugesprochen ..."

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

ihre grundsätzliche Unanwendbarkeit für die innerstaatliche Rechtsfindung deutlich zu machen. Diese Auffassung kann sich auf das erwähnte Wortlautargument gemäß Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV stützen, wonach nur die Verordnung in den Mitgliedstaaten unmittelbar gelten soll. Wichtig für diese Untersuchung der Einwirkung des Richtlinienrechts auf das Strafrecht ist folgende Erkenntnis: Die europarechtlich diskutierenden Autoren sind sich bei näherem Hinsehen sehr viel näher als es scheint. Sie wären es nur dann nicht, wenn die Verfechter der unmittelbaren Geltung der Richtlinie damit ihre unmittelbare Wirksamkeit intendiert wissen wollten. Doch das ist nicht der Fall. Sie wählen lediglich das Grundverhältnis der Rechtsordnungen als Ausgangsbasis ihrer Betrachtung. Unmittelbare Geltung bedeutet in diesem Zusammenhang sodann nichts anderes, als daß Richtlinien wie Verordnungen als Bestandteil des aus einer autonomen Quelle fließenden Gemeinschaftsrechts, sozusagen kraft ihrer Erzeugung durch die Gemeinschaftsorgane, Teil der nationalen Rechtsordnung werden. 102 Die Frage, ob die betreffende Norm des Gemeinschaftsrechts darüber hinaus innerstaatlich anwendbar ist, isolieren diese Autoren von der Geltungsfrage. 103 Diese Sichtweise ist konsequent, da sie die Richtlinie von der allgemeinen einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts nicht ausnimmt. Wenn man diesem Ansatz folgt, so ist Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV in der Tat kein stichhaltiges Argument mehr. Denn dann wird in Art. 249, ex-Art. 189 EGV lediglich bestimmt, welche Normenkategorie des allgemein geltenden Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar sein soll. Das ist bei der Verordnung nach Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV gegeben, während die Richtlinie als solche zwar unmittelbar gilt, aber grundsätzlich nur den in Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV umschriebenen Umsetzungsbedarf auslöst. Deutlich wird diese Sichtweise etwa bei Grabitz, der die Richtigkeit der Übersetzung des Vertrages anzweifelt und ausführt, in Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV müsse die Formulierung „gilt unmittelbar" durch „ist unmittelbar anwendbar" ersetzt werden. 104 In diesem Sinne gibt Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV

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Gemeint ist mit dieser „allgemeinen unmittelbaren Geltung" offenbar eine verordnungsgleiche, umfassende unmittelbare Wirksamkeit. Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 2; Gellermann, Beeinflussung, S. 17; Klein, Everling-FS, S. 641, 642f.; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 48ff; ders. EuR 1971, 1, 8. Nach der deutschen Fassung spricht der Wortlaut des Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV dafür, von den Sekundärrechtsakten nur die EG-Verordnung als unmittelbar geltenden Rechtsakt einzustufen. Die Worte „unmittelbar gilt" lesen sich in fremdsprachigen Fassungen anders. In der englischen Fassung des Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV finden sich die Worte „directly applicable", in der französischen Fassung die Worte „direcetment applicable" und in der italienischen Fassung „e direttamente applicabile" was wörtlich eher

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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also nur über die unmittelbare Anwendbarkeit Auskunft, trifft jedoch keine Aussage über die grundsätzlich zu bejahende Geltung des Gemeinschaftsrechts. So betonen denn auch Anhänger dieser Meinung ausdrücklich, die unmittelbare Geltung der Richtlinie bedeute nicht zugleich, daß sie auch der unmittelbaren Anwendung fähig ist und damit unmittelbare Wirkungen im innerstaatlichen Rechtsraum erzeugt.105 In der jüngeren europarechtlichen Literatur hat zudem Brechmann in einer Untersuchung zur richtlinienkonformen Auslegung gegen die unmittelbare Geltung der Richtlinie argumentiert. Er meint, der Gerichtshof sei in der „Simmenthai II"-Entscheidung 106 nicht von einer unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten ausgegangen. Zur Begründung führt er an, der Gerichtshof habe nur die Wirkung umschreiben wollen, die eine unmittelbar geltende Norm im innerstaatlichen Bereich einnimmt. Welche der Normen im innerstaatlichen Bereich unmittelbar gelten solle, habe der Gerichtshof nicht festgestellt.107 Diese Deutung überzeugt jedoch nicht. Nach dem Wortlaut der Entscheidung wendet sich der Gerichtshof ohne jede Ausnahme allgemein den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zu. Das verdient Aufmerksamkeit, denn er differenziert nicht zwischen einzelnen Rechtsakten. Er nimmt alle Bestimmungen und damit denknotwendig auch diejenigen in Bezug, die innerstaatlich grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar sind. Dazu gehört die Richtlinie, denn ihre unmittelbare Wirkung ist die Ausnahme und nicht die Regel. Diese Bestimmungen seien unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten für alle diejenigen, die sie betreffen, einerlei, ob es sich um die Mitgliedstaaten oder um Einzelpersonen handele. 108 Diese Eigenschaft mißt der Gerichtshof den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts explizit vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bei. Da der Gerichtshof aber nicht nur Normen anspricht, die für den Marktbürger unmittelbar wirken, sondern auch Vorschriften einbezieht, die

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mit „unmittelbar anwendbar" als „unmittelbar gilt" zu übersetzen wäre, näher dazu Dendrinos, Rechtsprobleme, S. 172; Jarass, NJW 1990, 2420, 2421; Koller, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge und des EWG-Vertrages, S. 207 f. Koller, ebenda S. 207 bezeichnet im Gegensatz zu Grabitz die deutsche Übersetzung als richtig und die anderen als irreführend. Angesichts dieser terminologisch sehr unsicheren Ausgangslage ist es fragwürdig, wenn Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 61 f., die Frage der Geltung der Richtlinie nur anhand des deutschen Wortlauts des Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV entscheiden will. Gellermann, Beeinflussung, S. 16 f.; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. EuGH, Urteil vom 9.3.1978, Rs. 106/77, Ε 1978, 629, 643f. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 174; ähnlich Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 61; Leonard, Die Rechtsfolgen der Nichtumsetzung, S. 57 f. EuGH, Urteil vom 9.3.1978, Rs. 106/77, Ε 1978, 629, 643 f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

sich an die Mitgliedstaaten wenden, d a n n meint er auch die Richtlinie. Denn sie wendet sich mit ihrem Inkrafttreten an die Mitgliedstaaten. Brechmann selbst differenziert zwischen primärer und sekundärer Geltung, primärer und sekundärer Wirksamkeit sowie primärer und sekundärer Anwendbarkeit der Richtlinie. 109 U m die Begriffsverwirrung in Grenzen zu halten, sei Brechmanns Auffassung hierzu nur kurz resümiert. Die primäre Geltung und Anwendbarkeit betreffe das Außenverhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten. Diese primäre Wirkung der Richtlinie unterscheide sich von einer möglichen sekundären Rechtswirkung, die eine Richtlinie innerhalb der nationalen Rechtsordnung als Teil deren objektiven Rechts besitzen könne. Die sekundäre Geltung und Anwendbarkeit im innerstaatlichen Bereich bedürfe im Verhältnis zweier Rechtsordnungen einer zusätzlichen rechtlichen Anordnung. Diese komme aus dem Gemeinschaftsrecht und beruhe auf der rechtsfortbildenden und vom Wortlaut des Art. 189 Abs. 3 G G nicht gedeckten Rechtsprechung des Gerichtshofs. Die sekundäre Geltung der Richtlinie folge aus der sekundären Anwendbarkeit der Richtlinie im innerstaatlichen Bereich. O b es terminologisch glücklich ist, den in dieser Diskussion ohnehin schillernden Begriff der Geltung mit dem im Gemeinschaftsrecht nicht assoziationsfreien Begriffspaar primär und sekundär anzureichern, soll hier dahinstehen. Blendet man diese Terminologie aus, so sagt Brechmann, der Gerichtshof habe mit der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie einen besonderen Fall der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts gestaltet, in dem nicht die Anwendbarkeit aus der Geltung, sondern die Geltung aus der Anwendbarkeit folge.110 bb. Der eigene Standpunkt An dieser Stelle zeigt sich die Stärke der vorherrschenden Auffassung von der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts. Es überzeugt, zunächst allgemein die Geltung der Richtlinie zu bejahen und sodann den Fall der unmittelbaren Wirkung in die Nähe der Dogmatik zur unmittelbaren Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts einzuordnen. 111 Bei Brechmanns Lösung fragt sich, wie es 109 110 111

Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 190. Dem folgt Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 61. Nur in die „Nähe" der Dogmatik zur unmittelbaren Wirksamkeit aus folgendem Grund: Man sollte die unmittelbare Wirkung von Richtlinien und die unmittelbare Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts terminologisch nicht gleichsetzen. Dazu ein frei erfundenes und bewußt vereinfachendes Beispiel: Wenn nach einer Richtlinie der Staat eine bestimmte Steuer nicht mehr erheben darf, kann nach Ablauf der Umsetzungsfrist der entsprechende Richtlinieninhalt seine „unmittelbare Wirkung" zugunsten des Bürgers erzeugen. Denkt man sich in derselben Richtlinie eine davon unabhängige Vorschrift, die eine Erhebung einer anderen Steuer beim Bürger vorsieht, kann dieser Richtlinieninhalt aus sich heraus keine unmittel-

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zur unmittelbaren Wirkung und Anwendbarkeit kommen kann, wenn es sich bei der Richtlinie nicht um geltendes Recht handeln sollte. Brechmann sagt daher selbst, dieses Anrufungsrecht setze „eine gewisse unmittelbare Geltung" voraus." 2 Die grundsätzliche und auch auf die Richtlinie zu erstreckende A n n a h m e der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts birgt einen normlogischen Vorteil in sich: K r a f t dieser Geltung vermag das Gemeinschaftsrecht von sich heraus anzuordnen, ob es unmittelbar anwendbar sein will oder nicht. Gewiß hat Brechmann mit der Differenzierung zwischen einer „primären" und anwendbarkeitsbedingten „sekundären" Geltung ein denkbares Erklärungsmodell geliefert. O h n e die gemeinschaftsrechtliche Diskussion an dieser Stelle ergänzen zu wollen, ist jedoch anzuzweifeln, o b dieses Erklärungsmodell trägt. Denn Brechmann setzt die unmittelbare Geltung in eine Abhängigkeit zum „Anrufungsrecht" 1 1 3 , also einer Berufung des einzelnen auf ihm günstige Richtlinieninhalte. Das ist aber nach der Entscheidung im Fall „Großkrotzenburg" zu hinterfragen. 1 1 4 Denn der Gerichtshof hat eine staatliche Verpflichtung in dieser Entscheidung nicht davon abhängig gemacht, o b sich der einzelne auf eine Richtlinienvorschrift berufen kann. Die gemeinschaftsrechtliche und umweltrechtliche Diskussion dieser Entscheidung dauert zwar an, doch im Ergebnis hat der Gerichtshof der fraglichen Richtlinie objektive Wirkungen zugebilligt." 5 Es leuchtet aber nicht ein, wie eine Verbindlichkeit von Richtlinien f ü r die Verwaltung erzeugt werden kann, wenn die Richtlinie nicht an der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts teilhat. Eine Teilhabe der Richtlinie an der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts vermag das Entstehen der unmittelbaren Wirkung insgesamt besser zu erklären. Gerade aus der Sicht des auf die innerstaatliche Rechtsordnung fixierten Strafrechts entsteht sonst eine befremdlich wirkende Zwitterstellung der Richtlinie. Es fragt sich, wie auf ihre „Gesetzwerdung" wartende, aber eben nicht umgesetzte Vorschriften einer Richtlinie unmittelbar wirken sollen. Freilich kann zur Beantwortung einzig und allein auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung und der darin zu erblickenden Rechtsfortbildung verwiesen werden. G a n z befriedigend ist diese Erklärung jedoch nicht. Es scheint, um ein zivilrechtlich geprägtes Bild zu wählen, gemeinschaftsrechtlich werde mit dem

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bare Wirkung zum Nachteil des Bürgers entfalten. Eine umfassende normative Wirkung der Richtlinie entsteht gerade nicht. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 189. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 189. EuGH, Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995,1-2189fT. Str., siehe nur Gellermann, DÖV 1996, 433ff.; Steinberg, DÖV 1996, 453ff.; zusammenfassend Rengeling in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 28 Rn. 77 mwN.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Inkrafttreten einer Richtlinie zwar eine Art gemeinschaftsrechtliche Anwartschaft begründet, die aber eben doch der Umsetzung durch den Mitgliedstaat harrt, um zum anwendbaren und damit auch für das Strafrecht relevanten „Vollrecht" zu erstarken. Zudem erscheint die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung als ein rechtslogisch eher zweifelhafter Vorgang. Wer jedoch die Richtlinie als unmittelbar geltendes und die innerstaatlichen Stellen des Mitgliedstaates ansprechendes Recht ansieht, kann die unmittelbare Wirkung sehr viel einfacher erklären. Kraft ihrer gemeinschaftsrechtlichen Herkunft ist die Richtlinie mit ihren Inhalten bereits auf Gemeinschaftsebene „verabschiedetes" Recht, das einen verbindlichen Umsetzungsbefehl an die Mitgliedstaaten sendet. Diese innerstaatliche Umsetzungsbedürftigkeit ändert aber nichts daran, daß eine Richtlinie als ein der Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaftsorgane entsprungener und geltender „Akt, der Recht ist" existiert und die Mitgliedstaaten und deren Organe in die Pflicht nimmt. Unklar wäre anderenfalls auch, wie die Verpflichtung des Mitgliedstaats und vor allem seiner innerstaatlichen Stellen im Sinne von Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV erklärt werden soll, wenn die Richtlinie nicht als unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht anzusehen ist.116 Klein schreibt zu der im Umsetzungsbefehl des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV enthaltenen Frist:117 „Sie richtet sich an die nach innerstaatlichem Recht für die Umsetzung zuständigen Organe. Ihnen gegenüber ist der in der Richtlinie enthaltene Umsetzungsbefehl unmittelbar geltendes Recht, der also nicht etwa seinerseits der Umsetzung in innerstaatliches Recht bedarf." Das trifft den Punkt. Um überhaupt den Befehl gegenüber den innerstaatlichen Stellen enthalten zu können, muß die Richtlinie innerstaatlich unmittelbar gelten. Aber daraus folgt nicht zugleich eine der innerstaatlichen Rechtsnorm entsprechende umfassende und normative Geltung des Umsetzungsprogramms, also der Richtlinieninhalte, für den einzelnen Marktbürger. Die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten bricht wiederum mit dieser Grundstruktur, weil es zu einer partiellen Wirksamkeit von Richtlinienvorschriften kommen kann. Sie reicht aber nur so weit, wie sie der rechtsfortbildenden Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht. Denn das Gemeinschaftsrecht ordnet aus sich her-

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Auf die dagegen wiederum vorgebrachten Argumente von Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 174ff. sei hier nur noch hingewiesen. Siehe auch Klein, Everling-FS, S. 641, 643ff., der nach Bejahung der unmittelbaren Geltung der Richtlinie in Bezug auf den Umsetzungsbefehl Einzelfragen der Einwirkung des Richtlinienrechts diskutiert und dort deutlich werden läßt, daß die Konsequenz dieses Ansatzes nicht in einer umfassenden normativen Wirkung besteht, die mit einer geltenden Norm innerstaatlichen Ursprungs vergleichbar wäre. Klein, Everling-FS, S. 641, 642 f.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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aus an, ob es unmittelbar wirken und wie weit es reichen will. Deshalb entsteht innerstaatlich auch keine umfassende normative Wirkung zu Lasten des Marktbürgers, weil das Gemeinschaftsrecht diese Pflichtenbegründung nicht erzeugt wissen will. Nach alledem ist von der unmittelbaren Geltung der Richtlinie auszugehen. f. Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht der Annahme einer einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich nicht entgegen. Danach hat sich die nationale Rechtsordnung mit der Folge geöffnet, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des nationalen Herrschaftsbereichs Raum gegeben wird." 8 Geltungsgrund für das Gemeinschaftsrecht und seine Anwendung in Deutschland ist in diesem Sinne das deutsche Zustimmungsgesetz zu dem jeweiligen Vertrag und der im Zustimmungsgesetz ruhende Rechtsanwendungsbefehl. 119 Freilich betont das Gericht eine völkerrechtliche Grundlage des Vertragswerks und sieht den mit den Zustimmungsgesetzen beschrittenen Weg als noch existierende Wurzel an. Der darin liegende Rechtsanwendungsbefehl verschafft dem Gemeinschaftsrecht in diesem Sinne innerstaatliche Geltung. 120 Folglich vermag das Gericht im Zustimmungsgesetz nicht zugleich eine vollständige Abnabelung zu erblicken. Deshalb bleibt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch die Möglichkeit einer Kollision von nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht. Doch diese Unterschiede wirken sich bei der Geltungs- und Anwendbarkeitsanalyse des Gemeinschaftsrechts noch nicht aus. Sie werden zwar im Kontext der Geltungs- und Anwendbarkeitsdiskussion oftmals angesprochen. Die zur Klärung der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht schrittweise Bestimmung von Geltung, Wirksamkeit, Anwendbarkeit und Vorrang des Gemeinschaftsrechts läßt sich jedoch von der Frage trennen, ob die so gewonnenen Erkenntnisse schrankenlos gelten oder verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegen. g. Zwischenergebnis Somit können erste Kernaussagen getroffen werden. Für die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht ist von der einheitlichen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts einschließlich der Richtlinie auszugehen. Diese 118 119 120

BVerfGE 37, 271, 280; 58, 1, 28; 73, 339, 374. BVerfGE 31, 145, 173ff.; 73, 339, 375; 75, 223, 244; Kirchhof, Das Maastricht-Urteil, S. 14. BVerfGE 73, 339, 374f.

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2. H a u p t t e i l : Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Geltung impliziert nicht die innerstaatliche Anwendbarkeit einer N o r m des Gemeinschaftsrechts. Dazu bedarf es vielmehr ihrer innerstaatlichen Wirksamkeit. Diese innerstaatliche Wirksamkeit wird vom Gemeinschaftsrecht selbst angeordnet. h. Einordnung der unmittelbaren Wirkung Bei diesem Zwischenergebnis fällt eines auf: D a s Richtlinienrecht fügt sich in das Neben- und Miteinander von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht nicht ganz ein. Für den Fall des Ablaufs der Umsetzungsfrist und damit einhergehender Bestimmtheit des Richtlinieninhalts scheint es in einem Teil der Fälle zur innerstaatlichen Wirksamkeit zu kommen, wobei jedoch keine umfassend normative Wirkung der Richtlinie erzeugt wird. Wenn sich in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur über viele Jahre kein einheitlicher Begriff für unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte etablieren konnte, 121 so spiegelt die vielfältige Terminologie die Schwierigkeit wieder, die Eigenart dieses RichtlinienefFekts zum Ausdruck zu bringen. Richtlinieninhalte sind nun einmal einerseits keine in den Mitgliedstaaten unmittelbar wirkenden Normen, doch sie greifen andererseits unter bestimmten Voraussetzungen in die innerstaatliche Rechtsfindung ein. Diese Ambivalenz des Richtlinienrechts zeigt sich, wenn in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur erörtert wird, o b denn Richtlinien f ü r den Fall der unmittelbaren Wirkung innerstaatlich normativ wirken. 122 Dabei handelt es sich zwar um eine originär europarechtliche Frage, die jedoch auch aus strafrechtlicher Sicht Aufmerksamkeit verdient. D e n n das im ersten Hauptteil dargestellte strafrechtliche Haftungsproblem hat ja mit der Verbindlichkeit der Richtlinie für ihre Adressaten zu tun. aa. Rechtsreflex Eine Auffassung erblickt in der unmittelbaren Wirkung eine Art Rechtsreflex.m Wenn die Gemeinschaft eine normative, gesetzliche Wirkung erzielen wolle, müsse sie sich der EG-Verordnung bedienen. 124 Im Gegensatz zur Verordnung könne die Richtlinie als ein an die Mitgliedstaaten gerichteter Rechtsakt ein Recht des Marktbürgers nicht begründen, da ihr keine unmittelbare „Gesetzeskraft" zukomme. 125 Aus dem Richtlinieneffekt folge eine Art subjektiv-öffentlichrechtlicher Abwehr121

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Für Gellermann, Beeinflussung, S. 134 Fn. 37; Wolff, VR 1991, 77, 81 und Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 144 Fn. 4 herrscht im Zusammenhang mit der unmittelbaren Wirkung „terminologische Anarchie"; siehe auch Royla/Lackhoff, DVB1. 1998, 1116f. Überblick bei Gellermann, Beeinflussung, S. 134fF. Herber, E u Z W 1991, 401, 402; Karoff RabelsZ 48 (1984), 649, 666; Knobbe-Keuk, EuZW 1992, 336, 341; Seidel, N J W 1985, 517, 520. Herber, E u Z W 1991, 401, 402. Karoff, RabelsZ 48 (1984), 649, 666; Knobbe-Keuk, E u Z W 1992, 336, 341.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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anspruch, 126 der auf dem widersprüchlichen Verhalten des Staates beruht. Die unmittelbare Wirkung stellt in diesem Sinne mithin einen Rechtsreflex dar, der sich infolge des Verstoßes gegen die Umsetzungsverpflichtung einstellt. bb. Normatives Verständnis Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinienvorschrift wird jedoch auch normativ gedeutet, wobei diese Meinung als in sich heterogen bezeichnet werden muß, hier aber aus Gründen der Übersichtlichkeit zusammengefaßt wird. In jüngerer Zeit treten einige Autoren für eine umfassende normative Deutung der unmittelbaren Wirkung ein. Nach Gstaltmeyr tritt die Richtlinienbestimmung an die Stelle nationaler Regelungen. Anspruchsgrundlage des Marktbürgers sei die Richtlinie selbst und es bedürfe „keinerlei konstruktiver Kunstgriffe, um die unmittelbare Wirkung zu erklären". 127 Nach dieser Ansicht erweitert sich bei fehlender oder fehlerhafter Umsetzung die normative Wirkung der Richtlinie und sie selbst vermittelt dem Marktbürger die vorgesehenen Rechte, bis der Mitgliedstaat eine korrekte Umsetzung vorgenommen hat. 128 In einer weiteren Untersuchung heißt es, die Deutung richtliniengestützter Rechte als Rechtsreflex oder Vorstufe zum Vollrecht stehe in einem unübersehbaren Gegensatz zu dem Grundverständnis des Gerichtshofs hinsichtlich der Rechtsstellung des Marktbürgers. 129 Richtlinien seien ihrer Rechtsnatur und konzeptionellen Idee nach wie andere Akte europäischer Rechtssetzung grundsätzlich dazu geeignet, unmittelbare Quelle originärer Rechte der Marktbürger zu sein.130 Bei weiteren Autoren deuten sich Argumente für ein normatives Verständnis der unmittelbaren Wirkung an, doch die Äußerungen fallen vorsichtiger aus.131 Nach Götz ist nicht nur die Verbindlichkeit der Richtlinie für den Staat nach dem Vertragstext eindeutig, sondern es liege im Rahmen der Auslegung des Art. 189 Abs. 3 EGV, diese Verbindlichkeit auch gegenüber den durch den Rechtsakt begünstigten und mit Rechten ausgestatteten Marktbürger anzunehmen: „Insofern ließe sich die unmittelbare Wirkung sogar als normative Wirkung begreifen ..." 132 Der von Götz gewählte Konjunktiv bringt jedoch einen gewissen Vorbehalt zum Ausdruck. Die 126

Seidel, NJW 517, 520. Gstaltmeyr, Bewehrung von EG-Richtlinien, S. 139. 128 Gstaltmeyr, Bewehrung von EG-Richtlinien, S. 139. 129 Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 247. 130 w e g e n e r ^ Rechte des Einzelnen, S. 247. 131 Bach, JZ 1990, 1108, lllOf., 1115; Everling, Carstens-FS, S. 95, 107f.; Götz, NJW 1992, 1849, 1855; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 22flf.; ders. Everling-FS, S. 641 ff.; Winter, DVB1. 657, 666. 132 Götz, NJW 1992, 1849, 1855. 127

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

noch nicht umgesetzte Richtlinie sei zwar gegenüber der Allgemeinheit nur die erste Stufe der Rechtssetzung und insofern noch nicht allgemeinverbindliche Rechtsnorm. Gegenüber dem Mitgliedstaat sei sie aber bereits vollwirksamer und verbindlicher Rechtssatz des Gemeinschaftsrechts, in dessen Regelungsbereich es liegen kann, Rechte Dritter zu begründen, die der Staat zu beachten habe.133 Ein normatives Verständnis unmittelbar wirkender Richtlinienvorschriften in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur ist aber nicht nur ein Ergebnis der Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs, sondern auch Teil einer Kritik an der fehlenden Bereitschaft des Gerichtshofs, nicht umgesetzten Richtlinien belastende Folgen zukommen zu lassen.134 Dieser Gedanke zeigt, daß diesen Fragen hier nicht in allen Einzelheiten nachgegangen werden muß. Ob man die unmittelbare Wirkung auf weitere Bereiche erstrecken und auch den einzelnen belastende Folgen zulassen sollte,135 ist eine hier nicht zu vertiefende Frage europarechtlicher Forschung, die über die gegebene Rechtslage hinausreicht. Für die Analyse der Verzahnung des Strafrechts mit dem Richtlinienrecht kommt es darauf an, den im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu ermittelnden normativen Gehalt der unmittelbaren Wirkung näher zu umschreiben. cc. Der EG-Verordnung „ähnliche Wirkung" im Verhältnis des Bürgers zum Staat Dazu heißt es in der Entscheidung „van Duyn", die Richtlinie könne „ähnliche Wirkungen" wie die EG-Verordnung erzeugen. 136 „Es wäre nämlich nicht hinnehmbar, daß der Staat, dem der Gemeinschaftsgesetzgeber den Erlaß bestimmter Vorschriften vorschreibt, mit denen seine Beziehungen - oder die Beziehungen staatlicher Einrichtungen - zu den Bürgern geregelt und diesen bestimmte Rechte gewährt werden sollen, sich auf die Nichterfüllung seiner Verpflichtungen berufen könnte, um den Bürgern diese Rechte zu versagen." Der Gerichtshof spricht also zum einen von „ähnlicher Wirkung" der Richtlinie und stellt diese Wirkung in der Entscheidung „van Duyn" aber zum anderen in den Zusammenhang, daß der Staat dem Bürger eine für diesen günstige Regelung vorenthält. Darin liegt ein wesentlicher Gesichtspunkt für das Verständnis der unmittelbaren Wirkung aus strafrechtlicher Sicht. Die Gemeinschaftsrechtsordnung ist eine neue

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1,5 116

Götz, NJW 1992, 1849, 1855. Siehe etwa bei Winter, DVB1. 1991, 657, 665 mit seiner Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der Forderung, auch belastende Folgen zuzulassen. Ähnlich auch Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 267 f. Anders Gstaltmeyr, Bewehrung von EG-Richtlinien, S. 184f., der einerseits die unmittelbare Wirkung normativ versteht, aber belastende Folgen aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit ablehnt. Vgl. Winter, DVB1. 1991, 657, 665; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 267. EuGH, Urteil vom 4.12.1974, Rs. 41/74, Ε 1974, 1337, 1348.

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Ordnung, deren Subjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Marktbürger sind.137 Gellermann hat diese Gedanken für seine Analyse der unmittelbaren Wirkung zusammengeführt. Er deutet sie als einen Effekt, der aus einer zwischen dem Staat und dem Marktbürger bestehenden Sonderverbindung resultiert.138 Die Richtlinie stellt danach grundsätzlich einen an die Staaten gerichteten Rechtsakt dar, der die einzelnen Rechtssubjekte in den Staaten nicht anspricht. Diese allgemeine Umsetzungspfiicht bringt Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV zum Ausdruck. Daneben kann eine Richtlinie aber auch dem Staat bestimmte Verhaltenspflichten auferlegen. Gellermann verdeutlicht seinen Gedanken am Beispiel der 6. Umsatzsteuerrichtlinie. Den Mitgliedstaaten obliegt es nicht nur allgemein, die Richtlinie als solche umzusetzen, sondern unter den in der Richtlinie genannten Voraussetzungen eine Besteuerung bestimmter Geschäftsarten zu unterlassen. 139 Die umzusetzende Pflicht hat der Mitgliedstaat nach Gellermann im Verhältnis zum Marktbürger zu erfüllen, wenn die vom Gerichtshof bestimmten Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung vorliegen. Schlüssig ist in diesem Zusammenhang die Argumentation mit der Rolle des einzelnen Bürgers als Rechtssubjekt des Gemeinschaftsrechts. 140 Die Richtlinie ist zwar an den Mitgliedstaat adressiert und verpflichtet ihn. Begreift man den Marktbürger aber als Rechtssubjekt des Gemeinschaftsrechts, besagt die Verpflichtung des Staates für sich noch nichts über die aus der Richtlinie folgenden Rechte. In diesem Sinne kann die an den Staat gerichtete Richtlinie inhaltlich auch den einzelnen Marktbürger etwas angehen, wenn sie ihn berechtigen soll. Dieses Recht in Gestalt der umzusetzenden Pflicht enthält der Staat dem Bürger aber pflichtwidrig vor, wenn er die Richtlinie nicht rechtzeitig umsetzt und er verhält sich treuwidrig, soweit er dem Bürger das anderslautende nationale Recht entgegenhalten würde.141 Diese Gedanken überzeugen in mehrfacher Hinsicht. Sieht man die Richtlinie rein als staatengerichtetes Instrument gemeinschaftsrechtlicher Normgebung, so leuchtet nicht ein, wie dem einzelnen gegenüber dem Mitgliedstaat daraus einklagbare Rechte erwachsen sollten. Deshalb überzeugt es, die Stellung des Marktbürgers als Rechtssubjekt des Gemeinschaftsrechts hervorzuheben. Zugleich sieht Gellermann darin aber zu Recht nur ein Begründungselement. Käme es für den Eintritt der unmittelbaren Wirkung nur auf die Frage an, ob das Richtlinienprogramm dem Marktbürger ein Recht verleiht, wäre unklar, wie mit Richtlinien umgegangen werden soll, die dem einzelnen ein Recht verleihen wollen, aber nur die Rechtsbezie137 138 139 140 141

EuGH, Urteil vom 5.2.1963, Rs. 26/62, Ε 1963, 1, 25; Gellermann, Beeinflussung, S. 155. Gellermann, Beeinflussung, S. 153 ff. Gellermann, Beeinflussung, S. 157. Gellermann, Beeinflussung, S. 155. Gellermann, Beeinflussung, S. 163 f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

hungen der Marktbürger untereinander betreffen. Auch in diesem Fall könnten Richtlinienvorschriften rechtstheoretisch zur unmittelbaren Wirkung fähig sein, wenn sie das in der Richtlinie vorgesehene Recht des einen gegenüber dem anderen Marktbürger hinreichend genau bestimmen. Auf diese Rechtsverhältnisse will der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung aber nicht ausweiten und sagt dazu: „Eine Ausdehnung dieser Rechtsprechung auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Bürgern hieße, der Gemeinschaft die Befugnis zuzuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zu Lasten der Bürger Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur darf, wo ihr die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen zugewiesen ist."142

Also kann es nicht nur auf die Frage ankommen, ob einem Marktbürger überhaupt ein Recht eingeräumt werden soll, sondern für die unmittelbare Wirkung ist von Belang, wer dieses Recht zu beachten hat. An dieser Stelle gewinnt die umzusetzende Pflicht an Bedeutung. Sie trifft die innerstaatlichen Stellen, aber nicht den Marktbürger. Er ist nicht Adressat der Pflicht und ihn bindet erst das umgesetzte Recht. Anders liegt der Fall bei dem Mitgliedstaat. Diesen trifft nicht nur die allgemeine Umsetzungspflicht, sondern auch die inhaltliche, sich aus den Bestimmungen der Richtlinie ergebende Pflicht.143 dd. Der Fall „Großkrotzenburg" Nun ist es eine Eigenart des Gemeinschaftsrechts, sich mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs dynamisch weiterzuentwickeln. So wird auch die Frage nach dem normativen Gehalt von in ihrer Umsetzungsfrist abgelaufenen Richtlinien durch die bereits erwähnte Entscheidung im Fall „Großkrotzenburg" 144 ergänzt. Dort sieht der Gerichtshof zwischen der innerstaatlichen Beachtlichkeit nicht ordnungsgemäß umgesetzter Richtlinien und individuellen Rechten keinen Zusammenhang. 145 Das Urteil geht auf ein von der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 222, ex-Art. 169 EGV geführtes Vertragsverletzungsverfahren zurück. Die Kommission warf der Bundesrepublik vor, das Wärmekraftwerk Großkrotzenburg entgegen der Richtlinie 85/337 EWG 146 ohne die dort vorgesehene Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt zu haben. Der Sachverhalt läßt sich hinsichtlich der hier interessierenden Frage nach der normativen Wirkung nicht umgesetzter 142

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EuGH, Urteil vom 14.7.1994, Rs. C-91/92, Ε 1994,1-3325, 3356. Der Gerichtshof stellt auf die „Beziehungen zwischen den Bürgern" ab, weil das vorlegende Gericht die Frage der horizontalen Richtlinienwirkung aufgeworfen hatte. EuGH, Urteil vom 22.6.1989, Rs. 103/88, Ε 1989, 1839, 1870. EuGH, Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995, I-2189ff. Gel/ermann, DÖV 1996, 433, 437. Richtlinie 85/337EWG vom 27.6.1985, Abi. Nr. L 175, S. 40. Die gemcinschaftsrechtliche Literatur bezeichnet sie kurz als „UVP-Richtlinie".

Α. D a s Verhältnis der R e c h t s o r d n u n g e n

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Richtlinien wie folgt zusammenfassen:147 D i e Richtlinie sah eine Umsetzungsfrist bis z u m 3. Juli 1988 vor. D a s n a t i o n a l e R e c h t w u r d e j e d o c h erst m i t W i r k u n g z u m 1. A u g u s t 1 9 9 0 a n g e p a ß t . D i e z u s t ä n d i g e B e h ö r d e g e n e h m i g t e die E r r i c h t u n g d e s Kraftwerks mit Bescheid v o m 31. A u g u s t 1989 o h n e g e m ä ß der Richtlinie die U m w e l t v e r t r ä g l i c h k e i t s p r ü f u n g d u r c h g e f ü h r t z u h a b e n . 1 4 8 Z u r B e g r ü n d u n g ihres A n t r a g s , d i e K l a g e a b z u w e i s e n , t r u g d i e B u n d e s r e p u b l i k v e r s c h i e d e n e G r ü n d e vor, w o b e i sie a u c h m i t der a l l g e m e i n e n D o g m a t i k d e s R i c h t l i n i e n r e c h t s a r g u m e n t i e r t e . D i e s e n V o r t r a g referiert d e r G e r i c h t s h o f w i e f o l g t : 1 4 9 „ D i e Bundesrepublik D e u t s c h l a n d trägt schließlich vor, n a c h d e r R e c h t s p r e c h u n g des G e r i c h t s h o f e s k o m m e den B e s t i m m u n g e n einer Richtlinie u n m i t t e l b a r e W i r k u n g n u r d a n n zu, wenn diese d e m einzelnen individuelle Rechte e i n r ä u m t e n . Die Artikel 2, 3 u n d 8 d e r Richtlinie b e g r ü n d e t e n j e d o c h keine derartigen individuellen Rechte. D a die K o m m i s s i o n selbst nicht geltend mache, d a ß d u r c h den b e a n s t a n d e t e n G e n e h m i g u n g s bescheid individuelle Rechtspositionen einzelner Bürger a u s der Richtlinie u n b e a c h t e t gelassen w ü r d e n , sei eine u n m i t t e l b a r e A n w e n d u n g der B e s t i m m u n g e n der Richtlinie ausgeschlossen, u n a b h ä n g i g davon, o b sie u n b e d i n g t u n d hinreichend g e n a u seien. Die deutsche Verwaltung sei d a h e r nicht verpflichtet gewesen, sie vor der U m s e t z u n g der Richtlinie u n m i t t e l b a r a n z u w e n d e n . Die Klage sei somit unzulässig." Wenn dieses Prozeßvorbringen die B e g r ü n d u n g individueller Rechte als eine Art V o r b e d i n g u n g d e r u n m i t t e l b a r e n W i r k u n g b e z e i c h n e t e , w u r d e d a m i t e i n e bis d a h i n a u c h in d e r Literatur g a n z ü b e r w i e g e n d a n e r k a n n t e V o r a u s s e t z u n g d e r u n m i t t e l baren Wirkung benannt. D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g d e s G e r i c h t s h o f s m i t d i e s e m P r o z e ß v o r t r a g fällt recht k n a p p aus: 1 5 0 „ D i e K o m m i s s i o n wirft d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d mit ihrer Klage vor, in einem k o n k r e t e n Fall die sich u n m i t t e l b a r a u s d e r Richtlinie ergebende V e r p f l i c h t u n g zur P r ü f u n g der Umweltverträglichkeit des b e t r e f f e n d e n Projekts nicht erfüllt zu h a b e n . Es stellt sich d a h e r die Frage, o b die Richtlinie d a h i n auszulegen ist, d a ß sie die beh a u p t e t e Verpflichtung aufstellt. Diese Frage hat m i t der - in d e r R e c h t s p r e c h u n g des G e r i c h t s h o f e s a n e r k a n n t e n - Möglichkeit f ü r d e n einzelnen, sich gegenüber d e m Staat

147

Zur ausführlichen Schilderung nebst Wiedergabe des Richtlinieninhalts siehe die Schlußanträge des Generalanwalts Elmer, E u G H , Urteil vom 11.8.1955, Rs. C-431/92, Ε 1995, 1-2189, 2192fr.

148

149 150

In den Schlußanträgen des Generalanwalts Elmer, E u G H , Urteil vom 11.8.1955, Rs. C-431/92, Ε 1995, 1-2189, 2192, heißt es: „Wie sich aus dem Genehmigungsbescheid vom 31. August 1989 ergibt, entschied das Regierungspräsidium D a r m s t a d t , keine Umweltverträglichkeitsp r ü f u n g nach den Vorschriften der UVP-Richtlinie vorzunehmen, u. a. deswegen, weil die Richtlinie nicht in deutsches Recht umgesetzt worden sei." E u G H , Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995, 1-2189, 2220. E u G H , Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995, 1-2189, 2220f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht unmittelbar auf unbedingt sowie hinreichend klare und genaue Vorschriften einer nicht umgesetzten Richtlinie zu berufen, nichts zu tun."

Der Gerichtshof führt an anderer Stelle des Urteils zur Verbindlichkeit der Richtlinie für die nationalen Behörden aus: 151 „Unabhängig von ihren Einzelheiten erlegen die fraglichen Vorschriften also nationalen Behörden unmißverständlich die Pflicht auf, bestimmte Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen."

Im Ergebnis scheiterte die Klage, d a die Kommission nach Ansicht des Gerichtshofs etwaige Verstöße gegen die in der Richtlinie formulierten Anforderungen nicht substantiiert vorgetragen hatte. 152 D e r Verfahrensausgang ist aber nebensächlich, denn er vermittelt nicht die Botschaft dieses Urteils. Es gewinnt seine Aussagekraft durch die A n n a h m e einer allgemein verbindlichen Pflicht der nationalen Behörden zur Beachtung hinreichend bestimmter Richtlinieninhalte, ohne diese Pflicht vom Bestand individueller Rechte abhängig zu machen. Darin liegt der G e d a n k e einer „objektiven Wirkung" der Richtlinie. 153 ee. Keine umfassende normative Wirkung Trotzdem vermitteln unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte weiterhin einen ambivalenten Eindruck. Ungeachtet der nach dem Fall „Großkrotzenburg" zu bejahenden normativen Wirkung gegenüber den Behörden kommt es ja innerstaatlich mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist nicht zu einer umfassenden normativen Wirkung hinreichend bestimmter Richtlinieninhalte. Anderenfalls wäre es nicht mehr verständlich, w a r u m sich der Marktbürger nur gegenüber dem Staat und seinen Einrichtungen, aber nicht gegenüber anderen Marktbürgern auf für ihn günstige Richtlinieninhalte berufen kann. Gellermanns Differenzierung zwischen der Umsetzungspflicht und den umzusetzenden Pflichten liefert daher weiterhin ein schlüssiges Erklärungsmodell. Es trifft den Bereich, in dem unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte auf das Verhältnis des Marktbürgers zum Mitgliedstaat durchschlagen. Es überzeugt auch nach der Entscheidung im Fall „Großkrotzenburg", die unmittelbare Wirkung im Verhältnis des Bürgers zum Staat aus dem Umstand abzuleiten, d a ß die Richtlinie dem Staat in-

151 152 153

EuGH, Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995,1-2189, 2224. EuGH, Urteil vom 11.8.1995, Rs. C-431/92, Ε 1995,1-2189, 2226. Klein, Everling-FS, S. 641 ff. Damit sind nach Klein solche Wirkungen gemeint, „die Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung der Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beachten haben, ohne daß sie von Individuen geltend gemacht werden können," siehe Klein, ebenda, S. 642; RoylalLackhoff, DVB1. 1998, 1116, 1120.

Α. D a s Verhältnis der Rechtsordnungen

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haltliche Pflichten auferlegt, auf deren Nichtumsetzung sich der Bürger für den Fall einer hinreichend bestimmten Begünstigung berufen kann. In horizontalen Rechtsverhältnissen gibt es diese Berufungsmöglichkeit auch bei hinreichend bestimmten Richtlinieninhalten nicht, weil das Recht des einen Marktbürgers für den anderen als Pflicht wirken würde. Diese Verpflichtung kann dem einzelnen Marktbürger aber erst durch das nationale Umsetzungsrecht auferlegt werden. Die prägnante Wortwahl in der Urteilsbegründung zum Fall „Großkrotzenburg" darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verbindlichkeit von Richtlinien für die Verwaltung für den einzelnen mittelbar belastende Folgen nach sich ziehen kann. Epiney hat am Beispiel der UVP-Richtlinie dargelegt, daß die Anwendung bestimmter Vorschriften dieser Richtlinie dem privaten Anlagenbetreiber nicht nur Vorteile bringen würde.154 Aus diesem Grund wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Gerichtshof dargelegt hätte, ob und welche Grenzen die normativ gebundene Behörde zu beachten hat, wenn die Richtlinienvorschriften belastende Inhalte aufweisen. Der Grundsatz, nach dem eine Richtlinie den einzelnen nicht belasten kann, droht nämlich weiter aufgeweicht zu werden, wenn die Verbindlichkeit einer Richtlinie für die Verwaltung unabhängig von etwaigen Rechten Dritter angenommen wird.155 Es bleibt abzuwarten, wie sich dieser Bereich der objektiven Wirkung der Richtlinie nach dem Fall „Großkrotzenburg" entwickelt. Obwohl sich die Dogmatik des Richtlinienrechts noch im Fluß befindet, können über den normativen Gehalt der Richtlinie im innerstaatlichen Bereich einige Aussagen getroffen werden: Die Richtlinie wirkt bei hinreichender Bestimmtheit gegenüber den innerstaatlichen Stellen unmittelbar normativ. Allerdings kommt es innerstaatlich nicht zu einer gesetzesgleichen Wirkung. Die den einzelnen begünstigende unmittelbare Wirkung einer Richtlinienvorschrift entspringt nicht einer umfassenden normativen Wirkung der Richtlinie gegenüber den Marktbürgern. Sie ist vielmehr ein richtlinienspezifischer Effekt, der sich aus der Pflicht der innerstaatlichen Stellen zur Beachtung von Richtlinieninhalten bei fehlender Umsetzung der Richtlinie ergibt. Diese Sichtweise findet sich an versteckter Stelle und mit sehr knappen Worten in der Richtlinienentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die einschlägige Passage des Beschlusses widmet sich in erster Linie der Kritik, nach der die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung die Normgebungsbefugnis der

154

155

Epiney, DVB1. 1996, 409, 413. Im einzelnen str., siehe Steinberg, DÖV 1996, 221, 224, wonach eine durch die UVP-Richtlinie begründete Pflicht für die Behörde nicht genügt, um ζ. B. im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung von einem privaten Betreiber die Vorlage von Unterlagen zu verlangen. Anderes gelte für staatliche Einrichtungen. Vgl. Gellermann, DÖV 1996, 433, 437.

86

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Gemeinschaft erweitert. D a s Bundesverfassungsgericht weist diese Kritik zurück und führt dabei aus: 1 5 6 „ Z w a r k o m m t die Möglichkeit des privaten Einzelnen, sich auf die Richtlinie ,zu berufen', einer n o r m a t i v e n Wirkung - jedenfalls im bilateralen Verhältnis zum angesprochenen Mitgliedstaat - praktisch gleich; sie bedeutet aber nicht eine Erweiterung der Rechtsetzungskompetenz der G e m e i n s c h a f t . "

In diesen Worten steckt selbst für die Fälle, in denen sich der Bürger im Verhältnis zum Staat auf die Richtlinie berufen kann, nicht die A n n a h m e einer normativen Wirkung. Die unmittelbare Wirkung der Richtlinie steht dem nur „praktisch" gleich. Weiter kann m a n diese spezifische Eigenart des Richtlinienrechts k a u m einkreisen: Dieser Effekt steht der umfassend normativ wirkenden EG-Verordnung nahe, ohne sich mit ihr zu decken.' 5 7 Dieses Ergebnis könnte als unbefriedigend e m p f u n d e n und die Bezeichnung als Effekt als zu unbestimmt und normentheoretisch ungesichert kritisiert werden. Wer sich aber aus der Sicht eines anderen Rechtsgebiets mit den luziden Deutungsversuchen des Richtlinienrechts durch die europarechtliche Literatur bis zum Fall „Großkrotzenburg" beschäftigt hat, dem stockt der Atem, wenn der Gerichtshof wie selbstverständlich eine objektive unmittelbare Wirkung von Richtlinienvorschriften f ü r ein konkretes Verwaltungsverfahren ohne Berufungsmöglichkeit eines Bürgers bejaht. Gerade dieser Fall zeigt, wie stark die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf die normentheoretische Deutung durchschlägt und wie schwierig es ist, das „case-law" des Gerichtshofs einschließlich seiner mitunter apodiktischen Formulierungen aus einer innerstaatlichen Denkweise heraus rechtstheoretisch einzuordnen. Der Begriff „ E f f e k t " erinnert mit seiner Unvollkommenheit vielmehr durchaus treffend daran, d a ß die unmittelbare Wirkung einer richterlichen Rechtsfortbildung entspringt, 158 die wissenschaftlich aufmerksam zu begleiten ist und nicht vorbehaltlos der nach dem Primärrecht umfassend normativ wirkenden EG-Verordnung gleichgesetzt werden sollte. Die Bezeichnung trägt weiterhin eine gewisse Offenheit in sich. Das ist keine Schwäche, sondern eine Notwendigkeit, denn der Fall „Großkrotzenburg" hat einmal mehr eindrucksvoll bewiesen, wie diese Rechtsfortbildung andauert und fortschreitet. 156 157

158

BVerfGE75, 223, 241. Papier, DVB1. 1993, 809 a. E. Hilf. EuR 1993, 1, 8 schreibt treffend: „Es gibt bisher keine überzeugende Terminologie, mit der man diese partielle unmittelbare Rechtswirkung der Richtlinie nach Fristablauf kennzeichnen könnte." BVerfGE 75, 223, 241; Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, S. 80; Potaes, Die Auslegung im öffentlichen Recht, S. 280 f.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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ff. Zwischenresümee und Rückblick Richtlinien wirken gegenüber den innerstaatlichen Stellen objektiv normativ. Die den einzelnen Marktbürger im Verhältnis zum Staat begünstigende unmittelbare Wirkung entspringt einem der EG-Verordnung ähnlichen, aber nicht gesetzesgleichen, richtlinienspezifischen Effekt infolge der rechtsfortbildenden Rechtsprechung des Gerichtshofs. Durch diese rechtstheoretischen Erwägungen ist das eingangs der Arbeit dargelegte Problem der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden und es ist Zeit, einen Blick zurückzuwerfen. Die rechtstheoretischen Erkenntnisse belegen, wie notwendig eine strafrechtliche Aufarbeitung des Richtlinienrechts ist. Denn die Problematik der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht entspringt der gemeinschaftsrechtlich gewollten und bewirkten Pflichtenbegründung. Mit einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zu Lasten des einzelnen Marktbürgers haben diese Probleme nichts gemein. Das strafrechtsdogmatische Problem der geschilderten Verantwortlichkeit des Amtsträgers entsteht, weil die innerstaatliche Stelle gemeinschaftsrechtlich verpflichtet wird. Die gemeinschaftsrechtliche Pflichtenbegründung bringt die strafrechtlichen Folgeprobleme mit sich. Die Grunderkenntnis ist folgende: Sobald geltendes Gemeinschaftsrecht auf Gebieten wie dem des Arbeitsschutzrechts innerstaatlich unmittelbar pflichtenbegründend wirkt, entsteht das Problem der strafrechtlichen Haftung parallel dem Nebeneinander von nationalem Arbeitsschutzrecht und nationalem Strafrecht. 159 Diese Probleme anzusprechen impliziert indes nicht, die für die innerstaatlichen Stellen handelnden Personen auch im Ergebnis bestrafen zu wollen. Wie wir mit den so erkannten Problemen im Ergebnis umgehen, ist eine andere Frage. Wir müssen die Probleme aber erst diagnostizieren und dazu gehört auch noch das Vorrangproblem.

2. R a n g u n d A n w e n d u n g s v o r r a n g a. Vorrang des Gemeinschaftsrechts Das bis hierhin um die Geltung, die innerstaatliche Wirksamkeit und die Anwendbarkeit ergänzte Bild zweier nebeneinander stehender Rechtsmassen erklärt noch nicht, wie die Kollision einer Norm des nationalen Rechts mit einer Durchgriffsnorm des Gemeinschaftsrechts zu lösen ist. Für Ipsen beantwortet sich diese Frage teleologisch aus dem Prinzip der Sicherung der Funktionsfahigkeit der Gemein159

Dazu ausführlich im 1. Hauptteil D. V. 1 bis 3.

88

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

schaft. 160 In Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV, 161 EAGV, 14 Abs. 2 EGKSV erblickt er eine Wert- und Qualitätsbestimmung des Gemeinschaftsrechts. Sie besteht in ihrem Gemeinschaftscharakter, d. h. ihrer unantastbaren Eigenart, in der Gemeinschaft unmittelbar und einheitlich zu gelten. Diese Normen seien spezielle vertragsrechtliche, für das Instrument der sekundären Normsetzung verlautbarte Ausprägungen des Prinzips der Sicherung der Funktionsfahigkeit der Gemeinschaften. 161 Daraus folge zugleich der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht, weil ihre Qualifizierung als Gemeinschaftsrecht sie gegenüber nationalem Recht als unantastbar ausweist.162 Diese Vorrangregel erweist sich als Teil des Gemeinschaftsrechts, dem sich die nationale Rechtsordnung über Art. 24 Abs. 1 G G geöffnet hat. Als konsequente Folge dieses Ansatzes ergibt sich, daß Unantastbarkeit und Vorrang des Gemeinschaftsrechts die lex posterior-Regel im Verhältnis von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht außer Kraft setzen. Das Gemeinschaftsrecht setzt sich gegen späteres nationales Recht durch. Als Beispiel kann eine abschließende Regelung in einer EG-Verordnung angeführt werden. Wenn ein Mitgliedstaat in einem späteren Rechtsakt ein Gesetz erläßt, das denselben Regelungsgegenstand abweichend kodifiziert, wird die EG-Verordnung durch den innerstaatlichen Rechtsakt nicht derogiert. 163 Auch der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang auf die Öffnung der nationalen Rechtsordnungen ab. Nach dieser Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten sei es den Staaten unmöglich, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Solche Maßnahmen stünden der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung daher nicht entgegen. Denn es würde eine Gefahr für die Verwirklichung der in Art. 10 Abs. 2, ex-Art. 5 Abs. 2 EGV aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Art. 12, ex-Art. 6 (im Zeitpunkt der Entscheidung: Art. 7) EGV widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. Dem durch den Vertrag geschaffenen autonomen Recht könne keine wie immer geartete innerstaatliche Rechtsvorschrift vorgehen, wenn ihm nicht der Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.164 160

161 162 163 164

Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/36, 10/40 ff.; ders. Europarechtliches Kolloquium, S. 1, 17. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/42. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/51. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, S. 327. EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Rs. 6/64, Ε 1964, 1251, 1270.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

89

Diese Sichtweise ist funktional ausgerichtet. Wenn das Gemeinschaftsrecht tatsächlich gemeinschaftsweit und einheitlich gelten soll, muß es sich gegenüber dem nationalen Recht durchsetzen können. Gerade der Strafrechtler wird an dieser Stelle allerdings nach einer ausdrücklichen primärrechtlichen Verlautbarung fragen. Doch derartige Vorschriften sind dem Primärrecht nicht zu entnehmen. Deswegen mangelt es der funktionalen Sichtweise jedoch nicht an primärrechtlichen Begründungselementen. Darin liegt die Uberzeugungskraft von Ipsens Analyse der Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV, 161 EAGV, 14 Abs. 2 EGKSV.165 Die Vertragsparteien haben sich darauf geeinigt, den Gemeinschaftsorganen ein Instrumentarium an die Hand zu geben, mit dem sie Normen setzen können, die in der Gemeinschaft unmittelbar und einheitlich gelten. Wenn sich diese Normen durch ein Gesetz eines Mitgliedstaats alsbald außer Kraft setzen oder verdrängen ließen, wäre das gesamte System gesprengt. Die „Gleichheit vor dem (europäischen) Gesetz" für alle Mitgliedstaaten und EG-Bürger ist eine elementare Voraussetzung für die Existenz und Akzeptanz der Gemeinschaft. 166 Aus diesem Gründen überzeugt es, primärrechtliche Vorschriften wie Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV als spezielle vertragsrechtliche, für das Instrument der sekundären Normsetzung verlautbarte Ausprägungen des Prinzips der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften aufzufassen. 167 b. Der Anwendungsvorrang Eine andere Frage ist, wie dieses Erfordernis einer Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts in der Praxis vollzogen werden kann. Für das Verständnis der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht ist es wiederum wichtig, die Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts zunächst isoliert zur Kenntnis zu nehmen und gedanklich nicht umgehend mit den Konsequenzen der Vorrangigkeit einer Norm in der innerstaatlichen Rechtsordnung zu belegen. Wie beim Begriff der unmittelbaren Geltung, der gerade nicht die regelmäßige innerstaatliche Anwendbarkeit impliziert, bedarf es einer Aufschlüsselung dessen, was sich hinter diesem Vorrang verbirgt. Die Folgen des gemeinschaftsrechtlichen Vorrangs in Bezug auf das entgegenstehende nationale Recht sind grundsätzlich in zweierlei Weise vorstellbar. 168 Nach 165

166 167

168

H.P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/36, 10/40ff.; ders. Europarechtliches Kolloquium, S. 1, 17. Oppermann, Europarecht, Rn. 628. II P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/42; Oppermann, Europarecht, Rn. 627; kritisch Potacs, Die Auslegung im öffentlichen Recht, S. 279. Arndt, Europarecht, S. 74f.; Oppermann, Europarecht, Rn. 632; zusammenfassend Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 30ff.

90

2. H a u p t t e i l : Das Verhältnis des Strafrechts z u m Gemeinschaftsrecht

e i n e r L ö s u n g k a n n d a s G e m e i n s c h a f t s r e c h t d a s n a t i o n a l e R e c h t mit der F o l g e der N i c h t i g k e i t d e s n a c h r a n g i g e n Rechts brechen. 1 6 9 A l s A l t e r n a t i v e d a z u k o m m t die b l o ß e U n a n w e n d b a r k e i t der n a t i o n a l e n Vorschrift in Betracht. 1 7 0 D e r G e r i c h t s h o f g e h t v o n einer U n a n w e n d b a r k e i t der innerstaatlichen N o r m aus. 1 7 1 D i e s e S i c h t w e i s e hat sich a u c h in R e c h t s p r e c h u n g 1 7 2 u n d Literatur 1 7 3 als s o g e n a n n t e Lehre v o m Anwendungsvorrang

durchgesetzt. A u c h die v o r l i e g e n d e

U n t e r s u c h u n g folgt dieser L ö s u n g d e s V o r r a n g s p r o b l e m s . D i e s e F e s t l e g u n g ist w i c h t i g , weil sie der für sich g e n o m m e n e h e r d i f f u s e n V o k a b e l v o m Vorrang i n h a l t liche K o n t u r e n gibt. Der

Anwendungsvorrang

besagt für d i e

Rechtsanwendung:

V o n zwei

ent-

s c h e i d u n g s e r h e b l i c h e n u n d s i c h in der R e c h t s f o l g e w i d e r s p r e c h e n d e n N o r m e n , die innerstaatlicher u n d g e m e i n s c h a f t s r e c h t l i c h e r H e r k u n f t sind, wird diejenige d e s G e m e i n s c h a f t s r e c h t s d e r S a c h e n t s c h e i d u n g z u g r u n d e g e l e g t u n d die Vorschrift d e s

169

170 171

172

173

So zunächst etwa Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 98ff., 113ff., weitere Nachweise bei Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 31 Fn. 50. Zuleeg, D a s Recht, S. 135 ff E u G H , Urteil vom 9.3.1978, Rs. 106/77, Ε 1978,629,643 f.; nach zuvor terminologisch nicht immer ganz eindeutigen Urteilen legt sich die Entscheidung im Fall „Nimz", E u G H , Urteil vom 7.2.1991, Rs. C-184/89, Ε 1991,1-297, 321, auf den Anwendungsvorrang fest. Besonders klar in: BVerfGE 75, 223, 244; 85, 191, 204; BVerwGE 87, 154, 158 ff. Aus strafrechtlicher Sicht: Siehe B G H S t 37, 168, 175 a. E., wo von einer „Verdrängung" des nationalen Rechts die Rede ist. Arndt, Europarecht, S. 75; Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 9; Dannecker, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts, S. 179; Di Fabio, N J W 1990, 947, 950f.; Ehlers, DVB1. 1991, 605, 608; ders. in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 3 Rn. 43; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598,628; Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 152; Hakenberg, Grundzüge des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 65; Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 55; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, S. 332ff; Himmelmann, EG-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, S. 68f.; Huber, AöR 116 (1991), 210, 216f.; Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/55ff.; ders. in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, §181 Rn. 58; Jarass, N J W 1990,2420,2421; ders. DVB1. 1995,954, 958; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 76; Kert, JB11999, 87, 88 f.; Klein, Das nationale Recht im Zugriff des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 11, 13; Looschelders/ Roth, Juristische Methodik, S. 178, 249 f.; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 461; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 54; Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 3 2 f f ; Müller-Craff, D R i Z 1996, 303, 311; Nicolaysen, Europarecht, S. 40; Oppermann, Europarecht, Rn. 632ff; Pernice, NJW 1990, 2409, 2411 f.; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 397; Rengeling/Middeke/Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 9 3 7 f f ; Satzger, Europäisierung, S. 5 3 f f , 484; Scherzberg, Jura 1993, 225 229; Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 548ff; Schmidt-Aßmann, DVB1. 1993,930 a. E. f.; Streinz, Europarecht, Rn. 200; Suerbaum, Die Kompetenzverteilung beim Verwaltungsvollzug des EG-Rechts, S. 139ff; Stern, JuS 1998, 769, 773; Veelken, JuS 1993, 265, 267; Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 EGV Rn. 19; Wehr, Inzidente N o r m verwerfung, S. 59f.; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 159ff.

91

Α. D a s Verhältnis der Rechtsordnungen

n a t i o n a l e n R e c h t s bleibt schlicht u n a n g e w e n d e t . 1 7 4 D i e s e Kollisionsregel ist nur a n z u w e n d e n , w e n n d a s G e m e i n s c h a f t s r e c h t unmittelbar

anwendbar

ist. 1 7 5

S c h o n a u s t e r m i n o l o g i s c h e n G r ü n d e n verleitet die g e d a n k l i c h e V e r k n ü p f u n g d e s Begriffs der G e l t u n g des G e m e i n s c h a f t s r e c h t s m i t d e m des V o r r a n g s z u der A s s o z i a t i o n d e s Begriffs des G e l t u n g s v o r r a n g s , der j e d o c h im Verhältnis d e s G e m e i n s c h a f t s r e c h t s z u m n a t i o n a l e n R e c h t gerade nicht gilt. 1 7 6 D e r Begriff d e s G e l t u n g s v o r r a n g s steht für U b e r o r d n u n g , Verbindlichkeit, M a ß g e b l i c h k e i t u n d D u r c h setzbarkeit d e s h ö h e r r a n g i g e n g e g e n ü b e r n a c h r a n g i g e m Recht. 1 7 7 N a c h der Lehre v o m S t u f e n b a u der R e c h t s o r d n u n g 1 7 8 k a n n eine N o r m e b e n e G e l t u n g s v o r r a n g vor einer a n d e r e n b e a n s p r u c h e n , w e n n sie die E r z e u g u n g s r e g e l n für die niedrigere S t u f e bereithält, D e r o g a t i o n s b e f u g n i s h a t u n d ihr E r z e u g u n g s s u b j e k t e i n e h ö h e r e A u t o r i tät b e a n s p r u c h e n k a n n als d a s der n ä c h s t niedrigeren Stufe. 1 7 9 Tritt e i n e N o r m einer unteren S t u f e in W i d e r s p r u c h z u einer Vorschrift der h ö h e r e n S t u f e u n d läßt sich dieser K o n f l i k t nicht im R a h m e n der A u s l e g u n g beseitigen, s o folgt hieraus die N i c h t i g k e i t der N o r m der niederen Stufe. 1 8 0 174

175

176

177

178 179 180

Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 628 ff.; Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 55; Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/55; Jarass, N J W 1990, 2420, 2421; ders. Grundfragen, S. 3 f.; MüUer-Gmff, D R i Z 1996, 305, 311; LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 250; Veelken, JuS 1993, 265, 267. Arndt, Europarecht, S. 75f.; Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1088; DänzerVanotti. StVj 1991, S. 1, 9; Ehlers in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 3 Rn. 44; MaunzlZippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 462; Nettesheim, A ö R 119 (1994), 261, 280; Rengeling, DVB1. 1995, 945, 948; Rengel in gl Middcke! Geller mann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 939; Stern, JuS 1998,769, 773; Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 EGV Rn. 19; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 163. Arndt, Europarecht, S. 75; Di Fahio, N J W 1990, 947, 950f.; Ehlers in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 3 Rn. 43; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 628ff.; Hakenberg, Grundzüge des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 65 Fn. 3; Ken, JB1 1999, 87, 89; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 397f.; MaunzlZippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 461 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 54; Rengeling, DVB1. 1995, 945, 948; RengelinglΜiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 938; Scherzherg, Jura 1993, 225, 229; Suerbaum, Die Kompetenzverteilung beim Verwaltungsvollzug des EGRechts, S. 139; Veelken, JuS 1993, 265, 267; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 161. Hinzuweisen ist jedoch darauf, d a ß in der wissenschaftlichen Diskussion teilweise für einen weitergehenden Vorrang gefochten wird. Insbesondere bei der Frage, ob sich die Richtlinie gegenüber richtlinienwidrigem Ausführungsrecht oder späteren richtlinienwidrigen Änderungen eines ursprünglich richtlinienkonformen Umsetzungsrechts durchsetzt, wird mit unterschiedlichen Begründungsansätzen ein über die unmittelbare Wirkung reichender Vorrang der Richtlinien diskutiert. Darauf wird bei der Erörterung der richtlinienkonformen Auslegung (5. Hauptteil Β II. 4.) zurückzukommen sein. Di Fabio, N J W 1990, 947, 950; Gellermann, Beeinflussung, S. 95; Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 31. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 231 ff.; Merkel, Kelsen-FS, S. 252ff. Di Fabio, N J W 1990, 947, 951; Gellermann, Beeinflussung, S. 96. Stern, Staatsrecht Bd. I, S. 105 mwN.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Diese Regeln des Geltungsvorrangs sind jedoch auf das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht nicht übertragbar, da die Rechtsordnungen nebeneinander bestehen und trotz ihrer Verzahnung nicht zu einer umfassenden Rechtsordnung verschmolzen sind.181 Die Öffnung unserer Rechtsordnung für das Gemeinschaftsrecht hat nicht zur Folge, daß der Stufenbau der Rechtsordnung nach oben erweitert wurde.182 Unbestreitbar hat der Anwendungsvorrang auch einen hierarchischen Gehalt, da er im Ergebnis bestimmt, welche Vorschrift zur Anwendung kommt. Er ist aber eher als praktische Rechtsregel zu verstehen. Er löst die Fälle, in denen sich der Rechtsanwender mit unmittelbar anwendbaren Vorschriften aus beiden Rechtsordnungen konfrontiert sieht, die unterschiedliche Rechtsfolgen vorsehen. Der Anwendungsvorrang läßt ζ. B. dem EG-Bürger eine ihm günstige Rechtsfolge aus anwendbarem Primär- oder Sekundärrecht auch tatsächlich und unabhängig davon zuteil werden, ob sich der Fall in Belgien, Italien oder Deutschland zuträgt und ob es in einem dieser Staaten eine entgegenstehende Rechtsvorschrift gibt oder nicht. Der Anwendungsvorrang löst die Kollisionslage mit dem nationalen Recht zugunsten des Gemeinschaftsrechts. 183 Das aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht unzweifelhafte Bedürfnis nach einem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, ohne den es keine funktionsfähige Gemeinschaftsrechtsordnung geben kann, wurde in Gestalt des Anwendungsvorrangs also durchaus pragmatisch befriedigt. Zugleich wird die nationale Rechtsordnung geschont, da die kollidierende Vorschrift des nationalen Rechts nur im Einzelfall weichen muß. Sie kann somit etwa dann, wenn kein gemeinschaftsrechtlicher Zusammenhang vorliegt, weiterhin angewendet werden. 184 c. Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts Die Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts zur Vorrangfrage anzusprechen, heißt, eine bestimmte Erwartungshaltung zu wecken. Die Vorrangfrage birgt die europarechtlich und verfassungsrechtlich sensible Thematik in sich, ob sich der im Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 178. 182

181

184

Di Fabio, N J W 1990, 947, 952; Himmelmann, EG-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, S. 68; Schilling, Rang und Geltung von N o r m e n in gestuften Rechtsordnungen, S. 426 f. Weiterhin spricht man im Europarecht teilweise auch von sogenannten indirekten Kollisionen, wenn nationales Verfahrensrecht die Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht verhindert. Dabei geht es vor allem um Rechtsmittel- und Präklusionsvorschriften oder Ermessenspielräume bei der Rücknahme (gemeinschafts-) rechtswidriger Verwaltungsakte, ausführlich Huthmacher, Vorrang bei indirekten Kollisionen, S. 134fT.; A. Weher, EuR 1996, 1, 3; Wehr, Inzidente Normverwerfung, S. 57, jeweils mwN. Ehlers, DVB1. 1991, 605, 608; Jarass, N J W 1990, 2420, 2421; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 162 f.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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Vorrang frei von jeglichen Schranken des innerstaatlichen Verfassungsrechts durchzusetzen vermag. Für die Untersuchung der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht ist es jedoch eher abträglich, diese zweifellos spannende Frage sogleich in den Mittelpunkt zu rücken. Vielmehr ist es sinnvoll, die bestehenden Gemeinsamkeiten zu betonen. In einem ersten Schritt sind daher zunächst wesentliche Kernaussagen des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema zu sichern. aa. Akzeptanz des Anwendungsvorrangs Vom Grundmodell zweier Rechtsordnungen ausgehend 185 hat auch das Bundesverfassungsgericht seiner grundsätzlichen Stellungnahme zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien in einer besonders präzisen Weise den soeben beschriebenen Anwendungsvorrang zugrundegelegt. 186 Wie groß der gemeinsame Nenner in der grundsätzlichen Lösung der Vorrangfrage und in ihrer konkreten Umsetzung in Gestalt des Anwendungsvorrangs geworden ist, zeigt sich im Richtlinienbeschluß. Für den zu entscheidenden Fall stellt das Gericht fest, die Rechtswirkung der Berufung auf die Richtlinie sei trotz eines anderslautenden nationalen Gesetzes zu berücksichtigen. 187 Sodann führt das Bundesverfassungsgericht aus: 188 „Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist (...). Art. 24 Abs. 1 GG enthält die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Billigung dieser Vorrangregel durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die rechtsprechende Gewalt im Einzelfall (...)."

In diesen Worten liegt eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des Anwendungsvorrangs. 189 Aber auch zwei wichtige Gedanken der europarechtlichen Dogmatik werden anerkannt: Der Anwendungsvorrang setzt die lex posterior185

BVerfGE 22, 293, 295f.; 31, 145, 173; 37, 271, 277f. 186 BVerfGE 75, 223, 244. Zuvor war die Terminologie nicht ganz einheitlich, siehe etwa BVerfGE 73, 339, 375, wo das Gericht zunächst allgemein vom Anwendungs- oder Geltungsvorrang spricht und sich erst zum Schluß dieser Ausführungen auf den Anwendungsvorrang festlegt, siehe BVerfGE 73, 339, 375 letzter Satz des ersten Absatzes. Siehe auch die zusammenfassende Würdigung dieser Rechtsprechung bei Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 32 f. 187 BVerfGE 75, 223, 244. In Rede stand eine Anwendung des Umsatzsteuergesetzes. 188 BVerfGE 75, 223, 244f. Jarass, Grundfragen, S. 4; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 480. 189 Siehe auch BVerfGE 73, 339, 375, zum Anwendungsvorrang der EG-Verordnung, ferner BVerfGE 31, 145, 174.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Regel außer Kraft, wenn das Gemeinschaftsrecht mit späterem innerstaatlichem Recht kollidiert. Weiterhin spricht das Bundesverfassungsgericht am Ende der zitierten Ausführungen von der Anwendung im Einzelfall. Das nationale Recht ist also weiterhin geltendes, wenn auch im Einzelfall trotz gegebener Subsumtionsfahigkeit des Sachverhalts nicht anzuwendendes Recht. bb. Teilhabe unmittelbar wirkender Richtlinien am Anwendungsvorrang Die Richtlinienentscheidung verdient für diese Arbeit besondere Aufmerksamkeit, weil sie nicht nur allgemein den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts akzeptiert, sondern explizit auf den Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien bezieht. 19 " Diese Untersuchung geht im Sinne des Bundesverfassungsgerichts von einer Teilhabe unmittelbar wirkender Richtlinienvorschriften am Anwendungsvorrang jedenfalls für den Fall aus, daß sich der Bürger auf die Richtlinie berufen kann. 191 Hinzuweisen ist allerdings darauf, daß die Durchsetzung des unmittelbar wirkenden Richtlinienrechts auch auf das estopptel-Prinzip gestützt werden kann. 192 Diese Lösung vermeidet folgende Inkongruenz: Der Anwendungsvorrang setzt die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm des Gemeinschaftsrechts voraus. Die Richtlinie ist aber grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar. Der Ausnahmefall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien steht der unmittelbaren Anwendbarkeit als richtlinienspezifischer Effekt zwar nahe, doch es kommt trotz des Fristablaufs in der innerstaatlichen Rechtsordnung ja nicht zu einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie im Sinne einer umfassend normativen Wirkung. Eine Lösung im Sinne des Bundesverfassungsgerichts dehnt also in gewisser Weise den Anwendungsbereich der Vorrangregel, indem sie unmittelbar wirkende

m

1,1

192

Das Bundesverfassungsgericht will in BVerfGE 75, 223, 244 (zweiter Absatz) will den konkreten Konflikt des nationalen Rechts (Umsatzsteuergesetz) mit der unmittelbar wirkenden Umsatzsteuerrichtlinie ausdrücklich mit dem Anwendungsvorrang gelöst wissen. Wie hier etwa Ehr icke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630; Griegerich, JuS 1997, 619, 621; Gstaltmeyr, Bewehrung von Richtlinien, S. 14; Jarass, Grundfragen, S. 4; Ress, DÖV 1994, 489, 490; Zuleeg, Z G R 1980, S. 466, 480. Gellermann, Beeinflussung, S. 163; Für den Mitgliedstaat ergibt sich danach eine Art Pflichtenkollision, die aus dem Widerspruch von nationalem Recht und der gemeinschaftsrechtlichen Verhaltenspflicht aus der Richtlinie resultiert. Der Mitgliedstaat, der in dieser Lage die Normen des nationalen Rechts zum Maßstab seines Handelns erhebt, verstößt danach gegen für ihn verbindliche und im Verhältnis zum Marktbürger zu erfüllende Pflichten. Es sei in hohem M a ß e treuwidrig, wenn der Mitgliedstaat die formal noch bestehende, materiell aber gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Rechtslage zum Anlaß nehme, um die Durchsetzung einer gegen ihn gerichteten Forderung zu verhindern. Um das treuwidrige Verhalten auch nicht noch zu honorieren, seien die Gerichte gehalten, der Forderung des Bürgers nach einem richtlinienkonformen Verhalten zum Durchbruch zu verhelfen, siehe Gellermann, Beeinflussung, S. 164.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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Richtlinieninhalte f ü r den Fall der Berufungsmöglichkeit am Anwendungsvorrang teilhaben läßt. Dieser verhilft d a n n nicht mehr nur grundsätzlich unmittelbar wirksamen N o r m e n des Primär- oder Sekundärrechts dazu, entgegenstehendes nationales Recht zu verdrängen. Vielmehr werden die grundsätzlich nicht unmittelbar wirkenden Richtlinien für einen Teil der Fälle mit dieser Verdrängungsmacht versehen. D a s Bundesverfassungsgericht hat diesen Punkt aber sehr wohl erkannt, denn es spricht j a im Richtlinienbeschluß nicht von einer normativen Wirkung. Vielmehr k o m m t „die Möglichkeit des privaten Einzelnen, sich auf die Richtlinie ,zu berufen', einer normativen Wirkung - jedenfalls im bilateralen Verhältnis zum angesprochenen Mitgliedstaat - praktisch gleich .. ,". 193 Das erinnert an die Terminologie der „ähnlichen Wirkung" im Sinne des Europäischen Gerichtshofs. 194 Die Verknüpfung dieses Effekts mit dem Anwendungsvorrang entbehrt auch nicht der Schlüssigkeit. Es steht grundsätzlich in der Macht des Gemeinschaftsrechts, von sich heraus anzuordnen, ob es unmittelbar wirken will. In diesem Sinne kann man die rechtsfortbildende Rechtsprechung des Gerichtshofs, die im Vergleich mit der EG-Verordnung „ähnliche Wirkungen" bei Richtlinien erzeugt, als A n o r d n u n g der unmittelbaren Wirkung einzelner Richtlinieninhalte unter bestimmten Voraussetzungen verstehen, die sich sodann im Wege des Anwendungsvorrangs durchsetzen. O b und für welche Fallgruppen der Gerichtshof seine Großkrotzenburg-Rechtsprechung ausbaut oder relativiert, ist auch im Z u s a m m e n h a n g mit der Vorrangfrage heute noch nicht abzuschätzen. In diesen Fällen fehlt es im Vergleich mit der „klassischen unmittelbaren Wirkung" an einer subjektiven Rechtsposition, auf die sich der Bürger berufen kann. Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof eine Behörde als verpflichtet ansehen wird, entgegenstehendes Recht in jedem Fall unangewendet zu lassen und auch aus strafrechtlicher Sicht ist d a n n von großem Interesse, wo die Grenzen verlaufen. Fraglich ist insbesondere, inwieweit der Gerichtshof bei betroffenen Bürgern oder Unternehmen Belastungen durch entsprechendes Handeln der innerstaatlichen Stellen zulassen wird. In letzter Konsequenz könnten kraft der objektiven Verbindlichkeit der Richtlinie f ü r die Behörde daraus resultierende Belastungen des Bürgers, die gewissermaßen die Kehrseite der behördlichen Pflichterfüllung darstellen, hinzunehmen sein. 195 Diese Tendenz ist freilich nicht unbedenklich. Die Unterschiede zwischen EG-Verordnung und Richtlinie werden nicht nur weiter eingeebnet, sondern m a n fragt sich, ob die Abgren-

193 194 195

BVerfGE 75, 223, 241. EuGH, Urteil vom 4.12.1974, Rs. 41/74, Ε 1974, 1337, 1348. Die Frage ist in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur umstritten, siehe nur Epiney, DVB1. 1996, 409, 413, dagegen Steinberg, DÖV 1996, 221, 224 mwN.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

zung der staatlichen zur privaten Pflicht tatsächlich immer scharf gezogen werden kann. 196 Auf diese Einzelfragen des Richtlinienrechts kommt es für diese strafrechtliche Abhandlung aber nicht mehr an. cc. Grenzen des Vorrangs Grundsätzliche Bedeutung hat der Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts, das Gemeinschaftsrecht nicht als einmal geschaffene und seither jeder verfassungsrechtlichen Wurzel entbundene Rechtsordnung zu betrachten. Vielmehr betont das Gericht die völkerrechtliche Grundlage des Vertragswerks und sieht den über Art. 24 G G iVm dem Zustimmungsgesetz beschrittenen Weg als diese Wurzel an, dessen Rechtsanwendungsbefehl dem Gemeinschaftsrecht innerstaatliche Geltung und Vorrang verschafft. 197 Dieser Rechtsanwendungsbefehl öffnet die nationale Rechtsordnung jedoch nicht schrankenlos. Er unterliegt vielmehr verfassungsrechtlichen Grenzen. 198 In der „Solange-I" Entscheidung wurden diese Grenzen noch eng gezogen, indem das Bundesverfassungsgericht die Vorlage eines nationalen Gerichts für zulässig und geboten erachtete, wenn das Gericht die Anwendung einer entscheidungserheblichen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts - unter Berücksichtigung einer ggf. nach Art. 234, ex-Art. 177 EGV zu ermittelnden Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof - wegen einer Kollision mit einem Grundrecht des Grundgesetzes für unanwendbar hielt. 199 Dieser restriktive und kritisierte 200 Standpunkt wurde mit der „Solange-II" Entscheidung aufgegeben. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß es seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben werde, solange die Gemeinschaft weiterhin, insbesondere mittels der Rechtsprechung des Gerichtshofs, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichsteht. 201 Diese Rechtsprechung prägte den heute einschlägigen Art. 23 G G und wurde von Ipsen als dem Vordenker der „autonomen" europarechtlichen Lösung mit Beifall aufgenommen. 202

196

197 198 199 200 201 202

Zumindest werden Zufallsergebnisse denkbar, da ein Richtlinieninhalt zur Erreichung des Regelungsziels durchaus unterschiedlich formuliert werden kann. Ob er nun sagt, der Betreiber einer Anlage müsse bestimmte Untersuchungen vornehmen lassen oder die innerstaatliche Stelle verpflichtet, bestimmte Untersuchungen beim Betreiber vorzunehmen, macht eigentlich keinen großen Unterschied. BVerfGE 73, 339, 374f. Vgl. BVerfGE 52, 187, 199; 58, 1, 40; 73, 339, 375; 89, 155, 188, 192 ff. BVerfGE 37, 271. Siehe nur Η. P. Ipsen, EuR 1975, 1 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 624. BVerfGE 73, 339. H.P Ipsen, EuR 1987, Iff., allerdings auch mit Kritik am „völkerrechtlichen" Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts, siehe Η. P. Ipsen, ebenda, S. 5 f.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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Das Maastricht-Urteil nimmt zu dieser „Grundrechtsschranke" abermals Stellung: 203 „Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeit (...), daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt."

Auch Akte einer von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt betreffen hiernach die Grundrechtsberechtigten und damit zugleich die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts.204 „Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ,Kooperationsverhältnis' zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Gemeinschaft garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards (...) beschränken kann." 205

Diese Urteilspassagen stehen zwar in der Tradition der „Solange II"-Entscheidung, doch sie ergänzen deren Aussage in zwei Punkten. Zum einen wird betont, daß sich der durch das Bundesverfassungsgericht gewährte Grundrechtsschutz auf europäische Hoheitsakte erstreckt. 206 Zum anderen wird das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gerichtshof als „Kooperation" umschrieben. „Solange II" vermittelte den Eindruck, das Bundesverfassungsgericht wolle aufgrund des durch den Europäischen Gerichtshof gewährleisteten Grundrechtsschutzes seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben, fortan also ruhen lassen. Schon der Wortsinn des im Maastricht-Urteil verwendeten Begriffs der Kooperation vermittelt den Eindruck einer aktiveren, eben kooperierenden Rolle des Bundesverfassungsgerichts, was in der Tendenz aus europarechtlicher Sicht hinter der Solange Ii-Entscheidung zurückbleibt. 207 Allerdings spricht eine genaue Betrachtung des Urteilstextes dafür, daß an der Kernaussage der Solange Ii-Entscheidung festgehalten wird. Das Bundesverfassungsgericht läßt den Satz, mit dem das Bild vom Kooperationsverhältnis skizziert wird, mit dem

203 204 205 206

207

BVerfGE89, 155, 174. BVerfGE 89, 155, 175. BVerfGE 89, 155, 175. A. Weber, Everling-FS, S. 1625, 1633. BVerfGE 89, 155, 174, betont ausdrücklich diese Zuständigkeit. Siehe dazu auch Tietje, JuS 1994, 197, 198. A. Weber, Everling-FS, S. 1625, 1633.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Hinweis und unter Erwähnung der Kernaussage des Solange II-Beschlusses enden, es könne sich in Anbetracht des vom Europäischen Gerichtshof im Einzelfall garantierten Grundrechtsschutzes auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken. 208 In dem Begriff der Kooperation steckt folglich der Gedanke einer Aufgaben- und Zuständigkeitsteilung, die erst bei einer über den Einzelfall hinausgehenden Nichtgewährleistung eines unabdingbaren Grundrechtsstandards aufgebrochen wird. Aus prozessualer Sicht sind damit Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen an das Bundesverfassungsgericht unzulässig, solange Grundrechtsverstöße im Einzelfall geltend gemacht werden. Sie sind jedoch zulässig, wenn eine generelle Verfehlung des unabdingbaren Grundrechtsstandards dargelegt wird.209 Im Ergebnis wird damit der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert, soweit ein nach Konzeption, Inhalt und Wirksamkeit dem Grundgesetz äquivalenter Grundrechtsstandard auf Gemeinschaftsebene gewährleistet ist.210 Eine zweite Schranke des Vorrangs erblickt das Bundesverfassungsgericht in dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und der darin liegenden Kompetenzbeschränkung der Gemeinschaftsorgane. 211 Das Bundesverfassungsgericht räumt nur den Rechtsakten Vorrang ein, die sich im Rahmen der vom Vertrag eröffneten und vom Zustimmungsgesetz gedeckten Kompetenzen bewegen.212 Sollten europäische Einrichtungen oder Organe den Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die der Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr deckt, seien die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsgebiet nicht verbindlich,213 Davon hat das Bundesverfassungsgericht den Europäischen Gerichtshof nicht ausgenommen und sieht folglich die Möglichkeit, die Rechtsprechung des Gerichtshofs unter dem Aspekt der Kompetenzfrage zu überprüfen. 214

II. Konsequenzen Die unterschiedlichen Sichtweisen des Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts lassen sich als widerstreitende monistische Kernpunkte umschreiben. 215 Im nationalen Rechtsmonismus ist das Europarecht Derivat der staatlichen Rechtsord208 2m 210 211 212 213 214 215

BVerfGE 89, 155, 175 mit Hinweis auf BVerfGE 73, 339, 387. Grimm, RdA 1996, 66, 68 a. E.f. Grimm, RdA 1996, 66, 67. BVerfGE 89, 155, 188, 192fif. Siehe auch BVerfGE 58, 1, 30f.; 75, 223, 235, 242. BVerfGE 89, 155, 188. BVerfGE 89, 155, 188. Zuleeg, RdA 1996,71,75. Vgl. Isensee, Stern-FS, S. 1239, 1262.

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

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nung, vermittelt durch Vertragsschluß und Zustimmungsgesetz. Seine Geltung bleibt durch jenes bedingt. Der Geltungsgrund ruht in dem jeweiligen Zustimmungsgesetz zu den europarechtlichen Verträgen. 216 Das Gemeinschaftsrecht kann mit Verfassungsrecht kollidieren, weil ihm der staatliche Rechtsanwendungsbefehl die staatliche Rechtsordnung öffnet. In diesem inkorporiert es sich das Gemeinschaftsrecht. Der Rechtsanwendungsbefehl unterliegt dem Vorrang der Verfassung. Die Normenkollision erweist sich als Frage von Geltung, Inhalt und Umfang des Rechtsanwendungsbefehls. 217 Kirchhof hat diese Grundhaltung knapp zusammengefaßt: „Europarecht fließt also nur über die Brücke des nationalen Zustimmungsgesetzes nach Deutschland ein. Soweit diese Brücke dieses Recht nicht trägt, entfaltet es jedenfalls in Deutschland keine Rechtsverbindlichkeit." 218 Von einem monistisch-gemeinschaftsrechtlichen Standpunkt lebt dieses Recht aus sich heraus und erteilt von sich aus den Rechtsanwendungsbefehl. Vorschriften des nationalen Verfassungsrechts eines Mitgliedstaats wie Art. 24 G G und der Ratifikationsakt erscheinen als Geburtswehen der Mitgliedstaaten bei der Schöpfung eines neuen Wesens, das sodann ad hoc eigenständig zu existieren begann. Entscheidend sind nicht die verfassungsrechtlichen Ursprünge in den jeweiligen Mitgliedstaaten, sondern der zu einem Gesamtakt gebündelte Wille aller. Hieraus ergibt sich der Anspruch auf einen eigenen Geltungsgrund, der die europäische Rechtseinheit ermöglicht, die alle Mitgliedstaaten zu gleichen Bedingungen umschließt und nicht der Disposition einzelner Mitgliedstaaten unterliegt. 219 In diesem Sinne hat das Gemeinschaftsrecht jeden Bezug zum nationalen Verfassungsrecht des einzelnen Mitgliedstaats verloren. Daraus leitet sich ein unbedingter Vorranganspruch ab. Eine Analyse der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht findet diese unterschiedlichen Positionen vor. Sie sind in der Welt. Ohne ihr Vorhandensein ignorieren zu wollen, sind jedoch die Gemeinsamkeiten zu betonen. 220 Die abweichenden Grundhaltungen betrachten sich zwar in gewisser Weise argwöhnisch, sind aber jeweils bemüht, den verfassungsrechtlichen Kollisionsfall zu vermeiden. Um es in Anlehnung an Kirchhhof auszudrücken: Bisher hat die Brücke des Zustimmungsgesetzes noch immer getragen. Dieses Miteinander zweier nebeneinander existierender Rechtsordnungen ist hervorzuheben. Deshalb wurde am Anfang dieser Erörterung des Verhältnisses der Rechtsordnungen auch nicht sogleich auf die Vorrangfrage zugesteuert und das in ihr 216

Kirchhof.\ Das Maastricht-Urteil, S. 14. Isensee, Stern-FS, S. 1239, 1262. 218 Kirchhof Das Maastricht-Urteil, S. 14. 2 " Vgl. Isensee, Stern-FS, S. 1239, 1262f. 220 Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung, S. 262 f. 217

100

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

ruhende Konfliktpotential betont. Die schrittweise Erschließung der europarechtlichen Vorfragen verhindert eine innere Abwehrhaltung gegenüber dem europarechtlichen Vokabular von der autonomen Rechtsordnung, der unmittelbaren Geltung und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Diese Begriffe sind dazu geeignet, eine innere Barriere aufzubauen. Sie erwecken ein eher diffuses Rechtsgefühl, das wie folgt umschrieben werden kann: Das Gemeinschaftsrecht will sich mit seiner Geburt komplett abgenabelt haben und erhebt fortan einen unbedingten Herrschaftsanspruch, der dem Recht seiner Erzeuger vorgeht. Das hat in der Tat etwas Unheimliches. Die sukzessive Erschließung und sachliche Begründung des Vorrangs und seine konkrete Gestalt als Anwendungsvorrang nimmt dem Thema jedoch die Schärfe. Eine in der innerstaatlichen Rechtsordnung verhaftete Denkweise sträubt sich anfangs gegen diesen Vorrang, doch die innere Abwehrhaltung nimmt mit der Erkenntnis ab, wie schwach, verwundbar und hilflos das Gemeinschaftsrecht anderenfalls wäre. Ohne diesen Vorrang wäre das System gesprengt. Wichtig ist auch folgende Erkenntnis: Der Dogmatik und Systematik von Geltung, Wirksamkeit, Anwendbarkeit, Vorrang und Anwendungsvorrang kann folgen, wer das Gemeinschaftsrecht als Derivat der innerstaatlichen Rechtsordnung begreift. Ohne die Möglichkeit des verfassungsrechtlichen Konfliktfalls im Sinne des Art. 23 G G zu leugnen, läßt sich für diese Regeln eine prinzipielle Offenheit resümieren, die rein europarechtliche, aber auch die innerstaatlichen Denkansätze der verfassungsrechtlichen Ermächtigung aufnimmt. Diese Gemeinsamkeiten und nicht der Konfliktfall sind zu betonen, wenn das Gemeinschaftsrecht von der Warte eines anderen Rechtsgebiets aus beleuchtet wird. Freilich soll der eigene Standpunkt nicht unerwähnt bleiben: In einer Abwägung der beiden Grundansichten birgt der auch vom Bundesverfassungsgericht betonte Ansatz der verfassungsrechtlichen Ermächtigung die besseren Argumente. Erst die Zustimmungsgesetze und der in ihnen ruhende Rechtsanwendungsbefehl haben unsere Rechtsordnung für das Gemeinschaftsrecht geöffnet. Auch die jeweilige Zustimmung der Parlamente zu den Vertragsänderungen zeigt, daß die Mitgliedstaaten den Ursprung des Gemeinschaftsrechts bilden und dieses nicht selbst die jeweiligen Änderungen bewirkt. Art. 24 G G bildete den Ausgangspunkt und Art. 23 Abs. 1 G G verkörpert die aktuelle verfassungsrechtliche Basis. Das Grundgesetz formuliert in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 G G die Grenzen des bestehenden Gemeinschaftsrechts und die zukünftiger primärrechtlicher Regelungen. Daher zieht diese verfassungsrechtliche Schranke auch dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts eine Grenze. Dieser verfassungsrechtliche Ausgangspunkt ist heute noch aktuell, denn die Zustimmung zu den primärrechtlichen Veränderungen wie dem Vertrag von Amsterdam basiert ja auf Art. 23 G G und der dadurch im Sinne einer Geschäftsgrundlage vermittelten Gewißheit, daß die von Art. 79 Abs. 2 und 3 G G beschrie-

Α. Das Verhältnis der Rechtsordnungen

101

benen Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Eine vollständige und bis in alle Zeit reichende Abnabelung des Gemeinschaftsrechts vom Grundgesetz hat es in der Vergangenheit nicht gegeben, und es gibt sie auch in der Gegenwart nicht. Das Gemeinschaftsrecht bleibt ein „in sich autarkes Produkt" der Mitgliedstaaten. Der somit auch nach hier vertretener Ansicht verbleibende Vorbehalt im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 G G darf die Eigenständigkeit und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts aber keinesfalls in Frage stellen. Die Präambel des Grundgesetzes spricht von dem Ziel des Deutschen Volkes, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen und Art. 23 G G ebnet den Weg für eine zunehmende Integration. In diesen verfassungsrechtlichen Verlautbarungen und den jeweiligen Zustimmungsgesetzen ruht nicht nur die Öffnung unserer Rechtsordnung, sondern auch der parlamentarisch geäußerte Wille, diesen Weg zu gehen. Der ganze Vorgang gewinnt seine eigentliche Spannung durch die Offenheit unserer Rechtsordnung für die von der Gemeinschaft erlassenen Rechtsakte.221 Darin liegt der Schlüssel für ein Verstehen des Gemeinschaftsrechts und der wesentliche Unterschied zum übrigen Völkerrecht, aber auch diese Befugnisse haben wir der Gemeinschaft sehenden Auges eingeräumt, und sie waren uns in ihren Auswirkungen bei den nachfolgenden Änderungen des Primärrechts bekannt. Man kann sich nicht einerseits verpflichten, noch nicht existente Rechtsakte innerstaatlich akzeptieren zu wollen, um sodann die Rechtsakte in ihrer konkreten Gestalt auf das eigene Wohlgefallen prüfen zu wollen. Wir haben einem Vertragswerk zugestimmt, das den Gemeinschaftsorganen auf bestimmten Gebieten die Befugnis verleiht, Recht zu setzen. Ein Recht, von dem wir sehr genau wußten, daß es noch nicht existiert. Diese Entäußerung kam nicht über uns, sondern wir haben sie gewollt. Man kann auch nicht den verschiedenen Verträgen bis in die Gegenwart (Maastricht und Amsterdam) zustimmen, um sodann den wachsenden Einfluß des Gemeinschaftsrechts zu beklagen und bei daraus resultierenden Problemen sogleich den verfassungsrechtlichen Kollisionsfall an die Wand zu malen. Das Strafrecht darf das einströmende Gemeinschaftsrecht nicht als Quelle von Störfaktoren begreifen, sondern muß sich seinerseits um Teilhabe und Gestaltung des Miteinanders bemühen. Aus diesen Gründen sollte das Strafrecht die europarechtliche Dogmatik zur Geltung, Wirksamkeit, Anwendbarkeit und Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht nur allgemein aufnehmen, sondern für die konkrete Konfliktlösung insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs beachten. Die diesem gemäß Art. 220ff., exArt. 164 ff. EGV anvertrauten und zustehenden Entscheidungsbefugnisse waren 221

Klein, Das nationale Recht im Zugriff des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 11, 12.

102

2. H a u p t t e i l : D a s V e r h ä l t n i s d e s S t r a f r e c h t s z u m G e m e i n s c h a f t s r e c h t

ebenfalls Teil der Zustimmungsgesetze. Wir waren damit einverstanden, dieses Gericht zu schaffen und haben ihm Macht verleihen wollen. Daraus folgt keine devote Haltung gegenüber dieser Rechtsprechung, aber die Bereitschaft, die Entscheidungsbefugnisse des Gerichtshofs und auch die Möglichkeit von Fehlurteilen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ermächtigung zu akzeptieren.122 Ein supranationales Recht benötigt eine Instanz, die Rechtsfragen entscheidet. Um es klar auszudrücken: Wir können uns nicht einseitig aus der Verbindlichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs verabschieden, sobald uns ein Urteil nicht zusagt. Für das Strafrecht ist der wachsende Einfluß des Europarechts noch befremdlich, doch es wird sich diesem Einfluß nicht entziehen können, zumal sich nach dem Unionsvertrag in seiner Fassung des Vertrages von Amsterdam ganz konkrete Möglichkeiten abzeichnen, die Zuständigkeit des Gerichtshofs auch auf strafrechtlichem Gebiet zu erweitern.223 Diese Aufnahme der europarechtlichen Dogmatik und der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat methodische Konsequenzen. Sie trägt eine gewisse Kasuistik in das Strafrecht. Entscheidungen des Gerichtshofs sind stets auf ihre Aussagekraft für das jeweilige strafrechtsdogmatische Problem und den konkret zu entscheidenden Fall zu überprüfen. Das klingt simpel, ist es aber nicht. Normentheoretisch folgt eine gewisse Kasuistik schon aus der Verbindung von unmittelbarer Wirksamkeit und Anwendungsvorrang. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine grundsätzlich zur unmittelbaren Wirkung fähige Norm des Gemeinschaftsrechts auch tatsächlich im Einzelfall unmittelbar anwendbar ist und in die strafrechtliche Fallprüfung eingreift, kann bei äußerlich identischem Handlungsgeschehen völlig unterschiedlich zu beurteilen sein. Infolgedessen kommt es in dem einen Fall zur Verdrängung des nationalen Rechts durch den Anwendungsvorrang, während das innerstaatliche Recht in einem anderen Fall anwendbar bleibt.

222

223

Vgl. Klein, D a s n a t i o n a l e Recht im Z u g r i f f des E u r o p ä i s c h e n G e m e i n s c h a f t s r e c h t s , S. 11, 2 3 f. Siehe A r t . 35 E U V , d e r sich a u c h auf A r t . 31 lit. e) E U V bezieht, der w i e d e r u m ü b e r Art. 29 E U V f ü r den B e t r u g von B e d e u t u n g sein k a n n . Was a u s diesen Regelungen wird, ist heute n o c h nicht a b z u s e h e n und bleibt a b z u w a r t e n . A r t . 35 Abs. 1 E U V k ö n n t e d e n Einstieg in die Auslegung einzelner S t r a f t a t b e s t a n d s m e r k m a l e von Vermögensdelikten d u r c h den Gerichtsh o f bedeuten.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

103

B. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen I.

Einleitung

Um das Verhältnis des Strafrechts zum Richtlinienrecht erörtern zu können, ist es notwendig, die Frage nach der Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts aufzuwerfen. Ohne zur Kompetenzfrage Stellung genommen zu haben, lassen sich die Einzelfragen der Einwirkung des Richtlinienrechts nicht sinnvoll erörtern. Dabei ist grundsätzlich zwischen einer Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen und einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen zu differenzieren. Die nachfolgende Betrachtung gilt zunächst nur der Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen. Wenn dabei von einer Strafrechtssetzungskompetenz oder einer Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts gesprochen wird, so soll damit terminologisch der Unterschied zur Gesetzgebungskompetenz im staatsrechtlichen Sinne zum Ausdruck gebracht werden. Diese Differenzierung ist angezeigt, weil Normativakte der Gemeinschaft nicht von einem parlamentarischen Gesetzgeber erlassen werden. 224

II. Methodisches Der europäische Integrationsprozeß ist ein dynamischer Vorgang. Er wird vor allem durch Veränderungen der primärrechtlichen Vertragslage, aber auch durch die integrationsfreundliche Rechtsprechung des Gerichtshofs beeinflußt. Das Strafrecht ist in den letzten Jahren durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam immer stärker in den Fortgang der europäischen Entwicklung einbezogen worden. Ein Beispiel: Art. 209a EGV v. 1992 wurde durch den Vertrag von Maastricht Teil des Primärrechts. Bereits durch den Vertrag von Amsterdam wurden die jetzt Art. 280 EGV zu entnehmenden Regelungen neu gestaltet. Daraus resultiert ein methodisches Problem für die Aufarbeitung der wissenschaftlichen Diskussion, weil Rechtsprechung und Literatur jeweils vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt ihrer Äußerung gegebenen Vertragslage Stellung genommen haben. Freilich wirken sich Änderungen des positiven Rechts auch in anderen Fällen auf die 224

Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, S. 246 iVm S. 220 mwN.

104

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

rechtswissenschaftliche Forschung aus, doch gerade auf die Untersuchung der strafrechtlichen Kompetenzen der Gemeinschaft wirken zahlreiche, sich stetig wandelnde Faktoren ein. Wie stark Vertragsänderungen das Meinungsbild beeinflussen, zeigt sich an Äußerungen Tiedemanns zur Kompetenzlage. Während er vor dem Vertrag von Amsterdam eine Kompetenz zur Setzung von unmittelbar anwendbaren Strafnormen noch ablehnte, 225 hat er sie neuerdings in Anbetracht der primärrechtlichen Änderungen in Art. 280 EGV partiell für die Bekämpfung von Betrügereien zum Nachteil der Finanzinteressen der Gemeinschaft dem Grunde nach bejaht. 226 Daraus kann wiederum nicht gefolgert werden, daß Tiedemann auch außerhalb des Art. 280 EGV allgemein von einer Kriminalstrafgewalt der Gemeinschaft ausgeht. Anhand des Art. 280 EGV zeigt sich beispielhaft, wie fließend und sich teilweise selbst überholend die wissenschaftliche Diskussion der Kompetenzfrage verläuft. Das gilt nicht nur für Änderungen des Primärrechts mit explizit strafrechtlichen Bezügen. Das auch in der strafrechtlichen Kompetenzfrage anzusprechende Problem des Demokratiedefizits, das aus der Normgebung durch den Rat als einem nicht unmittelbar demokratisch legitimiertem Organ resultiert, unterliegt ebenfalls einer permanenten Innovation, die in ihrer Tendenz den Einfluß des Europäischen Parlaments stärkt und zuletzt insbesondere in Art. 251 EGV zum Ausdruck kam. Das Kompetenzthema soll daher nicht im Sinne eines strafrechtswissenschaftlichen Streits um ein Tatbestandsmerkmal, zu dem sich unterschiedliche Meinungen gebildet haben, begriffen und abgearbeitet werden. Es bedarf vielmehr der gedanklichen Entwicklung, um die trotz allen Wandels hinter den unterschiedlichen Auffassungen stehenden Sichtweisen zu verstehen und beleuchten zu können. Dabei gilt es, gemeinschaftsrechtliche und strafrechtliche Denkansätze aufzugreifen und auf dieser Grundlage zu einem Ergebnis zu gelangen. Der Gedankengang steuert daher nicht sogleich auf die jüngsten primärrechtlichen Verlautbarungen wie Art. 280 EGV zu, sondern widmet sich zunächst der allgemeinen Kompetenzdiskussion, um sodann über den Vertrag von Maastricht und den Vertrag von Amsterdam zu einem Gesamtergebnis zu gelangen.

III. Die allgemeine Kompetenzdiskussion Eine allgemeine Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts wird in der Literatur ganz überwiegend abgelehnt. Nach dieser vorherrschenden Meinung steht der Gemeinschaft keine Befugnis zur Setzung von 225 226

K. Tiedemann, NJW 1990, 2226, 2231 a. E.; ders. NJW 1993, 23 K. Tiedemann, GA 1998, 107, 108 Fn. 7.

Β. Die K o m p e t e n z der G e m e i n s c h a f t zur eigenständigen Setzung von S t r a f n o r m e n

105

K r i m i n a l s t r a f r e c h t zu. 2 2 7 A u c h die b u n d e s d e u t s c h e n Strafgerichte 2 2 8 vertreten in s t ä n d i g e r R e c h t s p r e c h u n g die A u f f a s s u n g , d a ß für die S t r a f g e s e t z g e b u n g

die

Z u s t ä n d i g k e i t bei d e n M i t g l i e d s t a a t e n verblieben ist. N a c h d e n E n t s c h e i d u n g e n d e s G e r i c h t s h o f s in den F ä l l e n „ C a s a t i " 2 2 9

und

„ C o w a n " 2 3 0 ist die Z u s t ä n d i g k e i t für die S t r a f g e s e t z g e b u n g e b e n f a l l s g r u n d s ä t z l i c h bei d e n M i t g l i e d s t a a t e n verblieben. In einer s p ä t e r e n E n t s c h e i d u n g d e s G e r i c h t s h o f s k l i n g t allerdings e i n e nicht e i n d e u t i g e H a l t u n g an. 2 3 1 D i e s e m Urteil k o m m t für die w i s s e n s c h a f t l i c h e D i s k u s s i o n d e s K o m p e t e n z t h e m a s e i n e Schlüsselrolle z u , d a 227

Bieneck in: Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, Anhang zu § 4 R n . 33; Bleckmann, Stree/Wessels-FS, S. 107, 108 Fn. 7; v. Bubnojf, Grenzüberschreitende Strafrechtspflege aus europäischer Sicht, S. 12; Bunten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit, S. 139; Dannecker, Strafrecht der EG, S. 40; ders. in: Ulsamer (Hrsg.), Lexikon des Rechts, S. 303; DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 54 f.; Deutscher, EG-Kompetenz zur Strafgesetzgebung, S. 309 ff.; Eser in: Schönke-Schröder, Vorbem. § 1 Rn. 26; Gieß, NStZ 1999, 315; Griese, EuR 1998, 462, 474; Hammer-Strnad, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz, S. 61; Haouache, Börsenaufsicht durch Strafrecht, S. 152; Holch, EuR 1967, 217, 227; Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 12; Hellmann, Europäisierung des Strafrechts, S. 39; Jescheck in: LK, Einl. Rn. 107; ders. Möglichkeiten und Grenzen eines europäischen Strafrechts, S. 17ff; Jescheck!Weigend, AT, § 18 VII. 3; Jung, StV 1990, 509, 511; ders. JuS 2000, 417, 419; JunglSchroth, G A 1983, 241, 262ff; Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 162, 163ff; Kirchhof, JZ 1998, 965, 966; Köhler, Strafrecht AT, S. 81; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 130; Kudlich, JA 1999, 525; Kühne, Grundrechtsschutz in einem grenzenlosen europäischen Strafrecht, S. 66f.; Krey, EWR 1981, 149; Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 779; ders., Söllner-FS, S. 613, 616; Lenaerts, EuR 1997, 17, 21; Manoledakis, KritV 1999, 181, 184f.; Meine in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 22 II Rn. 42; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 4ff.; Müller-Gugenherger in: Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, § 1 Rn. 17; Musil, NStZ 2000, 68ff.; Naucke, Strafrecht, § 4 Rn. 136; Nelles, ZStW 109 (1997), 727, 746; Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 919; Oppermann, Europarecht, Rn. 698; Otto, Jura 2000,98; Perron, Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, S. 135, 138; Pescatore, EuR 1970, 307, 313, 315; Pieth, ZStW 109(1997), 756,766; Possin, Supranationales Verwaltungssanktionsrecht, S. 149, 150f.; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 277; C. Roxin, AT Band 1, § 24 Rn. 26b; Satzger, StV 1999, 132; ders.. Europäisierung, S. 92ff., 143f„ Schölten, Tatortstrafbarkeit, S. 24; Schomburg, D R i Z 1999, 107; Schroth, Economic Offences in EEC Law, S. 14; J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183, 189; Sieber, Madrid-Symposium, S. 349, 356; Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, S. 31; Streit m: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die EG, S. 239; Szczekalla, G r u n d rechtliche Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (erscheint in Kürze), Zweiter Teil, Β. II. 2.; Teske, EuR 1992,265,271; K. Tiedemann, N J W 1990,2226,2231 a. E.; ders. N J W 1993, 23; TröndldFischer, vor § 3 Rn. 5b; Waldhoffm: Callies/Ruffert, Art. 280 EGV Rn. 3; de Weerth, Bilanzordnungswidrigkeiten, S. 18 Fn. 72; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 779; Wilkitzki, ZStW 105 (1993), 821, 826 a. E.; Zuleeg, JZ 1992, 761, 762.

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229 230 231

B G H S t 25, 190, 193f.; 27, 181, 182; 41, 127, 131 f.; BayObLGSt 1992, 121, 122; KG, V R S 54 (1978), 231, 233; O L G Koblenz, N S t Z 1989, 188, 189; O L G Stuttgart, N J W 1990, 657, 658. E u G H , Urteil vom 11.11.1981, Rs. 203/80, Ε 1981, 2595, 2618. E u G H , Urteil vom 2.2.1989, Rs. 186/87, Ε 1989, 195, 221 f. E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. 240/90, Ε 1992,1-5383ff.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

der Gerichtshof die Frage nach einer Kompetenz der Gemeinschaft zur Setzung von Strafnormen ausdrücklich offen ließ. 232 Mittlerweile ist der Gerichtshof mit dem Urteil im Fall „Lemmens" 233 wieder auf den Stand der Entscheidungen in den Fällen „Casati" und „Cowan" zurückgekehrt. Soweit in der Literatur die strafrechtliche Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft diskutiert wird, lebt dieser Aspekt zumeist auf, wenn eine Überschreitung von Kompetenzen durch Gemeinschaftsorgane in Rede steht. Das ist bei zwei, in sich wiederum verschachtelten, Problemfeldern der Fall. Einmal geht es um die Grenzen der Bußgeldkompetenz, 234 zum anderen um die von repressiven Verwaltungssanktionen. 235 Ohne die umfänglichen Erörterungen zu diesen Fragen wiederholen zu wollen, 236 ist es doch notwendig, sich diesen Problemen schlagwortartig zuzuwenden, um sie gedanklich zu erschließen. Denn aus dieser Diskussion ist eine neue, in sich heterogene Literaturmeinung entstanden, 237 die im Gegensatz zur vorherrschenden Auffassung eine Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts gerade nicht mehr kategorisch in Abrede stellen will. 238 Diese Auffassung hat gemeinschaftsrechtliche Wurzeln. Sie bedarf schon deshalb näherer Würdigung, weil der Frage nach der Strafrechtssetzungskompetenz auch im Zuge einer Ausdeutung des Verhältnisses von Richtlinien und nationalem Strafrecht erhebliches Gewicht beizumessen ist. 239 2.2 2.3 2.4 235

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E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. 240/90, Ε 1992,1-5383, 5431. E u G H , Urteil vom 16.6.1998, Rd. C-226/97, Ε 1998,1-3711, 3731 f. J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 189 ff. Possin, Supranationales Verwaltungssanktionsrecht, S. 149, 153; J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 192 ff. Siehe nur Dannecker, Strafrecht der EG, S. 43fF.; Satzger, Europäisierung, S. 58fT.; 92ff., J. Schulz, Europäisches Strafrecht S. 189ff.; monographische Untersuchung bei Heilzer, Punitive Sanktionen, passim. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 183; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 55 ff.; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 134ff.; Fache, EuR 1993, 173ff. Die weitestgehenden Thesen finden sich bei Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 165 ff. und Böse, Strafen und Sanktionen, S. 55 ff. und mit Einschränkungen auch Pache, Schutz der finanziellen Interessen, S. 322 ff., ders. EuR 1993, 173 ff. Mit knappen Ausführungen wird die Strafrechtssetzungskompetenz von Thiele, Gemeinsame Agrarpolitik, S. 31 f., bejaht. Wenn Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 134ff., in ihrer Argumentation teilweise sehr weit geht, ist stets zu beachten, d a ß sie, ebenda S. 165, eine kriminalstrafrechtliche Rechtssetzungskompetenz kategorisch ablehnt. Trotz dieser Literaturstimmen wird die Kompetenzfrage in der jüngeren Literatur jedoch auch als unstreitig angesehen, so Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 2. Nochmals: Der stetige Wandel der primärrechtlichen Vorgaben strahlt auch auf diesen Problemkreis aus, siehe jetzt Art. 280 Abs. 4 EGV. Ob und inwieweit die Kritiker weitreichender Kompetenzen der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Verwaltungssanktionen ihre Meinung angesichts der primärrechtlichen Neuerungen ändern, wird abzuwarten sein. Das kann hier

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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1. Die Bußgeldkompetenz Die Verträge enthalten verschiedene primärrechtliche Regelungen, 240 die ausdrücklich zum Erlaß von Bußgeldnormen ermächtigen (Art. 83 Abs. 2 lit. a, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. a EGV) oder bereits in der primärrechtlichen Kodifizierung sehr ausführliche Festlegungen treffen. 241 Zwar betont das in Ausfüllung dieser Ermächtigungen und in Form von Verordnungen erlassene Sekundärrecht stets, daß es sich dabei um Sanktionen „nicht strafrechtlicher Art" handelt. 242 D o c h in Anbetracht des Umstands, daß im Kartellrecht hohe Geldbußen von bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes des Unternehmens verhängt werden können, 243 wird diskutiert, ob derartigen Sanktionen strafähnlicher Charakter beizumessen ist. 244 Daneben ist umstritten, ob Art. 229, ex-Art. 172 EGV eine Kompetenz zur Schaffung weiterer Bußgeldtatbestände verleiht. 245

2. Repressive Verwaltungsmaßnahmen Aus der Diskussion um die Zulässigkeit und die Grenzen repressiver Verwaltungsmaßnahmen und einer in diesem Zusammenhang vielbeachteten Entscheidung des Gerichtshofs 2 4 6 ist die Meinung erwachsen, daß dem Argument, die Mitgliedstaaten hätten bei Abschluß der Gemeinschaftsverträge nicht auf ihre strafrechtliche Sou-

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dahinstehen, weil es nur darum geht, den gedanklichen Ansatz der Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz mit seinen gemeinschaftsrechtlichen Wurzeln zu erschließen. Überblick bei Dannecker, Strafrecht der EG, S. 83 ff; Deutscher, EG-Kompetenz zur Strafgesetzgebung, S. 213 ff.; Jescheck, Möglichkeiten und Grenzen eines europäischen Strafrechts, S. 17, 26 ff. Siehe Art. 65 § 5; Art. 66 § 6 EGKSV. Siehe ζ. B. Art. 15 Abs. 4 der VO (EWG) Nr. 17/62 vom 6.2.1962, Abi. Nr. L 13, S. 204. Ferner Art. 14 Abs. 4 der VO(EWG) Nr. 4064/89 vom 21.12.1989, Abi. Nr. L 395, S. 1 ff Diese Verordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen wurde mangels ausdrücklicher primärrechtlicher Ermächtigung auch auf Art. 235 EGV gestützt, näher dazu: Dannecker, Strafrecht der EG, S. 122. Siehe Art. 15 Abs. 2 der VO(EWG) Nr. 17/62 vom 6.2.1962, Abi. Nr. L 13, S. 204.; vgl. auch Art. 14 Abs. 2 der VO(EWG) Nr. 4064/89 vom 21.12.1989, Abi. Nr. L 395, S. 1 (Fusionskontroll-Verordnung); näher Dannecker, Strafrecht der EG, S. 9 2 f f , 123. Beachtung verdient in der Diskussion um den strafähnlichen Charakter, daß sich die Buße am Konzernumsatz, also nicht nur am Umsatz des sich wettbewerbsrechtlich zweifelhaft verhaltenden Einzelunternehmens, bemessen kann. Führt man sich die Umsatzrenditen großer Konzerne vor Augen, so entpuppt sich die Sanktion als alles andere als geringfügig, siehe J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183, 189 f. J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183,190 f.; Schroth, Unternehmen als Normadressaten, S. 133. Vgl. Dannecker, Strafrecht der EG, S. 41 mwN. EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383ff = N J W 1993,47ff mit Anm. K. Tiedemann.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

veränität verzichten wollen, in Anbetracht der dynamischen Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung keine gewichtige Bedeutung mehr zukomme. 247 Hinter dem Begriff der repressiven Verwaltungsmaßnahme verbirgt sich ein ganzer Strauß von Sanktionen, die keine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage im Primärrecht finden, sondern auf Artt. 34 Abs. 2, 37 Abs. 2, ex-Artt. 40 Abs. 3,43 Abs. 2 EGV gestützt wurden, die von „allen zur Durchführung erforderlichen Maßnahmen" sprechen. 248 Diese Sanktionen sind in Verordnungen geregelt und dienen überwiegend dem Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft. 249 Vereinzelt erleichtern sie auch nur die Beaufsichtigung und Steuerung bestimmter Märkte. So werden auf dem Agrarmarkt Lizenzen erteilt, die zur Ein- und Ausfuhr von Agrarprodukten berechtigen oder verpflichten. 250 Der Antragsteller, der eine entsprechende Tätigkeit aufnehmen will, hat eine Kaution zu stellen, die ganz oder teilweise verfallt, wenn er die Lizenz nicht wahrnimmt oder seine Pflichten schlecht erfüllt. N u n ist nach dem Wortsinn der Begriff der Kaution mit der Sicherung eines Anspruchs zu verknüpfen und solange die Kaution der Sicherstellung von etwaigen Zahlungsansprüchen dient, wird sie aus dem Blickwinkel kompetenzrechtlicher Überlegungen als unbedenklich angesehen. 251 Fraglich wird ihre Zulässigkeit dann, wenn ihr Verfall neben die Rückerstattung erlangter Vermögensvorteile tritt. 252 Die größere Zahl repressiver Verwaltungsmaßnahmen ist im Bereich der Subventionen zu finden. Dort gibt es die Möglichkeit, bei Erschleichung der Mittel pauschalierte Rückzahlungsaufschläge und erhöhte Zinsforderungen vom unlauteren Subventionsempfänger zu fordern. 253 Die über die einfache Verzinsung des Rückzahlbetrages hinausreichende Summe wird anschaulich als Strafzuschlag bezeichnet; sie kann sich auf immerhin bis zu 40 Prozent des erschlichenen Betrages be247 248 249

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Fache, EuR 1993, 173, 179 f. K. Tiedemann, NJW 1993, 23, 27. Umspannt werden die Einzelsanktionen von der VO/EG Nr. 2988/95 vom 18.12.1995, Abi. Nr. L 312, S. 1 ff. über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft. Siehe im einzelnen Dannecker, Strafrecht der EG, S. 43 ff. mwN. Beispiel: Ein Exportunternehmen führt eine Ware aus, die zu „europäischen" Preisen auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig ist. Um diese Konkurrenzfähigkeit herzustellen, erhält das Unternehmen teilweise bereits vorab Finanzmittel der EG. Dieser „Vorschuß" wird mittels der Kaution gesichert. Hierzu und zu weiteren Fällen der Kautionsstellung siehe die Darstellung bei Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 49 ff. Dannecker, Strafrecht der EG, S. 44f.; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 104; J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183, 195 f. Vgl. Art. 33 der VO(EWG) Nr. 3183/80 vom 3.12.1980, Abi. Nr. L 338, S. 1. Ausführlich Dannecker, Strafrecht der EG, S. 43 ff; ferner die Lösungsvorschläge bei J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183, 195ff und P. Tiedemann, NJW 1983, 2727ff. BVerfGE 37, 271, 288 hat in seiner „Solange I"-Entscheidung den Kautionsverfall als eine der Strafe oder dem Bußgeld nicht gleichstehende Sanktion eingestuft. Vgl. Dannecker, Strafrecht der EG, S. 48.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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laufen. 254 Mit einem hohen Subventionsbetrag korrespondieren folglich hohe, den Subventionsempfanger empfindlich treffende Summen. Vor diesem Hintergrund stellt sich wiederum die Frage, ob es sich angesichts des punitiven Charakters solcher Strafzuschläge in der Sache um eine strafahnliche Sanktion handelt. 255 Neben derartigen Strafzuschlägen besteht die Möglichkeit, den für die unrichtigen Angaben verantwortlichen Wirtschaftsteilnehmer für einen gewissen Zeitraum von weiteren Subventionen auszuschließen. 256 Eben gegen diesen Leistungssausschluß und den Strafzuschlag 257 wandte sich die Bundesrepublik Deutschland in einer vor dem Gerichtshof erhobenen Nichtigkeitsklage. 258 Die Klagebegründung widmete sich argumentativ nur dem Leistungsausschluß. Diese Art der Prozeßführung hat in der strafrechtlichen Literatur Unverständnis hervorgerufen, weil nicht der eigentlich problematische Strafzuschlag, sondern der schon nach deutschem Recht als verwaltungsrechtliches Instrument einzuordnende Leistungsausschluß in den Mittelpunkt des Prozeßvorbringens gerückt wurde. 259 Der neuralgische Punkt einer rechtlichen Einordnung des Strafzuschlags kam nicht zur Sprache. Der Klagevortrag schwächte sich selbst, indem die Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Festsetzung der Zuschläge bejaht wurde, denn dem Sitzungsbericht ist zu entnehmen, daß der Zuschlag von der Bundesregierung selbst unter den Begriff der Geldbuße subsumiert wurde. 260 254

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258

259 260

Siehe Art. 13 Abs. 3 b und c der VO(EWG) Nr. 3813/89 vom 19.12.1989, Abi. Nr. L 371, S. 17 i. d. F. der VO (EWG) Nr. 1279/90 vom 15.5.1990, Abi. Nr. L 126, S. 20. J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183, 199; Spannowsky, JZ 1994, 326, 328 f. Vgl. Art. 13 Abs. 3c der VO(EWG) Nr. 3813/89, vom 19.12.1989, Abi. Nr. L 371, S. 17 i. d. F. der VO (EWG) Nr. 1279/90 vom 15.5.1990, Abi. Nr. L 126, S. 20, der einen einjährigen Leistungsausschluß für Landwirte vorsieht. Weitere Beispiele und zusammenfassender Überblick bei Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 105fT. Angegriffen wurde der Strafzuschlag gemäß Art. 13 Abs. 3 b der VO (EWG) Nr. 3818/89 vom 19.12.1989, Abi. Nr. L 371, S. 17 i.d. F. der VO (EWG) Nr. 1279/90 vom 15.5.1990, Abi. Nr. L 126, S. 20. EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383ff.Zur Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230, ex-Art. 173 EGV und ihren Rechtsfolgen siehe RengelinglMiddekel Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 119ff. K. Tiedemann, NJW 1993, 49 mit Hinweis auf Götz, Subventionserschleichung, S. 48 f. EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5392. Das muß angesichts der Problematik des Strafzuschlags, vgl. J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183, 199, verwundern und hat offenbar auch den Gerichtshof überrascht, der zwischen den Zeilen zu dieser Auffassung sogar auf Distanz geht. Denn im Sitzungsbericht heißt es „... zieht die Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Festsetzung der Zuschläge nicht in Zweifel, weil sie die Ansicht vertritt, daß diese unter den Begriff der Geldbuße fielen, da ihr Betrag beziffert werden könne," siehe EuGH, ebenda, 1-5392. Auch die Urteilsgründe sehen sich angesichts dieses Parteivorbringens zur Klarstellung bemüßigt. Dort heißt es: „Die Bundesregierung bestreitet der Gemeinschaft also nicht die Zuständigkeit, Sanktionen wie die Zahlung von Zuschlägen nach Artikel ... einzuführen," siehe EuGH, ebenda, 1-5428.

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2. H a u p t t e i l : Das Verhältnis des Strafrechts z u m Gemeinschaftsrecht

In der Sache trug die Bundesregierung drei Argumente vor: Zunächst wurde darauf verwiesen, daß sich der Leistungssausschluß von den in Art. 34 Abs. 2, ex-Art. 40 Abs. 3 EGV aufgezählten Maßnahmen so unterscheide, daß er von dieser Ermächtigung nicht mehr gedeckt sei. Die Gemeinschaft sei nicht zuständig. 261 Das zweite Argument stützt sich auf einen aus Art. 87 Abs. 2 a EGV abgeleiteten Umkehrschluß. Aus dieser Vorschrift ergebe sich, daß Geldbußen und Zwangsgelder die einzigen nach Gemeinschaftsrecht erlaubten Sanktionen seien.262 Das dritte Argument spricht die Kompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts direkt an, indem gerügt wird, der Leistungsausschluß sei Ausdruck eines strafrechtlichen Unwerturteils über den Wirtschaftsteilnehmer, der eine Unregelmäßigkeit begangen habe. Zur Einführung eines solchen Leistungsausschlusses mit Strafcharakter seien die Gemeinschaftsorgane nicht befugt. 263 Der Gerichtshof führte dazu aus, daß Artt. 34 Abs. 2, 37 Abs. 2, ex-Artt. 40 Abs. 3, 43 Abs. 2 EGV die Gemeinschaft ermächtigen, alle Sanktionen einzuführen, die für die wirksame Anwendung der Regelungen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich sind.264 Dabei verneinte er den Strafcharakter des Leistungsausschlusses und stellte zudem ausdrücklich fest, der Fall gebe keinen Anlaß, über die Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts zu entscheiden. 265

IV. Die eine Strafrechtssetzungskompetenz bejahenden Auffassungen Mit ihrer Klage hat die Bundesrepublik Deutschland nicht nur ihr Ziel verfehlt, sondern ungewollt Kohlen in ein über Jahrzehnte eher schwächlich glimmendes Feuer geschüttet. Diese Entscheidung war es, die der Diskussion um die Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft neue Nahrung gab.266 Es ist weniger die Sachentscheidung, als die gedankliche Verknüpfung zweier Aussagen des Urteils, die den Streit entfachte. Zum einen ist es die Aussage, die Gemeinschaft besitze aus Artt. 34 Abs. 2, 37 Abs. 2, ex-Artt. 40 Abs. 3,43 Abs. 2 EGV die Befugnis, alle Sank-

261 262 263 264 265

266

E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5388f. E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5389f. E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5390 f. E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5428. E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5431. Dabei hat der Gerichtshof nur zwischen verwaltungsrechtlichen und rein strafrechtlichen Instrumentarien differenziert und den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts praktisch ausgeblendet, vgl. K. Tiedemann, N J W 1993, 49. Pache, Schutz der finanziellen Interessen, S. 322fT.; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 781.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

111

tionen einzuführen, die für die wirksame Anwendung der Regelungen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich seien.267 Zum anderen ist es die Feststellung, in dem fraglichen Fall sei nicht über die Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts zu entscheiden. 268 Wie ein roter Faden ziehen sich diese Gedanken durch die Argumentation der Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft. 269 Besonders deutlich zeigt sich ihre Verknüpfung bei Pache. Er meint, die Gemeinschaft besitze im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik eine umfassende Sachkompetenz und damit einhergehend auch eine umfassende Kompetenz zum Erlaß gemeinschaftsrechtlicher Sanktionsvorschriften. 270 Da die Entscheidung die Grenzen der Sanktionskompetenz der Gemeinschaft offen gelassen habe, sei nicht geklärt, ob aus Artt. 34 Abs. 2, 37 Abs. 2, ex-Artt. 40 Abs. 3, 43 Abs. 2 EGV die Kompetenz folgen könne, sogar strafrechtliche Sanktionsvorschriften zu erlassen, wenn solche Vorschriften zur wirksamen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zwingend erforderlich seien.271 Noch weiter geht Appel. Nach seiner Meinung ermächtigen Artt. 34 Abs. 2, 37 Abs. 2, ex-Artt. 40 Abs. 3, 43 Abs. 2 EGV und Art. 95, ex-Art. 100 a EGV die Gemeinschaft zur Einführung strafrechtlicher Sanktionen, sofern die Sanktionsregelungen den jeweiligen Gemeinschaftszielen dienen wollen und dienen können. 272 Er bezieht ausdrücklich kriminalstrafrechtliche Regelungen ein und verleiht der Diskussion eine weitere Dimension. Denn Appel bejaht nicht nur die Kompetenz zur Formulierung entsprechender Tatbestände, sondern sogar die Normierung eines, wenn auch auf die jeweiligen Sachgebiete beschränkten, Allgemeinen Teils.273 Damit verfolgen diese Autoren einen der vorherrschenden Meinung widersprechenden Ansatz. Während diese in jeder Hinsicht von der fehlenden Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts ausgeht und auf dieser Grundlage einzelne Sanktionsmaßnahmen im Lichte der Kompetenzfrage auf ihren strafahnlichen Charakter untersucht, teilen diese Autoren schon den Ausgangspunkt der vorherrschenden Meinung nicht. Diesen verwerfen sie nicht gänzlich, sondern stellen die Kompetenz zur Setzung von Strafnormen in einen Zusammenhang mit der allgemeinen Sachkompetenz in einem 267 268 269

270 271 272 273

EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992, 1-5383, 5428. EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5431. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 177 fF.; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 56, 63ff.; vgl. auch Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 136ff. Pache, EuR 1993, 173, 178. Pache, EuR 1993, 173, 179. Dem folgt Thiele, Gemeinsame Agrarpolitik, S. 32. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 183. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 183. Zurückhaltender Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 165, die für die Androhung von Freiheitsstrafen eine unmittelbare demokratische Legitimation fordert.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

bestimmten Rechtsgebiet. Die Befugnis zur Setzung von Strafnormen erwächst in diesem Sinne als Frucht aus der allgemeinen Sachkompetenz. Die jüngere Diskussion um die Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft geht somit auf einen gemeinschaftsrechtlichen und durch den Gerichtshof vermittelten Impuls zurück. Diese Sichtweise trägt den Gedanken des „effet utile" 274 und damit ein Argument in sich, das bereits bei der Frage angeführt wurde, ob Art. 229, ex-Art. 172 EGV die Befugnis zur Setzung von Bußgeldnormen verleiht. 275 Es ist durchaus schlüssig, diesen Gedanken aus dem Urteil des Gerichtshofs abzuleiten, wenn das Gericht der Gemeinschaft unter Berufung auf Artt. 34 Abs. 2, 37 Abs. 2, ex-Artt. 40 Abs. 3, 43 Abs. 2 EGV ohne weitere Eingrenzung die Befugnis zubilligt, „alle Sanktionen einzuführen, die für die wirksame Anwendung der Regelungen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich sind". 276 Auf diesen Aspekt konzentriert diese Meinung ihre Argumentation, da sie eine Kompetenz zum Erlaß strafrechtlicher Sanktionsvorschriften nur für den Fall nicht verneinen will, daß solche Vorschriften zur wirksamen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts erforderlich sind.277 Von diesem Standpunkt aus ist es konsequent, in Anbetracht der dynamischen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts dem mangelnden Souveränitätsverzicht bei Abschluß der Verträge keine wesentliche Bedeutung mehr beizumessen. 278 Nach dieser Meinung ist bei einer Deutung der Verträge zu beachten, daß die Materialien zu den Gründungsverträgen nicht zugänglich sind und es bei der Auslegung nicht auf den historischen Parteiwillen, sondern auf den objektiven Sinngehalt von Normen ankommt. 279 Im Zuge der fortschreitenden Integration und bei Vorliegen eines entsprechenden Bedürfnisses auf bestimmten Rechtsgebieten bestehe die Möglichkeit einer Strafrechtssetzung durch die Gemeinschaft. Zu beachten sei, daß den Verträgen nicht etwa Kompetenzzuweisungen auf den Gebieten des Strafrechts, Verwaltungsrechts oder Zivilrechts zugrunde liegen. Vielmehr gehe es stets um einzelne 274

275 276 277

278 279

Ausführlich zum Argument des „effet utile" in der Rechtsprechung des EuGH: Streinz, Everling-FS, S. 1491 ff. Näher bei Vogel, Die Kompetenz der EG, S. 170, 175 ff. mwN. EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5428. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 177, 181 ff. Die Annahme einer Kompetenz zur strafrechtlichem Normgebung durch Autoren wie Appel hat damit einen anderen Ursprung als die Annahme einer partiellen Kompetenz infolge der Vertragsänderungen von Amsterdam durch BerglKarpenstein, EWS 1998, 77, 81; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 7; K. Tiedemann, A G O N Nr. 17 (Dezember 1997), 12f.; ders. GA 1998, 107, 108 Fn. 7; Wolffgangl Ulrich, EuR 1998, 616, 644. Pache, EuR 1993, 173, 179f. Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 144. Allgemein zur objektiven Auslegung des Vertragswerks: Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 554; Streil in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ Streil, Die EG, S. 245 ff.

Β. Die K o m p e t e n z der Gemeinschaft z u r eigenständigen Setzung von S t r a f n o r m e n

113

S a c h g e b i e t e u n d d a h e r sei e s nicht richtig, n a c h einer K o m p e t e n z a u f d e m G e b i e t d e s Strafrechts zu fragen, s o n d e r n es sei stets z u u n t e r s u c h e n , o b die j e w e i l i g e n Einz e l e r m ä c h t i g u n g e n a u c h p u n i t i v e S a n k t i o n e n decken. 2 8 0 In d i e s e m S i n n e w ä r e folglich e i n e partielle, z . B . d a s G e b i e t der A g r a r p o l i t i k b e t r e f f e n d e K o m p e t e n z der G e m e i n s c h a f t zur S e t z u n g v o n S t r a f n o r m e n denkbar. D i e s e r gemeinschaftsrechtliche G e d a n k e der V e r k n ü p f u n g v o n S a c h k o m p e t e n z u n d Strafrechtssetzungsbefugnis ist in der Sache freilich nicht neu. 2 8 1 Er findet sich bereits bei Johannes, rechts z u m

der in einer u m f a s s e n d e n A n a l y s e des Verhältnisses d e s Straf-

G e m e i n s c h a f t s r e c h t a u c h d e n G e d a n k e n a u f g e w o r f e n hat, o b

die

G e m e i n s c h a f t s o r g a n e a u f e i n e m Gebiet, d a s ihrer K o m p e t e n z unterliegt, durch eine sekundärrechtliche Verweisung nationale Strafvorschriften in B e z u g n e h m e n dürfen. 2 8 2 D a b e i handelt es sich keinesfalls u m eine nur theoretische E r w ä g u n g . Vielmehr sind sekundärrechtliche B e z u g n a h m e n nachweisbar, 2 8 3 die a n a l o g den primärrechtlichen Verweisungen a u f n a t i o n a l e Strafvorschriften gedeutet werden. 2 8 4 D i e B e f u g n i s hierzu soll aus der S a c h k o m p e t e n z e r w a c h s e n , in c o n c r e t o der R e g e l u n g 280 281

282 283

284

über

Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 135. Die Schlußanträge des Generalanwalts Dutheillet de Lamothe im Fall „Internationale Handelsgesellschaft" E u G H , Urteil vom 17.12.1970, Rs. 11/70, Ε 1970, 1125, 1144 enthalten folgende Passage: „ M a n versichert Ihnen, die Mitgliedstaaten hätten den Gemeinschaftsorganen im allgemeinen keine Strafbefugnisse übertragen; eine Ausnahme gelte nur, soweit der Vertrag es ausdrücklich bestimmt, wie ζ. B. für die Kartelle oder die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung in Artikel 87 Absatz 2 Buchstabe a, der ausdrücklich die Einführung von Geldbußen und Zwangsgeldern vorsieht. Zunächst ist die Behauptung höchst bestreitbar, der Vertrag ermächtige die Gemeinschaftsorgane nur in den ausdrücklich bestimmten Fällen dazu, Sanktionen vorzusehen. Insbesondere sieht Artikel 40 Absatz 3 auf dem Gebiet der Landwirtschaft vor, d a ß die gemeinsame Marktorganisation alle zur Durchführung des Artikels 39 erforderlichen Maßnahmen einschließen kann. Man kann sich zu Recht die Frage vorlegen, ob eine so weite Formel nicht auch die Möglichkeit umfaßt, gegebenenfalls finanzielle Sanktionen einzuführen, um die Einhaltung der Gemeinschaftsverordnungen zu gewährleisten." (Kursivdruck im Original). Darin liegt die Idee, unter den „erforderlichen M a ß n a h m e n " auch das Strafrecht zu verstehen. D a dieser Gedanke aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht fernliegt, erklärt sich, warum in der strafrechtlichen Kompetenzdiskussion von E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383ff. so starke Impulse ausgingen. Johannes, EuR 1968, 63, 109. Art. 5 Abs. 2 der VO/EWG Nr. 28/62 vom 14.5.1962, Abi. 1962, S. 1277, in der es um die Erhebung von Lohndaten geht, enthält folgende Formulierung: „ F ü r die Verfolgung von Zuwiderhandlungen (...), insbesondere die Verletzung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, gelten die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für innerstaatliche Erhebungen." In der VO/EWG/Nr.188 vom 12.12.1964 „zur Durchführung einer Erhebung über Struktur und Verteilung der Löhne in Industrie und Handwerk", Abi. 1964, S. 3634 findet sich wiederum in Art. 5 Abs. 2 eine identische Formulierung. Näher dazu Johannes, EuR 1968, 63, 103; Pache, Schutz der finanziellen Interessen, S. 235 f. So insbesondere: Bruns, Strafschutz der Marktordnungen, S. 91; Johannes, EuR 1968, 63, 103, 108 f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts z u m Gemeinschaftsrecht

gemeinschaftsrechtliche, statistische Erhebungen. 285 Tiedemann bezeichnet dieses Problem der sekundärrechtlichen Verweisung auf nationale Strafvorschriften als ungeklärt. 286 Dem ist zuzustimmen, da die Extension des Anwendungsbereichs nationaler Strafvorschriften durch Verordnungen unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten bisher vernachlässigt wurde. Daß der von Johannes mit Blick auf die sekundärrechtliche Verweisung bemühte Grundgedanke, das Strafrecht als Teil der Sachkompetenz zu deuten, in jüngerer Zeit in extensiverer Ausdeutung wieder bemüht wird, dürfte an der vieldeutigen Feststellung des Gerichtshofs liegen, angesichts des fehlenden Strafcharakters des Leistungsausschlusses bestehe kein Anlaß, über die Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts zu entscheiden.287 Beachtet man freilich die Entscheidungen in den Fällen „Casati" 288 und „Cowan" 289 , nach denen die positive Strafrechtssetzungskompetenz bei den Mitgliedstaaten verblieben ist, relativiert sich diese vermeintlich offene Formulierung. Denn wenn ein zu Grundsatzentscheidungen berufenes Gericht sagt, ein Fall gebe keinen Anlaß, zu einer Rechtsfrage Stellung zu nehmen, werden die vorhergehenden Entscheidungen zu diesem Rechtsproblem nicht etwa getilgt, sondern bleiben in der Welt.

V. Die Argumentation der vorherrschenden Meinung 1. Souveränitätsverzicht u n d Wortlaut Die vorherrschende Meinung beruft sich zunächst auf den Wortlaut des Vertragswerks und damit auf die jahrzehntelange Nichterwähnung des Strafrechts. 290 Verlangt wird damit eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung. 291 Die Androhung oder Verhängung echter Kriminalstrafen wird als eine so wesentliche Befugnis angesehen, daß eine Übertragung ohne entsprechende ausdrückliche Ermächtigung ausgeschlossen sei.292 Die Mitgliedstaaten haben danach bei Abschluß der Verträge diesbezüglich keinen Souveränitätsverzicht geleistet.293 285 286 287

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Johannes, EuR 1968, 63, 109. Κ Tiedemann, N J W 1993, 23, 25. E u G H , Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5431. Insoweit hat das Urteil die damit verknüpften Erwartungen, siehe ζ. B. de Moor, Opening Speech to the Founding Symposium of the Association for European Criminal Law, S. 30, nicht erfüllt. E u G H , Urteil vom 11.11.1981, Rs. 203/80, Ε 1981, 2595, 2618. E u G H , Urteil vom 2.2.1989, Rs. 186/87, Ε 1989, 195, 221 f. Durch den Vertrag von Amsterdam hat sich das geändert. In Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV und Art. 61 lit. e finden sich jetzt Vokabeln wie „Strafrecht" oder „Strafsachen". Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 779. Dannecker, Strafrecht der EG, S. 40. Bridge, Crim.LR 1976, 88; Oehler, Baumann-FS, S. 561; Pagliaro, Grenzen der Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, S. 379, 382f.; RengelinglMiddekelGellermann, Europäischer

Β. Die K o m p e t e n z der G e m e i n s c h a f t zur eigenständigen Setzung von S t r a f n o r m e n

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2. D e m o k r a t i s c h e Legitimation der Rechtssetzungsakte Ein weiteres Argument wird aus Art. 103 Abs. 2 G G und dem Erfordernis einer demokratischen Legitimation strafrechtlicher Normen abgeleitet.294 Allein die Erwähnung des Art. 103 Abs. 2 G G öffnet den Blick auf ein so weites Feld, daß der Gedankengang der Eingrenzung bedarf. Zunächst geht es nicht um Sanktionen, die de lege lata auf unmittelbar anwendbares Sekundärrecht gestützt werden. Insoweit gilt grundsätzlich, daß Art. 103 Abs. 2 G G nicht als verfassungsrechtlicher Maßstab gemeinschaftsrechtlicher Sanktionsnormen herangezogen werden kann, die sich in EG-Verordnungen finden.295 Die hier zu vertiefende Bedeutung des Art. 103 Abs. 2 G G besteht auch nicht in den Verboten der analogen, gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung oder Strafverschärfung, die im Zusammenhang mit dieser Vorschrift der Verfassung zumeist diskutiert werden. Vielmehr enthält Art. 103 Abs. 2 G G zudem den sogenannten strengen Gesetzesvorbehalt für Strafbestimmungen, der es der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen.296 Gesetz im Sinne des Art. 103 Abs. 2 G G kann zwar eine nicht formellgesetzliche Norm wie eine Rechtsverordnung sein, jedoch bedarf eine solche Vorschrift stets eines hinreichend bestimmten, formellen Gesetzes, dem die Ermächtigung zur Strafandrohung unzweideutig zu entnehmen ist.297 Betrifft Art. 103 Abs. 2 G G Bestrafungen jeder Art, so bringt Art. 104 Abs. 1 Satz 1 G G nochmals zum Ausdruck, daß die Freiheit einer Person nur auf Grund eines Gesetzes im formellen Sinne eingeschränkt werden kann, wobei bereits die Möglichkeit einer entsprechenden Verurteilung und nicht erst der Vollzug einer Strafe eine solche Einschränkung darstellt. 298 Die Voraussetzungen, unter denen der Eingriff zulässig ist, müssen in dem förmlichen Gesetz selbst bestimmt sein. Wenn der Gesetzgeber hinreichend deutlich bestimmt, was strafbar sein soll, Art und Maß der Strafe festlegt, so kann er die Spezifizierung dem Verordnungsgeber überlassen und ist der ihm vom Grundgesetz auferlegten Verantwortung gerecht geworden.299

294 295

296 297 298 299

Rechtsschutz, Rn. 1216; J. Schulz, Europäisches Strafrecht, 189; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, S. 216. Hervorgehoben wird das auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis. So zitiert Bridge, Crim.LR 1976, 88, die britische Regierung wie folgt: „Nothing in Community law ... would materially affect the general principles of our criminal law." Sieber, ZStW 103 (1991), 957 ff.; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 800. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 247. Das europäische Kartellbußgeldrecht kann nicht am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 G G gemessen werden. BVerfGE 75, 329, 341; 78, 374, 382. BVerfGE 14, 174, 185. BVerfGE 14, 174, 186. BVerfGE 14, 174, 187.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Ziel dieser Vorschriften der Verfassung ist es, die grundsätzlichen Regelungen des Strafrechts in förmlichen Gesetzen entschieden zu wissen.300 Hinter der Forderung nach dem Tätigwerden des Parlamentes steckt dabei mehr als nur eine bloße Zuständigkeitszuweisung. Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verlangt vom Gesetzgeber, in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, 30 ' denn allein die Legislative besitzt eine unmittelbare demokratische Legitimation. 302 Demgemäß kann grundsätzlich nur der parlamentarische Gesetzgeber das Recht in Anspruch nehmen, Straftatbestände zu normieren. 303 Der Demokratiegedanke kann trotz unterschiedlicher Ableitungen und Ausdeutungen des nulla-poena-Grundsatzes 304 zumindest als ein wesentliches Element dieses Prinzips bezeichnet werden. 305 Eine Wurzel des „strafrechtlichen" Gesetzlichkeitsprinzips liegt also im Grundsatz der gewaltenteilenden Demokratie. 306 Vor diesem Hintergrund hat Sieber unter dem Gesichtspunkt der strafrechtlichen Kompetenzfrage darauf aufmerksam gemacht, daß der aus Vertretern der Exekutive zusammengesetzte Ministerrat und die Kommission nicht im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre unmittelbar demokratisch legitimiert sind.307 Sollten die Gemeinschaftsorgane aufgrund der gegebenen Vertragslage Normen setzen, die dem Kriminalstrafrecht zuzuordnen sind, so läge darin im Sinne des Bundesverfassungsgerichts eine nicht mehr vom Vertragstext gedeckte Befugniserweiterung, die für die Bundesrepublik Deutschland keine Bindungswirkung erzeugen würde. Angesichts einer „Gesetzgebung durch Regierung" 308 erscheint Sieber die Normierung von eingriffsintensiven Strafnormen durch die Gemeinschaftsorgane als nicht hinnehmbarer Einbruch in die Grundstrukturen des demokratischen Staates.309 Sieber hat die Legitimationsfrage zu einem fortan vielbeachteten Gesichtspunkt der Kompetenzfrage erhoben. Seine vor dem Vertrag von Maastricht veröffentlichte Auffassung, nach der angesichts des Entwicklungsstandes des europäischen Parlamentarismus die Normierung von eingriffsintensiven Strafnormen durch den Ministerrat als Einbruch in die Grundstrukturen des demokratischen Staates nicht 300 301 302 303 304

305 306 307 308 309

BVerfGE 75, 329, 343. Krey, EWR 1981, 139f., 146, 149. BVerfGE 49, 89, 125. Grünwald, ZStW 76 (1964), 13f.; JeschecklWeigend, AT, § 15 III; Krey, Studien, S. 210fT. Dazu: Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 13 ff.; H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 209 ff. Eser in: Schönke-Schröder, § 1 Rn. 17: H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 218f. C. Roxin, AT, § 5 IV Rn. 20; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, S. 103 f. Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 970. Terminologie nach Ress, Geck-GS, S. 625, 627. Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 970.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

117

hinnehmbar sei,310 hat er nach Maastricht in der Sache wiederholt. 311 Diese Darlegungen Siebers sind auf Zustimmung gestoßen und finden sich fortan mit unterschiedlicher Akzentuierung in der strafrechtlichen Literatur. 312 Siebers Ansatz wurde zu der Forderung ausgebaut, dem Grundsatz „nulla poena sine lege parlamentaria" Geltung zu verschaffen. 313 Für Haouache verkörpert der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" eine unüberwindbare Hürde für eine sekundärrechtliche Strafnormsetzung, weil ein Organ normgebend tätig werden würde, das nach üblichem Verständnis der Exekutive angehört. Hierin liege ein entscheidender, nicht heilbarer Mangel an demokratischer Substanz, solange nicht ein gewählter europäischer Gesetzgeber berechtigt sei, europäische Kriminalstrafen zu erlassen.314

VI. Die Erwiderung der Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz Die Verfechter einer Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft teilen die Bedenken Siebers nicht. Insbesondere Appel und Böse bestreiten, daß strafrechtliche Normen einer höheren demokratischen Legitimation als andere eingriffsintensive Maßnahmen bedürfen. 315 Soweit die demokratische und rechtsstaatliche Wurzel des Satzes „nullum crimen sine lege" in Rede stehe, sei diese Bestandteil anderer Verfassungsprinzipien, insbesondere des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips, des allgemeinen Bestimmtheitsgebots und der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. Auch andere gemeinschaftsrechtliche Regelungen seien geeignet, erheblich in Rechte einzelner eingreifen, obwohl die mitgliedstaatlichen Verfassungen hierfür

310 311 312

313

314 3,5

Sieber, ZStW 103 (1991), 969. Sieber, Madrid-Symposium, S. 349, 357 f. V. Bubnoff, Grenzüberschreitende Strafrechtspflege aus europäischer Sicht, S. 12; Haouache, Börsenaufsicht durch Strafrecht, S. 152; Hugger, NStZ 1993, 421, 424; Köhler, AT, S. 86; Manoledakis, KritV 1999, 181, 184f.; Vogel, Kompetenz der EG, S. 170, 180ff.; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 800; Wilkitzki, ZStW 105 (1993), 821, 834. Siehe ferner die Diskussionsbeiträge anläßlich des Gründungssymposiums der Vereinigung für Europäisches Strafrecht, in: Sieber (Hrsg.), Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, in denen insbesondere Hirsch (S. 121) und Vogler (S. 128) die Notwendigkeit einer unmittelbaren demokratischen Legitimation hervorheben. Haouache, Börsenaufsicht durch Strafrecht, S. 152; Vogel, Kompetenz der EG, S. 170, 183, siehe aber auch dens. JZ 1995, 331, 339, wo es heißt, daß eine Regelung, wonach Sanktionstatbestände in Rechtsakten des Europäischen Parlaments vorgesehen sein müßten, beim derzeitigen Stand des Gewaltenteilungsverständnisses kaum begründbar sei. Haouache, Börsenaufsicht durch Strafrecht, S. 152. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 185; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 91 f. Zweifelnd: Fache, Schutz der finanziellen Interessen, S. 325.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

verfassungsrechtliche Vorgaben aufweisen, die sich auf rechtsstaatliche und demokratische Grundprinzipien zurückführen lassen. Mit dem Bundesverfassungsgericht stelle sich der Kollisionsfall erst dann, wenn der Wesensgehalt einer verfassungsrechtlichen Garantie oder andere Verfassungsmaximen verletzt würden. Dafür reiche die allgemeine Berufung auf den nullum-crimen Satz nicht aus.316 Bei einer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft als einer zu eigenem hoheitlichen Handeln befähigten Staatengemeinschaft könne eine demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung.317 Den Hinweis auf die mangelnde demokratische Legitimation wertet Böse eher als ein rechtspolitisches, aber nicht juristisches Argument.318 Schließlich gebe es im europäischen Kartellrecht weitreichende Eingriffsbefugnisse bis zur Durchsuchung von Geschäftsräumen, was im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt in Art. 13 GG ebenfalls gewichtigen Bedenken an der Kompetenz der Gemeinschaft begegnen müßte.319

VII. Stellungnahme Ausgangspunkt jeder Überlegung muß das Prinzip der begrenzten Handlungsermächtigung sein. Insoweit ist zu fragen, ob die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Setzung von Strafnormen Kompetenzen übertragen haben.

1. Primärrechtlich herzuleitende Argumente a. Das Wortlautargument Hinsichtlich des Wortlauts des Vertragswerks können sich beide Auffassungen auf gute Argumente stützen. Das Argument der Befürworter einer Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft, zu einem Sachgebiet gehöre bei einem entsprechenden Bedürfnis die Sanktionsnorm und notfalls auch die Strafnorm, entbehrt bei isolierter Betrachtung der Systematik des Vertragswerks nicht der Schlüssigkeit. Die Mitgliedstaaten haben im Vertragswerk bei der Umschreibung der Kompetenzermächtigungen zugunsten der 316 317 318 319

Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 186. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 186. Böse, Strafen und Sanktionen, S. 91. Böse, Strafen und Sanktionen, S. 92.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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Gemeinschaft nicht die betroffenen Rechtsgebiete wie ζ. B. das bürgerliche Recht benannt. Es gibt zwar sachgebietsspezifische Kompetenzzuweisungen, 320 aber eben auch Ermächtigungen im Sinne einer Funktionsbeschreibung. 321 Funktionale Kompetenzzuweisungen sind weitaus unschärfer als katalogartige Aufzählungen einzelner Sachgebiete. Dies wird insbesondere an der Ermächtigung in Art. 95, ex-Art. 100a EGV zum Erlaß von Binnenmarktregelungen deutlich. 322 Wenn die Befürworter der Strafrechtssetzungskompetenz somit eine Art. 74 Nr. 1 G G vergleichbare Kompetenzzuweisung nicht verlangen, ist das im Lichte der allgemeinen Systematik des Vertrages schlüssig und gut zu vertreten. Für das Gebiet des bürgerlichen Rechts sind zahlreiche Richtlinien relevant geworden, 323 ohne daß sich eine Art. 74 Nr. 1 G G vergleichbare explizite Zuweisung im Primärrecht ausmachen läßt. Anhand des Wortlauts des Vertragswerks lassen sich sogar einzelne Kompetenzzuweisungen anführen, die sehr wohl strafrechtlich relevante Handlungsermächtigungen enthalten könnten. 324 Als besonders prägnantes Beispiel kann Art. 70 Abs. 1 lit. c, ex-Art. 75 Abs. 1 lit. c EGV angeführt werden. Nach dem dort vorgesehenen Verfahren kann der Rat Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit erlassen. Da die Verkehrssicherheit dadurch gewährleistet werden kann, daß bei schweren Verstößen Geld- oder Freiheitsstrafen angedroht werden, könnte die Gemeinschaft befugt sein, entsprechende Strafnormen zu setzen. Allerdings spricht für die vorherrschende Meinung, daß eine Übertragung von Kompetenzen zur Setzung von Strafnormen in der Tat eine weitreichende Kompetenzzuweisung darstellt. 325 Daher ist es fraglich, strafrechtliche Vorschriften ohne weiteres als von der jeweils funktional umschriebenen Kompetenz mitumfaßt einzustufen. Seine Bestätigung findet dieser Gedanke bei einer Durchsicht des Vertragswerks mit dem Ziel, anhand der objektiven Regelungen die Vertragslage hinsichtlich der Übertragung von Rechtssetzungskompetenzen auf dem Gebiet des Strafrechts zu ermitteln. Diese Analyse ist notwendig, weil allein eine am ursprünglichen Willen 320

321

322 323

324

325

Siehe Regelungen wie Artt. 81, 82, ex-Artt. 85, 86 EGV (Wettbewerbsrecht) oder Art. 70 Abs. 1 lit. c, ex-Art. 75 Abs. 1 lit. c EGV (Verkehrssicherheit), Müller-Grafj, DRiZ 1996,259, 260. Everting, Stern-FS, S. 1227, 1229f.; Jarass, Grundfragen, S. 11; Schmidt-Aßmann, DVB1. 1993,924, 931. Jarass, Grundfragen, S. 11; Müller-Graff, DRiZ 1996, 259, 261. Siehe ζ. B. die zahlreichen haftungsrechtlich relevanten Richtlinien bei v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 384 ff. Auf diese „Ambivalenz" des Vertragswerks haben bereits JunglSchroth, GA 1983, 241, 263, aufmerksam gemacht. Dannecker, Strafrecht der EG, S. 40.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

der Mitgliedstaaten orientierte, subjektiv historische Auslegung die Streitfrage nicht entscheiden kann. Freilich stellt auch die europarechtliche Literatur im Zusammenhang mit der Kompetenzfrage auf strafrechtlichem Gebiet auf den Willen der Mitgliedstaaten ab.326 Allerdings kommt der historischen Auslegung des Primärrechts eine nur sehr geringe Bedeutung zu,327 weshalb es notwendig ist, durch eine objektive Auslegung des Primärrechts nach einer Bestätigung dieses Willens zu suchen. Gegen eine Übertragung von Rechtssetzungskompetenzen spricht zunächst das primärrechtlich explizit erwähnte europäische Kartellbußgeldrecht. Wenn der Gemeinschaft mit der Sachkompetenz auch die zur Setzung von Strafnormen verliehen werden sollte, macht Art. 83 Abs. 2 lit. a, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. a EGV wenig Sinn. Es fragt sich, warum das Vertragswerk eine im Vergleich mit dem Kriminalstrafrecht weniger gewichtige und blasse Bußgeldkompetenz positiv regelt, wenn derartige Kompetenzen ohnehin Teil der Sachkompetenz sein sollten. Darauf ließe sich erwidern, Art. 83 Abs. 2 lit. a, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. a EGV weise die Besonderheit einer unmittelbaren Zuständigkeit von Organen der Gemeinschaft zur Verhängung der Sanktionen auf. Doch dieses Argument überzeugt nicht. Wenn die Geldbuße ohnehin von der Sachkompetenz umfaßt ist, hätte es mit einer schlichten Zuständigkeitsregelung der Geldbuße sein Bewenden haben können. Art. 83 Abs. 2 lit. a, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. a EGV daher gegen eine Übertragung von Strafrechtsse tzungskompetenzen . b. Strafrechtsspezifische Sonderregelungen im Primärrecht Darüber hinaus finden sich im Primärrecht weitere Anhaltspunkte, die für einen Souveränitätsvorbehalt sprechen. In Teilbereichen des Gemeinschaftsrechts konnte von Anfang an nicht auf kriminalstrafrechtliche Regelungen verzichtet werden. Es bestand ein Bedürfnis, gewisse Institutionen und Einrichtungen mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen. 328 Augenfällig wird diese Notwendigkeit bei Art. 23 ff. des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 329 die Vorschriften über die Vernehmung von Zeugen enthalten. Nach 326 327

328 329

Oppermann, Europarecht, Rn. 698; Pescatore, EuR 1970, 307, 315. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 556; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 809; Meyer, Jura 1994, 455; Oppermann, Europarecht, Rn. 687. Zur Notwendigkeit der objektiven Auslegung rechtssetzender Verträge, Doehring, Völkerrecht, S. 166 f. Pache, Schutz der finanziellen Interessen, S. 231. Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 17.4.1957, BGBl. II, S. 1166. Art. 27 lautet: „Jeder Mitgliedstaat behandelt die Eidesverletzung eines Zeugen oder Sachverständigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat. Auf Anzeige des Gerichtshofs verfolgt er den Täter vor seinen zuständigen Gerichten." Art. 28 des Protokolls über die Satzung des

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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Art. 27 dieser Normen behandelt jeder Mitgliedstaat die Eidesverletzung eines Zeugen oder Sachverständigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat. 330 Das Erfordernis für eine derartige Regelung lag mit der Einrichtung des Gerichtshofs auf der Hand, da Vorschriften über die eidliche Vernehmung stumpf bleiben, wenn für den Fall ihrer Verletzung keine strafrechtliche Sanktion droht. Es bestand mithin von Anfang an die Notwendigkeit, eine strafrechtliche Regelung herbeizuführen. Strafrechtlicher Regelungsbedarf bestand auch auf einem weiteren Gebiet. Mit dem Ziel der Gründung einer europäischen Atomgemeinschaft stellte sich auf diesem sensiblen Gebiet die Aufgabe, Fragen der Sicherheit und Geheimhaltung zu regeln. Interessant ist das Vorgehen unter strafrechtlichen Gesichtspunkten. Art. 194 Abs. 1 Satz 2 EAGV verweist auf die jeweiligen nationalen Geheimhaltungsvorschriften. 331 Vor dem Hintergrund der Kompetenzfrage ist bedeutend, d a ß dieser Verweis gerade nicht mit den Mitteln des Sekundärrechts gemäß Art. 161 EAGV, sondern im Zuge einer primärrechtlichen Vereinbarung zustande kam. Die praktischen Erfahrungen mit dieser Art der primärrechtlichen Verweisung sind zwar gering, 332 was ihr im kompetenzrechtlichen Zusammenhang jedoch nichts an Aussagekraft nimmt. Dort, wo strafrechtlicher Flankenschutz als unverzichtbar erschien, haben die Mitgliedstaaten primärrechtliche Absprachen getroffen. Die Mitgliedstaaten haben ihre Kompetenz bewahrt, also das „Ob" der Strafbarkeit in ihren Händen gehalten. Als notwendig erachteter Strafschutz wurde nicht den Organen der Gemeinschaft überlassen, die dann mittels gemeinschaftsrechtlicher N o r m setzung aktiv geworden wären, sondern durch eigens formulierte und separate Absprachen der Vertragsparteien bewirkt. Diese waren einerseits der Auffassung, die

' 30 331

332

Gerichtshofs der Europäischen Atomgemeinschaft vom 17.4.1957 (BGBl. II S. 1166) entspricht dieser Regelung. Durch die Einfügung eines weiteren Artikels hat sich lediglich die Zählweise verschoben. Siehe ferner die Regelungen in Art. 28 Abs. 4 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18.4.1951 (BGBl. II S. 482). Dazu näher Dannecker, Strafrecht der EG, S. 35f. mwN., Deutscher, EG-Kompetenz zur Strafgesetzgebung, S. 387 ff. Ausführlich dazu: Johannes, EuR 1968,69 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 189; J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183 ff. Die Regelung in Art. 194 Abs. 1 Satz 2 und 3 EAGV knüpft an Geheimhaltungspflichten in Art. 194 Abs. 1 Satz 1 EAGV und hat folgenden Wortlaut: „Jeder Mitgliedstaat behandelt eine Verletzung dieser Verpflichtung als einen Verstoß gegen seine Geheimhaltungsvorschriften; er wendet dabei hinsichtlich des sachlichen Rechts und der Zuständigkeit seine Rechtsvorschriften über die Verletzung der Staatssicherheit oder die Preisgabe von Berufsgeheimnissen an. Er verfolgt jeden seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Urheber einer derartigen Verletzung auf Antrag eines beteiligten Mitgliedstaates oder der Kommission." Eine Verurteilung aufgrund dieser Verweisung ist BGHSt 17, 121 ff. zu entnehmen.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Verletzung der Geheimhaltungspflicht strafrechtlich sanktionieren zu müssen. Das andererseits an den Tag gelegte Vorgehen zur Lösung des Problems, also die primärrechtliche Inbezugnahme der Geheimhaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, spricht für die Wahrung der Souveränität. Im Fall der Eidesdelikte wäre eine für die prozessuale Wahrheitsfindung und den Autoritätsanspruch des Gerichts abträgliche Lage entstanden, wenn ausgerechnet der Meineid vor den Richtern des Gerichtshofs ohne Strafandrohung geblieben wäre. Das Problem haben die Mitgliedstaaten erkannt und auch in diesem Fall mit der primärrechtlichen Verweisung gelöst. Wenn also ein Regelungsbedarf auf strafrechtlichem Gebiet erkannt wurde, haben die Mitgliedstaaten selbst gehandelt. Diese Vorgehen stützt ganz eindeutig die vorherrschende Meinung. 2. Sekundärrechtliche Inbezugnahme nationalen Strafrechts Die Aussagekraft dieser Vorgehensweise im Zusammenhang mit der Kompetenzfrage könnte unter Hinweis auf sekundärrechtliche Inbezugnahmen bestritten werden. 333 Allerdings sind hiergegen zwei Argumente ins Feld zu führen. Zum einen stellt sich die Kompetenzfrage in diesem Fall in stark abgeschwächter Form, da durch eine derartige Verweisung in keinem der Mitgliedstaaten ein neuer Straftatbestand geschaffen wird. Die Verweisung gilt dem ohnehin gegebenen Recht.334 Sie findet das jeweilige innerstaatliche Strafrecht vor, aber schafft es nicht. Fehlt ein entsprechender Tatbestand im innerstaatlichen Recht, verfehlt die Verweisung ihr Ziel und geht ins Leere. Im Ergebnis ist ein gewisser konstitutiver, strafbarkeitsbegründender Charakter einer solchen Verweisung zwar nicht zu bestreiten, da der Anwendungsbereich der innerstaatlichen Strafvorschrift ausgedehnt wird,335 jedoch handelt es sich bei der sekundärrechtlichen Verweisung nicht um das, was originär unter einer Strafrechtssetzungskompetenz zu verstehen ist. Zudem darf die aktuelle Bedeutung dieses Problems für die Kompetenzfrage nicht überschätzt werden. Es handelt sich um Sonderfalle, die - soweit ersichtlich in den letzten Jahrzehnten keine Wiederholung erfahren haben. Das Gegenteil ist 333

Vgl. Johannes, EuR 1968, 63, 103 und Art. 5 Abs. 2 der VO/EWG Nr. 28/62 vom 14.5.1962, Abi. 1962, S. 1277; Art. 5 Abs. 2 der VO/EWG/Nr. 188 vom 12.12.1964, Abi. 1964, S. 3634. Unter einer sekundärrechtlichen Verweisung ist ζ. B. die Formulierung „Für die Verfolgung von Zuwiderhandlungen (...), insbesondere die Verletzung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, gelten die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten f ü r innerstaatliche Erhebungen" zu verstehen (vgl. Art. 5 Abs. 2 der VO/EWG Nr. 28/62 vom 14.5.1962, Abi. 1962, S. 1277).

334

Schölten, Tatortstrafbarkeit, S. 27.

335

Holch, EuR 1967, 217, 226 f.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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der Fall: Die sekundärrechtliche Inbezugnahme von nationalen Strafgesetzen wurde aufgegeben. 336 Dazu dürfte auch die mangelnde innerstaatliche Akzeptanz in Deutschland beigetragen haben, die insbesondere in zahlreichen Beschlüssen des Bundesrates 337 und kritischen Anmerkungen der Literatur 338 zum Ausdruck kam. Das zweite Argument, das gegen die Aussagekraft der nachweisbaren sekundärrechtlichen Bezugnahme spricht, ist grundsätzlicher Natur. Der Umstand, daß eine derartige Inbezugnahme stattgefunden hat, bedingt nicht ihre kompetenzrechtliche Zulässigkeit. Gerade weil die Verordnung von den zuständigen Organen der Gemeinschaft erlassen und nicht Gegenstand einer vertraglichen Vereinbarung der Mitgliedstaaten wurde, gibt allein ihre Existenz für eine kompetenzrechtliche Diskussion nichts her. Alles andere entbehrt der Logik. Ebensowenig wie die sekundärrechtliche Klassifizierung eines Eingriffs als „Sanktion nicht strafrechtlicher Art" die Frage, ob es sich nicht doch um Strafrecht handelt, beantworten oder als obsolet erscheinen lassen kann, vermag sich die kompetenzrechtliche Zulässigkeit des Sekundärakts nicht aus dessen Vorhandensein zu erklären. Eine Diskussion, die sich um die Kompetenz eines Organs zur Setzung eines Rechtsakts dreht, erliegt einem Zirkelschluß, wenn das Vorhandensein des Rechtsakts als Argument für seine kompetenzrechtliche Zulässigkeit herhalten soll. 3. Zwischenergebnis Die Mitgliedstaaten haben einen strafrechtlichen Schutz von Rechtsgütern der Gemeinschaft jeweils gesondert vereinbart. Dieser Umstand spricht für den Standpunkt der vorherrschenden Meinung. Mithin ist von einem ursprünglichen Souveränitätsvorbehalt der Mitgliedstaaten auf strafrechtlichem Gebiet auszugehen. 336

Während es in Art. 5 Abs. 2 der VO/EWG Nr. 28/62 vom 14.5.1962, Abi. 1962, S. 1277 und Art. 5 Abs. 2 der VO/EWG/Nr. 188 vom 12.12.1964, Abi. E G 1964, S. 3634, noch derartige Verweisungen gab, wurde 1966 bereits ein anderer Weg beschritten. § 15a des Gesetzes zur Durchführung der VO/EWG Nr. 70/66 vom 23.12.1966, BGBl. I, S. 682, verweist auf §§ 10 bis 15 und damit auf den Straftatbestand in § 13 des Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke vom 3.9.1953, BGBl. I, S. 1314ff. Seither wird in diesem Sinne verfahren. Siehe etwa Art. 6 der VO(EWG) Nr. 1588/90 vom 11.6.1990, Abi. Nr. L 151, S. 1. Die Vorschrift verpflichtet die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu treffen, um die Ahndung einer Verletzung der Geheimhaltungspflicht durch Bedienstete des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaft zu ermöglichen, vgl. auch Dannecker, Jura 1998, 79, 81; Gröhlinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 57 f.; Möhrenschlager, Einbeziehung ausländischer Rechtsgüter, S. 162, 167. 337 Direkt zur Verweisung durch sekundärrechtliche Vorschriften auf Straftatbestände: BR-Dr. 166/66 (Beschluß) Nr. 2; BR-Dr. 207/66 (Beschluß) Nr. 2. Weitere Nachweise bei Holch, EuR 1967, 217, 226f., Fn. 21 IT. Vgl. auch Oehler, Jescheck-FS, S. 1399, 1402. 338 Everting, NJW 1967,465,470 Fn. 59,60, der die deutsche Strafnorm auf diese Fälle für nicht anwendbar hielt.

124

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

4. Die Legitimationsfrage Folglich kann sich die Untersuchung nunmehr der Legitimationsfrage und damit dem zweiten Schwerpunkt der Kompetenzdiskussion zuwenden. a. Der Hinweis auf Grundrechtseingriffe im EG-Kartellrecht Soweit die Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz vor dem Hintergrund der von Sieber betonten Legitimationsfrage teilweise auf gegebene Eingriffsbefugnisse im EG-Kartellrecht hinweisen, 339 überzeugt dies schon deshalb nicht, weil es sich hierbei um Bußgeldnormen und nicht um Kriminalstrafgesetze handelt. Aber selbst wenn man diesen Gedanken aufgreift, so schlägt der Versuch, die dort geregelten Eingriffsbefugnisse als Argument in der Legitimationsfrage zu verwenden, fehl und kehrt sich in sein Gegenteil. Unbestreitbar verfügt das Gemeinschaftsrecht an diesem Punkt über Eingriffsnormen, die von den Gemeinschaftsorganen gesetzt wurden. Es genügt aber nicht, diesen Umstand für die Kompetenz- und Legitimationsfrage hervorzuheben, ohne auf den primärrechtlichen Hintergrund zu achten. Art. 83 Abs. 2 lit. a, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. a EGV erwähnt Geldbußen und Zwangsgelder ausdrücklich. Gerade weil Art. 83 Abs. 2 lit. a, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. a EGV die Geldbuße gesondert nennt und Art. 83, ex-Art. 87 EGV im übrigen zur Ausgestaltung des Kartellverfahrens ermächtigt, ist diese Vorschrift ein Argument, das die vorherrschende Auffassung stützt. Beachtung verdient wiederum, daß die Mitgliedstaaten an dieser Stelle eine gesonderte primärrechtliche Grundlage geschaffen haben. Dieser Aspekt ist f ü r die Legitimationsfrage von Bedeutung. Ist eine derartige Grundlage geschaffen worden, bedarf es für Sanktionsvorschriften in EG-Verordnungen keiner Art. 80 Abs. 1, 103 Abs. 2 G G vergleichbaren Rückbindung an einen demokratisch unmittelbar legitimierten Rechtsakt. 340 Mit dem Beitritt in eine Staatengemeinschaft, der Hoheitsrechte übertragen werden, geht einher, daß eine demokratische Legitimation nicht in gleicher Form wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung gegeben sein kann. 341 Allerdings muß nach dem Willen der Mitgliedstaaten die Sanktionsvorschrift auf eine entsprechende Ermächtigung im Vertragswerk rückführbar sein. Diese Voraussetzung ist im europäischen Kartellrecht mit Art. 83 Abs. 2 lit. a, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. a EGV gegeben. In diesem Fall ist zwar die jeweilige sekundärrechtliche Eingriffsnorm selbst nicht von einem unmittelbar demokratisch legitimierten Organ erlassen

339 340 341

Böse, Strafen und Sanktionen, S. 92. Vgl. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 247. BVerfGE89, 155, 182.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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worden, doch diese Normgebungsbefugnis der Gemeinschaft war Gegenstand primärrechtlicher Vereinbarungen, die ihrerseits Gegenstand der Zustimmungsgesetze waren. 342 Ihnen ist mithin der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl zuteil geworden.343 Richtig ist also, daß aufgrund des geltenden Vertragswerks erlassene Sanktionsvorschriften der Gemeinschaft nicht der unmittelbar demokratischen Legitimation bedürfen. Doch dieser Verlust an demokratischer Legitimation entsprach dem Willen der Parlamente. Dieser Umstand läßt das Fehlen einer unmittelbar demokratischen Legitimation des Kartellrechts als hinnehmbar erscheinen, zumal es nicht um Kriminalstraftatbestände geht, die als Rechtsfolge den Freiheitsentzug androhen. Vor diesem Hintergrund kann man trefflich über die Grenzen des zugehörigen Verfahrensrechts und der Bußgeldkompetenzen streiten, da das Vertragswerk unzweifelhaft solche Kompetenzen dem Grunde nach bereits verliehen hat und diese Verleihung Gegenstand der Zustimmungsgesetze war. Für die Diskussion der demokratischen Legitimation von gemeinschaftsrechtlichem Kriminalstrafrecht enthält der Hinweis auf Grundrechtseingriffe im europäischen Kartellrecht also keinen weiterführenden Denkansatz. b. Zum Erfordernis einer demokratischen Legitimation des Strafgesetzes Somit ist auf die weitere Argumentation der Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz einzugehen, nach der strafrechtliche Normen keiner höheren demokratischen Legitimation als andere eingriffsintensive Maßnahmen bedürfen. 344 Es bedarf keiner näheren Begründung, daß es sich bei der strafgerichtlichen Verurteilung nicht um einen beliebigen, sondern um einen schwerwiegenden, mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung versehenen und einzigartigen Eingriff handelt. „Die Kriminalstrafe stellt die am stärksten eingreifende staatliche Sanktion für begangenes Unrecht dar." 345 Es wird im Strafgesetz abstrakt und im Richterspruch konkret die Entscheidung darüber getroffen, welche Verhaltensweisen so sozialschädlich sind, daß sie nicht nur nicht hingenommen werden können, sondern darüber hinaus eine Bestrafung erfordern. Als ultima ratio des Rechts ist es also Aufgabe des Strafrechts, Besonderes, für das Gemeinwesen Elementares zu schützen, 342 343

344

345

In diesem Sinne auch Hellmann, Europäisierung des Strafrechts, S. 39, 49 Um es im Sinne des Bundesverfassungsgerichts auszudrücken: „Im Zustimmungsgesetz zum Beitritt einer Staatengemeinschaft ruht die demokratische Legitimation sowohl der Existenz der Staatengemeinschaft selbst als auch ihrer Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen, die die Mitgliedstaaten binden," siehe BVerfGE 89, 155, 184. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 185; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 91 f., dem neigt offenbar auch Vogel, JZ 1995, 331, 338 a. E.f., zu. BVerfGE 96, 231,249.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

etwas, für das ein bloßes Verbot als Schutz nicht ausreicht. 346 Wenn aber dem Strafrecht diese Rolle zukommt, so ist es fraglich, bei der Legitimation der schärfsten aller staatlichen Sanktionen schlicht und einfach auf andere Eingriffe zu verweisen und daraus die Vergleichbarkeit der Sachverhalte herleiten zu wollen. Mit dieser Gleichstellung gehen die Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft denn auch über Literaturstimmen hinweg, die sich zur Legitimationsfrage zwar nicht vor dem Hintergrund gemeinschaftsrechtlicher Normgebung geäußert haben, deren Gedanken aber trotzdem bei dieser Problematik zu erwähnen sind. Krey führt unter Berufung auf die Verwurzelung im Demokratieprinzip und im rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewaltenteilung aus, der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege" sei in seinem Kernbereich selbst für verfassungsändernde Gesetze gemäß Art. 79 Abs. 3 G G unantastbar. 347 Grünwald führt aus: „In der Strafjustiz tritt dem einzelnen die staatliche Gemeinschaft mit einem besonders hohen Anspruch entgegen, mit dem Anspruch, über Tat und Täter ein Unwerturteil zu fällen, an das sich schwerwiegende Rechtsfolgen knüpfen. An die Legitimation zu einem solchen Urteil sind darum besonders strenge Anforderungen zu stellen. Nur der Repräsentant des Trägers der Staatsgewalt selbst besitzt diese Legitimation; in unserer Staatsordnung heißt das: nur die Volksvertretung." 348

Sicherlich können auch andere staatliche Eingriffe den einzelnen bis zur Existenzgefahrdung treffen. 349 Gleichwohl gibt das keinen Anlaß, auf die möglicherweise faktisch ähnlich schweren Folgen zu verweisen und damit das, was stets mit der strafrechtlichen Verurteilung einhergeht, nämlich das besondere Unwerturteil und die Stigmatisierungswirkung der Vorstrafe, zu überspielen. Darin steckt ein außergewöhnlicher Akt. Die Gesetzlichkeit der Strafbarkeit bedeutet einen Gesetzesvorbehalt, der vom Bundesverfassungsgericht zutreffend in einer pointierenden Terminologie als strenger Gesetzesvorbehalt bezeichnet wird.350 Streng deshalb, weil nur 346 347 348 349 350

Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 46. Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, S. 103 a. E.f., ders. Studien, S. 210f. Grünwald, ZStW 76 (1964), 13 f. Vgl. Vogel, JZ 1995, 331, 339. BVerfGE 67, 207, 224; 71, 108, 114; 75, 329, 341; 78, 374, 382. Das Bundesverfassungsgericht bekräftigt diese ständige Rechtsprechung in BVerfGE 95, 96, 131 mit eindringlichen Worten: „Im Interesse von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gewährleistet Art. 103 Abs. 2 GG, daß im Bereich des Strafrechts, auf dessen Grundlage der Staat in die Persönlichkeit auf das schwerwiegendste eingreifen darf, nur der Gesetzgeber die strafwürdigen Rechtsgutsverletzungen bestimmt. Dies findet in Art. 103 Abs. 2 GG dadurch seinen Ausdruck, daß die rechtsstaatliche Gesetzesbindung zu einem strengen Parlamentsvorbehalt verschärft wird

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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der parlamentarische Gesetzgeber über das „Ob" der Strafbarkeit einer Handlung entscheiden soll. Weitere Autoren haben sich ähnlich wie Grünwald und Krey geäußert. Tiedemann sieht in Art. 103 Abs. 2 G G einen fundamental demokratischen Grundsatz mit der Grundforderung nach Bindung der Strafbarkeit an den Beschluß der Volksvertretung. 351 Roxin bemerkt, die Bestrafung stelle einen so einschneidenden Eingriff in die Freiheit des Staatsbürgers dar, daß die Legitimation zur Bestimmung ihrer Voraussetzungen nur bei der Instanz liegen kann, die das Volk als den Träger der Staatsgewalt am unmittelbarsten repräsentiert, also dem Parlament als der gewählten Volksvertretung. 352 Schünemann schreibt: „Alle demokratisch nicht direkt legitimierten Amtsträger bedürfen bei Eingriffen in die Freiheitssphäre der Bürger einer materiellen Legitimation durch den die volonte generale am besten repräsentierenden Gesetzgeber, und für die nicht selten existenzvernichtenden Eingriffe der Strafrechtspflege gilt das natürlich ganz besonders." 151

Auch Schünemann bringt damit das besondere Bedürfnis des Strafrechts nach demokratischer Legitimation zum Ausdruck. Er bezeichnet diese notwendige Legitimation strafrichterlicher Entscheidungen zu Recht als ein sozialpsychologisches Faktum allerersten Ranges. Jeder Angeklagte werde eine richterliche Entscheidung, die nach seiner Auffassung nicht im Strafgesetz wurzelt, in völliger Übereinstimmung mit den Theoretikern der Aufklärung als Willkür empfinden. 354 Es wäre ein Gewinn gewesen, wenn die Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz auf diese Verlautbarungen eines besonderen und in diesem Sinne strafrechtsspezifischen Legitimationsbedürfnisses konkret eingegangen wären. Das Verlangen, die Grundlage für den oftmals existenzgefährdenden und regelmäßig stigmatisierenden Spruch des Strafrichters auch im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang demokratisch legitimiert zu wissen, entstammt auch nicht etwa einer überholten strafrechtswissenschaftlichen Sichtweise, die sich im Lichte des Gemeinschaftsrechts als unfähig erweist, über die Grenzen des eigenen Rechtsgebiets zu blicken. Greift man vielmehr den gemeinschaftsrechtlichen Ansatz der Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz auf und widmet sich der europarechtlichen Literatur, so tauchen die hier betonten Argumente in der Sache wieder 351 352

353 354

K. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 244. C. Roxin, AT, § 5 Rn. 20; Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 40. Aus europarechtlicher Sicht ebenso: Oppermann, Europarecht, Rn. 698. Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 11. Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 11.

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2. Hauptteil: D a s Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

auf. Ausgewiesene Europarechtler wie Pescatorelss und Oppermann356 weisen an dieser Stelle auf das Erfordernis einer demokratischen Legitimation des Strafgesetzes hin.357 Nach Pescatore haben die Schöpfer der europäischen Gemeinschaften vor einer Schranke haltgemacht, indem sie darauf verzichteten, der Gemeinschaft eine eigentliche Strafgewalt zu übertragen. Eine Sanktionierung konnte nur durch Zwangsmaßnahmen ohne eigentlichen Strafcharakter, wie etwa die Kautionsstellung oder Bußgelder erreicht werden. Die dadurch klaffende Lücke im Gemeinschaftsrecht könne erst geschlossen werden, wenn die Gemeinschaft weitere Fortschritte in Richtung auf eine demokratische Legitimation gemacht habe.358 c. „Nulla poena sine lege parlamentaria" als maßgeblicher Grundsatz? Zweifeln unterliegt jedoch ebenso der von Teilen der vorherrschenden Meinung erhobene Ruf nach dem „nulla poena sine lege parlamentaria". Wer mit Siebers Argumenten vor dem Vertragswerk von Maastricht die Normierung von eingriffsintensiven Strafnormen durch eine nicht unmittelbar demokratisch legitimierte Instanz als nicht hinnehmbaren Einbruch in die Grundstrukturen unserer Verfassung einstufte, 359 muß seinen Standpunkt nach den Verträgen von Maastricht 360 und Amsterdam 361 neu überdenken. Die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts ist in der Legitimationsfrage so dynamisch, daß eine Ablehnung der Strafrechtssetzungskompetenz allein aus Gründen der demokratischen Legitimation sich in einer kurzatmigen, nur über den jeweiligen Rechtszustand Auskunft gebenden Bestandsaufnahme erschöpft. Am Beispiel des Art. 251, ex-Art. 189b EGV zeigt sich, daß die Gemeinschaft längst zu neuen Ufern aufgebrochen ist und versucht, dem Aspekt der demokratischen Legitimation ihrer Hoheitsakte Rechnung zu tragen. In dem dort beschriebenen Verfahren befindet sich das Europaparlament bereits in der Rolle des „Mitgesetzgebers", 362 wobei es allerdings gemäß Art. 189b EGV v. 1992 Rechtssetzungsvorhaben nur blockieren, aber aus eigener Gewalt nicht letztinstanzlich

355 356 357

358 359 360

361

362

Pescatore, E u R 1970, 307, 315. Oppermann, Europarecht, Rn. 698. Das gleiche gilt, wenn auf internationaler Ebene das Bedürfnis des Strafgesetzes nach demokratischer Legitimation im europäischem Kontext diskutiert wird, siehe ζ. B. Greve, Legal Harmonization in the Field of European Criminal Law, S. 110. Pescatore, E u R 1970, 307, 315. Sieber, ZStW 103 (1991), 969. Sieber selbst hat seinen Standpunkt nach Maastricht wiederholt, siehe Sieber, Madrid-Symposium, S. 349, 358. HiljlPache, N J W 1998, 705, 710 bezeichnen das Europäische Parlament als den „Gewinner" des Amsterdamer Vertrages. Streinz, Demokratische Legitimation der EG, S. 219, 222.

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gestalten konnte. 363 Auch nach dem Vermittlungsverfahren gemäß Art. 251 Abs. 5 EGV kann das Europäische Parlament den Rat im Ergebnis nicht überstimmen. Es bedarf auch keiner Wiedergabe der Diskussion um das Demokratiedefizit gemeinschaftsrechtlicher Normgebung, 364 um gute Argumente für die Annahme einer genügenden Legitimation europäischer Rechtsakte anzuführen. Die Mitglieder des Ministerrates werden von den demokratisch legitimierten Regierungen bestimmt und darin kann eine mittelbare Legitimation erblickt werden. In dem Verfahren nach Art. 251 EGV ist eine Rechtsgestaltung des Rates gegen den mit absoluter Mehrheit gebildeten Willen des Europäischen Parlaments nicht möglich. Die Streitfrage wäre dann, ob diese Art der Legitimation unter Beteiligung des Europaparlaments für eine Setzung von Kriminalstrafnormen genügt. Dabei läßt sich im Sinne Siebers vertreten, ein Strafgesetz bedürfe stets ausschließlich der unmittelbaren Legitimation durch das Parlament und deshalb sei aufgrund der gesetzgeberischen Federführung des Ministerrats auch nach Maastricht und Amsterdam keine hinreichende Legitimation gegeben. Fraglich ist jedoch, ob eine derartige Diskussion überhaupt den eigentlichen Kern des Legitimationsproblems aus strafrechtlicher Sicht trifft. Es darf nicht vernachlässigt werden, daß sich hinter einer parlamentarisch legitimierten Gesetzgebung auf europäischer Ebene jedenfalls gegenwärtig noch etwas anderes als im Parlamentarismus der Mitgliedstaaten verbirgt. Wenn ein Mitgliedstaat einem Staatenverbund die Wahrnehmung von Hoheitsrechten einräumt, verliert damit das mitgliedstaatliche Parlament und damit der wahlberechtigte Bürger im ersten Schritt zunächst einmal an Einfluß auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß. 365 Dieser Verlust wird nicht vollständig durch eine maßgebliche oder gar federführende Beteiligung des Europäischen Parlaments kompensiert. Nach Art. 189, ex-Art. 137 EGV besteht das Europäische Parlament aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten. Jedes dieser Völker ist aber Ausgangspunkt einer auf sich bezogenen Staatsgewalt. 366 Das Europäische Parlament vertritt in diesem Sinne kein Staatsvolk. 367 Gewiß kommt dem Europäischen Parlament eine legitimationsstützende Funktion zu,368 doch es ist 363 364

365 366 367

368

Doehring, DVB1. 1997, 1133, 1134; Folz, Demokratie und Integration, S. 106. Dazu aus strafrechtlicher Sicht Moll, Europäisches Strafrecht, S. 84 ff., und nunmehr: Deutscher, EG-Kompetenz zur Strafgesetzgebung, S. 317fT. Kirchhof, Das Maastricht-Urteil, S. 19. Kirchhof, Das Maastricht-Urteil, S. 20. Folz, Demokratie und Integration, S. 42ff., 110; Randelzhofer, Demokratiedefizit, S. 54, der im übrigen in einer prägnanten Zusammenfassung der Diskussion um das Demokratiedefizit Bedenken äußert, die Wertvorstellungen des innerstaatlichen Demokratiegebots auf die europäische Ebene zu übertragen. Kirchhof, Das Maastricht-Urteil, S. 20.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

kein Surrogat, das die Legitimationskraft des nationalen Parlaments in sich aufnimmt und fortan vermittelt. Hier tauchen erste Bedenken gegen die Meinung auf, die Legitimationsfrage des Strafgesetzes auf europäischer Ebene von einer etwaigen Beteiligung oder Federführung des Europäischen Parlaments abhängig machen zu wollen. In der Forderung „nulla poena sine lege parlamentaria" versteckt sich eine gedankliche Spiegelung innerstaatlicher Gesetzgebungsstrukturen auf die europäische Ebene. Sie vertraut auch im europäischen Kontext auf die Form des parlamentarisch legitimierten Gesetzes. Doch dieser Gedankengang ist zu hinterfragen, weil er konkludent unterstellt, daß diejenigen Umstände, die das innerstaatliche Gesetzgebungsverfahren mit Leben erfüllen und zum demokratischen Willensbildungsprozeß werden lassen, auch auf europäischer Ebene eingelöst werden. Hervorzuheben ist die Öffentlichkeit eines Rechtssetzungsverfahrens, die Diskussion und Einflußnahme ermöglicht und damit die prinzipielle Offenheit der Rechtssetzung gewährleistet.369 Auch sind noch keine wirklich europäischen Parteien auszumachen, 370 in denen ein politischer Wille gebildet und über Gremien in die Parteispitzen getragen wird. Noch fehlt es an der Möglichkeit, die Wahlentscheidung zum Europäischen Parlament als eine Richtungsentscheidung für europäische Politik zu interpretieren. 371 Es ist davor zu warnen, allein die Forderung „nulla poena sine lege parlamentaria" zu erheben und die Kompetenzfrage auf die Fragestellung zu konzentrieren, ob das Strafgesetz unmittelbar aus der von einem Parlament geführten Feder stammt. Wer einzig und allein auf den Gesichtspunkt der Verabschiedung durch das Europaparlament pocht und die alleinige Entscheidungsmacht bei der unmittelbar gewählten Instanz wissen will, muß die Kehrseite beachten. Er nimmt unwiderruflich in Kauf, daß die Einflußmöglichkeiten der Bundesregierung über den Rat auf entsprechende Rechtssetzungsverfahren schrumpfen. Ob eine solche Abnabelung aus der Sicht der innerstaatlichen Kriminalpolitik überhaupt anzustreben ist, erscheint durchaus als fraglich. Um den Gedankengang zuzuspitzen, sei eine bewußt provozierende Hypothese aufgestellt: Mit einer Verlagerung der Entscheidungsmacht auf das europäische Parlament könnten auf europäischer Ebene Strafnormen verabschiedet werden, die im deutschen Bundestag keine parlamentarische Mehrheit gefunden hätten. Der Gedanke, daß ein Strafrichter aufgrund einer solchen Vorschrift ein Strafurteil im Namen des Volkes verkünden soll, befremdet sehr. Die zunächst als nicht 369

Vgl. J. Ipsen, Richterrecht, S. 142. 370 frowein, Legitimation und Wirkung des Rechts der Europäischen Union/Gemeinschaft, S. 105, 111. 371 yrowein, Legitimation und Wirkung des Rechts der Europäischen Union/Gemeinschaft, S. 105, 111.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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recht greifbar erscheinende Irritation hat einen Grund: Die Forderung nach der parlamentarischen Legitimation des Strafgesetzes kann auf europäischer Ebene (noch) nicht das einlösen, was sie innerstaatlich vermittelt. Es ist zu fragen, warum das Echo des Ausrufs „nulla poena sine lege parlamentaria" plötzlich so anders klingt und die damit verknüpfte Erwartung so sehr enttäuscht. Die Antwort enthält ein zwar nicht im Kontext der strafrechtlichen Legitimationsfrage formulierter, aber gleichwohl einschlägiger Gedanke des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts: „Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln (...) und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt. Dazu gehört auch, daß die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind, und ebenso, daß der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann. Derartige tatsächliche Bedingungen können sich, soweit sie noch nicht bestehen, im Verlauf der Zeit im institutionellen Rahmen der Europäischen Union entwickeln. Eine solche Entwicklung hängt nicht zuletzt davon ab, daß die Ziele der Gemeinschaftsorgane und die Abläufe ihrer Entscheidungen in die Nationen vermittelt werden. Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk sind sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus dem heraus sich eine öffentliche Meinung zu bilden vermag (...)". 172

Das Bundesverfassungsgericht hat an dieser Stelle mit feinem Gespür eine Distanz der Bürger zur europäischen Entscheidungsfindung beschrieben. Sie empfinden die Rechtssetzung auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene noch nicht als die ihre. Freilich wird es diese Distanz in Gestalt eines Desinteresses der breiten und „verfaßten Öffentlichkeit" 373 im Einzelfall auch innerstaatlich geben, doch das ändert nichts an der grundsätzlichen und breiten Akzeptanz der bewährten Strukturen. Die Bedeutung dieses eher rechtstatsächlichen als formaljuristischen Gesichtspunkts, den das Bundesverfassungsgericht terminologisch treffend als „vorrechtliche" Voraussetzung der Demokratie bezeichnet, 374 darf für das Strafrecht nicht unterschätzt werden. Hier schließt sich der Kreis zu Schünemanns eindringlichem Hinweis, bei der Legitimation strafrichterlicher Entscheidungen handele es sich um ein sozialpsychologisches Faktum allerersten Ranges, das die Akzeptanz strafrichterlicher

372 373 374

BVerfGE 89, 155, 185. Ζ. B. Interessenverbände als „verfaßte Öffentlichkeit", siehe J. Ipsen, Richterrecht, S. 143 f. BVerfGE 89, 155, 185; näher M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, S. 268 ff. mwN.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Tätigkeit trägt. 375 Roxin376 hat Schünemanns Ausführungen mit der Umschreibung zusammengefaßt, der Bürger werde einen nur auf die Autorität des Richters gestützten Spruch nie akzeptieren. Diese prägnante Formulierung zeigt in Verbindung mit den soeben zitierten Darlegungen des Bundesverfassungsgerichts, daß sich hinter der Legitimationsfrage nicht die Wahrung formal demokratischer Strukturen verbirgt. Es geht zudem um die Eignung der zur Normgebung berufenen Institutionen, die kriminalpolitische Diskussion in dem vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen Umfeld auszutragen, um die Legitimation vermitteln zu können. Am Ende eines solchen Prozesses vermag das Strafgesetz schärfste Eingriffe zu tragen und es verkörpert Autorität. Soll der für die Strafrechtspflege unerläßliche Autoritätsanspruch des Strafrechts nicht gefährdet werden, muß der Grad der Identifikation mit der europäischen Rechtssetzung gesteigert und sichergestellt werden, daß die zugewiesene Entscheidungsmacht durch kriminalpolitische Willensbildungsprozesse unterlegt wird.377 An dieser Stelle und weniger in der Frage der Zuständigkeitsverteilung auf Gemeinschaftsebene sitzt aus strafrechtlicher Sicht das Herzstück der Legitimationsproblematik einer gemeinschaftsrechtlichen Strafrechtssetzungskompetenz. Aus diesen Gründen verhallt der mit bester Intention erhobene Ausruf „nulla poena sine lege parlamentaria" auf europäischer Ebene. d. Legitimationsfrage und Rechtssetzungskompetenz Gleichwohl soll die Kompetenzfrage in dieser Untersuchung aufgrund der nachfolgenden Erwägungen nicht anhand dieser Argumente entschieden werden. Der Diskussion um die demokratische Legitimation des Strafgesetzes wohnt eine emotional angereicherte Eigendynamik inne, denn wer will schon bestreiten, daß eine unmittelbare Legitimation des Kriminalstrafgesetzes zuvordererst der vom nationalen Parlament geführten Feder entspringt. Das verleitet dazu, einen kate375 376 377

Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 11. C. Roxin, AT, § 5 IV Fn. 23. Die Diskussion um den Sinn eines Insiderhandelsverbots überhaupt (ablehnend Schneider, D B 1993,1429 ff.) und den der Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen ein solches Verbot (ablehnend Hopt, ZGR 1991, 17, 55 ff.) verkörpert ein gutes Beispiel. Obwohl das Bedürfnis für strafrechtliche Regelungen bestritten wurde, wird die Wertentscheidung des Gesetzgebers respektiert. Dem abstrakten Strafgesetz und dem konkreten Richterspruch wird so die notwendige Akzeptanz zuteil. Fraglich ist doch, ob diese Strukturen der Konsensbildung und Akzeptanz erhalten blieben, wenn eine innerstaatlich überwiegend abgelehnte Strafnorm durch die Gemeinschaft geschaffen würde. Der Beweis ist nicht zu führen, doch es steht zu vermuten, daß die Diskussion auf einer zweiten, dem Autoritätsanspruch des Strafrechts sehr abträglichen Ebene geführt werden würde.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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gorischen Standpunkt einzunehmen, obwohl es zu differenzieren gilt. Wenn die Kompetenzthematik vom Legitimationsdefizit her aufgerollt wird, gerät die Diskussion von Anfang an in eine gewisse Schieflage. Die grundsätzliche Fragestellung, ob es in unserem Rechtssystem in der Zukunft eine vom parlamentarischen Willen gelöste Strafgesetzgebung geben soll, ist nicht betroffen. Eine Kodifizierung des Kernstrafrechts durch die Gemeinschaft steht nicht in Rede. Um Delikte wie Mord, Totschlag, Diebstahl oder Brandstiftung geht es nicht. Selbst wenn man eine aus der Sachkompetenz erwachsende Normgebungsbefugnis auf dem Gebiet des Strafrechts bejahen wollte, wird das in Art. 5, ex-Art. 3 b EGV verankerte Subsidiaritätsprinzip jedenfalls auf strafrechtlichem Gebiet so zu deuten sein, daß eine Normgebung immer nur Fragmente des Strafrechts erfaßt. 378 Indes läßt sich argumentieren, für einen noch so kleinen Ausschnitt des Strafrechts bestehe immer das Bedürfnis nach einer unmittelbar demokratischen Legitimation und der hier zu diesem Problem entwickelte Standpunkt neigt dem im Grundsatz ja auch zu. Die Kompetenzfrage spielt in der Ausdeutung des Verhältnisses des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht jedoch eine so bedeutende Rolle, daß es als mißlich erscheint, allein anhand des umstrittenen Legitimationsthemas die Weichen stellen und alle Antworten finden zu wollen. Insoweit kann Sieber nicht gefolgt werden, der an dieser Stelle zunächst die entscheidenden Akzente setzte.379 Wenn Sieber vom nicht hinnehmbaren Einbruch in die Grundstrukturen unserer Verfassung sprach, steuerte er auf den Kollisionsfall im Sinne des Art. 23 G G zu. Diesen gilt es jedoch gerade zu vermeiden. Ohne ihre unterschiedlichen Standpunkte zu kaschieren, haben der Europäische Gerichtshof, das Bundesverfassungsgericht und die europarechtliche Lehre es bisher vermocht, systemgefahrdende Konflikte zu entschärfen. Darin steckt auch ein Stück europäischer Integration. Das Strafrecht darf sich dem nicht entziehen. Ferner überzeugt es aus systematischen Gründen auch nicht, allein anhand der Legitimationsfrage das Kompetenzproblem lösen zu wollen. Unabhängig davon, ob man meint, der heutige Rechtssetzungsmechanismus genüge für eine Strafrechtssetzung oder es mangele ihm noch an demokratischem Gehalt, vermag dieser Gesichtspunkt allein die Kompetenzfrage nicht zu beantworten. Warum anhand der Legitimationsfrage die Kompetenz der Gemeinschaft nicht erkundet werden kann, zeigt sich anhand des folgenden Gedankenspiels: Dazu sei unterstellt, das Europaparlament erhielte aufgrund einer Änderung des Primärrechts weitreichende Befugnisse und sei die generell entscheidende Instanz der Normgebung. Wollte man das Kompetenzthema an dem Grundsatz „nulla poena sine lege parla378 379

Vgl. Kühl, Söllner-FS, S. 613, 615f. Sieber, ZStW 103 (1991), 969 f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

mentaria" und damit der Legitimationsfrage ausrichten, müßte die Antwort gefunden sein. Wenn das Europaparlament als entscheidendes Gesetzgebungsorgan das Sekundärrecht setzt, müßte das Problem als erledigt betrachtet werden. Das wäre aber nicht der Fall. Selbst wenn das Europaparlament zur ausschlaggebenden Entscheidungsinstanz würde, bleibt es eine Tatsache, daß die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Strafrechts ursprünglich keine Kompetenzen übertragen wollten. Warum eine alleinige Zuständigkeit des Europaparlaments den Souveränitätsvorbehalt tilgen sollte, leuchtet nicht ein. Mit anderen Worten: Wenn eine Analyse des Primärrechts ergibt, daß Rechtssetzungskompetenzen auf dem Gebiet des Strafrechts ausgeklammert und der Gemeinschaft nicht verliehen werden sollten, dann springen sie auch nicht als Folge einer primärrechtlichen Änderung der Zuständigkeiten von Rat und Parlament bei der Setzung des Gemeinschaftsrechts über. Das wäre ein Mißverständnis des Prinzips der begrenzten Handlungsermächtigung. Denn nach diesem Prinzip soll der Wille der Mitgliedstaaten entscheiden: Sie halten die Kompetenzen in den Händen und entscheiden über eine etwaige Übertragung auf die Gemeinschaft. Unabhängig von der Frage nach der demokratischen Legitimation bliebe die nach der Übertragung einer entsprechenden Kompetenz auf strafrechtlichem Gebiet. Der hier entwickelte Standpunkt wäre fehlgedeutet, wenn er als Gegenpol zur Forderung nach unmittelbar demokratischer Legitimation des Strafgesetzes verstanden würde. Auch nach hier vertretener und oben begründeter Auffassung bestehen in der Legitimationsfrage aus strafrechtlicher Sicht Bedenken. Allerdings läßt sich mit diesem Gesichtspunkt das Kompetenzproblem auf strafrechtlichem Gebiet allenfalls temporär bis zur nächsten Änderung gemeinschaftsrechtlicher Normgebungsverfahren als gelöst betrachten. Sieber, der die Diskussion um die demokratische Legitimation angestoßen hat, sieht das ähnlich, wenn er für ein echtes, supranationales Kriminalstrafrecht eine Vertragsänderung fordert. 380 So bedeutend der in Art. 103 Abs. 2 GG wurzelnde Gedanke der demokratischen Legitimation des Strafgesetzes auch ist und so viele strafrechtliche Rechtsfragen in dieser verfassungsrechtlichen Vorschrift ihre Antwort finden, vermag sie dieses Problem nicht zu lösen. Und bei Lichte besehen löst sie die Frage auch nicht im Guten, im Sinne eines Miteinanders der Rechtsordnungen, sondern zeigt in die Richtung des verfassungsrechtlichen Kollisionsfalls, indem die demokratische Legitimation des Strafgesetzes als unaufgebbar im Sinne von „Solange II" und Art. 23 G G gedeutet wird. Damit zu enden, wäre schon deshalb unbefriedigend, weil es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftsrecht auch darum gehen muß, gemeinsame Wege zu finden. 380

Sieber, Geerds-FS, S. 113, 126.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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5. Der Vertrag von Maastricht im Lichte des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung Nachfolgend soll daher der Versuch unternommen werden, unter Rückbesinnung auf das Prinzip der begrenzten Handlungsermächtigung die aktuelle Vertragslage zu ermitteln. Es wurde bereits am Beispiel der Eides- und Geheimhaltungsdelikte dargelegt, daß die Mitgliedstaaten ursprünglich als unverzichtbar erachteten Strafschutz im Wege primärrechtlicher Inbezugnahme vereinbart und damit das „Ob" der Strafbarkeit nicht in die Hände der Gemeinschaftsorgane gelegt haben. Zu untersuchen ist, ob primärrechtliche Änderungen des Vertragswerks diese ursprüngliche Position der Mitgliedstaaten bestätigen. Allein die Tatsache, daß die Mitgliedstaaten zwar das Bußgeldrecht ausdrücklich erwähnt, aber den Gemeinschaftsorganen keinerlei Befugnisse zur Setzung von Strafnormen verliehen haben, spricht zwar für sich, doch diese Erwägung lassen die Verfechter einer Strafrechtssetzungskompetenz nicht gelten. Sie entziehen sich diesem Argument, indem sie die These aufstellen, die Strafrechtssetzungskompetenz könne gleichsam als Annexkompetenz aus der Sachbefugnis, also ζ. B. dem Agrarrecht, erwachsen. Diese Argumentation soll anhand des Vertrags von Maastricht überprüft werden. Auf diese Weise ist es auch möglich, das Kompetenzproblem aus strafrechtlicher und gemeinschaftsrechtlicher Sicht befriedigend zu lösen. Man redet nämlich aneinander vorbei, wenn die eine Seite auf den ursprünglich fehlenden Souveränitätsverzicht verweist und die andere eine historische Auslegung des Primärrechts gerade ablehnt. Es wird viel von der Dynamik des Gemeinschaftsrechts gesprochen, ohne diesen Fortgang wirklich zum Gegenstand einer schrittweisen Prüfung zu machen, die uns zeigt, in welche Richtung sich das Primärrecht in der Kompetenzfrage entwickelt. Gerade in den letzten Jahren hat das Vertragswerk im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Kompetenzfrage ganz erheblich an Aussagekraft gewonnen. a. Die Einfügung des Art. 209 a EGV v. 1992 Ausgangspunkt unserer Überlegung ist Art. 209 a EGV v. 1992. Diese Norm, die durch die Vereinbarungen von Maastricht Eingang in das Vertragswerk fand, hat zum Inhalt, daß die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, die gleichen Maßnahmen wie bei Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten. Diese Regelung geht auf das sogenannte „Mais-Urteil" des Gerichtshofs zurück,381 das die aus Art. 10, ex-Art. 5 EGV hergeleitete Verpflichtung der Mit381

E u G H , Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989,2965 ff. vgl. auch Moll, Europäisches Strafrecht, S. 18; Possin, Supranationales Verwaltungssanktionsrecht, S. 149, 151 f.; Sieber, JZ 1997, 369, 371.

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2. Hauptteil: D a s Verhältnis des Strafrechts z u m Gemeinschaftsrecht

gliedstaaten ausspricht, den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft vor Betrügereien, also vor allem dem Subventionsbetrug, grundsätzlich analog dem der nationalen Finanzinteressen auszugestalten.382 Hintergrund dieses Urteils war die Einfuhr von Mais nach Belgien, der in Griechenland als Mais griechischer Herkunft deklariert worden war, was jedoch nicht der Wahrheit entsprach, da es sich um Mais aus einem nicht der Gemeinschaft angehörenden Staat handelte. Nach einschlägigen Bestimmungen in EG-Verordnungen wären durch die griechischen Behörden hohe Agrarabschöpfungen zugunsten der Gemeinschaft zu erheben gewesen.383 Dem Urteil kann inhaltlich nur zugestimmt werden, denn es stellt eine Gefährdung der europäischen Politiken dar, wenn es möglich ist, ohne das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung vom Boden eines Mitgliedstaats aus betrügerische Handlungen zum Nachteil der europäischen Finanzmittel zu begehen. Im Kontext der Kompetenzfrage ist nun höchst interessant, daß die Vertragsparteien auf dieses Urteil mit der Einfügung des Art. 209 a EGV v. 1992 reagiert haben. 384 Sie haben folglich die Mitgliedstaaten verpflichtet, Subventionen der Gemeinschaft „wie eigene" Subventionen gegen unlautere Handlungen zu schützen. 385 Selbst in diesem Bereich und damit regelmäßig auf Gebieten weitgehender Sachkompetenzen, also ζ. B. der Agrarsubventionen, wurde lediglich die Verpflichtung in Art. 209a EGV v. 1992 niedergeschrieben. Allerdings deutet ein Teil der gemeinschaftsrechtlichen Literatur Art. 209 a EGV v. 1992 im Sinne einer Kompetenznorm. 386 Ohne explizite Erwähnung des Art. 209 a EGV wird dazu ausgeführt, 387 eine strafrechtliche Rechtssetzungskompetenz sei zu bejahen, da es sich beim Schutz der EG-Finanzinteressen nur um einen engen Teilbereich handele und es in der Sache nur um eine Angleichung der Strafbestimmungen gehe. Dieser Auffassung ist jedoch nicht zu folgen. Die Bestimmung begründet nach ihrem klaren Wortlaut keine Gemeinschaftskompetenz. 388 Ihr wird insoweit folglich 382

Vgl. zum deutschen Recht § 264 Abs. 7 StGB, der ausdrücklich Subventionen der Gemeinschaft in seinen Schutzbereich einbezieht. Überblick zum Schutz der EG-Finanzinteressen durch das deutsche Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht bei Stoffers, E u Z W 1994, 304 ff. 383 Wegen der Einzelheiten siehe den Sitzungsbericht in: E u G H , Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965, 2966ff.; ferner Karekläs, Landesbereicht Griechenland, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. S. 40.1, S. 543, 601 f. 384 Vgl. Jung, JuS 2000, 417,420; Prieß in: von der Groeben, EU-/EG-Vertrag, Art. 209a Rn. 2; Sieber, J Z 1997, 369, 371. 385 Leigh, Subvention frauds, S. 70, 86. 386 Magiern in: Grabitz/Hilf, EU-Kommentar, Altbd. II, Art. 209a Rn. 18, 22; Prieß in: von der Groeben, EU-/EG-Vertrag, Art. 209a Rn. 4f. 387 Siehe Magiera, Friauf-FS, S. 35 f. 388 Diltrich, Der Schutz der Unionsbürger, S. 101, 102 a. E., was Prieß in: von der Groeben, EU/ EG-Vertrag, Art. 209 a Rn. 4 selbst erwähnt und im übrigen darlegt, daß die französische

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zu Recht ein rein deklaratorischer Charakter beigemessen.389 Die Bedeutung des Art. 209a EGV v. 1992 besteht darin, die in dem „Mais-Urteil" aus Art. 10, ex-Art. 5 EGV abgeleitete Verpflichtung zur Assimilation des Strafschutzes der Finanzinteressen der Gemeinschaft mit den nationalen Finanzinteressen ausdrücklich im Vertragswerk zu verankern. 390 In diesem Sinne bringt Art. 209a EGV v. 1922 eine strafrechtsspezifische Ausprägung des schon aus Art. 10, ex-Art. 5 EGV allgemein herzuleitenden Grundsatzes der Gemeinschaftstreue zum Ausdruck. 391 Entsprechend hat sich mittlerweile auch der Gerichtshof zu Art. 209 a EGV v. 1992 geäußert, wenn er darlegt, die Mitgliedstaaten seien für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft zuständig. 392 Mangels gemeinschaftsrechtlicher Strafnormgebungskompetenz ergibt sich für die nationale Rechtsordnung die Aufgabe, die Gemeinschaftsgüter strafrechtlich zu schützen. Diese Gewährleistungspflicht enthält Art. 209 a EGV v. 1992 für die Finanzinteressen. 393 Wenn die Sichtweise der Befürworter einer aus der Sachkompetenz folgenden Strafrechtssetzungskompetenz zuträfe, stellt sich die Frage nach dem Sinn der Einfügung des Art. 209a EGV v. 1992. Es hätte doch nahe gelegen, das Feld für die Schaffung einer gemeinschaftsweiten, unmittelbar anwendbaren Strafnorm und zugehöriges Verfahrensrecht zu bestellen, um den Schutz der Haushaltsmittel zu gewährleisten. Es bleibt unerfindlich, aus welchem Grund die Vertragsparteien als Reaktion auf das „Mais-Urteil", also ein den Agrarsektor betreffendes Verfahren, die Regelung in Art. 209 a EGV v. 1992 vereinbart haben sollten, wenn aus der Sachkompetenz die Befugnis zur Setzung von strafrechtlichen Normen erwachsen könnte. Wenn eine Setzung von Strafnormen auf der bisherigen Vertragsgrundlage und im Lichte der dynamischen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts möglich gewesen wäre, so hätte es des Art. 209 a EGV v. 1992 nicht bedurft. Die Entscheidung für eine Einfügung des Art. 209 a EGV v. 1992 kam zustande, nachdem in Gefolge des „Mais-Urteils" umfassend auf das Problem der unterschiedlichen Ausgestaltung des Strafschutzes der Finanzinteressen der Gemeinschaft hingewiesen und offen ausgesprochen wurde, daß in der Sache supraFassung des Art. 209 a EGV noch klarer gegen die Verleihung von Rechtssetzungskompetenzen spricht, siehe Prieß, ebenda, Rn. 5. 389 Dannecker, Strafrechtlicher Schutz der Finanzinteressen, ZStW 108 (1996), 577, 585; ders. in: Ulsamer (Hrsg.), Lexikon des Rechts, S. 306f.; Eser in: Schönke-Schröder, Vorbem. § 1 Rn. 26; Sieber, Madrid-Symposium, S. 349, 360; K. Tiedemann, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 133, 143 a.E. 390 κ Tiedemann, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 133, 143f.; Schomburg/Lagodny, IRGKommentar, S. 858. 391 Pieth, ZStW 109 (1997), 756, 766f.; Schomburg/Lagodny, IRG-Kommentar, S. 858. 392 EuGH, Urteil vom 23.11.1995, Rs. C-476/93 Ρ, Ε 1995,1-4125, 4144. 393 V. Bubnoff, Grenzüberschreitende Strafrechtspflege aus europäischer Sicht, S. 13.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

nationale Sanktionsbefugnisse hilfreich wären. 394 Ein namhafter Autor wie Tiedemann hat in einer Anmerkung zum „Mais-Urteil" den Finger in die Wunde gelegt, indem er darlegte, daß eine Schädigung nicht-nationaler Fiskalinteressen regelmäßig weder durch die allgemeinen Vermögensstraftatbestände, noch durch die Tatbestände der Steuer- oder Abgabenhinterziehung erfaßt wird. Es bedürfe im jeweiligen nationalen Recht über Generalklauseln einer Gleichstellung der E G Finanzmittel mit denen des nationalen Rechts. 395 Dieses Problem war bei der Schaffung des Art. 209 a EGV v. 1992 bekannt. Auch der Inhalt des Art. 209 a EGV v. 1992 spricht für die hier vertretene Auffassung. Es wird lediglich eine Gleichstellung des Strafschutzes im Vergleich mit dem jeweiligen nationalen Recht verlangt. In den Strafrechtssystemen bestehende Unterschiede werden nicht eingeebnet, sondern in Kauf genommen. Es wird gerade kein Strafrecht geschaffen und nicht in das innerstaatliche Strafrecht gestaltend eingegriffen. Behutsamer hätte das Vorgehen der Mitgliedstaaten kaum ausfallen können. Von der Schaffung einer primärrechtlichen Ermächtigung der Gemeinschaftsorgane zum Erlaß von Strafvorschriften wurde somit Abstand genommen, obwohl das Bedürfnis f ü r einen effektiven Schutz der Finanzmittel der Gemeinschaft unabweisbar auf der Hand lag. 396 Selbst der Weg einer primärrechtlich verankerten Assimilation der nationalen Strafvorschriften wurde nicht beschritten, obwohl die Mitgliedstaaten diese Richtung auf den Gebieten der Eidesund Geheimhaltungsvorschriften bereits einmal eingeschlagen haben. An einem Punkt, an dem ein Bedürfnis für einen möglichst einheitlichen strafrechtlichen Schutz des Haushalts der Gemeinschaft vor unlauterer Inanspruchnahme nicht zu bestreiten ist, wurde dieser Schutz den Mitgliedstaaten anvertraut. Die Argumentation von der Sachkompetenz, mit der die Befugnis zur Setzung supranationaler Strafnormen einhergehen soll,397 ist damit jedenfalls nach dem Stand des Vertrages von Maastricht in ihrem Kern erschüttert. Selbst wer bei objektiver Auslegung des Primärrechts und mit Sympathie für eine dynamische Entwicklung des Integrationsprozesses die aus der Sachkompetenz herzuleitenden Befugnisse großzügig zu deuten geneigt ist, darf die Augen nicht vor der im Primärrecht aktuell zum Ausdruck kommenden Vertragslage verschließen. Angesichts dieses Befundes vermag auch die Argumentation von Johannes zur Assimilation innerstaatlicher Strafgesetze mittels sekundärrechtlicher Verweisungen nicht zu 394 395 396

397

K. Tiedemann, N J W 1990, 2226, 2231 f. K. Tiedemann, E u Z W 1990, 100. Siehe nur Lettieri, Organisierte Kriminalität zum Nachteil der Europäischen Gemeinschaften, S. 87ff. Appel, Sanktionsrechtliche Ausgestaltung, S. 179fT.; Johannes, EuR 1968, 63, 109. Vgl. auch K. Tiedemann, N J W 1993, 23, 25.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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überzeugen. Für derartige Verweisungen fehlt der Gemeinschaft die Kompetenz. 398 Art. 209 a EGV v. 1992 zeigt auch hier, daß die Mitgliedstaaten - noch - nicht bereit sind, diesen Weg einzuschlagen. b. Die dritte Säule von Maastricht Der Wille der Mitgliedstaaten kommt noch klarer zum Ausdruck, wenn das Primärrecht einer Gesamtschau unterzogen wird. Das nach soeben begründeter Auffassung schon aus Art. 209 a EGV v. 1992 folgende Ergebnis wird durch weitere Regelungen aus dem Vertragswerk von Maastricht nochmals untermauert. Die Schaffung der dritten Säule von Maastricht spricht eindeutig gegen eine allgemein aus der Sachkompetenz oder aus Art. 209 a EGV v. 1992 abzuleitende Strafrechtssetzungskompetenz. Als dritte Säule der Europäischen Union wurde in Art. Κ. 1 bis K. 9 EUV v. 1992 die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres institutionalisiert. 399 Diese dritte Säule ist als Zusammenarbeit souveräner Partner konzipiert. 400 Justiz und Inneres sind zwar Gegenstände europäischer Zusammenarbeit, doch die Vertragsstaaten haben diesen Bereich bewußt nicht in die supranationale Zuständigkeitsordnung der Europäischen Gemeinschaften eingegliedert.401 Vor dem Hintergrund der Kompetenzfrage verdient Beachtung, daß Art. Κ. 1 Nr. 5 EUV v. 1992 die Bekämpfung von Betrügereien im internationalen Maßstab und Art. Κ. 1 Nr. 7 EUV v. 1992 die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse nennen. Aufschlußreich ist, welchen „Rechtssetzungsmechanismus" diese Bestimmungen vorsehen und welche Normgebungsaktivitäten auf dieser Grundlage entfaltet wurden. Nach Art. K. 3 Abs. 2 Buchst, c EUV v. 1992 kann der Rat Ubereinkommen ausarbeiten, die er den Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zur Annahme empfiehlt. Dieser Weg wurde im „Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft" gewählt.402 Dieser Text enthält zwar keine kompletten Straftatbestände, trifft jedoch einige präzise Vorgaben. Art. 1 dieses Übereinkommens enthält die Beschreibung eines betrügerischen Verhaltens zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaft. Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens verlangt die Ahndung durch wirksame, angemessene und abschreckende 398 399

400 401 402

Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 57 mwN. Epping, Grundstrukturen der Europäischen Union, Jura 1995, S. 449, 451; Schomburgl Lagodny, IRG-Kommentar, S. 767. Nelles, ZStW 109 (1997), 727, 732. BVerfGE89, 155, 176. Vom 26.7.1995, Abi. Nr. C 316, S. 48 ff. Überblick bei Schomburgl Lagodny, IRG-Kommentar, S. 857ff., ferner: Deutscher, EG-Kompetenz zur Strafgesetzgebung, S. 372ff.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Strafen, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen müssen. Als schwerer Betrug gilt danach jede Tat, die zu einem von jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestschaden führt. Nach Art. 2 Abs. 1 Satz 2 des Übereinkommens darf diese Schwelle zum schweren Betrug aber nicht über einem Betrag von 50 000 E C U liegen.403 Das Übereinkommen verlangt in Art. 2 Abs. 1 Satz 1 auch die Bestrafung der Anstiftung und des Versuchs. Das sind ohne Zweifel strafrechtliche Sachfragen, aber darin liegt gerade im vorliegenden Zusammenhang die Aussagekraft des Übereinkommens. Unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten ist von großem Interesse, daß hier der Weg des zwischenstaatlichen Abkommens, das der Annahme gemäß der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Mitgliedstaaten bedarf, vorgesehen wurde. Auf den ersten Blick läßt sich dem entgegenhalten, Art. K. 9 EUV v. 1992 habe doch als weiteren Weg die Möglichkeit eröffnet, ex-Art. 100c EGV 4 0 4 auf die Bereiche des Art. Κ. 1 Nr. 1 - 6 EUV v. 1992 anzuwenden, was in ex-Art.100c EGV nochmals gesondert erwähnt wurde. Für diesen Fall sieht Art. K. 9 Satz 2 EUV v. 1992 sogleich die Empfehlung des Rates an die Mitgliedstaaten vor, diesen Übertragungsbeschluß gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften anzunehmen. 405 Jeder dieser Wege steht nach dem Vertragswerk von Maastricht in einer Abhängigkeit vom Willen der Mitgliedstaaten. 406 Klarer konnte der Souveränitätsvorbehalt kaum zum Ausdruck kommen. Die dritte Säule von Maastricht enthält Ansätze zur gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung, stellt jedoch keine Rechtsgrundlage für eine eigenständige Harmonisierung von materiellem Strafrecht dar. 407 Dannecker und Streinz haben diesen Gedanken mit der treffenden Formulierung zusammengefaßt, die Rechtssetzung auf den Gebieten Justiz und Inneres sei nicht „vergemeinschaftet" worden. 408 Interessanterweise folgt den ersten Gehversuchen in Art. Κ. 1 E U V v. 1992 sogleich Art. K. 2 Abs. 1 EUV v. 1992. Die in Art. Κ. 1 EUV v. 1992 genannten 403

404 405

406 407

408

Siehe hierzu ausführlich Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 157 ff.; Schomburg/Lagodny, IRG-Kommentar, S. 864; Zieschang, EuZW 1997, 78 ff. Die Vorschrift wurde durch den Vertrag von Amsterdam aufgehoben. Vom Bundesverfassungsgericht wird darin eine Trennlinie zwischen Vertragserweiterung und Rechtsfortbildung erblickt, siehe BVerfGE 89, 155, 209 a. E. BVerfGE 89, 155, 177 spricht von intergouvernementaler Zusammenarbeit. v. Bubnoff, Grenzüberschreitende Strafrechtspflege aus europäischer Sicht, S. 12; Dannecker in: Ulsamer (Hrsg.), Lexikon des Rechts, S. 303; Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, S. 37. Danneckerl Streinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 54. Zur Terminologie: Unter dem Schlagwort der Vergemeinschaftung diskutiert die europarechtliche Literatur die Uberführung eines Sachgebiets aus der dritten Säule in den EGV, siehe Hailbronner/Thiery, EuR 1998, 583, 592ff.; Hörings, EuR 1998 (Beiheft 2), 81, 82; Müller-Graff, integration 1997, 271, 274; Rupprecht, integration 1997, 264, 265.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

141

Angelegenheiten werden hiernach unter Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention und folglich auch des in Art. 7 Abs. 1 E M R K enthaltenen Grundsatzes „nulla poena sine lege" behandelt. Der erste Schritt in Richtung eines europäischen Strafrechts wird mithin sogleich durch die ausdrückliche Verankerung dieses strafrechtlichen Fundamentalgrundsatzes begleitet. c. Zwischenergebnis Art. K.l ff. EUV v. 1992 bestätigen neben Art. 209 a EGV v. 1992 nach hier vertretener Auffassung eindeutig den ursprünglichen Willen der Mitgliedstaaten, der Gemeinschaft keinerlei Kompetenz zur Setzung von Strafnormen einzuräumen. d. Gegenargumente Soweit sich die Verfechter einer Kompetenz der Gemeinschaft zur Setzung von Strafnormen mit diesen konkreten, aktuellen und aus dem Primärrecht herzuleitenden Nachweisen einer fehlenden Kompetenz auseinandersetzen, bestreiten sie deren Bedeutung. Die Aussagekraft des Art. Κ. 1 ff. EUV v. 1992 wird geleugnet, indem in Art. Κ. 1 EUV v. 1992 auf die einleitende Formulierung „unbeschadet der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft" verweisen wird. 409 Folglich soll zu schlußfolgern sein, die ohnehin bestehenden Kompetenzen seien nicht betroffen. Sicherlich hat der Vertrag von Maastricht das europäische Gebäude erweitert und kann nicht als ein Schritt zurück gedeutet werden. Etwa bestehende Kompetenzen sollten folglich nicht reduziert oder ex nunc eliminiert werden. Wenig überzeugend ist an dieser Stelle jedoch das methodische Vorgehen. Wenn die Kompetenzfrage als solche streitig ist, unterliegt es im Lichte des Prinzips der Einzelermächtigung erheblichen Bedenken, primärrechtlichen Verlautbarungen jüngeren Datums jede Aussagekraft abzusprechen. Das Gebiet der EG-Finanzinteressen wäre im Anschluß an das „Mais-Urteil" das Paradebeispiel für eine strafrechtliche Normgebung durch die Gemeinschaft gewesen, um die Einnahmen- und Ausgabenseite vor betrügerischen Handlungen zu schützen. Wenn das Argument der Annexkompetenz greifen müßte, dann an dieser Stelle. Das Bedürfnis für einen effektiven Strafrechtsschutz liegt offen zutage. Hätte die Gemeinschaft die Kompetenz zur Setzung von Strafnormen, so wäre der Schutz des EG-Haushalts das Herzstück eines unmittelbar anwendbaren EG-Strafrechts. Wenn die Mitgliedstaaten über diese bedeutende Frage zusammenkommen und beraten, sich einigen und sodann ihren Willen in Art. 209 a EGV v. 1992 und Art. Κ. 1ff.EUV v. 1992 primärrechtlich zum Ausdruck bringen, überzeugt es im Lichte des Prinzips der be409

Böse, Strafen und Sanktionen, S. 83.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

grenzten Handlungsermächtigung nicht, dieser Entwicklung für die Beantwortung der Kompetenzfrage keine nähere Bedeutung beimessen zu wollen. Augenfällig und methodisch fragwürdig ist bei dieser kategorischen Vorgehensweise, daß sie sich einer Auseinandersetzung mit dem Detail entledigt. Dazu ist sie freilich auch gezwungen, weil die durch Art. Κ. 1 ff. EUV v. 1992 verdeutlichte und im Zuge des Ubereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft von den Gemeinschaftsorganen bestätigte Abhängigkeit des Strafschutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft von einem innerstaatlichen Ratifikationsakt an den Grundpfeilern dieser Ansicht rüttelt. e. Die Aktivitäten der Gemeinschaftsorgane Die hier vertretene Auffassung findet zudem eine Bestätigung im tatsächlichen Handeln der Gemeinschaftsorgane. Wie wenig der Hinweis auf die Worte „unbeschadet der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft" in Art. Κ. 1 EUV v. 1992 mit dem in der Praxis deutlich werdenden Standpunkt der Gemeinschaftsorgane gemein hat, zeigt sich bei einer Betrachtung der jüngeren Entwicklung des Sanktionsrechts. Neben dem Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft wurde die VO 2988/95(EG) erlassen. 410 Diese Verordnung enthält Rahmenvorschriften für die im sekundären Gemeinschaftsrecht enthaltenen Sanktionsvorschriften, also den sogenannten verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen. 411 Während sich die VO 2988/95(EG) damit den nichtstrafrechtlichen Sanktionen widmet, wurde für das auf strafrechtliche Sanktionen zielende Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft gerade der Weg über Art. Κ. 1 ff. EUV gewählt, was von den Befürwortern einer Rechtssetzungskompetenz als überflüssiger völkerrechtlicher Rückfall kritisiert werden müßte. Vor dem Hintergrund der Kompetenzfrage ist diese Aufspaltung jedoch konsequent und richtig. Für die Sanktionen nichtstrafrechtlicher Art konnte die Gemeinschaft selbst über den Verordnungsweg für eine Verbesserung des Schutzes ihrer finanziellen Interessen tätig werden, und sie tat es. Für Sanktionen strafrechtlicher Art tat sie es gerade nicht, sondern wählte den Weg über ein von den Mitgliedstaaten anzunehmendes Übereinkommen, eben weil ihr hierzu die Kompetenz fehlt.

410 411

Vom 18.12.1995, Abi. 1995, L 312, S. Iff. Ausführlich dazu: Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 122Π".

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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6. D e r Vertrag von A m s t e r d a m im Lichte des Prinzips der begrenzten E i n z e l e r m ä c h t i g u n g Dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung folgend, ist weiterhin zu prüfen, ob aus dem Vertrag von Amsterdam eine Befugnis der Gemeinschaftsorgane zur Schaffung unmittelbar anwendbarer Strafnormen hergeleitet werden kann. Dazu bedarf es einer näheren Analyse des Art. 280, ex-Art. 209 a EGV. Nach Art. 280 Abs. 1 EGV bekämpfen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach dieser Vorschrift, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten einen effektiven Schutz bewirken. In § 280 Abs. 2 und Abs. 3 EGV finden sich die Regelungen des Art. 209 a EGV v. 1992, also die Verpflichtung, die Finanzinteressen der Gemeinschaft im Vergleich mit eigenen Finanzinteressen gleichartig zu schützen und die Regelung über die Koordination und Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, ihren Behörden und der Kommission. Aus Art. 280 Abs. 2 bis Abs. 3 EGV ergeben sich mithin keine Anhaltspunkte für die Übertragung einer Strafrechtssetzungskompetenz auf die Gemeinschaft. a. Die Befürworter einer partiellen Kompetenz zum Schutz der EG-Finanzinteressen Nunmehr erblickt ein Teil der Literatur in Art. 280 Abs. 4 EGV 412 eine Kompetenz zur Setzung von Strafnormen. 413 Die Gewährleistung eines gleichmäßigen Schutzes durch die nationalen Strafrechtsordnungen soll die Befugnis des Rates einschließen, das nationale Strafrecht durch supranationale Normgebung dort zu ergänzen, wo es notwendig erscheint. 414 Wenn eine mitgliedstaatliche Strafrechtsordnung z.B. einen Strafschutz gegen leichtfertige Subventionserschleichungen nicht kenne, sei der Rat befugt, einen solchen Straftatbestand zu schaffen, der keine Anwendung in solchen Staaten finde, die bereits eine leichtfertige oder fahrlässige Erschleichung von EG-Subventionen unter Strafe stellen. Dieses supranationale Strafrecht sei 412

413

4,4

Art. 280 Abs. 4 EGV lautet: „Zur Gewährung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 251 nach Anhörung des Rechnungshofes die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten. Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben von diesen Maßnahmen unberührt." BerglKarpenstein, EWS 1998, 77, 81; Wolffgang/Ulrich, EuR 1998, 616, 644; K. Tiedemann, AGON Nr. 17 (Dezember 1997), 12f.; ders. GA 1998, 107, 108 Fn. 7; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 7; zweifelnd Müller-Graf, integration 1997, 271, 274, dagegen: Deutscher, EGKompetenz zur Strafgesetzbegung, S. 343 ff. K. Tiedemann, AGON Nr. 17 (Dezember 1997), 12, ders. GA 1998, 107, 108 Fn. 7.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

gegenüber dem nationalen Strafrecht subsidiär. 415 Nach Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV bleibe zwar das nationale Strafrecht bestehen und anwendbar, doch die Schaffung europäischer Straftatbestände zum Schutz der finanziellen Gemeinschaftsinteressen, die neben dem nationalen Recht Anwendung finden, sei damit nicht ausgeschlossen. 416 F ü r eine derartige Kompetenz der Gemeinschaft spreche auch die Systematik des Art. 280 EGV, da die Vorschrift in Art. 280 Abs. 2 und Abs. 4 EGV jeweils legislative M a ß n a h m e n anspreche. 417 Tiedemann will von dieser Normsetzungsbefugnis auch dem Allgemeinen Teil zuzuordnende Vorschriften umfaßt sehen. Diese Kompetenz gehe so weit, wie es die Sachkompetenz verlange. Am Beispiel der Strafbarkeit des Unternehmers oder der von Entscheidungsträgern führt er aus, daß derartige Regelungen Teil des jeweiligen Straftatbestandes sein könnten. 418 b. Die Gegner einer partiellen Kompetenz zum Schutz der EG-Finanzinteressen Soweit sich Autoren zur Kompetenzlage nach Amsterdam geäußert haben, wird eine Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen jedoch mit unterschiedlichen Argumenten überwiegend abgelehnt. 419 Die Kompetenzen in Art. 280 Abs. 4 EGV umschließen hiernach nicht das Kriminalstrafrecht. 4 2 0 Die Einfügung einer neuen Kompetenznorm in das Vertragsgefüge führe nicht ohne weiteres zur Übertragung der Strafkompetenz der Gemeinschaft, nur weil strafrechtliche Sanktionen generell auch als M a ß n a h m e zur Betrugsbekämpfung geeignet seien.421 Die Übertragung von strafrechtlichen Kompetenzen auf die Gemeinschaft müsse ausdrücklich und unmißverständlich in der Kompetenznorm geregelt sein, und eine solche Entscheidung sei nicht erfolgt 422 In diesem Sinne meint Art. 280 Abs. 4 EGV also M a ß n a h m e n nichtstrafrechtlicher Art. 423 415 416 417 418 419

420 421 422 423

K. Tiedemann, A G O N Nr. 17 (Dezember 1997), 12. Bergt Karpenstein, EWS 1998, 77, 81; Wolffgangl Ulrich, EuR 1998, 616, 644. K. Tiedemann, AGON Nr. 17 (Dezember 1997), 13. K. Tiedemann, AGON Nr. 17 (Dezember 1997), 12 a. E. DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 55; Griese, EuR 1998,462, 476; Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 162, 164f.; Kühne, Grundrechtsschutz in einem grenzenlosen europäischen Strafrecht, S. 66f.; Musil, NStZ 2000, 68; Otto, Jura 2000, 98; Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (erscheint in Kürze), Zweiter Teil, Β. II. 2; Waldhoff in: Callies/Ruffert, Art. 280 EGV Rn. 3; White, AGON Nr. 16 (September 1996), 3, 5; offen gelassen von Kudlich, JA 1999, 525, 526; Kühl, Söllner-FS, S.613, 616. White, AGON Nr. 16 (September 1996), 3, 5. Griese, EuR 1998, 462, 476. Griese, EuR 1998, 462, 476. Musil, NStZ 2000, 68.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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Weitere Autoren richten den Blick auf das gesamte Vertragswerk.424 Der Unionsvertrag von Maastricht habe den strafrechtlichen Souveränitätsvorbehalt bestätigt, indem die Regelungen über die Zusammenarbeit in Strafsachen der intergouvernementalen Zusammenarbeit zugeordnet worden sei. Der Vertrag von Amsterdam bleibe auf dieser Linie 425 In den Mindestvorschriften über die tatbestandliche Ausgestaltung in den Bereichen der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und des Drogenhandels werde eine Annäherung an das Strafrecht deutlich, doch dies geschehe unter der Überschrift der Kooperationsverbesserung. Der Vertrag vermeide es mit aller Kraft, den Anschein zu erwecken, das Strafrecht zum Regelungsgegenstand europäischer Rechtssetzungskompetenz zu machen. 426 c. Kein Kompetenzübergang durch Art. 280 Abs. 4 EGV Wenn Tiedemann den Gedanken der Notwendigkeit einer strafrechtlichen Regelung bemüht, greift er in verwandter Form die Idee einer aus der Sachkompetenz folgenden Strafrechtssetzungskompetenz auf. In gedanklicher Modifikation der Entscheidung des Gerichtshofs zum Leistungsausschluß 427 ließe sich sagen, Art. 280 Abs. 4 EGV ermächtige dazu, alle Sanktionen einzuführen, die für den wirksamen Schutz der EG-Finanzinteressen erforderlich seien. Diese Deutung überzeugt jedoch nicht, da das Strafrecht nach dem Willen der Mitgliedstaaten gerade nicht Teil der jeweiligen Sachkompetenzen der Gemeinschaft sein sollte. Grieses Argument, nach dem die Einfügung einer neuen Kompetenznorm in das Vertragsgefüge nicht ohne weiteres zur Übertragung der Strafkompetenz der Gemeinschaft führt, nur weil strafrechtliche Sanktionen generell auch als Maßnahme zur Betrugsbekämpfung geeignet sind,428 verdient Zustimmung. Denn allein die Erforderlichkeit oder Notwendigkeit einer strafrechtlichen Regelung genügt vor dem Hintergrund des 424

425

426 427 428

DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 55; Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 162, 164f.; Kühne, Grundrechtsschutz in einem grenzenlosen europäischen Strafrecht, S. 66 f.; Waldhoff in: Callies/Ruffert, Art. 280 EGV Rn. 3. Danneckerl Streinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 55, vor dem Hintergrund des seinerzeit noch nicht ratifizierten, aber bereits unterzeichneten Vertrages von Amsterdam; im Ergebnis ebenso: Musil, NStZ 2000, 68, 69; Waldhoff in: Callies/Ruffert, Art. 280 EGV Rn. 3. Siehe aber auch Dannecker, Hirsch-FS, S. 141, 144, wonach die Mitgliedstaaten durch Art. 280 Abs. 4 EGV zwar keine Kompetenzen übertragen wollten, aber eine Norm schufen, die bei extensiver Interpretation dem Rat die Kompetenz verleihe, auch auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Unterschiede in den nationalen Strafrechtsordnungen zu korrigieren und durch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zu vervollständigen. Kühne, Grundrechtsschutz in einem grenzenlosen europäischen Strafrecht, S. 67. EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5428. Griese, EuR 1998, 462, 476.

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Souveränitätsvorbehalts nicht. Gerade im Lichte dieses durch den Vertrag von Maastricht bestätigten Vorgehens der Mitgliedstaaten auf strafrechtlichem Gebiet, genügen ambivalente Formulierungen wie „alle erforderlichen Maßnahmen" in Art. 34 Abs. 2 ex-Art. 40 Abs. 3 EGV oder „die erforderlichen Maßnahmen" in Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV nicht, um die Kompetenz zu begründen. Das gilt um so mehr, wenn im Folgesatz (Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV) die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten ausdrücklich ausgenommen wird. Mit den Vertragsänderungen von Amsterdam wurde das von den allgemeinen Kompetenzen nicht umfaßte Strafrecht im EGV überhaupt erstmals direkt angesprochen. Die Erwähnung in Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV folgt unmittelbar auf eine zugegebenermaßen ambivalente Formulierung in einer Kompetenznorm. Aber darin liegt gerade die Aussagekraft des Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV. Der offenen Formulierung in Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV wird eine Grenze gezogen. Es überzeugt nicht, eine primärrechtliche Verankerung einer Strafrechtssetzungskompetenz anzunehmen, wenn gemäß dieser Formulierung in Art. 280 Abs. 4 Satz 2 E G V die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege von den Maßnahmen der EG-Organe nach Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV unberührt bleiben sollen. Zweifellos ist die Formulierung etwas unscharf. Bei ihrer Analyse sind jedoch die Umstände des Zustandekommens zu bedenken. Der Vertragstext muß mit den Vertragsparteien ausgehandelt werden, weshalb an die Bestimmtheit und Dichte der Vertragsregelungen nicht Anforderungen gestellt werden dürfen, wie sie der Parlamentsvorbehalt für ein Gesetz vorgibt. 429 Wer den Wortlaut des Art. 280 Abs. 4 EGV im Sinne eines Vertragstextes auf die darin transportierte Kernaussage reduziert, wird resümieren: Das Strafrecht der Mitgliedstaaten soll gerade nicht berührt werden. In dieser erstmaligen primärrechtlichen Erwähnung des Strafrechts liegt mithin eine abermalige und sehr prägnante Bestätigung des Souveränitätsvorbehalts, aber keine Übertragung von kriminalstrafrechtlichen Normgebungskompetenzen auf die Gemeinschaft. aa. Offene Fragen der subsidiären Anwendung einer EG-Strafnorm in der Praxis Die Aussagekraft des Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV in der Kompetenzfrage kann auch nicht überzeugend mit dem Argument bestritten werden, die Vorschrift nehme nur die Anwendung des Strafrechts und die Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten aus; nach Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV bleibe das nationale Strafrecht bestehen und anwendbar, doch die Schaffung europäischer Straftatbestände, die neben dem natio-

429

BVerfGE 89, 155, 187f.; vgl. auch BVerfGE 77, 170, 231 f.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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nalen Recht Anwendung finden, sei damit nicht ausgeschlossen. 430 Diese Argumentation erscheint als ein juristischer Kunstgriff, durch den in Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV eine Lücke hineingelesen wird. Wenn das Primärrecht ausgerechnet an dieser Stelle derart seziert wird, so fragt sich, warum das in Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV nicht geschieht. Dann wäre höchst zweifelhaft, ob angesichts des historisch nachweisbaren Vorgehens der Mitgliedstaaten das Strafrecht überhaupt unter dem Begriff der „Maßnahme" subsumiert werden kann. In den zurückliegenden Jahrzehnten war das jedenfalls nicht der Fall. Fraglich ist zudem, wie das gesamte Modell überhaupt tragfähig sein soll. Erstaunlicherweise widmen sich die Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz nicht den Einzelheiten ihrer Interpretation. Beachtung verdient die Weite der Formulierung in Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV, nach der die Anwendung des mitgliedstaatlichen Strafrechts und die Strafrechtspflege unberührt bleiben. Das ist in der Praxis kaum denkbar, soweit der Vollzug des EG-Strafrechts und damit die Strafverfolgung den Mitgliedstaaten obliegen sollte. Wer nach Art. 280 Abs. 4 EGV eine Kompetenz annimmt, muß sich zu diesen Fragen äußern, denn die Probleme der Verzahnung des Gemeinschaftsrechts mit dem Strafrecht liegen im Detail. Fraglich ist schon, welche Institution ein entsprechendes Ermittlungsverfahren führen sollte. Da das EG-Strafrecht gemäß Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV die Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten nicht berührt, läßt sich die Zuständigkeit von Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter jedenfalls nicht zwanglos begründen. Denn der allgemeine Grundsatz des Vollzugs des EG-Rechts durch die Mitgliedstaaten kann nicht unbesehen übertragen werden, wenn die Strafrechtspflege unberührt bleiben soll. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren bringt oftmals schwere Grundrechtseingriffe wie die Durchsuchung und insbesondere die Untersuchungshaft mit sich. Wenn die Strafrechtspflege gemäß Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV von einer etwaigen EG-Strafnorm nach Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV unberührt bleiben soll, muß die Frage beantwortet werden, ob angesichts der Formulierung in Art. 280 Abs. 4 Satz 2 430

Wolff gang/Ulrich, EuR 1998, 616, 644. Zu dem Argument von Moll, Europäisches Strafrecht, S. 7, nach dem Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV nur von der Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten spricht, nicht aber von einem Geltungsvorrang des nationalen Rechts dergestalt, daß die Existenz nationaler Strafvorschriften den Erlaß erforderlicher gemeinschaftsrechtlicher Strafnormen ausschließen würde, nur soviel: Der Begriff des Geltungsvorrangs paßt in diesem Zusammenhang nicht, weil das nationale Recht und das EG-Recht zum einen keine Normenpyramide bilden und zum anderen ein Geltungsvorrang der nationalen Norm gegenüber einer EG-Norm ohnehin nicht denkbar ist. Nun meint Moll offenbar aber auch nur, daß die Mitgliedstaaten in Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV eine zum nationalen Recht parallele Normgebung der EG nicht ausdrücklich ausgeschlossen haben. Das kann aber nicht überraschen, weil die Strafrechtskompetenz im Lichte des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung zunächst einmal positiv übertragen werden müßte. Ist das nicht der Fall, verbleibt sie bei den Mitgliedstaaten.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

EGV das Strafverfahrensrecht als Element der Strafrechtspflege diese Eingriffe tragen kann und darf. Wenn der Strafrichter eine EG-Strafnorm anzuwenden hätte, müßte er auch nationales Strafrecht anwenden. Die Verhängung einer Geldstrafe richtet sich ζ. B. nach §§ 40 ff. StGB. Das wäre nichts anderes als die Anwendung nationalen Strafrechts. Mitgliedstaatliches Strafrecht wäre also anzuwenden, obwohl seine Anwendung nach Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV unberührt bleiben soll. Als weiteres Beispiel seien Fragen der Strafaussetzung zur Bewährung nach §§ 56 ff. StGB angeführt. Angesichts des Wortlauts des Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV ist fraglich, ob diese Normen überhaupt die Grundlage dafür bieten könnten, über Fragen der Strafaussetzung zur Bewährung zu befinden, da selbstredend nationales Strafrecht angewendet wird. Ferner schlägt ein etwaiges EG-Strafrecht auf Verfahren ohne jeden EG-Bezug durch. Wenn der Täter aufgrund der EG-Strafnorm zu einer Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt wurde und in der Bewährungszeit einen Betrug ohne EG-Bezug begeht, ist zu prüfen, wie diese Vorstrafe wirkt und ob die Verurteilung aufgrund der EG-Strafnorm die abermalige Strafaussetzung hindert. Fraglich wäre auch, wem die Vollstreckung einer Geld- oder Freiheitsstrafe obliegen soll. Die Staatsanwaltschaft steht als Vollstreckungsbehörde wohl nicht zur Verfügung, da die Maßnahmen nach Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV durch die ausdrückliche Anordnung gemäß Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV die gesamte Strafrechtspflege in den Mitgliedstaaten unberührt lassen. Damit genug der Beispiele: Strafrecht und Strafrechtspflege sind bei einer subsidiären Anwendung einer EG-Strafnorm nicht nur regelmäßig betroffen, sondern verzahnen sich mit dieser. Die Aussage des Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV wäre geradezu auf den Kopf gestellt. Dagegen könnte mit Tiedemann zu entgegen sein, Art. 280 Abs. 4 EGV ermächtige eben nicht nur zur Schaffung einer Strafnorm, sondern auch zur Kodifizierung eines Allgemeinen Teils, der alle Fragen von der Fahrlässigkeit, über die Tagessatzberechnung bei der Geldstrafe, bis zur Strafvollstreckung regelt. Ob das in Art. 280 Abs. 4 EGV hineingelesen werden kann, erscheint als sehr zweifelhaft. Aber selbst wenn man dem folgt, ist eine völlige Loslösung vom nationalen Strafrecht kaum durchzuhalten. Geht mit der - nach EG-Recht strafbaren - Subventionserschleichung eine typische Begleittat wie eine Urkundenfälschung einher, steht die Verquickung mit dem nationalen Strafrecht spätestens bei der Gesamtstrafenbildung in Rede.431 431

Auf § 55 Abs. 1 StGB sei nur noch knapp hingewiesen: Selbst wenn es gelingen sollte, EGStrafverfahren gleichsam isoliert und ohne Anwendung nationalen Strafrechts und ohne

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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Eine völlige Abnabelung von der Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und deren Strafrechtspflege wäre nur durch die Einführung einer europäischen Strafgerichtsbarkeit gewährleistet. Das wäre allerdings ein epochaler Schritt, der mit Art. 280 Abs. 4 EGV gewiß nicht gesetzt werden sollte. Da die strafrechtliche Regelung in der EG-Norm nach Tiedemann nur dann anzuwenden wäre, wenn das nationale Gesetz lückenhaft ist, ergibt sich die weitere Frage, was überhaupt eine Lücke im nationalen Recht aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht darstellen soll. Dafür könnte der abstrakte Vergleich des Wortlauts der Normen, aber auch ihre Anwendung in der Rechtspraxis entscheidend sein. Anhand des von Tiedemann gewählten Beispiels des Subventionsbetrugs sei dieser Gedanke kurz erläutert: Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts kann die strafrechtliche Ahndung in einem Mitgliedstaat, der nur eine Vorsatzstrafbarkeit kennt, weitaus effektiver als die in einem Mitgliedstaat sein, der im Gesetz die Subventionserschleichung auch bei leichtfertiger Begehung unter Strafe stellt. Uber die Effektivität des Strafrechts entscheidet nicht nur die Schaffung von Tatbeständen, die in ihrem Wortlaut sehr weit gefaßt werden. Es kommt im Sinne des „effet utile" auch auf die Anwendung des Rechts an. So sieht es jedenfalls der Gerichtshof, wenn er im „Mais-Urteil" den effektiven Vollzug des nationalen Rechts anmahnt. 432 Bedeutend sind zahlreiche Umstände wie die Auslegung des materiellen Rechts, eine effektive Ermittlungstätigkeit oder strafprozessuale Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung aus Opportunitätserwägungen. Im Sinne einer möglichst einheitlichen Verfolgung in den Mitgliedstaaten müßte in letzter Konsequenz auch dann von einer Lücke im nationalen Recht ausgegangen werden, wenn die Auslegung eines nationalen Tatbestandes durch die innerstaatlichen Gerichte restriktiv erfolgt und Handlungen als nicht strafbar eingestuft werden, die nach der europäischen Strafnorm jedoch zu subsumieren wären. Zu diskutieren wäre, ob in einem solchen Fall die europäische Strafnorm subsidiär bleiben oder angewendet werden soll. Bleibt sie subsidiär, kommt es nicht zu einer einheitlichen Verfolgung. Soweit sie anwendbar ist, kommt es zu einer Konkurrenzlage von nationalem und europäischem Recht, bei der nur der Umstand, ob die Handlung auf eine nationale oder supranationale Vermögensmasse zielt, darüber entscheidet, ob sie strafbar sein soll. Desgleichen verbirgt sich im Modell einer Subsidiarität oder Parallelität der gemeinschaftsrechtlichen Strafnorm auf der Ebene der Gesetzgebung ein nicht unerhebliches Konfliktpotential, falls sich das Parlament eines Mitgliedstaats nicht

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Berührung der nationalen Strafrechtspflege durchzuführen, muß man klären, wie sich die in der Praxis wichtige nachträgliche Gesamtstrafenbildung dazu verhalten soll. EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965, 2985.

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2. H a u p t t e i l : D a s Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

dazu durchringen konnte, die leichtfertige Tatbegehung als Kriminalstraftat einzustufen. Soweit die Gemeinschaft die Frage nach dem „Ob" der Strafbarkeit der leichtfertigen Tatbegehung durch eine EG-Verordnung regelt, wird der innerstaatliche Entscheidungsprozeß unterlaufen. Es entstünde eine diffuse und der Akzeptanz des Strafgesetzes abträgliche Konkurrenzlage zwischen dem an sich für die Schaffung der innerstaatlichen Strafnorm zuständigen nationalen Parlamentsgesetzgeber und der Gemeinschaft. Der innerstaatliche kriminalpolitische Willensbildungsprozeß wäre mangels abzuwägender Alternativen inhaltsleer, wenn es auf sein Ergebnis aufgrund der subsidiär ohnehin anwendbaren europäischen Strafnorm nicht mehr ankommt. bb. Exkurs: Das Corpus Juris zum Schutz der Finanzinteressen der EU als Modell im Sinne von Art. 280 Abs. 4 EGV? Auch wenn diese Arbeit das Ziel verfolgt, den gegebenen Einfluß des Richtlinienrechts auf das nationale Strafrecht zu erforschen, muß an dieser Stelle doch der Blick auf eine wichtige Vorarbeit für ein gemeinsames europäisches Strafrecht geworfen werden. Unter der Federführung von Delmas-Marty haben sich namhafte europäische Strafrechtswissenschaftler zusammengefunden und mit dem „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union" ein Werk vorgelegt, das für sich in Anspruch nehmen kann, ein Modell für ein gemeinsames europäisches Strafrecht nebst dazugehörigem Strafverfahrensrecht darzustellen. 433 Für die hier vertretene Auffassung gibt dieses Werk Anlaß, den eigenen Standpunkt in der Kompetenzfrage nochmals zu reflektieren und zu überprüfen, ob es nicht bereits ein Modell gibt, das im Sinne des Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV einerseits die strafrechtliche Bekämpfung von Betrügereien ermöglicht und andererseits die Anwendung des nationalen Strafrechts und die Strafrechtspflege unberührt läßt.

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Die Vorschläge wurden im Auftrag des Europäischen Parlaments erarbeitet. Die Arbeitsgruppe teilte sich in die Unterausschüsse „materielles Recht" (Enrique Bacigalupo, Giovanni Grasso, Klaus Tiedemann), „Zuständigkeit und Exterritorialität" (Nils Jareborg, Dionysios Spinellis, Christine Van den Wyngaert) sowie „Prozeß- und Beweisrecht" (Mireille DelmasMarty, John R. Spencer). Siehe im einzelnen das Vorwort in: Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris, V, sowie zu die Erläuterung der Motive, ebenda, S. 13 ff. Fraglich bleibt dabei, ob dieses Modell nicht den zweiten vor dem ersten Schritt setzt. Das vorgeschlagene Regelwerk geht nicht aus einem europäischen Diskurs über die zukünftige Gestalt des Strafrechts hervor, sondern richtet sich einseitig an Strafverfolgungs- und Opferinteressen aus, näher Hassemer, KritV 1999, 133 ff.; kritisch auch Wattenberg, StV 2000, 95 ff.; vgl. auch Satzger, Europäisierung, S. 87ff.

Β. Die K o m p e t e n z der G e m e i n s c h a f t zur eigenständigen Setzung von S t r a f n o r m e n

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In seinem materiellen Teil schlägt das Corpus Juris zum Schutz der finanziellen Interessen der EU acht Tatbestände vor.434 Verfahrensrechtlich wird angeregt, für die Ermittlung, Verfolgung, Anklageerhebung, Anklagevertretung in der Hauptverhandlung eine von den nationalen und den Gemeinschaftsorganen unabhängige europäische Strafverfolgungsbehörde einzurichten. 435 Insoweit könnte Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV genügt sein, da die innerstaatliche Anklagebehörde das Verfahren nicht führt. Weitere Inhalte des Entwurfs sprechen jedoch ganz eindeutig gegen eine Vereinbarkeit mit Art. 280 Abs. 4 EGV selbst für den Fall, daß man in Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV strafrechtliche Maßnahmen einbezogen wissen will. Vorgesehen sind die Anklageerhebung und Hauptverhandlung vor den nationalen Gerichten, die innerstaatlich bestimmt werden, wobei nur Berufsrichter an der Entscheidung mitwirken dürfen. 436 Die Strafrechtspflege bliebe davon nicht etwa im Sinne von Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV unberührt, sondern müßte verändert werden, denn aus derartigen Vorgaben erwächst die Notwendigkeit, die Zuständigkeit zu regeln und für derartige Verfahren in Deutschland den Ausschluß von Schöffen vorzusehen. Ähnlich steht es um Regelungen, nach denen der europäischen Ermittlungsbehörde die Befugnis zusteht, „eine Sache an sich zu ziehen" oder verschiedene vom Richter anzuordnende Untersuchungsmaßnahmen, von der Durchsuchung, über die Beschlagnahme und Telefonüberwachung, bis zum Haftbefehl zu beantragen. Dafür müßte in jedem Mitgliedstaat ein gesondert zuständiger Richter ernannt werden, dem es im übrigen auch obliegen soll, am Ende des Vorverfahrens die Ordnungsgemäßheit des gesamten Verfahrens zu überprüfen. 437 Stellt dieselbe Handlung sowohl einen Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtlichen Strafnormen als auch gegen nationales Strafrecht dar, soll allein das Gemeinschaftsrecht Anwendung finden.438 Damit wird eine Vorrangregel zugun-

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Dabei handelt es sich um den Betrug zum Nachteil des Gemeinschaftshaushalts (Art. 1), den Ausschreibungsbetrug (Art. 2), die Bestechlichkeit und die Bestechung (Art. 3), den Mißbrauch von Amtsbefugnissen (Art. 4), die Amtspflichtverletzung (Art. 5), die Verletzung von Dienstgeheimnissen (Art. 6), die Geldwäsche und die Hehlerei (Art. 7), die kriminelle Vereinigung (Art. 8), zum Wortlaut nebst Erläuterungen siehe Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris, S. 30 ff. Sie wird in den Artikeln des Entwurfs als „ESB" abgekürzt, siehe im einzelnen Art. 18, abgedruckt bei Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris, S. 49f. Siehe Art. 22 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 26 Abs. 1 des Entwurfs, abgedruckt bei DelmasM a r t y (Hrsg.), Corpus Juris, S. 56, 66. Siehe Art. 20 des Entwurfs in Verbindung mit Art. 25 des Entwurfs, abgedruckt bei DelmasM a r t y (Hrsg.), Corpus Juris, S. 53, 64. Siehe Art. 17 Abs. 2 des Entwurfs, abgedruckt bei Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris, S. 46; Otto, Jura 2000, 98, 106; Wattenberg, StV 2000, 95, 98.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

sten des Gemeinschaftsrechts vorgeschlagen. Diese Rechtsfolge läuft Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV diametral zuwider. Das nationale Recht wird mehr als berührt, nämlich unanwendbar und es tritt genau das Gegenteil von dem ein, was Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV aussagt. Es bedarf auch keiner näheren Ausführungen, daß vieles von dem unserer Strafrechtsordnung und der praktizierten Strafrechtspflege fremd ist und weitreichende Reformen nach sich ziehen müßte. Deshalb genügt dieser sehr fragmentarische Blick auf dieses Werk, um resümieren zu können: Das Corpus Juris zum Schutz der Finanzinteressen der EU stellt kein Modell im Sinne von Art. 280 Abs. 4 EGV dar. 439 cc. Art. 31 lit. e EUV und Art. 61 EGV Auch eine Gesamtschau des Primärrechts nach Amsterdam spricht gegen eine Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft. 440 Dafür ergäbe sich ein systematisches Argument, wenn eine Loslösung der einschlägigen Vorschriften über die Betrugsbekämpfung aus der dritten Säule nachweisbar wäre. Dann ließe sich wie folgt argumentieren: Indem die Mitgliedstaaten die Betrugsbekämpfung aus der dritten Säule lösen und in Art. 280 Abs. 4 EGV den Gemeinschaftsorganen die Befugnis verleihen, die erforderlichen Maßnahmen zu beschließen, haben sie die Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen verleihen wollen. Das ist aber nicht der Fall. Art. 29 Satz 2 EUV erwähnt weiterhin explizit die Betrugsbekämpfung. Sie ist also nicht „vergemeinschaftet" worden. Ungeachtet der Neuformulierung ergibt ein Vergleich mit Art. Κ. 1 Nr. 5 EUV v. 1992 keine wesentlichen Änderungen. Selbst wer den Betrug zum Nachteil der EG-Finanzinteressen regelmäßig als organisierte Kriminalität einstufen will, gelangt allenfalls gemäß Art. 31 lit. e EUV zur schrittweisen Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und Strafen. Diese Maßnahmen sind aber Element der dritten Säule. Der Rat vermag nach Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV zwar hinsichtlich des Ziels verbindliche Rahmenbeschlüsse zu erlassen. 34 Abs. 2 lit. b Satz 3 EUV stellt aber sogleich fest, daß es sich hierbei nicht um unmittelbar wirksames Recht handelt. Harings meint mit Blick auf die Entscheidungen des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richt-

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Diese Schlußfolgerung birgt keine Kritik an diesem Entwurf, denn als die Arbeitsgruppe 1995 gegründet wurde, gab es den 1999 in K r a f t getretenen Art. 280 EGV noch nicht. Für diese Untersuchung galt es nur, die zu Art. 280 Abs. 4 EGV entwickelte Sichtweise im Lichte gemeinsamer europäischer Forschung zu reflektieren. Vgl. DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 55; Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 162, 164.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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linien, diese Formulierung beuge einer gegenteiligen Rechtsprechung durch den Gerichtshof vor.441 Die in dieser Interpretation unterschwellig anklingende Kritik geht freilich zu weit, denn diese Besorgnis ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Gesetzlichkeitsprinzip nicht begründet. 442 Allerdings bringt Art. 34 Abs. 2 lit. b Satz 3 EUV den fortwährenden Souveränitätsvorbehalt klar zum Ausdruck. Eine „Vergemeinschaftung des Strafrechts" hat es nicht gegeben.443 Die hypothetische Möglichkeit einer Übertragung im Sinne von Art. 42 Satz 1 EUV ändert daran nichts. Der Rat kann nach dieser Vorschrift mittels eines einstimmigen Beschlusses Maßnahmen aus dem Anwendungsbereich des Art. 29 EUV dem Titel IV des EGV unterstellen. Allerdings sieht Art. 42 Satz 2 EUV die Empfehlung des Rates an die Mitgliedstaaten vor, diesen Beschluß gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften anzunehmen. 444 Das wäre in Deutschland nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch erforderlich, da ein Fall der Vertragserweiterung vorläge.445 Eine Analyse der Artt. 61 ff. EGV stützt dieses Verständnis des Amsterdamer Vertrages. Auf den ersten Blick scheint es zu einer Kompetenzverlagerung gekommen zu sein. Die im Zusammenhang mit dem freien Personenverkehr dort geregelten Bereiche, insbesondere die Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik, können Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung nach sich ziehen. Daher könnte der Gemeinschaft zumindest eine diesbezügliche Kompetenz zugestanden worden sein. Eine Lektüre des Art. 61 EGV belegt jedoch das Gegenteil. Dem Rat werden zwar Kompetenzen verliehen, die auch den Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit gemäß Art. 61 lit. e EGV betreffen. Sobald es jedoch um Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität geht, kommt es am Ende des Art. 61 lit. a EGV zu einer vor dem Hintergrund des Kompetenzthemas aufschlußreichen Abverweisung. Für diesen Bereich wird auf Art. 31 lit. e EUV, also auf die dritte Säule verwiesen. Dort, wo ein Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft

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Marings, EuR 1998 (Beiheft 2), 81, 88. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6637; Szczekalla in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 11 Rn.10, 41, mwN. Hailbronner/Thiery, EuR 1998, 583, 613; Hörings, EuR 1998 (Beiheft 2), 81, 83, 88.; KaiafaGbandi, KritV 1999, 162, 164; Müller-Graf, integration 1997, 271 275; Rupprecht, integration 1997, 264, 265; Ukrow, ZEuS 1998, 141, 178. Die Regelung erinnert an Art. K. 9 EUV v. 1992, der die Möglichkeit eröffnete, ex-Art. 100c EGV auf die Bereiche des Art. Κ. 1 Nr. 1-6 EUV v. 1992 anzuwenden. Auch hier sah Art. K. 9 Satz 2 EUV v. 1992 sogleich die Empfehlung des Rates an die Mitgliedstaaten vor, diesen Übertragungsbeschluß gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften anzunehmen. Ukrow, ZEuS 1998, 141,178 umschreibt das Verfahren treffend als „kleine Vertragsrevision" unter Verzicht auf die (Ratifikations-) Anforderungen des Art. 48 EUV. Siehe BVerfGE 89, 155, 209 a. E.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

zu verzeichnen ist, der eine strafrechtliche Normgebung erforderlich machen könnte, spalten die Mitgliedstaaten die strafrechtlichen Kompetenzen ab und verweisen auf Art. 31 lit. e EUV zurück. Auch dieses Vorgehen spricht deutlich gegen eine Kompetenz der Gemeinschaft zur Schaffung unmittelbar anwendbarer Strafnormen. Eine Gesamtschau der primärrechtlichen Vereinbarungen von Amsterdam bestätigt somit den Souveränitätsvorbehalt der Mitgliedstaaten und ergibt kein Argument für die Ansicht, die Schaffung von unmittelbar anwendbaren Strafvorschriften zur Bekämpfung des Betrugs zum Nachteil der Finanzinteressen sei in die Kompetenzen der Gemeinschaft überführt worden. dd. Funktion des Art. 280 Abs. 4 EGV Nun kann es jedoch noch nicht sein Bewenden damit haben, eine Übertragung von Strafrechtssetzungskompetenzen zu bestreiten, ohne selbst nach dem Sinn der Änderung des Art. 209a EGV v. 1992 und dem Inhalt des neuen Art. 280 Abs. 4 EGV gefragt zu haben. Tiedemanns These, Art. 280 Abs. 4 EGV umfasse legislative Maßnahmen, verdient angesichts des Wortlauts der Vorschrift uneingeschränkte Zustimmung. Ein Studium des Vertragswerks offenbart, daß mit dem Begriff der Maßnahme typischerweise rechtsgestaltende Aktivitäten der Gemeinschaftsorgane gemeint sind. Folglich hat sich die primärrechtliche Rechtslage geändert und jede Tiedemanns Ansicht widerstreitende Meinung muß ihrerseits Position beziehen und zum Sinn des Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV Stellung nehmen. Der Zweck des Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV muß aber nicht sogleich in der Verleihung von Kompetenzen zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen gesehen werden. Vielmehr drängt es sich auf, Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV als Kompetenznorm für verwaltungsrechtliche Sanktionen nichtstrafrechtlicher Art zu begreifen, die jedoch gemäß Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV die Grenze zum Strafrecht nicht überschreiten darf. 446 Die Kompetenz zur Setzung von Normen, die als Grundlage für einen Strafzuschlag oder einen Leistungsausschluß dienen, wird mit Blick auf Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV neu zu diskutieren sein. Insoweit greift eine Befugniserweiterung zugunsten der Gemeinschaft, die jedoch das Kriminalstrafrecht nicht erfaßt. Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV wird als Reaktion der Mitgliedstaaten auf das Urteil des Gerichtshofs zum Leistungsausschluß einzustufen sein. Diese Aussage muß unter methodischen Gesichtspunkten mangels einer Publikation der Materialien zum Primärrecht zwar unter einen gewissen Vorbehalt gestellt werden. Aber unter

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Ebenso: Musil, N S t Z 2000, 68.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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dieser Einschränkung steht nun einmal jede Interpretation des Primärrechts, also auch die der Befürworter einer aus Art. 280 Abs. 4 EGV folgenden partiellen Kriminalstrafgewalt. Die soeben entwickelte These läßt sich jedoch argumentativ nachhaltig untermauern: Zunächst ist auf eine auffällige Parallele in der primärrechtlichen Normgebung hinzuweisen. Als der Gerichtshof im „Mais-Urteil" 447 die Pflicht der Mitgliedstaaten zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft betont hatte, fixierten die Mitgliedstaaten diese Pflicht explizit in Art. 209a EGV v. 1992.448 Es kam folglich zu einer primärrechtlichen Wiederholung einer vom Gerichtshof bereits getroffenen Aussage. Vergleicht man die Formulierung des Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV mit der Diktion des Gerichtshofs, nach der aus Artt. 34 Abs. 2, Art. 37 Abs. 2, ex-Artt. 40 Abs. 3, 43 Abs. 2 EGV die Ermächtigung folgt, alle Sanktionen einzuführen, die für die wirksame Anwendung der Regelungen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich sind,449 so liegt im Lichte des Vorgehens bei der Schaffung des Art. 209a EGV v. 1992 durchaus die Schlußfolgerung nahe, daß die Mitgliedstaaten die Entscheidung des Gerichtshofs wiederum primärrechtlich abgesichert haben. Der zeitliche Ablauf spricht ebenfalls für diese Deutung. 450 Darüber hinaus bestand auch Anlaß, die Kompetenzfrage auf sanktionsrechtlichem Gebiet primärrechtlich abzugrenzen, da die Bundesrepublik Deutschland vor dem Gerichtshof immerhin eine kompetenzrechtliche Überschreitung geltend gemacht hatte und die Entscheidung des Gerichtshofs in der Literatur keinesfalls nur auf Beifall gestoßen war.451 Und noch ein Aspekt ist in der Diskussion des Art. 280 Abs. 4 EGV bisher vernachlässigt worden, obwohl er naheliegt: Das Bundesverfassungsgericht äußert im Maastricht-Urteil Vorbehalte gegen eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse („effet utile"). 452 Aber gerade der Gedanke des effet utile trägt doch das Urteil des Gerichtshofs zum Leistungsausschluß. Es bestand aller Anlaß, auf die vom Gerichtshof zwar entschiedene, aber weiterhin sensible Kompetenzfrage hinsichtlich der nichtstrafrechtlichen Sanktionen zurückzukommen. Durch die Schaffung einer primärrechtlichen Grundlage

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EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965ff. In diesem Sinne auch Prieß in: von der Groeben, EU-/EG-Vertrag, Art. 209a Rn. 2; Sieber, JZ 1997, 369, 371. EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5428. Der Vertragsschluß von Maastricht erfolgte am 7. Februar 1992. Das Urteil zum Leistungsausschluß, EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383ff., erging nach diesem Zeitpunkt. Siehe nur J. Schulz, Europäisches Strafrecht, S. 183, 199. BVerfGE89, 155, 210.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

in Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV konnte der durch den Gerichtshof zwar gewissermaßen justizförmig abgearbeitete, aber gleichwohl schwelende Konflikt befriedet werden. Die hier vorgenommene Interpretation des Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV im Sinne eines Ausschlusses kriminalstrafrechtlicher Kompetenzen fügt sich in diese Deutung ein. Denn der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung zum Leistungsausschluß ausdrücklich angemerkt, nicht über die Kompetenzen auf strafrechtlichem Gebiet zu entscheiden.453 Folglich haben die Mitgliedstaaten in Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EGV die Entscheidung des Gerichtshofs hinsichtlich der Sanktionen nichtstrafrechtlicher Art untermauert und in Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV die vom Gerichtshof offen gelassene Frage abermals und in gewohnter Tradition entschieden: Eine Befugnis zur Setzung unmittelbar anwendbaren Kriminalstrafrechts hat die Gemeinschaft nicht. Sie verbleibt nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. Angleichungen auf strafrechtlichem Gebiet stützen sich auf die dritte Säule und erfolgen über Artt. 29 ff. EUV. Die Abgrenzung von Art. 280 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 EGV läuft auf die Frage hinaus, welche Art von Sanktion auf europäischer Ebene noch nichtstrafrechtlicher Art ist und wo die Grenze zum Strafrecht verläuft. Die Antwort ist sehr komplex, da die schon innerstaatlich schwierige Umschreibung dessen, was Strafe ist, nicht unbesehen auf die europäische Ebene gespiegelt werden kann, weil sich ein europaweiter Begriff der Strafe nicht mit dem deutschen Verständnis decken muß. Die verschiedenen Rechtsordnungen bergen unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der theoretischen Einordnung von Sanktionen als Kriminal- oder Ordnungsstrafen. 454 Zudem sind die einzelnen Sanktionsarten wie der Leistungsausschluß oder der Strafzuschlag differenziert zu würdigen. An dieser Stelle wird dem im einzelnen nicht mehr nachgegangen, da es hier zur Klärung der Einwirkung des Richtlinienrechts auf das Strafrecht um die grundsätzliche Lösung der Kompetenzfrage geht. Jedenfalls dort, wo als Rechtsfolge eines tatbestandsmäßigen Verhaltens die Verhängung einer Freiheitsstrafe droht, wird die Schwelle zum Strafrecht jedoch auch im europarechtlichen Kontext überschritten.

7. Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Alle Befürworter einer allgemein aus der Sachkompetenz oder aus Art. 280 Abs. 4 EGV abgeleiteten Strafrechtssetzungskompetenz lassen eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermissen. 453 454

EuGH, Urteil vom 27.10.1992, Rs. C-240/90, Ε 1992,1-5383, 5431. Pagliaro, Grenzen der Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, S. 379, 382.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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Mit Blick auf die Sachkompetenz ist an den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung zu erinnern, nach dem zwar eine Bestimmung, die Aufgaben und Befugnisse zuweist, mit Blick auf die Vertragsziele ausgelegt werden darf, dieses Ziel allein jedoch nicht genügt, um Aufgaben und Befugnisse zu begründen oder zu erweitern. 455 Es gilt zwischen der Rechtsfortbildung innerhalb der Verträge und einer deren Grenzen sprengenden, vom Vertragsrecht nicht gedeckten Normsetzung zu differenzieren. Dieser Gedanke findet sich in Art. 23 Abs. 1 GG, der für Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union und für vergleichbare Regelungen ein Zustimmungsgesetz fordert. 456 Das Bundesverfassungsgericht akzentuiert somit im Maastricht-Urteil das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Es trennt zwischen einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung. Diese grundsätzliche Unterscheidung gewinne an Bedeutung, während sich die dynamische Erweiterung des Vertragswerks bisher auf eine großzügige Handhabung des Art. 308, ex-Art. 235 EGV im Sinne einer „Vertragsabrundungskompetenz", auf den Gedanken der inhärenten Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften („implied powers") und auf eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse („eflet utile") gestützt habe.457 Allein bei dieser Mahnung vor einer zu extensiven Auslegung des Vertragswerks hat es das Bundesverfassungsgericht nicht belassen, sondern hinzugefügt, daß die einer Vertragserweiterung gleichkommende Auslegung von Befugnisnormen für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten würde. 458 Unabhängig von der Frage, wo im Einzelfall die Grenze einer zulässigen Auslegung verläuft, ruft die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls für die kriminalstrafrechtliche Kompetenzfrage wesentliche Eckpunkte in Erinnerung. Vor dem Hintergrund des Prinzips der begrenzten Handlungsermächtigung kann eine aus der Sachkompetenz abgeleitete Befugnis zur Setzung von kriminalstrafrechtlichen Normen nicht begründet werden. Es überzeugt im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht, mehrdeutige Formulierungen wie „alle erforderlichen Maßnahmen" in Art. 34 Abs. 2 ex-Art. 40 Abs. 3 EGV oder „die erforderlichen Maßnahmen" in Art. 280 Abs. 4 EGV heranzuziehen, um daraus eine - und sei es auch nur fragmentarische - Strafgewalt herleiten zu wollen. 455

456 457 458

BVerfGE 89, 155, 209. Auch DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 55, weisen vor dem Hintergrund der primärrechtlichen Regelungen nach Maastricht und Amsterdam zu Recht auf die Bedeutung des Maastricht-Urteils in der strafrechtlichen Kompetenzfrage hin. BVerfGE 89, 155, 209 f. BVerfGE 89, 155,210. BVerfGE 89, 155, 188, 210.

158

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Primärrechtliche Verlautbarungen wie Art. 209 a EGV v. 1992 und Art. Κ. 1 Nr. 5 EUV v. 1992, Art. 29 ff. EUV und die Abverweisung in Art. 61 lit a EGV belegen überdies positivrechtlich, wie vorsichtig die Mitgliedstaaten das Strafrecht - einschließlich des Strafschutzes der Finanzmittel - in Angriff nehmen. Sie bringen damit ihren Standpunkt zum Ausdruck, den Bereich des Strafrechts nicht als mit der allgemeinen Sachkompetenz verwoben einzustufen. Die allgemeine Sachkompetenz ermächtigt also nicht zum Erlaß von Strafnormen. Die Gemeinschaft kann für sich eine nur abgeleitete Kompetenz in Anspruch nehmen. Nach dem Stand des Vertragswerks besteht keine dem Staat vergleichbare originäre Kompetenz im Sinne einer Allzuständigkeit, in deren Gefolge sodann eine Verteilung auf die Gewalten oder die Gliedstaaten in Rede steht.459 Aufgrund der Verlautbarungen der Vertragswerke von Amsterdam und Maastricht liegt die Kompetenzfrage auf dem Gebiet des Strafrechts klarer denn je zutage. Wenn sich am Beispiel des Strafschutzes von Geheimhaltungsinteressen oder der eidlichen Aussage vor dem Gerichtshof schon nachweisen ließ, daß europäisches Kriminalstrafrecht unter Wahrung der Souveränität im Wege der primärrechtlichen Inbezugnahme im Einzelfall geschaffen wurde und Art. 280 Abs. 2, ex-Art. 209 a EGV in voller Kenntnis der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs eine lediglich an die Mitgliedstaaten gerichtete Verpflichtung ausspricht und die „dritte Säule" schließlich auch dem Bereich gilt, der gemäß der These der Befürworter der Rechtssetzungskompetenz hinsichtlich betrügerischer Handlungen zum Nachteil der Gemeinschaft der Sachkompetenz unterfallen müßte, dann folgt daraus mit Blick auf das Maastricht-Urteil: Die Befürworter einer Strafrechtssetzungsgewalt der Gemeinschaft werden der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht. Sie steuern auf den verfassungsrechtlichen Kollisionsfall zu. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet Art. K. 9 EUV v. 1992 neben Art. Ν EUV v. 1992 als eine durch den Vertrag von Maastricht verdeutlichte Trennlinie zwischen der Rechtsfortbildung innerhalb der Verträge und einer Vertragserweiterung oder Vertragsänderung. 460 Wenn nun Art. Κ 1 Nr. 5 EUV v. 1992 auch in der Handhabung durch die Gemeinschaftsorgane, also nicht etwa nur nach der hier vertretenen Deutung des Vertragswerks, gerade die Maßnahmen zur Bekämpfung betrügerischer Handlungen zum Nachteil der Gemeinschaft unterfallen, die nach den Befürwortern der Strafnormsetzungskompetenz aber Teil der allgemeinen Sachkompetenz sein müßten, sollten sich die Verfechter dieser Meinung fragen, ob sie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausreichend würdigen. Denn Konsequenz des Vorgehens der Gemeinschaftsorgane und der hier vertrete459 460

Vgl. Vogel, Kompetenz der EG, S. 170, 182. BVerfGE 89, 155, 209 a. E.

Β. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur eigenständigen Setzung von Strafnormen

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nen Auffassung ist, diese Maßnahmen richtigerweise dem Verfahren der Artt. 29 ff. EUV zu unterstellen. Wenn dem so ist, dann liegen sie kompetenzrechtlich im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch jenseits der Grenze, die zwischen einer Rechtsfortbildung und einer Vertragserweiterung verläuft. Die Befürworter einer Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft müssen zudem folgende Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts beachten: 461 „Art. 38 G G wird demnach verletzt, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der - supranationalen Europäischen Gemeinschaften öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt (BVerfGE 58, 1, 37)... Mit Rücksicht darauf, daß der Text eines völkerrechtlichen Vertrages mit den Vertragsparteien ausgehandelt werden muß, können allerdings an die Bestimmtheit und Dichte der Vertragsregelungen nicht Anforderungen gestellt werden, wie sie der Parlamentsvorbehalt sonst für ein Gesetz vorgibt (vgl. BVerfGE 77, 170, 231 f.). Entscheidend ist, daß die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und die daraus sich ergebenden Rechte und Pflichten - insbesondere auch das rechtsverbindliche unmittelbare Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Rechtsraum - für den Gesetzgeber voraussehbar im Vertrag umschrieben und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden sind (vgl. BVerfGE 58, 1, 37; 68, 1, 98 f.)." Freilich hat das Bundesverfassungsgericht diese Ausführungen nicht explizit zur Frage strafrechtlicher Kompetenzübertragungen getätigt. Wer diese Darlegungen jedoch auf sich wirken läßt und noch einmal ganz unbefangen die beiden Sätze des Art. 280 Abs. 4 EGV liest, wird nicht behaupten können, die strafrechtliche Kompetenzübertragung sei im Sinne des Bundesverfassungsgerichts bestimmt normiert worden. Nun könnte diese Deutung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als zu eng und das Verlangen nach einer bestimmten Kompetenzübertragung als eine methodisch unzulässige Spiegelung eines strafrechtlichen Argumentationsmusters auf die europäische Ebene kritisiert werden. Deshalb sei klargestellt, daß unter einem bestimmten Ubertragungsakt keine eigentliche Umschreibung des Strafbaren verstanden wird. Gemeint ist nicht etwa ein Modell, wie es in Deutschland auf strafrechtlichem Gebiet zwischen formellem Gesetzgeber und dem Rechtsverordnungsgeber existiert.462

461 462

BVerfGE 89, 155, 187 f. In diesen Fällen füllt die innerstaatliche Rechtsverordnung das formelle Strafgesetz nur noch hinsichtlich der Einzelfragen auf, aber die entscheidenden Grundaussagen trifft das formelle Gesetz selbst.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Bestimmtheit meint hier den eindeutig erklärten und nicht nur aus vieldeutigen Formulierungen abgeleiteten Willen, die strafrechtliche Normgebungsbefugnis auf einem bestimmten Gebiet auf die Gemeinschaft übertragen zu wollen. Diese Forderung entspricht unserer Verfassungslage. In einem Aufsatz eines an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich beteiligten Richters finden sich zwei Beispielsfälle für den verfassungsrechtlichen Kollisionsfall. Das erste Beispiel entspricht der Solange-II Rechtsprechung: 463 „Würde hingegen - ein theoretischer Fall - das Gemeinschaftsrecht den vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz verkürzen wollen, so hätte das Verfassungsrecht den Auftrag und die Kraft, diese Zustimmung als rechtsunverbindlich zurückzuweisen." 464

Das zweite Beispiel spricht das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Kompetenzfrage an und lautet: „Beanspruchten Gemeinschaftsorgane die Zuständigkeit zur Vereinheitlichung des Strafrechts, so wäre ebenso offensichtlich, daß diese Kompetenzberühmung vertragsund verfassungswidrig ist, weil der Vertrag die Gemeinschaftsorgane nur zur Tätigkeit im Rahmen der begrenzt erteilten Einzelermächtigungen berechtigt, das Verfassungsrecht die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch EG-Organe nur im Rahmen des den Vertrag für anwendbar erklärenden Zustimmungsgesetzes erlaubt." 465

Nach der hier vorgenommenen Interpretation des Kompetenzthemas unter Einschluß der Geschichte des Vertragswerks und seiner aktuellen Verlautbarungen kann Kirchhofs Worten nur zugestimmt werden. Was die Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen angeht, ist die Rechtslage klarer als je zuvor: Die Gemeinschaft hat keine derartigen Kompetenzen. Das Verlangen nach einer klaren Kompetenzübertragung ist unter demokratischen Gesichtspunkten von großer Bedeutung, weil in den Zustimmungsgesetzen selbst ein Akt demokratischer Legitimation ruht. 466 Es wurde bereits ausführlich dargelegt, daß die Forderung „nulla poena sine lege parlamentaria" zur Sicherstellung der demokratischen Legitimation im Zusammenhang einer europäischen Strafnormgebung nach hier vertretener Ansicht viel zu kurz greift. Es ist irrig, allein aus der Mitzuständigkeit des europäischen Parlaments gemäß Art. 280 Abs. 4 Satz 1

463 464 465 466

BVerfGE 73, 339, 375 ff. Kirchhof, JZ 1998, 965, 966 rechte Spalte. Kirchhof, JZ 1998, 965, 966 rechte Spalte. Vgl. BVerfGE 89, 155, 190f., 199fT.; Folz, Demokratie und Integration, S. 175. Bestätigt in BVerfGE 97, 350, 369 zur Legitimationswirkung des Zustimmungsgesetzes zum MaastrichtVertrag im Zusammenhang mit der Gründung einer Europäischen Währungsunion.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

161

iVm Art. 251 EGV eine umfassende Legitimationswirkung ableiten zu wollen, wenn das Zustimmungsgesetz selbst mangels genügender Erwähnung einer strafrechtsbezogenen Kompetenzübertragung keine Legitimationswirkung zu erzeugen vermag. 8. Ergebnis Nach hier vertretener Auffassung steht der Gemeinschaft in keinem Fall und unter keinem Gesichtspunkt die Befugnis zu, unmittelbar anwendbare Strafnormen zu setzen. Auch wenn diese Ausführungen allein der Betrachtung der gegenwärtigen Kompetenzlage galten und nicht Visionen einer europäischen Strafnormgebung zu entwerfen waren, sei doch an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die Möglichkeiten einer europäischen Strafnormgebung gerichtet: Eine genügende Legitimation kann erzeugt werden, wenn das innerstaatliche Parlament einer fragmentarischen Kompetenzübertragung, die etwa auf eine gemeinschaftsweite Bekämpfung von Betrügereien zum Nachteil des EG-Haushalts zielt, zustimmt. Denn in diesem Zustimmungsakt liegt sodann eine legitimierende Kraft, die auf den europäischen Normsetzungsakt fortwirkt und im Zusammenwirken mit einer Beteiligung des Europäischen Parlaments eine genügende demokratische Legitimation zu vermitteln vermag. Gefordert ist ein enges Verständnis des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung im Sinne des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Dieser Weg bietet eine demokratische Legitimation, und die innerstaatliche Akzeptanz wäre ungleich größer als bei einer Strafnorm, die der innerstaatlichen Rechtsordnung aufgrund einer vage formulierten Vorschrift wie Art. 280 Abs. 4 EGV übergestülpt wird.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage in dem Zusammenspiel der EG-Verordnung mit dem Strafgesetz I. Einleitung Nachdem im ersten Hauptteil dieser Untersuchung die strafrechtlichen Probleme der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien entwickelt wurden, bestand der zweite Hauptteil bis hierhin weitgehend aus rechtstheoretischen Überlegungen. Die Klärung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe und die Erörterung der strafrechtlichen

162

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Kompetenzlage stellen zwei grundlegende Schritte dar, um für das aufgezeigte Problem der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien eine Lösung vorschlagen zu können. Der Versuch, den Grundlagen der Verzahnung des Gemeinschaftsrechts mit dem Strafrecht näherzukommen, läuft jedoch zugleich Gefahr, die konkreten Ausprägungen dieser eigenwilligen Verknüpfung aus dem Blick zu verlieren. Schon bei der Analyse der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht ist diese Gefahr deutlich geworden. Wer rein abstrakt auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu belastenden Folgen der unmittelbaren Wirkung abstellt, dringt zum Problem nicht vor. Es war vielmehr notwendig, möglichst konkret auf Arbeitsschutzvorschriften oder Gewässerschutzrichtlinien abzustellen und sodann den Bogen zum Strafrecht zu schlagen, um die anstehenden Fragen zu erkennen. Ähnlich verhält es sich in der Kompetenzfrage. Sie hat Weiterungen zur Folge, die im Verlauf einer abstrakten Erörterung nicht deutlich werden. Diese Konsequenzen sind rechtlicher und terminologischer Natur. Erkennbar werden sie bei einer näheren Betrachtung der Verbindung der EG-Verordnung mit dem Strafgesetz, die mit diesem Exkurs nicht etwa komplett aufgearbeitet werden soll.467 Es handelt sich bei dieser Verbindung jedoch um die „klassische" Begegnung des Strafrechts mit dem Gemeinschaftsrecht. Sie verdeutlicht, warum es dem Strafrecht aus systematischen und in der Kompetenzfrage wurzelnden Gründen schwerfällt, das Gemeinschaftsrecht im Auge zu behalten. Da es sich bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien um eine der EG-Verordnung „ähnliche Wirkung" 468 handelt, die einer normativen Wirkung praktisch gleichsteht, 469 ist es aus einem weiteren Grund sinnvoll, die Verknüpfung des Strafgesetzes mit derjenigen Normenkategorie des sekundären Gemeinschaftsrechts zu betrachten, die grundsätzlich unmittelbar wirkt. Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV war für Ipsens wegweisendes Referat über das Verhältnis der Rechtsordnungen ein bedeutender Ansatzpunkt. 470 Seine aus Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV gezogenen Folgerungen gingen zwar über die speziellen Probleme der Verordnung hinaus und betrafen weitergehende Erkenntnisse wie die ihrer mitgliedstaatlichen Unantastbarkeit mit der Folge der Nichtanwendbarkeit der lex posterior-Regel.471 Allerdings erwies sich das Verständnis des Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV als bedeutender Ansatzpunkt für seine Sichtweise des Verhältnisses der Rechtsordnungen. 467 468 469 470 471

Grundlegend noch immer: Krey, EWR 1981, 109 ff. EuGH, Urteil vom 4. 12.1974, Rs. 41/74, Ε 1974, 1337, 1348. BVerfGE 75, 223, 241. Η. P. Ipsen, Europarechtliches Kolloquium, S. 20. Η. P. Ipsen, Europarechtliches Kolloquium, S. 21 ff.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

163

Gerade das Verhältnis der EG-Verordnung zum Strafrecht hat aber eine Entwicklung genommen, die den Blick auf das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht eher vernebelt als aufhellt. Dabei hat die Inbezugnahme von Verordnungen durch Straf- oder Bußgeldtatbestände im Nebenstrafrecht ganze Rechtsgebiete erfaßt und kann nicht mehr als exotische Tatbestandsfassung gelten. Gleichwohl zeigen sich dort, wo die Verzahnung des Strafrechts mit dem Gemeinschaftsrecht offenkundig und vom Strafgesetz ausdrücklich angeordnet ist, in der Rechtsanwendung tiefgreifende Schwierigkeiten. Anhand zweier Gebiete des Nebenstrafrechts, die unter starkem Einfluß gemeinschaftsrechtlicher Gesetzgebung gemäß Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV stehen, lassen sich zunächst die Probleme bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts konkret darstellen. Insbesondere das Weinstrafrecht erweist sich als wahre Fundgrube, wenn es gilt, die Probleme der Verbindung nationaler Straftatbestände mit der europarechtlichen Verordnung vorzustellen.

II. Bezugnahmen im Weinstrafrecht Das Weinstrafrecht prägen sogenannte Blankettstrafgesetze. Sie lassen sich allgemein als vor allem im Nebenstrafrecht vorfindbare Strafdrohungen umschreiben, die hinsichtlich der Strafbarkeitsvoraussetzungen auf andere Vorschriften verweisen.472 Je nach Art und Normqualität der in Bezug genommenen Regelung wird zwischen echten und unechten Blankettvorschriften differenziert. Die echten Blankettstrafgesetze zeichnet dabei aus, daß der Gesetzgeber im formellen Gesetz die Strafdrohung festlegt und die tatbestandliche Ausfüllung ganz oder teilweise anderen Organen überläßt. 473 Eine unechte Blankettverweisung liegt vor, wenn bezüglich des Verbotsinhalts ausdrücklich auf eine Ergänzungsnorm verwiesen wird, die 472

473

C. Roxin, AT Band I, § 5 Rn. 40. Weiterhin kann eine Vorschrift auch ohne explizite Nennung einer anderen Norm ihren Blankettcharakter durch sogenannte „Verweisungsbegriffe" erhalten, siehe Eser in: Schönke-Schröder, Vorbem § 1 Rn. 3; zusammenfassende Kritik bei Kühl, Lackner-FS, S. 815ff. Vgl. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 463f.; Karpen, Die Verweisung, S. 95; Satzger, Europäisierung, S. 215ff.; K. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S.94, jeweils mwN. Beispiel: § 184 a StGB, dessen Tatbestand selbst das Merkmal der Beharrlichkeit enthält und im übrigen erst durch das einer Rechtsverordnung zu entnehmende Verbot komplettiert wird. Dabei darf sich der formelle Gesetzgeber freilich nicht selbst entmachten und seiner Aufgabe entledigen, die wesentlichen Voraussetzungen sowie Art und Maß der Strafe selbst festzulegen, BVerfGE 75, 329, 342; BGHSt 42, 219, 221.

164

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

von derselben legislativen Instanz in demselben oder einem anderen Gesetz erlassen wird. 474 So hatte der Bundesgerichtshof in Strafsachen über einen Fall zu befinden, bei dem der Täter Weine mit Prüfnummern in Verkehr gebracht hatte, ohne daß den Weinen eine solche Nummer zuerkannt worden war.475 Zwischen Tatzeitpunkt und Urteilszeitpunkt des Revisionsgerichts war die für eine strafrechtliche Würdigung des Falles maßgebende Rechtslage geändert worden. Die für ein Inverkehrbringen von Erzeugnissen unter irreführender Bezeichnung geltende Vorschrift des Weingesetzes (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 WeinG a. F.) war für das entscheidungserhebliche Erzeugnis Wein nicht mehr einschlägig, da insoweit die Regelung einer gemeinschaftsrechtliche Verordnung Platz gegriffen hatte. 476 Der Straftatbestand (§ 67 Abs. 5 Nr. 2 WeinG a. F.) nahm jedoch ausdrücklich auf die für Wein zum Urteilszeitpunkt nicht mehr einschlägige Vorschrift des Weingesetzes Bezug. Das Strafgesetz verwies folglich für den zu entscheidenden Sachverhalt auf die falsche Vorschrift. Eine dahingehende Auslegung des Straftatbestandes, daß an die Stelle des ausdrücklich genannten § 46 Abs. 2 Nr. 1 WeinG a. F. die europarechtliche Verordnung getreten sei, verwarf der Bundesgerichtshof schon mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. 2 GG, der einen eindeutig bestimmten Straftatbestand fordert. 477 Zugleich betonte das Gericht, daß allein dem deutschen Gesetzgeber die Befugnis zustehe, die Strafnorm der veränderten Rechtslage anzupassen. 478 Hiernach ist es zu einer Vielzahl von Änderungen des Weingesetzes gekommen, von denen vorliegend nur die Reaktion des Gesetzgebers auf die soeben erwähnte Entscheidung des Bundesgerichtshofs von Interesse ist:479 Angesichts der geschilderten Probleme wurde § 67 WeinG a. F. geändert. Nach § 67 Abs. 1 Nr. 2 WeinG a. F.480 wurde bestraft, wer für ein Erzeugnis entgegen § 46 Abs. 1 bis 3 WeinG a. F. oder einer in Anlage 1 Abschnitt II aufgeführten Vorschrift der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit irreführenden Bezeichnungen, Hinweisen, sonstigen Angaben oder Aufmachungen zum Gegenstand Werbung machte. § 69 a WeinG a. F. ergänzte diesen Regelungsmechanismus dahingehend, daß sich Verweisungen des Gesetzes auf Vorschriften der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf die in Anlage 4 angegebenen Fassungen beziehen.

474 475 476 477 478 479

480

Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 464; Karpen, Die Verweisung, S. 89. BGHSt27, 181. Siehe im einzelnen bei BGHSt 27, 181 f. BGHSt 27, 181, 182. BGHSt 27, 181, 182. Zu den verschiedenen Änderungen ausführlich Volk in: Erbs/Kohlhaas, Weingesetz, Vorbemerkung, Rn. 1 ff. Hinweis: Die Strafvorschriften des Weingesetzes finden sich jetzt in §§ 48, 49 WeinG.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

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Ein Musterbeispiel für die daraus resultierenden Probleme ist einer Entscheidung des BayObLG zu entnehmen. 481 Dem Angeklagten war vorgeworfen worden, mittels eines im Oktober 1989 versandten Werbeschreibens den Tatbestand der irreführenden Werbung gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 2 WeinG a. F. iVm Art. 40 VO (EWG) Nr. 2392/89 482 verwirklicht zu haben. Diese Verordnung trat gemäß ihrem Art. 46 Abs. 1 im September 1989, also vor der Tat, in Kraft. Art. 46 Abs. 2 der Verordnung erklärte ihre Verbindlichkeit und unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat. Art. 45 Abs. 1 ordnete die Aufhebung der bis dahin geltenden VO (EWG) Nr. 355/79483 und ferner an, daß Bezugnahmen auf die aufgehobene Verordnung als Bezugnahmen auf die „neue" Verordnung gelten (vgl. Art. 45 Abs. 2 der VO Nr. 2392/89).484 Die Angleichung des innerstaatlichen Rechts trat im April 1990 in Kraft. 485 Obwohl beide Verordnungen jeweils Irreführungsverbote regelten und das Verhalten des Angeklagten nach Auffassung des Gerichts jedes der Verbote verletzte,486 sah das BayObLG die Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung als nicht strafbewehrt an. Das Gericht sah sich zunächst gehindert, eine Verurteilung auf § 67 Abs. 1 Nr. 2 WeinG a. F. iVm der alten VO Nr. 355/79 zu stützen. Zwar führte das Weingesetz in seinen Anlagen die alte VO Nr. 355/79 noch als einschlägiges Irreführungsverbot auf, doch diese Verordnung war durch die neue VO Nr. 2392/89 aufgehoben worden. Zwischen den nach dem Wortlaut des Weingesetzes einschlägigen und den gemeinschaftsrechtlich tatsächlich geltenden Irreführungsverboten bestand folglich ein Widerspruch. Das Gericht lehnte es ab, die Verbotsvorschrift der alten VO Nr. 355/79 als blankettausfüllende Norm heranzuziehen. Zwar sei es grundsätzlich denkbar, daß der Gesetzgeber auf eine nicht mehr in Kraft befindliche Norm verweise.487 Für die „nationale Durchführungsgesetzgebung" sei jedoch davon auszugehen, „daß ihre Funktion an den Bestand des Gemeinschaftsrechts geknüpft ist". 488 Im konkreten Fall kam hinzu, daß sich der Regelungsinhalt der einschlägigen Verbotsnormen der Verordnungen nicht vollends deckte, was eine Norminkongruenz zwischen der vom Blankettstrafgesetz genannten und der sachlich481 482 483 484

485

486 487 488

BayObLGSt 1992, 121 ff. Vom 24.7.1989, Abi. Nr. L 232, S. 13. Vom 5.2.1979, Abi. Nr. L 54, S. 99. Anhand einer Übersicht kann im Einzelfall ermittelt werden, welche Norm der Verordnung an die Stelle einer Regelung der aufgehobenen Verordnung tritt. Auch für die hier fraglichen Verbotstatbestände findet sich ein solcher Verweis. Erste Verordnung zur Anpassung des Weingesetzes an Änderungen des Gemeinschaftsrechts vom 26.3.1990, BGBl. I, S. 600. BayObLGSt 1992, 121, 123. BayObLGSt 1992, 121, 124. BayObLGSt 1992, 121, 124; so auch OLG Köln NJW 1988, 657, 658.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

rechtlichen Regelung des zur Tatzeit geltenden Gemeinschaftsrechts zur Folge hatte. 489 Der gegebene Verstoß gegen die neue und zur Tatzeit geltende VO Nr. 2392/89 vermochte die Strafbarkeit des Angeklagten ebenfalls nicht zu begründen. 490 Eine Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Verordnungsvorschrift käme nur dann in Betracht, „wenn ihr - ohne entsprechende Anpassung des innerstaatlichen Rechts in Bezug auf die Sanktion von Verstößen gegen die Verbotsnorm unmittelbare Geltung zukäme", was zu verneinen sei.49' Daran ändere auch Art. 45 Abs. 2 der neuen VO(EWG) Nr. 2392/89, wonach Bezugnahmen auf die aufgehobene Verordnung als Bezugnahmen auf diese neue Verordnung gelten, nichts. Diese Vorschrift reiche als ausreichende Verweisungs- und Ubergangsnorm auf innerstaatliches Sanktionsrecht schon deshalb nicht aus, weil der Gemeinschaft insoweit keine Ahndungskompetenz zustehe, die vielmehr beim nationalen Gesetzgeber verblieben sei.492 An dieser Stelle treten die praktischen Konsequenzen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage deutlich hervor. Die Vorinstanz muß in ihrem nicht veröffentlichen Urteil anderer Meinung gewesen sein. Denn die alte VO Nr. 355/79 war zum Tatzeitpunkt aufgehoben und dem Urteil des BayObLG ist zu entnehmen, daß die Strafkammer des Landgerichts bei ihrer Entscheidung Art. 40 der neuen VO(EWG) Nr. 2392/89 angewandt hat, 493 was nur Sinn macht, wenn sie der Verweisung nach Art. 45 Abs. 2 der VO Nr. 2392/89 gefolgt ist. Während also das BayObLG vertritt, einer Verordnung komme ohne entsprechende Anpassung des nationalen Rechts in Bezug auf Sanktionsnormen keine unmittelbare Geltung zu, hat die Vorinstanz ihrer Verurteilung gerade die Vorschriften zugrunde gelegt, denen das BayObLG die unmittelbare Geltung abspricht. Es gehört zwar zum Rechtsalltag, daß verschiedene Instanzen Gesetze unterschiedlich auslegen und anwenden oder Beweise abweichend würdigen. Gerade im Strafrecht muß aber Einigkeit darüber herrschen, ob eine Norm, die in Verbindung mit einem Strafgesetz zum Freiheitsentzug führen kann, überhaupt anwendbar ist. Höchst unterschiedliche Deutungen dieser komplizierten Verzahnung der Verordnung nach Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV mit dem Blankettstrafgesetz

489

490

491 492 493

BayObLGSt 1992, 121, 124. Eine Gegenüberstellung der Verbotsnormen ist BayObLGSt 1992, 121, 122f. zu entnehmen. Die Vorinstanz hatte die Verurteilung u. a. auf § 67 Abs. 1 Nr. 2 WeinG a. F. iVm Art. 40 VO Nr. 2392/89 gestützt, siehe BayObLGSt 1992, 121, 122. BayObLGSt 1992, 121, 124. BayObLGSt 1992, 121, 124 unter Berufung auf BGHSt 25, 190, 193 f. BayObLG St 1992,121, 122. Auch das Amtsgericht hat den Angeklagten in erster Instanz verurteilt.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

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lassen sich anhand eines weiteren Fallbeispiels nachweisen, wobei es Bände spricht, daß das Bundesverfassungsgericht mit einer Fallkonstellation konfrontiert wurde, die offen zutage treten läßt, welche Probleme die Verzahnung des Strafrechts mit dem Gemeinschaftsrecht nicht nur der Rechtsprechung, sondern auch dem Gesetzgeber bereitet.

III. Bezugnahmen im Fahrpersonalgesetz Die vorstehend beschriebene Gesetzgebungstechnik fand sich auch in den Bußgeldtatbeständen der §§ 7 a, 7 b a. F. FPersG, die ebenfalls Verordnungen in Bezug nahmen. 494 Hier sah sich das Bundesverfassungsgericht 495 einer Sachverhaltskonstellation gegenüber, bei der sich die soeben am Beispiel des Weinstrafrechts beschriebenen Probleme zwar in einem anderen Gewand zeigten, jedoch letztlich infolge der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage auf den Wettlauf des nationalen Gesetzgebers mit der europäischen Normgebung zurückzuführen sind. In dem besagten Fall waren die Betroffenen für einen Verstoß gegen die in einer europarechtlichen Verordnung 496 und dem AETR 4 9 7 vorgesehenen Tageshöchstlenkzeiten und Tagesmindestruhezeiten für Kraftfahrer verantwortlich, auf die zum Tatzeitpunkt vom nationalen Bußgeldtatbestand verwiesen wurde.498 Gegen die hierauf erlassenen Bußgeldbescheide legten die Betroffenen Einspruch ein. Sodann trat die bis dahin geltende Verordnung außer Kraft und wurde durch eine neue Verordnung ersetzt, 499 wobei das Verhalten der Betroffenen gegen in beiden Verordnungen enthaltene Verbote verstieß. 500 494 495

496

497

498

499

500

Heute ist § 8 FPersG der einschlägige Bußgeldtatbestand. BVerfGE 81, 132ff. (= NStZ 1990, S. 238f.); dazu auch Achenbach, NStZ 1991, 409f. und Moll, Europäisches Strafrecht, S. 16 ff. Von Interesse ist vor allem das den Verfassungsbeschwerden vorhergehende Bußgeldverfahren. Diese Entscheidungen wurden zwar nicht veröffentlicht, können jedoch der ausführlichen Sachverhaltsschilderung des Bundesverfassungsgerichts entnommen werden. VO (EWG) Nr. 543/69 vom 25.3.1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, Abi. Nr. L 77, S. 49. AETR = Europäisches Übereinkommen über die Arbeit im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals i. d. F. vom 31.7.1985, BGBl. II, 89. Hinsichtlich der hier nicht zu vertiefenden Rechtsgrundlagen sei wegen der Einzelheiten auf BVerfGE 81, 132, 133 f., verwiesen. VO (EWG) Nr. 3820/85 vom 20.12.1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, Abi. Nr. L 370, S. 1. Zu den einzelnen Verboten vgl. die Sachverhaltsschilderung in BVerfGE 81, 132, 133 f. Auf die Wiedergabe der einzelnen Verbotsinhalte wird hier aus Gründen der besseren Verständlichkeit abgesehen, da der Verstoß gegen die einschlägigen Normen im Zuge dieser Darstellung unterstellt werden kann.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Der nationale Gesetzgeber war jedoch mit der Anpassung der nationalen Gesetzeslage wieder einmal in Verzug geraten. Wie auf dem Gebiet des Weinstrafrechts war das bundesdeutsche Recht erst verspätet der Neufassung der normkonkretisierenden Vorschriften angepaßt worden. 501 Als jedoch das Amtsgericht über den Einspruch der Betroffenen verhandelte, war das nationale Gesetz mittlerweile der neuen europarechtlichen Rechtslage angepaßt worden. Auf diese Gesetzeslage stützte das Amtsgericht seine Verurteilung. 502 Mit der dagegen gerichteten Rechtsbeschwerde rügten die Beschwerdeführer, daß eine Ahndung ihrer Taten gemäß § 4 Abs. 3 OWiG ausgeschlossen sei. § 4 Abs. 3 OWiG schreibt wie § 2 Abs. 3 StGB für den Fall, daß das bei Beendigung der Tat geltende Gesetz vor der gerichtlichen Entscheidung geändert wird, die Anwendung des mildesten Gesetzes vor. Die Beschwerdeführer hoben in ihrer Argumentation die Änderung der Rechtslage hervor, nach der die zur Tatzeit geltende EG-Verordnung im September 1986 außer Kraft getreten und der an diese Verordnung anknüpfende Bußgeldtatbestand erst im Dezember 1986 der neuen EG-Verordnung angepaßt worden war. In der Zwischenzeit seien Verstöße gegen die gemeinschaftsrechtlichen Lenk- und Ruhezeitvorschriften nicht verfolgbar gewesen, mithin sei dieser Rechtszustand das mildeste Gesetz. 503 Die Staatsanwaltschaft beantragte in diesem Bußgeldverfahren die Verwerfung der Rechtsbeschwerde als offensichtlich unbegründet. Sie trug gegenüber dem HansOLG vor, gemäß Art. 18 Abs. 2 VO(EWG) Nr. 3820/85 seien Bezugnahmen auf die VO(EWG) Nr. 543/69 als Bezugnahmen auf die neue Verordnung, also die VO(EWG) Nr. 3820/85 anzusehen. Somit könne von einer Ahndungslücke nicht ausgegangen werden.504 Folglich ging die Staatsanwaltschaft davon aus, allein dieser Verweis genüge, um die Anwendbarkeit der einschlägigen Verbotsnorm der VO(EWG) Nr. 3820/85 für den Blankettstraftatbestand herzustellen. Das erkennende HansOLG verwarf die Rechtsbeschwerden mit der Begründung, die Nachprüfung des Urteils habe aufgrund des Vorbringens der Beschwerdeführer keinen Fehler zu ihrem Nachteil ergeben. Eine weitere Begründung enthielt der Beschluß nicht. 505 Welche Tragweite die aus dem geschilderten Antrag der Staatsanwaltschaft sprechende Rechtsauffassung konkret hat, deutet sich erst im Lichte der fraglichen Verordnungen an. In der Sache wichen die Regelungen der VO(EWG) Nr. 3820/85

501 502 503 504 505

Achenbach, NStZ 1991, 409f. Vgl. BVerfGE 81, 132, 133. Vgl. BVerfGE 81, 132, 133. Vgl. BVerfGE 81, 132, 134. Siehe BVerfGE 81, 132, 134.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

169

gegenüber der VO(EWG) Nr. 543/69 erheblich, teilweise zu Lasten etwaiger Betroffener, ab.506 Dieser Verfahrensweise gänzlich entgegengesetzt und sachlich zutreffend verlief die Prüfung des Problems der nicht rechtzeitigen Anpassung des Fahrpersonalgesetzes in einem anderen Bußgeldverfahren vor dem OLG Köln.507 Das Gericht erkannte in der nicht rechtzeitigen Anpassung des Blankettgesetzes eine Ahndungslücke und sprach den Betroffenen im Beschlußwege frei, da es den Umstand, daß der in Rede stehende Verstoß zeitweise nicht bußgeldbewehrt war, im Ergebnis als Fall des § 4 Abs. 3 OWiG wertete.508 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis des OLG Köln. 509 Selbst in der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes wird ausgeführt, die Neuregelung weiche nach Systematik und Artikelfolge derart von der alten Regelung ab, daß es fraglich erscheine, ob die im Fahrpersonalgesetz enthaltenen Bezugnahmen auf die bisherige EWG-Regelung noch als Rechtsgrundlage für Überwachungs- und Ahndungsmaßnahmen ausreichen. 510 Das Bundesverfassungsgericht beschränkte sich in seiner Uberprüfung der mittels der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des HansOLG auf die Fragestellung, ob die Verhängung von Strafe oder Bußgeld das Art. 103 Abs. 2 G G zu entnehmende Rückwirkungsverbot verletzt. Nach dieser Vorschrift kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Sie verbietet nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwar die rückwirkende Strafbegründung oder Strafverschärfung, besagt aber nichts über den Zeitraum, während dessen eine in verfassungsgemäßer Weise für strafbar erklärte Tat verfolgt werden darf. 511 Art. 103 Abs. 2 G G wolle die Bestrafung aufgrund eines Gesetzes verhindern, das zur Zeit der Tat noch nicht in Kraft war, also dem Täter noch nicht bekannt sein konnte. 512 Somit verletze die Verhängung von Strafe oder Geldbuße das Rückwirkungsverbot

506

507 508 509 510

511 512

Von einer Aufzählung dieser Änderungen wird hier abgesehen. Siehe dazu: OLG Köln, NJW 1988, 657, 658, rechte Spalte, mwN. OLG Köln, NJW 1988, 657ff. OLG Köln, NJW 1988, 657. OLG Köln, NJW 1988, 657, 659. BT-Dr. 10/5975, S. 5. Siehe ferner OLG Köln, NJW 1988, 657, 659. Das Gericht zitiert ein Fernschreiben des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen an betroffene Dienststellen, das mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot und das Analogieverbot anrät, bis zum Inkraftreten der Änderungen zum Fahrpersonalgesetz keine Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Verstoßes gegen die neuen EG-Verordnungen aufgrund des Fahrpersonalgesetzes durchzuführen. BVerfGE81, 132, 135. BVerfGE81, 132, 135.

170

2. H a u p t t e i l : Das Verhältnis des Strafrechts z u m Gemeinschaftsrecht

des Art. 103 Abs. 2 G G nicht schon deshalb, weil eine Tat in der Zeit zwischen ihrer Begehung und der Entscheidung vorübergehend nicht mit Strafe oder Geldbuße bedroht war.513 Damit bewegt sich das Bundesverfassungsgericht auf der Linie früherer Entscheidungen, in denen es das Bestimmtheitsgebot, das Analogieverbot, das Rückwirkungsverbot und den Ausschluß strafbegründenden Gewohnheitsrechts mit dem Gedanken verknüpft, daß jedermann vorhersehen können soll, welche Handlung strafbar ist und wie sie bestraft wird. 514 Da in der zur Entscheidung anstehenden Problematik die Handlung im Zeitpunkt der Tat und der gerichtlichen Entscheidung jeweils bußgeldbewehrt war, lag für das Bundesverfassungsgericht keine Verletzung des Art. 103 Abs. 2 G G vor.515 Ob § 4 Abs. 3 OWiG der Ahndung entgegenstand, sei keine Frage des Rückwirkungsverbots, sondern eine Frage der Auslegung und Anwendung im Range unter der Verfassung stehenden Rechts.516 Die in der Entscheidung des HansOLG mangels Begründung nebulös bleibende Prüfung des § 4 Abs. 3 OWiG verstößt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht gegen den Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als Willkürverbot. Ein solcher Verstoß werde nicht schon durch eine zweifelsfrei fehlerhafte Entscheidung begründet. Vielmehr müsse die Gesetzesanwendung unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sein und die Folgerung aufdrängen, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. 517 Zwar enthielten die angegriffenen Entscheidungen keinen Hinweis darauf, aus welchen Gründen die Gerichte die verspätete Anpassung des Fahrpersonalgesetzes an die VO(EWG) Nr. 3820/85 abweichend von der einhelligen Meinung in Rechtsprechung und Literatur 518 nicht zum Anlaß nahmen, die Ahndung der Handlungen im Hinblick auf § 4 Abs. 3 OWiG für ausgeschlossen zu erachten. Da jedoch § 4 Abs. 3 OWiG im Rechtsbeschwerdeverfahren angesprochen wurde, sei nicht auszu513

514 515 516

517 518

BVerfGE 81, 132,135. Vgl. aber die Kritik von Grünwald, Arth. Kaufmann-FS, S. 433,436f., der in dem Gesetzlichkeitsprinzip auch eine objektive Festlegung der Grenzen der Strafgewalt erblickt und für die Erstreckung des Rückwirkungsverbots auf die vorliegende Fallkonstellation plädiert, da der Gesetzgeber nicht die Möglichkeit haben dürfe, eine Milderung des Strafgesetzes wieder rückgängig zu machen, um bereits vor der Milderung begangene Taten wieder schärfer ahnden zu können. BVerfGE 14, 245, 251; 25, 269, 285; 26, 41,42; 71, 108, 114f.; 73, 206, 234ff. BVerfGE 81, 132, 136. BVerfGE 81, 132, 136f. Dagegen wiederum Grünwald, Arth. Kaufmann-FS, 433, 434f. mwN, der darlegt, daß in der Literatur § 2 Abs. 3 StGB und § 4 Abs. 3 OWiG nicht nur als einfachgesetzliche Vorschriften, sondern als verfassungsrechtlich gebotene Folgerungen aus dem Rückwirkungsverbot gedeutet werden. BVerfGE 81, 132, 137. Siehe die Nachweise in BVerfGE 81, 132, 137.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

171

schließen, daß für das Oberlandesgericht die Erwägung bestimmend gewesen sei, § 4 Abs. 3 OWiG betreffe nicht den Fall einer durch Säumnis des Gesetzgebers entstandenen Ahndungslücke. Das sei eine möglicherweise fehlerhafte, aber noch nachvollziehbare Gesetzesanwendung, die nicht den Schluß zulasse, die Entscheidung beruhe auf sachfremden Erwägungen. 519 Im Ergebnis reichte der grobe Prüfungsmaßstab des Willkürverbots dem Bundesverfassungsgericht also nicht, um die Entscheidung des HansOLG aufzuheben, da das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer noch nachvollziehbaren Erwägung des HansOLG sah. 520 Unter dem Blickwinkel der vorliegenden Untersuchung zeigt dieser Fall eine weitere Problematik auf, die das Bundesverfassungsgericht nicht thematisiert. Völlig unterschiedliche Wertungen des Verhältnisses des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht treten zutage. Die Staatsanwaltschaft vertrat im Rechtsbeschwerdeverfahren die Meinung, gemäß Art. 18 Abs. 2 der VO(EWG) Nr. 3820/85 seien Bezugnahmen auf die alte VO(EWG) Nr. 543/69 als Bezugnahmen auf die neue VO(EWG) Nr. 3820/85 anzusehen. Daher könne nicht von einer Ahndungslücke ausgegangen werden. 521 Das ist ein hier bedeutender Gesichtspunkt. Für die Staatsanwaltschaft stellte sich im Gegensatz zu den genannten Entscheidungen des OLG Köln und des Bundesverfassungsgerichts die Frage des § 4 Abs. 3 OWiG nicht. Sie ging von der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit dieser Verweisung aus und zog die Schlußfolgerung, es sei keine Ahndungslücke entstanden. 522 519

520

521 522

BVerfGE 81, 132, 137f. Diese gegenüber dem H a n s O L G wohlwollende Würdigung sollte freilich nicht verallgemeinert werden. Denn grundsätzlich ist es im Lichte der Gewaltenteilung fraglich, ob der Strafrichter als A r m der Judikative die Kompetenz zur Beantwortung der Frage haben sollte, ob ein gesetzgeberischer Sinneswandel oder ein Fall gesetzgeberischer Säumnis vorliegt. Ahndungslücken können auch auf wechselnde politische Mehrheiten oder eine wankelmütige Kriminalpolitik zurückzuführen sein. Die Aussagekraft der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darf in dieser Hinsicht aber auch nicht überschätzt werden, da es ja überhaupt kein die Strafbarkeit aufhebendes Gesetz des zuständigen Souveräns gab. Diese Entscheidung darf nicht mißverstanden werden: D a s Bundesverfassungsgericht hat die Verurteilung bei zeitweiliger Nichtbebußung nicht gebilligt. Ein solches Verständnis der Entscheidung wäre unzutreffend. D a nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kein Verstoß gegen das Verfassungsrecht vorlag und es sich im übrigen bei der Prüfung des § 4 Abs. 3 OWiG um einfaches Gesetzesrecht handelte, wurde das Gericht in diesem Fall nicht als „Superrevisionsinstanz" tätig; wie hier Achenbach, N S t Z 1991, 409, 410. Den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts kann keinesfalls eine Billigung der Sachentscheidung zu § 4 Abs. 3 OWiG entnommen werden. Vgl. BVerfGE 81, 132, 134. Dem völlig entgegengesetzt vertritt das O L G Koblenz, N S t Z 1989, 188f., die Auffassung, d a ß eine Bestrafung schon bei Änderungen redaktioneller Natur und unverändertem Verbotsinhalt das Bestimmheitsgebot verletzt; zu dieser Entscheidung siehe Achenbach, NStZ 1991, 409. Dort auch zu O L G Stuttgart, N J W 1990, 657 f., in einem Fall, in dem das deut-

172

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Diese Sichtweise hat sich freilich nicht durchgesetzt. Vielmehr wird in der Spruchpraxis der Oberlandesgerichte die Strafbewehrung tatbestandsmäßiger Verstöße jedenfalls dann einheitlich verneint, wenn eine neue EG-Verordnung erlassen wird, die im Vergleich mit der vom Blankettstrafgesetz noch in Bezug genommenen Verbotsregelung sachliche Änderungen zu Lasten des Täters mit sich bringt.523 Das verdient uneingeschränkte Zustimmung. Wer den Verweisungen in einer EG-Verordnung auch aus strafrechtlicher Sicht unbesehen folgt, gesteht der Gemeinschaft im Ergebnis eine verkappte Strafrechtssetzungskompetenz zu. Das kommt zwar nicht in als solchen bezeichneten Strafnormen zum Ausdruck, doch die Ergebnisse gleichen sich. Denn die Umschreibung dessen, was strafbar sein soll, wird in der Technik der Blankettstrafgesetzgebung ganz oder in weiten Teilen der Ausfullungsnorm überlassen. Das Blankett ist gleichsam eine leere Hülse, in die das Unrecht beschreibende Ausfüllungsnormen schlüpfen. Wenn den Verweisungen in einer EG-Verordnung auch aus strafrechtlicher Sicht vorbehaltlos zu folgen wäre, könnten die Ausfüllungsnormen beliebig umgestaltet werden. Das liefe in den betroffenen Rechtsgebieten im Ergebnis auf eine versteckte Verschiebung der Kompetenzen hinaus.

IV. Konsequenzen für die Gesetzgebung Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von einer Säumnis des Gesetzgebers524 und deutet damit für den von ihm zu entscheidenden Fall an, was auch für die verzögerte Anpassung des Weinstrafrechts gilt. In beiden Fällen hat der deutsche Gesetzgeber nicht im Ansatz erwogen, die Überschreitung von Lenkzeiten oder irreführende Aufmachung von Weinen frei von Buße oder Strafe zu stellen. Wenn die Rechtsprechung die Strafbewehrung entsprechender „Verstöße" verneint und in Anbetracht der Kompetenzlage auch verneinen muß, führt das zu einer atemlosen und von gemeinschaftsrechtlicher Normgebung gehetzten Gesetzgebungsaktivität. Das komplizierte Geflecht aus nationaler Strafgesetzgebung und unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht führt dazu, daß Straffreiheit eintreten kann, obwohl das Gemeinschaftsrecht dies nicht verlangt und der nationale Gesetzgeber auch niemals mit dem Gedanken gespielt hat, die fragliche Strafbewehrung

523

524

sehe Strafrecht eine Behandlung von Wein unter Bezugnahme auf eine Verordnung noch unter Strafe stellte, obwohl diese Behandlung infolge einer neuen Verordnung grundsätzlich zulässig war. BayObLGSt 1992,121,125; OLG Köln, NJW 1988,657ff.; OLG Stuttgart, NJW 1990,657f. (= NStZ 1990, 88 f.). Noch weitergehender: OLG Koblenz, NStZ 1989, 188 f. BVerfGE81, 132,138.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

173

aufzuheben. Gleichwohl sieht er sich gezwungen, die Strafbewehrung bestimmter Verbotsverstöße zu wiederholen. Er muß die Überschreitung von Lenkzeiten erneut bebußen und die irreführende Aufmachung von Weinen abermals unter Strafe stellen, obwohl das der Sache nach in früheren Gesetzgebungsverfahren längst geschehen ist. Diese Feststellung stimmt nachdenklich. Der kriminalpolitisch gebildete und vom Parlament in Gesetzesform gegossene Wille wird regelrecht ausgehebelt. Als strafwürdig erachtete Handlungen werden ohne sein Zutun wieder straflos. Erklärt es abermals die Strafbarkeit und dokumentiert seinen Willen durch ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren, kann dieser durch eine zwischenzeitliche Rechtssetzungsaktivität der für das Strafrecht unzuständigen Gemeinschaft bereits in Kürze wieder zur Makulatur werden. Das Zusammenspiel zwischen Gemeinschaftsrecht und Strafrecht fordert auch in diesem Punkt ein neues Denken. Schon bei der Frage nach der demokratischen Legitimation des Strafgesetzes hat es sich eher als hinderlich erwiesen, die Forderung „nulla poena sine lege parlamentaria" vorbehaltlos auf die europäische Ebene zu spiegeln. Die Inhalte solcher Begriffe wandeln sich im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang. Hier trügt der vom Begriff des Souveränitätsvorbehalts vermittelte Eindruck. So richtig der Hinweis auf diese Kompetenzschranke auch ist, so falsch ist die damit möglicherweise verknüpfte Assoziation, strafrechtlich bliebe alles beim alten. Denn im formellen Strafgesetz ruht nicht nur die Legitimation zur Androhung und Verhängung von Strafe, sondern der Wille und der gesellschaftliche Konsens, bestimmte Verhaltensweisen sanktioniert zu wissen. Wie soeben gezeigt, lief dieser Wille auch in Fällen leer, in denen das Gemeinschaftsrecht die Straflosigkeit nicht wollte und keinen die Strafnorm verdrängenden Anwendungsvorrang entfaltete. Es war gewiß kein Gewinn und lief dem gesellschaftlichem Konsens diametral zuwider, wenn es den Fahrern von Lastkraftwagen möglich war, die zulässigen Lenkzeiten zu überschreiten, ohne in die Gefahr einer Ahndung der Verstöße zu geraten. Eine Abspaltung der strafrechtlichen Kompetenzen vom Gemeinschaftsrecht bietet keine durchgängige Gewähr für die Wahrung des parlamentarisch geäußerten Willens. So schwierig wie die Analyse der Probleme ist auch ihre Lösung. Hier waren nur die Konsequenzen der kompetenzrechtlichen Spaltung aufzuzeigen, die bei einer abstrakten Diskussion der Kompetenzfrage nur zu leicht außer acht gelassen werden. Ob der vom Gesetzgeber in Gestalt einer Ermächtigung des innerstaatlichen Rechtsverordnungsgebers zur Anpassung der Strafnorm an die jeweils geänderte gemeinschaftsrechtliche Rechtslage der richtige Weg ist,525 soll hier nicht mehr 525

Kritisch Dannecker, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts, S. 177 f.

174

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

diskutiert werden. Dabei handelt es sich um eine sehr spezielle und vielschichtige Frage der Verknüpfung des Strafgesetzes mit der EG-Verordnung, die das Richtlinienthema verläßt.

V. Konsequenzen für die Ausdeutung der Einwirkung unmittelbar anwendbaren Sekundärrechts auf das Strafrecht Aufschlußreich ist aber noch, wie die Kompetenzfrage auf die strafrechtliche Rechtsanwendung und Terminologie ausstrahlt. Die vor dem Hintergrund der kompetenzrechtlichen Spaltung unvermeidbare, aber eigenartige Verzahnung von Straftatbeständen mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht muß als ein Grund für die in der Strafrechtspraxis aufgetretenen Irritationen angesehen werden. Wenn die Rechtsprechung die Strafbewehrung von Verstößen gegen EG-Verordnungen jedenfalls dann einheitlich verneint, wenn der gemeinschaftsrechtliche Rechtssetzungsakt sachliche Änderungen in der vom Blankettstrafgesetz in Bezug genommenen Verbotsregelung vorgenommen hat, liegt die Schlußfolgerung nahe, trotz nicht bestreitbarer Irritationen 526 habe sich eine einheitliche Sichtweise des Verhältnisses des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht durchgesetzt. Die Urteilsbegründungen bestärken diese Ansicht. Alle Entscheidungen geben den Hinweis auf die mangelnde Gesetzgebungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts und stellen damit auf den entscheidenden Gesichtspunkt ab,527 den auch der Bundesgerichtshof in anderem Zusammenhang in letzter Zeit erneut hervorgehoben hat. 528 Aber gerade diese komplizierte Verknüpfung des Strafrechts mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht kann Fehldeutungen nach sich ziehen. So führt das BayObLG in seiner oben referierten Entscheidung aus, die Anwendung der neuen Verordnung käme nur dann in Betracht, „wenn ihr - ohne entsprechende Anpassung des innerstaatlichen Rechts - auch in Bezug auf die Sanktion von Verstößen gegen die Verbotsnorm unmittelbare Geltung zukäme", was zu verneinen sei.529 Daran ändere auch die in der neuen Verordnung enthaltene Verweisungsnorm nichts, da der Gemeinschaft insoweit keine Ahndungskompetenz zustehe.530 526

527

528 529 530

Nochmals sei auf die von BVerfGE 81, 132, 134 erwähnte Stellungnahme der Staatsanwaltschaft und die BayObLGSt 1992, 121, 122 zu entnehmenden Entscheidungen der Vorinstanzen verwiesen. BayObLGSt 1992,121, 125; OLG Köln, NJW 1988, 657ff.; OLG Stuttgart, NJW 1990, 657f. (= NStZ 1990, 88 f.). BGHSt 41, 127, 131 f., im Zuge einer Prüfung des § 34 AWG. BayObLGSt 1992, 121, 124 (Hervorhebungen im Original). BayObLGSt 1992, 121, 124.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

175

Nunmehr schließt sich der Kreis zu den oben getätigten Aussagen über die Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts. Erinnert sei an Ipsens wegweisende Gedanken über das Wesen der EG-Verordnung. Sie repräsentiert gleichsam die Fähigkeit des Gemeinschaftsrechts, in der Gemeinschaft einheitlich zu gelten.531 Das BayObLG führt dagegen aus, der fraglichen Verordnung komme in Bezug auf die Sanktion von Verstößen keine unmittelbare Geltung zu. Die unmittelbare Geltung eines EG-Verordnungstatbestandes wird vom BayObLG aus strafrechtlicher Sicht in eine Abhängigkeit mit seiner ordnungsgemäßen Einbindung in die Sanktionsnormen des Weingesetzes gebracht. Ob eine gemeinschaftsrechtliche Verordnung unmittelbar gilt, ist aber nicht nach dem jeweiligen Rechtsgebiet zu beurteilen und beantwortet sich für das Strafrecht nicht anders als für das Verwaltungsrecht. 532 Bei genauem Hinsehen will das BayObLG der Verordnung auch nicht die Geltung absprechen. Das Gericht will die Nichtanwendbarkeit der Verordnung aufgrund der fehlenden oder verspäteten Inbezugnahme durch den Strafgesetzgeber zum Ausdruck bringen. 533 Genau das ist der Punkt: Bei Lichte besehen teilt die europarechtliche Verordnung in den beschriebenen Fällen durch die nicht gehörige Inbezugnahme lediglich das Schicksal einer Vorschrift des innerstaatlichen Rechts. Die vom Strafgesetzgeber unterlassene Einbindung einer Verordnung in die Bezugsnormen eines Blankettstrafgesetzes führt wie bei einer geltenden, aber nicht ordnungsgemäß eingebundenen Vorschrift des nationalen Rechts dazu, daß die Strafbarkeit im Zeitpunkt ihrer Begehung im Sinne des Art. 103 Abs. 2 G G gesetzlich nicht eindeutig bestimmt war.534 Deswegen verliert die außerstrafrechtliche Norm aber nicht ihre Geltung. Niemand käme auf die Idee, einer außerstrafrechtlichen Norm des nationalen Rechts die Geltung abzusprechen, nur weil sie von keinem der zahlreichen Strafblankette erwähnt wird. Die aus dem Urteil des BayObLG abzulesenden terminologischen Unsicherheiten finden sich in einem Urteil des O L G Stuttgart in einem anderem Gewand. Das Gericht führt aus, daß es bei einer Änderung der blankettausfüllenden Gemeinschaftsvorschriften deren ausdrücklicher Aufnahme in die Anlagen des Weingesetzes bedurft hätte, um den Blankettatbestand des § 67 Abs. 1 Nr. 1 WeinG 531 532

533

534

Η. P. Ipsen, Europarechtliches Kolloqium, S. 21. Die Frage, ob eine das außerstrafrechtliche Verbot umschreibende Norm ordnungsgemäß mit dem Strafgesetz verknüpft wurde, ist keine Geltungsfrage. Das Gericht gebraucht also den Begriff der Geltung im Sinne der Anwendbarkeit. Indes handelt es sich bei der innerstaatliche Geltung und innerstaatlichen Anwendbarkeit um zwei verschiedene Sachverhalte, ausführlich oben 2. Hauptteil Α. I. 1. a. bis g. Vgl. OLG Koblenz, NStZ 1989, 188 f. Diesem Urteil ging ein erstinstanzlicher Schuldspruch gemäß § 67 WeinG a.F. iVm einer zwar unmittelbar geltenden, wiederum nicht rechtzeitig in das Normengefüge eingepaßten Verordnung voraus.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

a. F. an das geänderte Gemeinschaftsrecht anzupassen. Nur dem deutschen Gesetzgeber, nicht dem EG-Verordnungsgeber, stehe diese Befugnis zu. § 69 a WeinG a. F. bringe diesen Transformationsvorbehalt des deutschen Gesetzgebers zum Ausdruck. 535 So richtig die Aussage über die Zuständigkeit der innerstaatlichen Gesetzgebungsorgane hinsichtlich der Entscheidung über die Strafbarkeit einer Handlung auch ist, so fragwürdig ist die verwendete Terminologie. Schon die Verwendung des Begriffes vom Transformationsvorbehalt ist in diesem Zusammenhang irreführend. Verordnungen nach Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV bedürfen keiner Transformation. Sie gelten und wirken auch für das Strafrecht unmittelbar. Die nationale Gesetzgebung darf regelmäßig nicht auf solche Regelungsgegenstände zurückkommen, die im Verordnungsrecht abschließend kodifiziert sind.536 Nicht die Verordnung muß transformiert werden, sondern der Strafgesetzgeber hat zu entscheiden, ob und wie er das in der Verordnung geregelte Verbot entsprechend einem sonstigen Verbot aus der innerstaatlichen Rechtsordnung mit Strafe bewehren will.537 Nun könnten diese Darlegungen als terminologische Prinzipienreiterei kritisiert werden, denn beide Oberlandesgerichte haben doch das Problem erkannt und richtig entschieden. Die vorliegenden Ausführungen stellen auch keine eigentliche Kritik dieser sorgfältigen Entscheidungen dar. Es ist aber unerläßlich, die terminologischen Probleme anzusprechen, da sie nur zu leicht in irrige Deutungen umschlagen. Was in der Entscheidung des OLG Stuttgart noch als terminologische Ungenauigkeit gedeutet werden kann, tritt in der Literatur denn auch als deutliches Mißverständnis hervor. Dort heißt es, das EG-Recht werde schon mangels fehlender Strafrechtskompetenz grundsätzlich nicht anders zu beurteilen sein als multilaterale Übereinkommen und der Umsetzung durch ein Zustimmungsgesetz bedürfen. 538 Die EG-Verordnung bedarf jedoch grundsätzlich nicht der Transformation oder sonstigen Umsetzung. Ein in ihr enthaltenes Gebot oder Verbot gilt gemeinschaftsweit und auch für das Strafrecht. 539 535 536 537

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539

OLG Stuttgart, NStZ 1990, 88, 89. Pescatore, EuR 1970, 307, 314. Bei diesen legislativen Entscheidungen darf der Gesetzgeber sodann auf die EG-Verordnungsinhalte zurückkommen, siehe Meine in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 22 II Rn. 42, str. Tröndld Fischer, vor § 3 Rn. 5 b. Unglücklich auch Dieblich, Rechtsgüter der EG, S. 197, der vom Erlaß von Richtlinien und Verordnungen und ihrer Transformation spricht. Eine Verordnung muß freilich keine abschließenden Regelungen treffen. Sie kann ζ. B. die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsehen, die geregelte Rechtsmaterie durch Sanktionen zu begleiten. Ist die Regelung aber abschließend, so muß und darf der Mitgliedstaat nicht mehr normgebend tätig werden.

C. Exkurs: Die Weiterungen der strafrechtsspezifischen Kompetenzlage

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Begriffe wie Umsetzung oder Transformation sind in diesem Zusammenhang auch inhaltlich eher irreführend. Es wird kein „EG-Strafrecht", das einen ausformulierten Straftatbestand enthält und Geld- oder Freiheitsstrafe androht, transformiert. Derartige Normtexte gibt es auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene nicht. Vielmehr knüpft der innerstaatliche Strafgesetzgeber an die EG-Verordnungen an und flankiert diese in der Tradition der Blankettstrafgesetzgebung mit Bußgeldoder Straftatbeständen. Nach alledem wird eine Quelle für Fehldeutungen des Verhältnisses des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht sichtbar. Der Umstand, daß selbst in den f ü r das Verständnis des Gemeinschaftsrechts so bedeutenden Fällen des Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 E G V zur Einbindung einer Verordnung in das System der Blankettstraftatbestände ein zweiter (Straf-) Gesetzgeber 540 tätig wird, kann im Strafjuristen die Vorstellung erwecken, es sei grundsätzlich eine Art Transformation erforderlich, damit eine EG-Verordnung auch für das Strafrecht gilt. Nun ist diese Vorstellung im Bereich der mit dem Blankettstrafgesetz verbundenen EG-Verordnungen im Ergebnis unschädlich, da es einer innerstaatlich veranlaßten Inbezugnahme des EG-Rechts aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ja auch tatsächlich bedarf. Die Gefahr einer derartigen Fehldeutung lauert jedoch auf den Gebieten der Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte, die sich schon bei den einführenden Betrachtungen zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als problematisch erwiesen haben. Zur Verdeutlichung des Problems sei abermals der gedankliche Bogen zu den Aussagen in den Entscheidungen des BayObLG und des O L G Stuttgart gespannt. Im Kern argumentieren beide Gerichte damit, daß der Gemeinschaft eine Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts fehle und eine inhaltliche Neugestaltung der jeweiligen Rechtsmaterie auf Gemeinschaftsebene zu einer Strafbarkeit erst dann führen könne, wenn der innerstaatliche Gesetzgeber dies durch eine Bezugnahme angeordnet habe. Im Kontext der jeweiligen Entscheidungen ist diese Aussage zutreffend. In diesem Zusammenhang ist jedoch davor zu warnen, die strafrechtliche Relevanz einer EG-Verordnung allein an diesem Tätigwerden des innerstaatlichen Gesetzgebers messen zu wollen. Dieser Gedanke fördert die unzutreffende Sicht, die strafrechtliche Relevanz unmittelbar anwendbarer EG-Normen könne sich erst aus ihrer „Akzeptanz" durch den innerstaatlichen (Straf-) Gesetzgeber ergeben. Eine neuere Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist geeignet, ein solches Mißverständnis zu wecken. 541

540 541

Terminologie nach Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 965. BGHSt 41, 127 ff.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Die Einzelheiten dieses Falles aus dem Außenwirtschaftsrecht bedürfen in dem hier interessierenden Zusammenhang keiner ausführlichen Wiedergabe. Vielmehr genügt der Hinweis, daß das Gericht die Inbezugnahme einer Verordnung durch einen Blankettstraftatbestand als nicht gegeben ansah, weil die fragliche Verordnung nicht - wie vom einschlägigen § 34 Abs. 4 AWG verlangt - aufgrund einer im Hinblick auf die Strafbewehrung getroffenen Entscheidung des zuständigen deutschen Organs im Bundesgesetzblatt oder im Bundesanzeiger veröffentlicht worden war.542 Diese Feststellung fußt auf einführenden und in ihrer allgemeinen Formulierung zumindest mißverständlichen Ausführungen des Gerichts: „Diese Verordnung ist zwar seit ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften auch in Deutschland gemäß Art. 189 Abs. 2 E G V unmittelbar geltendes Recht (vgl. auch B G H Z 125, 27, 30f. ...). Doch ihr kommt keine strafrechtliche Bedeutung zu. Der EWG-Vertrag begründet keine Befugnis zum Erlaß strafrechtlicher Sanktionen (vgl. B G H S t 25, 190, 193 ...)." 5 4 3

Warum diese Aussage in ihrer Allgemeinheit zumindest mißverstanden werden kann, soll anhand eines einfachen Fallbeispiels aus dem Fahrpersonalrecht erläutert werden. Der Fall veranschaulicht, wie eine EG-Verordnung trotz fehlender Anbindung an unser Straf- oder Bußgeldrecht relevant werden kann: Der Fahrer eines Lastzugs überschreitet die nach der einschlägigen Verordnung zulässige Lenkzeit. Trotz des Gefühls von Leistungsfähigkeit schläft der Fahrer plötzlich hinter dem Steuer ein und prallt in diesem Zustand mit seinem Lastzug auf ein am Ende eines Staus stehendes Fahrzeug, dessen Insassen verletzt werden. Um den Gedankengang zuzuspitzen, sei dieser Fall in die Zeit gedacht, in der §§ 7 a, 7 b a. F. FPersG oder der geltende § 8 FPersG die einschlägige Verordnung nicht ordnungsgemäß in Bezug nahm, also der Verstoß nicht bußgeldbewehrt oder, um mit den Worten des Bundesgerichtshofs zu sprechen, „ohne strafrechtliche Bedeutung" war. Die Verhängung einer Geldbuße wäre also nicht möglich gewesen. Deswegen kann jedoch nicht von einer strafrechtlichen Bedeutungslosigkeit gesprochen werden. Vielmehr wäre es zulässig, in dem Verstoß im Rahmen der Prüfung des § 229 StGB die Mißachtung einer Sorgfaltsnorm zu erblicken. Derartigen Verstößen kommt regelmäßig bei der Prüfung des Sorgfaltsverstoßes eine starke Indizwirkung zu. Es wäre denkbar, an den Verstoß gegen die Vorschriften über die Lenkzeit anzuknüpfen und die Schaffung einer unerlaubten Gefahr zu bejahen, die sich in dem Auffahrunfall realisiert hat. 544 Der Fall veranschaulicht, daß der vom 542 543 544

BGHSt 41, 127, 132. BGHSt 41, 127, 131 a. E. Vgl. BayObLG, VRS 75, 374, 376. Es soll freilich damit nicht behauptet werden, daß in dem hier gebildeten Fall eine Verurteilung des Fahrers nicht auch wegen eines Verstoßes gegen allgemeine Sorgfaltspflichten möglich wäre.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

179

Bundesgerichtshof verwendete Ausdruck von der „strafrechtlichen Bedeutungslosigkeit" zu weit geht. Vielmehr zeigt das Beispiel, wie verwoben und verschachtelt sich die Problematik präsentiert. In ein und demselben Fall kann eine Verordnung im Sinne des Bundesgerichtshofs mangels einer ordnungsgemäßen Einbindung durch den Gesetzgeber zwar einerseits „ohne Bedeutung" oder besser „nicht relevant", andererseits aber für die Prüfung der Strafbarkeit gemäß eines anderen Strafgesetzes wesentlich sein. Es bedarf nur eines Gedankenschritts, um diese Feststellung auf den Bereich der Unterlassungsdelikte zu übertragen. Soweit eine Verordnung bestimmte Handlungspflichten abschließend regelt und festlegt, ist sie als innerstaatlich unmittelbar geltendes und unmittelbar anwendbares Recht Teil der für die Beurteilung des Sachverhalts heranzuziehenden Rechtsnormen. Wie Vorschriften des innerstaatlichen Rechts ist die EG-Verordnung grundsätzlich auch geeignet, im Rahmen des § 13 StGB Garantenpflichten zu umschreiben. Diese Verzahnung des Strafrechts mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht behält aber nur im Auge, wer sich klarmacht, daß die in einer EG-Verordnung enthaltenen Rechte oder Pflichten mit ihrem Inkrafttreten unmittelbar gelten und grundsätzlich unmittelbar anzuwenden sind. Der Fahrer des Lastzuges hat die Vorschriften über die Lenkzeit wie Sorgfaltsnormen des nationalen Rechts zu beachten. Scharf davon zu trennen ist die Frage, ob und nach welchen Regeln der Verstoß gegen ein Verordnungsverbot mit den Mitteln des Strafrechts geahndet werden kann. Erst an dieser Stelle lebt die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz der Gemeinschaft auf. Das Verbot wird durch ein entsprechendes Gesetz nicht etwa in das Strafrecht „transformiert", sondern wie ein Verbot des innerstaatlichen Rechts für den Fall der Zuwiderhandlung mit einer Sanktionsdrohung flankiert, die als Buße oder Strafe ausgestaltet sein kann.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen Von der Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen ist die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen zu unterscheiden. Sie wird nachfolgend nochmals in primärrechtlich verankerte Verpflichtungen und in eine allgemeine Verpflichtung unterteilt.

180

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

I. Primärrechtlich verankerte Verpflichtungen Eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf strafrechtlichem Gebiet kann einmal im Primärrecht geregelt sein. Der bereits erörterte Art. 280, ex-Art. 209a EGV bildet das prominenteste Beispiel. Einen Auftrag zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Strafrechts birgt auch Art. 31 lit. c EUV. Die Vorschrift „enthält die Verpflichtung zur Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften untereinander, soweit dies zur Verbesserung der Kooperation erforderlich ist." 545 Gleiches gilt für Art. 31 lit. e EUV, der die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in bestimmten Bereichen (organisierte Kriminalität, Terrorismus, illegaler Drogenhandel) vorsieht. 546 Diese Vorschrift gilt gemäß Art. 61 lit. a EGV auch für die dort genannten Bereiche im Zusammenhang mit Regelungen, die den freien Personenverkehr betreffen. Die gemeinschaftsrechtliche Verbindlichkeit kommt in Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV zum Ausdruck. Nach Art. 34 Abs. 2 lit. b Satz 1 EUV kann der Rat Rahmenbeschlüsse zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten annehmen. 547 Die Rahmenbeschlüsse sind gemäß Art. 34 Abs. 2 lit. b Satz 2 EUV für die Mitgliedstaaten verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Nach Art. 34 Abs. 2 lit. b Satz 3 EUV sind sie nicht unmittelbar wirksam. Diese Beispiele für eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf strafrechtlichem Gebiet zeigen, wie der Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht stetig wächst. Diese primärrechtlich verfügten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bilden jedoch nicht den neuralgischen Punkt, wenn es um den Einfluß von Richtlinien auf dem Gebiet des Strafrechts geht.

II. Die allgemeine Verpflichtung zum Schutz gemeinschaftsrechtlicher Interessen Neben der primärrechtlich auferlegten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter Mitwirkung der Gemeinschaftsorgane auf strafrechtlichem Gebiet gibt es vielmehr eine allgemeine Obliegenheit zum Schutz gemeinschaftsrechtlicher Interessen. Der Gerichtshof hat diese Verpflichtung im „Mais-Urteil" näher umschrieben: 545 546 547

Kühne, JZ 1998, 1070, 1071; Satzger, Europäisierung, S. 339 f. Kühne, JZ 1998, 1070, 1071. Moll, Europäisches Strafrecht, S. 282.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

181

„Enthält eine gemeinschaftsrechtliche Regelung keine besondere Vorschrift, die für den Fall eines Verstoßes gegen die Regelung eine Sanktion vorsieht, oder verweist sie insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, so sind die Mitgliedstaaten nach Art. 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, daß Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muß." 548 Der Gerichtshof mahnt in dieser Entscheidung ferner den tatsächlichen

Vollzug

solcher Vorschriften an. 549 Zwar bezog sich das „Mais-Urteil" auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft, doch die Pflicht zur Flankierung des Gemeinschaftsrechts mit Sanktionsnormen besteht auch in Bezug auf die sekundärrechtlichen N o r m e n des Gemeinschaftsrechts. 550 Der Gerichtshof hat die im „Mais-Urteil" erwähnten Pflichten in anderem Zusammenhang ausdrücklich auf das Sekundärrecht bezogen. 551 Somit kann das zu schützende gemeinschaftsrechtliche Interesse auch in der sekundärrechtlichen Regelungsmaterie bestehen. Diese Rechtsprechung verdient Zustimmung. Mit der Schaffung gemeinschaftsweiter Freiheiten nimmt das Bedürfnis nach einer Angleichung des Sanktionsrechts zu. Strafrechtliche Tatbestände, die im Ausland keine Entsprechung finden, können unterlaufen werden, indem die verbotenen Aktivitäten in dem Gebiet stattfinden, das keine oder eine zu vernachlässigende und damit nicht abschreckende Sanktion vorsieht. 552 Die Grundfreiheiten ermöglichen es auch dem Straftäter, grenzenlos zu operieren. D e m kann auf Dauer kein System von nationalstaatlich begrenzten Strafver548 549

550

551 552

EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965, 2984f. EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965, 2985. Inwieweit dieser Gedanke des tatsächlichen Vollzugs des Strafrechts auf die Anwendung des Strafprozeßrechts ausstrahlt, ist noch unerforscht. Beispiel: Wenn Szczekalla, DVB1. 1998, 219, 224, den zutreffenden Gedanken entwickelt, daß ausländerfeindliche Ubergriffe in Deutschland auch zum Schutz der Freizügigkeit einen energischen Einsatz des Strafrechts verlangen, so ergibt sich daraus die Frage, ob diese Erkenntnis in der Praxis nicht auf die Anwendung einer Vorschrift wie § 230 Abs. 1 Satz 1 StPO durchschlagen muß. In diesem Sinne könnte z.B. bei einer vorsätzlichen Körperverletzung nach § 223 StGB aus ausländerfeindlichen Motiven immer ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung anzunehmen sein. Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 19f.; Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 286. EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/88, E. 1990,1-2911, 2935. JungiSchroth, GA 1983, 241, 251; Possin, Supranationales Verwaltungssanktionsrecht, S. 149, 151.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts z u m Gemeinschaftsrecht

folgungsbehörden entgegengestellt werden. 553 Über die grundsätzliche Befugnis der Gemeinschaft, die Mitgliedstaaten mittels Richtlinien zur Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen zu verpflichten, besteht in der Literatur denn auch ganz überwiegende Einigkeit.554 Soweit die Gemeinschaft im Rahmen der ihr zustehenden Kompetenzen zur Harmonisierung tätig wird,555 kann sie hiernach Richtlinienvorgaben treffen, die darauf zielen, bestimmte Verhaltensweisen gemeinschaftsweit zu unterbinden. Das Bedürfnis für eine derartige Regelungskompetenz ist gegeben. Aus der Schaffung weitgehender Freiheiten resultiert oftmals die Mißbrauchsmöglichkeit, die ihrerseits wiederum Interessen der Gemeinschaft gefährden kann. Deutlich wird dieser Gedanke z.B. in den Begründungserwägungen zur Geldwäscherichtlinie. Dort heißt es, Geldwäscher könnten versucht sein, Vorteile aus der Freiheit des Kapitalverkehrs zu ziehen. Wenn die Gemeinschaft nicht gegen die Geldwäsche vorgehe, könne dies die Mitgliedstaaten veranlassen, zum Schutz ihres Finanzsystems Maßnahmen zu ergreifen, die mit der Vollendung des Binnenmarktes unvereinbar sind.556 Die Verwirklichung bestimmter Freiheiten kann mithin bedingen, gemeinschaftsweite Koordinierungsmaßnahmen zur Bekämpfung ihres Mißbrauchs zu ergreifen. In diesen Fällen erscheint es nicht nur als sinnvoll, sondern als geradezu geboten, daß die Gemeinschaft grundsätzliche Vorgaben zum gemeinschaftsweiten Schutz dieser Freiheiten trifft, wenn das vorhandene Recht der Mitgliedstaaten nicht ausreicht, um den Mißbrauch zu bekämpfen. Die Verzahnung des Strafrechts mit Rechtsgebieten, die in die Kompetenz der Gemeinschaft fallen, kann so stark sein, daß eine gemeinschaftsrechtliche Regelung ohne eine Angleichung des Strafrechts nicht sinnvoll gestaltet werden kann. Bleckmann führt

553 554

555 556

Sieber, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafrecht, S. 2 Bieneck in: Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, A n h a n g zu § 4 Rn. 36; Bottke, wistra 1991, 1, 5; Cuerda Riezu, Madrid-Symposium, S. 367, 374f.; Dannecker, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts, S. 161, 171; ders. in: Ulsamer (Hrsg.), Lexikon des Rechts, S. 308; Dannecker! Streinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 62; Eser in: Schönke-Schröder, Vorbem. § 1 Rn. 26; Gröblinghojf, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 142; Hatje, EuR 1998 (Beiheft 1), 7, 21; Jescheck, Maurach-FS, S. 579, 594; ders. Möglichkeiten und Grenzen eines europäischen Strafrechts, S. 17, 25; Jescheck/ Weigend, AT, § 18 VII. A n m . 3. b; Kühl, Söllner-FS, S. 613, 614; Oppermann, Europarecht, Rn. 698, 1260; Otto, Jura 2000, 98; Possin, Supranationales Verwaltungssanktionsrecht, S. 149, 152; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 277f.; Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 972; ders., GeerdsFS, S. 113, 124f.; K. Tiedemann, NJW 1993,23, 26; Vogel, JZ 1995, 331; 335; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 799. Im Ergebnis wohl auch de Weerth, Bilanzordnungswidrigkeiten, S. 27 f., der jedoch das Kompetenzthema undifferenziert angeht und mit dem Problem der Begrenzung des Strafrechts durch d a s Gemeinschaftsrecht vermengt. Danneckerl Streinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 62 a. E. Richtlinie 91/308/EWG vom 10.6.1991, Abi. Nr. L 166, S. 77.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

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hierzu aus, bei einem entsprechenden Bedürfnis müsse der Gemeinschaft die Zuständigkeit zugesprochen werden, die Sanktionen in ihren Rechtsakten ausdrücklich zu konkretisieren, und er hat in diesem Zusammenhang von einer „Annexkompetenz" der Gemeinschaft zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten gesprochen. 557 Eine gemeinschaftsweite Konkretisierung dient auch der Rechtssicherheit, denn für den Marktbürger ist es bei einer grenzüberschreitenden Tätigkeit schwierig, sich auf von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Regelungen einzustellen. Aus diesem Grund ist es von Vorteil, wenn identische Normen gelten.558 Die nicht zu bestreitende Notwendigkeit einer „mittelbaren" Strafrechtssetzung darf aber nicht die grundsätzliche Kompetenzentscheidung der Mitgliedstaaten überspielen. 559 Da eine Kompetenz zur Setzung von Strafrechtsnormen gerade nicht mit der Sachkompetenz einhergehen soll, vermögen die eigentlichen Kompetenznormen des Vertragswerks diese Frage letztlich nicht zu lösen. Mit aller Konsequenz vertrat denn auch der Bundesrat, 560 daß die Gemeinschaft Straf- und Bußgeldvorschriften nur dann selbst erlassen oder die Mitgliedstaaten zum Erlaß solcher Vorschriften verpflichten kann, wenn im Vertrag eine ausdrückliche Ermächtigung hierfür vorhanden ist. Die bei isolierter Betrachtung der strafrechtlichen Kompetenzlage schlüssige Konsequenz des Bundesrates vermag angesichts der Verzahnung des Strafrechts mit Rechtsgebieten, die der Sachkompetenz der Gemeinschaft unterliegen, nicht vollends zu befriedigen. Dieser grundsätzliche, aus der eigenartigen Zwitterstellung des Strafrechts resultierende Konflikt kann vielmehr im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf der Grundlage des Art. 10, ex-Art. 5 EGV überwunden werden. Obwohl es sich bei Art. 10, ex-Art. 5 EGV nicht um eine eigentliche Kompetenznorm handelt, kann sie doch für die Thematik einer sekundärrechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen zum Tragen kommen. Wenn Art. 10 Satz 1, ex-Art. 5 Satz 1 EGV besagt, daß die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen treffen, um die Verpflichtungen aus dem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft zu erfüllen, dann spricht einiges dafür, das Strafrecht als eine der in Frage kommenden Maßnahmen anzusehen. Gerade weil die Gemeinschaft an dieser Stelle nicht selbst handeln kann, ist Art. 10, ex-Art. 5 EGV im Kern angesprochen, da die Gemeinschaft auf die Mitwirkung der Mitgliedstaaten angewiesen ist. Wenn nun eine der Sachkompetenz der Gemeinschaft 557

558 559 560

Bleckmann, StreeAVessels-FS, S. 107,111, wobei Bleckmann, ebenda, S. 108 Fn. 7, im Grundsatz davon ausgeht, daß die Strafrechtssetzungskompetenz bei den Mitgliedstaaten verblieben ist. Sieber, JZ 1997, 369, 374. Moll, Europäisches Strafrecht, S. 214 ff. BR-Drucks. 98/92, S. 11.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

unterfallende Rechtsmaterie des sanktionsrechtlichen Flankenschutzes bedarf, spricht wiederum nichts dagegen, daß die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten den Erlaß entsprechender N o r m e n aufgibt. Derartige Richtlinien und Verordnungen gehen in diesem Fall nicht über das hinaus, was sich nicht schon als aus Art. 10, exArt. 5 E G V ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten herleiten läßt. Denn selbst wenn eine Richtlinie wie die zur Bekämpfung der Geldwäsche einen entsprechenden Auftrag, bestimmte Verhaltensweisen zu ahnden, nicht enthielte, wären die Mitgliedstaaten ohnehin aus Art. 10, ex-Art. 5 EGV zur Prüfung verpflichtet, ob das gemeinschaftsrechtliche Regelungsziel des Schutzes durch Straf- oder sonstige Sanktionsnormen bedarf. Eine in der Richtlinie selbst ausgesprochene Verpflichtung zur A h n d u n g und Beschreibung dessen, was geahndet werden soll, hat nur den großen Vorteil, daß eine gemeinschaftsweit effektive Angleichung des Rechts über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus stattfinden kann. Gerade weil es um ein staatenübergreifendes Regelungsziel geht, ist fraglich, ob eine effektive Bekämpfung der unerwünschten Verhaltensweisen möglich ist, wenn sich jeder Mitgliedstaat eigenständig und ohne nähere Orientierungshilfe aufmacht, seiner Pflicht aus Art. 10, ex-Art. 5 EGV durch Schaffung von Sanktionsnormen zu genügen.

III. Die „imperative Anweisungskompetenz" Die Frage ist jedoch, wie intensiv das Gemeinschaftsrecht bei der Festlegung der Pönalisierungspflicht den nationalen Strafgesetzgeber binden darf. 561 Der überwiegende Teil der strafrechtlichen Literatur tendiert dahin, eine bis in das Detail reichende Anweisungskompetenz abzulehnen. 562 Dem wird grundsätzlich widersprochen. N a c h Zuleeg bleibt der Mitgliedstaat im Zuge einer Richtlinienverpflichtung Inhaber der Strafgewalt. Ein etwaiger Souveränitätsvorbehalt greife daher nicht. 563 Mit Zuleeg ist es nicht zu beanstanden, wenn Richtlinien den Inhalt des anzugleichenden Rechts bis in alle Einzelheiten vorgeben. 564 Hintergrund dieser Argumentation Zuleegs ist eine heute in der europarechtlichen Literatur überwiegende Ansicht, nach der Richtlinien exakte und detaillierte 561 562

563 564

Satzger, Europäisierung, S. 449ff.; Weigend, ZStW 105 (1993), 799. Dieblich, Rechtsgüter der EG, S. 282ff; Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 111 ff.; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 30; Jescheck, Möglichkeiten und Grenzen eines europäischen Strafrechts. S. 17, 25; JunglSchroth, G A 1983, 241, 263; Möhrenschlager, Einbeziehung ausländischer Rechtsgüter, S. 162; Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 784f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 214fF.; Perron, Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, S. 135, 141; Sieber, Z S t W 103 (1991), 957, 972f.; Weigend, ZStW 105 (1993), 799f., nunmehr auch: Deutscher, EG-Kompetenz zur Strafgesetzgebung, S. 361 ff. Zuleeg, J Z 1992, 761, 767. Zuleeg, J Z 1992, 761, 767.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

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Vorgaben enthalten dürfen, wenngleich es als problematisch angesehen wird, daß die demokratisch legitimierten Volksvertretungen zu bloßen Vollstreckungsorganen der exekutiv geprägten Vorgaben werden. 565 Fraglich ist jedoch, ob diese europarechtlich geprägte Sichtweise ohne weiteres auf strafrechtliche Vorgaben übertragen werden kann. Gerade weil die Mitgliedstaaten die Strafrechtssetzung selbst in den Gebieten umfassender Gemeinschaftskompetenzen nicht eingeschlossen wissen wollen, kann die allgemeine Befugnis der Gemeinschaft zur detaillierten Richtlinienvorgabe nicht ohne weitere Reflexion auf das Strafrecht übertragen werden. Wenn Zuleeg in diesem Zusammenhang meint, der Mitgliedstaat bleibe Inhaber der Strafgewalt, so ist dieses Argument bei isolierter Betrachtung zwar richtig, doch es vermag eine bis in das Detail reichende Anweisungskompetenz nicht zu rechtfertigen. Gewiß wird die betreffende Strafnorm in die erforderlichen Formen des nationalen Rechts gegossen und es entsteht mithin ein innerstaatliches Strafgesetz. Doch wenn der Gesetzgeber dabei keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten behält, so wird der Grundsatz, daß der Gemeinschaft keine Kompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts zusteht, in sein Gegenteil verkehrt. Die Form des innerstaatlichen Gesetzes wird zur schlichten Formalie.566 Die Form des Strafgesetzes besteht jedoch nicht um ihrer selbst willen. Strafgesetze stellen regelmäßig Parlamentsgesetze dar, weil auf diesem Weg dem Strafgesetz eine demokratische Legitimation zuteil wird. Einem Gesetzgebungsverfahren ohne Gestaltungsmöglichkeit wird jedoch die Grundlage für jede kriminalpolitische Diskussion in den Parlamenten entzogen, da es nichts zu debattieren gibt. Das Für und Wider kann schwerlich gegeneinander abgewogen werden, wenn nur ein Ergebnis in Betracht kommt. Die demokratische Legitimation des Strafgesetzes durch das nationale Parlament nimmt Schaden, wenn sich das Gesetzgebungsverfahren auf eine bloße „Verabschiedung" von Richtlinienvorgaben beschränkt. 567 Hier verläuft eine Grenze, die nicht überschritten werden sollte.568 Da es keinen Souveränitätsverzicht auf dem Gebiet des Strafrechts gab und strafrechtliche Regelungen gerade nicht von der allgemeinen Sachkompetenz der Gemeinschaft umfaßt werden, entsteht eine brisante Konstellation, wenn der nationale Strafgesetzgeber durch Richtlinienvorgaben zwingend gebunden werden soll. Kraft

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Langeheine in: Grabitz/Hilf, EU-Kommentar, Altbd. I, Art. 100 Rn. 66. Vgl. auch Hilf, EuR 1993, 1, 22, der allgemein die demokraktische Legitimationswirkung eines Umsetzungsgesetzes bei fehlendem Gestaltungspielraum als gering und „schwaches Element" einstuft. Vgl. Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 135 f.; Weigend, ZStW 105 (1993), 800, a. A. Satzger, Europäisierung, S. 451 ff. Dieblich, Rechtsgüter der EG, S. 283. Zweifelnd schon K. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 46.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

dieses Zwanges wäre der Strafgesetzgeber denknotwendig nicht mehr frei und ihm fiele lediglich die Funktion zu, die Vorgaben in die Form des formellen Gesetzes zu bringen. Ein Mangel an demokratischer Legitimation wäre die Folge. Denn bis heute gibt es auf strafrechtlichem Gebiet keine Kompetenzübertragung durch ein Zustimmungsgesetz, das eine Legitimation vermitteln könnte. Dieser Gesichtspunkt wird nicht durch das Argument entkräftet, nach den Verträgen von Maastricht und Amsterdam sei die Beteiligung des Europaparlaments auf europäischer Normgebungsebene zum Regelfall geworden. Von Bedeutung ist auch hier die Verknüpfung des Gedankens der demokratischen Legitimation mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Solange die Mitgliedstaaten einen Willen zur Kompetenzübertragung nicht äußern, wird eine „ultra vires" ergangene Verpflichtung der nationalen Parlamente nicht dadurch geheilt, daß sie unter Beteiligung des Europaparlaments zustande gekommen ist. Vor diesem Hintergrund leuchtet es schlicht nicht ein, daß der für die Strafgesetzgebung zuständige innerstaatliche Gesetzgeber komplett durch Richtlinienvorgaben gebunden sein soll. Mit anderen Worten: Bei einer bis in das Detail reichenden Bindung, die den Handlungsspielraum des nationalen Parlaments bis auf eine formale Verabschiedung der Vorgaben stutzt, vermittelt der nationale Gesetzgebungsakt keine demokratische Legitimation, weil kein kriminalpolitischer Willensbildungsprozeß entstehen kann. Dieses Minus an demokratischer Legitimation wäre unabhängig davon, wie man zur Frage des Legitimationsdefizits europäischer Normgebung allgemein steht, nur dann hinnehmbar, wenn es eine Kompetenzübertragung auf strafrechtlichem Gebiet gäbe. Nun könnte gegen die hier vertretene Auffassung der Vorwurf erhoben werden, daß es ihr nicht recht zu machen sei. Einerseits werde die demokratische Legitimation bei unmittelbar anwendbaren Strafnormen für erforderlich erachtet, während andererseits eine Konstruktion abgelehnt wird, die es ermöglicht, den Bedenken zu genügen, da die Strafnorm durch den innerstaatlichen Gesetzgeber geschaffen würde. Eine solche Argumentation reduziert die parlamentarische Verabschiedung eines Strafgesetzes jedoch auf einen leider nicht zu umgehenden Formalakt. Den Bedenken wird damit nicht genügt. In einem allein der guten Ordnung halber stattfindenden parlamentarischen Durchlaufverfahren ist kein Gewinn an demokratischer Substanz zu erblicken. Der Gerichtshof hat sich zu der Frage einer imperativen Anweisungskompetenz auf strafrechtlichem Gebiet noch nicht ausführlich geäußert, doch die bisherigen Verlautbarungen lassen den Schluß zu, daß er einer solchen Anweisungskompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts mit Zurückhaltung begegnet. Die entsprechende Textpassage verblaßt im Mais-Urteil, da sie nur in einem Nebensatz formuliert wurde. Die Aussage lautet: Den Mitgliedstaaten verbleibt die Wahl der Sanktio-

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

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nen. 569 Unter der „Wahl der Sanktionen" ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Sanktionsart, sondern auch die gesetzgeberische Ausgestaltung der Sanktionsvoraussetzungen zu verstehen. 570 Tiedemann führt diese Urteilspassage als Reaktion auf Bedenken zurück, 571 die besagen, die Anweisungskompetenz laufe auf eine stetige Ausdünnung demokratisch-parlamentarischer Substanz hinaus, da den Parlamenten der Mitgliedstaaten praktisch keine Entscheidungsfreiheit mehr bleibe.572 Die knappen Ausführungen des Gerichtshofs sollen nicht als Beleg für die hier vertretene Auffassung überstrapaziert werden. Doch sprechen die von Tiedemann zu Recht hervorgehobenen Formulierungen unter dem Gesichtspunkt einer Anweisung durch detaillierte Richtlinienvorgaben eher dafür, daß der Gerichtshof im Lichte der besonderen Kompetenzlage, also der Trennung der Strafgesetzgebung von der Sachkompetenz, einer komplett bindenden Anweisung des nationalen Strafgesetzgebers reserviert gegenübersteht. Diese Abspaltung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungskompetenz von der strafrechtlichen Rechtssetzung findet sich im übrigen auch auf dem Gebiet der EGVerordnungen, also der Normenkategorie, die grundsätzlich keinerlei Umsetzung bedarf. Das Gemeinschaftsrecht regelt auf diese Weise das jeweilige Sachgebiet mit Ausnahme der strafrechtlichen Materie. Grundsätzlich bleiben die Mitgliedstaaten auch für die Androhung von Geldbußen zuständig, es sei denn, das Gemeinschaftsrecht sieht selbst Sanktionsvorschriften wie auf dem Gebiet des EG-Kartellrechts vor. Obwohl das jeweilige Sachgebiet umfassend durch die EG-Verordnung geregelt wird, gilt das nicht für die Frage strafrechtlicher Regelungen. 573 Die EG-Verordnung enthält nur ein Gebot oder Verbot, aber besagt nichts über die strafrechtlichen Rechtsfolgen, die an einen Verstoß geknüpft werden. Ob Buße oder Strafe angedroht werden, ist grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Gesetzgebers. Dieser gestaltet jedoch nicht nur die Rechtsfolge, sondern weitere Voraussetzungen der Tatbestandsmäßigkeit. Er schreibt ζ. B. vor, ob auch fahrlässige oder nur vorsätz-

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EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965, 2985. Auf diese Freiheit der Mitgliedstaaten nimmt der Gerichtshof in EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/88, Ε 1990, 1-2911, 2935 ausdrücklich Bezug, wo es um nationale Sanktionsvorschriften zum Schutz von Verboten und Geboten ging, die in einer EG-Verordnung enthalten waren. Vgl. auch Engel, Die Verwaltung 1992, 437, 445. "" K. Tiedemann, EuZW 1990, 101. 571 K. Tiedemann, EuZW 1990, 101. 572 Rupp, ZRP 1990, 1, 3. 573 BGHSt 41, 127, 131 f.; siehe auch Tulkens/van de Kerchove, Landesbericht Belgien, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. S 40.1, S. 1,20. Vgl. zum Widerstand der Mitgliedstaaten gegen strafrechtliche Vorschriften in den EG-Verordnungen zur Regelung der Lenkzeit die Schlußanträge des Generalanwalts van Gerven in: EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/88, Ε 1990,1-2911, 2925.

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2. H a u p t t e i l : Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

liehe Verstöße erfaßt werden sollen. Er kann vorsehen, daß Strafe nur unter besonderen Voraussetzungen, etwa bei gewerbsmäßigem Handeln, zu verhängen ist. Ihm bleibt es grundsätzlich überlassen, ob er eine Strafschärfung für besonders schwere Fälle vorsieht. 574 Er bestimmt über die Versuchsstrafbarkeit eines Vergehens. Wenn der gemeinschaftsrechtliche Bezugstatbestand einem Gefahrdungsdelikt gleicht, ist der innerstaatliche Strafgesetzgeber als berechtigt anzusehen, eine Vorverlagerung des Vollendungszeitpunktes oder sonstige Einbeziehungen „eigentlicher" Versuchshandlungen zu korrigieren, indem er eine an § 24 StGB angelehnte Regelung der tätigen Reue einfügt. 575 Freilich ist eine Bindung an das in der Verordnung geregelte Verbot gegeben, 576 doch die strafrechtlichen Sachfragen hat der innerstaatliche Gesetzgeber zu regeln.577 Im Ergebnis ist daher Oehler zuzustimmen, nach dem die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten die Verabschiedung von Einzelvorschriften nicht auferlegen kann. 578 Die Verpflichtung des Mitgliedstaats darf nicht in einer starren, unausweichlich engen Vorformulierung des Tatbestandes bestehen. 579 Dem Mitgliedstaat muß die Möglichkeit der Tatbestandsformulierung offengelassen werden und ihm muß die Charakterisierung der Zuwiderhandlung als Ordnungswidrigkeit oder Straftat überlassen bleiben.580 Daß es vor dem Hintergrund des Prinzips der begrenzten Handlungsermächtigung trotz der dynamischen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts nach dem Willen der Mitgliedstaaten eine Begrenzung ihrer strafrechtlichen Kompetenzen auch im Zuge von Harmonisierungsvorhaben nicht geben soll, läßt sich anhand der Praxis nachweisen. Mit welcher Prinzipientreue die Mitgliedstaaten ihren Standpunkt verteidigen, zeigt sich besonders eindrucksvoll am Beispiel der Geldwäscherichtlinie. In Art. 14 der Geldwäscherichtlinie heißt es, daß jeder Mitgliedstaat die geeigneten Maßnahmen trifft, um die vollständige Anwendung aller Bestimmungen der

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Siehe ζ. B. § 48 Abs. 3 WeinG, wo Strafrahmenverschiebungen für fahrlässige Taten und besonders schwere Fälle vorgesehen sind. 575 Siehe § 261 Abs. 9 StGB iVm mit Art. 1 7. Sp. der Geldwäscherichtlinie. 576 Der nationale Gesetzgeber darf also nicht durch „die Hintertür" des Strafrechts auf die sachlich-rechtlichen Regelungen der Verordnung zurückkommen oder sie gar modifizieren. 577 Aus diesem G r u n d ist es fraglich, ob Bacigalupo gefolgt werden kann, der die Blankettstrafgesetzgebung für ein geeignetes Mittel der Rechtsangleichung hält, indem das in einer EG-Verordnung umschriebene Verbot strafrechtlich flankiert wird, siehe Bacigalupo, Rechtsangleichung im Strafrecht, S. 146,147. Soweit die Mitgliedstaaten von den bei ihnen verbliebenen strafrechtlichen Kompetenzen Gebrauch machen, ist wiederum eine uneinheitliche Ausgestaltung der Straftatbestände zu erwarten. 578 Oehler, Baumann-FS, S. 561, 566. 579 Oehler, Jescheck-FS, S. 1399, 1408. 580 Oehler, Jescheck-FS, S. 1399, 1408.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

189

Richtlinie sicherzustellen, und insbesondere festlegt, wie Verstöße gegen die aufgrund der Richtlinie erlassenen Vorschriften zu ahnden sind. Genau das stand in der Sache jedoch von Anfang an fest, denn die Mitgliedstaaten hatten zum Zeitpunkt des Erlasses der Geldwäscherichtlinie bereits die Drogenkonvention der Vereinten Nationen 581 unterzeichnet, die in Art. 3 die Verpflichtung zur Schaffung eines Straftatbestandes zur Bekämpfung der Geldwäsche vorsieht. 582 In einer Konvention des Europarats über die Geldwäsche, Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von deliktisch erlangten Vermögenswerten wurde auf europäischer Ebene die Spannweite einer zu bekämpfenden Geldwäsche über die Drogenkriminalität hinaus auf weitere Gebiete schwerer Kriminalität erstreckt. 583 Daher macht es den unbefangenen Betrachter auf den ersten Blick nicht argwöhnisch, daß die Kommission in Art. 2 ihres Richtlinienvorschlags 584 die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsah, die Geldwäsche als strafbare Handlung einzustufen. Allerdings wäre damit erstmals die Schaffung eines Straftatbestandes als ausdrückliches Regelungsziel einer Richtlinie gemäß Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV perpetuiert worden. Über die hinter dem Richtlinienvorschlag steckende Motivlage kann nur spekuliert werden. Denkbar ist, daß die Kommission aus einer „unschuldigen" Haltung heraus meinte, das ohnehin feststehende Ziel der Fixierung nationaler Straftatbestände zur Bekämpfung der Geldwäsche könne klarstellend und lediglich wiederholend in die Richtlinie aufgenommen werden, ohne damit die Kompetenzfrage zu tangieren. Vielleicht sah die Kommission an dieser Stelle jedoch auch die Chance, ein trojanisches Pferd in die Burg der strafrechtlichen Souveränitätsvorbehalte zu entsenden. Das scheiterte jedoch am Widerstand der Mitgliedstaaten. 585 Zumindest wäre ein Richtlinientext in der Welt gewesen, der sich nicht mit einem ambivalenten Begriff wie dem des „Ahndens" begnügt, sondern der von den Mitgliedstaaten anzudrohenden Sanktion das gemeinschaftsrechtlich neue Prädikat „strafrechtlicher Art" vorausschickt. Damit konnte sich die Kommission nicht durchsetzen und die Vertreter der Mitgliedstaaten gaben lediglich gesondert die Erklärung ab, daß sich die Umschreibung der Geldwäsche in Art. 1 der Geldwäscherichtlinie im Wortlaut an die Bestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen und eines 581 582

583 584

585

Abgedruckt bei Körner, BTMG, Β 3. Zu den weiteren internationalen Vorgaben siehe Leip, Geldwäsche, S. 32ff.; Vogel, ZStW 109 (1997), 3351T. Siehe bei SchomburglLagodny, IRG-Kommentar, S. 667fT. Abi. Nr. C 106/6 vom 28.4.1990. Art. 2 des Vorschlags lautete wie folgt: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, daß das Waschen der Erlöse aus schweren Straftaten nach ihren nationalen Rechtsvorschriften als strafbare Handlung gilt." Siehe Carl, wistra 1991, 288, 290; Hülsmann, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. S 40.1, S. 127, 182f.; jeweils mwN.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Übereinkommens des Europarates anlehne und man sich verpflichte, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Strafvorschriften zu erlassen, die es gestatten, die aus den Rechtsakten erwachsenen Verpflichtungen zu erfüllen. 586 Damit war in einer gesonderten Erklärung und nicht in dem originär gemeinschaftsrechtlichen Sekundärakt ein weiteres Mal nur das gesagt, was ohnehin feststand. 587 Die Wahl und die Ausgestaltung der Sanktionen aufgrund des Richtlinientextes blieb somit den Mitgliedstaaten überlassen. 588 Da die Frage nach dem Ob der Strafbarkeit in der Sache niemals streitig war, ging es einzig und allein um die prinzipielle Kompetenzfrage. Versuche, die Verpflichtung zum Erlaß von Strafnormen in die Richtlinie aufzunehmen, haben Tradition. Sie sind regelmäßig gescheitert. 589 Entsprechende Vorstöße durchleben eine regelrechte Erosion des Wortlauts. Die Geldwäscherichtlinie bietet dafür ein gutes Beispiel. Während der Art. 2 des Richtlinienvorschlags der Kommission zur Bekämpfung der Geldwäsche noch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsah, das Waschen der Erlöse aus schweren Straftaten nach ihren nationalen Rechtsvorschriften als strafbare Handlung einzustufen, übte der Wirtschafts- und Sozialausschuß in seiner gemäß Art, 47, ex-Art. 57 Abs. 2 EGV 590 abgegebenen Stellungnahme vor dem Hintergrund der Kompetenzfrage Kritik. Dort heißt es zum Art. 2 des Vorschlags:591 „Neben der vorstehenden Kritik ist festzustellen, daß die Ausweitung der Befugnisse der Gemeinschaft auf das Strafrecht juristische Einwände aufwirft, die einer Klarstellung bedürfen. Nach Ansicht des 586

587 588 589 590

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Siehe die in Abi. 1991, Nr. L 166, S. 83, im Anschluß an die Geldwäscherichtlinie abgedruckte Erklärung der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten. Sie lautet wie folgt: „Die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten erinnern daran, daß die Mitgliedstaaten das am 19. Dezember 1988 in Wien angenommene Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit SuchtstofTen und psychotrophen Stoffen unterzeichnet haben, erinnern ebenfalls daran, daß die meisten Mitgliedstaaten am 8.11.1990 in Straßburg das Ubereinkommen des Europarats über das Waschen, das Aufspüren, die Beschlagnahme und die Einziehung der Erträge aus Straftaten unterzeichnet haben, stellen fest, daß sich die Beschreibung der Geldwäsche in Artikel 1 der Richtlinie 91/308/EWG im Wortlaut an die entsprechenden Bestimmungen der obengenannten Übereinkommen anlehnt, verpflichten sich, spätestens bis zum 31. Dezember 1992 alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um Strafvorschriften in Kraft zu setzen, die ihnen gestatten, ihre aus den obengenannten Rechtsakten erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen." Pieth, ZStW 109 (1997), 756, 767. Zutreffend: K. Tiedemann, Miyazawa-FS, S. 673, 678. Siehe bei Dieblich, Rechtsgüter der EG, S. 262 ff. mwN. Die Neuformulierung des § 47 Abs. 2 EGV durch den Vertrag von Amsterdam fallt hier nicht ins Gewicht. Abi. Nr. C 332 vom 31.12.1990, S. 86, 88 a. E.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

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Ausschusses läßt sich dieses Problem durchaus umgehen, wenn der Grundsatz, daß die Geldwäsche als schwere Straftat gilt, beibehalten und auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Ratifizierung des Wiener Ubereinkommens verwiesen wird, demzufolge das Waschen von Erlösen aus dem Drogenhandel zu ahnden ist." In dieser Kritik wird die Kompetenzfrage im Ergebnis verneint, wenn als Quelle der Verpflichtung auf das Wiener Abkommen abgestellt wird. Zugleich wird ein vorsichtiger Formulierungsvorschlag unterbreitet, um das Kompetenzproblem zu umgehen. Doch selbst diese tastende Formulierung, die hinsichtlich der Verpflichtung zur Schaffung einer Strafnorm auf das Wiener Übereinkommen verweist, hielt nicht Stand. Art. 14 der Geldwäscherichtlinie lautet: „Jeder Mitgliedstaat trifft geeignete Maßnahmen, um die vollständige Anwendung aller Bestimmungen dieser Richtlinie sicherzustellen, und legt insbesondere fest, wie Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zu ahnden sind." Lediglich in den Erwägungsgründen findet sich noch der zaghafte Hinweis auf die Bekämpfung mit strafrechtlichen Mitteln wie es in dem Übereinkommen der Vereinten Nationen und des Europarats vorgesehen sei. Aus alledem folgt: Das Vorgehen in der Praxis belegt, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft schlicht für nicht befugt halten, auf strafrechtlichem Gebiet bindende Vorgaben zu treffen. 592 Wie bei der Geldwäscherichtlinie erweist sich auch bei der Richtlinie zur Bekämpfung des Insiderhandels, daß hinsichtlich der Vorgabe strafrechtlicher Einzelheiten Zurückhaltung geübt wurde. Über das Ob einer Strafbarkeit geben beide Richtlinien keine Auskunft. 593 Nach Art. 13 der Insiderhandelsrichtlinie legt jeder Mitgliedstaat im einzelnen fest, wie Verstöße gegen die aufgrund der Richtlinie erlassenen Vorschriften zu ahnden sind, wobei diese Sanktionen einen hinreichenden Anreiz zur Einhaltung der Vorschriften darstellen müssen. Auch diese Richtlinie gibt damit keine ausdrückliche Vorgabe hinsichtlich der Strafbewehrung. Grundsätzlich öffnet sich ein weites Spektrum im Sinne eines Umsetzungsspielraums des nationalen Gesetzgebers, das vom Bußgeld über die Geldstrafe bis zur Freiheitsstrafe und der Androhung strafrechtlicher Nebenfolgen reichen kann. Diese Offenheit der Richtlinienvorgaben auf strafrechtlichem Gebiet hinsichtlich der Rechtsfolgen spiegelt sich in der wissenschaftlichen Diskussion im Vorfeld der

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K. Tiedemann, Europäisierung des Strafrechts, S. 133, 135 resümiert zutreffend, die Verpflichtung zur Schaffung von Straftatbeständen entspringe gerade nicht unmittelbar der Richtlinie, sondern den anderweitigen internationalen Vereinbarungen. Er sieht darin einen Ausdruck des Respekts vor der nationalen Kriminalstrafgewalt. Pieth, ZStW 109 (1997), 756, 767.

192

2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Richtlinienumsetzung wieder. Es finden sich Abwägungen und Vorschläge hinsichtlich der an einen Verstoß zu knüpfenden Sanktionen, die Ausdruck der Regelungsbefugnis des Mitgliedstaats sind.594 Nach alledem folgt aus der Kompetenzverteilung auf strafrechtlichem Gebiet zwanglos die Antwort: Das Kompetenzgefüge wäre auf den Kopf gestellt, wenn die nicht über eine Kriminalstrafgewalt verfügende Gemeinschaft den Mitgliedstaaten wie ein Lehrer seinen Schülern - den Text eines Strafgesetzes diktieren könnte. Wer anderes vertritt, muß erwägen, ob er damit nicht das Zusammenspiel von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht aus den Angeln hebt. Denn mangels einer Kompetenzübertragung auf strafrechtlichem Gebiet gibt es einerseits de lege lata kein Zustimmungsgesetz, das einen diesbezüglichen Rechtsanwendungsbefehl enthält. Andererseits kann das nationale Strafgesetz bei nüchterner Betrachtung nicht legitimieren, wenn die Parlamente die Rolle des gelehrig mitschreibenden Schülers annehmen, der über den Inhalt des Diktats nicht nachdenkt, sondern bei dessen Niederschrift ausschließlich Fehler zu vermeiden versucht. Eine imperative Anweisungskompetenz steht der Gemeinschaft nach hier vertretener Auffassung nicht zu.

IV. Regelungsintensität Das unabweisbare gemeinschaftsrechtliche Interesse, auch auf dem Gebiet des Strafrechts rechtsangleichend tätig zu werden, gilt es mit der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Rechtssetzungskompetenz in Einklang zu bringen. Auch wenn sich die vorliegende Arbeit die Untersuchung der Einwirkung von Richtlinien auf das Strafrecht zum Ziel gesetzt hat, ist es schon deshalb erforderlich, sich den Grundzügen dieser Fragestellung zuzuwenden, weil diesem Aspekt bei der richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts erhebliches Gewicht beizumessen ist. Unter dem Gesichtspunkt der in Art. 10, ex-Art. 5 EGV verankerten Gemeinschaftstreue ist zu verlangen, daß der nationale Gesetzgeber den gemeinschaftsrechtlichen Schutzauftrag in einer Weise ausführt, die sich in die nationale Rechtsordnung angemessen im Sinne einer Gleichwertigkeit einfügt, 595 was in der Literatur auch als Gleichstellungserfordernis bezeichnet wird. 596 Der Schutz des 594

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Siehe beispielhaft die Erwägungen von Hopt, ZGR 1991, 17, 55 ff. zur Sanktion von Verstößen gegen das Verbot des Insiderhandels. Engel, Die Verwaltung 1992, 437, 445, 463; Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 284f.; K. Tiedemann, NJW 1993, 26. Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 34fT.; ähnlich Kerl, JB1 1999, 87, 90; Possin, Supranationales Verwaltungssanktionsrecht, S. 149, 151 f.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

193

gemeinschaftsrechtlichen Interesses sollte dem des nationalen Interesses entsprechen.597 Dem wird ζ. B. in § 108d StGB Rechnung getragen, indem diese Vorschrift den strafrechtlichen Schutz von Wahlen auf die der Abgeordneten des Europäischen Parlaments erstreckt. 598 Diese Anleihe aus dem „Mais-Urteil" versagt allerdings als tauglicher Maßstab, wenn das innerstaatliche Recht ein vergleichbares Interesse zuvor nicht oder nur partiell strafrechtlich geschützt hat. Im „Mais-Urteil" ging es unter dem Strich darum, den Finanzetat der Gemeinschaft wie die innerstaatlichen Haushaltsmittel vor unlauteren Handlungen zu schützen und da jeder Staat seine Finanzmittel schützt, war es nur konsequent, einen analogen Schutz der Finanzmittel der Gemeinschaft einzufordern. Sobald es jedoch um die eigentliche Harmonisierung geht und eine Angleichung unterschiedlich ausgestalteter Rechtslagen erreicht werden soll, hilft ein synoptischer Ansatz nicht weiter. Das Insiderrecht kann hier als Beispiel angeführt werden. Da es in Deutschland ein umfassendes Sanktionssystem zur Bekämpfung des Insiderhandels nicht gab 599 und entsprechende Handlungen vom Strafrecht nur fragmentarisch erfaßt wurden, 600 konnte aus dem Gleichstellungskriterium keine Verpflichtung zur Einführung eines Insiderstrafrechts abgeleitet werden. Ferner zielt die Harmonisierung des Insiderrechts oder der Geldwäschevorschriften auch nicht auf eine Gleichstellung mit dem übrigen nationalen Recht, sondern in Richtung einer gemeinschaftsweit einheitlichen Regelung. Für diese Fallgruppe sind der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur rudimentäre Anhaltspunkte zu entnehmen. Der Gerichtshof verlangt eine wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionierung, um Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten.601 Die Aspekte der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung wurden in der Literatur anschaulich als „Mindesttrias" bezeichnet.602 Wirksamkeit bedeutet in Abgrenzung zur Abschreckung, daß die Sanktion geeignet sein muß, den einzelnen von entsprechenden Verstößen abzuhalten. 603 Damit wird eine recht all597

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601 602 603

Engel, Die Verwaltung 1992, 437, 445; Naucke, Strafrecht, § 4 Rn. 139f.; Zuleeg, JZ 1992, 761,765. Hellmann, Europäisierung des Strafrechts, S. 39, 43. Bei den vor der Umsetzung der EG-Richtlinie zur Bekämpfung des Insiderhandels geltenden, terminologisch oftmals unglücklicherweise als „Insiderhandelsrichtlinien" bezeichneten Regelungen, handelte es sich um freiwillige Vereinbarungen und nicht um staatlich gesetzte Rechtsnormen, siehe Achenbach, NJW 1986, 1835, 1839. Siehe Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 163; Ch. Schröder, Aktienhandel und Strafrecht, S. 69 f. EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965, 2985. Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 24fl, 37. Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 25.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis d e s Strafrechts z u m Gemeinschaftsrecht

gemein gehaltene Deutung gegeben, die jedoch mit Blick auf das zu schützende Interesse konkretisiert werden kann. Das Kriterium der Wirksamkeit führt zu der Verpflichtung, das innerstaatliche Recht eng an den Vorgaben der Richtlinie zu orientieren. Jeder Versuch, deviantem Verhalten gemeinschaftsweit entgegenzutreten, droht zu scheitern, wenn sich das nationale Umsetzungsrecht nicht streng an den Richtlinienvorgaben orientiert. Für die Notwendigkeit einer in ihren Grundstrukturen einheitlichen Pönalisierung lassen sich die harmonisierten Bereiche der Geldwäsche und des Insiderhandels anführen. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß sich derjenige Mitgliedstaat als Standort für einschlägige Geschäfte anbietet, der hinter dem Recht der übrigen Mitgliedstaaten zurückbleibt. Folge ist die Gefahrdung des gesamten Harmonisierungsvorhabens. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht droht jedoch nicht nur diese Gefährdung ihrer Interessen, sondern es stellt sich eine Wettbewerbsverfälschung zugunsten des Mitgliedstaats ein, der sich gerade nicht gemeinschaftstreu verhält. 604 Die Lücke im Gesetz wird zum Standortvorteil. Wenn ein Mitgliedstaat einschlägige Aktivitäten auf dem Gebiet der Geldwäsche und des Insiderhandels nicht erfaßt, kann ihm das bei isolierter Betrachtung der daraus erwachsenden Aktivitäten durchaus zum Vorteil gereichen. Der denkbare Einwand, eine derartige Ballung kriminogener Verhaltensweisen könne aus der Sicht eines Mitgliedstaats kaum als wünschenswert bezeichnet werden, greift nicht durch. Folge derartiger Geschäfte sind nicht sozial unerträgliche Zustände, sondern bei isolierter Betrachtung durchaus anzustrebende Wirtschaftsaktivitäten. Denn bei der Geldwäsche geht es gerade darum, jede Verbindung zur ursprünglichen Tat zu kappen und den Ertrag aus schweren Straftaten in den regulären Geldkreislauf einzuschleusen. Derartige Taten sind äußerlich und in ihren Auswirkungen nicht von legalen Geschäften zu unterscheiden und könnten dem jeweiligen Mitgliedstaat als Finanzplatz mithin durchaus Wettbewerbsvorteile verschaffen. 605 Um eine Harmonisierung überhaupt erreichen zu können, ist es notwendig, die „essentialia negotii" in der Richtlinie vorzugeben. Diese in den Einzelartikeln der Richtlinie enthaltenen Vorgaben verkörpern in Verbindung mit den der Richtlinie 604 605

Pagliaro, Grenzen der Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, S. 379, 384. Ohne das sehr facettenreiche Thema der Steuerflucht vertiefen zu wollen, sei zur Illustration schlagwortartig an die Möglichkeit erinnert, Kapitalvermögen in bestimmte EG-Mitgliedstaaten zu verlagern, w o ein starkes Bankgeheimnis es den deutschen Finanzbehörden praktisch unmöglich macht, die Einkünfte aus Kapitalvermögen zu ermitteln. Man wird kaum bestreiten können, d a ß ein Finanzplatz wie Luxemburg davon profitierte, während Kapital aus Deutschland abgezogen wurde. Weiterhin wird man nicht bestreiten können, daß mit Kapitalanlagegeschäften wie Aktienkäufen, die mit aus dem Drogenhandel stammenden Geldern finanziert werden, an dem jeweiligen Standort nicht die soziale Verelendung einzieht.

D. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung von Strafnormen

195

vorangestellten Begründungserwägungen das sekundärrechtlich verankerte Interesse der Gemeinschaft, das die Mitgliedstaaten als Verpflichtung im Sinne des Art. 10, ex-Art. 5 EGV zu schützen haben. 606 In diesem Sinne verfahrt auch die Praxis. Ein Blick in die Richtlinien zur Bekämpfung der Geldwäsche und des Insiderhandels zeigt, daß keine Straftatbestände oder Rechtsfolgen vorformuliert wurden, 607 aber doch Umschreibungen dessen, was erfaßt werden soll. Hieran hat sich der Mitgliedstaat zu orientieren. Ohne eine solche Festlegung ist ein Harmonisierungsvorhaben nicht denkbar. Die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft wird dadurch nicht verletzt, denn die Formulierung des außerstrafrechtlichen Verbots ist Teil der jeweiligen allgemeinen Sachkompetenz der Gemeinschaft. 608 Die Freiheit der Wahl der Rechtsfolgen kann im Lichte des Regelungsziels der Richtlinie ebenfalls so reduziert werden, daß im Ergebnis zumindest auch Freiheitsstrafen vorzusehen sind. Beispielhaft kann hier die Geldwäsche genannt werden. Wenn es das erklärte Ziel der Harmonisierung ist, das Waschen des Erlöses aus organisierten Drogengeschäften zu unterbinden, liegt es auf der Hand, daß die Androhung von Geldbuße oder Geldstrafe nicht genügt, um gegen tatbestandsmäßige Handlungen strafrechtlichen Schutz zu gewähren. 609 Scharf davon zu trennen ist die Frage, wie der Mitgliedstaat diese Vorgabe in sein Strafrechtssystem einfügt. Auf den Gebieten der Geldwäsche und des Insiderhandels hat der deutsche Gesetzgeber völlig unterschiedliche Wege gewählt. Das Insiderstrafrecht wurde unmittelbar im Insiderrecht in § 38 W p H G geregelt und gewinnt erst durch weitere Normen des Gesetzes an Gestalt. Diese Vorgehensweise war aufgrund der Richtlinieninhalte jedoch nicht zwingend geboten. Bei der Umsetzung der Richtlinie zur Bekämpfung der Geldwäsche wurde der Straftatbestand denn auch von den sonstigen Regelungen zum Aufspüren einschlägiger Gelder abgetrennt und in § 261 StGB eigenständig normiert. Damit soll nicht gegen Literaturstimmen argumentiert werden, die angesichts uneinheitlicher Strafrechtskulturen vor einer Vereinheitlichung des Strafrechts warnen,610 doch darum geht es bei der Angleichung des Strafrechts mittels Richtlinien auch nicht. Es gilt lediglich, den in der Kompetenzfrage wurzelnden Konflikt zu

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Vgl. Engel, Die Verwaltung 1992, 437, 445 Fn. 25; Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 286. PiWA, ZStW 109 (1997), 756, 767. In diesem Sinne schon K. Tiedemann, NJW 1993, 23, 26 und ihm folgend Kühne, JZ 1998, 1070. Ähnlich Vogel, ZStW 109 (1997), 335, 342 Fn. 32 mit Hinweis auf das „Mais-Urteil" EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965 ff. Rüter, ZStW 105 (1993), 30, 35 ff. mit Beispielen.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

überwinden und den gegebenen Souveränitätsvorbehalt der Mitgliedstaaten, der die Strafrechtskultur ja gerade wahrt, in ein ausgewogenes Verhältnis mit den legitimen gemeinschaftsrechtlichen Schutzinteressen zu bringen. Dem sollte sich das Strafrecht nicht verschließen, zumal das Subsidiaritätsprinzip dazu führt, die Frage nach der Notwendigkeit einer gemeinschaftsweiten Kodifizierung immer wieder neu zu stellen.

E. Das ius non puniendi der Gemeinschaft Wie die Untersuchung der Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ergeben hat, nimmt das Strafrecht auf der Ebene der positiven Rechtssetzungskompetenz eine Sonderrolle ein. Es spaltet sich von den Kompetenzen der Gemeinschaft ab. Daraus folgt jedoch keine umfassende Unabhängigkeit des Strafrechts. Es unterliegt wie jedes andere Rechtsgebiet dem Einfluß und den Schranken des Gemeinschaftsrechts. 611 Aus der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Kompetenz zur Schaffung strafrechtlicher Normen ist kein autonomer Status des Strafrechts abzuleiten. Das Strafrecht entzieht sich nicht dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. 612

I. Zur Rechtsprechung des Gerichtshofs Der Gerichtshof hat im Fall „Casati" 613 hierzu Feststellungen getroffen, die das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht in seinen Grundzügen noch immer zutreffend umschreiben. Das Urteil bringt das zwiespältige Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht besonders gut zum Ausdruck. Der Gerichtshof führte aus: 611

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Dannecker, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts, S. 161, 179; ders. in: Ulsamer (Hrsg.), Lexikon des Rechts, S. 309; 312; Gärditz, wistra 1999, 293, 294; Jung, JuS 2000; 417, 419f.; JunglSchroth, GA 1983, 241, 264; Kert, JB1. 1999, 87, 88f.; Rengeling/Middeke/Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 1216; Sevenster, CML Rev. 1992, 29, 45; Zuleeg, JZ 1992, 761, 762; ferner Schlußanträge des Generalanwalts Colomer in: EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1. 6609, 6624. Unklar: Tröndle/Fischer, vor §3 Rn. 5b; ebenso de Weerth, Bilanzordnungswidrigkeiten, S. 27f., der die Begrenzung des Strafrechts durch das Gemeinschaftsrecht mit dem Problem der Anordnungskompetenz vermengt. Dannecker, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts, S. 161, 179; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 15f.; Otto, Grundkurs Strafrecht, § 2 Rn. 55. EuGH, Urteil vom 11.11.1981, Rs. 203/80; Ε 1981, 2595 ff.

Ε. Das ius non puniendi der Gemeinschaft

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„Für die Strafgesetzgebung und die Strafverfahrensvorschriften bleiben grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt das Gemeinschaftsrecht jedoch auch auf diesem Gebiet hinsichtlich (...) derjenigen Kontrollmaßnahmen Schranken, deren Aufrechterhaltung den Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht im Rahmen des freien Waren- und Personenverkehrs gestattet ist: Die administrativen oder strafrechtlichen Maßnahmen dürfen nicht über den Rahmen des unbedingt Erforderlichen hinausgehen, die Kontrollmodalitäten dürfen nicht so beschaffen sein, daß sie die vom Vertrag gewollte Freiheit einschränken, und es darf daran keine Sanktion geknüpft sein, die so außer Verhältnis zur Schwere der Tat steht, daß sie sich als eine Behinderung der Freiheit erweist."614 Strafrechtliche Vorschriften dürfen mithin nicht subjektive Rechte unterlaufen, die dem Gemeinschaftsbürger gemeinschaftsrechtlich zustehen. 615 Die Mitgliedstaaten müssen in ihrer Strafgesetzgebung darauf achten, sich mit Straftatbeständen nicht in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht zu setzen. 616 In der Entscheidung „Cowan" hat der Gerichtshof diese gemeinschaftsrechtliche Begrenzung der mitgliedstaatlichen Strafgewalt abermals unterstrichen. Auf den Einwand eines Mitgliedstaats, die streitgegenständliche Regelung des Strafverfahrensrechts liege auf einem Gebiet, das nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages falle, führt der Gerichtshof aus: „Dazu ist zu sagen, daß für das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht (...) zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig sind, daß das Gemeinschaftsrecht jedoch (...) dieser Zuständigkeit Schranken setzt: Derartige Rechtsvorschriften dürfen weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken." 617 Diese Urteilspassage stellt klar, daß auch strafrechtliche oder strafverfahrensrechtliche Vorschriften den EG-Bürger nicht diskriminieren dürfen. 618 Handlungen, die einen Gemeinschaftsrechtsbezug aufweisen, also etwa im Zusammenhang mit der Freiheit des Warenverkehrs stehen, dürfen strafrechtlich im Vergleich mit entsprechenden rein binnenstaatlich wirkenden Verhaltensweisen nicht zu einer unglei-

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EuGH, Urteil vom 11.11.1981, Rs. 203/80; Ε 1981, 2595, 2618. Perron, Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, S. 135, 139. Kühne, JZ 1998, 1070. EuGH, Urteil vom 2.2.1989, Rs. 186/87, Ε 1989, 195, 221 f.; vgl. auch Dannecker, Strafrecht der EG, S. 57 f. In der Sache ging es um die Anwendung französischer Vorschriften, die Entschädigungsleistungen für Opfer von Gewalttaten regelten. Beispiel: EuGH, Urteil vom 25.2.1988, Rs. 299/86, Ε 1988, 1213ff„ siehe dazu auch Dannecker, Strafrecht der EG, S. 76f.; Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 30f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 16f.; allgemein zum Diskriminierungsverbot Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1730ff. mwN.

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2. H a u p t t e i l : Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

chen Benachteiligung führen. 619 In jüngerer Zeit hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung im Sinne der Fälle „Casati" und „Cowan" im Fall „Lemmens" 620 unterstrichen. Diese Rechtsprechung verdient uneingeschränkte Zustimmung, da es widersinnig und dem Integrationsprozeß abträglich wäre, das Strafrecht als unantastbare mitgliedstaatliche Schranke gemeinschaftsrechtlich verbürgter Freiheiten anzusehen. Die Aussicht auf strafrechtliche Konsequenzen ist dazu prädestiniert, ein gemeinschaftsrechtlich verbürgtes Recht letztlich doch nicht in Anspruch zu nehmen. Ein aus der Funktionsfähigkeit des Gemeinschaftsrechts abzuleitender Vorrang muß in letzter Konsequenz auch uneingeschränkt gegenüber dem Strafrecht gelten. D a s führt folgender Gedanke vor Augen: Die einheitliche Wirkung und damit die Funktionsfähigkeit des Gemeinschaftsrechts wären in Frage gestellt, wenn es von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat einen Unterschied machen würde, ob das Gemeinschaftsrecht in der einen oder anderen Rechtsordnung zufällig auf ein strafrechtliches Gegengewicht stößt. Cuerda Riezu hat in diesem Zusammenhang treffend von einer Art negativer Strafrechtskompetenz, einem ius non puniendi gesprochen. 621 Sie kommt darin zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber gegen ein nach dem Gemeinschaftsrecht erlaubtes Verhalten keine strafrechtlichen Vorschriften ins Feld führen darf. Darin läge eine Verletzung gemeinschaftsrechtlicher Pflichten. Der Strafrichter darf dann keine 619

Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 29. Allerdings ist mit dem Begriff „Diskriminierungsverbot" vorsichtig umzugehen, da sich damit nicht nur für den Täter günstige Folgen verbinden müssen. Denn gemeinschaftsrechtlich kann mit dem Begriff nicht nur die Diskriminierung im Sinne einer Benachteiligung des EG-Bürgers durch das nationale Recht gemeint sein. Der Begriff besagt auch in einem allgemeineren Sinne, daß die Durchsetzung oder der Vollzug von EG-Recht nicht weniger leistungsfähig ausgestaltet sein darf als die Durchsetzung des nationalen Rechts, vgl. Jarass, DVB1. 1995, 954, 960; RengelinglMiddekel Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 975ff.; allgemein: E u G H , Urteil vom 21.9.1983, Rs. 205-215/82, Ε 1983, 2633, 2665f. Dieser Rechtsgedanke kann ζ. B. aufleben, wenn es darum geht, ob gemeinschaftsrechtlich bedingte Pflichten wie innerstaatliche Pflichten behandelt werden müssen. Während sich im ersten Fall die Beachtung des Diskriminierungsverbots aus strafrechtlicher Sicht für den Täter begünstigend auswirkt, m u ß das im zweiten Fall nicht so sein. Mit Begriffen wie dem des Diskriminierungsverbots dürfen aus strafrechtlicher Sicht nicht nur für den Täter günstige Folgen assoziiert werden. Das gilt auch f ü r die Grundfreiheiten. Aus ihnen können Schutzpflichten erwachsen, die auf das Strafrecht einwirken und insbesondere strafverfahrensrechtlich eine effektives Vorgehen des Mitgliedstaates erfordern. Die Einzelheiten verlassen jedoch das Thema dieser Untersuchung, siehe näher Szczekalla, DVB1. 1998, 219ff. m.w.N, der ebenda S. 224, zutreffend darlegt, daß ausländerfeindliche Übergriffe in Deutschland auch zum Schutz der Freizügigkeit einen energischen Einsatz des Strafrechts verlangen.

620

E u G H , Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998, 1-3711, 3731 f., siehe auch die Schlußanträge des Generalanwalts Fennelly, ebenda, 1-3717. Cuerda Riezu, Madrid-Symposium, S. 367, 371.

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Ε. Das ius non puniendi der Gemeinschaft

199

Strafe verhängen, wenn die Tat nach Europarecht als „rechtmäßig" einzuordnen ist.622 Die zur Unanwendbarkeit der Strafnorm führenden Rechte des Täters können auf unmittelbar anwendbarem Primär- oder Sekundärrecht beruhen. Zur Begrenzung des Strafrechts kommt es vor allem in Fällen, in denen das Gemeinschaftsrecht ein Verbot überlagert, das wiederum dem Strafrecht für den Fall der Zuwiderhandlung als Anknüpfungspunkt für eine Sanktion dient. 623 Als Beispiel für eine Anwendung des Primärrechts sei auf den Fall „Prantl" verwiesen,624 der auf eine Vorlage des LG München II zurückgeht. Verkürzt läßt sich dieser hier hinsichtlich der Einzelheiten nicht interessierende Fall wie folgt zusammenfassen: Herr Prantl hatte südtiroler Rotwein nach Deutschland eingeführt und verkauft. In Oberitalien und Südtirol werden Weine seit Jahrhunderten in gedrungenen, bauchigen Flaschen abgefüllt, die der in Deutschland sogenannten „Bocksbeutelflasche" gleichen. Nach dem deutschen Weinrecht war diese Flaschenform gemäß einer strafbewehrten Rechtsverordnung Weinen aus Franken vorbehalten und Herr Prantl wurde wegen eines Verstoßes gegen das Weingesetz verfolgt. Der Gerichtshof wandte Art. 28, ex-Art. 30 EGV (Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung) an und verneinte eine Rechtfertigung des innerstaatlichen Rechts gemäß Art. 30, ex-Art. 36 EGV. Die Unanwendbarkeit einer Strafnorm aufgrund einer sekundärrechtlichen Vorschrift veranschaulicht der im Verlauf dieser Untersuchung noch näher zu betrachtende Fall „Bordessa". In diesem Verfahren ging es um die Kontrolle der Devisenausfuhr. Der Gerichtshof erachtete strafbewehrte Vorschriften des nationalen Rechts, nach denen die Ausfuhr zu genehmigen und nicht nur anzumelden war, als mit unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten unvereinbar. 625 Von großer Bedeutung ist an dieser Stelle die Wirkungsweise des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts. Wenn der Gerichtshof einer Norm des Gemeinschaftsrechts unmittelbare Wirksamkeit beimißt, so folgt daraus nicht fortan unbesehen die Unanwendbarkeit der dem EG-Recht widerstreitenden Vorschrift des nationalen Rechts. Denn der Anwendungsvorrang wirkt grundsätzlich nur im Einzelfall und es bedarf eines Gemeinschaftsrechtsbezugs. Die innerstaatliche Norm ist weiterhin geltendes Recht. Eine mitgliedstaatliche Vorschrift kann daher für den Fall eines 622 623 624 625

Cuerda Riezu, Madrid-Symposium, S. 367, 371; Sevenster, CML Rev. 1992, 29, 45. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 17 f. EuGH, Urteil vom 13.3.1984, Rs. 16/83, Ε 1984, 1299ff. EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995 1-361, 386. Wobei anzumerken ist, daß die Richtlinie zum Tatzeitpunkt nicht unmittelbar wirkte. Die Kollisionslage zwischen nationalem Recht und der Richtlinie entsteht im Fall „Bordessa" erst bei Anwendung des strafrechtlichen Milderungsgebots.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

gemeinschaftsrechtlichen Bezugs verdrängt werden, aber auf reine Inlandssachverhalte weiterhin anwendbar bleiben. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann es auch zu einer strafrechtsspezifischen Unanwendbarkeit kommen. In dieser Fallgruppe untersagt der Gerichtshof nicht etwa generell jedwede Ahndung, sondern will speziell die strafrechtliche Sanktionsnorm unangewendet wissen.626 Obwohl es im strafrechtlichen Zusammenhang sehr schwierig ist, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs über die Kasuistik hinausreichende Kerngedanken zur Unanwendbarkeit strafrechtlicher Normen herauszufiltern, kann diese Aussage als gesichert gelten. Im Fall „Skanavi" formuliert der Gerichtshof wie folgt: „Nach einer ständigen Rechtsprechung zur Nichtbeachtung der Formalitäten, die für die Feststellung des Aufenthaltsrechts einer durch das Gemeinschaftsrecht geschützten Person verlangt werden, dürfen die Mitgliedstaaten jedoch keine unverhältnismäßige Sanktion vorsehen, die ein Hindernis für die Freizügigkeit schaffen würde, was namentlich bei einer Freiheitsstrafe der Fall ist (...)." 627

In diesen Fällen spricht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Kontrolle bestimmter Lebenssachverhalte und auch die Ahndung von Verstößen nicht grundsätzlich ab. Eine entsprechende außerstrafrechtliche Norm bleibt also anwendbar. Der Gerichtshof verwehrt es den Mitgliedstaaten jedoch, im Lichte des Gemeinschaftsrechts als unverhältnismäßig einzustufende Rechtsfolgen vorzusehen. Diese UnVerhältnismäßigkeit liegt für den Gerichtshof vor, wenn an einen Verstoß gegen Ordnungs- oder Formalvorschriften strafrechtliche Rechtsfolgen geknüpft werden.628

II. Zur Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs Diese Rechtsprechung ist in der strafrechtlichen Literatur auf Kritik gestoßen. Heise wirft dem Gerichtshof vor, seinen Kompetenzbereich verlassen zu haben. 629 Die Kritik gilt Fällen, in denen der Gerichtshof einerseits im nationalen Recht ent626

627 628

629

Zur Androhung von Freiheitsstrafe: EuGH, Urteil vom 12.12.1989, Rs. C-265/88, Ε 1989, 4209ff. Bestätigt in: EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs C-193/94, Ε 1996, 1-929, 955. Dem Grunde nach ebenso schon im Fall „Watson", EuGH, Urteil vom 7. 7.1976, Rs. 118/75, Ε 1976, 1185, 1199 (Freizügigkeit) und im Fall „Donckerwolcke" EuGH, Urteil vom 15.12.1976, Rs. 41/76, Ε 1976, 1921, 1937f. (Freiheit des Warenverkehrs); siehe auch Dannecker, Strafrecht der EG, S. 77 f. EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs C-193/94, Ε 1996,1-929, 955. Siehe ζ. B. im Fall „Donckerwolcke" zu Deklarationspflichten bei der Einfuhr von Waren, EuGH, Urteil vom 15.12.1976, Rs. 41/76, Ε 1976, 1921, 1937f. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 27.

Ε. D a s ius non puniendi der Gemeinschaft

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haltene Pflichten mit dem Gemeinschaftsrecht für vereinbar hält, sodann aber die strafrechtliche Sanktion eines Verstoßes gegen diese Pflicht als unverhältnismäßig und mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar einstuft. 630 Heise begründet seine Kritik mit der Erwägung, jedes staatliche Ge- oder Verbot beeinträchtige neben speziellen Grundrechten zumindest das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit. Sofern diese Vorschriften verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind, habe der Bürger den Eingriff zu dulden. Davon sei die Sanktion zu unterscheiden. Deren Höhe habe keinen Einfluß auf die Qualität des bereits mit dem strafbewehrten Ge- oder Verbot verbundenen Grundrechtseingriffs. Diese Sachlage ändere sich selbst dann nicht, wenn die angedrohte Sanktion unverhältnismäßig sei, da der im konkreten Ge- oder Verbot liegende Eingriff qualitativ derselbe bleibe.631 Der Gerichtshof habe nur über das Ge- oder Verbot zu befinden. Wenn der Gerichtshof im Fall „Watson" 632 nationale Meldepflichten mit den Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit für vereinbar halte, könne sich diese Einschätzung nicht verändern, wenn ein Verstoß gegen diese Pflichten unverhältnismäßig sanktioniert werde.633 Die unverhältnismäßige Sanktion stelle keine weitergehende Einschränkung der gemeinschaftsrechtlich verbürgten Freiheit dar. Der Betroffene könne sie abwenden, indem er der gemeinschaftsrechtskonformen Verpflichtung des nationalen Rechts nachkommt. 634 Heise trennt scharf zwischen der außerstrafrechtlichen Verhaltensnorm und der daran anknüpfenden Sanktionsvorschrift. Der Gerichtshof kann danach nur entscheiden, ob das Ge- oder Verbot dem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Wenn er die Vereinbarkeit bejahe, sei die nationale Verhaltensnorm gemeinschaftsrechtskonform. Das Recht der strafrechtlichen Sanktionen betreffe ausschließlich das Strafrecht, für das der Gerichtshof nicht zuständig sei.635 Diese Auffassung vermag nicht zu überzeugen. Soweit der Gerichtshof die kriminalstrafrechtliche Verfolgung von Formalverstößen im Lichte der Grundfreiheiten untersagt, verläßt er seinen Kompetenzbereich nicht. 636 Er wendet sich zwar dem Strafrecht zu, aber er tritt nicht in eine materiell-rechtliche Prüfung des Strafrechts 630 631 632 633 634 635 636

Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 22, 26 f. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 25 f. EuGH, Urteil vom 7.7.1976, Rs. 118/75, Ε 1976, 1185 ff. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 26. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 26. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 26. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs muß vielmehr im strafrechtlichem Zusammenhang als ausgesprochen zurückhaltend bezeichnet werden, was sich noch verschiedentlich an konkreten Beispielen erweisen wird. Hier sei nur auf EuGH, Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998, 1-371 Iff. und die aufgrund der Zurückhaltung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht kritische Anmerkung von Abele, EuZW 1998, 571 f., verwiesen.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

ein, sondern trifft Aussagen über die Grenzen von Sanktionen im Zusammenhang mit der Ausübung von gemeinschaftsrechtlich verbürgten Freiheiten durch EGBürger. Diesen Freiheiten gegenüber ist das Strafrecht nicht resistent. Wenn der Gerichtshof in den von Heise gemeinten Fällen die Verhaltensnorm als gemeinschaftsrechtskonform einstuft, aber die Verhängung von Kriminalstrafen als gemeinschaftsrechtswidrig bezeichnet, so ist das keine Kompetenzanmaßung. Denn die Gemeinschaftsrechtsordnung beschränkt sich nicht nur auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft, sondern verleiht den einzelnen Marktbürgern subjektive Rechte.637 Freiheiten des Gemeinschaftsrechts wie das Recht auf Freizügigkeit werden dem einzelnen durch das EG-Recht selbst verliehen.638 Den Mitgliedstaaten kann es gemäß dem jeweiligen Integrationsstand erlaubt sein, diese Vorgänge gemäß den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben näher auszuformen, aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu kontrollieren 639 und ζ. B. deklaratorisch wirkende und vom EG-Bürger zu beantragende EGAufenthaltsbescheinigungen auszustellen. 640 Ein Verstoß gegen solche Vorschriften macht den Aufenthalt aber nicht illegal und kann nur so geahndet werden, wie etwa Verstöße gegen nationales Melderecht sanktioniert werden. 641 Heise verkürzt diese Zusammenhänge, denn nach ihm wäre nur zu fragen, ob ein Mitgliedstaat ein bestimmtes Verhalten wie den Aufenthalt eines EG-Bürgers durch die Einführung einer Meldepflicht kontrollieren darf.642 Die Frage der Sanktion soll dann keine des EG-Rechts mehr sein. Mit dieser Argumentation hätte der Gerichtshof den Fall „Royer" 643 nicht mehr zugunsten des EG-Bürgers entscheiden dürfen, wenn der Mitgliedstaat den Verbotsverstoß unter Strafe stellt und sodann die Ausweisung auf das Vorliegen einer Vorstrafe stützt. Dem Mitgliedstaat stünde es nach Heise im Ergebnis frei, den Verstoß gegen die Meldepflicht wie einen illegalen Aufenthalt zu sanktionieren. Dabei würde völlig außer acht gelassen, daß sich der EG-Bürger gerade nicht illegal aufgehalten und ein ihm dem Grunde nach zustehendes Recht in

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640 M1 M2 643

EuGH, Urteil vom 5.2.1963, Rs. 26/62, Ε 1963, 1, 25. Ausführliche Analyse bei Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 59 ff. EuGH, Urteil vom 8.4.1976, Rs. 48/75, Ε 1976,497, 511; EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, Ε 1977, 1495ff; EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2183; Bleckmann in; Bleckmann, Europarecht, Rn. 1644; Oppermann, Europarecht, Rn. 1510ff. Siehe die zusammenfassende Würdigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Vorbehalt der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bei A. Weber, EuGRZ 1978, 157ff. Vgl. im Fall „Pieck" EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2186f. EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2187. Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 7.7.1976, Rs. 118/75, Ε 1976, 1185, 1199. EuGH, Urteil vom 8.4.1976, Rs. 48/75, Ε 1976, 497, 508ff. Dort sah er es als mit dem Freizügigkeitsrecht unvereinbar an, wenn der Mitgliedstaat auf einen ausländerrechtlichen Verstoß mit einer Ausweisung reagiert.

Ε. Das ius non puniendi der Gemeinschaft

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Anspruch genommen hat. Im Ergebnis würde der Verstoß so sanktioniert, als sei dem EG-Bürger das Recht auf Freizügigkeit nie eingeräumt worden. 644 Wenn Heise selbst das Recht der Freizügigkeit wählt, um die vermeintliche Kompetenzanmaßung durch den Gerichtshof zu belegen, kann es nicht ohne Kritik bleiben, wenn er nur seine Meinung darlegt und an dieser für das Zusammenspiel von Gemeinschaftsrecht und Strafrecht wichtigen Stelle nicht auf die einschlägige deutsche Literatur 645 und Rechtsprechung 646 eingeht. In der deutschen Rechtsprechung zum Ausländerstrafrecht gab es freilich unterschiedliche Interpretationen der Urteile des Gerichtshofs. 647 D i e Obergerichte zogen aber nicht die Vorgabe des Gerichtshofs in Zweifel, nach der das Recht auf Freizügigkeit unmittelbar aus dem Vertrag folgt und auch dem „Wie" der Bestrafung Schranken setzt. 648 Zustimmung verdienen auch ministerielle Erlasse, mit denen von der Vollstreckung rechtskräftiger Verurteilungen abgesehen wurde, die gegen EG-Bürger wegen ausländerrechtlicher Vertöße ergangen waren. 649 Schließlich führt auch die Rechtsentwicklung zum Ausländerstrafrecht vor Augen, 650 wie der Gesetzgeber im Lichte des vom Gerichtshof geprägten Rechts auf Freizügigkeit die dadurch gezogenen Grenzen akzeptierte. Für denjenigen, der ein Recht wahrnimmt, macht es einen großen Unterschied, ob ein Verstoß ordnungsrechtlich oder mit kriminalstrafrechtlichen

Mitteln geahn-

det wird. Allein die Aussicht auf eine strafrechtliche Verfolgung in einem Mitglied-

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Ebenso fragwürdig war es, wenn in Deutschland EG-Bürger wegen eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 StVG strafrechtlich verfolgt wurden, nur weil sie es versäumt hatten, den in ihrem Heimatland erworbenen Führerschein rechtzeitig umschreiben zu lassen, vgl. das vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin ausgehende Vorabentscheidungsverfahren EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs C-l93/94, Ε 1996,I-929ff. Dabei sah das EG-Recht vor, daß der Führerschein dem Grunde nach anerkannt wird und keine theoretische oder praktische Prüfung abzulegen war. Das Umschreibungsverfahren sollte das Recht zum Führen eines Kraftfahrzeugs bestätigen, aber nicht verleihen, siehe EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs C-193/94, Ε 1996,1-929,946. In solchen Fällen wäre es freilich nicht zu beanstanden gewesen, wenn die verspätete Vorlage bußgeldrechtlich sanktioniert worden wäre. Siehe nur Sasse, EuGRZ 1978, 230 ff.; A. Weber, EuGRZ 1978, 157 ff. BayObLG, EuGRZ 1978, 74ff.; OLG Stuttgart, NJW 1978, 1758f.; AG Reutlingen, EuGRZ 1977, 415ff. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht dazu Sasse, EuGRZ 1978, 230 ff. Besonders deutlich: BayObLG, EuGRZ 1978, 74, 76 linke Spalte, dem folgt OLG Stuttgart, NJW 1978, 1758, 1759 linke Spalte. Siehe die Erlasse des Justizministeriums des Landes Baden-Württemberg vom 31.8.1977 und 8.12.1977, EuRZ 1997, 524 und EuGRZ 1978, 77. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zog in Deutschland eine Privilegierung von EG-Bürgern nach sich. Ausländerrechtliche Verstöße von EG-Bürgern wurden zur Ordnungswidrigkeit abgestuft, siehe im einzelnen die Darstellung bei Arunhammer, Spezielles Ausländerstrafrecht, S. 15 f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht

Staat kann dazu führen, daß ein Marktbürger auf die Ausübung seiner Rechte in diesem Staat verzichtet. Es wäre widersprüchlich, dem Marktbürger gemeinschaftsweit eine Freiheit zu gewähren, bei deren Wahrnehmung er aber Gefahr läuft, wegen geringfügiger Verstöße mit Geld- oder Freiheitsstrafen belegt zu werden. Das gilt auch dann, wenn das innerstaatliche Verbot als solches nicht mit dem Gemeinschaftsrecht kollidiert. Die Grundsätze aus dem eingangs zitierten „Casati"-Urteil vergegenwärtigen die Gründe: Wenn die Mitgliedstaaten auf den Gebieten des freien Waren- und Personenverkehrs Kontrollen aufrechterhalten können, so dürfen die administrativen oder strafrechtlichen Maßnahmen nicht über den Rahmen des unbedingt Erforderlichen hinausgehen. Die Kontrollmodalitäten dürfen nicht so beschaffen sein, d a ß sie die vom Vertrag gewollte Freiheit einschränken und Sanktionen dürfen nicht außer Verhältnis zur Schwere der Tat stehen und sich als eine Behinderung der Freiheit erweisen. 651 Die Funktionsfahigkeit des Gemeinschaftsrecht wäre ernsthaft gefährdet, wenn bloße Formalverstöße kriminalstrafrechtliche Rechtsfolgen auslösen könnten. Gerade dann, wenn das Gemeinschaftsrecht keine umfassende Kodifizierung enthält und sich mit den Vorschriften der Mitgliedstaaten verzahnt, entsteht in einer Gesamtschau aller Rechtsordnungen f ü r den einzelnen eine unübersichtliche Rechtslage. Die in jedem Mitgliedstaat ohnehin schon schwierige Orientierung im Bereich des Nebenstrafrechts wird noch komplizierter und gewissermaßen um die Zahl der Staaten multipliziert. Derjenige, der ζ. B. seine Dienstleistung in anderen Mitgliedstaaten anbieten möchte, kann von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat mit unterschiedlichen Vorschriften, Behörden und Zuständigkeiten konfrontiert werden, die seine Tätigkeit betreffen und im Detail regeln. Sofern er nun Gefahr läuft, bei geringfügigen Verstößen einen kriminalstrafrechtlichen Tatbestand zu verwirklichen, dürfte er geneigt sein, seine gemeinschaftsrechtlich verbürgten Rechte im Ergebnis doch nicht wahrzunehmen oder auf die Staaten zu konzentrieren, die keine strafrechtlichen Konsequenzen androhen. Schließlich stehen strafrechtliche Verurteilungen und das Gemeinschaftsrecht auch deshalb in einer Wechselwirkung, weil Vorstrafen Folgen für den Zugang oder die Ausübung eines Berufs haben können, was wiederum eine dauerhafte Beschränkung der Freizügigkeit darstellen würde. 652

651 652

EuGH, Urteil vom 11.11.1981, Rs. 203/80; Ε 1981, 2595, 2618; Zuleeg, JZ 1992, 761, 765. Siehe EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs C-193/94, Ε 1996,1-929, 955.

Ε. Das ius non puniendi der Gemeinschaft

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III. Keine vorschnelle Annahme der Unanwendbarkeit des Strafrechts Eine Berührung gemeinschaftsrechtlicher Grundfreiheiten gibt also Anlaß, den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund zu analysieren. Ob das außerstrafrechtliche Verbot oder die Strafnorm selbst als unverhältnismäßige Sanktion verdrängt werden, kann aber immer nur aus dem konkreten Sachzusammenhang heraus beantwortet werden. D a s nationale Strafrecht darf nicht vorschnell als unanwendbar angesehen werden. Einen bedeutenden Gesichtspunkt stellt auch hier die Kompetenzaufteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten dar. Im Fall „Hansen" 653 hat der Gerichtshof trotz der detaillierten gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Lenkzeit 6 5 4 die in Dänemark gegebene objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht als unverhältnismäßig eingestuft. 655 Die Bedeutung der Kompetenzfrage hat Generalanwalt van Gerven in seinen Schlußanträgen treffend herausgearbeitet: 656 „Wie bereits gesagt, macht die Firma Hansen mit ihrem zweiten Argument geltend, daß die Anwendung eines Systems der objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu Verzerrungen der Wettbewerbsverhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten führe. Daß die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen eines der wichtigsten Ziele der Verordnung Nr. 543/69 war, ist sicher richtig. Durch die Wahl der Form einer Verordnung sollten den im Transportsektor tätigen Personen und Unternehmen eine Reihe unmittelbar geltender, detaillierter Pflichten auferlegt werden, um ein unterschiedliches Handeln der nationalen Gesetzgeber zu vermeiden. Dieses Ziel der größtmöglichen Harmonisierung mag bezüglich der anwendbaren (Verhaltens-) Regeln verwirklicht worden sein, doch gilt dies nicht für die Überwachung und Ahndung in bezug auf diese Regeln. Trotz des Drängens der Kommission wurden in diesem Bereich niemals einheitliche Bestimmungen festgelegt und zwar, wie es heißt, infolge des ausdrücklichen Widerstands der Mitgliedstaaten gegen die Abgabe ihrer strafrechtlichen Kom653

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EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/88, Ε 1990, 1-2911 ff; dazu auch Zuleeg, JZ 1992, 761,766. VO (EWG) Nr. 543/69 vom 25.3.1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, ABl. Nr. L 77, S. 49. In Rede stand eine Regelung des dänischen Rechts, nach der ein Arbeitgeber auch dann mit einer Geldbuße belegt werden kann, wenn ihm hinsichtlich einer Überschreitung der Vorschriften über die Lenkzeit weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, siehe im einzelnen EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/88, Ε 1990,1-2911, 2913. Zur Tatzeit galt noch die VO (EWG) Nr. 543/69 vom 25.3.1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, ABl. Nr. L 77, S. 49, womit die Unternehmerpflichten nach Art. 15 der VO (EWG) Nr. 3820/85 vom 20.12.1985, ABl. Nr. L 370, S. 1, noch nicht galten. Schlußanträge des Generalanwalts van Gerven in: EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/ 88, Ε 1990,1-2911,2924 f.

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2. Hauptteil: Das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht petenzen. Dies führt zwangsläufig dazu, daß Überwachung und Ahndung bezüglich der Bestimmungen der Verordnung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind."

Generalanwalt van Gerven hebt damit einen wichtigen Aspekt hervor. Selbst wenn das Gemeinschaftsrecht in den Bereichen der Grundfreiheiten sehr detaillierte Normen mit dem Ziel einer abschließenden Regelung trifft, kann es die strafrechtlichen Konsequenzen eines Verbotsverstoßes mangels Kompetenz nicht selbst regeln und bleibt auf das nationale Strafrecht angewiesen. Das Strafrecht der Mitgliedstaaten birgt jedoch Unterschiede. Der Fall „Hansen" illustriert die Auswirkungen: Während ein dänischer Arbeitgeber bei einem Lenkzeitverstoß eines seiner Fahrer auch verschuldensunabhängige Sanktionen fürchten mußte, sahen sich Konkurrenten aus anderen Mitgliedstaaten derartigen Rechtsfolgen nicht ausgesetzt. Die Vielfalt erwächst aus der strafrechtssspezifischen Kompetenzlage und wird durch das „Mais-Urteil" 657 des Gerichtshofs nochmals gefördert. Im Fall „Hansen" stellte der Gerichtshof dazu fest: „Im übrigen sind (...) die Mitgliedstaaten, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Regelung keine besondere Vorschrift enthält, die für den Fall eines Verstoßes gegen die Regelung eine Sanktion vorsieht, oder wenn sie insoweit auf die nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften verweist, nach Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, daß Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen oder verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muß." 658

Ein nach diesen Grundsätzen dem jeweiligen nationalen Recht vergleichbarer Schutz muß in einer Gesamtschau aller Rechtsordnungen ein heterogenes Bild ergeben. Für den nationalen Gesetzgeber bietet seine Rechtsordnung den Vergleichsmaßstab, um die Verpflichtung zum adäquaten Schutz des gemeinschaftlichen Interesses zu erfüllen. Wenn sich aber die Rechtssysteme unterscheiden, wird das Ergebnis nicht einheitlich ausfallen. Nachbildungen unterschiedlicher Vorlagen gleichen sich eben nicht. Der Gerichtshof hebt in seiner Entscheidung denn auch hervor, daß die objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit dem in Dänemark zum Schutz der Arbeitsumwelt allgemein geltenden System entspricht. 659 Eine unverhältnismäßige Sanktionierung des dänischen Arbeitgebers ist darin nicht zu 657 658 659

EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, E. 1989, 2965 ff". EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/88, Ε 1990,1-2911, 2935. Vgl. EuGH, Urteil vom 10.7.1990, Rs. C-326/88, Ε 1990, 1-2911, 2934f.

Ε. Das ius non puniendi der Gemeinschaft

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erblicken. Weiterreichende Grundaussagen sind kaum zu formulieren, ohne in eine vielschichtige Kasuistik abzutauchen. Die Probleme entfalten sich erst im konkreten Einzelfall. Hierauf wird im 5. Hauptteil bei der Untersuchung der richtlinienkonformen Auslegung zurückzukommen sein.

IV. Ergebnis An dieser Stelle ist zu resümieren: Das Strafrecht entzieht sich den primär- und sekundärrechtlichen Schranken des Gemeinschaftsrechts nicht. Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht verdrängt auch das Strafrecht und kann es für den zu prüfenden Einzelfall unanwendbar werden lassen.

3. Hauptteil: Die Ausdeutung belastender Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht A. Einleitung Der erste Hauptteil dieser Untersuchung galt der gedanklichen Erschließung der Verzahnung des Strafrechts mit unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten. Diese Diagnose ergab einen von der ganz vorherrschenden Meinung abweichenden Befund. Rechtstheoretisch und praktisch stellt sich aufgrund richtlinienbedingter Pflichtenbegründungen die Frage nach einer strafrechtlichen Belastung. Um diese Verflechtung auf einer methodisch abgesicherten Grundlage analysieren zu können, waren im zweiten Hauptteil grundsätzliche Vorfragen der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht anzusprechen. Die Untersuchung kehrt jetzt zur Ausdeutung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zurück. An den diagnostisch ausgerichteten ersten Hauptteil koppelt sich der Versuch, einen Lösungsvorschlag für die anstehenden Probleme zu erarbeiten. Der Gedankengang greift die bereits im ersten Hauptteil getroffene Differenzierung zwischen belastenden und begünstigenden Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien auf und beschäftigt sich zunächst mit den belastenden Effekten unmittelbar wirkender Richtlinieninhalte.

B. Problemstellung Die Ergebnisse des ersten Hauptteils belegen die These von der Möglichkeit eines belastenden Effekts unmittelbar wirkender Richtlinieninhalte im Strafrecht in rechtstheoretischer und rechtstatsächlicher Hinsicht. Die bedeutende Entscheidung im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" löst die Problematik nicht vollends. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist eine Richtlinie zwar für sich allein nicht geeignet, die strafrechtliche Verantwortung des einzelnen zu be-

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren W i r k u n g von Richtlinien im Strafrecht

gründen 1 und die Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt einer Richtlinie abzustellen, findet ihre Grenze in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Teil des Gemeinschaftsrechts und insbesondere in dem Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot. Allein und unabhängig von Durchführungsvorschriften kann eine Richtlinie nach Ansicht des Gerichtshofs nicht die Wirkung haben, die strafrechtliche Verantwortlichkeit festzulegen oder zu verschärfen. 2 Diese Rechtsprechung verleitet zu der Annahme, das Verhältnis des Strafrechts zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien sei hinsichtlich belastender Folgen geklärt. Eine strafrechtlich relevante Belastung durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte könne es nicht geben.3 Das durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs erzeugte Bild eines klaren, ausgewogenen Verhältnisses des Strafrechts zur unmittelbaren Wirkung verliert jedoch seinen Harmonie vermittelnden Eindruck, wenn die weitere Rechtsprechung des Gerichtshofs betrachtet wird. Im Kern ist es die Verpflichtung der Behörden, unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte von Amts wegen zu beachten, die aus strafrechtlicher Sicht dazu führt, daß die Entscheidung im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" Fragen unbeantwortet läßt. Außerstrafrechtliche Pflichten, also ζ. B. die Pflicht des Arbeitgebers, die für seinen Betrieb geltenden Arbeitsschutzvorschriften einzuhalten, dienen dem Strafrecht bei der Überprüfung von Lebenssachverhalten auf ihre strafrechtliche Relevanz nun einmal als Anknüpfungspunkt. Wenn in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur ausgeführt wird, die Nichtbeachtung der Vorschriften mit unmittelbarer Wirkung stelle eine Amtspflichtverletzung und einen Verstoß gegen beamtenrechtliche Dienstpflichten dar,4 ist es geboten, diese Pflichtenbegründung auch strafrechtlich zu beleuchten.

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4

E u G H , Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3985 a. Ε. f. E u G H , Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986 f. Bach, J Z 1990; 1108, 1115 a.E.; Cramer, Triffterer-FS, S. 323, 333f.; Dannecker, Strafrecht der EG, S. 2025; Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 160; Hugger, NStZ 1993, 421 f.; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 65fT.; Pananis, Insidertatsache und Primärinsider, S. 80f.; Schölten, Tatortstrafbarkeit, S. 183; Zuleeg, J Z 1992, 761, 765. So: Krämer, WiVerw 1990, 138, 154 f. Ob dem in dieser allgemeinen Form beizupflichten ist, kann hier dahinstehen, weil es nicht um die Lösung der beamtenrechtlichen Einzelfragen, sondern um eine strafrechtliche Problemlösung geht.

C. Lösungsansatz: Grundsätzl. Beachtung d. gemeinschaftl. Pflichtenbegründung

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C. Lösungsansatz: Grundsätzliche Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichtenbegründung Zur Lösung des Problems scheint es sich anzubieten, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung akzessorisch zu folgen. Dort, wo Richtlinieninhalte zu beachten sind, wäre also die daraus resultierende Pflicht auch geeignet, Garantenpflichten hervorzurufen. Ebenso wären entsprechende Vorschriften einer unmittelbar wirkenden Richtlinie tauglich, im Zuge der Prüfung eines Fahrlässigkeitsdelikts als Sorgfaltsnormen herangezogen zu werden. Wenn also der öffentliche Arbeitgeber aufgrund unmittelbar wirkender Richtlinieninhalte Arbeitsschutzvorschriften von Amts wegen zu beachten hat, so wäre diese Pflicht wie sonstige Pflichten des Arbeitsschutzrechts auch geeignet, dem Strafrecht als Anknüpfungspunkt zu dienen. Zwar handelt es sich bei den fraglichen Richtlinieninhalten noch nicht um innerstaatlich umgesetztes Recht, doch eine solche Erwägung enthält kein Gegenargument. Denn im Fall der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie kommt es zu einer partiellen unmittelbaren Anwendbarkeit. Die jeweilige Richtlinie wirkt zwar nicht wie eine innerstaatliche Norm umfassend normativ, doch partiell, also ζ. B. gegenüber Behörden, kommt es zu einer „Inpflichtnahme". So weit wie diese unmittelbare Wirkung reicht, läßt sie sich durchaus mit der EG-Verordnung vergleichen.5 Das spricht dafür, die richtlinienbedingte Pflicht wie Pflichten zu beachten, die durch eine EG-Verordnung begründet werden. Auf eine ausufernde Strafbarkeit könnte mittels der Irrtumslehre reagiert werden. Soweit ein Verantwortlicher die unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalte und seine damit korrespondierende Amtspflicht nicht kennt, wäre dieser Fall der schlichten Normunkenntnis selbst im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte rechtsdogmatisch zu bewältigen, da auch bei unbewußter Fahrlässigkeit ein Verbotsirrtum bejaht werden könnte. 6 Eine solche Sichtweise kann das Argument für sich in Anspruch nehmen, dem Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung zu genügen, weil ein tatbestandsmäßiges und verwaltungsrechtlich oder arbeitsrechtlich rechtswidriges Handeln strafrechtlich ebenso gewürdigt würde. Das Problem wäre mithin auf der Vorsatzoder Schuldebene zu lösen. Ob eine solche Lösung zu befriedigenden Ergebnissen führt, ist jedoch fraglich. Freilich wird der Täter die fraglichen Vorschriften einer Richtlinie oftmals nicht kennen und da ihm diese Unkenntnis regelmäßig auch

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Siehe oben 1. Hauptteil D. V. 4. und 2. Hauptteil Α. I. 1. h. Vgl. C. Roxin, AT, § 24 Rn. 24.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

nicht vorzuwerfen sein wird, sind für einen Teil der Fälle annehmbare Ergebnisse zu erzielen. Das muß aber nicht so sein. Brisant wird es, wenn der Täter den Normwiderspruch von nationalem Recht und Vorschriften einer unmittelbar wirkenden Richtlinie kennen müßte. Wenn also das für den Arbeitsschutz verantwortliche und juristisch geschulte Vorstandsmitglied eines städtischen Versorgungsunternehmens, das als Aktiengesellschaft konstituiert ist, die innerbetriebliche Umsetzung nicht durchführt, so stellt sich die Frage des fahrlässigen Unterlassungsdelikts in ungleich schärferer Form als in den Fällen, in denen etwa der vor Ort verantwortliche Bauleiter die europarechtlich bedingten, arbeitsschutzrechtlichen Pflichten für das Tragen schwerer Lasten nicht kennt. Ein der Pflichtenbegründung folgender Lösungsweg stößt auf grundsätzliche Bedenken. Allein die Vorstellung, einen Amtsträger aufgrund einer akzessorischen Lösung auf der Anklagebank gerade desjenigen Staates zu wissen, der die Richtlinie nicht umgesetzt hat, führt einen Widerspruch vor Augen. Der Widerspruch entsteht besteht darin, daß einem Amtsträger die Nichteinhaltung von unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten vorgeworfen wird, die sich der anklagende Staat nicht zu eigen gemacht hat. Einzig und allein die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten erzeugt in einem solchen Fall die sodann strafrechtlich relevanten Pflichten. Der Staat hat dagegen durch sein über die Umsetzungsfrist fortwährendes Unterlassen entgegen gemeinschaftsrechtlicher Pflichten das Richtlinienrecht nicht innerstaatliches Recht werden lassen. Darin liegt nicht nur ein Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Pflichten, sondern eine Beibehaltung des bisherigen, nicht richtliniengerechten Rechtszustands. Daß dieser letztlich durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte modifiziert wird, geht ausschließlich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, jedoch nicht auf ein Handeln des Staates zurück. Das Einsetzen der unmittelbaren Wirkung hat auch keine Heilung des durch die Nichtumsetzung bewirkten Rechtsverstoßes zur Folge. Denn auch hinsichtlich unmittelbar wirkender Richtlinieninhalte besteht die Umsetzungspflicht unvermindert fort. 7 Es erscheint als offener Widerspruch, wenn sich der Amtsträger für Verstöße gegen ein Recht verantworten soll, das der anklagende Staat nicht gewollt hat. Dabei handelt es sich nicht nur um einen das Rechtsgefühl störenden Widerspruch. Er läßt sich auch normentheoretisch festmachen, denn das nicht angepaßte Recht des Mitgliedstaats bleibt ja geltendes und grundsätzlich anzuwendendes Recht. Nur soweit wie die unmittelbare Wirkung reicht, greift bei einer etwaigen Kollision im Einzelfall der Anwendungsvorrang. Lediglich der akute Konflikt wird

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Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 17 mwN.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

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auf diese Weise entschärft. Indem der Anwendungsvorrang unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten zuteil wird, bietet diese Kollisionsregel zwar das juristische Handwerkszeug zur methodischen Aufarbeitung der Kollision. Aber diese Rechtsregel darf den kritischen Blick auf die Ambivalenz der Rechtslage und das Verhalten des Mitgliedstaates nicht trüben.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung durch unmittelbar wirkende Richtlinien Der angesprochene Widerspruch verbietet es, die Pflichtenbegründung durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte lediglich zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu hoffen, den Problemen des Einzelfalls schon gerecht werden zu können. Eine akzessorische Lösung findet sich indes mit dieser in sich widersprüchlichen Rechtslage ab. Die für eine strafrechtliche Beurteilung ausschlaggebende Rechtslage hat in derartigen Fällen unverkennbar an Übersichtlichkeit und Struktur verloren. In diesem Gesichtspunkt könnte ein Schlüssel zur Problembewältigung zu suchen sein.

I. Die Beeinträchtigung rechtsstaatlicher Prinzipien Die Überlagerung des nationalen Rechts durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte verdient daher unter besonderer Beachtung der Rechtssicherheit nähere Aufmerksamkeit. Ein Blick auf die einschlägige Diskussion im öffentlichen Recht verfestigt das Bild einer sich widersprüchlich präsentierenden Rechtslage.

1. Europarechtlich diskutierte Aspekte Offenkundig ist die Berührung rechtsstaatlicher Prinzipien, wenn unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte vorhandenes innerstaatliches Recht überlagern. Das vom Rechtsanwender bei einer Sachentscheidung heranzuziehende Recht wird durch die unmittelbare Wirkung von Richtlinien modifiziert. Öffentlichrechtlich öffnet sich ein ganzer Fächer rechtsstaatlicher Probleme. Aus dieser Diskussion sollen hier einige Aspekte aufgegriffen werden, um sodann die strafrechtliche Problemlage zu entwickeln.

214

3. H a u p t t e i l : Folgen der unmittelbaren W i r k u n g von Richtlinien im Strafrecht

Ein erster Streitpunkt folgt aus der grundsätzlichen Frage der Normverwerfungskompetenz der Verwaltung. 8 Wenn der Gerichtshof von der Verwaltung verlangt, widerstreitendes nationales Recht unangewendet zu lassen, so wirft diese angesichts des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts schlüssige Forderung bei näherer Untersuchung erhebliche Probleme auf. Es fragt sich, wie sich eine Nichtanwendung europarechtswidriger Gesetze mit dem Grundsatz der Gesetzesgebundenheit der Verwaltung verträgt. 9 Erst das Detail offenbart die Tiefe des Problems. Denn die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten beschränkt sich nicht mehr nur auf Abwehransprüche des Bürgers im Verhältnis zum Staat, die einzig und allein dieses vertikale Verhältnis betreffen. Die Problematik verschärft sich bei unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten mit Doppelwirkung, da hier eine Belastung Dritter denkbar wird. Papier hat mit einer pointierenden und treffenden Umschreibung den Finger in die Wunde gelegt. Im Falle anderslautender Parlamentsgesetze des innerstaatlichen Rechts drohe eine „Belastungswirkung contra legem et sine lege".10 Schmidt-Aßmann macht auf die Gefahr einer „selektiven Gesetzmäßigkeit" der Verwaltung aufmerksam, die mit der Frage der Normverwerfungskompetenz einhergeht.11 Rengeling äußert Zweifel, ob das durch den Gerichtshof entwickelte Richtlinienrecht bezüglich der Gesetzesgebundenheit der Verwaltung und der Gesetzesklarheit in jeder Hinsicht rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. 12 Für von Danwitz erscheint das der nationalen Verwaltung vom Gerichtshof übertragene Mandat zur autonomen Bewältigung bestehender Normenkonflikte zwar als effektive Lösung zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, doch die ganze Tragweite der administrativen Ermächtigung zur Verwerfung nationalen Rechts wird nach dieser Ansicht deutlich, wenn das Risiko fehlerhafter Kollisionsentscheidungen Berücksichtigung findet: 13 Selbst wenn die Verwaltung die Rechtmäßigkeit einer sekundärrechtlichen Regelung anzweifelt, ist sie bei strikter Einhaltung der Vorgaben des Gerichtshofs letztlich gezwungen, das nationale Recht zu verwerfen, da sie einerseits das EG-Recht nicht verwerfen darf und andererseits keine Vorlage- und Aussetzungsmöglichkeiten hat. 14 Laut Brenner wird schließlich die Bindungs- und Verpflichtungskraft des mitgliedstaatlichen Gesetzes „unter-

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Ehlers, DVB1. 1991, 605, 6W \Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 87, Wehr, Inzidente Normverwerfung, S. 101 ff. jeweils mwN. Dazu Pietzcker, Everling-FS, S. 1095 IT. Papier, DVB1. 1993, 809, 811. Schmidt-Aßmann, DVB1. 1993, 924, 933. Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht - wechselseitige Einwirkungen, S. 202, 224. V. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 210. V. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 210.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

215

miniert" und das Vertrauen der Verwaltung in das Gesetz als Handlungsmaxime einer Erosion ausgesetzt. 15 Diesen Bedenken kann wiederum mit guten Gegenargumenten begegnet werden. Nach Gellermann ist zwar eine gewisse Rechtsunsicherheit zu konzidieren, die aber hingenommen werden kann, da die Pflicht zur vorrangigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts die hinreichende Bestimmtheit der Gemeinschaftsnorm voraussetzt. 16 Eine vergleichbare Situation trete ein, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Verordnung mit innerstaatlichen Vorschriften kollidiert. 17 Schließlich wird argumentiert, schon im deutschen Recht sei es normal, bei der Anwendung einer Rechtsverordnung ihre Vereinbarkeit mit der nach Art. 80 G G erforderlichen Ermächtigungsgrundlage und darüber hinaus mit höherrangigem Recht zu überprüfen. 18

2. Der Aspekt der Rechtssicherheit aus strafrechtlicher Sicht Teil des Rechtsstaatsprinzips ist das Erfordernis klarer und bestimmter Gesetze.19 Das Art. 103 Abs. 2 G G zu entnehmende Bestimmtheitsgebot gilt überwiegend als strafrechtsspezifische Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. 20 Das Bundesverfassungsgericht verlangt in ständiger Rechtsprechung, daß die Strafbarkeit eines Verhaltens für den einzelnen voraussehbar sein muß. 21 Auch wenn diese Rechtsprechung nur vereinzelt ausdrücklich an das Rechtsstaatsprinzip anknüpft, 22 stellt sie damit auf eine subjektive Rechtssicherheit als Element des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips ab.23 Die Berechenbarkeit staatlicher Tätigkeit

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Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der europäischen Union, S. 275. Oldenbourg, Die unmittelbare Wirkung, S.238; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 154, 190 f. Gellermann, Beeinflussung, S. 180. Emmert, EWS 1992, 56, 65. Siehe nur Stern, Staatsrecht Bd. I, S. 829. Maurach/Zipf, AT, Teilband 1, § 10 I Rn. 1; Rüping in: BK, Art 103 Abs. 2 Rn. 15; SchmidtAßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 166 ff.; H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 213 ff; Stern, Staatsrecht Bd. 1, S. 829. BVerfGE 22,21, 25; 25,269,285; 26,41,42; 28, 175,183; 45, 363, 372; 51, 60, 73; 57, 250,262; 64, 389, 393; Papier!Möller, AöR 122 (1997), 177, 187f. Besonders deutlich wird diese „subjektive" Rechtssicherheit in BVerfGE 38, 346, 362: „Sinn des Art. 103 Abs. 2 G G ist es vor allem, dem Bürger die Grenze des straffreien Raumes klar vor Augen zu stellen, damit er sein Verhalten daran orientieren kann." BVerfGE 47, 109, 120; 78, 74, 382. Sehr prägnant BVerfGE 95, 96 130: „Art. 103 Abs. 2 GG ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (...)." Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 19.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

gewährt dem verantwortlich handelnden Bürger die Möglichkeit, sein Handeln rational an den potentiellen rechtlichen Konsequenzen auszurichten, also eine Rechtssicherheitsgarantie. 24 Bei der vorliegenden Problematik geht es zwar nicht um die gesetzliche Bestimmtheit eines einzelnen Straftatbestandes, also etwa um die Frage, ob ein Merkmal wie „die guten Sitten" hinreichend bestimmt ist. Gleichwohl stellt die Überlagerung des nationalen Rechts durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte die Berechenbarkeit dessen, was strafbar ist, im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ernsthaft in Frage. Das mag als eine gewagte These erscheinen, doch sie läßt sich belegen. Dazu muß man sich in die Lage des Normadressaten versetzen. Die Tücke der Überlagerung des nationalen Rechts durch das Richtlinienrecht besteht darin, daß geltende und in sich klare Normen des innerstaatlichen Rechts vorliegen können, die entweder nicht anwendbar sind oder einen Sachverhalt nicht abschließend regeln, weil unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte hinzutreten. Angesichts dessen ist fraglich, ob der Gedanke, daß nur eindeutig bestimmte Richtlinieninhalte zur Anwendung kommen können, 25 letztlich zu überzeugen und den Zweifel hinsichtlich der Beeinträchtigung der Rechtssicherheit zu überwinden vermag. Allein die Frage, was denn an Richtlinieninhalten bestimmt oder unbestimmt ist, unterliegt bereits der Wertung. Ob Richtlinieninhalte die daran gestellten Anforderungen erfüllen, kann durchaus umstritten sein. Selbst wenn sich im Einzelfall die unmittelbare Wirkung anhand der Dogmatik des Gerichtshofs eindeutig ermitteln läßt, genügt diese Bestimmtheit nicht, weil das Problem gerade darin besteht, daß zwei Regelungen nebeneinander existieren. Dem zur Rechtsanwendung berufenen Amtsträger hilft es nicht, wenn jedes der Regelungswerke in sich höchst bestimmt ist. Die Bestimmtheit im Sinne einer Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit kann in geradezu perfider Weise Schaden nehmen, wenn sich der Normadressat zwei in sich jeweils detailliert ausformulierten Regelwerken ausgesetzt sieht. Zugespitzt, aber in der Sache treffend, fragt Pagenkopf aus der Sicht des Verwaltungsrechts, wie sich der Kreisinspektor einer kleinen Gemeinde über Gesetze des deutschen Normgebers hinwegsetzen könne, wenn er weder die Richtlinien der Gemeinschaft umfassend kenne, noch die Technik der Prüfung der Vereinbarkeit von nationalen Vorschriften mit dem EG-Recht beherrsche. 26

24 25 26

Vgl. K. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 194. Vgl. Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 154, 190 f. Pagenkopf, NVwZ 1993, 216, 222.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

217

Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sich der für Arbeitssicherheit zuständige Mitarbeiter eines privatrechtlich organisierten „öffentlichen" Versorgungsunternehmens darüber Gewißheit verschaffen soll, ob eine demnächst in ihrer Umsetzungsfrist ablaufende Richtlinie unmittelbar wirkende Inhalte in sich birgt. Der Rechtsanwender muß folglich die gesamte Dogmatik zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und zum Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts parat haben, um das von ihm anzuwendende Recht zu ermitteln. Das klingt einfacher als es ist. Schon auf den Richtlinientext darf sich der Leser keinesfalls verlassen. Richtlinien führen schon deshalb in die Irre, da sie die Aussage enthalten, daß die Mitgliedstaaten bis zum Ablauf einer bestimmten Frist ein entsprechendes innerstaatliches Recht schaffen werden. Der unbefangene Leser fühlt sich oder seinen Arbeitsbereich jedenfalls nicht direkt angesprochen. Wer sich kraft dieses Hinweises auf die Suche nach dem nationalen Recht macht und es findet, wähnt sich in trügerischer Sicherheit. Er muß ihm mißtrauen und prüfen, ob es der Richtlinie entsprechend angepaßt wurde. Das Argument, eine solche Uberlagerung des nationalen Rechts sei auch im Fall der EG-Verordnung denkbar, 27 trifft zwar zu, doch die Fälle unterscheiden sich zu stark. Die EG-Verordnung ist unbedingt, enthält ein Datum des Inkrafttretens und führt den Leser nicht sogleich in die Irre, indem sie zukünftiges innerstaatliches Recht ankündigt, das doch nicht geschaffen wurde. Aber selbst wenn eine Anpassung mit dem Ziel der Umsetzung stattgefunden hat, darf sich der Rechtsanwender noch immer nicht zurücklehnen. Er muß erneut Maß nehmen, weil bei einer unzureichenden Umsetzung die nicht umgesetzten Inhalte wiederum unmittelbare Wirkung entfalten und das richtlinienwidrig umgesetzte Recht verdrängen können. Der oben gegen eine akzessorische Lösung reklamierte Widerspruch, daß sich der Amtsträger für Verstöße gegen ein Recht verantworten soll, das sich der anklagende Staat nicht zu eigen gemacht hat, tritt offen zutage und schlägt sich konkret in einem normativen Durcheinander nieder. Die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit einer strafrechtlichen Sanktion ist dabei nicht mehr gegeben, wenn man diesen Grundsatz in der Sache und nicht nur als Worthülse aufrechterhalten will. Aus strafrechtlicher Sicht ist es nicht vertretbar, dem Rechtsanwender zweierlei Recht an die Hand zu geben und zu verlangen, daß er die anzuwendende Norm nach komplizierten Regeln selbst ermitteln möge. Allerdings besteht die Gefahr der voreiligen Schlußfolgerung. Die Beeinträchtigung der Rechtssicherheit muß nicht in jedem Fall gegeben sein. Auch hier gilt es,

27

Gellermann, Beeinflussung, S. 180.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

die theoretische Erwägung anhand der Rechtspraxis unter der Fragestellung zu überprüfen, ob denn die Rechtssicherheit stets in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigt wird. Erst dann ist dieser Aspekt geeignet, die kategorische Ablehnung strafbarkeitsbegründender Folgen in vollem Umfang zu tragen. Diese Rückkoppelung führt zu der Erkenntnis, daß allein der für das Strafrecht bedeutsame Gedanke der Rechtssicherheit diese Ablehnung nicht für alle Fälle begründet. Sobald der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten ausdrücklich festgestellt hat, ist die Rechtslage ungleich klarer. Die aus dem Gedanken der Rechtssicherheit und der subjektiven Vorhersehbarkeit abgeleitete Argumentation trägt zudem in den Fällen nicht, in denen der Rechtsanwender eindeutig auf die Modifizierung des Rechts durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte aufmerksam gemacht und informiert wird. Insbesondere die Ministerialverwaltungen sind dazu übergegangen, diejenigen nachgeordneten Behörden, für deren Amtshandlungen die Richtlinien erheblich sind, vor Ablauf der Umsetzungsfrist auf unmittelbar wirkende Inhalte ausdrücklich hinzuweisen.28 Der im Lichte des Art. 103 Abs. 2 G G gerade für das Strafrecht bedeutende Gedanke der Rechtssicherheit vermag das Gesamtproblem mithin nicht vollauf befriedigend zu lösen.

II. Richtlinienumsetzung und innerstaatliche Entscheidungsprozesse Gegen einen akzessorischen Lösungsweg bestehen jedoch weitere Bedenken, die aus der Umsetzungsbedürftigkeit der Richtlinie und dem damit einhergehenden innerstaatlichen Entscheidungsprozeß resultieren. Unterstellt man den Fall, daß ein nach Ablauf der Umsetzungsfrist stattfindendes und der Richtlinienumsetzung dienendes formelles Gesetzgebungsverfahren im Parlament nach lebhafter Debatte regelrecht scheitert, so tritt die Gefahr strafbarkeitsbegründender Folgen der unmittelbaren Wirkung hervor. 29 Die darin liegende Antizipation strafbarkeitsbegründender Richtlinieninhalte führt zu der aus strafrechtlicher Sicht kaum hinnehmbaren Möglichkeit, Strafverfahren oder gar Verurteilungen in der Welt zu wissen, die sich auf ein Recht stützen, dem das nationale Parlament eine Absage erteilt hat.

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Vgl. das Beispiel in: EuGH, Urteil vom 1.3.1996, Rs. C-253/95, Ε 1996,1-2423, 2429. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zur Verordnung nach Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV, weil deren unmittelbare Pflichtenbegründung von vornherein feststeht.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

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Dieser Aspekt gewinnt vor dem Hintergrund der Kompetenz- und Legitimationsfrage besonderes Gewicht. Es erscheint als ein unerträglicher Gedanke, eine strafgerichtliche Verurteilung auf eine Rechtspflicht zu stützen, deren Einfügung in das nationale Recht das Parlament abgelehnt hat. Selbst wenn die Nichtumsetzung der Richtlinie in einem solchen Fall gemeinschaftsrechtswidrig wäre und in einem Vertragsverletzungsverfahren eine Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den Gerichtshof zur Folge hätte, ist die Ablehnung der Richtlinie durch das Parlament für das Strafrecht als das entscheidende Wort einzustufen. Lehnt das Parlament es ab, der innerstaatlichen Rechtsordnung strafrechtlich relevante Pflichten einzuverleiben, sollte das Strafrecht den Pflichtverstoß auch dann nicht sanktionieren, wenn sich ein die Pflicht enthaltender Richtlinieninhalt im Wege des Durchgriffs selbst Geltung verschafft. Anderernfalls käme es zu einer höchst fragwürdigen Loslösung des Strafrechts von demokratischen Willensbildungsprozessen. Das Strafrecht ist nicht der Ort, um derartige Konflikte auszutragen. Dagegen läßt sich einwenden, daß derartige Spannungen auch in anderen Rechtsgebieten denkbar sind und dort das Entstehen der unmittelbaren Wirkung nicht hindern. Diesem Gedanke widerstreben jedoch zwei Gesichtspunkte. Einmal ist der Eintritt der unmittelbaren Wirkung für den Fall eines parlamentarischen Scheiterns oder einer parlamentarisch bedingten Verzögerung auch außerstrafrechtlich nicht unumstritten. 30 Zum anderen liegt der Fall für das Strafrecht anders. Die Sachverhalte sind nicht vergleichbar. Wenn die Gemeinschaft Bereiche des Steuer-, Umwelt- oder Arbeitsschutzrechts angeglichen wissen will, so bewegt sie sich im Rahmen ihrer Kompetenzen. Das Gemeinschaftsrecht setzt sich durch, wenn Richtlinieninhalte die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen. Diesbezüglich läßt sich mit dem Bundesverfassungsgericht feststellen, daß Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts für den Fall des Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zukommt, der auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts beruht und dem über die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 G G der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist.31 Für das Strafrecht liegt der Fall anders. Wenn die Gemeinschaft in einem Rechtsgebiet über das Instrumentarium der Richtlinie Festlegungen trifft, kann sie mangels Kompetenz keine verbindliche Aussage über den strafrechtlichen Kontext treffen. Darüber hinaus hat die Gemeinschaft die Verzahnung des innerstaatlichen Strafrechts mit dem durch eine Richtlinie betroffenen Rechtsgebiet bei der Normgebung nicht im Auge und auch nicht unter Kontrolle. Das Gemeinschaftsrecht 30 31

Vgl. Stadie, NVwZ 1994,435,438. BVerfGE 75, 223, 244.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

kann und will mangels Kompetenz keine Entscheidung darüber treffen, ob Verstöße strafbewehrt sein sollen. Gegen eine strafrechtserhebliche Pflichtenbegründung durch unmittelbar wirkende Vorschriften einer Richtlinie spricht mithin schon die grundsätzliche Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft. Soweit die Umsetzung einer Richtlinienbestimmung in Verbindung mit dem Strafrecht zu einer Erweiterung des Strafbaren führt, muß den innerstaatlichen Gesetzgebungsorganen die Möglichkeit gegeben sein, diese Erweiterung zu überdenken und gegebenenfalls gesetzgeberisch zu reagieren. Diese Entscheidungsbefugnis würde unterlaufen, die Kompetenzverteilung verblassen und sich verdeckt verschieben, wenn sich die fraglichen Richtlinieninhalte vor ihrer Umsetzung mit dem Strafrecht verzahnen und damit strafbarkeitsbegründend wirken könnten. Allerdings zeigt das Beispiel der Arbeitsschutzbestimmungen, daß die Kompetenzfrage nicht zwingend berührt sein muß, weil die so geschaffenen Sorgfaltspflichten überhaupt nicht originärer Gegenstand der Strafgesetzgebung sind. Auch innerstaatlich wird bei der Schaffung von Sorgfaltsnormen regelmäßig nicht die Frage gestellt, ob die denkbare Extension von Tatbeständen wie § 229 StGB kriminalpolitisch richtig ist. Dieser Gedanke greift jedoch zu kurz. Bei den Fahrlässigkeitsvorschriften und § 13 StGB handelt es sich um Tatbestände, die sich der übrigen Rechtsordnung und ihren Änderungen gleichsam dynamisch öffnen. Aber dann ist es doch vor dem Hintergrund der Kompetenz- und Legitimationsfrage durchaus erwägenswert, diese dynamische Öffnung auf die Fälle zu beschränken, in denen die außerstrafrechtliche Norm als Ergebnis eines Rechtssetzungsaktes ihre endgültige Gestalt gefunden hat. Dieser Gedanke schält einen Unterschied zwischen dem Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und dem der EG-Verordnung heraus. Bei einer abschließenden Regelung in einer EG-Verordnung hat das außerstrafrechtliche Recht seine endgültige Form und Aussagekraft gefunden. Bei der nicht umgesetzten Richtlinie steht dagegen der innerstaatliche Gesetzgebungsakt noch aus. Freilich handelt es sich bei der unmittelbaren Wirkung gleichsam um einen Fall des verordnungsgleichen Durchgriffs des Gemeinschaftsrechts. Diese normentheoretischen Aspekte befreien aber nicht von der Notwendigkeit einer Reflexion dieser Art der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts. Die Fahrlässigkeitsnormen und § 13 StGB bieten eine offene Flanke, die im Kontext der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien kritisch zu würdigen ist. Denn die ursprüngliche Offenheit von Normen wie § 13 StGB geht grundsätzlich davon aus, daß die außerstrafrechtliche Vorschrift das jeweils erforderliche Normsetzungsverfahren durchlaufen hat. Eine aus dem Gesetz folgende Umschreibung von Garantenpflichten setzt eben die Schaffung dieses Gesetzes voraus. Daran mangelt es im Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, die sich zwar partiell einstellen kann, aber gleichwohl den nationalen Umsetzungsakt nicht obsolet werden läßt.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

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So kann denn auch das innerstaatliche Recht für das Strafrecht sehr wichtige Ergänzungen enthalten. Hier lebt ein Gesichtspunkt auf, dessen Kehrseite für die Erforschung der unmittelbaren Wirkung im ersten Hauptteil der Untersuchung von Bedeutung war: Das Gemeinschaftsrecht hat bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien das Verhältnis Bürger-Staat im Auge. Das Strafrecht folgt dem zunächst, aber fragt sodann in einem weiteren Schritt, für welche natürliche Person die gemeinschaftsrechtliche Pflichtenbegründung gilt. Bei diesem Prüfungsschritt kann eine erst im innerstaatlichen Rechtsakt erfolgende Zuweisung von Zuständigkeiten eine Rolle spielen. So können aus der Richtlinie erwachsende Aufgaben bestimmten, vielleicht sogar erst noch neu einzurichtenden Behörden zugewiesen werden.32 Freilich sind bei exakten Richtlinienvorgaben die Kernaussagen des zukünftigen nationalen Rechts regelmäßig aus der Richtlinie abzulesen, doch das Strafrecht sollte warten, bis sich die gesetzgeberischen Entscheidungsprozesse endgültig geklärt haben. Weiterhin kann sich der Mitgliedstaat aus verschiedenen Gründen daran gehindert sehen, den Umsetzungsauftrag legislativ rechtzeitig abzuarbeiten. Allein die Tatsache der nicht fristgerechten Umsetzung von Richtlinien ist ein Beweis dafür, daß in diesen Fällen rechtspolitische oder rechtswissenschaftliche Klärungsprozesse stattfinden. Sie belegen gewissermaßen einen schwebenden und unreifen Rechtszustand. Am Ende derartiger Diskussionen können sogar Initiativen zur Prolongation der Umsetzungsverpflichtung stehen. Dabei handelt es sich nicht um eine theoretische, sondern durchaus praktische Erwägung. Der an anderer Stelle dieser Untersuchung noch zu vertiefende Fall „Kloppenburg" kann als Beispiel angeführt werden. 33 Dort war die Umsetzungsfrist abgelaufen und Richtlinieninhalte entfalteten unmittelbare Wirkung. 34 Erst dann kam es durch eine entsprechende Initiative auf Gemeinschaftsebene zu einer Verlängerung der Umsetzungsfrist, was den Gerichtshof vor die Frage stellte, ob dieser Fristverlängerung rückwirkende Kraft zukommt. 35 Überträgt man diese Fallkonstellation sinngemäß auf die vorliegende Problematik, so läßt sich nicht bestreiten, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in dem Zeitraum der unmittelbaren Wirkung alle innerstaatlichen Stellen, einschließlich der „öffentlich beherrschten" Unternehmen verpflichtet sind, die unmittelbar wirkenden 32

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So wurde das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel gemäß § 3 Abs. 1 WpHG erst im Zuge der Umsetzung der EG-Insiderhandelsrichtlinie errichtet. EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075 ff. In der Sache ging es um die sechste Umsatzsteuerrichtlinie, die auch BGHSt 37, 168, 174 ff. beschäftigt hatte. EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075, 1085f. Der Gerichtshof verneinte dies: EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075, 1086. Hierzu Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, S. 254 ff.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Richtlinieninhalte zu befolgen. Hieran anknüpfende strafrechtliche Konsequenzen liefen darauf hinaus, derartige rechtspolitische Diskussionen oder Initiativen zur Änderung der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung regelrecht zu überholen und abzuschneiden. 36 Zudem zeigt das Beispiel der Verlängerung der Umsetzungsfrist, daß es offenbar akzeptable Gründe geben kann, warum der Mitgliedstaat die Umsetzung nicht oder noch nicht vornehmen konnte. Wer die strafrechtliche Lösung akzessorisch zur gemeinschaftsrechtlichen Pflichtenbegründung ausgestalten will, muß in derartigen Fällen an den ganz offenkundig noch nicht ausgereiften Rechtszustand anknüpfen und zwischen dem Ablauf der Umsetzungsfrist und dem Beginn der Verlängerungsfrist eine strafrechtliche relevante Pflichtenbegründung annehmen. Der Gedanke einer strafrechtsrelevanten Pflichtenbegründung verträgt sich zudem nicht mit dem Grundsatz, daß das Strafrecht ultima ratio sein soll. Wenn auf der Ebene der Gesetzgebung noch nicht einmal feststeht, ob und wann innerstaatliches Recht geändert und eine Pflicht begründet und in die Formen des innerstaatlichen Rechts gegossen werden soll, entsteht ein eklatanter Widerspruch, wenn das Strafrecht als „letztes Mittel" die noch offene Rechtsänderung vorauseilend flankiert. Der noch offene Entscheidungsprozeß wird vom Strafrecht her aufgerollt und für einen Teil der Fälle vorweggenommen, wenn die unmittelbare Wirkung zur Begründung der Strafbarkeit herangezogen werden könnte. Die Umsetzung eines Richtlinienprogramms erfordert mithin innerstaatliche Entscheidungsprozesse. Unabhängig davon, ob die Umsetzung einer Richtlinie durch die Legislative oder Exekutive erfolgt, liefert dieser Aspekt ein Argument dafür, das Strafrecht bei der Berücksichtigung richtlinienbedingter Pflichten solange unbedingte Zurückhaltung üben zu lassen, bis die unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalte in das nationale Recht umgesetzt wurden.

III. Zwischenergebnis Eine strafrechtliche Berücksichtigung von Pflichten, die durch unmittelbar wirkende Vorschriften einer Richtlinie begründet werden, hat zur Folge, daß die Rechtssicherheit im Sinne der Vorhersehbarkeit dessen, was strafbar ist, erheblich beeinträchtigt werden kann. Eine solche Lösung kann ferner der Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Strafrechts widersprechen und läuft dem ultima-ratio-Grundsatz zuwider. Dies folgt aus der Überlegung, daß der Mitgliedstaat durch die Nichtumsetzung der unmittelbar 36

Daß die Nichtumsetzung der Umsatzsteuerrichtlinie handfeste parlamentarische Gründe hatte, ist der instruktiven Darstellung von Studie, NVwZ 1994, 435,437, zu entnehmen.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

223

wirkenden Richtlinieninhalte die darin enthaltenen Pflichten noch nicht der innerstaatlichen Rechtsordnung einverleibt hat. Das Strafrecht wäre nicht das letzte, sondern eines der ersten Mittel. Gleichwohl ist das Gesamtproblem mit diesen Argumenten nicht gelöst. Bis hierhin wurden innerstaatliche Gesichtspunkte, die gegen eine strafrechtlich relevante Pflichtenbegründung anzuführen sind, in die Waagschale gelegt. Sie sprechen dafür, durch die unmittelbare Wirkung von Richtlinien erzeugte Pflichten als strafrechtlich nicht relevant einzustufen. Der methodische Ansatz dieser Untersuchung verbietet es jedoch, damit bereits die Frage beantworten zu wollen, ob es durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte zu einer für das Strafrecht maßgeblichen Umschreibung und Festlegung von Sorgfalts- oder Garantenpflichten kommen kann. Die Problematik entspringt der Verzahnung des Strafrechts mit dem Gemeinschaftsrecht, weshalb die für eine Konfliktlösung erheblichen Aspekte aus beiden Rechtsordnungen zu ermitteln sind. Ohne zu wissen, welche Gesichtspunkte aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts unter besonderer Würdigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beachten sind, kann die aus der Verzahnung der Rechtsordnungen folgende Aufgabe nicht befriedigend gelöst werden. Die Zustimmungsgesetze zu den Gründungsverträgen beziehen sich auch auf die dem Gerichtshof übertragenen Entscheidungsbefugnisse. Eine strafrechtliche Problemlösung darf sich aus diesen Grundregeln nicht ausklinken. Selbstverständlich hat der Gerichtshof nach den Verträgen nicht die Möglichkeit oder gar die Befugnis, die Auslegung des nationalen Strafrechts vorzuschreiben. Aber die strafrechtliche Entscheidungsfindung kann sich ihrerseits dem Einfluß des Gemeinschaftsrechts nicht entziehen, wenn sich die Rechtskreise überschneiden. Das gilt auch für die unmittelbare Wirkung, denn das Bundesverfassungsgericht billigt und begrüßt die rechtsfortbildende Rechtsprechung des Gerichtshofs und gesteht unmittelbar wirkenden Richtlinienvorschriften ausdrücklich Vorrang vor nationalem Recht zu. 37 Der im Zustimmungsgesetz ruhende und parlamentarisch gewollte Rechtsanwendungsbefehl umschließt also diese Art der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts. Eine isolierte innerstaatliche Bestandsaufnahme der Problemlage kann daher bei der Analyse des Einflusses des Gemeinschaftsrechts auch im Strafrecht nicht genügen. Vielmehr ist die rechtsfortbildende Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Gedankengang zu integrieren. Mit anderen Worten: Wenn innerstaatliche Argumente dafür sprechen, die strafrechtliche Relevanz der Pflichtenbegründung abzulehnen, so besteht weiterhin die Möglichkeit, daß gemeinschaftsrechtliche Argumente schwerer wiegen und in einer Gesamtschau einem akzessorischen Lösungsweg der Vorzug zu geben ist. " BVerfGE 75, 223, 244.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

IV. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte Um das Problem der strafrechtlich relevanten Pflichtenbegründung durch unmittelbar wirkende Richtlinien einem insgesamt tragfahigen Ergebnis zuzuführen, sind gemeinschaftsrechtliche Aspekte in den Lösungsweg zu integrieren.

1. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs Daher ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien mit Blick auf eine strafrechtlich relevante Pflichtenbegründung zu analysieren, um so ermitteln zu können, ob das Gemeinschaftsrecht nach einer akzessorischen Orientierung des Strafrechts an der außerstrafrechtlichen Pflichtenbegründung verlangt. a. Das widersprüchliche Verhalten des Staates Der Gedanke des widersprüchlichen Verhaltens des Staates hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Richtlinienrecht geprägt. Nach der Entscheidung „Ratti" kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, dem Bürger nicht entgegenhalten, daß er - der Staat - die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat. 38 Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die jüngere Entscheidung „Faccini Dori". Es ging um die Anwendbarkeit nicht umgesetzter Richtlinien in horizontalen Rechtsverhältnissen, die sich für eine Partei belastend ausgewirkt hätte. Der Gerichtshof führt zunächst aus, er wolle mit seiner Rechtsprechung verhindern, daß der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen könne, und fährt wie folgt fort: „Es wäre nämlich nicht hinnehmbar, daß der Staat, dem der Gemeinschaftsgesetzgeber den Erlaß bestimmter Vorschriften vorschreibt, mit denen seine Beziehungen - oder die Beziehungen staatlicher Einrichtungen - zu den Bürgern geregelt und diesen bestimmte Rechte gewährt werden sollen, sich auf die Nichterfüllung seiner Verpflichtungen berufen könnte, um den Bürgern diese Rechte zu versagen." 39

38

39

EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1642. Der Sache liegt ein Strafverfahren zugrunde. Dem Täter wurde u. a. die Mißachtung von innerstaatlichen Kennzeichnungsvorschriften für Lösemittel vorgeworfen, die der Täter nach Ablauf der Umsetzungsfrist gemäß der nicht umgesetzten Richtlinie und entgegen dem innerstaatlichen Recht gekennzeichnet hatte. EuGH, Urteil vom 14.7.1994, Rs. C-91/92, Ε 1994,1-3325, 3356.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

225

Damit nimmt der Gerichtshof auf einen Grundsatz Bezug, der allen Rechtsordnungen bekannt ist.40 Allgemein wird dieser Rechtsgedanke als venire contra factum proprium oder im anglo-amerikanischen Rechtskreis als estoppel-Prinzip 41 umschrieben. Es geht um ein widersprüchliches, sogar unrechtmäßiges Vorverhalten des Staates,42 da er vertragsbrüchig geworden ist. Das Unrecht folgt aus der Verletzung der gemeinschaftsrechtlich verankerten Umsetzungspflicht. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs und wurde nach „Faccini Dori" in jüngeren Urteilen ausdrücklich bestätigt. 43 Dieser Gesichtspunkt verlangt jedoch nicht, der richtlinienbedingten Pflichtenbegründung auch strafrechtliche Relevanz beizumessen. b. Exkurs: Das unrechtmäßige Verhalten als Verfahrenshindernis? Allein die Erwähnung dieses Grundsatzes assoziiert die Diskussion um die Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs infolge eines widersprüchlichen oder rechtswidrigen Vorverhaltens. Sie wurde in den Lockspitzelfallen, 44 den Parteispendefällen 45 oder bei überlanger Verfahrensdauer 46 unter der Fragestellung diskutiert, ob aus derartigen Verstößen ein Verfahrenshindernis erwachsen könne. 47 Die vorliegende Problematik weicht von diesen Fragestellungen allerdings erheblich ab. Wenn der Lockspitzel den Bürger in strafbare Handlungen verstrickt, die Strafjustiz ein Strafverfahren nicht gehörig fördert oder Finanzbehörden Abweichungen von den Steuergesetzen dulden, so gibt dieses Verhalten von Verwaltung und Gericht zu der Überlegung Anlaß, ob es der - weiteren - Durchführung eines Strafverfahrens entgegensteht. Voraussetzung ist dabei stets, daß dem Strafverfahren ein der Sache nach strafbares Verhalten zugrundeliegt. Genau das ist aber zu hinterfragen, wenn der Staat umzusetzendes Recht nicht in sein innerstaatliches Recht aufgenommen hat und es nur mittels der unmittelbaren Wirkung eindringt. Es befriedigt nicht, eine materiellrechtliche Problem4(1 41 42

43

44 45 46 47

Tomuschat, EuR 1990, 340, 346; Herber, Döllerer-FS, S. 225, 232f. Pescatore, ELR 1983, 155, 169. Vgl. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 18, mwN in Fn. 53; Everting, CarstensFS, S. 95, 108. EuGH, Urteil vom 7.3.1996, Rs. C-192/94, Ε 1996, 1-1281, 1303: „Die Rechtsprechung zu der Möglichkeit, gegenüber den staatlichen Stellen Richtlinien in Anspruch zu nehmen, beruht auf dem verbindlichen Charakter der Richtlinien, der nur gegenüber den Mitgliedstaaten besteht, an die sie gerichtet sind; sie soll verhindern, daß ein Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann." Wolfslast, Strafanspruch und Verwirkung, S. 198. Wolfslast, Strafanspruch und Verwirkung, S. 162 ff. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 45 ff. Näher: Hillenkamp, NJW 1989, 2841 ff. mwN; /. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 186ff.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

lösung auszublenden und den Ausweg in einer verfahrensrechtlichen Lösung zu suchen. c. Der Sanktionsgedanke In der Rechtsprechung des Gerichtshofs steckt zudem ein Sanktionsgedanke,48 der sich auf das unrechtmäßige Verhalten des Mitgliedstaats bezieht. Allein das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226f., ex-Art. 169f. EGV bietet kein ausreichendes Sanktionsinstrumentarium, um dem Richtlinienrecht zum Durchbruch zu verhelfen, zumal das Verfahren erst nach Ablauf der Frist angestrengt werden kann und damit weitere Zeit verstreicht, in der das Gemeinschaftsrecht die Richtlinieninhalte in der Form innerstaatlichen Rechts längst angewendet wissen will. Das Bundesverfassungsgericht hebt in seinem Richtlinienbeschluß diesen Gesichtspunkt hervor, wenn es eine zu billigende Rechtsfortbildung darin erblickt, daß die Sanktionierung der Nichterfüllung von Richtlinien nicht allein durch eine Verletzungsklage der Gemeinschaft gegen den Mitgliedstaat, sondern auch durch eine „Berufung auf die Richtlinie" im Rechtsstreit des einzelnen gegen den Mitgliedstaat erfolge.49 Dieser auf den Mitgliedstaat zielende Sanktionsgedanke verlangt ebenfalls nicht danach, die Pflichtenbegründung auch im weitergehenden strafrechtlichem Zusammenhang zu berücksichtigen. Die gegen den Amtsträger als Angeklagten verhängte Strafe trifft nur ihn und nicht den Mitgliedstaat. d. Der Rechtsschutzgedanke Wenn die nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinieninhalte unbedingt und hinreichend bestimmt sind und zugleich den Marktbürgern Rechte verleihen sollen, so wäre dem Marktbürger ohne die rechtsfortbildende Rechtsprechung des Gerichtshofs die günstige Rechtsposition im Ergebnis verwehrt. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs wohnt damit der Gedanke der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes inne.5ü Unter diesem Aspekt ist es konsequent, die Einhaltung der Rechte, die das Gemeinschaftsrecht bis zu einem bestimmten Tag Marktbürgern verliehen wissen will, mit dieser rechtsfortbildenden Rechtsprechung sicherzustellen.51

48

49 50

51

Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 23; Magiern, DÖV 1985, 937, 939; ders. DÖV 1998, 173, 180f.; Zitscher, RabelsZ 60 (1996), 648, 652f. BVerfGE 75, 223, 241 f. Everting, Carstens-FS, S. 95, 108 f.; Renke, EG-Richtlinien und Rechtsschutz, S. 128 f. und BVerfGE 75, 223,241. Vgl. Tomuschat, EuR 1990, 340, 346.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

227

Um diese Rechtsgewährung nicht von der Kenntnis der Richtlinie oder der Klagebereitschaft einzelner Bürger abhängig zu machen, ist es auch weiterhin konsequent, die innerstaatlichen Stellen in die Pflicht zu nehmen, die Anwendung unmittelbar wirkender Richtlinieninhalte von Amts wegen zu gewährleisten. Nicht nur derjenige, der das Gericht bemüht und seine Rechte einklagt, soll in den Genuß gemeinschaftsrechtlich verbürgter Rechte kommen, sondern jedermann und unabhängig davon, ob er die Richtlinieninhalte überhaupt kennt oder ihm gute Berater zur Seite stehen. Dieser Rechtsschutzgedanke trägt auch dann, wenn eine strafrechtlich relevante Pflichtenbegründung durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte verneint wird. Eine strafrechtliche Verfolgung des Amtsträgers verbessert die Rechtsposition des Marktbürgers nicht. e. Der Gedanke des „elfet utile" Der französische Ausdruck vom „efiet utile" fällt bei einer Durchsicht der Rechtsprechung des Gerichtshofs schon deshalb ins Auge, weil er sich auch in den deutschsprachigen Urteilstexten findet. Dahinter verbirgt sich das in den Urteilen des Gerichtshofs wiederkehrende Argumentationsmuster von der praktischen oder nützlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts. 52 Auch im Zusammenhang mit der unmittelbaren Wirkung stellt der Gerichtshof auf diesen Gedanken ab. Im Fall „van Duyn" führt er folgendes aus: 53 „Mit der den Richtlinien durch Artikel 189 zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, daß betroffene Personen sich auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten ( . . . ) zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung (,effet utile') einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten."

In dieser auch auf den rechtstatsächlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts ausgerichteten Denkweise könnte ein gemeinschaftsrechtlich verankertes Argument für eine Berücksichtigung richtlinienbedingter Pflichten im Strafrecht herzuleiten sein. Die praktische Wirksamkeit des Richtlinienrechts kann gefördert werden, in-

52

Ausführlich Streinz, Everling-FS, S. 1491 ff. " EuGH, Urteil vom 4.12.1974, Rs. 41/74, Ε 1975, 1337, 1348. Auch in den Schlußanträgen der Generalanwälte findet sich diese Argumentationsfigur immer wieder, siehe bei Streinz, Everling-FS, S. 1491 ff.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

dem die für eine innerstaatliche Stelle handelnde Person im Fall der Mißachtung der unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalte Konsequenzen fürchten muß, die mit den aus der Verletzung innerstaatlicher Pflichten herzuleitenden Rechtsfolgen vergleichbar sind. Das hieße, die aus der unmittelbar wirkenden Richtlinie folgende und von Amts wegen zu beachtende Rechtspflicht umfassend einer dem innerstaatlichen Recht entspringenden Pflicht gleichzustellen. Eine zu beachtende Arbeitsschutzvorschrift wäre also wie eine entsprechende Norm des innerstaatlichen Rechts geeignet, Sorgfaltsmaßstäbe zu formulieren. Mit seinen einschneidenden Rechtsfolgen könnte gerade das Strafrecht unter dem Aspekt des effet utile dem Richtlinienrecht zum Durchbruch verhelfen. Allerdings hat der Gerichtshof der praktischen Wirksamkeit des Richtlinienrechts gleichsam Schranken gesetzt. Diese verlaufen dort, wo der Richtlinieninhalt den Privaten belastet. f. Keine Belastung Privater Die einseitige und staatengerichtete Zielrichtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt sich in mehreren Entscheidungen über die belastende Wirkung nicht umgesetzter Richtlinieninhalte. Nicht nur in der Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen" 54 , sondern auch beim Problem der horizontalen Wirkung nicht umgesetzter Richtlinien zwischen einzelnen Marktbürgern hat der Gerichtshof eine Belastung des Privaten abgelehnt. Danach verpflichtet eine Richtlinie nicht selbst den Privaten und eine Richtlinienbestimmung kann als solche nicht gegenüber einer derartigen Person in Anspruch genommen werden.55 Den einzelnen Marktbürger soll mithin eine belastende Wirkung von Richtlinieninhalten erst treffen, wenn die Richtlinie in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß die Entscheidung im Fall „Costanzo" 5 6 im Ergebnis eine Belastung des privaten Mitbewerbers zur Folge hatte. Deshalb trifft die Schlußfolgerung, nicht umgesetzte Richtlinieninhalte könnten für den Bürger nur begünstigende, aber nicht belastende Folgen zeitigen, in dieser Allgemeinheit nicht zu.57 Wichtig für die Deutung der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist aber, daß die unmittelbare Wirkung vom Bürger dazu verwandt wurde, von der staatlichen Stelle etwas zu verlangen. 58

54 55 56 57 58

EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3985. EuGH, Urteil vom 26.2.1986, Rs. 152/84, Ε 1986, 723, 749. EuGH, Urteil vom 22.6.1989, Rs. 103/88, Ε 1989, 1839, 1862ff. Jarass, Grundfragen, S. 83. Jarass, Grundfragen, S. 83.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

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So lag es im Fall „Costanzo". Die Kehrseite der Berufung auf begünstigende Richtlinieninhalte bestand in der mittelbaren Belastung eines anderen. Am Ende eines Ausschreibungsverfahrens kann nur ein Bewerber den Zuschlag erhalten. Eine solche Belastung hat keinen finalen Charakter. Sie stellt sich als Folge der Begünstigung eines anderen ein, der es mittels der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie schafft, die Nichtanwendung des richtlinienwidrigen Ausschreibungsrechts herbeizuführen. Man mag darüber streiten, ob der Gerichtshof an dieser Stelle zu weit gegangen ist, da es aus der Sicht des mittelbar belasteten Bürgers bei dem Fakt der Belastung bleibt, da nicht umgesetztes Richtlinienrecht letztlich doch seine Rechtsposition nachteilig gestaltet. Das stellt jedoch die Zielrichtung des Gerichtshofs, keine Belastung des einzelnen zuzulassen, grundsätzlich nicht in Frage. Zudem stellte der Gerichtshof in der jüngeren Entscheidung „Faccini Dori" die Grenzen der unmittelbaren Wirkung wieder klarer heraus. 59 Der Gerichtshof begründet zunächst die gegen den Staat oder staatliche Einrichtungen gerichtete unmittelbare Wirkung und läßt hierauf Ausführungen von wünschenswerter Eindeutigkeit folgen:60 „Eine Ausdehnung dieser Rechtsprechung auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Bürgern hieße, der Gemeinschaft die Befugnis zuzuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zu Lasten der Bürger Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur darf, wo ihr die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen zugewiesen ist."

Diese Aussage bestätigt die ebenfalls eindeutige Entscheidung im Fall „El Corte Ingles". 61

2. Deutung der Rechtsprechung für die Problemlösung Will man aus dieser Rechtsprechung Erkenntnisse für die hier in Rede stehende Problematik schöpfen, so ist anfangs festzustellen: Eine definitive Aussage über die strafrechtliche Würdigung richtlinienbedingter Pflichten ist ihr nicht zu entnehmen. Die Auslegung von Straftatbeständen ist aber auch nicht Sache des Gerichtshofs und die Frage, wie das Strafrecht mit einer denkbaren Festlegung von Garantenpflichten oder Sorgfaltsmaßstäben durch die unmittelbare Wirkung von Richtlinien umgeht, ist eine Problem des Strafrechts selbst und sie findet im Gemeinschaftsrecht keine abschließende Antwort. Sie fordert die Rechtsprechung der 59 60

61

EuGH, Urteil vom 14.7.1994, Rs. C-91/92, Ε 1994,1-3325 ff. EuGH, Urteil vom 14.7.1994, Rs. C-91/92, Ε 1994, 1-3325, 3356. Hinweis: Der Gerichtshof stellt auf die „Beziehungen zwischen den Bürgern" ab, weil das vorlegende Gericht die Frage der horizontalen Richtlinienwirkung aufgeworfen hatte. EuGH, Urteil vom 7.3.1996, Rs. C-192/94, Ε 1996,1-1281, 1303.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

nationalen Strafgerichte und die Strafrechtswissenschaft auf, Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die Aussage des Gerichtshofs, die Richtlinie könne allein und unabhängig von Durchführungsvorschriften nicht die Wirkung haben, die strafrechtliche Verantwortlichkeit einzelner festzulegen oder zu verschärfen,62 löst das Problem nicht. Sie gibt letztlich für dessen Lösung nur einen Hinweis, aber kein zwingendes Argument, weil sich diese Aussage nur auf belastende Wirkungen im Verhältnis Staat - Bürger bezieht. Die Begründungselemente der Rechtsprechung des Gerichtshofs sprechen jedoch gleichwohl dafür, eine strafrechtliche Belastung einzelner Personen nicht zuzulassen. Diese Aussage gilt auch für den zur Beachtung von unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten verpflichteten Amtsträger. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Richtlinienrecht wird dadurch nicht in Frage gestellt. Denn der gegen den Mitgliedstaat gerichtete Sanktionsgedanke trägt auch dann, wenn strafbarkeitsbegründende Folgen der unmittelbaren Wirkung verneint werden. Auch der Rechtsschutzgedanke, der dem einzelnen Marktbürger zur Wahrung seiner gemeinschaftsrechtlich verbürgten Rechte verhilft, wird nicht beeinträchtigt, wenn strafbarkeitsbegründende Folgen verneint werden. Freilich ist diese Deutung der Rechtsprechung des Gerichtshofs mit dem Gedanken des effet utile und der darauf fußenden Erwägung anfechtbar, gerade strafrechtliche Konsequenzen seien geeignet, dem Richtlinienrecht zum Durchbruch zu verhelfen. Der von einer Richtlinie gewollte Schutz der Gesundheit des Arbeitnehmers oder der Umwelt solle nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nun einmal gewährleistet werden und aus diesem Grund sei es gerechtfertigt, derartige Ziele notfalls mit den Mitteln des Strafrechts durchzusetzen. 63 In diesem Zusammenhang könnte schließlich für eine strafrechtlich relevante Pflichtenbegründung sprechen, daß einer Nichtberücksichtigung richtlinienbedingter Pflichten diskriminierender Charakter zukommt, da gemeinschaftsrechtlich begründeten Pflichten nicht die Wirkung innerstaatlicher Pflichten zugestanden wird.64 Damit würden jedoch Intention und Zielsetzung der Rechtsprechung des Gerichtshofs ignoriert. Das Strafrecht wird der Gesamtproblematik nicht gerecht, wenn es nur darauf schaut, ob eine Pflicht zur Beachtung von Richtlinieninhalten gegeben ist und sodann ohne weitere Reflexion diese Pflicht wie sonstige außerstraf62 63

64

EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986f. Angesichts „schneidiger" Stellungnahmen zur belastenden Wirkung, siehe etwa Emmert, EWS 1992, 56, 65 rechte Spalte, könnte so argumentiert werden. Zur Klarstellung: Der Begriff der Diskriminierung meint hier im allgemeinen Sinne, daß die Durchsetzung von EG-Recht nicht weniger leistungsfähig ausgestaltet werden darf als die Durchsetzung des nationalen Rechts, vgl. Jarass, DVB1. 1995, 954, 960; RengelinglMiddeke! Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 975 ff.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

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rechtliche Pflichten als Anknüpfungspunkt genügen läßt. Daher muß auch für die strafrechtliche Würdigung der Ausgangspunkt gelten, daß es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich keine Belastung des Privaten durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte geben soll. Schließlich entspringt dem rechtsfortbildenden „Richtlinienrecht" das gesamte Problem, weshalb seine ursprüngliche Zielsetzung als ein an die nationale Rechtsordnung gesendeter Impuls bei der Lösung einhergehender Probleme beachtet werden muß. Setzt man Amtsträger oder Verantwortliche „öffentlich" beherrschter Unternehmen den beschriebenen strafrechtlichen Konsequenzen aus, so wird dieser Wille des Gerichtshofs mißachtet. Denn der so strafrechtlich Verfolgte repräsentiert in seiner konkreten Rolle als Beschuldigter gerade nicht mehr den Staat, den der Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung treffen und zur Beachtung der Richtlinieninhalte zwingen will. Er gerät zwischen die Mühlsteine der Rechtsordnungen, wenn man wie gewohnt die außerstrafrechtliche Pflichtenbegründung oder Sorgfaltsnorm heranzieht und sich hiermit begnügt, ohne die Besonderheiten der Verzahnung der Rechtsordnungen und die Motive des Gerichtshofs zu beachten. Diese Routine verkennt die Intention des Gerichtshofs. Der so verfolgte Amtsträger steht vielmehr „dem einzelnen", den der Gerichtshof nicht belastet wissen will, sehr viel näher. Denn in einem Strafverfahren wird der Amtsträger nicht mehr als Teil des Staates, sondern ausschließlich als natürliche Person getroffen. Die Rechtsfolgen des Strafurteils treffen nicht den Staat, den der Gerichtshof treffen will, sondern die natürliche Person. Einzig und allein sie muß die Last der Geld- oder Freiheitsstrafe tragen. Nur auf die natürliche Person und nicht auf den Staat als den eigentlichen Urheber des Konflikts fallt der gesellschaftlich stigmatisierende Schatten der Vorstrafe. Aus der Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß aus dem Richtlinienrecht derartige Folgen ableitbar sein sollen. Das Ziel der Rechtsprechung ist es, den sich nicht gemeinschaftsrechtskonform verhaltenden Mitgliedstaat als solchen zu treffen. Um es mit einem strafrechtlichen Bild auszudrücken: Hätte die richtlinienbedingte Pflichtenbegründung zur Folge, daß der Amtsträger strafrechtlich von dem Staat zur Verantwortung gezogen werden kann, der entgegen der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht das Recht nicht umgesetzt hat, so irrt der vom Gerichtshof rechtsfortbildend in die innerstaatliche Rechtsordnung geschossene Pfeil ab und es kommt zu einer „gemeinschaftsrechtlichen aberratio ictus".

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

V. Zwischenresümee Das durch den Gerichtshof begründete Recht der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien verlangt nicht, die hiernach auferlegten Pflichten auch dann zu berücksichtigen, wenn es um die Prüfung strafbarkeitsbegründender Folgen geht. Aufgrund des nunmehr gewonnenen Kenntnisstandes kann somit gesagt werden: Sowohl das innerstaatliche Recht als auch das Gemeinschaftsrecht sprechen dafür, streng zwischen den Pflichten der innerstaatlichen Stellen und einer etwaigen Haftung der natürlichen Person zu differenzieren, die für eine innerstaatliche Stelle handelt. Daraus folgt jedoch weiterer Klärungsbedarf. Denn es fragt sich, wie diese Abspaltung der strafrechtlichen Würdigung strafrechtsdogmatisch bewältigt werden kann. Dazu sei zunächst auf die bereits angesprochenen Lösungsansätze verwiesen, die hier nicht wiederholt werden sollen.65 Vielmehr ist das Grundproblem mit seinen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in Schlagworten nochmals zusammenzufassen: Soweit die Richtlinieninhalte Garantenpflichten oder Sorgfaltsmaßstäbe so detailliert festlegen, daß sie zur unmittelbaren Wirkung fähig sind, werden diese Richtlinieninhalte regelmäßig wortgetreu umgesetzt. Der heute unmittelbar wirkende Richtlinieninhalt ist nichts anderes als die innerstaatliche Sorgfaltsnorm oder Garantenpflicht von morgen. Wer heute aus der Fahrlässigkeits- oder Unterlassungsdogmatik heraus Fluchtwege sucht, entgeht dem Grundproblem nicht. Es holt ihn ein, wenn ihm der Richtlinieninhalt früher oder später im Gewand des innerstaatlichen Rechts begegnet. Dann wird zu begründen sein, warum nunmehr trotz Wort für Wort identischen Norminhalts derselbe als Sorgfaltsnorm oder Pflichtenumschreibung anerkannt wird. Zudem modifiziert das Richtlinienrecht in vielen Fällen Bereiche des Rechts, die seit jeher zur strafrechtlichen Prüfung von Sorgfalts- und Garantenpflichten herangezogen werden. Das Arbeitsschutzrecht bildet dafür ein gutes Beispiel. In derartigen Rechtsgebieten modifizieren die Richtlinienvorgaben das innerstaatliche Recht oftmals nur mit ungleich konkreteren Inhalten. Pragmatische Lösungsansätze helfen hier nicht weiter. Rechtsdogmatisch wären derartige Lösungsversuche aus einem weiteren Grund ungereimt. Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien dringt nicht nur in die innerstaatliche Rechtsordnung ein und begründet die beschriebenen Pflichten. Bis auf den von Art. 23 G G umschriebenen Kern verdrängt sie normentheoretisch im Kollisionsfall jede Normenkategorie des nationalen Rechts. Warum aber die Pflicht

65

Siehe oben 1. Hauptteil D. VIII.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

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für den Fall, daß sie dem Rechtsanwender trotz identischen Wortlauts nach der Umsetzung ζ. B. „nur" auf der Ebene der Rechtsverordnung begegnet, mit einem Mal beachtlich sein soll, vermag nicht einzuleuchten. Aus einer anderen Richtung betrachtet: Es ist eine Täterhandlung denkbar, die im Fall der rechtzeitigen Richtlinienumsetzung unstreitig zu bestrafen wäre. Fraglich ist, ob es strafrechtsdogmatisch überhaupt zu begründen ist, eine durch die unmittelbare Wirkung erzeugte Pflichtenstellung auszublenden und sich nur auf die innerstaatliche Normierung von Richtlinieninhalten nach deren Umsetzung zu konzentrieren. Ein und dieselbe Aussage des für die Behörde vor und nach der Umsetzung geltenden Rechts, mit der z.B. bestimmte Sicherheitsmaßnahmen für Arbeitnehmer wortgleich vorgegeben werden, erfahrt eine völlig unterschiedliche Würdigung. Erscheint es in Gestalt des unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalts, der normentheoretisch sogar Vorschriften der Verfassung beiseite schieben kann, soll es in den Hintergrund treten. Beachten wollen wir es strafrechtlich erst, wenn es uns in vergleichsweise banal anmutender Form als innerstaatliche Rechtsverordnung begegnet.

VI. Die fehlende Strafrechtswidrigkeit richtlinienbedingter Pflichtverstöße 1. Begründung der fehlenden Rechtswidrigkeit Teilt man den zuvor entwickelten Standpunkt, so wird es fraglich, ob das für das öffentliche Recht gegebene Rechtswidrigkeitsurteil auf das Strafrecht übertragen werden kann. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt die Einheitlichkeit des Rechtswidrigkeitsurteils jedenfalls nicht. Freilich ist damit zu fragen, ob an dieser Stelle mit dem Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung gebrochen wird. Es bleibt zu klären, ob die im Lichte des Gemeinschaftsrechts gegebene Pflichtwidrigkeit und das strafrechtliche Rechtswidrigkeitsurteil unterschiedliche Wege gehen dürfen. Die Frage gestellt zu haben, bedeutet umgehend innezuhalten. Es bestehen Zweifel, ob dieser Grundsatz überhaupt tangiert wird, weil die unmittelbare Wirkung und die mit ihr verzahnten Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nicht einer, sondern zwei Rechtsordnungen entspringen. Folglich könnte zu argumentieren sein, der Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung sei nicht berührt und deshalb für die Problemlösung irrelevant. Das ist zutreffend, wenn man den Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung im Sinne eines einheitlichen Rechtswidrigkeitsurteils mit der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung verknüpft. Ein ein-

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

heitliches System bilden dann diejenigen Normen, die von einer gemeinsamen „Ursprungsautorität" ausgehen. In diesem Sinne wäre „die Einheit der Rechtsordnung im wesentlichen die Einheit eines Erzeugungszusammenhangs". 66 Die Einheit der Rechtsordnung ist in diesem Sinne nur dann gefährdet, wenn der Inhalt von Rechtsnormen einer bestimmten Rechtsordnung widersprüchliche Ergebnisse hervorbringt. 67 Ein solches einheitliches Rechtssystem gibt es auf europäischer Ebene nicht, denn hinter jedem Mitgliedstaat steht jeweils eine einheitliche Rechtsordnung. 68 Die Europäische Union verfügt über eine „bündische Struktur siu generis", 69 die das Bundesverfassungsgericht als Staatenverbund umschreibt. 70 Wenn der Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung hier gleichwohl diskutiert wird, so hat das folgende Gründe. Das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht erscheinen „zu sehr ... miteinander verstrickt bzw. verzahnt zu sein, als daß man ohne weiteres mit wenigen Strichen oben auf der Ebene der Gemeinschaft oder unten auf der Ebene der Mitgliedstaaten eine einheitliche und in sich geschlossene Rechtsordnung ausmachen könnte". 71 Auszugehen ist zwar vom Grundmodell zweier Rechtsordnungen, doch unsere Rechtsordnung hat sich dem Gemeinschaftsrecht geöffnet. Der unmittelbaren Geltung und der Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle wird innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen. 72 Bei der rechtlichen Beurteilung eines konkreten Sachverhalts kann neben dem nationalen Recht auch das Gemeinschaftsrecht zur Anwendung kommen. 73 Soweit eine unmittelbar wirkende Vorschrift des Gemeinschaftsrecht mit nationalem Recht kollidiert, setzt sie sich im Einzelfall im Wege des Anwendungsvorrangs durch. In diesem Sinne hat die nationale Rechtsordnung auch die unmittelbare Wirkung von Richtlinien mit der Folge des Anwendungsvorrangs in sich aufgenommen. Begreift man den Anwendungsvorrang als eine von den Zustimmungsgesetzen umfaßte Rechtsregel, so liegt darin eine wesentliche Erkenntnis. Der Vorrang einer Richtlinienvorschrift läßt sich trotz Kollision als innerstaatlich akzeptiert umschreiben, indem die Zustimmungsgesetze die Rechtsordnung hierfür in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt geöffnet haben.

66 67 68 69 70 71

72 73

So Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 99. Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 147; Kelsen, A ö R 32 (1914), 202, 207. Hilf, Einheit der Rechtsordnung: EG-Recht und nationales Recht, S. 219, 235. Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 152. BVerfGE 89, 155, 184, 188. Hilf, Einheit der Rechtsordnung: EG-Recht und nationales Recht, S. 219, 220; Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 151 f. BVerfGE 37, 2 7 1 , 2 8 0 . Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 151.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

235

Daraus ergibt sich die Frage, ob die richtlinienbedingte, außerstrafrechtliche Pflichtwidrigkeit auch strafrechtlich als pflicht- und rechtswidrig einzuordnen ist. Im Ausgangspunkt unterscheidet sich die richtlinienbedingte Pflicht insoweit nicht von der durch ein innerstaatliches Gesetz oder eine EG-Verordnung nach Art. 249, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV begründeten Pflicht. Das Strafrecht findet die gemeinschaftsrechtlich begründete Pflicht vor, wie es innerstaatlich begründete Rechtspflichten vorfindet und daran anknüpft. Sofern im Strafrecht der Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung in Rede steht, so geht es um die rechtfertigende Wirkung außerstrafrechtlicher Erlaubnissätze oder um die im Rahmen dieser Untersuchung relevant werdende Fragestellung, ob das zivil- oder öffentlichrechtliche Verbotensein eines bestimmten Verhaltens, wenn dieses zugleich den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, auch strafrechtliches Unrecht darstellt. 74 Hier wird in der Strafrechtswissenschaft um den Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung gestritten. 75 Die Frage nach der Einheit der Rechtsordnung bedeutet in diesem Sinne die Frage nach der Einheitlichkeit des Rechtswidrigkeitsurteils.

2. Rechtswidrigkeit u n d Einheit der R e c h t s o r d n u n g Es ist eine bis heute nicht endgültig beantwortete Frage, ob die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Handlung für die gesamte Rechtsordnung, also für alle Rechtsgebiete, einheitlich beantwortet werden muß, oder ob sie, je nach den Besonderheiten der einzelnen Rechtsmaterien differenziert beurteilt werden kann. 76 a. Rechtfertigungsgründe Bei den Rechtfertigungsgründen geht die vorherrschende Meinung vom Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung aus und kommt zu dem Ergebnis, daß eine nach bürgerlichem oder öffentlichem Recht erlaubte Handlung auch strafrechtlich einen Rechtfertigungsgrund darstellt. 77 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, denn es wäre ein Wertungswiderspruch und würde auch der Subsidiarität des Strafrechts wider-

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C. Roxin, AT, § 14 Rn. 30. Vgl. nur den Überblick bei Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 13ff. Rn. 50f.; Vorbem. §§ 32fT. Rn. 27; § 32 Rn. 42b. C. Roxin, AT, § 14 Rn. 30. BGHSt 11, 242, 244; C Roxin, AT, § 14 Rn. 31; Lenckner in: Schönke-Schröder, vor § 32 Rn. 27 mwN.

236

3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren W i r k u n g von Richtlinien im Strafrecht

sprechen, wenn ein in irgendeinem Rechtsgebiet gestattetes Verhalten gleichwohl bestraft würde. 78 Hellmann verneint zwar die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, 79 weshalb seine Ergebnisse in der ganz überragenden Zahl der Fälle von denen der vorherrschenden Meinung aber nicht abweichen. Ohne Erwähnung seines dogmatischen Ansatzes greift es zu kurz, wenn Hellmann dafür angeführt wird, daß nach seiner Meinung in einem einheitlichen Bewertungszusammenhang die zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe nicht anwendbar sind.80 Nach Hellmann drückt in der Strafrechtsdogmatik der Begriff der Rechtswidrigkeit die strafrechtliche Mißbilligung eines Verhaltens aus, das bei schuldhaftem Handeln die Bestrafung des Täters zur Folge hat. So verstanden deckt sich der Begriff der „Strafrechtswidrigkeit" nicht mit dem allgemeinen Rechtswidrigkeitsbegriff, sondern bildet wegen des fragmentarischen Charakters des Strafrechts allenfalls ein Segment aus diesem.81 Hellmann ficht für eine vorrangige Anwendung der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe,82 wobei er ausdrücklich die anzustrebende Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung anerkennt. 83 Für ihn kommt die Anwendung eines zivilrechtlichen Erlaubnissatzes nur in Betracht, wenn der Regelungsbereich über den eines strafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes hinausgeht oder eine strafrechtliche Entsprechung gänzlich fehlt. 84 Diesem im einzelnen hier nicht zu vertiefenden Ansatz wohnt eine abweichende Deutung des Verhältnisses der Rechtfertigungsgründe der Teilrechtsordnungen inne, doch zu unterstreichen bleibt, daß auch nach dieser Auffassung die Gesamtrechtsordnung auf der Rechtfertigungsebene frei von Widersprüchen zu halten ist. Alle Meinungen sind sich in dem Ziel einig, die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes zu gewährleisten. Bis hierhin besteht im Grundsatz kein Streit. 78 79

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84

C. Roxin, A T , § 1 4 R n . 31. Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, S. 95 fT. Insoweit mißverständlich Jakobs, AT, 1 l/6a Fn. 12a. Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, S. 9. Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, S. 105 ff. Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, S. 93, 104 f. Dann ist mit Hellmann allerdings zu fragen, ob die abweichenden Ergebnisse einen zu beseitigenden Wertungswiderspruch aufzeigen oder eine von der Rechtsordnung gewollte Differenzierung zum Ausdruck kommt, die bestehenbleiben kann, siehe Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, S. 114, der sodann, ebenda S. 115ff, in einer umfassenden Bestandsaufnahme den konkreten Anwendungsbereich zivilrechtlicher und strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe untersucht.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

237

b. Außerstrafrechtliche Rechtswidrigkeit und Strafrechtswidrigkeit Das Meinungsbild wird vielfaltiger, wenn es um das Thema geht, ob das zivil- oder öffentlich-rechtliche Verbotensein eines bestimmten Verhaltens regelmäßig für den Fall seiner Tatbestandsmäßigkeit auch strafrechtliches Unrecht darstellt. 85 Nach wohl überwiegender Auffassung erfordert die außerstrafrechtliche Rechtswidrigkeit auch eine entsprechende Wertung im Strafrecht. 86 Argumentiert wird mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Rechtspflichtbegründungen wirken sich demnach grundsätzlich allgemein aus 8 7 und die Rechtswidrigkeit als Widerspruch zu einer Verhaltensnorm ist immer ein solcher zur Gesamtrechtsordnung. 8 8 Überträgt man diesen Grundsatz am Beispiel der Mißachtung von unmittelbar wirkenden und von Amts wegen zu beachtenden Arbeitsschutzbestimmungen auf die Frage der strafrechtlich relevanten Pflichtenbegründung, so müßte im Rahmen einer Prüfung nach §§ 229, 13 StGB die Mißachtung der Schutzvorschriften als rechtswidrig angesehen werden. Der öffentlichrechtlichen Pflichtwidrigkeit müßte eine entsprechende strafrechtliche Würdigung folgen. Dabei ist freilich vorauszusetzen, daß die Handlung einen Straftatbestand erfüllt, da nicht alle Ge- und Verbote der Rechtsordnung, sondern nur die straftatbestandsmäßigen den Bezugspunkt des strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsurteils bilden. 89 Um dies terminologisch hervorzuheben, wird auch zwischen der Normwidrigkeit im Sinne eines allgemeinen Ge- oder Verbotsverstoßes und der strafrechtlich relevanten Pflichtwidrigkeit differenziert. 90 Günther hat sich gegen die These gewandt, nach der die rechtliche Billigung oder Mißbilligung eines Verhaltens durch ein Rechtsgebiet die gesamte Rechtsordnung durchdringt und die Grenze zwischen Recht und Unrecht für alle Rechtsgebiete einheitlich verläuft. 91 Die Identität zwischen „allgemeiner Rechtswidrigkeit" und der „Strafrechtswidrigkeit" wäre nach dieser Meinung nur dann zu bejahen, wenn die Strafrechtswidrigkeit ebenfalls die Grenze zwischen Recht und Unrecht, zwischen rechtlicher Billigung und Mißbilligung eines Verhaltens markierte. Sie wäre zu verneinen, wenn ihr wie dem Straftatbestand nur die Funktion zukäme, strafrechtlich zu mißbilligende Handlungen zu erfassen, also die Grenze zwischen strafbaren und

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Vgl. C. Roxin, AT, § 14 Rn. 30. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 58; Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 32ff.Rn. 27. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 58. Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 27. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 37. Vogel, Norm und Pflicht, S. 39. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. lOOf.

238

3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

nichtstrafbaren Verhaltensweisen festzulegen. Da nicht jede rechtswidrige Handlung strafwürdiges Unrecht sei, nehme diese Grenze einen anderen Verlauf als die zwischen Recht und Unrecht. 92 Mit Günther wäre es folglich denkbar, durch die unmittelbare Wirkung erzeugte Pflichten vom strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsurteil abzutrennen. c. Beispiele diskutierter Teilrechtswidrigkeiten Differenzierende Rechtswidrigkeitsurteile können bei der Bewertung derselben Handlung durch das Polizeirecht einerseits und das Strafrecht andererseits entstehen. 93 Wer Polizeibeamten neben den speziellen Amtsrechten die Rechtfertigungsmöglichkeit durch Notwehr und Notstand zubilligt, kann bei einem nicht durch Amtsrechte, wohl aber durch die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, also etwa § 32 StGB, gerechtfertigten Verhalten trotz strafrechtlicher Rechtfertigung ein disziplinarrechtliches Unrecht annehmen. 94 Führt die auf der Grundlage der Amtsrechte nicht rechtmäßige Diensthandlung zur Körperverletzung einer Person, so bedingt diese öffentlichrechtliche Pflichtwidrigkeit nicht zwingend die strafrechtliche Wertung der Diensthandlung als rechtswidrig. Ein straftatbestandsmäßiges Verhalten kann also mit Jakobs öffentlichrechtlich rechtswidrig und zugleich strafrechtlich gerechtfertigt sein.95 Lenckner argumentiert gegen diese Sichtweise und meint, eine Aufspaltung in eine strafrechtliche und polizeirechtliche Rechtswidrigkeit sei mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung unvereinbar. 96 Er kann sich dabei auf Engisch stützen, in dessen grundlegenden Ausführungen über die Einheit der Rechtsordnung es heißt, die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens sei stets anhand der gesamten Rechtsordnung unter Würdigung und Abwägung aller einschlägigen Interessen und Ausgleichung aller im Gesetz in Erscheinung tretenden Ordnungs- und Wertgesichtspunkte festzustellen. 97 Diese Feststellung soll sodann allgemein und schlechthin gelten.

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96 97

Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 100 f. Zusammenfassend: Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 57 ff. Jakobs, AT, 11/6. Jakobs, AT, 11/6, Fn. 11. Ferner etwa Klose, ZStW 89 (1977), 61, 79; Rogall, JuS 1992, 551 ff. Siehe auch C. Roxin, AT, § 15 Rn. 92. Roxin tritt bei einem nach isolierter Betrachtung polizeirechtswidrigem, aber gemäß § 32 StGB gerechtfertigtem Waffengebrauch im Ergebnis für eine umfassende und damit auch dienstrechtliche Rechtfertigung ein. Aber aus kriminalpolitischen Gründen und nicht unter Berufung auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Lenckner in: Schönke-Schröder, § 32 Rn. 42 b mwN. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 58.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

239

Fraglich ist jedoch, ob diese kategorische Sichtweise notwendig ist, wenn die in der Rechtswidrigkeitsfrage differenzierenden Ansätze ebenso das Ziel der widerspruchsfreien Lösung verfolgen. Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung formuliert richtigerweise den Anspruch, das Recht frei von Widersprüchen zu halten. Die Rechtfertigungsdogmatik darf deshalb aber nicht die Unterschiede in den Funktionen und Aufgaben der einzelnen Rechtsgebiete ausblenden. Diese sollten vielmehr aufgespürt und verarbeitet werden, um „Recht" zu gewährleisten. 98 Kirchhof hat in einer Betrachtung der polizeilichen Eingriffsbefugnis und der privaten Nothilfe zu dieser Frage angemerkt, daß die Rechtsfolgen von Notwehr und Nothilfe ihre Wirkungen nur im Binnenbereich des Straf- und Zivilrechts entf a l t e n . " Die entstehende Differenzierung von Rechtswidrigkeiten gefährde die Einheit der Rechtsordnung nur scheinbar. Die als innere Einheit zu verstehende Verfassung bewähre sich im Ergebnis gerade dann, wenn sie einen Vorgang aus der Perspektive des sachnächsten Teilrechtsbereichs beurteile. Die Einheit der Rechtsordnung wolle nicht eine differenzierte und einzelfallgerechte Rechtsordnung vergröbern und vereinfachen, sondern enthalte den Auftrag, bei Wertungskonflikten im Einzelfall Recht mit Blick auf die Gesamtrechtsordnung zu finden. 100 Interessanterweise werden Differenzierungen im Sinne Kirchhofs getroffen, obwohl formal am Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung festgehalten wird. Deutlich wird das im Zusammenhang mit einer vielzitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Züchtigungsrecht des Lehrers. 101 Gegenstand der Prüfung des Gerichts waren neben Ohrfeigen auch Schläge mit einem Rohrstock auf die Handinnenfläche, womit die Tathandlung unstreitig den Tatbestand der Körperverletzung erfüllte. Die Entscheidung ist für die vorliegende Untersuchung insoweit von Bedeutung, als es um das Nebeneinander einer Verletzung von Dienstpflichten und die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung im Rahmen des § 223 StGB geht. Der Bundesgerichtshof bekennt sich in dieser Entscheidung zwar zum Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, doch im Ergebnis kommt es zu einem Bruch im Sinne eines differenzierenden Rechtswidrigkeitsurteils in unterschiedlichen Rechtsgebieten. Das Gericht führt aus, die körperliche Züchtigung eines Schülers könne durch Gewohnheitsrecht gerechtfertigt sein, selbst wenn sie wegen entgegenstehender schulrechtlicher Anordnungen disziplinarrechtlich zu verfolgen sei.102 Ein entsprechender ministerieller Erlaß war nach der Entscheidung wegen des fehlenden

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Günther, Spendel-FS, S. 189, 191. Kirchhof, NJW 1978, 969, 972. Kirchhof, NJW 1978, 969, 972. BGHSt 11, 241 ff". BGHSt 11, 241, 251 ff.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Gesetzescharakters nicht geeignet, das gewohnheitsrechtlich verankerte Züchtigungsrecht aufzuheben. 103 Günther stellt hierzu mit Recht fest, diese Rechtsprechung führe zu divergierenden Rechtswidrigkeitsbegriffen des Strafrechts und des Schul- und Disziplinarrechts. 104 Nach der vorherrschenden Meinung soll dieses Auseinanderfallen des Rechtswidrigkeitsurteils dem Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung nicht widersprechen. Das fragliche Verbot müsse für die verschiedenen Teilbereiche des Rechts ein und dasselbe sein, was wegen der „unterschiedlichen" Angriffsrichtung bei einer unter dem Gesichtspunkt des § 223 StGB gerechtfertigten, aber disziplinarrechtlich rechtswidrigen Züchtigung nicht der Fall sei.105 Mit dem Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung sei es vereinbar, eine Handlung, die mehrere Rechtsgutsverletzungen herbeizuführen droht, im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Folgen auch unterschiedlich zu betrachten, bezüglich der einen also als rechtmäßig und hinsichtlich der anderen als rechtswidrig.106 Der Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung gebiete allein, ein bestimmtes Verhalten unter dem gleichen Aspekt für alle Rechtsgebiete gleich zu bewerten.107 Diese Differenzierungen weichen den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung jedoch zumindest auf. Bei ein- und derselben Handlung sieht der Bundesgerichtshof einmal die Möglichkeit disziplinarrechtlicher Schritte wegen einer Verletzung des Dienstrechts, das die körperliche Mißhandlung von Schülern ja gerade unterbinden will. Andererseits nimmt er eine strafrechtliche Rechtfertigung exakt dieser Mißhandlung an. Dabei sei unterstellt, daß es Fälle geben kann, in denen der Lehrer körperverletzen darf. Denkbar wäre dies, wenn der Lehrer einen seiner Schüler verletzt, um ζ. B. im Wege der Nothilfe einen von diesem Schüler ausgehenden schweren Angriff auf die körperliche Unversehrtheit eines Mitschülers abzuwenden. Unterstellt man in diesem Fall das Vorliegen der einzelnen Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 StGB, 108 so bestünde in der Tat kein Widerspruch zum grundsätzlichen Verbot der Züchtigung von Schülern, da dieses Verbot der körperlichen Gewalteinwirkung eine Erlaubnis im Einzelfall erfahrt. 109 Doch um derartige Fälle ging es in der Entschei-

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BGHSt 11, 241, 251 ff. In diesem Sinne auch BGHSt 6, 263, 268. Zur neueren Rechtsprechung BGH, NStZ 1993, 591, ähnlich bereits RGSt 73, 257 ff. Die Frage, ob angesichts entgegenstehender Erlasse überhaupt noch die Voraussetzungen eines gewohnheitsrechtlichen Erlaubnissatzes vorlagen, soll hier dahinstehen. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 41. Lenckner in: Schönke-Schröder, vor §§ 32ff Rn. 27. Rudolphi, Arm. Kaufmann-GS, S. 371, 376. Rudolphi, Arm. Kaufmann-GS, S. 371, 376. Vgl. C. Roxin, AT § 17 Rn. 40. Diese Würdigung dürfte dann auf die disziplinarische Bewertung durchschlagen.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

241

dung des Bundesgerichtshofs nicht. Vielmehr wurde mit der Zuerkennung eines gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsrechts eine grundsätzlich im Widerspruch zum Dienstrecht stehende, straftatbestandsmäßige Verhaltensweise aus strafrechtlicher Sicht als rechtmäßig eingestuft, ohne den Rechtswidrigkeitskonflikt zu lösen. Mit Günther läßt sich vielmehr in diesem Fall eine Spaltung des Rechtswidrigkeitsurteils nicht bestreiten. Wie man es auch dreht und wendet, es bleibt dabei, daß in dieser Entscheidung auf der Stufe der Rechtswidrigkeit die dienstrechtliche und die strafrechtliche Rechtswidrigkeit unterschiedliche Wertungen erfuhren. Wenn das Dienstrecht sagt, daß ein rüpelhaftes Verhalten eines Schülers nicht zur Züchtigung berechtigt und ein so handelnder Lehrer disziplinarrechtlich belangt werden kann, so entsteht ein Widerspruch, wenn das rüpelhafte Verhalten aus strafrechtlicher Sicht als gehöriger Züchtigungsanlaß mit der Folge gewertet wird, daß eine tatbestandsmäßige Körperverletzung nicht rechtswidrig sei. In der Sache scheiden sich die Beurteilungen ein und derselben Handlung als Diensthandlung und straftatbestandsmäßige Handlung auf der Ebene der Rechtswidrigkeit und nehmen unterschiedliche Wege. Das Bedürfnis zur Differenzierung sieht Engisch im übrigen selbst. Seiner grundsätzlichen These, nach der sich Rechtspflichtbegründungen und Unrechtsausschließungen allgemein auswirken und diesbezügliche Gesetzeswidersprüche zu beseitigen seien,110 fügt er hinzu, es bleibe der Rechtsordnung stets unbenommen, an ein konkretes Unrecht oder an ein Unrecht bestimmter Art nur einzelne mögliche Folgen zu knüpfen, also nur Schadensersatz und keine Strafe oder nur Strafe und keinen Schadensersatz eintreten zu lassen. Es sei jedoch ein Mißgriff, wegen dieser Verschiedenheit der Unrechtsfolgen von Privat- und Strafrechtswidrigkeit zu sprechen.111 Mit Jakobs und Roxin ist jedoch anzuzweifeln, ob dies nur als eine Differenzierung nach Rechtsfolgen und nicht schon nach der Rechtswidrigkeit, der Unrechtsqualität, zu behandeln ist.112 Wenn ein Vorgang in einem Rechtsgebiet

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Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 58. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 58. Beispiel: BayObLG, NJW 1979, 1371ff. Das Gericht begründet zunächst, daß es in einer die Züchtigung des Schülers verbietenden Schulordnung eine „Grundlage für disziplinäre Anweisungen an die Lehrer" erblickt, siehe BayObLG, NJW 1979, 1371, 1372 rechte Spalte. Sodann widmet es sich dem strafrechtlichen Kontext und resümiert: „Insoweit meint der Senat, daß die allgemeine Rechtsüberzeugung auch heute dahin geht, daß bei allen Zweifeln an der erzieherischen Bedeutung einer körperlichen Züchtigung und einem allgemein vorhandenen Vorbehalt gegen körperliche Gewalt, der Lehrer jedenfalls nicht bestraft und dem schweren Vorwurf der Körperverletzung im Amt und der damit verbundenen erhöhten Strafdrohung ausgesetzt werden soll, wenn er das Züchtigungsrecht in dem hier vertretenen, engen Rahmen ausübt," siehe BayObLG, NJW 1979, 1371, 1373. Daß Rechtfertigungsgründen, die den Eingriff in fremde Rechtsgüter ermöglichen, ein enger Rahmen gesteckt ist,

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

schlechthin unerheblich oder ausnahmsweise anhand guter Gründe erlaubt ist, bleiben nicht nur die Folgen in diesem Rechtsgebiet aus, sondern es fehlt an einer Mißbilligung nach diesem Rechtsgebiet. 113 Es ist rechtslogisch durch das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung keinesfalls ausgeschlossen, ein Verhalten strafrechtlich zu tolerieren, obwohl es beamten- oder polizeirechtlich mißbilligt wird." 4 d. Die fehlende Strafrechtswidrigkeit eines Verstoßes gegen unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte Kirchhof hat dargelegt, daß aus einem Pflichtverstoß kein einheitliches Rechtswidrigkeitsurteil folgen muß. 115 Entscheidend ist, in welchem rechtlichen Kontext die Frage nach dem Pflichtverstoß gestellt wird. Die Rechtsordnung bringt dieses Bedürfnis zur Differenzierung selbst zum Ausdruck, wenn sie einen Vorgang aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich wertet. Kirchhof verweist auf rechtlich disziplinierte Geschehensabläufe, aus denen unterschiedliche Rechtswidrigkeitsurteile erwachsen können. 116 Das Strafrecht ist jedoch als Ganzes ein eigener Kontext der allgemeinen Rechtswidrigkeit. Das folgt schon daraus, daß nicht jedwedes rechtswidrige Handeln auch strafrechtliches Unrecht darstellt. Denn strafrechtliches Unrecht kann nur diejenige Teilmenge der rechtswidrigen Handlungen sein, die eine Entsprechung in der Vertypung eines Straftatbestandes findet. In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle wird es dann so sein, daß ein deliktstypisches Verhalten, das zugleich dem Verbot eines anderen Rechtsgebiets zuwiderläuft, der Bekämpfung durch das Strafrecht bedarf. 117 Fraglich ist jedoch, ob dies so sein muß.

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versteht sich von selbst. Wenn aber das BayObLG davon spricht, daß „jedenfalls nicht bestraft werden soll" und die Tat rechtfertigt, dann ist das in der Sache die Prüfung einer strafrechtsspezifischen Rechtswidrigkeit. Siehe dazu auch Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 41 f. Jakobs, AT, 11/6. Fn 11; C. Roxin, AT, § 14 Rn. 35f. C. Roxin, AT, § 15 Rn. 92. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten, S. 13. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten, S. 12 f. Beispiel Kirchhofs: Wenn ein befangener Finanzbeamter, der nach dem Verfahrens- und Beamtendisziplinarrecht nicht handeln durfte, unter korrekter Anwendung des Steuergesetzes einem Steuerpflichtigen die Körperschaftssteuer erstattet, so kann dieser Vorgang unterschiedliche Bewertungen erfahren. Das Steuerrecht prüft das Produkt des Verwaltungsvorgangs und mißt den Inhalt eines Bescheids an den gesetzlichen Steuerpflichten. Das Verwaltungsverfahren stellt besondere Anforderungen an den Amtswalter, um vorbeugend rechtswidrige Entscheidungen zu vermeiden. C. Roxin, AT, § 14 Rn. 32.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

243

Roxin meint hierzu, es sei weder denknotwendig noch stets kriminalpolitisch angezeigt, ein zivil- oder öffentlichrechtlich verbotenes und straftatbestandsmäßiges Handeln auch zu bestrafen." 8 Dem ist zu folgen, weil in den verschiedenen Rechtsgebieten nicht stets derselbe Zusammenhang gewertet wird.119 Insbesondere ist zu bedenken, daß das Rechtswidrigkeitsurteil im Strafrecht von eigener Art ist, weil es eine Entscheidung über die Strafwürdigkeit eines Verhaltens enthält. 120 Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ist zu wahren und die Einheit der Rechtsordnung in diesem Sinne als ein Postulat aufzufassen, das sich über die gesamte Rechtsordnung und die konkrete Rechtsfindung im Einzelfall legt. Bei Roxin findet sich sodann ein Satz, der in verblüffender Weise den Gedankenkreis zu der hier zu vertiefenden Problematik schließt. Seinen bereits zitierten Ausführungen, nach denen es in aller Regel zutrifft, daß ein tatbestandsmäßiges und zivil- oder öffentlichrechtlich verbotenes Handeln auch der Bekämpfung durch das Strafrecht bedarf, folgen die entscheidenden Worte: „Aber es muß nicht so sein, weil ein aus einem anderen Rechtsgebiet stammendes Verbot primär die Auslösung rechtsgebietsspezifischer Rechtsfolgen (ζ. B. Schadensersatz oder öffentlich-rechtliche Konsequenzen) bezweckt, und das Strafrecht sich dem mit seinen weit schwereren Sanktionen nicht unbedingt anschließen muß." 121

Damit benennt Roxin den hier entscheidenden Gedanken. Die unmittelbare Wirkung will eben nur rechtsgebietsspeziflsche Rechtsfolgen, insbesondere öffentlichrechtliche Konsequenzen hervorrufen. Die Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat gezeigt, daß gegenüber dem Bürger keinerlei strafrechtliche Belastungen aus der unmittelbaren Wirkung erwachsen sollen. Auch wenn die hier entwickelte Problematik nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs war und es auch nicht sein kann, weil sich der Gerichtshof mit der Auslegung des innerstaatlichen Strafrechts nicht befaßt, läßt sie doch den Schluß zu, daß die unmittelbare Wirkung von Richtlinien in strafrechtlicher Hinsicht keinerlei belastende Effekte erzeugen will. Das gilt auch für diejenigen Personen, die für eine innerstaatliche Stelle handeln. Mit anderen Worten: Der rechtsfortbildende Schnitt in die innerstaatliche Rechtsordnung erhielte im Sinne des gemeinschaftlichen Richtlinienrechts eine nicht gewollte Tiefe, wenn sich das Strafrecht nicht darauf besinnt, eine den Besonderheiten dieses Vorgangs gerecht werdende Lösung zu entwickeln.

118 119 120 121

C. Roxin, AT, § 14 Rn. 32. Jakobs, AT, 11/6. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten, S. 7, 32, ders. NJW 1978, 969, 972. C. Roxin, AT, § 14 Rn. 32 a. E.; siehe auch Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 461.

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3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Der Gerichtshof hatte bei seiner rechtsfortbildenden Rechtsprechung den Bürger vor Augen, dem die Nichtumsetzung gemeinschaftsrechtlich verbürgte Rechte nimmt und es ging ihm um die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts. Wenn er dem Staat und seinen Einrichtungen die Pflicht zur Beachtung der unmittelbaren Wirkung auferlegt, so sind das öffentlich-rechtliche Konsequenzen im Roxinschen Sinne. Die grundsätzliche Relevanz einer außerstrafrechtlichen Pflichtenbegründung für das Strafrecht wird durch diese Lösung nicht in Frage gestellt. Da die unmittelbare Wirkung jedoch nur partiell in das bestehende Gefüge des innerstaatlichen Rechts eingreift und nur Segmente des Rechts modifiziert, ist ihr ein fragmentarischer Pflichtenbegründungswille immanent. Daß diese „Pflichtenbegründung sui generis" unter jedem rechtlichen Wertungsgesichtspunkt gleich gewürdigt werden muß, überzeugt nicht. Auch gemeinschaftsrechtlich spricht alles dafür, die Entscheidung auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zu suchen. Es handelt es sich bei der Pflichtenbegründung um einen Fall, den das Gemeinschaftsrecht nicht mehr steuern kann. Das Gemeinschaftsrecht kann aus sich heraus die unmittelbare Wirkung der Richtlinien anordnen und diesen Impuls in die nationalen Rechtsordnungen senden. Das Strafrecht findet die innerstaatlich auflebende Pflichtbegründung vor und muß reflektieren, wie es mit ihr umgehen will. Das ist jedoch kein freischwebender Vorgang, sondern die aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs abzulesenden Beweggründe und Begründungselemente dieses Effekts müssen beachtet werden. Es ist auch aus innerstaatlicher Sicht angezeigt, die Problematik auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zu entscheiden. Die Untersuchung hat gezeigt, welche schwerwiegenden Verwerfungen auftreten, wenn der richtlinienbedingten Pflichtenbegründung akzessorisch gefolgt wird. Die aufgezeigten Beeinträchtigungen der Rechtssicherheit und innerstaatlicher Entscheidungsprozesse verlangen nach einer klaren, von kasuistischen Erwägungen gelösten Grundentscheidung. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob Jarass und Krämer zu folgen ist, nach denen der Beamte im Fall der Nichtanwendung unmittelbar wirkender Richtlinienvorschriften eine Amtspflichtverletzung begeht und mit beamtenrechtlichen Konsequenzen konfrontiert werden könnte. 122 Strafrechtswidrig handelt er auf jeden Fall nicht. Im Kern bricht die hier entwickelte Lösung weder mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung noch mit dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Das Gegenteil ist der Fall. Unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte dringen

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Siehe oben 1. Hauptteil D. VII. 2. a.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

245

nur ausnahmsweise und partiell in die nationale Rechtsfindung ein und wollen belastende Wirkungen nicht zeitigen. Da die Richtlinie auch für den Fall ihrer unmittelbaren Wirkung nicht belasten will, ist es eben konsequent und diesem Recht dienlich, wenn an der Stelle, wo es ausschließlich um massive Belastungen geht, also im Strafrecht, entsprechende Verstöße grundsätzlich auszuscheiden haben. Wenn die unmittelbare Wirkung schon eine Ausnahme des Richtlinienrechts darstellt und die Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, daß belastende Wirkungen nicht erzeugt werden sollen, hat das Strafrecht an dieser Ausnahme insoweit nicht teil. Für das Strafrecht bleibt - auch nach dem Willen des Gemeinschaftsrechts - bis zur Umsetzung der bisherige innerstaatliche Rechtszustand maßgebend, wenn es um die Frage der strafrechtlichen Folgen eines Pflichtverstoßes geht. Daß damit in Einzelfällen zweierlei Rechtswidrigkeitsurteile denkbar werden, kann, soll und muß hier nicht bestritten werden. Die Kontradiktion ist jedoch nur vorübergehender Natur. Sobald der Gesetzgeber seiner Verpflichtung zur Umsetzung genügt hat, unterliegt die Rechtswidrigkeitsprüfung in allen Rechtsgebieten wieder einheitlichen Regeln und es wird so sein, daß eine außerstrafrechtlich pflichtwidrige und straftatbestandsmäßige Handlung im Normalfall auch strafrechtswidrig ist.

VII. Begrenzung auf strafbarkeitsbegründende Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien Der bisherige Gedankengang galt der Fragestellung, ob eine durch die unmittelbare Wirkung begründete Pflicht durch ihre Verzahnung mit dem Strafrecht strafbarkeitsbegründende Folgen zeitigen kann. Nach den Ergebnissen des ersten Hauptteils stellt sich das Problem jedoch noch auf weiteren Gebieten.

1. Verwaltungsakzessorische Straftatbestände Von Interesse sind zunächst die verwaltungsakzessorischen Straftatbestände. Die bereits im ersten Hauptteil umrissene Problematik der Verwaltungsakzessorietät 123 verschärft sich in Fällen, in denen die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten das nationale Recht überlagert und verdrängt.

123

Siehe oben 1. Hauptteil D. VII. 2.

246

3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Sofern sich der Nachbar einer Schadstoffe emittierenden Anlage auf im Vergleich zum nationalen Recht strengere Richtlinieninhalte beruft, welche die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen, oder die Behörde von Amts wegen einen entsprechenden Bescheid erläßt, so steht wiederum eine strafbarkeitsbegründende Folge der unmittelbaren Wirkung in Rede, wenn der Betreiber Emissionen verursacht, die nach nationalem Recht zwar zulässig wären, aber die nach den Richtlinieninhalten einzuhaltenden Emissionsgrenzwerte überschreiten. Gleichwohl entpuppt sich das Problem im Ergebnis nur als Facette der Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts. Denn die vorherrschende Meinung fragt nicht danach, ob der jeweilige Verwaltungsakt inhaltlich rechtmäßig ist, sondern nur danach, ob sich der Betreiber in dem Rahmen hält, was verwaltungsrechtlich erlaubt wurde.124 Für die Gegenmeinung 125 ist zu überlegen, wie sie für den Fall, daß unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte das nationale Recht überlagern, die Frage nach der materiellen Rechtmäßigkeit beantworten will. Die Problematik der Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts wird um die Frage einer Art richtlinienbedingten Europarechtsakzessorietät angereichert. Nach hier vertretener Auffassung sprechen die besseren Gründe dafür, für das strafrechtliche Rechtswidrigkeitsurteil danach zu fragen, ob die tatbestandsmäßige Handlung auch nach nationalem Recht verboten gewesen wäre. Ist sie erst durch das Hinzutreten der unmittelbaren Wirkung verwaltungsrechtswidrig geworden und hat sich der Betreiber demnach gemäß dem verdrängten innerstaatlichen Recht rechtstreu verhalten, so entfallt die Strafrechtswidrigkeit seiner Handlung. Die bereits dargelegten Argumente sind in diesem Zusammenhang nur schlagwortartig zu wiederholen. Zunächst gilt auch hier, daß aus der Sicht des Rechtsanwenders zwei konkurrierende Regelungen in der Welt sind, für die zwar die Lehre vom Anwendungsvorrang eine verwaltungsrechtliche Konfliktlösung bietet. Der Gedanke der Rechtssicherheit verbietet es jedoch, aus einer derart unsicheren Rechtslage strafrechtliche Konsequenzen herleiten zu wollen. Ferner gilt auch hier, daß das Strafrecht der Umsetzungsentscheidung des zuständigen Gesetzgebungsorgans nicht vorauseilen darf. Die gleichen Argumente gelten für den Fall, daß die Strafbarkeit des Amtsträgers in Rede steht. Für das strafrechtliche Rechtswidrigkeitsurteil ist wiederum allein der innerstaatliche Rechtszustand maßgeblich. Wenn also der Amtsträger

124

125

R. Breuer, JZ 1994, 1077, 1084; Dölling, JZ 1985, 461, 469; Lenckner, Pfeiffer-FS, S. 27; Rengier, ZStW 101 (1989), 874ff.; Rudolphi, NStZ 1984, 193, 196. Schall, NJW 1990, 1263, 1268; Winkelbauer, Verwaltungsakzessorietät, S. 73. Weitere Nachweise bei Perschke, wistra 1996, 166, Fn. 64.

D. Gesichtspunkte der direkten oder indirekten Strafbegründung

247

eine durch das Hinzutreten der unmittelbaren Wirkung rechtswidrige Umweltbelastung hervorruft, ist eine Konstruktion der mittelbaren Täterschaft grundsätzlich abzulehnen. 126

2. Beachtlichkeit d e r u n m i t t e l b a r e n W i r k u n g von R i c h t l i n i e n Die unmittelbare Wirkung kann strafrechtlich jedoch durchaus relevant werden. Dazu ein Beispiel:127 Eine umweltrechtliche Richtlinie wird nicht rechtzeitig umgesetzt und die Umsetzungsfrist läuft ab. Unterstellt seien unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte, die exakt bestimmbare und unter dem nationalen Recht liegende Grenzwerte zwingend vorschreiben. Angenommen sei weiterhin, daß es der Umweltbehörde möglich wäre, bereits erteilte Genehmigungen zur Verursachung einschlägiger Emissionen zu verschärfen. Gegen eine Geldzahlung seitens des Betreibers wird der Amtsträger nicht tätig und unterläßt die verwaltungsrechtlich gebotene Maßnahme. Hier ist zu prüfen, ob eine Strafbarkeit gemäß §§331, 336 StGB oder §§ 332, 336 StGB vorliegt. D a f ü r ist ausschlaggebend, ob der Amtsträger durch das Unterlassen der Diensthandlung seine Dienstpflichten verletzt hat. Fraglich ist, wie das Merkmal der Dienstpflicht zu bestimmen ist. Bei isolierter Betrachtung des im Tatzeitpunkt geltenden nationalen Umweltrechts liegt keine Verletzung der Dienstpflicht vor. Wird sie also unter Ausblendung des Gemeinschaftsrechts nach nur nationalem Recht definiert, scheidet eine Bestechlichkeit aus. Eine Berücksichtigung der unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalte modifiziert dagegen die umweltrechtliche Rechtslage. Nimmt das Merkmal der Dienstpflicht diese Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf, liegt ein Fall der Bestechlichkeit vor. Hier ist die unmittelbare Wirkung zu berücksichtigen, da ein Fall der sogenannten Tatbestandswirkung vorliegt. Sie ist gegeben, wenn sich der Tatbestand einer N o r m eines Rechtsgebiets auf die Regelung eines anderen Gebiets bezieht. Dann ist diese Regelung unmodifiziert zu übernehmen. 128 Die unmittelbare Wirkung begründet in derartigen Fällen nicht die Strafbarkeit des Amtsträgers. Das strafrechtliche Rechtswidrigkeitsurteil bezieht sich auch nicht auf darauf, daß eine Genehmigung

126

127 128

Beispiel: Die vom OLG Frankfurt, NJW 1987, 2753, 2757 angenommene Möglichkeit einer Verwirklichung des § 324 StGB in mittelbarer Täterschaft gemäß § 25 Abs. 1 2. Alt. StGB durch die Erteilung einer fehlerhaften Genehmigung. Siehe bereits im 1. Hauptteil V. 3. b. cc. Jakobs, AT, 1 l/6a.

248

3. Hauptteil: Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

fehlerhaft erteilt oder eine fehlerhafte gewordene Genehmigung verwaltungsrechtlich nicht korrigiert wurde. Es bezieht sich vielmehr auf den Vorwurf der Bestechlichkeit. Diese Verletzung der beamtenrechtlichen Dienstpflichten ist nicht richtlinienbedingt. Schließlich kommt es durch die Überlagerung des nationalen Rechts auch nicht zu einer Beeinträchtigung der Rechtssicherheit. Denn die Frage, ob ein Beamter gegen eine Geldzahlung von einer verwaltungsrechtlich gebotenen Maßnahme absehen darf, beurteilt sich ohne und mit unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten gleich.

VI. Ergebnis Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien will grundsätzlich nur öffentlich-rechtliche Konsequenzen hervorrufen. Ein Verstoß gegen Pflichten, die durch eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien hervorgerufen werden, ist grundsätzlich nicht strafrechtswidrig. Unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte verschärfen somit die für eine Umschreibung von Sorgfalts- und Garantenpflichten einschlägigen Vorschriften grundsätzlich nicht zum Nachteil des Täters.

4. Hauptteil: Die begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht A. Einleitung Bei der dem Täter günstigen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien handelt es sich um einen Unterfall der Begrenzung des Strafrechts durch das Gemeinschaftsrecht. Wie im zweiten Hauptteil ausgeführt, zieht das Gemeinschaftsrecht unbeschadet der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen auch dem Strafrecht Grenzen und kann zur Unanwendbarkeit des Strafgesetzes führen. 1 Im Gegensatz zu den belastenden Folgen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinieninhalten ist die Frage eines begünstigenden Effekts in den letzten Jahren auf zahlreichen Gebieten des deutschen Strafrechts in Rechtsprechung und Literatur angesprochen worden. 2 Eine Gesamtschau der Einzelprobleme führt zu der grundsätzlichen Thematik: Fraglich ist, wie mit der dem Täter günstigen unmittelbaren Wirkung von Richtlinieninhalten im Kontext des § 2 Abs. 3 StGB umzugehen ist. Um dieses facettenreiche Problem nachvollziehbar zu entwickeln, wird es zunächst anhand einiger konkreter Beispiele vorgestellt. Sie repräsentieren gleichsam die verschiedenen Fallkonstellationen und belegen ihre praktische und strafrechtsdogmatische Relevanz. Wie das Beispiel der Arbeitsschutzrichtlinien bei der gemeinschaftsrechtlichen Pflichtenbegründung zu den strafrechtsdogmatischen Fragen geführt hat, erschließt sich die strafrechtliche Bedeutung begünstigender Folgen der unmittelbaren Richtlinienwirkung am besten anhand konkreter Beispiele. 1

2

EuGH, Urteil vom 11.11.1981, Rs. 203/80; Ε 1981, 2595, 2618; EuGH, Urteil vom 2.2.1989, Rs. 186/87, Ε 1989, 195, 221 f.; Perron, Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, S. 135, 139; RengelinglMiddeke/Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 1216; Steindorff, AG 1988, 57. Siehe zum Steuerstrafrecht: BGHSt 37, 168 ff.; zum Umweltstrafrecht (§ 326 StGB): BGHSt 43, 219ff.; zum Bilanzstrafrecht: Schüppen, Bilanzstrafrecht, S. 198ff.; zur strafrechtlichen Produkthaftung: Rennau, wistra 1994, 203, 205 Fn. 34; zum Lebensmittelstrafrecht: Dannecker, ZLR 1993, 251 ff.

250

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

B. Beispielsfälle einer möglichen begünstigenden unmittelbaren Wirkung im Strafrecht I. Das Steuerstrafrecht Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur 6. Umsatzsteuerrichtlinie 3 wurde bereits im ersten Hauptteil dargestellt, worauf an dieser Stelle verwiesen werden kann. 4 Die Tathandlung wurde unternommen, als die Richtlinie bereits ihre unmittelbare Wirkung entfaltete. Aus normentheoretischer Sicht wurde das geltende nationale Recht zu diesem Zeitpunkt im Wege des Anwendungsvorrangs durch unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht verdrängt. Die Unanwendbarkeit des nationalen Steuerrechts schlägt auf die strafrechtliche Würdigung gemäß § 370 AO durch. Dieser bisher prominenteste Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinieninhalten im Strafrecht veranschaulicht jedoch nur einen Unterfall der grundsätzlichen Problematik im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 StGB.

II. Das Lebensmittelstrafrecht Ein Hinweis auf die Bedeutung der begünstigenden unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Kontext des § 2 Abs. 3 StGB findet sich bei Dannecker, der sich in einer lebensmittelstrafrechtlichen Abhandlung 5 mit der Einwirkung der EG-Produktsicherheitsrichtlinie auf das nationale Recht beschäftigt. 6 Dieser Richtlinie ging die sogenannte Produkthaftungsrichtlinie voraus, 7 die zur Harmonisierung der haftungsrechtlichen Vorschriften für fehlerhafte Produkte erlassen worden war.8

3 4 5

6 7 8

BGHSt 37, 168 ff. Siehe 1.Hauptteil C. I. Dannecker, ZLR 1993, 251, 263; ders. Strafrecht der EG, S. 70 f.; ferner Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 183ff; auch Gieß, NZV 1999,410,413, deutet die Milderungsmöglichkeit nach § 2 Abs. 3 StGB an. Einen Fall aus den Niederlanden schildern van de Reythan KalmthoutiWa\ing, Landesbericht Niederlande, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. S 40.2, S. 887,956. Auf den nach der Fertigstellung des vorliegenden Manuskripts erschienenen Aufsatz von Gieß, G A 2000, 224fT. kann hier nur hingewiesen werden, gleiches gilt für Satzger, Europäisierung, S. 636 ff. Richtlinie 92/59/EWG vom 29.6.1992, Abi. Nr. L 228, S. 24. Richtlinie 85/374/EWG vom 25.7.1985, Abi. EG Nr. L 210, S. 29fT. Näher bei v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 393, der diese Harmonisierung aus zivilrechtlicher Sicht als den bisher größten haftungsrechtlichen Rechtsangleichungserfolg einstuft.

Β. Beispielsfälle einer mögl. begünstigenden unmittelbaren Wirkung im Strafrecht U m Danneckers

251

G e d a n k e n g a n g z u erschließen, ist a n f a n g s die s o g e n a n n t e „Ketten-

verantwortlichkeit" im d e u t s c h e n L e b e n s m i t t e l s t r a f r e c h t z u e r w ä h n e n . 9 D a n a c h trifft die Pflicht, L e b e n s m i t t e l , die nicht d e n V o r s c h r i f t e n z u m S c h u t z der G e s u n d heit u n d z u m S c h u t z g e g e n Irreführung entsprechen, nicht in den Verkehr z u bringen, g r u n d s ä t z l i c h j e d e s Z w i s c h e n g l i e d v o m Hersteller ü b e r d e n I m p o r t e u r bis z u m Einzelhändler. Dannecker

vertrat hierzu v o r A b l a u f der U m s e t z u n g s f r i s t der P r o d u k t s i c h e r -

heitsrichtlinie m i t e i n e m Teil der Literatur 1 0 d i e A u f f a s s u n g , d a ß d i e Richtlinie diese K e t t e n v e r a n t w o r t l i c h k e i t sprengt. D i e s e E i n z e l h e i t e n sollen hier nicht vertieft w e r d e n , z u m a l Dannecker

selbst d i e s e n S t a n d p u n k t a u f g r u n d der j ü n g e r e n R e c h t s -

e n t w i c k l u n g relativiert h a t . " I n d e s führt Dannecker

z u § 2 A b s . 3 S t G B aus:

„Voraussetzung der Verbindlichkeit einer Richtlinie f ü r die A n w e n d b a r k e i t

ist

allerdings, d a ß die Umsetzungsfrist abgelaufen ist. Erst d a n a c h k a n n eine Richtlinie unmittelbare W i r k u n g im innerstaatlichen Bereich entfalten. Die Produktsicherheitsrichtlinie ist g e m ä ß A r t . 17 Abs. 1 erst bis zum 3 0 . 6 . 1 9 9 4 umzusetzen. D e n n o c h sollte bei Ermittlungsverfahren bereits heute berücksichtigt werden, d a ß die U m s e t z u n g der Richtlinie eine gesetzliche M i l d e r u n g bedeutet, die g e m ä ß § 2 Abs. 3 S t G B dem T ä t e r

9

10 11

Ausführlich: Hufen, Verfassungsrechtliche Maßstäbe und Grenzen lebensmittelstrafrechtlicher Verantwortung, S. 34 ff., nun ferner: Hecker, Produktwerbung, S. 190 f. mwN. Meier, Z L R 1992, 563 ff. Dannecker, Z L R 1996, 313, 320; aber auch DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), EUD U R , Bd. I § 8 Rn. 60. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 183 ff., vertritt weiterhin die Auffassung, nach der die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie die lebensmittelstrafrechtlichen Sorgfaltspflichten festlegen könne und meint: „Will sich der (deutsche) Rechtsanwender gemeinschaftsrechtskonform verhalten, so hat er die lebensmittel(straf)rechtlichen Sorgfaltspflichten für den Händler entsprechend der Produktsicherheitsrichtlinie zu modifizieren" siehe Heise, ebenda, S. 190. Dazu nur so viel: Diese Ansicht überzeugt nicht, denn mit Dannecker, Z L R 1996, 313, 320, ist festzustellen, d a ß auf der Ebene des EG-Rechts zwischen allgemeiner Produktverantwortung und lebensmittelrechtlicher Haftung differenziert wird. Die Produktsicherheitsrichtlinie führt zu einer Gesetzgebung horizontaler Art, siehe Kienle in: Bergmann/Lenz (Hrsg.), Der Amsterdamer Vertrag, 7/42. Die Harmonisierungsanstrengungen auf dem Gebiet des Lebensmittelrechts gehen sehr viel tiefer als die des allgemeinen Produktsicherheitsrechts, siehe Hammerl, Z L R 1998, 299 ff. mwN. Reichenbach, Z L R 1999 555 fT. bietet einen umfassenden Überblick über den erreichten und geplanten Harmonisierungsstand. Gegen Heises Meinung spricht auch das deutsche Umsetzungsrecht zur Produktsicherheitsrichtlinie. § 2 Abs. 2 lit.a ProdSG nimmt das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz mit wenigen Ausnahmen (insbesondere Warnung und Rückruf) explizit aus dem Anwendungsbereich des allgemeinen Produktsicherheitsrechts aus. Wenn aber die Sicherheit von Lebensmitteln weiterhin nach dem Lebensmittelrecht und gerade nicht nach dem Produktsicherheitsrecht zu beurteilen ist, siehe Hammerl, Z L R 1998, 299, 300, 305, können die Sorgfaltsanforderungen aus der Produktsicherheitsrichtlinie für das Lebensmittelrecht keinen verbindlichen Maßstab vorgeben.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht bis zur rechtskräftigen Verurteilung, also auch noch in der Revisionsinstanz, zugute kommen muß. Der Grundsatz der lex mitior findet nach h. M. nicht nur auf das Strafgesetz selbst, sondern auf den gesamten Rechtszustand und damit auch auf außerstrafrechtliche Normen, die ein Strafgesetz in Bezug nimmt, Anwendung. Zwar kann die Richtlinie dahingehend gedeutet werden, daß sie die Kettenverantwortlichkeit zu einem Zeitgesetz ... erklärt, das auch nach seinem Außerkraftreten noch als Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung bzw. Ahndung anzuwenden ist. Soweit jedoch der Neuregelung wie der Produktsicherheitsrichtlinie eine Bewertungsänderung innewohnt, ist diese auch bei Zeitgesetzen zu berücksichtigen. Im vorliegenden Zusammenhang ist also ab 1.7.1994 nur noch eine Bestrafung unter Zugrundelegung einer gestuften Verantwortlichkeit möglich." 12

Dannecker verknüpft die Umsetzung einer Richtlinie, die potentiell eine Strafnorm beeinflußt, mit der Milderungsfrage des § 2 Abs. 3 StGB. Von seinem seinerzeit entwickelten Standpunkt aus weist Dannecker richtigerweise darauf hin, daß mit der Umsetzung der Richtlinie die außerstrafrechtliche Rechtslage in einer für das Strafrecht relevanten Weise verändert werden könnte. Obwohl er die Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie erkennt, problematisiert er nicht, wie diese Art der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf § 2 Abs. 3 StGB ausstrahlt. Dahinter verbirgt sich die eigentlich grundsätzliche, von der Kasuistik des jeweiligen nebenstrafrechtlichen Gebiets und seiner Verzahnung mit dem speziellen Richtlinienrecht losgelöste Thematik des Allgemeinen Teils. Es bedarf nur eines Gedankenschritts, um die Frage aufzuwerfen, ob die unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch dann für den Täter günstige Folgen zeitigen kann, wenn sie nicht bei Begehung der Tat, sondern erst zum Urteilszeitpunkt eingetreten ist.

III. Das Umweltstrafrecht Diese Rechtsfrage warf die Verteidigung in einem vom Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall auf.13 Das Gericht überprüfte eine auf § 326 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 4 a. F. StGB 1 4 beruhende Verurteilung durch das Landgericht Frankfurt/Main. Die Angeklagten hatten mit dem Schadstoff PCB 15 kontaminierte Gegenstände in einem Shredder zusammen mit anderen Materialien zerkleinert. Trotz hoher Schadstoffbelastung der Shredderrückstände wurden diese anfangs auf

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Dannecker, ZLR 1993, 251, 263 f. BGHSt 43, 219ff. In der Fassung des 18. StrÄnG vom 28.3.1980, BGBl. I S. 373. PCB = Polychloriertes Biphenylen

Β. Beispielsfälle einer mögl. begünstigenden unmittelbaren Wirkung im Strafrecht

253

Hausmülldeponien entsorgt. Nachdem diese Art der Beseitigung nicht mehr möglich war und die zuständigen Behörde zudem wegen der mittlerweile bekannt gewordenen Belastung der Abfalle eine besondere Art der Entsorgung gemäß der sogenannten „Kategorie II" verfügt hatte, entzogen sich die Angeklagten angesichts der bei ordnungsgemäßer Entsorgung anfallenden Kosten den abfallrechtlichen Regelungen vollends, indem sie die Shredderrückstände falsch deklarierten und anderen Unternehmen als Wirtschaftsgut überließen. 16 Die Revision der Angeklagten stützte sich auf zwei Richtlinien 17 und eine Entscheidung 18 des Rates. Das Revisionsvorbringen argumentierte, die Einstufung der Shredderrückstände als Sonderabfall der „Kategorie II" sei rechtswidrig, weil sie nicht den europäischen Vorgaben entspreche. Die Richtlinie 91/689/EWG über gefahrliche Abfalle entfalte nach Ablauf ihrer Umsetzungsfrist unmittelbare Direktwirkung zugunsten des Bürgers. Die Revision trifft damit den neuralgischen Punkt der unmittelbaren Wirkung. Die Tathandlung lag zeitlich vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist, aber der Bundesgerichtshof hatte nach deren Ablauf zu entscheiden. Das Gericht äußert sich hierzu wie folgt: „Es könnte bereits zweifelhaft sein, ob die nachträglichen Änderungen im Bereich des europäischen Abfallrechts zu einer für den Angeklagten milderen Rechtslage im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB geführt haben, obwohl die Strafnorm des § 326 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF (= Nr. 4 nF) seit der Tatzeit unverändert geblieben ist. Diese Frage bedarf hier jedoch keiner näheren Erörterung, weil sich aus dem europäischen Abfallrecht keine nachträglichen Hindernisse für das Vorgehen des Regierungspräsidiums herleiten lassen." "

Der Bundesgerichtshof vermeidet damit jede inhaltliche Stellungnahme zum Milderungsproblem. Er läßt nicht genau erkennen, ob er nun die Einstufung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als Rechtsänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB für zweifelhaft hält, oder ob er eine bloße Änderung des Abfallrechts als eine für § 326 StGB nicht relevante Rechtsänderung versteht.

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Der Sachverhalt wird hier verkürzt wiedergegeben: Zu den Einzelheiten und dem im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 im einzelnen nicht interessierenden abfallrechtlichen Hintergrund siehe die ausführliche Sachverhaltsschilderung in BGHSt 43, 219 ff. Richtlinie 75/442/EWG vom 15. Juli 1975, Abi. Nr. L 194, S. 47 und Richtlinie 91/689/EWG vom 12. Dezember 1991, Abi. Nr. L 377, S. 20. Entscheidung über ein Verzeichnis gefährlicher Abfälle 94/904/EG vom 22. Dezember 1994, Abi. Nr. L 356, S. 14. BGHSt 43, 219, 225.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung Auch wenn Rechtsprechung und Literatur noch keine inhaltlichen Stellungnahmen zur Prüfung des § 2 Abs. 3 StGB im Lichte des Richtlinienrechts zu entnehmen sind, ist eines unverkennbar: Wie der Stein, der - einmal in das Wasser geworfen - weite Kreise zieht, strahlt die unmittelbaren Wirkung von Richtlinien auf die Milderungsproblematik aus. Die Frage der Milderung stellt sich nicht nur, wenn die Richtlinie umgesetzt wird. Selbst wenn eine Richtlinie nicht umgesetzt wurde, könnte die vor der richterlichen Entscheidung eingetretene unmittelbare Wirkung selbst dem Täter zugute kommen, der eine Tat beging, als die Richtlinie noch nicht unmittelbar wirkte. Dieser zentralen Frage gilt es nachzuspüren, wobei eine umfassende Analyse des begünstigenden Richtlinieneffekts auch verlangt, weitere Grundfragen wie die nach seiner strafrechtsdogmatischen Einordnung zu stellen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten.

I. Allgemeines zur Milderungsproblematik 1. D i e v o r h e r r s c h e n d e M e i n u n g Rechtsprechung und Literatur gehen überwiegend vom Wortlaut des § 2 Abs. 1 StGB aus, wonach sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht bestimmt. 20 Die gesetzgeberische Entscheidung für das Tatzeitrecht gilt als Ausprägung und Sicherung des Rückwirkungsverbots nach Art. 103 Abs. 2 GG. 21 § 2 Abs. 3 StGB wird sodann als eine die Maßgeblichkeit des Tatzeitrechts durchbrechende Vorschrift verstanden, die sicherstellen will, daß dem Täter eine bis zum Zeitpunkt der Entscheidung günstigere Gestaltung der Rechtslage zugute

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BGHSt 26, 167 ff.; BGH, NStZ 1999, 32ff.; Baumannl Weberl Müsch, AT, § 9 Rn. 40; Trändiel Fischer, § 2 Rn. 2; Eser in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 1; Gropp, AT, § 2 Rn. 31 f.; Jescheckl Weigend, AT, § 15 IV. 5; Köhler, AT, S. 97; Lackneri Kühl, § 2 Rn. 1; MaurachlZipf, AT, Teilband 1, § 12 Rn. 4; Mohrbotter, ZStW 88 (1976), 923, 940f.; Otto, Grundkurs Strafrecht, § 2 Rn. 9; C. Roxin, AT, § 5 Rn. 51 ff; Rudolphi in: SK-StGB, § 2 Rn. 1; Rüping in: BK, Art. 103 Rn. 56; Wessels!Beulke, AT, Rn. 46. Siehe auch Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, Teil I § 2 Rn. 14, zu § 4 OWiG. Gribbohm in: LK, § 2 Rn. 1; Gropp, AT, § 2 Rn. 31; Schmidhäuser, AT, 5/76; CA. Schröder, ZStW 112 (2000), 44,45,48.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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kommt. 22 § 2 Abs. 3 StGB verordnet in diesem Sinne eine Rückwirkung des milderen Gesetzes.23 Täterbegünstigende Gesetzesänderungen, die zwischen dem Zeitpunkt der Tatbegehung und dem der Erkenntnis des Strafgerichts liegen, sind mithin gemäß § 2 Abs. 3 StGB zu berücksichtigen. Bei der Entscheidung ist das jeweils mildeste Gesetz anzuwenden, 24 wobei sogenannte „Zwischengesetze" zu berücksichtigen sind, die im Vergleich mit den Rechtslagen im Zeitpunkt der Tat und der Entscheidung zwischenzeitlich eine nochmalige Milderung bewirkt haben. 25 Unzweifelhaft liegt eine gemäß § 2 Abs. 3 StGB relevante Änderung vor, wenn das Strafgesetz selbst zugunsten des Täters geändert wird oder gar ganz entfallt. Im Grundsatz herrscht auch weitgehende Einigkeit darüber, daß als Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB nicht nur das eigentliche Strafgesetz, sondern der gesamte Rechtszustand anzusehen ist, von dem das Ob und Wie der Strafbarkeit abhängt. 26 Soweit das Reichsgericht das Milderungsgebot nur auf die eigentliche Strafnorm bezog, 27 kann diese Meinung als überwunden gelten. In der „Mineralölsteuer-Entscheidung" gab der Bundesgerichtshof diese Auffassung ausdrücklich auf.28 Infolgedessen können sich außerstrafrechtliche Rechtsänderungen unmittelbar auf das Strafrecht auswirken. 29 Die bis hierhin geschlossen argumentierende vorherrschende Meinung verzweigt sich, wenn es um die Kriterien geht, aufgrund derer eine Rechtsänderung gemäß § 2 Abs. 3 StGB geprüft wird. Nach insoweit noch einhelliger Meinung genügt die bloße Subsumierbarkeit einer Handlung unter das alte und neue Recht nicht. 30 Das verdient Zustimmung, da es anderenfalls zu einer versteckten Rückwirkung kommen könnte, wenn das Tatzeitrecht aufgehoben würde und der Täter zufällig eine erst nach neuem Recht strafbare Handlung begangen hat. Dann war die Tat im Tat- und Urteilszeitpunkt aufgrund nicht vergleichbarer Tatbestände jeweils straf-

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Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 16 ff.; Schmidhäuser, AT, 5/77. Diese Rückwirkung wird auch als Meistbegünstigungsprinzip bezeichnet, siehe Schroeder, Bockelmann-FS, S. 785, 790. Köhler, Strafrecht AT, S. 97; Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 16. Baumannl WeberlMitsch, AT, § 9 Rn. 43 mit einem instruktivem Fallbeispiel der Änderung des Strafrahmens; Gribbohm in: LK, § 2 Rn. 21; Schmidhäuser, AT, 5/77. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 461; TröndlelFischer, § 2 Rn. 8; Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 20. RGSt 4, 4ff.; 16, 171 f.; 22, 290ff.; 27, 98ff; 31, 225ff. BGHSt 20, 177,181, wenngleich das Gericht im Ergebnis keine Milderung annahm, da es den Zeitgesetzcharakter der für die Strafnorm erheblichen Steuergesetze bejahte, siehe BGHSt 20, 177, 182 f. Rudolphi in: SK-StGB, § 2 Rn. 8 a. BGHSt 26, 167ff; Hassemer in: AK-StGB, § 2 Rn. 27; Rogall in: KK-OWiG, § 4 Rn. 23.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

bar. Rechtsprechung und Literatur verlangen daher bei der Änderung von Strafgesetzen eine Kontinuität der Unrechtstypisierung. 31 Der Streit dreht sich um den Maßstab zur Bestimmung dieser Kontinuität des Unrechts. 32 Umstritten ist auch, wie mit außerstrafrechtlichen Rechtsänderungen im Rahmen des § 2 Abs. 3 StGB umzugehen ist.33 Eine Auffassung fragt danach, ob das Strafgesetz den außerstrafrechtlichen Regelungseffekt sichern will.34 Als Beispiel wird der Eigentumsschutz der §§ 242 ff. StGB angeführt. Hat jemand kraft guten Glaubens nach den §§ 932 ff. BGB wirksam Eigentum an einer Sache erworben, so genießt dieses Eigentum auch dann weiterhin den Schutz der §§ 242 ff. StGB gegenüber dem früheren Eigentümer, wenn später die §§ 932 ff. BGB dahin geändert werden sollten, daß zukünftig in solchen Fällen ein gutgläubiger Eigentumserwerb nicht mehr möglich ist.35 Entsprechendes gelte für einmal entstandene Steueransprüche des Staates. Sei der Steueranspruch entstanden, so werde er als Schutzgut des § 370 AO nicht dadurch vernichtet, daß der Gesetzgeber für die Zukunft Steuertarife senkt oder Steuerbefreiungen erweitert. 36 Ferner wird danach gefragt, ob das geänderte Recht nur für „Neufalle" Geltung beanspruchen und auf „Altfälle" das bisherige Recht anwendbar bleiben soll.37 Es seien solche Rechtsänderungen auszuscheiden, die den Schutzzweck und die Angriffsrichtung des (Blankett)-Tatbestandes und damit auch das verwirklichte Unrecht im wesentlichen unberührt lassen, also nur das vom Rechtsgut zu unterscheidende Tatsubstrat betreffen. 38

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32

33 34 35 36 37 38

BGHSt 26, 167, 172; Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 24; MaurachlZipf, AT, Teilband 1, § 12 Rn. 16; Rogall in: KK-OWiG, § 4 Rn. 21. Dazu nur soviel: Die Rechtsprechung hat den Maßstab der Unrechtskontinuität, BGHSt 26, 167 ff. bisher nicht weiter verfeinert. Die Literatur stellt auf das Schutzgut und die AngrifTsmodalität ab, so Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 25; Mohrbotter, ZStW 88, 923, 942 ff.; nimmt einen konkreten Vergleich der Merkmale vor, siehe näher Jakobs, AT, 4/74; Rogall in: KK-OWiG, § 4 Rn. 26; oder es wird eine weitgehende Identität der einzelnen Merkmale gefordert, so Hassemer in: AK-StGB, § 2 Rn. 32; Rudolphi in: SK-StGB, § 2 Rn. 10; Schroeder, Bockelmann-FS, 785, 796. Schließlich dient die Unrechtserheblichkeit einer Rechtsänderung als Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob eine Rechtsänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB vorliegt, Ch. Schröder, ZStW 112 (2000), 44, 57 ff. Siehe nur BGHSt 6, 30 ff. zum Wegfall einer Geschwindigkeitsbeschränkung. Jakobs, AT, 4/72; Rudolphi in: SK-StGB, § 2 Rn. 8c. Beispiel bei Rudolphi in: SK-StGB, § 2 Rn. 8c. Rudolphi in: SK-StGB, § 2 Rn. 8 c. Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 22. Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 26.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

257

2. Die „staatsrechtlich" argumentierende Minderheitsmeinung Zu einer extensiven Anwendung des milderen Gesetzes kommen im Ergebnis Dannecker und Tiedemann.7,9 Nach ihrer Auffassung ist grundsätzlich jede außerstrafrechtliche Rechtsänderung als milderes Gesetz im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB relevant.40 Die extensive Anwendung des Milderungsgrundsatzes wurzelt in dem hier als „staatsrechtlich" bezeichneten Ansatz Danneckers41 und Tieciemanns.42 Danach liegt der strafrichterlichen Erkenntnis wie im sonstigen Recht das zum Urteilszeitpunkt aktuell geltende Recht zugrunde. 43 In § 2 StGB wird eine Vorschrift erblickt, der zu entnehmen ist, in welchem Umfang die lex posterior auch auf Altfälle anzuwenden ist. § 2 StGB richte sich an die Strafverfolgungsbehörden und regele, in welchen Fällen die aufgehobenen Gesetze limitierende Wirkungen entfalten. 44 Bei § 2 Abs. 3 StGB handele es sich um eine Norm, welche die Geltung des jüngeren Gesetzes voraussetzt und lediglich den zeitlichen Anwendungsbereich regelt. Eine richterliche Anwendung des außer Kraft getretenen Rechts sei abzulehnen, da sie eine Anwendung von Nichtrecht bedeute.45 Nach diesen Autoren bringt der Gesetzgeber durch das jüngere Gesetz zum Ausdruck, welche Wertmaßstäbe nunmehr allgemein gelten und verbindlich sein sollen.46 Auch für außerstrafrechtliche Regelungen gelte, daß jede Gesetzesänderung grundsätzlich als verbessernde Rechtserkenntnis zu einer strafrechtlichen Milderung führen müsse.47 Wenn das alte Gesetz außer Kraft getreten sei, folge der Freispruch nicht erst aus § 2 Abs. 3 StGB, sondern bereits aus dem staatsrechtlichen Gesetzesvorbehalt 48

39

40

41 42 43 44 45

46 47 48

Dannecker, Abzugsfahigkeit von Parteispenden, S. 91 fT.; K. Tiedemann! Dannecker, Die gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, passim. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 462fF.; K. Tiedemann!Dannecker, Die gesetzliche Milderung, S. 20f. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 228 ff. K. Tiedemann!Dannecker, Die gesetzliche Milderung, S. 18 ff. Ähnlich Sommer, Das „mildeste" Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB, S. 62. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 229 f. K. Tiedemann, Peters-FS, S. 193, 196f.; K. Tiedemann!Dannecker, Die gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, 1985, S. 13. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 228 ff. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 491 f. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 230. So bereits Schroeder, Bockelmann-FS, S. 785, 790: „Ein Freispruch mangels entsprechenden Tatbestandes läßt sich nicht als Anwendung eines eine frühere Strafbarkeit aufhebenden Gesetzes auffassen."

258

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare W i r k u n g von Richtlinien im Strafrecht

3. Die Bedeutung der unterschiedlichen Ansätze A u f den ersten Blick scheinen sich beide Meinungen im Ergebnis doch wieder zu treffen. Es sollte keinen Unterschied machen, ob die Betrachtung nun beim Tatzeitpunkt ansetzt und sodann jede tätergünstige Rechtsänderung beachtet oder ob sie im Zeitpunkt der Entscheidung einsetzt und das Recht bis zum Tatzeitpunkt zurückverfolgt. Die Ergebnisse weichen jedoch erheblich voneinander ab. Bedeutung gewinnt die unterschiedliche Sichtweise bei außerstrafrechtlichen Rechtsänderungen. Ein vieldiskutiertes Beispiel stellt in diesem Zusammenhang die sogenannte „Parteispendenproblematik" dar.49 Nach Dannecker und Tiedemann richtet sich die steuerliche Rechtslage nach dem aufgehobenen Steuerrecht, da der Steueranspruch mit dem Ablauf des jeweiligen Veranlagungszeitraums entstanden ist und damit einen abgeschlossenen, der steuerrechtlichen Gesetzesänderung grundsätzlich entzogenen Fall darstellt.50 Im Strafrecht liege der abgeschlossene Fall jedoch erst mit der Verurteilung vor. Entscheidend sei die zu diesem Zeitpunkt gegebene Rechtslage.51 D a der Norminhalt des Steuerrechts Bestandteil der verweisenden N o r m werde, betreffe jede Änderung des Steuerrechts notwendigerweise auch den Straftatbestand selbst.52 Dabei sieht diese Ansicht grundsätzlich in jeder Rechtsänderung eine „verbessernde Rechtserkenntnis", die zur Milderung führt. 53 Unter dieser Prämisse wird es erheblich, ob man das Recht der Tatzeit oder des Urteilszeitpunktes als Ausgangsbasis wählt. Geht man vom Tag der richterlichen Entscheidungsfindung aus und liest die Strafnorm mit der außerstrafrechtlichen Regelung zusammen, so fließen denknotwendig alle tätergünstigen außerstrafrechtlichen Rechtsänderungen automatisch in die Entscheidungsfindung mit ein. § 2 Abs. 3 StGB filtert sodann zwischenzeitliche Strafschärfungen heraus.

49

B G H S t 34, 272fF. Durch das Parteienfinanzierungsgesetz vom 22.12.1983 (BGBl. I, 1577) wurde mit Wirkung zum 1.1.1984 die steuerliche Abzugsfahigkeit von Spenden zugunsten politischer Parteien mit der Folge geändert, daß höhere Beträge abgesetzt werden konnten. Umstritten war in der Folgezeit, ob diese Änderung des Steuerrechts im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB als tätergünstigere Rechtslage zu gelten hat und damit auch auf Altfälle durchschlägt, in denen über hier im einzelnen nicht zu vertiefende Konstruktionen in der Sache bewirkt wurde, daß Spender über die Abzugsfähigkeit hinaus Gelder an die Parteien zahlten und trotz Überschreitens der Grenzen der Abzugsfahigkeit gleichwohl steuerlich geltend machten, mithin Steuern verkürzten. Siehe dazu nur die konträren Standpunkte von Samson, wistra 1983, 237 ff. und K. Tiedemann!Dannecker,

Die gesetzliche Milderung, S. 19 ff.

50

Dannecker, Abzugsfahigkeit von Parteispenden, S. 93.

51

Dannecker, Abzugsfahigkeit von Parteispenden, S. 96.

52

Dannecker, Abzugsfahigkeit von Parteispenden, S. 97.

53

Dannecker,

Das intertemporale Strafrecht, S. 488 ff.

C. Strafrechtliche G r u n d f r a g e n der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

259

W ä h l t m a n d a g e g e n d a s Tatzeitrecht als A u s g a n g s p u n k t , s o k o m m t e s n i c h t z u dieser a u t o m a t i s i e r t e n A n t i z i p a t i o n d e s m i l d e r e n Rechts. V i e l m e h r s t r ö m e n täterb e g ü n s t i g e n d e Ä n d e r u n g e n erst über die A n w e n d u n g d e s § 2 Abs. 3 S t G B ein. W a s unter § 2 A b s . 3 S t G B z u s u b s u m i e r e n ist, ist e i n A k t w e r t e n d e r A u s l e g u n g 5 4 u n d h ä n g t ζ. B. d a v o n ab, unter w e l c h e n V o r a u s s e t z u n g e n e i n e K o n t i n u i t ä t der U n r e c h t s typisierung a n g e n o m m e n wird55 oder o b m a n sogenannte Regelungseffekte aus d e m A n w e n d u n g s b e r e i c h d e s § 2 A b s . 3 S t G B e l i m i n i e r e n will. 5 6 D i e Berücksichtig u n g der m i l d e r e n G e s e t z e s l a g e ist e i n m a l d a s E r g e b n i s e i n e s juristischen A r b e i t s schrittes, w ä h r e n d sie d a s andere M a l a u s sich h e r a u s erfolgt. 5 7 D a m i t ist der B o d e n bereitet, u m d e n G e d a n k e n k r e i s z u schließen u n d m i t der u n m i t t e l b a r e n W i r k u n g v o n R i c h t l i n i e n z u v e r k n ü p f e n . Bei der N i c h t u m s e t z u n g der s e c h s t e n U m s a t z s t e u e r r i c h t l i n i e 5 8 w ä r e eine der P a r t e i s p e n d e n f ä l l e v e r w a n d t e

54 55 56 57

58

Vgl. K. Tiedemann, N J W 1986, 2475, 2476. Siehe nur BGHSt 26, 167 ff.; Rogall in: KK-OWiG, § 4 Rn. 21. Siehe Jakobs, AT (Fn. 14), 4/71 f.; Rudolphi in: SK-StGB (Fn. 2), § 2 Rn. 8 b f. Näher dazu Ch. Schröder, ZStW 112 (2000), 44ff. Die Entscheidung dieses Streits soll hier ausdrücklich offen bleiben, da wiederum versucht werden soll, das durch die unmittelbare Wirkung erzeugte Milderungsproblem vor dem Hintergrund der aufgezeigten Grundströmungen zu untersuchen. N u r soviel sei angemerkt: Dannecker und Tiedemann haben einen von J. Ipsen zur Parteispendenproblematik erhobenen, steuerstrafrechtlich grundsätzlich zu beachtenden Einwand nicht entkräften können: Wollte man heraufgesetzte Abzugsgrenzen oder andere neue Steuertarife - unabhängig von der dogmatischen Beurteilung des § 2 StGB - in der strafrechtlichen Beurteilung als lex mitior berücksichtigen, so nehmen die steuerrechtliche und die steuerstrafrechtliche Bewertung unterschiedliche Wege, vgl. J. Ipsen, Verfassungsgrundsätze der Parteienfinanzierung, S. 5, 18 f. Tiedemanns Erwiderung, dieses Auseinanderfallen von außerstrafrechtlicher und strafrechtlicher Regelung im Wirtschaftsstrafrecht sei nicht ungewöhnlich, K. Tiedemann, N J W 1986, 2475, 2477, trifft zwar grundsätzlich zu, entkräftet Ipsens Einwand aber nicht. Im Steuerrecht kann es vorkommen, daß der Finanzbehörde Erklärungen erst Jahre nach dem Anderungsdatum des Steuergesetzes zugehen, aber Erklärungszeiträume betreffen, die nach dem „alten" Steuerrecht zu behandeln sind. Hier zeigt sich die von J. Ipsen, Verfassungsgrundsätze der Parteienfinanzierung, S. 5, 18, beschriebene Problematik: Die falsche Erklärung erfüllt steuerrechtlich für das betreffende Veranlagungsjahr den Tatbestand der Steuerhinterziehung. Wer nun aber für die strafrechtliche Würdigung das neuere und „mildere" Steuerrecht heranzieht, läßt den strafrechtlichen Flankenschutz ins Leere laufen. Die betroffenen Steueransprüche des Staates stehen im Ergebnis ohne Sanktionsschutz da. D a aber Steuererklärungen oftmals zeitlich verschoben abgegeben werden, steckt hier in der Tat ein kaum auflösbarer Widerspruch. Im Sinne Ipsens denn auch: B G H S t 34, 272, 283 f. unter Hervorhebung der steuerrechtlichen Fortgeltungsregelung hinsichtlich der Altfalle. Auch dem komplexen System der Betriebsprüfung, die sich regelmäßig auf mehrere zurückliegende Jahre erstreckt, könnte in derartigen Fällen der strafrechtliche Kontext abhanden kommen, was dieses Schwert zumindest stumpfer werden läßt, weil der drohenden Tatentdeckung gelassen entgegengesehen werden könnte. Vgl. B G H S t 37, 168, 174ff. und oben 1. Hauptteil C. I.

260

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Problemlage denkbar. Diese Richtlinie sah einen Befreiungstatbestand für Kreditvermittler hinsichtlich der Umsatzsteuer vor. Zu prüfen wäre mit der vorherrschenden Meinung, ob § 2 Abs. 3 StGB auch demjenigen Kreditvermittler zugute kommen kann, der bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist gemäß den später unmittelbar wirkenden Vorschriften der Richtlinie keine Mehrwertsteuer bei den Kreditnehmern erhoben hat. Für die Minderheitsmeinung ergibt sich ein ähnliches Problem. Da sie im Urteilszeitpunkt die Steuerstrafnorm mit dem Steuerrecht zusammen liest, muß sie sich dazu erklären, wie sie mit der unmittelbaren Wirkung des Richtlinieninhalts umgehen will. Dieser Meinung scheint sogar infolge der Richtlinieneinwirkung von Anfang an jegliche Grundlage für einen Schuldspruch abhanden zu kommen, da sie von der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Urteilsrechts ausgeht. Soweit aber die Richtlinie im Urteilszeitpunkt unmittelbar wirkt, steht das Urteilsrecht nicht zur Verfügung, weil es aufgrund des Anwendungsvorrangs verdrängt wird. Für beide Auffassungen ist folglich näher zu untersuchen, ob die unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Zusammenhang mit dem Milderungsproblem wie eine innerstaatliche Rechtsänderung zu deuten ist. Wäre das der Fall, so käme dem große Bedeutung zu. Der Richtlinieneffekt würde auch dem Täter zugute kommen, der die Tathandlung zu einem Zeitpunkt begangen hat, in dem die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war. Fraglich ist damit, ob die begünstigende unmittelbare Wirkung als Fall des § 2 Abs. 3 StGB oder im Sinne Danneckers und Tiedemanns als Teil einer neueren milderen Rechtslage anzusehen ist, die auch für frühere Taten gilt.

II. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben einer strafrechtlichen Analyse unmittelbar wirkender Richtlinien Dazu ist es zunächst erforderlich, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten aus strafrechtlicher Sicht weiter aufzulösen.

1. D e r Fall „ L e m m e n s " Wegen ihrer großen Publizität ist eingangs die Entscheidung des Gerichtshofs im Fall „Lemmens" zu nennen, 59 die auf eine Vorlage eines niederländischen Strafgerichts zurückgeht. Das Urteil wurde von der Presse 60 und vor allem von der 59 60

EuGH, Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998,1-3711 ff. Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juli 1997, S. 6.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

261

niederländischen Öffentlichkeit mit Spannung erwartet 61 und stieß auch in Deutschland auf wissenschaftliches Interesse.62 Die nach nationalem Recht und dem Gemeinschaftsrecht unübersichtliche Sach- und Rechtslage läßt sich gerafft wie folgt zusammenfassen: Die Gemeinschaft verpflichtete die Mitgliedstaaten im Jahre 1983 mit einer Richtlinie 63 zu einem Informationsverfahren auf dem Gebiet technischer Normen und Vorschriften. Nach Art. 8 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten der Kommission grundsätzlich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln. 64 Zu dieser Mitteilungspflicht hatte der Gerichtshof im Fall „CIA Security International SA" 6 5 entschieden, „daß der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht zur Unanwendbarkeit der betreffenden technischen Vorschriften führt, so daß sie dem einzelnen nicht entgegengehalten werden können". 66

Die niederländischen Strafverfolgungsbehörden beschäftigte im Fall „Lemmens" das Führen eines Kraftfahrzeuges unter Alkoholeinfluß. Danach überschritt der Alkoholgehalt im Atem des Fahrers die nach niederländischem Recht zulässigen Werte. Der Verstoß wurde in einem nach nationalem Recht vorgesehen Verfahren mittels eines Atemluftkontrollgeräts festgestellt. Diese Normen legten auch die technischen Merkmale fest, denen die Alkoholmeßgeräte entsprechen mußten. Die Niederlande waren jedoch der gemeinschaftsrechtlichen Meldepflicht für technische Vorschriften nicht nachgekommen und hatten auch die Regelungen über das Alkoholmeßgerät nicht mitgeteilt. Vor dem niederländischen Strafgericht berief sich der Angeklagte auf die Nichtanmeldung des Geräts. Das erscheint auf den ersten Blick als ein profaner Verteidigungsvortrag, da die Verletzung der Pflicht zur Meldung der Vorschrift über Alkoholmeßgeräte nicht die strafprozessuale Verwertbarkeit eines mit dem Gerät ermittelten Meßergebnisses berühren muß. Allerdings hatte der Gerichtshof im Fall „CIA Security International SA" die Unanwendbarkeit nicht angemeldeter tech-

61

62

63 64

65 66

Vgl. die Schilderung in den Schlußanträgen des Generalanwalts Fennelly, EuGH, Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998,1-3711, 3713. Siehe die Urteilsanmerkungen von Abele, EuZW 1998, 571 f.; Kühne, JZ 1998, 1070f. und Satzger, StV 1999, 132f. sowie Gärditz, wistra 1999, 293ff.; Gieß, N V Z 1999,410, 412. Richtlinie 83/189/EWG vom 28.3.1983, Abi. Nr. L 109, S. 8. Die Einzelheiten dieses Verfahrens gehen aus der Entscheidung „Lemmens" nur unzureichend hervor. Sie werden von Generalanwalt Elmer in seinen Schlußanträgen im Fall „CIA Security International SA", EuGH, Urteil vom 30.4.1996, Rs. C-194/94, Ε 1996, 1-2201, 2205 ff. ausführlich erläutert. EuGH, Urteil vom 30.4.1996, Rs. C-194/94, Ε 1996,1-2201 ff. EuGH, Urteil vom 30.4.1996, Rs. C-194/94, Ε 1996,1-2201, 2248.

262

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

nischer Vorschriften festgestellt und ohne jede Einschränkung entschieden, diese Vorschriften könnten dem einzelnen nicht entgegengehalten werden.67 Diese apodiktische Aussage dürfte die Ursache für das Verteidigungsvorbringen im Fall „Lemmens" gewesen sein, da mit der denkbaren Unanwendbarkeit der nationalen Vorschriften über die Messung der Alkoholkonzentration in der Atemluft der Beweis für ein Fahren unter Alkoholeinfluß nicht mehr zu führen gewesen wäre. Das erkennende Gericht legte die Sache dem Europäischen Gerichtshof vor und fragte, ob von einem Angeklagten geltend gemacht werden könne, daß die Vorschriften zur Bestimmung der Alkoholkonzentration in der Atemluft nicht nach Art. 8 der Richtlinie 83/189/EWG angemeldet worden seien. Der Gerichtshof prüfte zunächst, ob die niederländischen Bestimmungen über Alkoholmeßgeräte überhaupt der Richtlinie unterfallen. Die niederländische Regierung trug dazu vor, die Regelungen seien Teil des Strafrechts und lägen damit außerhalb des Bereichs des Gemeinschaftsrechts und die französische Regierung meinte, die Richtlinie finde keine Anwendung auf Produkte, die zur Verwendung bei Ausübung der Hoheitsgewalt und insbesondere der Strafverfolgung bestimmt seien.68 Diese Stellungnahmen verwarf der Gerichtshof mit seiner zutreffenden Argumentation, nach der sich die im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten verbliebenen Bereiche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts dem Gemeinschaftsrechts nicht entziehen. 69 Der Gerichtshof ordnete die niederländischen Vorschriften über die Messung der Alkoholkonzentration in der Atemluft dem Anwendungsbereich der Richtlinie zu und kam zu dem Ergebnis, daß die Vorschriften vor ihrem Erlaß der Kommission mitzuteilen gewesen wären. 70 Somit war zu entscheiden, ob die Richtlinie auch im Fall des niederländischen Strafverfahrens gemäß der Entscheidung im Fall „CIA Security International SA" zur Folge hat, daß die nicht der Kommission gemeldete Vorschrift dem einzelnen nicht entgegengehalten werden könne.71 Die Entscheidung „Lemmens" stellt auf die Funktion der Richtlinie ab, den freien Warenverkehr durch eine vorbeugende Kontrolle zu schützen. Die Wirksamkeit dieser Kontrolle sei um so größer, wenn der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht einen wesentlichen Verfahrensfehler darstelle, „der zur Unanwendbarkeit der fraglichen technischen Vorschriften auf einzelne führen könne". 72 Hieran 67

EuGH, EuGH, 69 EuGH, ™ EuGH, 71 EuGH, 72 EuGH, 68

Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil

vom vom vom vom vom vom

30.4.1996, 16.6.1998, 16.6.1998, 16.6.1998, 30.4.1996, 16.6.1998,

Rs. C-194/94, Rs. C-226/97, Rs. C-226/97, Rs. C-226/97, Rs. C-194/94, Rs. C-226/97,

Ε Ε Ε Ε Ε Ε

1996,1-2201, 2248. 1998,1-3711, 3731. 1998,1-3711, 3731 f., siehe oben 2. Hauptteil E. 1998,1-3711, 3733. 1996,1-2201, 2248. 1998,1-3711, 3735.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

263

schließen sich die Ausführungen an, mit denen der Gerichtshof die Unanwendbarkeit im strafrechtlichen Zusammenhang verneint. Der Gerichtshof führt dazu aus: „In einem Strafverfahren wie im Ausgangsverfahren sind auf den Angeklagten zum einen die Vorschriften anzuwenden, die Trunkenheit am Steuer verbieten und unter Strafe stellen, zum anderen diejenigen, die einen Fahrer verpflichten, in ein Gerät zur Bestimmung des Alkoholgehalts zu blasen, wobei das Ergebnis dieser Untersuchung im Strafverfahren Beweis liefert. Diese Vorschriften sind andere als diejenigen, die dem Bürger nicht entgegengehalten werden können, weil sie der Kommission nicht gemäß der Richtlinie mitgeteilt wurden." 73 Diese Begründung fallt recht knapp aus, weil sie an der entscheidenden Stelle nur eine Behauptung enthält, die niederländischen Vorschriften über die Messung der Alkoholwerte seien „andere als diejenigen, die dem Bürger nicht entgegengehalten werden können, weil sie der Kommission nicht gemäß der Richtlinie mitgeteilt wurden." Weitere Urteilspassagen liefern jedoch die Begründung: „Werden technische Vorschriften nicht mitgeteilt, stellt dies zwar einen Verfahrensfehler bei ihrem Erlaß dar, so daß sie nicht anwendbar sind, soweit sie die Verwendung oder den Vertrieb eines mit diesen Vorschriften nicht konformen Produkts behindern, aber diese Unterlassung hat nicht zur Folge, daß jede Verwendung eines Produkts rechtswidrig ist, das mit den nicht mitgeteilten Vorschriften konform ist." 74 Damit setzt der Gerichtshof die Unanwendbarkeit der nicht angemeldeten Vorschrift in eine Abhängigkeit zum jeweiligen rechtlichen Zusammenhang. Die Richtlinie will den freien Warenverkehr schützen und in dieser Beziehung können nicht angemeldete Vorschriften dem einzelnen gegenüber, der ihnen zuwider gehandelt hat, unanwendbar sein. Daraus folgt jedoch keine umfassende Unanwendbarkeit der nicht angemeldeten Vorschriften. Soweit es nicht um den Schutz des freien Warenverkehrs geht, bleibt die nicht angemeldete Vorschrift anwendbar. Der Gerichtshof bringt dies resümierend wie folgt zum Ausdruck: „Die behördliche Verwendung des Produkts kann also in einem Fall wie dem vorliegenden nicht zu einer Beschränkung des Handels führen, die hätte vermieden werden können, wenn das Mitteilungsverfahren eingehalten worden wäre." 75 Zu einer Unanwendbarkeit des richtlinienwidrigen nationalen Rechts kommt es also nur dann, wenn der konkrete Einzelfall auch gemeinschaftsrechtliche Bezüge aufweist. Fehlt dieser Bezug, bleibt die Strafnorm anwendbar. 73 74 75

EuGH, Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998, 1-3711, 3735 EuGH, Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998,1-3711, 3735 f. EuGH, Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998,1-3711, 3736.

264

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Interessant ist, wie unterschiedlich Urteilsanmerkungen diese Entscheidung kommentieren. Eine Kommentierung aus strafrechtlicher Sicht ordnet das Urteil in der Sachentscheidung als „richtig und eigentlich nicht weiter bemerkenswert" ein.76 Ganz anders sieht das die gemeinschaftsrechtliche Urteilsanmerkung: Der Zweck der Alkoholmeßgeräte bestehe darin, Beweismittel zu gewinnen. Indem die Verwertung des Beweismittels trotz des Verstoßes gegen die Meldepflicht unberührt bleibe, werde die Marktabschottung faktisch perpetuiert und sanktionslos gestellt, was den im Fall „CIA Security International SA" wichtigen Gedanken des „effetutile" in sein Gegenteil verkehre.77 Auch der Rechtsgedanke, nach dem der Mitgliedstaat keinen Vorteil aus einem von ihm zu vertretenden Richtlinienverstoß gegenüber dem Bürger ziehen dürfe, spreche gegen eine Verwertbarkeit des Beweismittels. Diese Urteilsanmerkung endet mit dem Resümee, der Fall „Lemmens" lasse sich systematisch nirgends einordnen. 78 Was für den Strafrechtler nicht anders zu erwarten war, wertet der Europarechtler als eine Art gemeinschaftsrechtlichen Irrläufer. Anschaulicher kann das zwiespältige Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum Strafrecht kaum zum Ausdruck kommen. Es mag paradox klingen, doch beide Anmerkungen treffen vom jeweiligen Standpunkt aus zutreffende Aussagen. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht kann man gut vertreten, der Gerichtshof habe in dieser Entscheidung das Erfordernis eines Zusammenhangs mit dem freien Warenverkehr zu eng verstanden. Gerade dann, wenn es dem Mitgliedstaat verwehrt werde, derartige Beweisergebnisse zu verwerten, werde dem Gemeinschaftsrecht zum Durchbruch verholfen und dem Gedanken der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Rechnung getragen. Aus strafrechtlicher Sicht reiht sich das Urteil hingegen in die eher vorsichtige und zurückhaltende Rechtsprechung des Gerichtshofs ein, wenn er mit seiner Sachentscheidung einen strafrechtlichen Verfahrensausgang bestimmen könnte. Abele deutet das im übrigen selbst an, wenn er die Argumentation des Urteils als „(gewollt ?) kurzatmig" bezeichnet. 79 Der Fall „Lemmens" repräsentiert die bisher prominenteste Entscheidung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung im Strafrecht und lehrt, aus der mitunter apodiktischen Wortwahl des Gerichtshofs wie im Fall „CIA Security International SA" für den strafrechtlichen Zusammenhang keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

76 77 78 79

Kühne, JZ 1998, 1070. Abele, EuZW 1998, 571, 572. Abele, EuZW 1998, 571, 572. Abele, EuZW 1998, 571, 572.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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2. D e r Fall „ B o r d e s s a " Nimmt man die Urteile des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien mit dem Ziel zur Hand, über die Kasuistik hinausreichende Aussagen zu den strafrechtsspezifischen Problemen herauszufiltern, verdient auch die „Bordessa"Entscheidung Beachtung. In diesem Urteil beantwortet der Gerichtshof Fragen, die das vorlegende Gericht aufgrund der Milderungsproblematik gestellt hat. Die Entscheidung illustriert dieses Grundproblem aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht. a. Die Milderungsproblematik im Fall Bordessa Das Urteil des Gerichtshofs erging auf eine Vorlage eines spanischen Strafgerichts, das in zwei Strafverfahren über Verstöße gegen spanische Ausfuhrvorschriften zu befinden hatte. 80 Die Täter waren jeweils im November 1992 mit 50000000 PTA bzw. 38000000 PTA an Grenzübergänge Richtung Frankreich gereist und hatten für den beabsichtigten Grenzübertritt über das von ihnen mitgeführte Geld keine Angaben gemacht. Zu dieser Zeit besagte ein strafbewehrtes spanisches Gesetz, daß u.a. die Ausfuhr von Banknoten angemeldet werden muß, wenn sie pro Person 1000000 PTA übersteigt, und der Genehmigung bedarf, wenn sich der Betrag auf über 5000000 PTA beläuft. Hier interessiert die zweite Variante der strafbewehrten Genehmigungspflicht, gegen die von den Tätern verstoßen worden war. Eine die Freizügigkeit des Kapitalverkehrs gestaltende Richtlinie 81 sieht in ihrem Art. 1 die Beseitigung von Beschränkungen des Kapitalverkehrs innerhalb der Gemeinschaft vor, während Art. 4 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit beließ, insbesondere Mißbräuchen auf steuerrechtlichem oder bankenaufsichtsrechtlichem Gebiet durch ein Meldeverfahren entgegenzuwirken. Besondere Aufmerksamkeit verdient mit Blick auf § 2 Abs. 3 StGB, daß die Umsetzungsfrist dieser Richtlinie für Spanien erst Ende Dezember 1992 ablief und der Tatzeitpunkt somit vor deren Ablauf lag. Das spanische Gericht fragte jedoch gleichwohl nach der unmittelbaren Wirkung der Art. 1 und 4 der Richtlinie. Bei isolierter Betrachtung der Richtliniendogmatik erscheint die Vorlage an den Gerichtshof als irrig, weil es ohne den Ablauf der Umsetzungsfrist eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien nicht gibt. Generalanwalt Tesauro führt in seinen Schlußanträgen hierzu aus, es könne daher müßig erscheinen, dem vorlegenden Gericht die Auslegung von Vorschriften an die Hand zu geben, die, bezogen auf den betreffenden Staat, möglicherweise nicht anwendbar waren, als sich die Vorgänge zugetragen haben. Die

80 81

EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361 ff. Richtlinie des Rates Nr. 88/361/EWG vom 24.6.1988, Abi. Nr. L 178, S. 5.

266

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Prüfung der Bestimmungen der Richtlinie sei jedoch angebracht, weil sich das vorlegende Gericht auf den Grundsatz der Rückwirkung eines später erlassenen, für den Angeklagten günstigeren Strafgesetzes beziehe.82 Damit legt das spanische Gericht legt den Finger in die Wunde, indem es den Eintritt der unmittelbaren Wirkung nach der Tat und vor dem Urteil als einen Fall der Gesetzesmilderung ansieht. Generalanwalt Tesauro stellt zu Recht fest, daß anderenfalls die vom vorlegenden Gericht begehrte Klärung der Frage der unmittelbaren Wirkung als überflüssig erscheint. Diese Fallkonstellation geht über die bisher in Rechtsprechung und Literatur diskutierte Tragweite der unmittelbaren Wirkung hinaus. Denn in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Umsatzsteuerfall 83 war fraglich, ob Richtlinieninhalten im Zeitpunkt der Tat unmittelbare Wirkung zukam. Die Bedeutung dieser Problematik wächst, wenn zudem ein späterer, also zeitlich nach der Tat liegender, Eintritt der unmittelbaren Wirkung als „milderes" Gesetz einzustufen ist. Dieses Problem wird vom Gerichtshof und von Generalanwalt Tesauro mit „spitzen Fingern" angefaßt. Der Gerichtshof entscheidet hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung der Richtlinienvorschrift eindeutig und bejaht diese.84 Gleich zweimal stellt er jedoch klar, daß er diese Entscheidung nur trifft, weil das spanische Gericht die Auffassung vertritt, es liege ein Fall der gesetzlichen Milderung vor. Der Gerichtshof enthält sich dazu jeden Kommentars. 85 Das ist in der Sache auch zutreffend, weil es bei der Milderungsproblematik um eine Frage des nationalen Strafrechts geht. Allerdings klingt zwischen den Zeilen eine gewisse Zurückhaltung und Distanz an, wenn das Gericht ausführt, die Vorlagefragen seien zu beantworten, weil das nationale Gericht zu beurteilen habe, ob eine Vorabentscheidung notwendig ist und ob die vorgelegten Fragen erheblich sind.86 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs läßt sich nicht immer eine derart stringente Trennung zwischen der Auslegung des nationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts ausmachen. 87 Auch Generalanwalt Tesauro ist an dieser Stelle bemüht, jegliche Stellungnahme hinsichtlich der Milderungsproblematik zu vermeiden. Die Konsequenzen aus der

82 83 84

85 86

87

EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361, 367. BGHSt 37, 168fF. EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361, 387. Dabei wandte sich der Gerichtshof insbesondere gegen die Genehmigungspflicht der Ausfuhr. EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995, 1-361, 380, 382. EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361, 382 a. Ε. Bestätigt von EuGH, Urteil vom 14.12.1995, Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Ε 1995, 1-4821, 4835. Siehe Luiter, JZ 1992, 593, 597 mit seiner Kritik an EuGH, Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990,1-4135ff.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

267

Auslegung des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich eines späteren Wegfalls der Strafbarkeit seien vom vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung der allgemeinen Grundsätze seiner Rechtsordnung zu ziehen. 88 Der Fall „ B o r d e s s a " belegt, wie aktuell und bedeutend das Milderungsproblem ist. Nicht nur aus strafrechtlicher, sondern auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht. Es könnte sich nämlich ein merkwürdiger Effekt einstellen, den man am besten als Rückwirkung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien bezeichnen kann. Die Begünstigung des einzelnen würde dabei im strafrechtlichem Zusammenhang in eine Zeit katapultiert, in der die Umsetzungsfrist der Richtlinie noch lief. Auch deshalb dürfte der Gerichtshof dieser Frage im Fall „Bordessa" mit großer Vorsicht begegnet sein. b. Bestätigung der „Bordessa"-Entscheidung im Fall „Awoyemi" Eine dem Fall „Bordessa" vergleichbare Fallkonstellation enthält der Fall „Awoyemi". 89 Auch in diesem Fall lag der Tatzeitpunkt vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist und wiederum trifft die aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht denkbare Rückwirkung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien auf Unbehagen. Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission äußern in ihren Stellungnahmen Zweifel, ob die Vorlagefragen zu beantworten seien.90 Der Gerichtshof bleibt auf der Linie der Bordessa-Entscheidung. Die Vorlagefragen seien zu beantworten, da das nationale Gericht zu beurteilen habe, ob eine Vorabentscheidung notwendig sei. „ D a s Gemeinschaftsrecht verbietet es nämlich nicht, d a ß das vorlegende Gericht für die Z w e c k e der A n w e n d u n g des nationalen Rechts nach einem Grundsatz seines Straf-

88

Schlußanträge des Generalanwalts Tesauro in: EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361, 367. Auch im ähnlich gelagerten Fall „Sanz de Lera", EuGH Urteil vom 14.12.1995, Rs. ΟΙ 63/94, C-165/94 und C-250/94, Ε 1995, 1-4821, 4825 heißt es in den Schlußanträgen des Generalanwalts Tesauro: „Nebenbei merke ich an, daß der maßgebliche Sachverhalt - wie im übrigen auch in der Rechtssache Bordessa - sich vor dem Inkrafttreten der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zugetragen hat, um deren Auslegung ersucht wird, daß diese Auslegung aber erforderlich erscheint, da das nationale Gericht ausdrücklich erklärt hat, es wolle im Rahmen des bei ihm anhängigen Verfahrens den Grundsatz der Rückwirkung des günstigsten Strafgesetzes anwenden." In diesem Sinne auch Generalanwalt Jacobs in seinen Schlußanträgen im Fall „Tombesi" in: EuGH, Urteil vom 25.6.1997, Rs. C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95, Ε 1997, 1-3561, 3575, zu einem Milderungsproblem nach italienischem Recht.

89

EuGH, Urteil vom 29.10.1998, Rs. C-230/97, Ε 1999,1-6781 ff. EuGH, Urteil vom 29.10.1998, Rs. C-230/97, Ε 1999,1-6781, 6807.

90

268

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht rechts die günstigeren Bestimmungen der Richtlinie (...) berücksichtigt, auch wenn das Gemeinschaftsrecht, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen festgestellt hat, keine dahingehende Verpflichtung enthält." 91

Kein Verbot und keine Verpflichtung. Der Gerichtshof bleibt bei seiner neutralen Haltung. c. Würdigung der „Bordessa"-Entscheidung im Lichte der Fälle „Skanavi" und „Allain" Um zu ermitteln, ob diese Distanz zum Milderungsproblem nun richtlinienspezifische Gründe hat oder nur die allgemeine Zurückhaltung des Gerichtshofs auf strafrechtlichem Gebiet zum Ausdruck bringt, ist ein Fall zu untersuchen, bei dem sich aus innerstaatlicher Sicht einerseits eine Milderungsmöglichkeit ergibt, die aber andererseits nicht durch eine zur unmittelbaren Wirkung fähige Richtlinienvorschrift ausgelöst wird. Eine solche Konstellation enthält der Fall „Skanavi", der auf einer Vorlage des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin beruht. 92 Diese bei der richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts noch zu vertiefende Entscheidung bietet sich hier an, weil der Milderungsgedanke in einem deutschen Strafverfahren auflebte. Die Milderungsmöglichkeit resultierte aus einer denkbaren Anwendung des Primärrechts und nicht wie im Fall „Bordessa" aus Vorschriften einer Richtlinie, die der Gerichtshof als unmittelbar wirksam erachtet hatte. Das vorlegende Amtsgericht fragte nach der Auslegung von primärrechtlichen Vorschriften wie Art. 18, ex-Art. 8a, Art. 43, ex-Art. 52 EGV. Die in Rede stehende Straftat wurde wenige Tage vor dem Inkraftreten des Vertrages über die Europäische Union begangen, womit nicht alle primärrechtlichen Vorschriften, die das Amtsgericht zum Gegenstand der Vorlagefrage gemacht hatte, zum Tatzeitpunkt galten. Den Schlußanträgen des Generalanwalts Leger ist zu entnehmen, daß vom vorlegenden Gericht auch nicht erläutert wurde, warum es nach der Auslegung des damals neuen Primärrechts fragte, obwohl sich der zu entscheidende Fall unter dem alten Recht zugetragen hatte. 93 Der Gerichtshof leitet seine Antwort auf die Vorlagefrage wie folgt ein:

91 92 93

EuGH, Urteil vom 29.10.1998, Rs. C-230/97, Ε 1999,1-6781, 6808. EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs. C-193/94, Ε 1996 1-929 ff. Schlußanträge des Generalanwalts Leger, EuGH, Urteil vom 26.2.1996, Rs C-193/94, Ε 1996,1-929, 935.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

269

„Vorab ist festzustellen, daß es bei der Frage des vorlegenden Gerichts um die Auslegung der Bestimmungen des EG-Vertrages geht, obwohl sich die Ereignisse des Ausgangsverfahrens am 28. Oktober 1993, also drei Tage vor dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union, zugetragen haben. Zwar übernimmt Artikel 6 EG-Vertrag im wesentlichen den Inhalt des Artikels 7 EWG-Vertrag, und Artikel 52 ist durch den Vertrag über die Europäische Union nicht geändert worden; doch stellt Artikel 8 a eine neue Bestimmung dar, die nach Auffassung des vorlegenden Gerichts der Anwendung der nationalen Regelung, um die es in dem bei ihm anhängigen Strafverfahren geht, entgegenstehen könnte."94

Obwohl das vorlegende Gericht die strafrechtliche Milderungsmöglichkeit gerade nicht erwähnt hatte, führt der Gerichtshof weiter aus: „Das vorlegende Gericht könnte somit den in seinem nationalen Recht geltenden Grundsatz der Rückwirkung des mildesten Strafgesetzes anwenden und folglich das nationale Recht insoweit außer Betracht lassen, als es gegen die Bestimmungen des Vertrages verstieße. Sonach ist die Vorlagefrage zu beantworten, da das nationale Gericht zu beurteilen hat, ob eine Vorabentscheidung notwendig ist, damit es sein Urteil erlassen kann, und ob die Fragen, die es dem Gerichtshof vorlegt, erheblich sind

Das ist aufschlußreich, denn der Gerichtshof stößt im Fall „Skanavi" das Milderungsthema überhaupt erst an. Er macht die Vorlagefrage in gewisser Weise selbst schlüssig, indem er den innerstaatlichen Rechtsgedanken des § 2 Abs. 3 StGB einfließen läßt. Während er in den Fällen „Bordessa" und „Awoyemi" darauf bedacht ist, zu der von den vorlegenden Gerichten thematisierten Milderung keinerlei inhaltliche Stellungnahme abzugeben, spricht er hier die in dem Verfahren bis dahin unerwähnte Milderungsmöglichkeit von sich aus an. Im übrigen bestätigt der Gerichtshof im Fall „Skanavi" aber auch eine Grundaussage des „Bordessa"-Urteils: Bei der Milderungsproblematik handelt es sich um eine innerstaatliche Rechtsfrage, auch wenn wie im Fall „Skanavi" eine begünstigende Wirkung des Primärrechts in Rede steht. Mit dem Hinweis, daß der Milderungsgrundsatz angesprochen sein könnte, bejaht der Gerichtshof einmal die Notwendigkeit, die Vorlagefrage zu beantworten. Er bildet zugleich mit der Formulierung „könnte ... den in seinem nationalen Recht geltenden Grundsatz der Rückwirkung des mildesten Strafgesetzes anwenden" in gewisser Weise einen Obersatz, den er sodann freilich nicht mehr subsumiert, da dieser Vorgang dem innerstaatlichen Strafgericht obliegt. Art. 234, ex-Art. 177 EGV berechtigt den Gerichtshof

94 95

EuGH, Urteil vom 26.2.1996, Rs C-193/94, Ε 1996,1-929, 950. EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs. C-193/94, Ε 1996 I- 929, 950. Auf die konkrete Entscheidung wirkte sich die Rechtsänderung allerdings nicht aus.

270

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

nicht, durch Vorabentscheidung über die Auslegung innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu entscheiden. 96 d. Vorverlagerung der unmittelbaren Wirkung Obwohl dem Urteil des Gerichtshofs im Fall „Bordessa" für die materiellrechtliche Lösung dieser innerstaatlichen Rechtsfrage keine weiterführenden Anhaltspunkte zu entnehmen sind, bestätigt dieser Fall die praktische Relevanz unserer theoretischen Erwägung „einer Rückwirkung der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie". Anhand dieser Entscheidung präsentiert sich im Lichte des § 2 Abs. 3 StGB die unmittelbare Wirkung von Richtlinien in einer strafrechtsspezifischen Problematik. Es ist zu untersuchen, ob ein täterbegünstigender Effekt auch dann denkbar ist, wenn die unmittelbare Wirkung erst nach Beendigung der Tat, aber vor dem Urteilszeitpunkt eintritt. Indes bedarf es noch der Erörterung weiterer Entscheidungen des Gerichtshofs, um das ganze Ausmaß dieser Problematik zu erfassen.

3. D e r Fall „ K l o p p e n b u r g " Während der Fall „Bordessa" das Grundproblem der Milderungsproblematik aufzeigt, treten im Fall „Kloppenburg" weitere Konsequenzen begünstigender Rechtsfolgen im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB hervor. Ausgangspunkt dieser Entscheidung des Gerichtshofs war zwar kein Strafverfahren wie im Fall Bordessa. Der Fall „Kloppenburg" gibt jedoch die Möglichkeit, die Tiefe des Problems weiter auszuloten und zu den brisanten Fällen vorzudringen. a. Die Verlängerung der Umsetzungsfrist Diesem Urteil des Gerichtshofs liegt eine Sachverhaltskonstellation zugrunde, 97 anhand derer eine weitere Variante des Problems der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Lichte des § 2 Abs. 3 StGB sichtbar wird. Die Entscheidung im Fall „Kloppenburg" ergänzt die Milderungsproblematik um einen wichtigen Gesichtspunkt, der sich speziell aus der Verzahnung des Strafrechts mit dem Richtlinienrecht ergibt. Gegenstand dieser Entscheidung war die sechste Umsatzsteuerrichtlinie, die auch den Bundesgerichtshof in Strafsachen beschäftigte. 98 Diese Richtlinie sah vor, die 96

97 98

So explizit im Zusammenhang mit der Milderungsfrage nach französischem Recht im Fall „Allain", EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-341/94, Ε 1996,1-4631, 4653f. EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075ff. BGHSt 37, 168 ff.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

271

Vermittlung von Kleinkrediten von der Umsatzsteuer zu befreien. Der innerstaatliche Gesetzgeber wurde jedoch während der Umsetzungsfrist nicht tätig, weshalb die Richtlinie unmittelbare Wirkung entfaltete. Die im Rahmen des Milderungsproblems hier interessierende weitere Facette des Richtlinienrechts resultiert aus folgendem Vorgehen der Gemeinschaft: Ein halbes Jahr nach Ablauf der Umsetzungsfrist wurde durch eine weitere Richtlinie die Umsetzungsfrist der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie verlängert." Im Fall „Kloppenburg" hielt das zuständige Finanzamt eine Vermittlerin von Kleinkrediten für den gesamten Zeitraum für umsatzsteuerpflichtig, also auch für die sechs Monate, in denen die fraglichen Regelungen der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie unmittelbar gewirkt hatten 100 Der Gerichtshof führte demgegenüber aus, der Verlängerung sei keine rückwirkende Kraft beizumessen. 101 b. Problemtiefe Jede Analyse, die sich der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und dem Aspekt des § 2 Abs. 3 StGB zuwendet, muß diesen Punkt ansprechen, weil es sich bei der Verlängerung der Umsetzungsfrist um ein allgemeines Problem des Richtlinienrechts handelt, 102 das jederzeit auftreten kann. Geht man auf der Grundlage des Falles „Kloppenburg" davon aus, daß die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten im Lichte des § 2 Abs. 3 StGB wie eine Änderung der innerstaatlichen Gesetzeslage zu behandeln ist, so hat das erhebliche Folgen. Das Ob der Strafbarkeit und auch laufende Strafverfahren scheinen in einen Wettlauf mit der Umsetzungsfrist zu treten, da gemäß § 2 Abs. 3 StGB bis zum Urteil stets die günstigste Rechtslage Beachtung verdient. Zwar gibt es diesen Wettlauf auch bei rein innerstaatlichen Gesetzesänderungen, die eine Strafbewehrung beseitigen, 103 doch die Problematik erhält hier eigenartige und geradezu raffinierte Züge. Mit dem Eintritt

" Siehe die neunte Richtlinie 78/583/EWG vom 26.6.1978, Abi. Nr. L 194, S. 16; A. Weber, Durchführung, S. 36. Nach Artikel 1 dieser Richtlinie werden die Bundesrepublik Deutschland und sechs weitere Mitgliedstaaten ermächtigt, die Richtlinie 77/388/EWG (also die sechste Umsatzsteuerrichtlinie) spätestens am 1. Januar 1979 zur Anwendung zu bringen. 100 Siehe im einzelnen: EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075, 1077 ff. 101 EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075, 1086. Diese Verlängerung der Umsetzungsfrist ist kein Einzelfall. Auch dem Fall „Bordessa" lag eine in ihrer Umsetzungsfrist verlängerte Richtlinie zugrunde, wenngleich sich aus dieser Verlängerung über die eigentliche Problematik hinaus keine Fragen der Milderung ergaben. 102 Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 423; Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 68; Jarass, NJW 1990, 2420, 2423 linke Spalte. 103 Für spätere, erst nach der Entscheidung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB in Kraft tretende Änderungen bleibt nur der Gnadenweg, siehe Rudolphi in: SK-StGB, § 2 Rn. 7.

272

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

der unmittelbaren Wirkung von Richtlinieninhalten und der nachfolgenden Verlängerung der Umsetzungsfrist schlägt die Rechtslage wie ein Pendel in die eine oder andere Richtung aus. Die Strafbarkeit durchläuft verschiedene Stationen: Am Anfang steht ein strafbares Verhalten. Diese ursprünglich strafbare Handlung wird durch den Eintritt der unmittelbaren Wirkung straflos. Die folgende Richtlinienverlängerung bewirkt sodann das Wiederaufleben der Strafbarkeit eines Verstoßes gegen das nunmehr wieder anwendbare nationale Recht. Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt schon absehbar, daß die Strafbewehrung mit dem Ablauf der Verlängerungsfrist wieder erlischt. Für das Strafrecht resultiert aus dieser Verlängerung ein besonderer Effekt, weil § 2 Abs. 3 StGB die schwankende Rechtslage wie eine Klammer umfaßt und verlangt, stets die dem Täter günstige Rechtslage heranzuziehen. Die Konsequenzen dieses Befundes befremden. Ob ein Gesetzesverstoß rechtstatsächlich bestraft wird, hängt letztlich vom Arbeitstempo der Strafverfolger oder von der Kunst des Verteidigers ab, das Strafverfahren zeitlich möglichst bis zum Ablauf der jeweiligen Umsetzungs- oder Verlängerungsfrist zu strecken. Findet schließlich der Gesichtspunkt des „milderen" Zwischengesetzes, das hier in einer Straflosigkeit bestünde, Berücksichtigung, so scheint die Strafrechtspflege bei der Verfolgung einschlägiger Verstöße dem Stillstand nahe. Als Urheber und Kenner der Rechtsfortbildung im Richtlinienrecht dürften die Richter des Gerichtshofs diese Probleme bereits im Fall „Bordessa" vor Augen gehabt haben. Das erklärt die geschilderte Zurückhaltung in der Milderungsfrage, wenn es um unmittelbar wirkende Richtlinien geht. c. Inividuell-konkrete Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung Die Problematik der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie im Fall „Kloppenburg" veranschaulicht aber nicht nur die Reichweite eines möglichen gesetzesgleichen Charakters der unmittelbaren Wirkung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB, sondern sie liefert auch erste Hinweise zu deren Lösung. Sie deuten sich bereits in der vom Gerichtshof in der Urteilsbegründung zitierten Vorlagefrage des Finanzgerichts Hannover an. Das Finanzgericht fragte, ob sich ein Kreditvermittler trotz der Verlängerung der Umsetzungsfrist auf die Bestimmungen über die Umsatzsteuerfreiheit berufen konnte, wenn er diese Steuer nicht auf seine Leistungsempfänger abgewälzt hatte. 104 Die Formulierung der Vorlagefrage geht auf den Fall „Becker"

104

EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075, 1078, 1085.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

273

zurück. 105 In dieser Entscheidung hatte sich der Gerichtshof erstmals und ohne die im Fall „Kloppenburg" hinzutretende Rückwirkungsproblematik mit der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie befaßt. Dieses Urteil ließ eine Berufung auf die unmittelbare Wirkung zu, wenn der Vermittler die Steuer nicht auf seine Kunden umgelegt hatte. 106 Dieser Gesichtspunkt findet sich in der Entscheidung „Kloppenburg" mehrfach und auch im Tenor dieses Urteils wieder, wo es heißt, der Kreditvermittler könne sich auf die zwischenzeitliche unmittelbare Wirkung berufen, wenn er die Steuer nicht abgewälzt habe. 107 Wenn also ein Kreditvermittler seinen Kunden die Umsatzsteuer in Rechnung stellte, so war sie auch abzuführen. Die unmittelbare Wirkung des Richtlinieninhalts stand also unter der Voraussetzung, daß der sich hierauf Berufende gemäß dem Richtlinienrecht gehandelt, mithin die Umsatzsteuer nicht erhoben hatte. Aus strafrechtlicher Sicht wirft das die Frage auf, ob sich unter diesen Voraussetzungen das Problem des § 2 Abs. 3 StGB überhaupt stellt. Wenn der Eintritt der unmittelbaren Wirkung im Einzelfall von zu prüfenden konkret-individuellen Voraussetzungen abhängt, dann ist fraglich, ob sie einer abstrakt-generellen Gesetzesänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB gleichsteht. Bei genauem Hinsehen ergibt sich vielmehr, daß die Umsatzsteuerhinterziehung, ζ. B. in Gestalt einer Erhebung beim Kunden und der Nichtabführung an die Finanzkasse, weiterhin strafbar blieb. Nichts anderes ergibt sich aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen zur unmittelbaren Wirkung im „Umsatzsteuerfall". 108 Die das Urteil erwähnende Literatur kann zumindest den Eindruck erwecken, der Bundesgerichtshof habe in dem zu entscheidenden Fall die unmittelbare Wirkung bejaht. 109 Doch eine solche Deutung ginge fehl. Der Bundesgerichtshof hat nur ausgeführt, daß die unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch im Strafrecht zu beachten ist. Er hat damit auf die grundsätzliche Anwendbarkeit dieser Rechtsfigur im Strafrecht aufmerksam gemacht. Für den zu entscheidenden Fall, was hier nachdrücklich zu bemerken ist, hat der Bundesgerichtshof die unmittelbare Wirkung gerade nicht bejaht. Die Sache war nicht spruchreif. Unglücklicherweise wurde in der Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen gerade die Textpassage nicht ab105 106

107 108 109

EuGH, Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53ff. Siehe EuGH, Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53,75 a. Ε. f. und den Urteilstenor auf S. 77. EuGH, Urteil vom 22.2.1984, Rs. 70/83, Ε 1984, 1075, 1086, 1087. Siehe BGHSt 37, 168 ff. Vgl. Dannecker, Strafrecht der EG, S. 68; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402; Pananis, Insidertatsache und Primärinsider, S. 81 Fn. 349; Thomas, NJW 1991, 2233.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

gedruckt, auf die es in diesem Zusammenhang entscheidend ankommt. 110 Der ungekürzten Urteilsfassung ist zu entnehmen, daß der Bundesgerichtshof zunächst die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung als solcher darlegt, um sodann dezidiert die fallrelevanten Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung im Umsatzsteuerrecht zu benennen. 111 Das Gericht beläßt es hierbei nicht, sondern erteilt dem Landgericht für die weitere Fallbehandlung ausdrücklich und ganz konkret den Hinweis, es bedürfe der Feststellung, ob und inwieweit der Angeklagte den jeweiligen Kreditnehmern die Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt habe.112 Der Bundesgerichtshof hat den Eintritt der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie im Umsatzsteuerfall nicht etwa pauschal vom Ablauf der Umsetzungsfrist abhängig gemacht. Entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat der Bundesgerichtshof vielmehr eine individuell-konkrete Prüfung der Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie verlangt. Dann erblickt das Gericht in der unmittelbaren Wirkung dieser Richtlinie aber auch keine abstrakt-generelle Änderung der Gesetzeslage im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB, sondern eine dem einzelnen unter bestimmten Voraussetzungen zugute kommende, individuelle Rechtsfolge. Dieser Aspekt verdient Aufmerksamkeit, weil er eine Besonderheit der unmittelbaren Wirkung zeigt. Sie ist nicht im Sinne einer innerstaatlichen Änderung des Rechts als „neues Recht" aufzufassen. Die Richtlinienvorschrift hat das bisherige Recht nicht etwa abgelöst, sondern wirkt im Einzelfall. Freilich bedarf diese Schlußfolgerung weiterer Überprüfung, da die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Gerichtshofs durch Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts geprägt waren. Darin, daß der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung der Befreiungsvorschrift in den Fällen „Becker" und „Kloppenburg" auf diejenigen Kreditvermittler beschränkte, die ihren Kunden keine Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hatten, könnte eine in den besonderen Gegebenheiten dieses Rechtsgebiets begründete Begrenzung der unmittelbaren Wirkung zu erblicken

110 111

112

Siehe BGHSt 37, 168, 175 zweiter Absatz. Siehe BGH, NJW 1991, 1622, 1624, rechte Spalte. Diese Passagen fehlen in BGHSt 37, 168ff., weshalb sich die Tragweite der Auffassung des Bundesgerichtshofs aus diesem gekürzten Entscheidungsabdruck nicht ganz erschließt. BGH, NJW 1991, 1622, 1624, vorletzter Absatz: „Zum anderen bedarf es weiterer Feststellungen, ob und inwieweit der Angeklagte als faktischer Geschäftsführer der GmbH den jeweiligen Leistungsempfangern (Kreditnehmern) die Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat. Denn die Abwälzung der Umsatzsteuer auf die Leistungsempfänger würde nach der dargelegten Rechtsprechung des EuGH der nachträglichen Geltendmachung der Steuerbefreiung entsprechend der 6. EG-Richtlinie zumindest dann entgegenstehen, wenn dieser selbst mehrwertsteuerpflichtig wäre und den Vorsteuerabzug geltend gemacht hätte (...)."

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

275

sein.113 Es leuchtet offenkundig nicht ein, daß ein Kreditvermittler zum einen Mehrwertsteuer auf seine Kunden umlegt und zum anderen in Anbetracht strafrechtlicher Konsequenzen in den Genuß der unmittelbaren Wirkung der Befreiungsvorschrift kommen soll. Aus diesem Grund muß die Rechtsprechung des Gerichtshofs nachfolgend unter der Fragestellung überprüft werden, ob in weiteren Fällen der Eintritt der unmittelbaren Wirkung von einem richtlinienkonformen Verhalten und damit von individuell-konkreten Voraussetzungen abhängig gemacht wurde.

4. D e r Fall „ R a t t i " Diese Frage läßt sich anhand der Entscheidung „Ratti" beantworten. 114 Das Urteil geht auf ein Strafverfahren zurück, das sich gegen den Leiter eines Unternehmens richtete, das Lösemittel und Lacke in den Verkehr brachte. Herr Ratti sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, gegen die strafbewehrten Kennzeichnungsvorschriften des italienischen Rechts für Benzol und andere Stoffe verstoßen zu haben. Zur Tatzeit war die Umsetzungsfrist einer Richtlinie abgelaufen, 115 die andere und teilweise „mildere" Kennzeichnungsvorschriften vorsah, die aber in Italien nicht rechtzeitig umgesetzt worden war. Das italienische Unternehmen hatte mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist die Produktkennzeichnung entsprechend dieser Richtlinienvorschriften vorgenommen. 116 Bei isolierter Betrachtung des italienischen Rechts hatte sich Herr Ratti also strafbar gemacht, während es nach der Richtlinie erlaubt war, die Produkte entsprechend der von ihm veranlaßten Kennzeichnung zu vertreiben. Der Gerichtshof ließ eine Berufung auf diese Richtlinienvorschriften zu, wenn im übrigen den Vorschriften der Richtlinie genügt wurde.117 Diesem Gesichtspunkt kommt aus strafrechtlicher Sicht große Bedeutung zu. Er findet sich in dem Urteil sowohl fallbezogen als auch als grundsätzliche Feststellung des Gerichts. Fallbezogen antwortet der Gerichtshof: „Sonach ist auf die erste Frage zu antworten, daß ein Mitgliedstaat nach dem Ablauf der zur Durchführung einer Richtlinie gesetzten Frist sein dieser Richtlinie noch nicht 113 114

115 116

117

Vgl. Oldenbourg, Unmittelbare Wirkung, S. 130 f. EuGH, Urteil vom 5. 4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629ff.; dazu auch Satzger, Europäisierung, S. 639. Richtlinie 73/173/EWG vom 4. Juni 1973, Abi. Nr. L 189, S. 7. Siehe die ausführliche Wiedergabe der Sach- und Rechtslage in: EuGH, Urteil vom 5. 4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1632ff. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1642.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht angepaßtes innerstaatliches Recht - auch wenn es Strafsanktionen vorsieht - nicht auf eine Person anwenden kann, die den Vorschriften der Richtlinie nachgekommen ist."118

D e m gingen grundsätzliche Feststellungen voraus, die wie folgt lauten: „Mit der den Richtlinien durch Art. 189 zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, daß sich betroffene Personen auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinien zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. Daher kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, den einzelnen nicht entgegenhalten, d a ß er - der Staat - die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat. Hieraus folgt, daß das nationale Gericht, bei dem ein Rechtsbürger, der den Vorschriften einer Richtlinie nachgekommen ist, die Nichtanwendung einer mit dieser noch nicht in die innerstaatliche Rechtsordnung des säumigen Staates übernommenen Richtlinie unvereinbaren nationalen Bestimmung beantragt hat, diesem Antrag stattgeben muß, sofern die in Frage stehende Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist." 119 Der Täter mußte also in einer den Vorschriften der Richtlinie genügenden Form auf die gefahrträchtigen InhaltsstoiTe hingewiesen haben. Eine denkbare Fallvariante belegt die Relevanz dieser Feststellung. Soweit ein italienisches Unternehmen zur gleichen Zeit mit Benzol angereicherte Lösemittel oder Lacke ohne jede Kennzeichnung in den Verkehr gebracht hat, hätte die Richtlinie keine unmittelbare Wirkung entfaltet und der dafür verantwortliche Täter wäre nach dem nicht innerstaatlichen

Recht zu bestrafen

verdrängten

gewesen.

Der Gerichtshof hat die Anwendung einer Richtlinienvorschrift also auch außerhalb des Steuerrechts davon abhängig gemacht, daß sich derjenige, der sich auf eine günstige Richtlinienvorschrift beruft, auch „richtlinienkonform" verhalten hat. Der Gerichtshof ließ also wie im Umsatzsteuerrecht das Entstehen eines „Rechtsvakuums" nicht zu. D a s würde eintreten, wenn die mildere und potentiell unmittelbar wirkende Richtlinienvorschrift die Anwendbarkeit des nationalen Rechts hindern könnte, obwohl der Täter beiden Vorschriften nicht nachgekommen ist.

118 119

EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1642. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1642.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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Der Fall „Ratti" zeigt im übrigen, wie schwierig es sein kann, die unmittelbare Wirkung im Einzelfall zu ermitteln. Die einschlägige Richtlinie kann bei isolierter Analyse nicht ohne weiteres als generell begünstigend bezeichnet werden. Sie umschreibt schließlich Pflichten zur Kennzeichnung bestimmter Waren. Es hängt ganz von der Perspektive des Rechtsanwenders ab, ob er diese Kennzeichnungspflichten als strenger oder milder einstuft. Den Vergleichsmaßstab bildet aus der Sicht des Bürgers das für ihn bisher verbindliche innerstaatliche Recht. Herr Ratti wird die Richtlinie im Vergleich mit dem italienischen Recht als weniger streng empfunden haben. Die begünstigende Wirkung für den Täter entsteht aus einer Gesamtschau der gemeinschaftsrechtlichen und innerstaatlichen Rechtslage. Sein spanischer Konkurrent kann das durchaus anders sehen, wenn das spanische Recht bislang keine Kennzeichnung bestimmter Inhaltsstoffe vorsah. Er wird die Richtlinie als belastend deuten.

5. Zwischenergebnis Es ist mithin keineswegs so, daß potentiell unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte die Anwendung eines Strafgesetzes generell sperren. Vielmehr sind die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie für jeden Einzelfall von neuem zu prüfen. Zu ermitteln ist die Verdrängung des nationalen Rechts durch unmittelbar wirkendes Richtlinienrecht erst durch die Subsumtion und den Vergleich der Rechtsfolgen. Erst dann greift der Anwendungsvorrang und auch nur für diesen Einzelfall, bei dem es zu einer Normenkollision gekommen ist. Die unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten darf also nicht dazu verleiten, das innerstaatliche Gesetz beiseite zu schieben und fortan als unanwendbar einzustufen. Selbst wenn eine einschlägige Entscheidung des Gerichtshofs publiziert wurde, darf nicht vorschnell entschieden werden. Die Unanwendbarkeit ergibt sich als Rechtsfolge der Einzelfallprüfung, wobei stets zu fragen ist, ob die Richtlinie zur Entfaltung ihrer unmittelbaren Wirkung ihrerseits ein bestimmtes Verhalten desjenigen verlangt, dem die unmittelbare Wirkung zugute kommen soll. Schließlich ist regelmäßig zu prüfen, für wen die unmittelbare Wirkung von Richtlinien überhaupt gilt und ob der zu lösende Einzelfall das Gemeinschaftsrecht berührt. Rechtstheoretisch ist es nicht ausgeschlossen, daß sich gemeinschaftsrechtlich zwar der Nichtinländer aus einem anderen Mitgliedstaat auf die unmittelbare Wirkung berufen kann, was nicht zwingend bedingt, daß dies für den Inländer ebenso gelten muß. 120 120

Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1759ff.; Streinz, WiVerw 1993, 1, 12f.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse ist nicht zu besorgen, daß die unmittelbare Wirkung eines Richtlinieninhalts im nachhinein als gemeinschaftsrechtliches Schlupfloch des Straftäters herhalten muß. Freilich kann eine Richtlinie eine nationale Norm nahezu komplett verdrängen, wenn die Richtlinie gerade darauf zielt, entsprechende Verbote in den Mitgliedstaaten abzuschaffen. Zu denken ist dabei vor allem an Einschränkungen der Grundfreiheiten. Als Beispiel kann der Fall „Bordessa" angeführt werden. Die im spanischen Recht strafrechtlich flankierte Genehmigungspflicht für den Geldtransfer war als solche mit der Richtlinie nicht zu vereinbaren. 121 Diese Fallgruppe verkörpert aber nicht die aus strafrechtlicher Sicht interessante und rechtstatsächlich bedeutsame Konstellation. In aller Regel wird eine Richtlinie nicht die Straflosigkeit einer Handlung herbeiführen wollen, die von den Mitgliedstaaten bislang als strafwürdig erachtet wurde. In den strafrechtlich und gesellschaftlich brisanten Fällen, in denen das Gemeinschaftsrecht eine Materie harmonisiert, die des strafrechtlichen Flankenschutzes bedarf, wird regelmäßig das „Wie" der Strafbarkeit modifiziert und nicht das „Ob" der Strafbarkeit beseitigt. Unter diesem strafrechtsspezifischen Gesichtspunkt entpuppt sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs als äußerst geschickt, weil das zu schützende Rechtsgut weiterhin einen ausreichenden Sanktionsschutz erfährt. Nur demjenigen, der sich in dem soeben untersuchten Beispielsfall „Ratti" richtlinientreu verhalten hat, verhilft die unmittelbare Wirkung dazu, daß das innerstaatliche Recht verdrängt wird und die Strafbarkeit entfällt. Ansonsten bleibt das nationale Strafgesetz anwendbar. Aus der Sicht des Strafrechts ist die Bedeutung des Falles „Ratti" kaum zu unterschätzen. Er illustriert nicht nur die Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs, sondern eine vor allem für die Praxis wichtige Botschaft lautet: Nach dem Fall „Ratti" ist für eine Art „Rosinentheorie" kein Raum. 122 Der Straftäter kann in derartigen Fällen im nachhinein nicht irgendwelche, abstrakt vorhandene Inkongruenzen von nationalem Recht und Richtlinienrecht für sich reklamieren, wenn er sich selbst jenseits der nach beiden Rechtslagen einschlägigen Vorschriften bewegt hat.

121

122

E u G H , Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995, 1-361 ff. Weiteres Beispiel: E u G H , Urteil vom 3.7. 1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171 ff, w o e s um die Unanwendbarkeit ausländerrechtlicher Strafvorschriften auf Gemeinschaftsbürger ging. In diesen Fällen bleibt die Strafvorschrift allerdings auf diejenigen Ausländer, die nicht Gemeinschaftsbürger sind, anwendbar. Diese auf den ersten Blick saloppe, aber sehr treffende Beschreibung stammt von Götz, N J W 1992, 1849, 1855 f., der zum Fall „Ratti" bemerkt, daß sich Effekte einer Art „Rosinentheorie" nicht einstellen können.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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III. Einordnung im Deliktsaufbau Vor dem Hintergrund dieses Zwischenergebnisses ergibt sich die Frage, wie die begünstigende unmittelbare Wirkung in den Deliktsaufbau einzuordnen ist. Hier öffnet sich ein ganzer Fächer von möglichen Lösungswegen, die - soweit ersichtlich in der Literatur bisher nicht erörtert wurden. Alle Lösungsmodelle stehen vor folgender Konkurrenzlage: Das nationale Strafrecht und eine unmittelbar wirkende Richtlinienvorschrift sind subsumierbar und sehen unterschiedliche Rechtsfolgen vor.123 Mit dem Anwendungsvorrang existiert eine spezielle Rechtsregel, welche die Konkurrenzlage zugunsten des Gemeinschaftsrechts löst.

1. D i e u n m i t t e l b a r e W i r k u n g als E r l a u b n i s t a t b e s t a n d Es ließe sich argumentieren, die Richtlinienwirkung erlaube dem Täter ausnahmsweise ein strafbares Verhalten. Die unmittelbare Wirkung wäre als eine Art gemeinschaftsrechtlich verankerter Erlaubnistatbestand zu deuten. Dafür spricht eine der Prüfung von Erlaubnissätzen vergleichbare Ausgangslage. Für den Fall der unmittelbaren Wirkung ist es notwendig, in einem ersten Schritt den Lebenssachverhalt unter das nationale Strafgesetz zu subsumieren. Sodann wird die jeweilige Vorschrift der Richtlinie geprüft. Erst jetzt steht fest, daß die auf der ersten Prüfungsstufe „verwirklichte" innerstaatliche Verbotsnorm verdrängt wird. Ihren Schwachpunkt hat eine solche Lösung in dem Umstand, daß sie zu spät einsetzt: Es würde zunächst ein grundsätzlich strafbares Verhalten des Täters angenommen, weil ein Erlaubnissatz nur zu prüfen ist, wenn die Tatbestandsverwirklichung bejaht wurde. Dem steht jedoch die Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts entgegen. Danach ist ein Verbotsverstoß nicht etwa gerechtfertigt, sondern das verbietende Recht wird verdrängt und unanwendbar. Mit der Erkenntnis, daß die Vorschrift einer Richtlinie unmittelbar wirkt, kommt es zur Kollision, und es ist in einer Gesamtschau des aus beiden Rechtsordnungen in die Entscheidungsfindung einströmenden Rechts kein verbotswidriges Handeln zu bejahen, weil der Tatbestand des nationalen Gesetzes, das z.B. die besagten strengeren oder andersartigen Kennzeichnungsvorschriften enthält, im Ergebnis von den unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten verdrängt und schlicht unanwendbar wird. Liegt die unmittelbare Wirkung im Zeitpunkt der Tathandlung vor,

123

Die einzelnen Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung wie Fristablauf und hinreichende Bestimmtheit werden bei den folgenden Erwägungen unterstellt und nicht mehr erwähnt.

280

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

so verwirklicht der Täter bei isolierter Betrachtung des nationalen Strafgesetzes zwar dessen Tatbestand. Dieser ist jedoch aufgrund der unmittelbar wirkenden Richtlinie nicht anwendbar.

2. Konkurrierendes Recht mit Vorrangregel Denkbar wäre es ferner, das Nebeneinander der innerstaatlichen Norm mit der Vorschrift des Gemeinschaftsrechts für einen Lösungsansatz aufzugreifen. Die grundsätzliche Anwendbarkeit zweier Normen auf einen Lebenssachverhalt stellt einen Fall der Konkurrenz dar. Die Besonderheit der Konkurrenz des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht besteht darin, daß mit dem Anwendungsvorrang eine Rechtsregel zur Lösung des Konkurrenzproblems zur Verfügung steht. Der Begriff der Konkurrenz im Strafrecht besagt grundsätzlich, daß ein Strafgesetz oder mehrere Strafgesetze durch eine oder mehrere Handlungen mehrfach verletzt wurden. Die daraus resultierende Konkurrenzlage gilt es auf der Grundlage der §§ 52, 53 StGB zu beantworten. Der Anwendungsvorrang greift jedoch früher, gleichsam auf der Tatbestandsebene. Mehrere Gesetzesverletzungen liegen nicht vor. Zu denken ist noch an den terminologisch mit der Bezeichnung der „Gesetzeskonkurrenz" nicht glücklich umschriebenen Fall, bei dem auf eine Straftat nach dem Wortlaut des Gesetzes zwar mehrere Strafgesetze anzuwenden wären, aber das Verhältnis der Vorschriften zueinander ergibt, daß in Wirklichkeit nur ein Gesetz anzuwenden ist. Gemeinsam ist allen Fällen der Vorrang eines Tatbestandes gegenüber dem anderen, der im Ergebnis zurücktritt. 124 Geppert umschreibt diese Konkurrenzlage treffend, wenn er sie als scheinbare Konkurrenz bezeichnet. Der rechtliche Unwertgehalt des Geschehens werde schon durch ein primär anzuwendendes Strafgesetz erschöpfend gekennzeichnet und zur Verdeutlichung des deliktischen Unwerts sei der Rückgriff auf das andere, gesetzeskonkurrierend verdrängte Gesetz im Urteilstenor entbehrlich. 125 Jedenfalls bleibt aber ein anzuwendendes Strafgesetz übrig. Im Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien bleibt jedoch kein anzuwendender Tatbestand übrig und es gibt im Lichte des Gemeinschaftsrechts auch keinen rechtlichen Unwertgehalt. Die Tat ist straflos. Die allgemeine Konkurrenzlage zwischen dem Strafrecht und der unmittelbar wirkenden Richtlinie findet also in der strafrechtlichen Konkurrenzlehre keinen Lösungsansatz.

124

125

Jescheck/Weigend, AT, § 69 Anm. I 1; Maurach/Gössel/Zipf, in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 52ff. Rn. 102. Geppert, Jura 1982,418, 421.

AT, Teilband 2, § 55 Rn. 6. Stree

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

281

3. Ungeschriebener Strafaufhebungs- oder Strafausschließungsgrund Denkbar ist es ferner, die unmittelbare Wirkung als ungeschriebenen Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund zu behandeln. Die Einstufung als Strafaufhebungsgrund überzeugt nicht. Verdeutlichen läßt sich das anhand eines Vergleichs mit dem nach vorherrschender Meinung prominentesten Strafaufhebungsgrund, dem Rücktritt nach § 24 StGB.126 Ein zunächst strafbares Verhalten wird im nachhinein getilgt. Dieser Vergleich mit der unmittelbaren Wirkung hinkt, weil zunächst eine dem Grunde nach strafbare Handlung zu bejahen wäre, die durch das Unrecht „konsumierende Umstände" beseitigt wird. Wenn beim Täter die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung vorliegen, verwirklicht er zwar einen geltenden, aber nicht anwendbaren Tatbestand. Es gibt nichts aufzuheben, weil kein anzuwendender Straftatbestand verwirklicht wurde. Auf der Suche nach der dogmatischen Heimat der begünstigenden unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht könnte dieser Effekt schließlich als persönlicher oder sachlicher Strafausschließungsgrund einzuordnen sein. Diese Einstufung der unmittelbaren Wirkung hat den Vorteil, daß es sich hierbei um Umstände handeln muß, die im Zeitpunkt der Tat vorliegen.127 Der Begriff „Strafausschließungsgrund" bringt terminologisch den Ausschluß der Strafbarkeit infolge der Verdrängungswirkung des Anwendungsvorrangs zum Ausdruck. Ferner könnte die Differenzierung zwischen sachlichen und persönlichen Strafausschließungsgründen weiterführen. 128 Anhand des Falles „Ratti" hatte sich gezeigt, daß der Eintritt der unmittelbaren Wirkung von individuell-konkreten Voraussetzungen abhängen kann. Sie verdrängt das grundsätzlich anwendbare Recht nur dort, wo diese individuellen, also persönlichen, Gründe vorliegen. Folglich könnte die unmittelbare Wirkung als persönlicher Strafausschließungsgrund zu deuten sein. Dagegen sprechen jedoch zwei Argumente. Erstens ist es rechtstheoretisch denkbar, daß die unmittelbare Wirkung eine komplette Verdrängung eines Straftatbestandes nach sich zieht, also unabhängig von einem „richtlinienkonformen" Verhalten des einzelnen eintritt. Diesem Fall der völligen Verdrängung des Strafgesetzes wird die Kategorisierung als persönlicher Strafausschließungsgrund nicht gerecht. Diesem Begriff wohnt inne, daß ein Tatbestand grundsätzlich anwendbar ist, jedoch eine Teilmenge der ihn verwirklichenden Handlungen aus täterbezogenen Gründen nicht zur Strafbarkeit führt. 126 127 128

Baumannl WeberlMitsch, AT, § 27 Rn. 5; JeschecklWeigend, AT, § 51 Anm. VI. 1 mwN. Lertckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 32ff. Rn. 133. Vgl. C. Roxin, AT, § 23 Rn. 4.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Die grundsätzlich zu bejahende Strafbarkeit wird ausgeschlossen. 129 In den Fällen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ist wegen der fehlenden Anwendbarkeit des nationalen Rechts die Strafbarkeit nicht mehr zu bejahen. Zweitens liegt ein Grund für die Differenzierung zwischen sachlichen und persönlichen Strafausschließungsgründen darin, daß bei den persönlichen Gründen der Strafausschluß nicht für jeden Beteiligten gilt, sondern nur für den, in dessen Person das strafausschließende Merkmal vorliegt.130 Bedeutung gewinnt dieser Gesichtspunkt im Zuge der Prüfung von Täterschaft und Teilnahme.131 Die Verfolgung desjenigen, der sich ζ. B. im Fall „Ratti" an der Tat als Gehilfe gemäß § 27 StGB beteiligt, wäre jedoch ebenso gemeinschaftsrechtlich unzulässig wie die des Haupttäters. Damit verbleibt die Möglichkeit, das Vorliegen der unmittelbaren Wirkung als ungeschriebenen, sachlichen Strafausschließungsgrund einzustufen. Liegt die unmittelbare Wirkung vor, so wäre die Strafbarkeit ausgeschlossen. Es kann eine Parallele zu § 186 StGB gezogen werden. Die Strafbarkeit der üblen Nachrede ist dann nicht gegeben, wenn die fragliche Tatsache erweislich wahr ist.132 An der Tatbestandsmäßigkeit der Handlung, also ζ. B. des Verbreitens einer Tatsache in Beziehung auf einen anderen, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, ändert der Wahrheitsbeweis nach vorherrschender Meinung nichts.133 Die tatbestandsmäßige Handlung ist in der Welt. Gleichwohl wird diese tatbestandsmäßige Handlung in bestimmten Fällen straflos, gleichsam neutralisiert, wenn die verbreitete Tatsache wahr ist. Der Schwachpunkt dieses Ansatzes liegt jedoch erneut in der grundsätzlichen Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung.

129

130 131 132

133

Siehe JeschecklWeigend, AT § 52 Anm. II 1; Otto, Grundkurs Strafrecht, § 20 Rn. 1; C. Roxin, AT, § 23 Rn. 4: Die Tatbestandsmäßigkeit eines beleidigenden Schimpfwortes bestimmt sich nicht danach, wer es ausspricht. Gleichwohl bleibt die entsprechende Wortwahl eines Abgeordneten in einer Parlamentsdebatte gemäß § 36 StGB aus persönlichen und in seiner Funktion als Abgeordneter liegenden G r ü n d e n straflos. C. Roxin, AT, § 23 Rn. 4. Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 32ff. Rn. 133. Im einzelnen Str., siehe Lackner/Kühl, § 186 R n . 7a; Lenckner in: Schönke-Schröder, § 186 Rn. 10; Zaczyk in: N K , § 186 Rn. 14ff., jeweils mwN. Lenckner in: Schönke-Schröder, § 186 Rn. 10 mwN. Allerdings wird zunehmend im Anschluß an Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 168 ff. und Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 305fT., ein sorgfaltswidriges Handeln gefordert, siehe Zaczyk in: N K , § 186 Rn. 19 mwN.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

283

4. Nicht tatbestandsmäßige Handlung Infolge der Unanwendbarkeit des nationalen Rechts erscheint es somit plausibel, von einem nicht tatbestandsmäßigen Verhalten im Sinne einer Nichterfüllung seiner Merkmale auszugehen. Dieser Ansatz greift den Gedanken der Verdrängung des nationalen Rechts auf. Die Konsequenz lautet: Dort, wo der nationale Tatbestand nicht mehr anwendbar ist, kann auch kein tatbestandsmäßiges Verhalten bejaht werden. Gleichwohl bestehen gegen diese Lösung Bedenken. Das nationale Recht gilt und bei isolierter Betrachtung des nationalen Rechts ist die Handlung tatbestandsmäßig. Wenn im Strafrecht von einem nicht tatbestandsmäßigen Handeln gesprochen wird, meint man damit ein Minus in einem zu überprüfenden Geschehen gegenüber dem, was der Tatbestand fordert, um die angedrohte Rechtsfolge auszulösen. Eine der vom Tatbestand gestellten Anforderungen ist nicht erfüllt. Dieser Subsumtionsvorgang ist in den hier in Rede stehenden Fällen hinsichtlich eines jeden Tatbestandsmerkmals jedoch problemlos zu vollziehen. Ein Minus gegenüber den gesetzlichen Anforderungen liegt nicht vor. Die Ermittlung des Anwendungsvorrangs verlangt sogar, diese Subsumtion durchzuführen, denn ohne sie gäbe es den Kollisionsfall nicht, der eine Grundvoraussetzung für die Entfaltung des Anwendungsvorrangs darstellt. Von einem nicht tatbestandsmäßigen Verhalten in dem Sinne, daß eines der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale nicht erfüllt ist, kann im Fall der unmittelbaren Wirkung somit nicht ausgegangen werden.

5. Lösungsvorschlag Die Betrachtung der verschiedenen Lösungsansätze zeigt, daß die Einordnung der unmittelbaren Wirkung in den Deliktsaufbau Probleme aufwirft. Es handelt sich um eine dem Strafrecht nicht systemimmanente Einwirkung. a. Die Spaltung von Geltung und Anwendbarkeit der Strafnorm Um zur Problemlösung vorzudringen, ist es notwendig, sich abermals die Eigenart der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und des Anwendungsvorrangs vor Augen zu führen. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung zur unmittelbaren Wirkung dargelegt, daß Verwaltung und Gerichte die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Rechtsnatur und zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinie bei ihrer Rechtsanwendung zu beachten haben. 134 Das Gericht hat damit zutreffend die gemeinschaftsrechtliche Wurzel dieses richtlinienspezifischen Effekts betont. Jeder 134

BGHSt 37, 168, 175.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Lösungsweg muß diesen Ursprung beachten, denn die daraus zu ziehenden Konsequenzen sind erheblich. Es kommt zu einer Spaltung von Geltung und Anwendbarkeit der Strafnorm. Während das Strafgesetz trotz unmittelbarer Wirkung weiterhin gilt, wird es doch im Einzelfall unanwendbar. Diese Folge des Anwendungsvorrangs muß beachtet werden. Hier liegt zugleich die Ursache dafür, daß die unmittelbare Wirkung sich nicht zwanglos in den Deliktsaufbau einfügt. Sie paßt nicht. Sie steht außerhalb des Systems. Jeder Lösungsversuch einer dogmatischen Einordnung der unmittelbaren Wirkung in strafrechtliche Kategorien steht vor dem Widerspruch des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht, der nicht geleugnet werden kann. Der die Handlung pönalisierende Straftatbestand ist nun einmal in der Welt und er wurde verwirklicht. Die Tat ist bei isolierter Betrachtung des nationales Rechts „an sich" strafbar. b. Inkorporation der Vorrangwirkung Zur Lösung sind jedoch die Darlegungen des Bundesverfassungsgerichts in Erinnerung zu rufen, wonach Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts für den Fall des Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht vor deutschen Gerichten dieser Anwendungsvorrang zukommt, der auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts beruht und dem über die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 G G der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt wurde.135 Entscheidend ist, daß der vom Bundesverfassungsgericht im Richtlinienbeschluß vorgezeichnete Schritt zur Lösung nachvollzogen wird, der außerhalb der eigentlichen Strafrechtsdogmatik liegt. Der Rechtsregel des Anwendungsvorrangs ist der in dem Zustimmungsgesetz liegende Rechtsanwendungsbefehl zuteil geworden. 136 In diesem Sinne hat die Rechtsordnung die unmittelbare Wirkung mit der Folge des Anwendungsvorrangs der unmittelbar wirkenden Vorschriften in sich aufgenommen. Unbestreitbar ist freilich, daß diesem Anwendungsvorrang immer ein Normenkonflikt zwischen der nationalen Rechtsordnung und dem Gemeinschaftsrecht innewohnt. Begreift man jedoch den Anwendungsvorrang als eine von den Zustimmungsgesetzen zu den Gründungsverträgen umfaßte Rechtsregel, so liegt darin ein wesentlicher Schritt zur Problemlösung. Der Vorrang einer Richtlinienvorschrift läßt sich trotz Kollision als innerstaatlich akzeptiert umschreiben, indem die Zustimmungsgesetze die Rechtsordnung hierfür in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt geöffnet haben.

135 136

BVerfGE 75, 223, 244. BVerfGE 75, 223, 244.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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Dieses Erklärungsmodell erleichtert die strafrechtliche Problemlösung. Wer sie allein aus der strafrechtlichen Dogmatik heraus sucht, dem erscheint der Widerspruch der innerstaatlichen Strafvorschrift mit der des Gemeinschaftsrechts als ein Konflikt, der gleich dem „deus ex machina" in Gestalt einer diffusen Vorrangwirkung gelöst wird. Das verleitet zu der Annahme, eigentlich sei ja die Strafe zu verhängen, aber aufgrund der unmittelbaren Wirkung dürfe sie ausnahmsweise nicht verhängt werden, weil um des lieben Friedens und des Miteinanders der Rechtsordnungen willen die Richtliniennorm vorgeht. Das Sammelsurium der „vierten Deliktskategorie" der Strafbarkeitsbedingungen und Strafausschließungsgründe 137 wäre um einen Gast reicher. c. Die unmittelbare Wirkung als ungeschriebener Tatbestandsausschluß Die Rechtsfolge des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts besagt, daß die entgegenstehende Norm des innerstaatlichen Rechts verdrängt wird. Dieser Gedanke kann für die strafrechtliche Würdigung und dogmatische Einordnung der unmittelbaren Wirkung fruchtbar gemacht werden. Die Anwendung des Straftatbestandes ist trotz der Subsumtionsfähigkeit des Lebenssachverhalts ausgeschlossen. Diesen Tatbestandsausschluß gilt es näher zu deuten. Ohne die umfassende Diskussion um den Rechtsgutsbegriff 138 aufgreifen zu müssen, läßt sich die Kernaussage treffen, daß das Strafrecht grundsätzlich dem Schutz eines Rechtsguts dient und innerhalb des Rechtssystems ultima ratio sein sollte. Im Bereich des Kernstrafrechts ist die Entscheidung darüber, was strafbar sein soll, ohne weiteres nachvollziehbar, wenn es etwa um die Pönalisierung der Körperverletzung oder des Raubes geht. Im Bereich des Nebenstrafrechts liegt die Entscheidung für die Strafbarkeit einer Handlung oftmals nicht auf der Hand. Aus dem Kreis der zahlreichen außerstrafrechtlichen Verbote umschreibt der Gesetzgeber im Straftatbestand dasjenige Verhalten, an das die Rechtsfolge der Bestrafung geknüpft werden soll. Ihm liegt eine Entscheidung der Kriminalpolitik für die Strafbarkeit einer bestimmten Verhaltensweise zugrunde. Das Strafrecht sanktioniert nur eine Teilmenge des nicht erlaubten Verhaltens. Dieser Entscheidungsprozeß ist im Normalfall ein innerstaatlicher Vorgang. Auf begrenzten Gebieten hat die innerstaatliche Rechtsordnung diese Entscheidungsmacht jedoch indirekt aus der Hand gegeben. Indirekt deshalb, weil die allge-

137 138

V. Hippel, Untersuchungen, S. 55; C. Roxin, AT, § 23 Rn. 6 mwN. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 15ff.; Baumann! Weberl Mitsch, AT, § 3 Rn. lOff.; Maurach/ Zipf, AT Teilband 1, § 19 Rn. 4ff.; C. Roxin, AT, § 2 Rn. 2ff.; Rudolphi, Honig-FS, S. 151 ff. Überblick bei Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 9 f.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

meine Kompetenzverteilung auf strafrechtlichem Gebiet die Schlußfolgerung nahelegt, die nationale Rechtsordnung bestimme weiterhin uneingeschränkt über die Strafbarkeit einer Handlung. Indem sie sich dem Gemeinschaftsrecht einschließlich der Art. 249, ex-Art. 189 EGV entspringenden Normgebung geöffnet hat, hat sie es jedoch zugelassen, daß Rechtsmaterien außerhalb der innerstaatlichen Entscheidungsprozesse verbindlich geregelt werden. Die positive Seite der Kompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts ist zwar bei den Mitgliedstaaten verblieben. Allerdings reduziert sich im Lichte des Gemeinschaftsrechts dieses Ermessen des Mitgliedstaats, da er nicht bestrafen darf, was das Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Kompetenzübertragung primär- oder sekundärrechtlich erlaubt. Mit der Übertragung von Kompetenzen auf die Gemeinschaft kann der Fall eintreten, daß auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts die Frage nach dem Verbotensein anders beurteilt wird. Die Entscheidung darüber, ob eine Handlung verboten oder erlaubt ist, verlagert sich in Teilbereichen des Rechts auf die Gemeinschaft. Im Fall der Verordnung nach Art. 249 Abs. 2, ex-Art. 189 Abs. 2 EGV ist diese Verlagerung evident. Wenn die Gemeinschaft eine Rechtsmaterie mittels der EG-Verordnung abschließend regelt, also ζ. B. die an Weine für ein gemeinschaftsweites Inverkehrbringen zu stellenden Anforderungen formuliert, so darf der Mitgliedstaat dem kein widersprechendes Recht entgegensetzen, indem er ein nach der EG-Verordnung gemeinschaftsweit erlaubtes Handeln innerstaatlich verbietet und strafbewehrt. Aus der Sicht des innerstaatlichen Rechts schrumpft die Hauptmenge der Verbote, an die das Strafrecht anknüpfen und aus der es seine Teilmenge der strafbewehrten Verbote bilden kann. Beim Richtlinienrecht liegen die Dinge komplizierter. Der Rechtssetzungsakt der Richtlinie ist zwar auf eine Zuweisung von Kompetenzen an die Gemeinschaftsorgane zurückzuführen. Allerdings wendet sich die Richtlinie ihrerseits grundsätzlich nur an den Mitgliedstaat, der die Vorgaben sodann in die Formen seines Rechts gießt. Die Richtlinie ist Recht, das zur Normgebung aufruft, wobei innerstaatlich erst das in Befolgung des Aufrufs gesetzte Recht verbindlich sein soll. Eine Durchgriffswirkung kommt den Richtlinieninhalten im Normalfall nicht zu. Der Fall der unmittelbaren Wirkung verläßt jedoch dieses Modell. Wie ein überspringender Funke dringt eine mit dem Anwendungsvorrang flankierte Vorschrift der Richtlinie in den Vorgang der Rechtsfindung ein und modifiziert die strafrechtlich relevante Rechtsmaterie, obwohl die zur Umsetzung berufenen Gesetzgebungsorgane noch nicht tätig geworden sind. Zu diesem Zeitpunkt widersprechen sich der unmittelbar wirkende Richtlinieninhalt und die innerstaatliche Verbotsnorm. Zwar gilt deren Tatbestand weiterhin, doch seine Anwendung ist ausgeschlossen. Deshalb sollte das Hinzutreten der unmittelbaren Wirkung als Ausschluß dieses Tatbestandes gewertet werden.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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Dafür spricht folgender Gedankengang: Die unmittelbar wirkende Vorschrift antizipiert in gewisser Weise ein Fragment des ausstehenden innerstaatlichen Gesetzgebungsaktes. Das innerstaatliche Verbot wird es in der Zukunft jedenfalls in dem Umfang nicht mehr geben, wie die unmittelbare Wirkung reicht. Trotz allen Gestaltungsspielraums des Mitgliedstaats steht für den Fall der unmittelbaren Richtlinienwirkung definitiv fest, daß er diesen Richtlinieninhalt in sein Recht übernehmen wird. 139 Selbst wenn der Strafschutz des Rechtsguts als solcher bleibt, wird der Gesetzgeber eine Handlung im Sinne der unmittelbar wirkenden Richtlinienvorschrift aus dem Kreis der strafrechtlich relevanten Angriffshandlungen eliminieren. Diese Art der Gefahrdung oder Verletzung des durch den Straftatbestand geschützten Rechtsguts wird es in Zukunft nicht mehr geben. Dieser Gedanke ist mit dem Aspekt der Inkorporation der unmittelbaren Wirkung zu paaren. Es gilt im Sinne des Bundesverfassungsgerichts der Grundsatz, daß die Rechtsordnung die unmittelbare Wirkung mit der Folge des Anwendungsvorrangs in sich aufgenommen und akzeptiert hat. Wenn dem so ist, dann will die innerstaatliche Rechtsordnung in diesem Sinne aus sich heraus trotz anderslautender Verlautbarung des positiven Rechts nicht mehr, daß eine Handlung gemäß der unmittelbar wirkenden Richtlinienvorschrift als rechtsgutsverletzende Handlung im Sinne der Strafnorm anzusehen ist. Dann aber ist es konsequent, diesen Fall als Tatbestandsausschluß einzustufen. Das jeweilige Strafgesetz ist insoweit, wie es eine gemäß der unmittelbar wirkenden Richtlinie erlaubte Handlung unter Strafe stellt, ein Recht, dessen Anwendung die Rechtsordnung trotz Erfüllung des Tatbestandes ausschließt. Diese Lösung erweist sich auch gegenüber der Annahme eines Strafausschließungsgrundes oder eines gemeinschaftsrechtlichen Erlaubnistatbestandes als überlegen, weil diese Denkansätze die innerstaatliche Akzeptanz der unmittelbaren Wirkung nur unzureichend widerspiegeln, indem sie die unter dem „Schutz" der unmittelbaren Wirkung stehende Handlung als Verbotsverstoß einordnen und diesen erst auf einer anderen Stufe des Deliktsaufbaus und damit zu spät neutralisieren. Die Deutung als Tatbestandsausschluß birgt gegenüber der Annahme einer nicht tatbestandsmäßigen Handlung den Vorteil, daß sie nicht das leugnet, was nicht zu leugnen ist: Die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung bei isolierter Betrachtung des nationalen Rechts. Die Inkorporation der unmittelbaren Wirkung in die nationale Rechtsordnung führt jedoch dazu, daß es mit der isolierten Subsumtion des Lebenssachverhalts unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale nicht sein Bewenden haben kann. 139

Setzt der Mitgliedstaat die Richtlinienvorgaben insoweit nur unzureichend um, bleibt die unmittelbare Wirkung bestehen.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Wir können also festhalten: Die begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien bewirkt im Einzelfall einen fakultativen Tatbestandsausschluß.

IV. Keine direkte Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB Nach alledem kann nun erörtert werden, ob im Fall der unmittelbaren Wirkung eines Richtlinieninhalts § 2 Abs. 3 StGB direkt angewendet werden kann. Durch die Ambivalenz des Richtlinienrechts ergeben sich für beide Sichtweisen gute Argumente. Für die Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB spricht, daß es bei dieser Vorschrift grundsätzlich auf den gesamten sachlich-rechtlichen Rechtszustand ankommt, von dem die Strafbarkeit abhängt. 140 Als Teil dieses Rechtszustands könnte der unmittelbar wirkende Richtlinieninhalt anzusehen sein. Dafür spricht die Öffnung unserer Rechtsordnung für das Gemeinschaftsrecht und die Teilhabe der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie am Anwendungsvorrang. 141 Es ließe sich argumentieren, eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB sei anzunehmen, weil die nationale Rechtsordnung die Yorrangwirkung der Richtlinie in sich aufgenommen habe und diese dann auch wie eine Norm des innerstaatlichen Rechts die Rechtslage tätergünstig gestalten könne. Als weiteres Argument könnte auch die „objektive" Wirkung der Richtlinie im Sinne der Entscheidung im Fall „Großkrotzenburg" sprechen. 142 Mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist haben die innerstaatlichen Stellen die in der Richtlinie enthaltenen Pflichten zu beachten und auf diese Pflichten kann sich der Bürger gegenüber dem Staat berufen, soweit sie hinreichend bestimmt sind und ihn begünstigen. Gleichwohl sprechen die besseren Argumente gegen eine direkte Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB. Mit der Öffnung unserer Rechtsordnung kann freilich auch das Gemeinschaftsrecht Teil desjenigen Rechtszustands werden, nach dem die Strafbarkeit zu beurteilen ist. Das Gemeinschaftsrecht verdient im Rahmen des § 2 Abs. 3 StGB grundsätzlich Beachtung. Als Beispiel können inhaltliche Änderungen in EG-Verordnungen angeführt werden.143 Bei der EG-Verordnung handelt es sich jedoch im Gegensatz zur Richtlinie um eine grundsätzlich unmittelbar anwendbare Normenkategorie des Gemeinschaftsrechts, die eine Rechtsmaterie gemeinschaftsweit kodifiziert. Indem das Strafgesetz die EG-Verordnung durch den Verweis in

140 141 142 143

Tröndl d Fischer, § 2 Rn. 8; Lackneri Kühl, § 2 Rn. 4, jeweils mwN. BVerfGE 75, 223, 244. Siehe oben 2. Hauptteil Α. I. 1. h. dd. Siehe die Beispiele oben 2. Hauptteil C.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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sich aufnimmt, kann von einer Änderung der Rechtslage im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB ausgegangen werden, wenn ζ. B. eine neue EG-Verordnung einen milderen Tatbestand enthält. 144 Die Schaffung oder Änderung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht kann mithin eine Gesetzesänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB darstellen. Hier geht es aber nicht um eine Änderung des Rechts durch grundsätzlich unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht. Vielmehr sind die Besonderheiten des Richtlinienrechts und speziell die der unmittelbaren Wirkung zu berücksichtigen. § 2 Abs. 3 StGB setzt nach seinem Wortlaut im Normalfall einen Legislativakt voraus, wenn die Vorschrift von einer Änderung des zur Tatzeit geltenden Gesetzes spricht. Dieser Legislativakt fehlt jedoch bei unmittelbar anwendbaren Richtlinienvorschriften. Dieses Argument könnte im Lichte des Rechtsgedanken des § 2 Abs. 3 StGB, dem Bürger eine ihm günstige Änderung des Tatzeitrechts zugute kommen zu lassen, als zu formal erscheinen. Es soll das Milderungsproblem aber auch nicht allein entscheiden, da nachfolgend die analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB erörtert wird. Hier geht es zunächst nur darum, ob der durch den Ablauf der Umsetzungsfrist bewirkte fakultative Tatbestandsausschluß als Änderung des zur Tatzeit geltenden Gesetzes angesehen werden kann und daran fehlt es. Die Richtlinie will als solche das innerstaatliche Recht nicht selbst ändern. Hierzu sind die zuständigen Gesetzgebungsorgane in den Mitgliedstaaten aufgerufen und bleiben es auch für den Fall, daß Richtlinienvorschriften unmittelbar wirken und sich der einzelne auf sie berufen kann. Unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte kompensieren den innerstaatlichen Umsetzungsakt nicht. Die Begünstigung des Täters wird durch den Zeitablauf der Richtlinie, aber nicht durch einen Akt eines Gesetzgebungsorgans hervorgerufen. Das geltende Tatzeitrecht wird im Fall der unmittelbaren Wirkung gerade nicht durch einen Legislativakt geändert. Auch normentheoretisch ist die unmittelbare Wirkung von Richtlinien mit den üblichen Anwendungsfällen des § 2 Abs. 3 StGB, also der Rechtsänderung infolge eines Legislativakts, nicht vergleichbar. Die abstrakt-generelle Änderung der Rechtslage im Sinne des § 2 StGB steht noch aus. Es liegt weder ein finaler Derogationsakt vor, noch wird das nationale Gesetz über die „lex posterior"-Regel außer Kraft gesetzt. Das nationale Recht wird lediglich überlagert, aber es gilt weiterhin. Der genannte Beispielsfall „Ratti" belegt die fortwährende Anwendbarkeit des Tatzeitrechts. Die unmittelbare Wirkung trat lediglich aufgrund eines richtlinienkonformen, konkret-individuellen Verhaltens ein. Erst dann entfaltete die Richt-

144

Siehe OLG Stuttgart, NJW 1990, 657, 658 rechte Spalte.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

linie unmittelbare Wirkung und zu diesem Zeitpunkt kommt es für diesen Einzelfall zu einer Kollision von innerstaatlichem Recht und unmittelbar wirkendem Gemeinschaftsrecht, als deren Folge sich das Gemeinschaftsrecht kraft seines Anwendungsvorrangs durchsetzt. Eine abstrakt-generelle Änderung der Rechtslage im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB liegt darin nicht. Das zur Tatzeit geltende Strafrecht gilt weiterhin und kann einer Verurteilung ohne weiteres als Grundlage dienen, soweit nicht die Kennzeichnungsvorschriften der Richtlinie eingehalten wurden. Das Tatzeitrecht wird nicht als solches, sondern nur fakultativ in seiner Anwendbarkeit modifiziert. Freilich kommt es auch bei unmittelbar wirkendem Primärrecht oder Vorschriften aus EG-Verordnungen nur zu einer Verdrängung des nationalen Rechts. Die Besonderheit der unmittelbaren Wirkung besteht jedoch darin, daß sie nicht wie die EGVerordnung oder das innerstaatliche Gesetz in einem umfassend normativen Sinn verstanden werden kann. Die Fälle, in denen sich der Bürger gegenüber dem Staat auf die Richtlinie berufen kann, können nur als ein aus der Verletzung der mitgliedstaatlichen Umsetzungspflicht resultierender, richtlinienspezifischer Effekt gedeutet werden. 145 Dieser Effekt ist eigener Art und nicht gesetzesgleich.146 Mithin kann die den Täter begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien nicht als direkter Anwendungsfall des § 2 Abs. 3 StGB eingestuft werden. Eine Gesetzesänderung gemäß § 2 Abs. 3 StGB liegt nicht vor.

V. Analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB? Da die Rechtsfolge der unmittelbaren Wirkung von Richtlinienvorschriften im Strafrecht als ungeschriebener Tatbestandsausschluß einzustufen ist, stellt sich jedoch die bereits angedeutete Frage, ob § 2 Abs. 3 StGB analog anzuwenden ist. Vorab ist die Ausgangslage in Erinnerung zu rufen: Das Problem ergibt sich nur dann, wenn die Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt wird. Wird sie umgesetzt, ist die direkte Anwendung des § 2 StGB zu prüfen. Wie bei einer nicht gemeinschaftsrechtlich bedingten Änderung der Rechtslage ist dann zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 StGB vorliegen. Für diese Untersuchung ist der Gedankengang sogleich auf den problematischen Fall zu konzentrieren, der vorliegt, wenn die unmittelbare Wirkung nach der Tat, aber vor der Entscheidung des Gerichts eintritt.

145 146

Gellermann, Beeinflussung, S. 200. Siehe dazu 2.Hauptteil A I 1 h.

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1. Praktische Bedeutung der Fragestellung Um wiederum die Relevanz dieser Fragestellung zu erschließen, ist es erforderlich, das Meinungsbild zur Anwendung des § 2 StGB in Erinnerung zu rufen. Im Detail ist im Lager der vorherrschenden Meinung umstritten, wann in den Fällen der außerstrafrechtlichen Änderung des Gesetzes eine für § 2 Abs. 3 StGB relevante Änderung vorliegt. 147 Ihr Ausgangspunkt besteht jedoch darin, in § 2 Abs. 1 StGB eine Durchbrechung 1 4 8 oder Ergänzung 1 4 9 des lex posterior-Prinzips zu erblicken. Damit wäre es grundsätzlich denkbar, die unmittelbare Wirkung als Fall der analogen Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB zu behandeln, wobei diese sich gleichsam auf dem vorhandenen Meinungsbild niederlassen und eine Differenzierung nach der Unrechtskontinuität, nach außerstrafrechtlichen Regelungseffekten oder dem Zeitgesetzcharakter einer Vorschrift nach sich ziehen würde. Uberträgt man die Auffassung von Dannecker und Tiedemann150 auf das vorliegende Problem der Milderung durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte, so könnte § 2 Abs. 3 StGB in aller Regel analog anzuwenden sein. Denn diese Autoren halten im innerstaatlichen Recht grundsätzlich jede außerstrafrechtliche Rechtsänderung für relevant. 151 Es wurde bereits dargelegt, daß die täterfreundliche Interpretation des § 2 StGB in dem Ansatz Danneckers152 und Tiedemanns153 wurzelt, dem strafrichterlichen Erkenntnis das zum Urteilszeitpunkt geltende Recht zugrundezulegen. In § 2 StGB wird sodann eine Vorschrift gesehen, der zu entnehmen ist, in welchem Umfang die lex posterior auch auf Altfälle anzuwenden ist. Das jüngere Gesetz bringe regelmäßig zum Ausdruck, welche Wertmaßstäbe nunmehr gelten und verbindlich sein sollen. 154 Auch für außerstrafrechtliche Regelungen gelte, daß jede Gesetzesänderung grundsätzlich als verbessernde Rechtserkenntnis zu einer strafrechtlichen Milderung führen müsse. 155 Indes steht dem Richter im Urteilszeitpunkt das innerstaatliche Recht wegen des beschriebenen Tatbestandsausschlusses nicht zur Verfügung. Das Urteilsrecht wird

147 148 149 150

151

152 153 154 155

Ausführlicher Überblick: Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 462 ff. Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 2 mwN. Ch. Schröder, ZStW 112 (2000), 44, 49 ff. Dannecker, Abzugsfähigkeit von Parteispenden, S. 91 ff.; K. Tiedemann/Dannecker, Die gesetzliche Milderung, passim. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 462ff.; K. Tiedemann!Dannecker, Die gesetzliche Milderung, S. 20 f. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 228 ff. K. Tiedemann!Dannecker, Die gesetzliche Milderung, S. 18 ff. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 228 ff. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 491 f.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

verdrängt und ist nicht anwendbar. Hiernach scheint die Aburteilung früherer Taten als fraglich.

2. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte Bevor die Milderungsfrage aus innerstaatlicher Sicht weiter untersucht wird, ist wiederum zu prüfen, ob das Gemeinschaftsrecht für die Lösung Vorgaben trifft, die zu berücksichtigen sind. Unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten ist in diesen Fällen zu beachten, daß vor Ablauf der Umsetzungsfrist die unmittelbare Wirkung nicht eintritt. In der Strafsache „Ratti" wurde der Gerichtshof vom vorlegenden Gericht ausdrücklich nach der unmittelbaren Wirkung einer weiteren Richtlinie gefragt, die zur Tatzeit und zum Urteilszeitpunkt des Gerichtshofs in ihrer Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war. Den Vorschriften dieser Richtlinie hatten die Produkte des italienischen Unternehmens vor Ablauf der Frist genügt. Der Gerichtshof hat im Fall „Ratti" in Kenntnis des Umstands, daß die Vorlagefragen aus einem Strafverfahren erwachsen waren, unmißverständlich und ausdrücklich erklärt, daß die Mitgliedstaaten bis zum Ablauf der Frist abweichende Regelungen des nationalen Rechts aufrechterhalten können. Vor Ablauf der Frist könne sich der einzelne nicht auf ein „berechtigtes Vertrauen" berufen. 156 Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts besteht also kein Anlaß, denjenigen zu privilegieren, der die Richtlinienbestimmungen eigenmächtig vorwegnimmt. Der Eintritt der begünstigenden Wirkung ist mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist verbunden. Aus strafrechtlicher Sicht sprechen hierfür gute Argumente. Strafrechtsrelevante Verbotstatbestände dürften durch das Umsetzungsrecht oftmals nur inhaltlich modifiziert werden, um etwa gemeinschaftsweit einheitliche Regelungen über die Kennzeichnung gefahrträchtiger Produkte zu schaffen. Das neue Recht kann teilweise strenger oder milder sein. Unabhängig von der Regelung des Details besteht aber vor und nach der Umsetzung des Richtlinienrechts, wie auch vor und nach dem Eintritt der unmittelbaren Wirkung, die Rechtspflicht, Produkte gemäß den geltenden Bestimmungen zum Schutz des Verbrauchers zu kennzeichnen. Die verbotene Handlung, also das Inverkehrbringen nicht ordnungsgemäß gekennzeichneter Waren, gibt es vor und nach der Anpassung des innerstaatlichen Rechts und auch vor und nach dem Eintritt der unmittelbaren Wirkung. In diesen Fällen verlangt das Verbot als solches in seiner jeweiligen Ausgestaltung die Beachtung durch den Bürger.

156

EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, E. 1979, 1629, 1645.

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D a f ü r spricht zudem, daß derartige N o r m e n in darauf abgestimmte behördliche Kontrollmechanismen eingebettet sein können, die sich stichtagsbezogen dem neuen Recht anpassen. Die Funktionsfähigkeit eines solchen Systems wäre gefährdet, wenn es möglich wäre, in Anbetracht des bevorstehenden Ablaufs der Umsetzungsfrist das zukünftige Recht eigenmächtig vorwegzunehmen. Festzuhalten bleibt für die Behandlung der Milderungsproblematik, daß aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht kein Hinderungsgrund besteht, begünstigende Folgen der unmittelbaren Wirkung nur auf deren Vorliegen zum Tatzeitpunkt zu beziehen. Wie bereits zum Fall „Bordessa" ausgeführt wurde, ist darin aber keine positive Entscheidung über die analoge Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB enthalten, weil diese strafrechtsspezifische Frage aus dem nationalen Recht heraus zu lösen ist. 157

3. Innerstaatliche Argumente Für und gegen eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB lassen sich gute Argumente finden. D a f ü r läßt sich anführen, die Vorschrift verlange vom Richter die Prüfung, welche der Rechtslagen für den Täter vom Tatzeitpunkt bis zum Urteilspunkt am günstigsten war. 158 Dieses Milderungsgebot schwebt über jedem Strafverfahren und verlangt prinzipielle Beachtung. Geht man von diesem Grundsatz aus und stellt diesen Vergleich der Rechtslagen für den Fall an, daß nach dem Tatzeitpunkt die unmittelbare Wirkung eintrat, so ist das Verhalten des Täters als nicht strafbar einzustufen. Denn im Zuge dieser Prüfung darf das nationale Recht kraft der auf Anwendung drängenden unmittelbaren Wirkung und des damit begründeten Tatbestandsausschlusses nicht mehr angewendet werden. Wenn aber das Täterverhalten von der Tat bis zur Entscheidung nicht durchgängig als strafbar einzustufen ist, dann liegt der Sache nach ein Fall des § 2 Abs. 3 StGB vor, wenngleich es an einer Gesetzesänderung im Sinne dieser N o r m fehlt. D a aber die Rechtsordnung unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte mit der einhergehenden Verdrängungswirkung in sich aufgenommen hat, scheint die für eine Analogie erforderliche Vergleichbarkeit der Sachverhalte vorzuliegen. Wie bei einer innerstaatlichen Gesetzesänderung gibt allein das Ergebnis des konkreten Vergleichs der Rechtslagen zwischen dem Tat- und Urteilszeitpunkt den Ausschlag.

157

158

Schlußanträge des Generalanwalts Tesauro in: EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361, 367. Vgl. BGHSt 20, 22, 29f.; Gribbohm in: LK, § 2 Rn. 20ff.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Für eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB spricht ferner der Aspekt der Rechtssicherheit. Die Verlängerung der Umsetzungsfrist im Fall der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie belegt, wie es infolge der Fristverlängerung zu einer schwankenden Rechtslage kommen kann. Die ursprünglich strafbare Handlung wird zunächst durch die unmittelbare Wirkung straflos, wobei die folgende Verlängerung der Frist die unmittelbare Wirkung beseitigt und den Tatbestand wieder anwendbar werden läßt. Angesichts des bevorstehenden Ablaufs der Verlängerung der Umsetzungsfrist ist jedoch bereits die erneute Nichtstrafbarkeit des Verbotsverstoßes absehbar. Die durch § 2 Abs. 3 StGB bewirkte „Klammerung" und die durch eine Anwendung des mildesten Zwischengesetzes erzeugten Rechtsfolgen erscheinen als geradezu prädestiniert, diese Wogen der Rechtsunsicherheit im strafrechtlichem Zusammenhang zu glätten. Gegen eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB spricht andererseits, daß das nationale Recht im Zeitpunkt der Tat galt und bis zum Entscheidungszeitpunkt weiterhin gilt. Denn der Anwendungsvorrang führt gerade nicht zur Derogation der nationalen Norm. Es handelt sich um geltendes, wenn auch im Einzelfall nicht anwendbares Recht. In diesen Fällen liegt zur Tatzeit auch kein Kollisionsfall vor, in dessen Gefolge der Anwendungsvorrang greift. Erst ein Vergleich der Rechtslagen im Rahmen der Prüfung nach § 2 Abs. 3 StGB führt den Kollisionsfall gewissermaßen künstlich herbei, indem der Richter prüft, ob denn die zum Tatzeitpunkt nicht kollidierenden Rechtsnormen nunmehr, also im Zeitpunkt der Entscheidung, kollidieren. Für die Berücksichtigung dieses synthetisch erzeugten Kollisionsfalls besteht keine gemeinschaftsrechtliche Veranlassung.

4. L ö s u n g s v o r s c h l a g Wer der vorherrschenden, wenn auch in ihren Begründungselementen nicht einheitlichen Meinung zur Relevanz einer Rechtsänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB folgt, könnte die Problematik über die Auslegung dieser Norm im Einzelfall lösen. Es ließe sich im Fall der Kennzeichnungsvorschriften wie im Fall der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie argumentieren, daß der Zweck der Straftatbestände, Steueransprüche des Staates zu flankieren oder die ordnungsgemäße und einheitliche Kennzeichnung gefährlicher Produkte zu gewährleisten, vor und nach dem Eintritt der unmittelbaren Wirkung fortbestehe. Obwohl sich für dieses Ergebnis gute Argumente finden lassen, wäre es unbefriedigend, allein in einer Entscheidung des Streits zu § 2 Abs. 3 StGB die Lösung zu suchen. Es ist nicht auszuschließen, daß über die erwähnten Beispiele hinaus

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problematischere Fälle auftreten. 159 Damit wäre auch die vorherrschende Meinung wie die von Dannecker und Tiedemann entwickelte Minderheitsmeinung vor die Frage gestellt, wie sie mit der unmittelbaren Wirkung im Kontext des § 2 StGB grundsätzlich umgehen will. Zu untersuchen ist daher, ob sich die begünstigende unmittelbare Wirkung tatsächlich über die Vorschrift des § 2 StGB legt oder ob sie nicht einer gesonderten Behandlung bedarf. a. Richtlinienspezifische Aspekte Grundsätzlich beansprucht das nationale Recht bis zu seiner Änderung durch die innerstaatlich zuständigen Gesetzgebungsorgane Geltung. Die daraus herzuleitenden und strafrechtlich flankierten Gebote oder Verbote verlangen Beachtung. Die unmittelbare Wirkung tritt erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist ein und erst mit diesem Zeitpunkt erhebt das Gemeinschaftsrecht den Vorranganspruch. Dabei will die unmittelbare Wirkung das nationale Recht nicht aufheben, sondern ex nunc seine Anwendung bis zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts oder der Verlängerung der Umsetzungsfrist ausschließen. Diese richtlinienspezifische Wirkung stellt einen Sonderfall dar, der die für eine Analogie erforderliche Vergleichbarkeit der Fälle fraglich werden läßt. Ferner würde das Instrumentarium der Richtlinienverlängerung unterlaufen. Mit dem Begehren, die Umsetzungsfrist zu verlängern, bringt der Mitgliedstaat positiv zum Ausdruck, daß ihm an der Wahrung des alten Rechtszustands für eine Ubergangszeit gelegen ist. Eine analoge Anwendung des § 2 StGB würde genau dieses Begehren konterkarieren. Der gut informierte Rechtsbrecher könnte einen Normverstoß wagen, wenn er denn weiß, daß dem strafrechtlichen Schwert dann, wenn es ihn treffen könnte, die Klinge fehlen wird. b. Eingriff in die Gewalt der Legislative Aber selbst wenn man die Vergleichbarkeit mit dem Argument, daß es nur auf die Tatsache der Straflosigkeit einer Handlung zwischen Tat- und Urteilszeitpunkt ankommt, unterstellt und die begünstigende unmittelbare Wirkung in diesem Sinne als „lex mitior" deuten will, stehen einer analogen Anwendung des § 2 StGB durchgreifende Bedenken entgegen. Es käme zu einem Eingriff in die Gewalt der Legislative.

159

Der Fall der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie birgt schon genug Zündstoff in sich. Denn hier wurde nicht wie in der Parteispendenproblematik die Rechtsmaterie inhaltlich neu geregelt, sondern unter bestimmten Voraussetzungen die innerstaatliche Pflicht zur Erhebung und Abführung der Steuer für bestimmte Gewerbetreibende verdrängt.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Teil des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums ist es, den Ubergang des Rechts auszuformen. Der Gesetzgeber ist grundsätzlich als befugt anzusehen, die Vorschriften einschließlich des Strafschutzes stichtagsbezogen anzupassen und damit die kontinuierliche Verfolgung von Verstößen zu gewährleisten. Auch wenn das Recht nach der Umsetzung milder ist, impliziert das nicht, wie sich der Gesetzgeber zu den Altfallen stellt. Es kann gute Gründe dafür geben, trotz einer Milderung das alte Recht weiterhin auf die Altfälle angewendet zu wissen. Zu denken ist an die bereits erwähnte Einbettung in ein behördliches Kontrollverfahren, das schon als solches Beachtung verdienen kann. Wenn das neue Recht gemeinschaftsweiten und effektiven Kontrollmechanismen unterliegt, kann es vertretbar sein, das materielle Recht milder auszugestalten, ohne daß aus gesetzgeberischer Sicht zugleich das Bedürfnis für die Verfolgung von Verstößen gegen das alte Recht entfällt. Dieser Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der „Altfälle" würde ausgehebelt, wenn die analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB in Frage käme. Die Befugnis des Gesetzgebers, die Verfolgung von Altfällen sicherzustellen, ist unzweifelhaft gegeben und kommt auch in § 2 StGB zum Ausdruck. § 2 Abs. 4 StGB regelt die sogenannten Zeitgesetze und stellt klar, daß in diesem Fall eine Verfolgung von Normverstößen möglich ist, wenn die Verbotsnorm außer Kraft getreten ist. Eine Vorschrift kann von Anfang an als Zeitgesetz angelegt sein oder ihr kann diese Eigenschaft durch einen späteren Rechtsakt verliehen werden. 160 Die Frage, ob Dannecker und Tiedemann als Vertreter einer extensiven Anwendung des Milderungsgedankens den hier unterbreiteten Lösungsvorschlag im Ergebnis teilen, kann nur hypothetisch beantwortet werden, doch mit diesem Vorbehalt ist sie zu bejahen. Schon ihr aus der Anwendung des jüngeren Gesetzes geschöpftes Argument, nach dem der Gesetzgeber durch neues Recht allgemein und regelmäßig auch im strafrechtlichen Kontext im Sinne einer „besseren Rechtserkenntnis" neue Wertmaßstäbe setze,161 greift nicht durch, da der Gesetzgeber sich diese Wertmaßstäbe gerade nicht zueigen gemacht hat. Zudem steht und fällt Danneckers und Tiedemanns Streiten für eine extensive Anwendung des Milderungsgedankens mit der Regelungsbefugnis hinsichtlich der Altfälle. Beide Autoren legen Wert auf die Feststellung, daß es dem Gesetzgeber freistehe, die Verfolgung von Altfallen sicherzustellen. Sie legen mehrfach dar, daß es dem Gesetzgeber grundsätzlich möglich sei, hinsichtlich des Strafschutzes der alten Regelung eine

160

161

Eser in: Schönke-Schröder, § 2 Rn. 37; K. Tiedemann/Dannecker, Die gesetzliche Milderung, S. 30. Differenzierend: Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 499 f. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 228 ff.

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Fortgeltungsanordnung zu treffen. 162 Diese Befugnis des Gesetzgebers ist dieser Lösung immanent. Man stelle sich vor, zwischen dem Ablauf der Umsetzungsfrist und dem Inkrafttreten der Neuregelung, die ausdrücklich eine Fortgeltungsregelung enthält, liegt nur ein Tag. In diesem Fall wäre aufgrund der zwischenzeitlichen Straflosigkeit der parlamentarische Wille in sein Gegenteil verkehrt. 163 Derartige Übergriffe in die legislativen Regelungsbefugnisse dürfen nicht unterschätzt werden, weil die Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht bei den Mitgliedstaaten verblieben ist. Unter diesen Gesichtspunkten überzeugt es grundsätzlich nicht, eine Milderungsvorschrift wie im Fall „Bordessa" anzuwenden, obwohl zum Tatzeitpunkt die Umsetzungsfrist noch lief.164 Im Ergebnis droht sich hier ein „Quasi-Anwendungsvorrang" einzustellen, obwohl das Gemeinschaftsrecht diesen Vorranganspruch nicht erhebt. Der Einfluß der unmittelbaren Wirkung auf das nationale Strafrecht erhielte eine vom Gemeinschaftsrecht nicht gewollte Dimension. Die Verdrängung der Strafnorm würde in eine Zeit katapultiert, in der das Gemeinschaftsrecht das nationale Recht nicht verdrängen wollte. Es leuchtet nicht ein, warum das parlamentarisch legitimierte Strafgesetz rückwirkend verdrängt werden sollte, obwohl das Gemeinschaftsrecht es nicht verdrängen will. Auch diese denkbaren Folgen werden dazu beigetragen haben, warum sich der Gerichtshof so zurückhält, wenn ein nationales Gericht die Milderungsfrage im Zusammenhang mit unmittelbar wirkenden Richtlinien anspricht. Wer die unmittelbare Wirkung gleichwohl vom Milderungsgebot erfaßt wissen will, wird in der Praxis zu kaum nachvollziehbaren Ergebnissen kommen. Richtlinien haben oftmals Rechtsmaterien zum Gegenstand, die dem Wirtschaftsrecht und damit im strafrechtlichem Zusammenhang dem Wirtschaftsstrafrecht zuzu-

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Siehe Dannecker, Abzugsfahigkeit von Parteispenden, S. 110; ders. Das intertemporale Strafrecht, S. 499, aber auch einschränkend S. 450fF.; K. TiedemannlDannecker, Die gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, S. 13 iVm S. 29 a.E. Deutlich wird diese strikte Beachtung des gesetzgeberischen Willens, wenn die Autoren den nach ihrer Meinung nicht zwingend erforderlichen Nachweis erfolgreich führen, daß im Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung des Parteispendenrechts die strafrechtliche Möglichkeit eines Eingreifens des Satzes von der lex mitior gesehen wurde, siehe K. Tiedemannl Dannecker, ebenda, S. 25 mwN. Unabhängig davon, ob man der Auffassung von BVerfGE 81, 132 ff. hinsichtlich eines Verfassungsverstoßes folgt, wäre die zwischenzeitliche Straflosigkeit jedenfalls im Rahmen des § 2 Abs. 3 StGB zu beachten. Für die konkrete Sachentscheidung ist freilich der Vorbehalt zu machen, daß die Milderungsvorschrift dann anzuwenden ist, wenn die besagte Genehmigungspflicht als solche gemeinschaftsrechtswidrig ist, nicht in modifizierter Form aufrechterhalten werden darf und auch eine Fortgeltungsanordnung hinsichtlich des alten Rechts als gemeinschaftsrechtswidrig erscheint.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

ordnen sind. Ein Vergleich der strafrechtlichen Verjährungsfristen und der Umsetzungsfristen von Richtlinien führt die Möglichkeit merkwürdiger Ergebnisse vor Augen. In der Mehrzahl der denkbaren Fälle wird die strafrechtliche Verfolgungsverjährung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre betragen. Diese Frist wird gemäß § 78 c StGB verlängert, wenn die Verjährung unterbrochen wurde. Das kann in den hier fraglichen Fällen, in denen die unmittelbare Wirkung nach der Tat und vor der Entscheidung eintritt, und erst recht in oftmals langwierigen Wirtschaftsstrafsachen der Fall sein. Die Umsetzungsfrist von Richtlinien ist zwar nicht einheitlich, doch sie liegt zumeist in ein - bis dreijährigen Zeiträumen. Wer § 2 Abs. 3 StGB analog angewendet wissen will, könnte damit Fälle erfassen, in denen die Richtlinie zur Tatzeit noch nicht einmal in der Welt war. Es ist kaum zu begründen, warum der erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist erhobene Vorranganspruch sogar bis in eine Zeit rückwirken sollte, zu der es noch nicht einmal die Richtlinie gab. c. Kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 G G Schließlich ist dieser Lösungsweg noch im Lichte des Art. 103 Abs. 2 G G zu überprüfen. Während das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich keine im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG erhebliche Problematik darin erblickt, daß eine Handlung zwischen ihrer Begehung und bis zum Urteilszeitpunkt zwischenzeitlich straflos war und eine entsprechende Verurteilung jedenfalls nicht als Verfassungsverstoß einstuft, 165 sieht die Literatur das teilweise anders.166 Grünwald hat dies wie folgt begründet: Das Gesetzlichkeitsprinzip will sicherstellen, daß Normsetzung und Normanwendung strikt getrennt werden, so daß die Strafbestimmungen aus der Distanz zu geschehenen Taten geschaffen werden. Wenn verhindert werden solle, daß eine Milderung des Strafgesetzes wieder rückgängig gemacht werde, um bereits vor der Milderung begangene Taten doch wieder schärfer ahnden zu können, so müsse die Anwendung des verschärfenden Gesetzes auf diese Taten ausgeschlossen werden. 167 Man kann mit Grünwald einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 G G annehmen, wenn der Gesetzgeber die einmal für straflos erachtete Tat wieder zur Straftat erklärt und es sodann möglich sein soll, diejenigen Täter zu bestrafen, die zur Zeit der Geltung des früheren und sodann außer Kraft getretenen Rechts die Tathandlung begangen haben. Zu leicht schleicht sich hier die Möglichkeit für den Gesetz-

165 166 167

BVerfGE81, 132, 135. Grünwald, Kaufmann-FS, S. 433 ff. Grünwald, Kaufmann-FS, S. 433, 436f.

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geber ein, eine ihm aufgrund der tagespolitischen Diskussion opportun erscheinende Reanimation des Straftatbestandes vorzunehmen. Diese Kritik trifft jedoch auf die vorliegende Problematik nicht zu. Für die Strafgesetzgebung ist der innerstaatliche Gesetzgeber zuständig, der die von Grünwald in seiner Kritik vorausgesetzte Entscheidung zur Aufhebung der Strafdrohung im Fall der unmittelbaren Wirkung gerade nicht getroffen hat. Die Nichtumsetzung spricht dafür, daß der Gesetzgeber den bisherigen, strafbewehrten Zustand „noch" bewahren will. Aufgrund der Vorrangwirkung ist ihm das nicht vollends und nur bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist möglich, doch dieser richtlinienspezifische Effekt resultiert nicht aus einer von Grünwald besorgten wankelmütigen Haltung des Gesetzgebers, denn dieser wurde ja überhaupt nicht tätig.

5. Zwischenergebnis: § 2 Abs. 3 StGB ist auf den Fall der unmittelbaren Wirkung grundsätzlich nicht analog anzuwenden. 6. Sonderfall: Endgültiger Wegfall der Strafbarkeit Rechtstheoretisch ist der Fall denkbar, daß eine Richtlinie nicht nur das „Wie" der Strafbarkeit modifiziert, sondern das „Ob" der Strafbarkeit beseitigt und eine Fortgeltungsanordnung des innerstaatlichen Gesetzgebers gemeinschaftsrechtswidrig wäre.168 In diesem Fall wäre § 2 Abs. 3 StGB analog anzuwenden, auch wenn die Richtlinienvorschrift ihre unmittelbare Wirkung noch nicht im Tatzeitpunkt, sondern erst zur Urteilszeit entfaltet. Da dem Gesetzgeber in einem solchen Fall jedes Ermessen fehlt, kann auch nicht in den Gestaltungsspielraum der Legislative eingegriffen werden.169 In dieser Konstellation kann der Rechtsgedanke des § 2 Abs. 3 StGB, dem Täter eine zwischen Tat und Urteil eingetretene Milderung zugute kommen zu lassen, auf den Fall der unmittelbaren Wirkung uneingeschränkt übertragen werden. Hätte sich der Staat in Erfüllung seiner gemeinschaftsrechtlichen Pflichten rechtstreu verhalten und dem Bürger das neue Recht rechtzeitig gewährt, wäre die Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB evident, denn das umgesetzte Recht wäre als milderes Gesetz zu berücksichtigen. Durch eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB wird dem Bürger mithin lediglich die Rechtsposition eingeräumt, die ihm eine rechtzeitige Umsetzung der Richtlinie zwingend verschafft hätte. Anderenfalls müßte ein Straf-

168 Allgemein zum ius nun puniendi der Gemeinschaft siehe oben 2. Hauptteil E. 169

Praktisch dürfte dieser Fall indes kaum relevant werden, weil mit der gänzlichen - wenn auch verspäteten - Aufhebung des alten Rechts § 2 Abs. 3 StGB direkt zur Anwendung kommt.

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gericht den Schuldspruch auf ein Recht stützen, dessen Abschaffung in Kürze unzweifelhaft bevorsteht. Dieser Konflikt ist zwar auch bei einer rein innerstaatlichen Änderung des Rechts denkbar, wo derjenige, dessen Strafverfahren kurz vor der Aufhebung des alten Rechts mit einer rechtskräftigen Verurteilung abgeschlossen wurde, auf den Gnadenweg angewiesen ist. Doch der Fall der unmittelbaren Wirkung liegt anders. Das strafbarkeitsbegründende Recht ist gemeinschaftsrechtswidrig und hätte mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist aufgehoben werden müssen. Eine Fortgeltungsregelung für das abzuschaffende Recht wäre gemeinschaftsrechtswidrig. Daß es dem Strafgericht noch als geltendes Recht vorliegt, geht einzig und allein auf eine Verletzung der Umsetzungsverpflichtung zurück. Der Mitgliedstaat würde sich in dem Strafprozeß gegen den Bürger mithin diesen Zustand zueigen machen.

VI. Einzelfragen 1. M e t h o d i s c h e s In Anbetracht der regen Aktivitäten der Gemeinschaft wäre es ein nicht endendes Unterfangen, jedes einzelne Rechtsgebiet beleuchten zu wollen, das unter dem Einfluß des Richtlinienrechts steht und sich mit dem Strafrecht verzahnt. Vielmehr gilt es, die sich grundsätzlich ergebenden und damit vor die Klammer der Kasuistik gezogenen Probleme wie die der richtlinienbedingten Pflichtenbegründung oder Milderung zu erkennen und mit einem Lösungsvorschlag zu unterlegen. Wenn nachfolgend gleichwohl einige Einzelfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung im Strafrecht erörtert werden, müssen dabei aus gemeinschaftsrechtlicher und strafrechtlicher Sicht sehr komplexe Rechtsfragen wie die Notifizierung von Richtlinien oder die strafrechtliche Produkthaftung thematisiert werden. Wenn dies geschieht, so geht es nicht darum, den wissenschaftlichen Erkenntnistand eines jeden Problems zu repetieren oder vorhandene Streitfragen zu diskutieren. Vielmehr soll erkundet werden, wo unmittelbar wirkendes Richtlinienrecht in strafrechtliche Grundprobleme einfließt.

2. Die strafrechtliche P r o d u k t h a f t u n g im Lichte der unmittelbaren W i r k u n g Wie bereits dargelegt, können Richtlinien mitunter sehr exakte Vorgaben bis hin zur detaillierten Vorgabe von Grenzwerten an die Hand geben. Diese Werte können im Einzelfall die nach innerstaatlichem Recht zuvor zulässigen Grenzwerte über-

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schreiten. D a s wirft die Frage auf, wie eine richtlinienbedingte Zulässigkeit einer höheren toxischen Belastung eines Produkts auf die strafrechtliche Produktverantwortlichkeit einwirkt. 170 Zugleich bietet es sich an, anläßlich dieser Fallkonstellation auf das in ex-Art. 100 a Abs. 4 EGV vorgesehene Verfahren zur Notifizierung nationalen Rechts hinzuweisen. a. D a s Beispiel des Umweltgiftes PCP 1 7 1 im nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Kontext U m die Thematik aus strafrechtlicher Sicht möglichst konkret zu entfalten, drängt es sich auf, an die Grenzwerte für das Umweltgift PCP anzuknüpfen, 172 das Holzschutzmitteln beigemischt wurde, die sodann Gegenstand strafrechtlicher Produktverantwortlichkeit waren. 173 Die komplizierte Materie soll hier vereinfacht dargestellt werden, 174 da es nicht um die naturwissenschaftlichen Vorfragen, sondern um die strafrechtliche Würdigung des Vorhandenseins unterschiedlicher Grenzwerte geht. Vor diesem Hintergrund läßt sich verkürzt feststellen: G e m ä ß einer Verordnung vom 12. Dezember 1989 sah das deutsche Recht vor, daß dieser Stoff in Produkten nicht einen Wert von 0,01 % überschreiten durfte. 175

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Allgemein zur strafrechtlichen Produktverantwortung und dem Grundsatz des freien Warenverkehrs siehe Rönnau, wistra 1994, 202 ff., der jedoch, siehe ebenda S. 205 Fn. 34, den Bereich der gemeinschaftsweiten Harmonisierung durch Richtlinien ausklammert. PCP = Pentachlorphenol Siehe auch Rönnau, wistra 1994, 203, 205; L.Schulz, Perspektiven der Normativierung, S. 43, 54 Fn. 50. LG Frankfurt, ZUR 1994, 33ff.;näher Kuhlen in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, §4 Rn. 13 mwN. Näher dazu L.Schulz, ZUR 1994, 26; ders. Perspektiven der Normativierung, S. 43, 52 Fn. 40; ferner Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 9f.; zum Verfahrensausgang: LG Frankfurt, NJW 1997, 1994f.; Kuhlen in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 4 Rn. 13. BGBl. 1 1989, 2235. § 1 der Pentachlorphenolverbotsverordnung erfaßte Pentachlorphenol und Pentachlorphenolnatrium (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2) sowie Zubereitungen, die insgesamt mehr als 0,01 vom Hundert dieser Stoffe enthalten (§ 1 Abs. 1 Nr. 3) und Erzeugnisse, die infolge einer Behandlung mit den genannten Stoffen eine Konzentration von mehr als 5 mg/kg enthalten. Der Einfachheit halber wird nachfolgend nur auf den 0,01 %-Grenzwert Bezug genommen. § 2 Abs. 1 der PCP-Verordnung lautete: „Es ist verboten, die in § 1 Abs. 1 genannten Stoffe, Zubereitungen und Erzeugnisse gewerbsmäßig, im Rahmen sonstiger wirtschaftlicher Unternehmungen oder sonst unter Beschäftigung von Arbeitnehmern herzustellen, in den Verkehr zu bringen oder zu verwenden." Die Ausnahmen von diesem Verbot gemäß § 2 Abs. 2 und Abs. 3 der PCP-Verordnung können hier vernachlässigt werden. Die große Dynamik des Gemeinschaftsrechts strahlt auch auf diesen Bereich aus. Nach heutigem Recht finden sich die strafrechtlich relevanten Regelungen der PCP-Verordnung in

302

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

In einer gemäß ex-Art. 100 a Abs. 1 EGV erlassenen EG-Richtlinie wurde ein Grenzwert von 0,1 % festgelegt, womit der deutsche Wert überschritten wurde. 176 Da Deutschland das höhere Schutzniveau beibehalten wollte, wurde das Verfahren nach ex-Art. 100 a Abs. 4 EGV angestrengt. Hierdurch war es dem Mitgliedstaat möglich, strengere Niveaus zu wahren, was im konkreten Fall von der Kommission auch gebilligt wurde. Sie erblickte in der abweichenden Regelung keine unzulässige Diskriminierung oder unangemessene Handelsbeschränkung. 177 b. Grenzwertfestlegungen und unmittelbare Wirkung Unterstellt sei, daß ähnlich der Problematik im Fall „Ratti" eine Abweichung des nationalen Rechts nicht nur hinsichtlich der Kennzeichnung gefährlicher Stoffe, 178 sondern auch bezüglich der Grenzwerte bestand und entsprechende Richtlinien ohne einen Dispens im Sinne des ex-Art. 100 a Abs. 4 EGV in ihrer Umsetzungsfrist abgelaufen waren. Angenommen sei ferner, daß gemäß den Grundsätzen der unmittelbaren Wirkung im Fall „Ratti" es nicht mehr zulässig wäre, denjenigen bußgeldrechtlich oder strafrechtlich nach den spezialgesetzlichen Vorschriften zu verfolgen, der ζ. B. Waren aus einem anderen Mitgliedstaat vertreibt, die in ihrer stofflichen Zusammensetzung die nationalen Grenzwerte überschreiten, jedoch die Werte der in ihrer Umsetzungsfrist abgelaufenen Richtlinie einhalten. Fraglich ist nun, wie sich dieser Fall der unmittelbaren Wirkung zur strafrechtlichen Produkthaftung verhält. Hier gilt es zu differenzieren.

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der sogenannten Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV) vom 14.10.1993, in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.7.1996, BGBl. IS. 1151 (zuletzt geändert durch die Zweite Verordnung chemikalienrechtlicher Verordnungen vom 22.12.1998, BGBl. I S. 3956). Diese Verordnung dient der Umsetzung diverser Richtlinien. § 1 der Verordnung nimmt auf einen Anhang Bezug, dem die verschiedenen Stoffe zu entnehmen sind. Abschnitt 15 des Anhangs enthält die Regelungen über PCP, wobei das deutsche Recht am Grenzwert von 0,01 % festhält. Richtlinie Nr. 91/173/EWG vom 21.3.1991, Abi. Nr. L 85, S. 34. Abi. Nr. C vom 18.12.1992, S. 8; Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 10. Hiergegen hat Frankreich wiederum die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230, ex-Art. 173 EGV erhoben, der Erfolg beschieden war. Siehe EuGH, Urteil vom 17.5.1994, Rs. C-41/93, Urteil vom 24.5.1994, Ε 1994,1-1829, 1841 ff. Um die Übersichtlichkeit zu wahren, wird auf die Notifizierung im Anschluß an die strafrechtliche Produkthaftung eingegangen. Hier nur soviel: Bei der Frage, ab wann das angemeldete strengere Recht zur Anwendung kommen darf, geht der Gerichtshof davon aus, daß bis zur Entscheidung durch die Kommission im Sinne des ex-Art. 100a Abs. 4 EGV strengeres Recht nicht zur Anwendung kommen kann, siehe EuGH, Rs. C-41/93, Urteil vom 24.5.1994, Ε 1994,1-1829, 1849. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629ff.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

303

c. Erhöhung der Schwelle zur unerlaubten Gefahr Beachtung verdient zunächst der Fall, in dem ex post die konkrete Gefährlichkeit eines zuvor abstrakt als gesundheitsgefährdend erkannten und deshalb in seiner Konzentration begrenzten Stoffes an den Tag kommt. Grundsätzlich wird durch eine Anhebung von Grenzwerten die Schwelle zur unerlaubten Gefahr höher angesetzt. Konsumiert oder verwendet der Verbraucher ein entsprechendes Produkt und erleidet er hierdurch einen Gesundheitsschaden, so hat das Konsequenzen für die strafrechtliche Beurteilung. Erweist sich ein Stoff in einer Konzentration, die nach der Richtlinie erlaubt ist, im nachhinein als gesundheitsschädigend, so scheidet eine Verurteilung gemäß § 229 StGB wegen fahrlässiger Körperverletzung aus.179 Bildet man nun einen Fall, bei dem der sich als gesundheitsschädigend entpuppende Stoff dem Produkt in einer Konzentration beigegeben wurde, die nach dem verdrängten innerstaatlichen Recht verboten gewesen wäre, so tritt die Relevanz der Erhöhung der Gefahrschwelle hervor. Jedenfalls dann, wenn die Gesundheitsschädigung bei Einhaltung der niedrigeren Grenzwerte ausgeblieben wäre, kann die außerstrafrechtliche Norm wiederum als Indiz für ein sorgfaltswidriges Verhalten dienen. Das Ergebnis ist selbstredend. Durch höhere Grenzwerte wird der Sorgfaltsmaßstab inhaltlich modifiziert, was auf die strafrechtliche Würdigung des Fahrlässigkeitsdelikts durchschlagen muß. d. Strafrechtliche Produkthaftung Fraglich ist, wie sich diese Erkenntnis zur strafrechtlichen Produkthaftung verhält. In den rechtswissenschaftlich in den letzten Jahren lebhaft diskutierten Fällen war die Ausgangslage stets, daß ein Unternehmen ein den geltenden Vorschriften entsprechendes Produkt herstellte oder in den Verkehr brachte. Diese Handlung war bei isolierter Betrachtung rechtmäßig, weil es entweder keine produktspezifischen Vorschriften gab oder diese eingehalten wurden. In den Produkten befanden sich mithin nicht Substanzen in einer verbotenen Konzentration. Das Problem bestand gerade darin, daß einschlägige Vorschriften fehlten 180 oder trotz deren Beachtung

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Siehe Kuhlen in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 4 Rn. 16, 25 ff. Der Umkehrschluß, daß ein Verstoß gegen die produktspezifische Sondernormierung regelmäßig zur Bejahung der strafrechtlichen Pflichtwidrigkeit führt, kann daraus freilich nicht gezogen werden. Im Fall LG Frankfurt, ZUR 1994, 33ff. galten die erwähnten Grenzwerte für PCP im Tatzeitraum noch nicht.

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4. H a u p t t e i l : Begünstigende unmittelbare W i r k u n g von Richtlinien im Strafrecht

die fraglichen Produkte wie Ledersprays oder Holzschutzmittel beim Verbraucher gesundheitsschädliche Wirkungen hervorriefen. Die ursprüngliche Handlung war als solche erlaubt, also nicht pflichtwidrig.181 Eine von Anfang an unerlaubte Gefahrschaffung in dem Sinne, daß hieraus ein Indiz für einen Sorgfaltsverstoß abzuleiten gewesen wäre, lag nicht vor. Der strafrechtliche Vorwurf knüpfte jedoch auch nicht an ein Überschreiten von Grenzwerten, sondern daran an, daß trotz alarmierender Hinweise182 auf eine toxikologisch bedenkliche Wirkung das jeweilige Produkt weiterhin in den Verkehr gebracht oder nicht zurückgerufen wurde. Der Ansatzpunkt der strafrechtlichen Haftung war das Unterlassen.183 An dieser Stelle wird sodann über unterschiedliche Gesichtspunkte der Unterlassensdogmatik und der Kausalität gestritten. Dem Bundesgerichtshof, der eine Haftung aus Ingerenz bejaht, wird vorgeworfen, den Aspekt vernachlässigt zu haben, daß die Ingerenz ein pflichtwidriges Vorverhalten verlangt,184 wobei die Literatur eher die Begründung als das Ergebnis anficht.185 Jenseits dieser Streitfragen ist für den vorliegenden Zusammenhang hervorzuheben: Die Einhaltung von Grenzwerten kann den Hersteller oder Vertreiber wie im Lederspray-Fall dann nicht exkulpieren, wenn er konkrete Hinweise darauf hat, daß seine Kunden gleichwohl Schaden an ihrer Gesundheit nehmen. Sodann kann

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Im Lederspray-Fall war das Produkt zuvor über Jahre unbeanstandet vertrieben worden, vgl. Kuhlen in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 4 Rn. 32; ders. J Z 1994, 1142, 1146. Ein Auszug aus der Sachverhaltsschilderung in B G H S t 37, 106, 108 f. spricht für sich. Personen, die ein Lederspray angewendet hatten, „bedurften oftmals stationärer Krankenhausbehandlung und kamen in nicht seltenen Fällen wegen ihres lebensbedrohlichen Zustandes zunächst auf die Intensivstation. Die Befunde ergaben regelmäßig Flüssigkeitsansammlungen in den Lungen (Lungenödem)". BGHSt 37, 106, 114 a. E. ff. Die weitergehende H a f t u n g wegen gefährlicher Körperverletzung soll hier keine Berücksichtigung finden. BGHSt 37, 106, 115, 118f. Das Gericht hat die objektive Pflichtwidrigkeit ausreichen lassen, Str., siehe nur Freund, AT, § 6 Rn. 72; nachhaltige Kritik bei Kuhlen, N S t Z 1990, 566, 568. Für die Qualifizierung des Vorverhaltens als pflichtwidrig genügt in diesem Sinne die rechtliche Mißbilligung des Gefährdungserfolgs, Otto, Hirsch-FS, S. 291, 304. Vgl. Kuhlen, N S t Z 1990, 566, 567ff., der seinerseits ein pflichtwidriges Vorverhalten aus einem Unterlassen trotz eingehender Schadensmeldungen ableitet. Hinsichtlich der Rückrufpflicht verzichtet Kuhlen auf ein pflichtwidriges Vorverhalten, siehe Kuhlen in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 4 Rn. 32 ff. Ähnlich Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 140ff., der die Garantenpflicht aus dem Gesichtspunkt der Eröffnung einer Gefahrenquelle herleitet. Auch BeulketBachmann, JuS 1992, 737, 740 verlangen kein pflichtwidriges Vorverhalten; kritisch Schall, Probleme der Zurechnung, S. 99, 109; ferner Brammsen, G A 1993, 97, H i l f . , der eine Rückrufpflicht den Überwachungsgarantenpflichten zuordnet.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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trefflich darüber gestritten werden, o b und wann die strafrechtliche Verantwortung einsetzt, 186 der Kausalitätsnachweis als geführt gelten kann und wen die strafrechtliche Haftung im einzelnen trifft. 187 D a s Fehlen oder das Einhalten von Grenzwerten, also das Erlaubtsein des Vertriebs als solchem, befreit jedoch aus dieser strafrechtlichen Produktverantwortung nicht. U m es anhand eines Parallelbeispiels zum Fall „Ratti" 188 auf den Punkt zu bringen: Soweit ein Produkt gemäß den Vorgaben einer hinsichtlich der Kennzeichnung oder inhaltlichen Zusammensetzung unmittelbar wirkenden Richtlinie vertrieben wird, darf dieser Vertrieb nicht mehr aufgrund der nebenstrafrechtlichen Tatbestände verfolgt werden. 189 Gehen beim Hersteller oder Vertreiber dieses gemeinschaftsrechtskonformen Produkts jedoch Schadensmeldungen ein, so ändert die Gemeinschaftsrechtskonformität des Produkts nicht die strafrechtliche Würdigung und Verantwortlichkeit. e. Ergebnis D i e strafrechtliche Produkthaftung wird durch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte grundsätzlich nicht begrenzt.

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Dafür kann freilich das Richtlinienrecht Bedeutung gewinnen. Das hängt im Einzelfall von der Frage ab, ob es für das konkrete Produkt auf Richtlinien zurückgehende Regelungen wie etwa im Lebensmittelbereich gibt. Fehlen solche speziellen Vorschriften, kann unter den Voraussetzungen des § 2 ProdSG auf das allgemeine Produktsicherheitsrecht zurückgegriffen werden, das auf die Richtlinie 92/59/EWG vom 29.6.1992, Abi. Nr. L 228, S. 24, zurückgeht. Dem von Rönnau, wistra 1994, 203 ff. diskutierten Einfluß des Primärrechts (freier Warenverkehr) auf die strafrechtliche Produkthaftung, kommt dagegen kaum noch praktische Bedeutung zu, weil die speziellen und für einzelne Produkte gemeinschaftsweiten Regelungen über die Verkehrsfähigkeit und Produktsicherheit vorgehen, in diesem Sinne auch Rönnau selbst, ebenda S. 205 Fn. 34. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 8 ff. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629ff. Vgl. die Differenzierung zwischen den nebenstrafrechtlichen und kernstrafrechtlichen Tatbeständen bei Kuhlen in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 4 Rn. 15. Eine Ausnahme wäre davon wiederum zu machen, wenn die strengeren nationalen Vorschriften nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen, da sie das Verfahren nach ex-Art. 100a Abs. 4 EGV durchlaufen haben und weiterhin anwendbar sind.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare W i r k u n g von Richtlinien im Strafrecht

3. Strafrechtliche Rechtsfolgen unterlassener Notifizierungen a. Zur Notifizierung nationalen Rechts Aufmerksamkeit verdient aus strafrechtlicher Sicht auch die sogenannte Notifizierung strengeren nationalen Rechts, das der Mitgliedstaat trotz einer gemeinschaftsweiten Harmonisierung für sein Gebiet wahren oder einführen will. So gibt Art. 95 Abs. 4, ex-Art. 100a Abs. 4 EGV dem Mitgliedstaat die Möglichkeit, unter den dort genannten Voraussetzungen einzelstaatliche Bestimmungen beizubehalten. 190 Art. 95 Abs. 5 EGV erlaubt unter Umständen auch nach einer Harmonisierungsmaßnahme, strengeres nationales Recht einzuführen. Auch Art. 176, ex-Art. 130 t EGV sieht die Notifizierung vor, wenn Mitgliedstaaten strengeres Recht bestehen lassen oder einführen wollen. Der Notifizierung kommt vor allem im Umweltrecht große Bedeutung zu.191 Es handelt sich um eine sehr unübersichtliche und sich dynamisch wandelnde Rechtsmaterie, da die ohnehin schon umstrittenen ex-Art. 100 a Abs. 4 und Abs. 5 EGV 1 9 2 durch den Vertrag von Amsterdam (Art. 95 Abs. 4 bis Abs. 10 EGV ) nochmals geändert und ergänzt wurden. 193 Umso wichtiger ist es, die Funktion dieser Regelungen hervorzuheben. Der Grund für das Notifizierungsverfahren ist Art. 95 Abs. 6 EGV zu entnehmen. Die Kommission überprüft das nationale Recht darauf, ob es ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung und zur verschleierten Beschränkung des Handels darstellt und ob es die Funktionsfahigkeit des Binnenmarktes behindert. 194 Hinter einer nationalen Vorschrift kann sich eben auch ein verkappter Protektionsmus verbergen.195 Wenn die Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Binnenmarkt wollen und dazu der Gemeinschaft im Primärrecht Normgebungsbefugnisse einräumen, müssen

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Siehe auch ex-Art. 118a Abs. 3 EGV und Art. 153 Abs. 5 Satz 1 EGV. Die Regelung in exArt. 100a Abs. 4 E G V war auch das Ergebnis eines europapolitischen Kompromisses. Mitgliedstaaten wie Dänemark und Deutschland sorgten sich angesichts der durch ex-Art. 100a EGV gegebenen Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung um ihr in einigen Harmonisierungsbereichen vorhandenes hohes Schutzniveau. Siehe zusammenfassend Merkt, RabelsZ 61 (1997), 647, 665 mwN. Ausführlicher Überblick zu ex-Art. 100a Abs. 4 und Abs. 5 sowie ex-Art. 130t EGV bei Middeke in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 32. In sekundärrechtlichen Rechtsakten können sich zudem Klauseln finden, die eine Verstärkung der Harmonisierung zulassen, siehe Middeke, ebenda, Rn. 40, 43,97. BardenhewerlPipkorn in: von der Groeben, EU-/EG-Vertrag, Art. 100 a Rn. 123 ff.; Merkt, RabelsZ 61 (1997), 647, 665fif.; Middeke in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 32 Rn. 4ff. jeweils mwN. Mit Blick auf das neue Recht Becker, EuR 1998 (Beiheft 1), 29, 45 f. Gundel, JuS 1999, 1171, 1174 ff. Der darauf ergehende Rechtsakt der Kommission stellt eine Entscheidung dar, siehe E u G H , Urteil vom 17.5.1994, Rs C-41/93, Urteil vom 24.5.1994, Ε 1994,1-1829, 1849. Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1239 a. E. zur technischen Normung.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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sie auch bereit sein, den Weg der Harmonisierung tatsächlich zu gehen. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts könnte ohne diese Kontrolle die Harmonisierung letztlich scheitern, wenn es in das Belieben der Mitgliedstaaten gestellt wäre, strengere Vorschriften beizubehalten oder einzuführen. Die Notifizierung entpuppt sich somit als eine dem Grunde nach sinnvolle Regelung, die sich darum bemüht, auf nationale Bedürfnisse flexibel reagieren zu können. 196 Das dadurch rechtlich und politisch erzeugte Spannungsfeld darf nicht unterschätzt werden. Die erwähnten unterschiedlichen Grenzwerte für das Umweltgift PCP illustrieren das Konfliktpotential. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht führt die schärfere deutsche Regelung zu einer Handelsbeschränkung, da Marktteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten ihre Produkte in Deutschland nur unter strengeren Bedingungen absetzen können. 197 Innerhalb Deutschlands gab es nach den spektakulären Holzschutzmittelverfahren aber allen Anlaß, 198 die Grenzwerte für PCP möglichst niedrig anzusetzen. Dieser sensible gesellschaftspolitische Bezug könnte auch ein Grund dafür gewesen sein, warum die Kommission die abweichende Regelung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht wohlwollend prüfte und nicht als unzulässige Diskriminierung oder unangemessene Handelsbeschränkung ansah. 199 Hinter der zunächst formaljuristisch erscheinenden Notifizierung gemäß Art. 95 Abs. 4 bis Abs. 10 EGV verbirgt sich bei näherem Hinsehen also nicht nur ein rechtlich schwieriges, sondern auch für den zukünftigen Zusammenhalt des Binnenmarktes wichtiges Instrument. Die strafrechtlichen Probleme deuten sich an, wenn man das Urteil des Gerichtshofs zum deutschen PCP-Verbot näher betrachtet. Nachdem der Gerichtshof Sinn und Zweck des Art. 100a Abs. 4 EGV erläutert hat, heißt es dort: 200

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Man könnte angesichts der Notifizierungsbefugnisse der Kommission Bedenken hegen, da auf diesem Weg möglicherweise auch innerstaatliche Parlamentsgesetze durch eine nicht unmittelbar demokratisch legitimierte Instanz gebilligt werden müssen. Dieses Argument trägt jedoch nicht. Schon aus den der Gemeinschaft verliehenen Normgebungsbefugnissen folgt dem Grunde nach die mitgliedstaatliche Pflicht, dagegen keine widerstreitenden Vorschriften ins Feld zu führen. Daher waren auch die in früheren Jahren in Sekundärrechtsakten vorgesehenen Meldepflichten für nationales Recht ein sinnvolles Element gemeinschaftsweiter Harmonisierungsvorhaben. Jedenfalls durch die primärrechtlichen Regelungen über die Notifizierung kommt klar zum Ausdruck, daß diese Rechte nicht einseitig vom Gemeinschaftsrecht her beansprucht werden, sondern auf dem Willen der Mitgliedstaaten beruhen. Middeke, Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, S. 10. Siehe nur die Schilderung der Vor- und Prozeßgeschichte des Frankfurter Holzschutzmittelverfahrens bei L. Schulz, ZUR 1994, 26f.; ders. Perspektiven der Normativierung, S. 43, 52 Fn. 40 und 41. Abi. Nr. C vom 18.12.1992, S. 8. EuGH, Rs. C-41/93, Urteil vom 24.5.1994, Ε 1994,1-1829, 1849.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht „Ein Mitgliedstaat ist daher erst dann befugt, die mitgeteilten einzelstaatlichen Bestimmungen anzuwenden, wenn er von der Kommission eine Entscheidung über ihre Bestätigung erhalten hat."

Die europarechtliche Literatur mißt der Entscheidung der Kommission infolge des PCP-Urteils des Gerichtshofs konstitutive und nicht nur deklaratorische Wirkung bei,201 wobei dieser Punkt aber als umstritten bezeichnet werden muß.202 Der neue Art. 95 EGV ist insoweit klarer formuliert, da sich in Art. 95 Abs. 6 und Abs. 7 EGV Begriffe wie „billigen" oder „gestatten" finden, die schon nach ihrem Wortsinn für eine konstitutive Wirkung der Bestätigung sprechen.203 Mit diesem Hinweis auf das Recht der Notifizierung kann es hier sein Bewenden haben. Die Einzelheiten und Streitfragen sind nicht vertiefend zu würdigen, denn die Frage, ob eine strengere Vorschrift des nationalen Rechts wirksam notifiziert wurde, beurteilt sich nach dem Gemeinschaftsrecht.204 Es handelt sich um ein dem Strafrecht vorgelagertes Rechtsproblem, zu dem sich das Strafrecht akzessorisch verhält. Hier ist mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs davon auszugehen, daß strengeres nationales Recht bis zur Bestätigung durch die Kommission nicht angewendet werden kann.205 Das muß erst recht gelten, wenn der Mitgliedstaat es unterläßt, der Kommission die entsprechenden Normen des innerstaatlichen Rechts mitzuteilen.206

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BardenhewerlPipkorn in: von der Groeben, EU-/EG-Vertrag, Art. 100a Rn. 132; aus strafrechtlicher Sicht ebenso L.Schulz, Perspektiven der Normativierung, S. 43, 54 Fn. 50; kritsch Schmitz, Umweltunion, S. 242 ff. Siehe Middeke in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 32 Rn. 35 mwN. Gundel, JuS 1999, 1171, 1174. Auf einen Punkt ist jedoch hinzuweisen, da er bei einem Verweis einer Strafnorm auf ein Blankett, das als strengeres Recht geschaffen wurde, problematisch werden kann: Die Streitfrage, ob der Begriff „anzuwenden" in ex-Art. 100a Abs. 4 EGV nur bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist vorhandenes nationales Recht meint oder auch spätere Vorschriften umfaßt, siehe zusammenfassend Himmelmann, EG-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, S. 171 f. mwN, stellt sich nach neuem Recht so nicht mehr, weil Art. 95 Abs. 4 EGV den Fall der Wahrung nationalen Rechts und Art. 95 Abs. 5 EGV den Fall der späteren Einführung ausdrücklich regeln. Soweit der Mitgliedstaat das strengere Recht anmeldet, aber die Kommission nicht reagiert, steht das gemäß Art. 95 Abs. 6 EGV der Anwendbarkeit des nationalen Rechts nicht - mehr entgegen. Die anderslautende Entscheidung EuGH, Urteil vom 1.6.1999, Rs. C-319/97, EuZW 1999, 476ff, die trotz Untätigkeit der Kommission von der unmittelbaren Wirkung ausgeht, betrifft den alten Rechtszustand. Näher Middeke in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 32 Rn. 35.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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b. Das strafrechtliche Problem Den für das Strafrecht neuralgischen Punkt bildet die Verzahnung mit Normen, die aufgrund unwirksamer oder unterlassener Notifizierung unanwendbar sind. Die Unanwendbarkeit kann unmittelbar auf das Strafrecht durchschlagen. Dabei handelt es sich keineswegs um ein rechtstheoretisches, sondern um ein praktisches Problem. Der Beweis ist leicht zu führen, denn § 3 der deutschen PCP-Rechtsverordnung verwies auf § 27 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 bis 4 des Chemikaliengesetzes, also auf ein Strafgesetz und bewehrte einschlägige Verstöße mit Strafe. 207 Daraus ergibt sich einmal mehr die Frage, ob und inwieweit das innerstaatliche Recht unanwendbar wird. Neben der Kompetenzfrage handelt es sich bei dem Vorrangthema um eine immer wiederkehrende Schlüsselfrage in der Ausdeutung des Richtlinienrechts zum Strafrecht. Würde die Strafnorm infolge der unterlassenen Notifizierung überhaupt unanwendbar, käme das auch demjenigen Täter zugute, der das nationale Recht und das Gemeinschaftsrecht mißachtet. 208 Gerade derartige Sachverhalte beschäftigen jedoch die Strafverfolgungsbehörden. Die rechtstatsächliche Brisanz bergen weniger die Fälle, in denen der Täter ein Produkt in den Verkehr bringt, dessen toxische Belastung zwischen den unterschiedlichen Grenzwerten liegt. c. Lösungsvorschlag Zur Lösung kann die Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Fällen „Ratti" und „Lemmens" in einer Gesamtschau herangezogen werden. Im Fall „Ratti" hatte der Gerichtshof die für den Täter günstige unmittelbare Wirkung davon abhängig gemacht, daß die Kennzeichnungsvorschriften der Richtlinie beachtet wurden. 209 Derjenige Täter, der das Produkt sowohl unter Miß207

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209

§ 3 der PCP-Verbotsverordnung lautete: „Nach § 27 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 bis 4 des Chemikaliengesetzes wird bestraft, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 2 Abs. 1, die in § 1 Abs. 1 genannten Stoffe, Zubereitungen oder Erzeugnisse herstellt, in den Verkehr bringt oder verwendet." Nach neuer Rechtslage stellen § § 1 , 2 der ChemVerbotsV bestimmte Verbote für das Inverkehrbringen von Stoffen und Zubereitungen auf, die im Anhang der Verordnung genannt sind. § 8 der ChemVerbotsV nimmt auf diese Verbote Bezug und verweist auf den Straftatbestand des § 27 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 bis 4 Chemikaliengesetz. Auf die Ordnungswidrigkeiten (§ 7 ChemVerbotsV) sei hier nur hingewiesen. Um es anhand des PCP-Beispiels auf den Punkt zu bringen: Fraglich ist, ob eine Strafnorm wie § 27 ChemG in Verbindung mit § § 1 , 3 der PCP-Verordnung infolge einer unterlassenen oder sonst unwirksamen Notifizierung auch dann unanwendbar wird, wenn der Täter Produkte in den Verkehr bringt, deren Belastung mit PCP die nach beiden Rechtslagen zulässigen Grenzwerte (also maximal 0,1 %) um ein Vielfaches übersteigt. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1642.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

achtung des nationalen Rechts als auch des Gemeinschaftsrechts vertreibt, kann sich daher nicht auf die Richtlinienvorschriften berufen. Übertragt man diesen Rechtsgedanken auf das Beispiel der PCP-Grenzwerte, so muß der Täter die der Richtlinie zu entnehmenden Grenzwerte eingehalten haben. Allerdings tritt hier das Problem der unterlassenen oder unwirksamen Notifizierung unter Verstoß gegen die primärrechtlichen Mitteilungspflichten hinzu. Insoweit ist aber zu bedenken, daß es den Notifizierungsverfahren ähnliche Kontrollen nationalen Rechts durch die Kommission bereits zuvor gab. Eine derartige Klausel fand sich auch im Art. 9 der für den Fall „Ratti" einschlägigen Kennzeichnungsrichtlinie.210 Für den Gerichtshof war das kein Anlaß, die italienischen Vorschriften pauschal als unanwendbar anzusehen, sondern er sah diese Rechtsfolge nur für die Fälle vor, in denen der Täter die Regelungen der Richtlinie beachtet hatte. Soweit ein Mitgliedstaat es also z.B. unterläßt, strengere Vorschriften gemäß Art. 95 Abs. 4 EGV mitzuteilen, wird man dieses Unterlassen gemeinschaftsrechtlich zwar als eine Verletzung der Pflichten aus dem Vertrag zu behandeln haben. 2 " Ob das nationale Recht aber unanwendbar wird, ist eine davon zu trennende Frage, die sich aus der Lehre vom Anwendungsvorrang beantwortet. Grundsätzlich geht die Unanwendbarkeit so weit, wie das nationale Recht mit dem Gemeinschaftsrecht in einem konkreten Einzelfall im Widerspruch steht. Um es am Beispiel des PCP-Verbots deutlich zu machen: Einen Gegensatz von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht gibt es nur, soweit es um eine Ware geht, deren toxische Belastung zwischen den unterschiedlichen Grenzwerten von 0,01 % und 0,1 % liegt. Falls ein Erzeugnis in seiner stofflichen Zusammensetzung auch den gemeinschaftsrechtlich zulässigen Maximalwert von 0,1 % übersteigt, gibt es keinen Widerspruch zwischen nationalem Recht und Richtlinienrecht und der Täter kann strafrechtlich verfolgt werden. Der Fall „Lemmens" stützt dieses Ergebnis.212 Dort relativiert der Gerichtshof im strafrechtlichem Zusammenhang seine pauschale Aussage über die Unanwendbarkeit nicht angemeldeter Vorschriften aus dem Fall „CIA Security International SA",213 indem er die Unanwendbarkeit der nicht angemeldeten Norm vom jeweiligen rechtlichen Zusammenhang abhängig macht und die Funktion der Meldepflicht zum Schutz des Handels hervorhebt. Dieser Gedanke trägt auch hier, denn im Wege der Notifizierung sollen die durch strengere Normen hervorgerufenen nationalen Handelsbeschränkungen von grundsätzlich gemeinschaftsrechtlich verkehrsfähigen

210 211 212 213

Siehe dazu EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629, 1644. Middeke in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 32 Rn. 30. EuGH, Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-226/97, Ε 1998, 1-3711 ff. EuGH, Urteil vom 30.4.1996, Rs. C-194/94, Ε 1996,1-2201, 2248.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

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Waren kontrolliert werden können. Der Vertrieb einer Ware, die in ihrer stofflichen Zusammensetzung den gemeinschaftsrechtlich zulässigen PCP-Grenzwert übersteigt, verstößt aber nicht nur gegen das nationale Recht, sondern auch gegen das Richtlinienrecht und ist schon gemeinschaftsrechtlich nicht verkehrsfähig. Dann ist es konsequent, eine Unanwendbarkeit der Strafnorm infolge fehlender Notifizierung auf die Fälle zu beschränken, in denen sich der Täter richtlinienkonform verhalten, also die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten hat.

4. Verwaltungsakzessorische S t r a f t a t b e s t ä n d e Wenn die Gemeinschaft das Umweltrecht mittels Richtlinien harmonisiert, führt das aus strafrechtlicher Sicht auch zu dem Thema der Verwaltungsakzessorietät. 214 Nach vorherrschender Meinung kommt es für die Strafbarkeit des Täters nicht entscheidend darauf an, ob seine Handlung materiellrechtlich rechtmäßig war, sondern es ist ausschlaggebend, ob sie sich im Rahmen dessen bewegt, was die Verwaltungsbehörde erlaubt hat. 215 Dieser Grundsatz könnte im Lichte des Gemeinschaftsrechts und hier speziell der begünstigenden unmittelbaren Wirkung von Richtlinien durchbrochen werden, wenn Ausführungen des Gerichtshofs, die er im Zusammenhang mit der Strafbewehrung verwaltungsrechtlicher Pflichten gemacht hat, auf das Umweltstrafrecht zu übertragen wären. a. Der Fall „Pieck" Um deutlich zu machen, welche Aussagen des Gerichtshofs konkret gemeint sind, sei der Fall „Pieck" ausgewählt. Dazu ist eingangs klarzustellen: Diese Entscheidung betrifft die Freizügigkeit und widmet sich nicht dem Umweltrecht und damit auch nicht dem Problem der Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts. Sie dient hier lediglich dazu, einige Aussagen des Gerichtshofs zur Strafbewehrung verwaltungsrechtlicher Pflichten gedanklich zu erschließen, die aus strafrechtlicher Sicht mit dem Thema der Verwaltungsakzessorietät in Verbindung gebracht werden könnten. Der niederländische Staatsangehörige Pieck arbeitete seit Dezember 1977 in einer Londoner Druckerei. 216 Im Juli 1978 verließ er das Vereinigte Königreich für 214

215

216

Vgl. zunächst die Problementwicklung am Beispiel des § 324 StGB oben 1.Hauptteil D. VII. 1. und 2. BGHSt 23,86, 91 ff.; R. Breuer, JZ 1994,1077,1084f.; Cramer in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 324ff. 16c mwN zum Streitstand. Sachverhaltsschilderung nach: EuGH, Urteil vom 3. 7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171 ff.

312

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

einige Tage. Bei seiner erneuten Einreise trug die Einwanderungsbehörde den Vermerk „given leave to enter the United Kingdom for six months" ein, der auf einer ausländerrechtlichen Vorschrift beruhte. 217 In der Folgezeit lief die sechsmonatige Frist ab und Herr Pieck verblieb in London, ohne der Empfehlung einer Behörde, einen Antrag auf weiteren Aufenthalt an das Innenministerium zu senden, gefolgt zu sein. Im Mai 1979 wurde er von einem Polizeibeamten kontrolliert und am gleichen Tag wegen des Verstoßes gegen eine ausländerrechtliche Vorschrift angeklagt. 218 Vor Gericht erklärte sich Herr Pieck für nicht schuldig und berief sich auf die primärrechtlichen Regelungen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Richtlinie 68/360 219 . Das erkennende Gericht legte dem Gerichtshof daraufhin drei Fragen zur Vorabentscheidung vor, wobei hier die Kombination der zweiten und dritten Frage von Interesse ist. Mit der zweiten Frage wollte das Gericht wissen, ob es mit den durch das Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Rechten vereinbar sei, wenn ein Mitgliedstaat einem EWG-Angehörigen bei der Einreise in sein Hoheitsgebiet eine anfängliche, auf sechs Monate befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die dritte Frage zielt sodann auf den strafrechtlichen Kontext. Das Gericht fragte, ob eine Rechtsverletzung, die darin besteht, daß nach Ablauf der sechsmonatigen Aufenthaltserlaubnis keine Verlängerung beantragt wurde, bei Verbleib mit Maßnahmen bestraft werden kann, die Freiheitsstrafen einschließen. Der Gerichtshof legte zunächst dar, daß ein Mitgliedstaat von einer unter dem Schutz des Gemeinschaftsrechts stehenden Person keine allgemeine Aufenthaltserlaubnis, sondern nur die in Art. 4 der Richtlinie 68/360 vorgesehene und deklaratorisch wirkende Aufenthaltsbescheinigung verlangen dürfe, 220 wobei er sich in der Sache auf die Beantwortung einer inhaltlich nahezu deckungsgleichen Vorlagefrage des Amtsgerichts Reutlingen beziehen konnte, die ebenfalls aus einem Strafverfahren hervorging. 221 Die Beantwortung der dritten Frage verdient unter

217

2,8

219 220 221

Die Vorschrift lautete: „Wird einem EWG-Angehörigen die Einreise erlaubt, so ist seine Beschäftigung im Vereinigten Königreich nicht zu beschränken. In der Regel soll er für sechs Monate zugelassen werden; ausgenommen sind zurückkehrende Aufenthaltsberechtigte oder Inhaber einer gültigen Aufenthaltserlaubnis." Die einschlägige Vorschrift lautete in den hier bedeutenden Passagen: „Eine Person (...) kann im summarischen Verfahren mit einer Geldstrafe (...) und mit einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit einer dieser Strafen bestraft werden, wenn sie (...) nur eine befristete Einreise- oder Aufenthaltserlaubnis hat und vorsätzlich (...) die in der Erlaubnis gesetzte Frist überzieht." Vom 15. 10.1968, Abi. Nr. L 257, S. 13. EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2186. EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, Ε 1977, 1495 ff.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

313

dem Aspekt der Verwaltungsakzessorietät besondere Beachtung. Der Gerichtshof führt aus: „In der dritten Frage geht es darum, ob ein Gemeinschaftsangehöriger, der nach Ablauf des in der Aufenthaltserlaubnis festgesetzten Zeitraums in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verblieben ist, dort mit Maßnahmen bestraft werden kann, die Freiheitsstrafe (...) einschließen. In dem oben erwähnten Urteil vom 14. Juli 1977 hat der Gerichtshof bereits entschieden, daß die Verhängung von Strafsanktionen (...) ausgeschlossen ist, soweit eine von den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts geschützte Person innerstaatlichen Vorschriften nicht nachkommt, die für eine solche Person den Besitz einer allgemeinen Aufenthaltserlaubnis statt der in der Richtlinie 68/360 vorgesehenen Bescheinigung vorschreiben, da die innerstaatlichen Stellen wegen der Nichtbeachtung einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Vorschrift keine Sanktionen verhängen dürfen."222

Der Gerichtshof nimmt sogleich auch noch Stellung zu der Frage, ob eine Freiheitsstrafe zulässig wäre, wenn es ein Gemeinschaftsangehöriger unterläßt, die deklaratorische Aufenthaltserlaubnis einzuholen. Was Sanktionen wie Geld- oder Freiheitsstrafen anbelange, seien die innerstaatlichen Stellen zwar befugt, für Verstöße gegen Vorschriften über die Aufenthaltserlaubnis Sanktionen zu verhängen, die denen entsprechen, die bei geringfügigen Vergehen von Inländern gelten. Danach ist es aber unzulässig, hieran Sanktionen zu knüpfen, die gegenüber der Schwere des Vergehens so unverhältnismäßig sind, daß sie zum Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer werden. Dies wäre insbesondere der Fall, wenn eine derartige Sanktion auch Freiheitsstrafen umfassen würde. 223 b. Denkbare Probleme bei verwaltungsakzessorischen Tatbeständen Der Fall „Pieck" veranschaulicht zunächst einmal mehr die Grenzen, die das Gemeinschaftsrecht auch dem Strafrecht zieht. 224 Im Zusammenhang mit der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts interessieren zwei Urteilspassagen. 225 Einmal ist es die Aussage, nach der die innerstaatlichen Stellen wegen der Nichtbeachtung einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Vorschrift keine Sanktionen verhängen dürfen. Zum anderen geht es um die Verhängung von Sanktionen bei bloßen Formal verstoßen. Dabei könnte an Fälle zu denken sein, in denen der Täter tatbestandsmäßige und außerhalb einer behördlichen Erlaubnis liegende

222 223 224 225

EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2186. EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2187. Ausführlich oben 2. Hauptteil E. EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2186 f.

314

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Emissionen verursacht, die jedoch gemäß unmittelbar wirkender Richtlinieninhalte als erlaubnisfähig einzustufen wären. Mit anderen Worten: Fraglich ist, ob der Strafrichter noch verurteilen darf, wenn ein materiell gemeinschaftsrechtswidrig belastender Verwaltungsakt, etwa in Gestalt der Untersagung oder Auflage im Umweltrecht, über die Strafbarkeit entscheidet. Für den Fall der unmittelbaren Wirkung wäre ζ. B. zu prüfen, ob die Bestrafung noch zulässig ist, wenn der Verwaltungsakt im Lichte der unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalte als rechtswidrig einzustufen ist und sich der Täter unter Berücksichtigung der unmittelbaren Wirkung materiell rechtmäßig verhält. In dem Bereich eines erlaubnispflichtigen Handelns wird fraglich, ob für den Fall einer begünstigenden unmittelbaren Wirkung der Grundsatz aufrechterhalten bleiben kann, daß sich die Frage nach der Strafbarkeit des Täters nicht daran ausrichtet, ob seine Handlung materiellrechtlich rechtmäßig war, sondern danach zu beurteilen ist, ob sie sich im Rahmen dessen bewegt, was die Verwaltungsbehörde erlaubt hat. Die Problematik birgt allerdings hypothetische Züge. Obwohl das Institut der unmittelbaren Wirkung im europäischen Umweltrecht eine bedeutende Rolle spielt,226 sind derartige Probleme der Einwirkung des Richtlinienrechts auf das nationale Umweltstrafrecht bisher kaum diskutiert worden. 227 Das dürfte seinen Grund in der allgemeinen Ausrichtung der Umweltpolitik der Gemeinschaft finden, die ein allgemein hohes Schutzniveau anstrebt. 228 Die Richtlinien gaben den Mitgliedstaaten zudem schon vor der Einfügung der ex-Artt. 130 r ff. EGV oftmals ausdrücklich die Möglichkeit, schärfere Bestimmungen im Bereich des Umweltrechts zu erlassen. 229 Die aus strafrechtlicher Sicht für den Fall der unmittelbaren Wirkung interessante Fallkonstellation, in der sich der Täter eines Umweltdelikts auf eine unmittelbar wirkende und ihn begünstigende Vorschrift einer Richtlinie stützen kann, die ihn im Vergleich zum nationalen Recht ζ. B. zu einem „Mehr" an Schadstoffemission berechtigt, ist zumindest in der umweltstrafrechtlichen Praxis offenbar noch nicht aufgetreten. Das PCP-Beispiel zeigt jedoch, wie es zur Unanwendbarkeit strengeren nationalen Rechts kommen kann, obwohl es sich die Gemeinschaft zum Ziel gesetzt hat, ein hohes Schutzniveau anzustreben und gemeinschaftsrechtlich die grundsätzliche 226

Statt vieler: Gellermann, Beeinflussung, S. 125 ff. Der in BGHSt 43, 219ff. wiedergegebene Revisionsvortrag streift das Problem, ohne daß es thematisiert wird. 228 Vgl p i e p e r j n: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2817ff. Siehe im einzelnen Art. 174fT., ex-Art. 130rff. EGV. 229 Siehe z.B. Art. 19 der Grundwasserrichtlinie 80/68/EWG vom 17. 12.1979, Abi. Nr. L 20, S.43ff. vgl. auch Middeke in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 32 Rn. 6. 227

C. Strafrechtliche G r u n d f r a g e n der begünstigenden unmittelbaren W i r k u n g

315

M ö g l i c h k e i t z u m n a t i o n a l e n A l l e i n g a n g besteht. D i e S c h u t z m a ß n a h m e n m ü s s e n e b e n g e m ä ß Art. 176, e x - A r t . 130 t E G V m i t d e m Vertrag vereinbar sein u n d d a z u g e h ö r t a u c h der freie Warenverkehr, den u m w e l t r e c h t l i c h e N o r m e n v o r allem d a n n b e h i n d e r n k ö n n e n , w e n n sie sich a u f P r o d u k t e beziehen. 2 3 0 D i e u m w e l t s t r a f r e c h t liche R e l e v a n z der a u f g e w o r f e n e n F r a g e n ist m i t h i n für die P r a x i s z w a r als eher gering e i n z u s c h ä t z e n , j e d o c h nicht völlig v o n der H a n d z u w e i s e n . c.

Lösungsvorschlag

D e m B e g r i f f s p a a r v o n der V e r w a l t u n g s r e c h t s a k z e s s o r i t ä t u n d der V e r w a l t u n g s a k t s a k z e s s o r i e t ä t k o m m t für d i e A n a l y s e d e s P r o b l e m s g r o ß e B e d e u t u n g zu. 2 3 1 Sie teilen d a s für sich betrachtet u n v e r b i n d l i c h e S c h l a g w o r t v o n der V e r w a l t u n g s a k z e s s o r i e t ä t in zwei S e g m e n t e a u f u n d f ü h r e n z u einer inhaltlich sinnvollen D i f f e renzierung. 2 3 2 D i e V e r w a l t u n g s r e c h t s a k z e s s o r i t ä t u m s c h r e i b t eine a l l g e m e i n e A b h ä n g i g k e i t d e s Strafrechts v o n v e r w a l t u n g s r e c h t l i c h e n Vorschriften. 2 3 3 D i e S t r a f n o r m verweist a u f N o r m e n d e s Verwaltungsrechts, die d a s v e r b o t e n e Verhalten g a n z o d e r teilweise umschreiben.234

230

231 232

233 234

In Einzelfallen kann durchaus fraglich sein, welche Vorschriften des Primärrechts (Umweltrecht oder Binnenmarktregelungen) als Rechtsgrundlage anzusehen sind. Siehe dazu den vor dem Gerichtshof ausgetragenen Streit zwischen der Kommission und dem Rat im Fall „Titandioxid", E u G H , Urteil vom 11.6.1991, Rs. C-300/89, Ε 1991,1-2867fif.;Überblick zu den Abgrenzungsproblemen bei Pieper in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2827; Oppermann Europarecht, Rn. 2018. Ruh/, JuS 1999, 520 f.; Schall, N J W 1990, 1263, 1265 f.; Seelmann, N J W 1990, 1257, 1259 f. Man kann mit M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, S. 196, 202, anzweifeln, ob es zweckmäßig ist, überhaupt den Begriff der Akzessorietät in diesem Zusammenhang zu verwenden. Schon in der Terminologie schwingt die Behauptung einer feststehenden und lediglich erklärungsbedürftigen Abhängigkeit des Strafrechts vom Verwaltungsrecht mit. Das ist unglücklich, weil diese Abhängigkeit ja gerade umstritten ist und das gesamte Thema einem Oberbegriff unterstellt wird, der schon in eine bestimmte Richtung weist. Das gilt insbesondere für das Strafrecht, wo mit dem Begriff der Akzessorietät in der Teilnahmelehre bei §§ 26, 27 StGB terminologisch zutreffend keine streitige, sondern im Gesetz angelegte Abhängigkeit von Anstiftung und Beihilfe zur Haupttat umschrieben wird. Nachfolgend finden die Begriffe der Verwaltungsakzessorietät, Verwaltungsrechtsakzessorietät und Verwaltungsaktsakzessorietät gleichwohl Eingang, weil es nur darum geht, o b und inwieweit das Problem durch das Gemeinschaftsrecht angereichert wird. D a f ü r ist es angezeigt, auf die vorhandene Terminologie zurückzugreifen und hier nur auf M. Schröders Kritik hinzuweisen. Schall, N J W 1990, 1263, 1265. Vgl. R. Breuer, JZ 1994, 1077, 1083; Kühl, Lackner-FS, S. 815, 824 fT.; Rogall, G A 1995, 299, 302f.; Rühl, JuS 1999, 520, 522.

316

4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Die Verwaltungsaktsakzessorietät meint eine Bindung des Strafrichters an Einzelfallentscheidungen (Verwaltungsakte) der Behörden. 235 Dieser Unterfall der Verwaltungsakzessorietät birgt den eigentlichen Zündstoff, der die wissenschaftliche Diskussion immer wieder aufflackern läßt. 236 Die Frage, inwieweit unmittelbar wirkendes Richtlinienrecht die Verwaltungsakzessorietät beeinflußt, ist hinsichtlich der Verwaltungsrechtsakzessorietät eindeutig zu beantworten. Der Strafrichter orientiert sich in diesen Fällen an der verwaltungsrechtlichen Rechtslage. Die verwaltungsrechtliche Norm wird aber durch das Gemeinschaftsrecht in ihrer Anwendbarkeit zugunsten des Täters modifiziert. Soweit dieser Richtlinieneinfluß im Einzelfall reicht, hat das Strafrecht daran teil. Komplizierter liegen die Fälle der Verwaltungsaktsakzessorietät. Denkt man den Ansatz der vorherrschenden Meinung konsequent zu Ende, wäre ein richtlinienbedingt erlaubnisfahiges Verhalten zu bestrafen. Allerdings gibt dieser Umstand keinen Anlaß, die Verwaltungsaktsakzessorietät vom Gemeinschaftsrecht her aus den Angeln zu heben. Auch wenn sich der Gerichtshof zu diesen Fragen bisher nicht geäußert hat, ergeben sich aus einer Gesamtschau seiner Rechtsprechung gute Argumente dafür, daß es dem Gemeinschaftsrecht nicht widerspricht, die Strafbarkeit des Täters von einem Verwaltungsakt abhängig zu machen und somit letztlich auch bei gemeinschaftsrechtlich materiell rechtmäßigen Handlungen anzunehmen. Das erste Argument folgt aus Entscheidungen, in denen der Gerichtshof wie im Fall „Pieck" eine strafrechtliche Sanktion untersagt.237 Diese Fälle kennzeichnet eine im Lichte der Grundfreiheit der Freizügigkeit zweifelhafte Ungleichbehandlung von Bürgern des Mitgliedstaats und EG-Ausländern. Der Gerichtshof versagt den Mitgliedstaaten in diesen Urteilen ja nicht, Bevölkerungsströme aufenthaltsrechtlich zu kontrollieren und den Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften zu sanktionieren. Die Rechtsfolgen müssen aber in einem angemessenen Verhältnis zum Tatvorwurf stehen und der Gerichtshof zieht einen durchaus überzeugenden Vergleich zu den Sanktionen, die für einen Verstoß gegen Meldevorschriften durch Inländer gelten.238 Überzeugend deshalb, weil durch diese Parallele zwei Fallgruppen hinsichtlich der Rechtsfolgen gleichbehandelt werden, in denen dem Täter das Aufenthaltsrecht dem Grunde nach zusteht. Eine unter diesem Gesichtspunkt nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung des EG-Bürgers kann zur Unanwendbarkeit des Strafrechts führen. Daraus kann aber für das Problem der Verwaltungsaktsakzessorietät kein Argument gezogen 235 236

237

238

Kühl, Lackner-FS, S. 815, 834ff.; Ragall, GA 1995, 299, 303; Rühl, JuS 1999, 520, 522. DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 20ff.; Perschke, wistra 1996, 161, 163 ff; jeweils mwN. EuGH, Urteil vom 7.7.1976, Rs. 118/75, Ε 1976, 1185ff; EuGH, Urteil vom 3.7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171 ff; siehe ferner oben 2. Hauptteil E. EuGH, Urteil vom 3. 7.1980, Rs. 157/79, Ε 1980, 2171, 2187.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

317

werden, weil die einschlägigen Tatbestände des Umweltstrafrechts keine derart diskriminierenden Unterschiede enthalten. Auf etwaige Unterschiede in den Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten untereinander 239 kommt es insoweit nicht an.240 Das zweite Argument folgt daraus, daß es der Gerichtshof allgemein nicht beanstandet, wenn das nationale Recht einen Verstoß gegen eine Genehmigungspflicht strafrechtlich bewehrt. Im Fall „Leifer", der von einer Strafkammer am Landgericht Darmstadt zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, ging es auch um die Strafbewehrung einer Genehmigungspflicht. Diese betraf die Ausfuhr sogenannter „dual-use" Waren. Diese lassen sich allgemein als Gegenstände definieren, die möglicherweise auch militärisch genutzt werden könnten. 241 Ungeachtet der Besonderheiten des Einzelfalles und der Unterschiede zwischen der Umweltpolitik und der gemeinsamen Handelspolitik finden sich in diesem Urteil allgemein interessierende Ausführungen des Gerichtshofs zur Strafbewehrung von Genehmigungen. Das Urteil untersucht eingangs die Genehmigungspflicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht, was im Ergebnis bejaht wird. 242 Der Gerichtshof nimmt sodann zur Strafbewehrung des Genehmigungsverfahrens Stellung und leitet diese Urteilspassage wie folgt ein: „Mit seiner Frage (...) möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten die Nichteinhaltung des Genehmigungsverfahrens strafrechtlich ahnden können." 241

Diese Formulierung ist weit gefaßt und hätte Gelegenheit gegeben, den Fall von strafrechtlichen Sanktionen auszunehmen, in dem sich herausstellt, daß die Waren ausschließlich zivilen Zwecken dienten. Diesen Fall nimmt der Gerichtshof aber gerade nicht aus: „Die Möglichkeit, Zuwiderhandlungen gegen dieses Verfahren strafrechtlich zu ahnden, fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Wenn also das Gemeinschaftsrecht nicht ausschließt, daß das nationale Recht den Verstoß gegen diese Verpflichtung mit Sanktionen belegt, so dürfen doch die vorgesehenen Strafen nicht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel der öffentlichen Sicherheit stehen." 244

239

240

241 242 243 244

Siehe die unterschiedlichen Modelle für die Verbindung des Strafrechts mit dem Umweltrecht bei Heine, NJW 1990, 2425 fT. Ausdrücklich im Fall „Perfili" auch für strafverfahrensrechtliche Vorschriften (Notwendigkeit einer Vollmacht) EuGH, Urteil vom 1.2.1996, Rs. C-177/94, Ε 1996,1-161, 175 f. mwN. Keine Diskriminierung, wenn alle Fälle einheitlich behandelt werden. Diskriminierend wirkten dagegen die Vorschriften im Fall „Cowan", EuGH, Urteil vom 2.2.1989, Rs. 186/87, Ε 1989, 195, 221 f. Näher dazu Meine in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 22 II Rn. 26ff. EuGH, Urteil vom 17.10.1995, Rs. C-83/94, Ε 1995,1- 3231, 3243 ff EuGH, Urteil vom 17.10.1995, Rs. C-83/94, Ε 1995 1-3231, 3251. EuGH, Urteil vom 17.10.1995, Rs. C-83/94, Ε 1995 1-3231, 3251.

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4. Hauptteil: Begünstigende unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Strafrecht

Nachdem der Gerichtshof die Genehmigungspflicht als solche umfassend auf ihre Gemeinschaftsrechtskonformität geprüft hat, sieht er die strafrechtliche Ahndung als Sache des nationalen Rechts an, die nur noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegt. Was der Gerichtshof mit dieser Verhältnismäßigkeit meint, wird sodann umschrieben: 245 „Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Falles zu beurteilen, ob die strafrechtlichen Sanktionen, die verhängt werden können, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. Zu berücksichtigende Umstände sind etwa die Art der Ware, die die Sicherheit des Staates gefährden können, die Umstände, unter denen die Zuwiderhandlung begangen worden ist, und die Gutgläubigkeit oder Bösgläubigkeit des Wirtschaftsteilnehmers, der die Ausfuhr rechtswidrig vorgenommen hat (...)."

Der Gerichtshof fordert damit eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, nimmt aber nicht etwa Fälle aus, in denen sich die friedliche Nutzung erweist.246 Nachdem die Konformität der Genehmigungspflicht mit dem Gemeinschaftsrecht feststeht, akzeptiert der Gerichtshof ihre Strafbewehrung und behandelt die strafrechtliche Sanktion von Verstößen als Sache des nationalen Rechts. Es besteht aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht wenig Anlaß, die Verwaltungsaktsakzessorietät im Zusammenhang mit unmittelbar wirkenden Richtlinien anders zu behandeln. Eine Ausnahme bilden die Fälle, in denen schon die Genehmigungspflicht gegen die unmittelbar wirkende Richtlinie verstößt. 247 Ansonsten kann zwischen der materiellen Rechtmäßigkeit und der Strafbewehrung von Verwaltungsakten getrennt werden. Die Pönalisierung des Verwaltungsungehorsams bestimmt sich grundsätzlich nach dem nationalen Recht. 248 Der Gerichtshof wird das nicht anders sehen, denn anderenfalls geriete er in eine inhaltliche Prüfung und Wertung des materiellen Strafrechts. Denn bei der Verwaltungsaktsakzessorietät handelt es sich um ein sehr facettenreiches Problem. Ihre Kritiker differenzieren zwischen den verschiedenen Tatbeständen und anerkennen in bestimmten Fallgruppen die Ver245 246

247

248

EuGH, Urteil vom 17.10.1995, Rs. C-83/94, Ε 1995 1-3231, 3251. Das Gebot, die Umstände des Einzelfalls zu würdigen, fordert dazu auf, alle Gesichtspunkte bei der Strafzumessung abzuwägen und auch die Möglichkeiten nach §§ 153, 153 a StPO und § 59fT. StGB im Auge zu behalten. Aber das ist keine gemeinschaftsrechtlich bedingte Besonderheit, sondern strafjuristischer Alltag. Das Problem liegt darin, den Einfluß des Gemeinschaftsrechts, also ζ. B. die richtlinienbedingte Erlaubnisfähigkeit, überhaupt zu erkennen. Ist sie erkannt, wird sie von den Strafverfolgungsbehörden auch zugunsten des Täters herangezogen werden. Vergleichbares Beispiel: Der Fall „Bordessa", EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361 ff. Die dort vorgesehene Genehmigungspflicht (Devisenausfuhr) war als solche mit dem Richtlinienrecht nicht mehr zu vereinbaren. DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 19.

C. Strafrechtliche Grundfragen der begünstigenden unmittelbaren Wirkung

319

waltungsaktsakzessorietät, wenn es etwa in einem Tatbestand darum geht, schon die Kontrollbefugnisse der Behörden beim Umgang mit gefahrlichen Stoffen 249 zu schützen oder ihre Aufgabe zur Umweltbewirtschaftung gesichert zu wissen.250 Das Problem des Umweltrechts besteht ja oftmals in Kumulations- und Summationseffekten. 251 Hinter dem Recht stehen Planungen, Lenkungsinterventionen, Bewirtschaftungs- und Verteilungsmaßnahmen, um knappe Umweltressourcen zu verwalten. 252 Für die Entscheidung, welche Abwassereinleitungen in einen Fluß genehmigt werden können, muß die Behörde eben wissen, welche Ableitungen noch in das Gewässer gelangen. Deshalb gibt es Gründe dafür, auch ein bei isolierter Betrachtung erlaubnisfähiges Handeln der Strafandrohung zu unterstellen. Wenn die Behörde von einer für sich genommen erlaubnisfähigen Handlung nichts weiß, läuft sie Gefahr, in Unkenntnis der tatsächlichen Belastung in anderen Fällen eine fehlerhafte Entscheidung zu treffen. Diese Gründe existieren aber unabhängig davon, ob die Erlaubnisfähigkeit der Handlung aus dem innerstaatlichen Recht folgt oder auf einer unmittelbar wirkenden Richtlinie beruht. Die Frage, ob und wann materiell rechtmäßige, aber von der Behörde nicht erlaubte oder rechtswidrig verbotene Handlungen bestraft werden sollen, stellt sich in beiden Fällen gleich. Ihre Antwort führt in das strafrechtliche Detail und das spricht dafür, keine Verbindung zwischen der Verwaltungsaktsakzessorietät und unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten herzustellen. Letztere können zwar ein Verhalten materiell rechtmäßig werden lassen und diese materielle Rechtmäßigkeit ist im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Täters zu würdigen. 253 Die Verwaltungsaktsakzessorietät als solche ist eine davon zu trennende Frage des innerstaatlichen Rechts, die nicht vom Gemeinschaftsrecht her aufgerollt oder entschieden wird. Das innerstaatliche System wäre gesprengt, wenn die richtlinienbedingte materielle Rechtmäßigkeit dazu führen könnte, daß die Strafbewehrung der Genehmigungspflicht unanwendbar werden würde. d. Ergebnis Unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte ändern die Strukturen der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts nicht.

249 250 251 252 253

Schall, NJW 1990, 1263, 1268 mwN. Perschke, wistra 1996, 161, 167. K. Tiedemann!Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 340. R. Breuer, JZ 1994, 1077, 1083. Vgl. DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 22 a. E. für den Fall materieller Genehmigungsfähigkeit.

5. Haupttitel: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht A. Einleitung Während der bisherige Gedankengang der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Strafrecht galt, soll nunmehr die richtlinienkonforme Auslegung aus strafrechtlicher Sicht näher untersucht werden. Bei dieser Auslegungsmethode handelt es sich um einen Unterfall der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation nationalen Rechts.1 Der allgemeine Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Auslegung des Strafrechts ist in Rechtsprechung und Literatur wiederholt deutlich geworden. Indem die Gemeinschaft Rechtssetzungskompetenzen wahrnimmt, wird dieses Recht auch für strafrechtliche Auslegungsfragen relevant. Diese Einwirkung des EG-Rechts auf das Strafrecht ist offenkundig, wenn unmittelbar anzuwendendes Recht in Gestalt der EG-Verordnung für die Auslegung einer Strafnorm an Bedeutung gewinnt. Dabei ist regelmäßig die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beachten, da dieser für die Auslegung des EG-Rechts zuständig ist.2 Am Beispiel der Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB läßt sich dies verdeutlichen: Wenn in einer EG-Verordnung geregelt wird, wer als Aussteller einer Diagrammscheibe in einem Fahrtenschreiber anzusehen ist, so ist dieser Normenzusammenhang bei der Prüfung des § 267 Abs. 1 StGB zu beachten, wenn es um die Frage geht, ob derjenige eine Urkundenfälschung begeht, der unter fremdem Namen 3 oder im Einverständnis mit einer dritten Person unter deren Namen 4 die Scheibe in das Aufzeichnungsgerät einlegt.

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2

3 4

Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 603f.; Rengeling in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 28 Rn. 54; Satzger, Europäisierung, S. 518 ff. Beispiel: BGH, NJW 1989,1437, zur Bestimmung des Anwendungsbereichs einer EG-Verordnung. So im Fall BayObLGSt 1991, 122 ff. Siehe BayObLGSt 1993, 160ff.

322

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Bei der richtlinienkonformen Auslegung ist dieser Einfluß weniger augenfällig, da es sich bei der EG-Richtlinie grundsätzlich um einen umsetzungsbedürftigen Rechtsakt und damit nicht um unmittelbar anwendbares EG-Recht handelt. Der Rechtsanwender fühlt sich durch die Richtlinie jedenfalls nicht direkt angesprochen. Der Einfluß ist auch vielfaltiger, weil er sich bei Straftatbeständen wie § 261 StGB oder § 38 W p H G aus der Entstehungsgeschichte der Vorschriften ergibt, während er bei Tatbeständen wie § 326 StGB aus der Auslegung eines einzelnen Tatbestandsmerkmals (Abfallbegriff) folgt.

I. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu § 326 StGB Ein Urteil des Bundesgerichtshofs zum Umweltstrafrecht 5 rückte die richtlinienkonforme Auslegung des Strafrechts erstmals in den Mittelpunkt eines breiteren Interesses, 6 das bis heute anhält. 7 Die Entscheidung eignet sich nach wie vor,8 um die hier zu vertiefende Problematik vorzustellen. Der Begriff des Abfalls wurde und wird im Rahmen des § 326 Abs. 1 StGB nach überwiegender Ansicht eigenständig, wenn auch in enger Anlehnung an den verwaltungsrechtlichen Kontext bestimmt. 9 Umstritten war lange Zeit, ob und unter welchen Voraussetzungen neben dem sogenannten Zwangsabfall 10 auch der gewillkürte Abfall unter den strafrechtlichen Abfallbegriff zu subsumieren ist. Im Kern ging es darum, ob sich der Täter mit der Behauptung, er habe die als Abfall in Rede stehenden Stoffe wiederverwerten wollen, der strafrechtlichen Verantwortung entziehen konnte. 11 Denn der subjektive Abfallbegriff setzte voraus, daß sich der Täter der Sache entledigen will, was ins5 6 7

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BGHSt 37, 333ff. FranzheimIKreß, JR 1991, 402fT; Hugger, NStZ 1993, 421; Sack, JR 1991, 338IT. B. Breuer, Der Im- und Export von Abfallen aus umweltstrafrechtlicher Sicht, S. 68 ff.; Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 167ff.; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 61 ff, Salzger, Europäisierung, S. 545 ff. Anzumerken ist freilich, daß diese Entscheidung vor dem Hintergrund des „alten" Abfallrechts zu lesen ist. Das reformierte Abfallrecht ist gemäß Art. 1 des Gesetzes zur Vermeidung, Verwertung und Beseitigung von Abfallen vom 27.9.1994, BGBl. I, S. 2705ff. in Form des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes in Kraft getreten. An der grundsätzlichen und im vorliegenden Zusammenhang ja nicht spezifisch abfallrechtlichen Bedeutung der Entscheidung BGHSt 37, 333 ff. ändert diese Reform nichts. BGHSt 37, 21, 24; 37, 333fT.; Lenckner in: Schönke-Schröder, § 326 Rn. 2a; Rogall, BoujongFS, S. 807, 809 fr.; aA Horn, JZ 1991, 886 f. Der Begriff „Zwangsabfall" meint bewegliche Sachen, deren sich der Besitzer gemäß den abfallrechtlichen Vorschriften entledigen muß, näher Steindorf in: LK, § 326 Rn. 24 f. Kloepfer! Vierhaus, Umweltstrafrecht, S. 104.

Α. Einleitung

323

besondere in der einschlägigen Judikatur verneint wurde, wenn der Täter den Stoff der Wiederverwertung zuführen wollte, da es sich dann nicht um Abfall, sondern um ein Wirtschaftsgut handele. 12 Vor eine derartige Fallkonstellation sah sich der Bundesgerichtshof gestellt.13 Die Vorinstanz hatte zunächst das Vorliegen von Zwangsabfall verneint. Das Landgericht sah auch den für die Annahme des subjektiven Abfallbegriffs vorauszusetzenden Entledigungswillen als nicht gegeben an, weil die Täter den fraglichen Stoff, bei dem es sich um in Tankwagen abgefüllte und kontaminierte Öle handelte, der Wiederverwertung zuführen wollten. 14 Es war also der Wiederverwertungswille, der dazu führte, daß die Vorinstanz nicht von Abfall im Sinne des § 326 Abs. 1 StGB ausging. 15 Diese Auffassung war für den Bundesgerichtshof vor dem gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund zweier Abfallrichtlinien 16 und dazu ergangener Entscheidungen des Gerichtshofs 17 von einiger Brisanz. Der Gerichtshof hatte hierzu entschieden, daß diesen Richtlinien eine nationale Regelung widerspricht, wenn sie Stoffe ausnimmt, die einer wirtschaftlichen Wiederverwendung zugeführt werden können. 18 In einer zweiten Entscheidung vertrat der Gerichtshof die Ansicht, die Anwendung des Richtlinienrechts könne nicht von den Vorstellungen des Besitzers der Stoffe im Hinblick auf ihre Wiederverwertung abhängen. 19

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O L G Düsseldorf, M D R 1989, 931. BGHSt 37, 333 ff. Siehe die von BGHSt 37, 333, 335 wiedergegebenen Darlegungen der Vorinstanz. In diesem Sinne auch die obergerichtliche Rechtsprechung wie ζ. B. O L G Düsseldorf, M D R 1989,931 mwN. Richtlinie 75/442/EWG vom 15.7.1975, Abi. Nr. L 194, S. 47 und Richtlinie 78/319/EWG vom 20.3.1978, Abi. Nr. L 84, S. 43. E u G H , Urteil vom 28.3.1990, Rs. C-359/88, Ε 1990, I-1509ff. und E u G H , Urteil vom 28.3.1990, Rs. C-206/88 und 207/88, Ε 1990,1-1461 ff. E u G H , Urteil vom 28.3.1990, Rs. C-359/88, Ε 1990,1 1509, 1518ff. E u G H , Urteil vom 28.3.1990, Rs. C-206/88 und 207/88, Ε 1990,1 1461, 1474ff. Auch das europäische Abfallrecht unterliegt einer stürmischen Entwicklung. So hat sich die Ausgangslage von BGHSt 37, 333ff. und E u G H , Urteil vom 28. 3.1990, Rs. C-206/88 und 207/88, Ε 1990,1 1461 ff. insoweit geändert, als der Abfallbegriff der Richtlinie 75/442/EWG vom 15.7.1975, Abi. Nr. L 194, S. 47, durch die Richtlinie 91/156/EWG vom 18.3.1991, Abi. Nr. L 78, S. 32 um das „Entledigenwollen" erweitert wurde, siehe Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 35; kritisch Weidemann in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. II, § 71 Rn. 43, Fn. 95. Für diese Untersuchung geht es an dieser Stelle darum, die europarechtliche Ausgangslage von BGHSt 37, 333 ff. zu umschreiben. Einen aktuellen und instruktiven Uberblick zum gemeinschaftsrechtlichen Abfallbegriff bieten Epiney, Umweltrecht in der EU, S. 274ff. mwN; Weidemann in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. II, § 71 Rn. 41 ff. Aus strafrechtlicher Sicht ist auf die Entscheidungen „Arcaro", E u G H , Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996, 1-4705 ff. und „Tombesi" E u G H , Urteil vom 25.6.1997, Rs. C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95, Ε 1997, 1-3561 ff. hinzuweisen.

324

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Gerade auf diese Vorstellung bezüglich einer möglichen Wiederverwertung hatte jedoch die Vorinstanz in dem vom Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall abgestellt. Der Bundesgerichtshof tritt dem entgegen. Er stellt auf § 1 Abs. 1 AbfG a. F. ab,20 der unter der Abfallverwertung auch das Gewinnen von Stoffen oder Energie verstand. Diese Abfallverwertung stehe neben der endgültigen Ablagerung von Abfällen, was bereits deutlich mache, daß als Abfall nicht nur das anzusehen sei, was „reif für die Schutthalde ist". Vielmehr könnten dazu auch Stoffe zählen, die nach der Wiederaufarbeitung ein Wirtschaftsgut darstellen. Entscheidend ist danach nicht die Vorstellung des Besitzers über die Möglichkeit der Wiederverwertung, sondern nur, ob er sich des Stoffes als für ihn wertlos geworden entledigen will, um ihn der Entsorgung zuzuführen oder zuführen zu lassen.21 Der Bundesgerichtshof legte damit § 326 Abs. 1 StGB in der Sache richtlinienkonform aus, ohne jedoch den gemeinschaftsrechtlichen Bezug zu benennen. Diese Verbindung wird mit einer verhaltenen, beinah tastenden Formulierung hergestellt. Es heißt, daß eine von subjektiven Zweckbestimmungen losgelöste Definition des Abfallbegriffes im Einklang mit den zur Tatzeit geltenden Richtlinien stehe. Sodann zitiert das Gericht die einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofs und läßt diese Ausführungen mit der Bemerkung enden, diese Rechtsprechung des Gerichtshofs sei von den nationalen Verwaltungen und Gerichten bei ihrer Rechtsanwendung zu berücksichtigen. 22 Vorsichtiger konnte dieser erste Fall der richtlinienkonformen Auslegung durch den Bundesgerichtshof kaum in Angriff genommen werden. Jedes Präjudiz wird vermieden. Obwohl der Bundesgerichtshof die Pflicht der nationalen Gerichte zur Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs konstatiert, zieht er gerade diese Rechtsprechung für die konkrete Fallösung nicht heran. Die Entscheidung stellt zunächst nur auf den Kontext des nationalen Abfallrechts ab und erarbeitet eine Definition, von der es sodann heißt, daß sie im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben steht. Die Literatur würdigt diese Entscheidung unterschiedlich. Die Heranziehung der Richtlinie wird als problematisch bezeichnet. 23 Das Urteil sei unklar, da es nicht erkennen lasse, ob sich der Bundesgerichtshof für verpflichtet hielt, richtlinien-

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Der „neue" Abfallbegriff wird jetzt in § 3 Abs. 1 und 2 Krw-AbfG umschrieben. Dazu Fluck, DVB1. 1995, 537 ff. BGHSt 37, 333, 335 a. E. f. BGHSt 37, 333, 336 unter Bezugnahme auf BGHSt 37, 168, 175. Vgl. Rogall, Boujong-FS, S. 807, 811.

Α. Einleitung

325

konform auszulegen. 24 Auch habe das Gericht nicht hinreichend zwischen der richtlinienkonformen Auslegung und der unmittelbaren Wirkung differenziert. 25 Letztere Kritik geht jedoch zu weit. Richtig ist zwar, daß der Bundesgerichtshof am Ende seiner Ausführungen eine Entscheidung zitiert, die sich mit der unmittelbaren Wirkung beschäftigte. 26 Doch dieses Zitat steht im Zusammenhang mit der Bedeutung der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Es sollte nicht angeführt werden, um über eine mangelnde Kenntnis des Bundesgerichtshofs hinsichtlich der Unterschiede von unmittelbarer Wirkung und richtlinienkonformer Auslegung zu spekulieren.27 Angesichts der Vorgehensweise des Bundesgerichtshofs und seiner Argumentation mit § 1 Abs. 1 AbfG a. F., also einer aus dem nationalen Recht abgeleiteten Definition, überzeugt es nicht, dem Gericht eine mangelnde Differenzierung zwischen unmittelbarer Wirkung, die hier nicht im Ansatz zur Debatte stand, und richtlinienkonformer Auslegung vorzuwerfen. Das Urteil kann vielmehr als Beispielsfall einer richtlinienkonformen Interpretation des Strafrechts angeführt werden. 28 Die in den vermeintlich unklaren Ausführungen zum Ausdruck kommende Vorsicht des Bundesgerichtshofs hat gute Gründe. Zu bedenken ist, daß der strafrechtliche AbfallbegrifF in enger Anlehnung an den des Abfallrechts definiert wird. Die Begriffe decken sich zwar nicht vollständig, doch sie überschneiden sich in weiten Teilen. Dabei unterliegt das nationale Abfallrecht dem Einfluß gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien. Wenn nun der Bundesgerichtshof im Sinne seiner Kritiker auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Bezug genommen und § 326 StGB „direkt" richtlinienkonform ausgelegt hätte, so wäre eine komplizierte Sachlage entstanden. In diesem Fall wäre nicht mehr klar, ob bei der Anlehnung an die Vorgaben des Abfallrechts letztlich der gemeinschaftsrechtliche oder der nationale Normenzusammenhang entscheidet. Das ist im Normalfall, also der korrekten Umsetzung der Richtlinienvorgaben in das nationale Recht, regelmäßig kein Problem. Kompliziert wird die strafrechtliche Rechtslage, wenn das nationale Recht von der gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe abweicht. Denn in diesem Fall stellt sich die Frage nach der Grenze der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht.

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Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 110. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 90f.; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402; Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 63 F. 90; Hugger, NStZ 1993,421,422; Köhrte, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 64 ff. BGHSt 37, 333, 336, es handelte sich um den „Umsatzsteuerfall" BGHSt 37, 168 ff. Vgl. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 110; Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 91. So zu Recht: DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 78; K. Tiedemann, NJW 1993,23, 25.

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5. Haupttteil: D i e richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Mit anderen Worten: Wenn das nationale Abfallrecht einer Richtlinie noch nicht oder fehlerhaft angepaßt wurde, besteht die Gefahr, daß ein gemeinschaftsrechtskonform ausgelegter § 326 StGB Handlungen mit Strafe bewehrt, die sich bei isolierter Betrachtung des nationalen Abfallrechts nicht als normwidrig darstellen. Da der Bundesgerichtshof nach seiner Deutung des nationalen Rechts vor dieser Fragestellung nicht stand, tat er gut daran, zunächst ausschließlich das nationale Recht auszulegen und anschließend die Konformität mit dem Gemeinschaftsrecht festzustellen. Jede andere Vorgehensweise hätte zur Folge gehabt, nicht entscheidungserhebliche, aber sehr komplizierte Rechtsfragen erörtern zu müssen. Die Problematik der richtlinienkonformen Auslegung ist jedoch so komplex, daß sie in einem obiter dictum nicht abzuhandeln ist.

II. Das Meinungsbild im Überblick Im Anschluß an diese Entscheidung hat sich zur richtlinienkonformen Auslegung ein schillerndes Meinungsspektrum entwickelt, das nahezu alle denkbaren Standpunkte abdeckt. Diese Unordnung hat einen Grund: Das Problem der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht wurde lange Zeit nicht als solches vertieft, sondern vom Phänomen her geführt und eher am Rande abgehandelt. Je nachdem, ob über das Bilanzstrafrecht, die Geldwäsche oder das Umweltstrafrecht geschrieben wurde, gab das jeweilige Thema auch Anlaß, einen Blick auf die richtlinienkonforme Auslegung zu werfen. Teilweise wurde nur der eigene Standpunkt apodiktisch formuliert, weshalb die Ausführungen lange Zeit beziehungslos nebeneinander standen. Die Äußerungen zu diesem Thema waren also nicht das Ergebnis systematischer Analysen, sondern fielen eher beiläufig, wodurch das Meinungsbild anarchische Züge gewann. Der folgende Uberblick belegt diese Meinungsvielfalt und die Notwendigkeit, die richtlinienkonforme Auslegung von ihren europarechtlichen Grundlagen her zu erschließen.

1. D i e R e c h t s p r e c h u n g Neben der genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum AbfallbegrifT sticht aus der noch spärlichen Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung 29 29

Spärlich dann, wenn wie hier strikt zwischen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht unterschieden wird. Neben BGHSt 37, 333 ff. und O L G Stuttgart, wistra 1999, 152 ff. kann man aus methodischer Sicht als klassische Fälle der richtlinienkonformen Auslegung vor allem BayObLGSt 1992, 105 ff. und BayObLGSt 1996, 117ff. einstufen.

Α. Einleitung

327

eine prägnante Stellungnahme des O L G Stuttgart hervor. 30 Eine Subsumtion der Tathandlung unter den Straftatbestand war nach Auffassung des Gerichts auch unter Ausschöpfung des Wortlauts bis zur äußersten Grenze des Wortsinns ohne Verstoß gegen das Analogieverbot nicht möglich. 31 Die Vorinstanz hatte die Unschärfe des Wortlauts der fraglichen Bestimmung kritisiert und mit der Übersetzung der Ersten Markenrechtsrichtlinie 3 2 in die deutsche Sprache begründet. Das O L G Stuttgart geht dem nicht weiter nach, da es den nationalen Gesetzgeber auch bei der Umsetzung von Europarecht durch Art. 103 Abs. 2 G G für verpflichtet hält, im Wortlaut klare und eindeutige Sanktionsbestimmungen zu formulieren. Das Gericht orientiert sich also streng am Wortlaut der Strafbestimmung und prüft, ob die Tathandlung unter das Gesetz subsumiert werden kann. Ob das Gesetz derartige Tathandlungen nach den Vorgaben der Richtlinie hätte erfassen müssen, spielt für das O L G Stuttgart keine Rolle.

2. D i e L i t e r a t u r Hugger kommt zu dem Ergebnis, eine die Strafbarkeit erweiternde Interpretation verstieße gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Bestehe eine Pflicht zur strafbarkeitserweiternden Auslegung, gründe sich der Strafanspruch nicht mehr allein auf die deutsche Strafvorschrift, sondern zudem auf die aus Art. 10, ex-Art. 5 EGV herzuleitende Auslegungs- und Anwendungspflicht des Strafgerichts. 33 Aus Art. 10, ex-Art. 5 EGV sei aber die tatbestandliche Ergänzung der deutschen Strafnorm nicht vorhersehbar. Eine Pflicht zu strafbarkeitserweiternder richtlinienkonformer Auslegung verstieße mangels bestimmter Beschreibung des Straftatbestandes gegen Art. 103 Abs. 2 GG. 34 Huggers Darlegungen leiden darunter, daß sein Vorverständnis des Begriffs „Strafbarkeitserweiterung" nicht erkennbar wird. Soweit er unter einer Straf-

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OLG Stuttgart, wistra 1999, 152ff.; siehe auch bei Achenbach, NStZ 1999, 549, 553: Es ging um einen Verstoß gegen § 143 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 14 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 MarkenG. Nach Meinung der Staatsanwaltschaft soll der Täter im Sinne dieser Vorschriften ein mit der Marke identisches Zeichen benutzt haben, indem er mehrere Uhren, die einer kostspieligen Marke nachgeahmt waren, nach Deutschland einzuschmuggeln versuchte. Dabei hielt der Täter die Uhren bei der Kontrolle am Flughafen aber gerade verborgen, wollte also die Marke eher verheimlichen als benutzen, weshalb AG und OLG den Tatbestand des Benutzens nicht als gegeben ansahen. " OLG Stuttgart, wistra 1999, 152, 153. 32 Richtlinie Nr. 89/104/EWG vom 21.12.1988, Abi. Nr. L 40, S. 1 ff. 33 Hugger, NStZ 1993, 421, 423. 34 Hugger, NStZ 1993, 421, 423 a. E. f.

328

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

barkeitserweiterung kategorisch jedes richtlinienbedingte Auslegungsergebnis verstehen sollte, das die vorherige Normdeutung wandelt und zur Erfassung weiterer Handlungen führt, ist ihm schon im Grundsatz nicht zu folgen. Es gibt kein Gebot einer starren, in sich verharrenden Interpretation des Strafrechts. Der Wandel der Auslegung ist der Rechtsfindung immanent. Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist. 35 Die Interpretation des Gesetzes durch den Richter ist in diesem Sinne ein dynamischer, am sozialen Leben ausgerichteter und damit dem Wandel unterliegender Vorgang, der sich freilich nicht zur Gesetzeskorrektur aufschwingen darf. 36 Entscheidend ist, daß dieser Interpretation die Einhaltung bestimmter und im Strafrecht aufmerksam zu beachtender Grenzen auferlegt wird, damit sich die Rechtsfindung nicht vom Gesetz entfernt und aus sich heraus festlegt, was strafbar sein soll. Wo diese Grenzen verlaufen und ob sie im möglichen 37 oder natürlichen 3 8 Wortsinn zu erblicken sind, ist eine davon zu trennende Frage, wie sich auch darüber streiten läßt, ob die Änderung der Rechtsprechung infolge einer geänderten Auslegung für den auf die bisherige Auslegung vertrauenden Täter günstige Folgen haben soll. Huggers Ansatz widerstreitet eine von Thomas formulierte These. Er diskutiert die mittelbare Einwirkung des Gemeinschaftsrechts im Wege der Auslegung von Vorschriften des Kernstrafrechts und meint, der Schutz des Bestimmtheitsgebots nach Art. 103 Abs. 2 G G gelte insoweit nicht. 39 Als Beispiel dient dieser Ansicht eine Verknüpfung des § 263 StGB mit dem Weinrecht. Das „Inverkehrbringen" nicht verkehrsfahigen Weines könne unter § 263 StGB fallen. Die Verkehrsfähigkeit hänge wiederum von einschlägigen EG-Verordnungen ab. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, wann auch die Auslegung von Vorschriften des Kernstrafrechts vom Gemeinschaftsrecht her durchdrungen werde. Das verdient im Grundsatz

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So: BGHSt 10, 157, 159 a. E. f.; ähnlich schon BGHSt 1, 1ff.;JeschecklWeigend, AT, § 17 III Anm. 1. Vgl. J. Ipsen, Richterrecht, S. 235 f. BVerfGE 47, 109, 121; 64, 389, 393; 71, 108, 115; 73, 206, 235; 82, 236, 269; 87, 209, 224f.; J. Ipsen, Richterrecht, S. 235f.; JeschecklWeigend, AT, § 17 Anm. 5; Krey, Studien, S. 127ff; C. Roxin, AT, § 5 Rn. 26 ff. Baumann/ Weber/ Μ Usch, AT, § 9 Rn. 84 ff. Thomas, NJW 1991, 2233, 2237 linke Spalte a. E.

Α. Einleitung

329

Zustimmung. 4 0 Mit knappen Worten trifft Thomas eine wichtige Aussage zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Auslegung: Er macht zunächst auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur verspäteten Anpassung des deutschen Weinrechts an das EG-Recht aufmerksam. 41 In diesem Urteil unterstellt der Bundesgerichtshof auch die Verbindung des Strafgesetzes mit der EG-Verordnung den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes nach Art. 103 Abs. 2 GG. 4 2 Nach Thomas soll der Schutz des Bestimmtheitsgebots nach Art. 103 Abs. 2 G G für die Auslegung jedoch nicht gelten. Er präzisiert diese Aussage nicht, geht jedoch offensichtlich davon aus, daß die verfassungsrechtlichen Grenzen der Auslegung des nationalen Strafrechts durch das Gemeinschaftsrecht gesprengt werden können. Auch wenn diese Aussage nicht näher zwischen der EG-Verordnung und der Richtlinie differenziert, stellt sie doch eine prägnante und den Ausführungen Huggers

wider-

streitende These auf. Dieser These widerspricht wiederum Schüppen,

der im Zuge einer Betrachtung

des Einflusses des Gemeinschaftsrechts auf das Bilanzstrafrecht mit seinerseits knappen Worten nur apodiktisch und ohne nähere Begründung feststellt, daß der von Thomas geäußerten Auffassung keineswegs gefolgt werden könne. 43 Eine weitere Meinung tendiert wiederum in die von Thomas aufgezeigte Richtung. Vogel bezeichnet im Kontext des § 261 StGB den Einwand des Verstoßes gegen innerstaatliches Verfassungsrecht wie Art. 103 Abs. 2 G G als problematisch, wenn

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Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 780. Weitere Beispiele: Siehe oben 5. Hauptteil A. (BayObLGSt 1991, 122ff.; BayObLGSt 1993, 160ff. zu § 267 StGB) und 3. Hauptteil D. VII. 2. Obwohl die von Thomas angesprochene Verbindung des § 263 StGB mit der EG-Verordnung das Thema der richtlinienkonformen Auslegung verläßt, sei darauf doch kurz eingegangen, weil deutlich wird, daß im Zusammenspiel des Gemeinschaftsrechts mit dem Strafrecht nicht genau zwischen der Auslegung und Rechtsanwendung unterschieden werden kann. In den von Thomas gemeinten Fällen wird die Auslegung des Straftatbestandes als solchem durch das EG-Recht nicht festgelegt. Wie Tatbestandsmerkmale abstrakt definiert werden, was also allgemein eine Täuschung nach § 263 StGB oder eine Urkunde nach § 267 StGB darstellt, ist eine der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts vorgelagerte Frage des innerstaatlichen Rechts. Das EG-Recht gewinnt seine Relevanz im konkreten Fall, wenn es etwa darum geht, wer als Aussteller der Aufzeichnungsscheibe in einem Fahrtenschreiber anzusehen ist. Thomas meint also den konkreten Auslegungsvorgang im Einzelfall, bei dem EG-Recht eine Rolle spielt und bestimmte Vorgaben trifft. Indes ändert sich die dem Einzelfall vorgelagerte Definition einzelner Tatbestandsmerkmale nicht, vgl. auch Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 45 (dazu könnte es freilich kommen, wenn über Artt. 29, 31 e EUV ein gemeinschaftsweiter Betrugstatbestand entsteht).

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Thomas, NJW 1991, 2233, 2237, rechte Spalte mit Hinweis auf BGHSt 27, 181 ff. BGHSt 27, 181, 182, zu den Grundproblemen dieser Verzahnung ausführlich oben im 2.Hauptteil C. II. Schüppen, Bilanzstrafrecht, S. 192 Fn. 971, auch Doepner/Reese, GRUR 1998, 761, 772, gehen wie selbstverständlich von der Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG aus.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

der nationale Gesetzgeber allein der Transformationspflicht aus der Geldwäscherichtlinie nachgekommen ist. 44 Nach Dannecker beansprucht das Gebot einer richtlinienkonformen Auslegung grundsätzlich auch für das Strafrecht Geltung. 45 Dabei müßten die verfassungsrechtlich garantierten Strafrechtsprinzipien, jedenfalls soweit es sich dabei um allgemeine Rechtsgrundsätze handelt, Vorrang vor der richtlinienkonformen Auslegung haben 4 6 Für Cramer besteht eine Pflicht zur strafbarkeitserweiternden richtlinienkonformen Auslegung nur in den Grenzen, die das nationale Gesetz einer Auslegung zur Verfügung stellt.47 D e m lassen sich weitere Stellungnahmen zur richtlinienkonformen Interpretation hinzufügen, die jeweils aus der Untersuchung umweltstrafrechtlicher oder wirtschaftsstrafrechtlicher Normen erwachsen sind, die unter dem Einfluß von Richtlinien stehen. 48 In jüngerer Zeit ist es zwei Autoren gelungen, das Thema klarer zu strukturieren.49 Die Arbeiten spüren dem Nebeneinander und dem Verhältnis von verfassungsrechtlichen (Art. 103 Abs. 2 GG) und gemeinschaftsrechtlichen Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung nach. Das kommt schon in der Systematik dieser Untersuchungen zum Ausdruck, wenn zwischen den nationalen Grenzen 50 und denen des Gemeinschaftsrechts 51 differenziert wird. Im Ergebnis stimmen

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Vogel, ZStW 109 (1997), 335, 349. Dannecker, Strafrecht der EG, S. 64. Dannecker, J Z 1996, 869, 873. Cramer, Triffterer-FS, S. 323, 335. Rettiens, Der Abfallbegriff im Strafrecht, S. 29f.; Pananis, Insidertatsache und Primärinsider, S. 80 ff.; ferner Cobet, Fehlerhafte Rechnungslegung, S. 14 f f , der für den Fall, d a ß die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 G G mit den Anforderungen einer richtlinienkonformen Auslegung kollidieren, offenbar der europarechtskonformen Auslegung den Vorzug gibt, das aber nicht näher begründet. Sodann schlägt Cobet vor, ebenda S. 17, d a ß der Strafrichter dem Bestimmtheitsgrundsatz auf der Schuldebene Rechnung tragen könne, indem er „wegen der Unbestimmtheit der bilanzrechtlichen N o r m die Schuld des Täters entweder schon generell verneint oder, bei entsprechender Tatsachenkonstellation, durch A n n a h m e eines Tatbestandsirrtums die Vorsatzschuld und damit die Strafbarkeit verneint." Cobet, Fehlerhafte Rechnungslegung, S. 16 hält das für möglich, weil Art. 103 Abs. 2 G G nach seinem Wortlaut nur „keine Strafe ohne Gesetz" und nicht keinen „Straftatbestand ohne Gesetz" verlange. Das ist schon deshalb eine zweifelhafte Lösung, weil Art. 103 Abs. 2 G G die gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit und nicht nur der Strafe verlangt. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 106 ff.; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 109 ff. Siehe Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 106ff.; Kähne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 109 ff. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 151 f f ; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 118 fT.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

331

beide Untersuchungen trotz unterschiedlicher Begründungselemente darin überein, daß sich die richtlinienkonforme Auslegung nur in dem Spielraum bewegen kann, den das nationale Recht eröffnet. 52 Diese Untersuchungen benennen damit zwar wichtige Eckpunkte, lassen aber brisante Fragen offen.

3. Zwischenergebnis Allein die Tatsache derart unterschiedlicher Stellungnahmen zur Maßgeblichkeit des Art. 103 Abs. 2 G G zeigt deutlich, daß zunächst grundsätzliche Fragen der richtlinienkonformen Auslegung vom Gemeinschaftsrecht her zu untersuchen sind.

B. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen I. Die vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze Als wegweisend für die Begründung einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gelten die Entscheidungen des Gerichtshofs in den Fällen „von Colson" 5 3 und „Harz" 5 4 , die auch aus strafrechtlicher Sicht von großer Bedeutung sind. Der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund beider Entscheidungen erschließt sich aus der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG 55 , die auf eine Gleichbehandlung von Mann und Frau beim Zugang zum Beruf zielt. Art. 6 dieser Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zum Erlaß innerstaatlicher Rechtsvorschriften, die notwendig sind, damit jeder, der sich durch eine Diskriminierung für beschwert hält, seine Rechte gerichtlich geltend machen kann. Im übrigen macht die Richtlinie den Mitgliedstaaten hinsichtlich der aus einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot herzuleitenden Rechtsfolgen keine näheren Vorgaben. Der Umsetzung dieser Richtlinie diente in Deutschland § 611 a BGB, der für den Fall eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot in § 611a Abs. 2 BGB jedoch nur den Ersatz des Vertrauensschadens vorsah, 56 der sich im Fall der Klägerin

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Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 150; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 106, 147. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891 ff., nachfolgend kurz „von Colson". EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 79/83, Ε 1984, 1921 ff. Vom 9.2.1976, Abi. L 39, S. 40. Im einzelnen siehe die Besprechung der Urteile „von Colson" und „Harz" bei Nicolaysen, EuR 1984, 380ff.; ferner Griegerich, JuS 1997, 619, 620f. § 611 a Abs. 2 BGB sieht nunmehr einen Schadensersatzanspruch von bis zu drei Monatsgehältern vor.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

von Colson auf 7,20 D M Fahrtkosten belief.57 Im Fall „Harz" waren es 2,31 DM. 58 Die vorlegenden Arbeitsgerichte fragten insbesondere nach einem Anspruch der Bewerber auf Abschluß eines Arbeitsvertrages, was der Gerichtshof verneinen mußte, weil die Richtlinie keine derartigen Vorgaben enthielt. 59 Die Beschränkung auf die reinen Bewerbungskosten bezeichnet der Gerichtshof in beiden Entscheidungen als symbolische Entschädigung, die den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht gerecht werde.60 Unabhängig davon, wie man zum Regelungsinhalt der Richtlinie steht, kann man dem Gerichtshof unter dem Gesichtspunkt des „effet utile" nur zustimmen. Derart geringfügige Ansprüche sind kaum geeignet, das Richtlinienziel zu erreichen. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht steht das Problem zwischen den Zeilen der Urteile. Es bestand einerseits darin, daß der Ersatz der reinen Bewerbungskosten als unzureichende Rechtsfolge einzustufen war, aber die Richtlinie keinerlei konkreten Inhalte hinsichtlich der an einen Verstoß zu knüpfenden Rechtsfolgen vorsah. Sie konnte folglich auch gegenüber einem öffentlichen Arbeitgeber nicht unmittelbar wirken. 61 Als Aufhänger für eine europafreundliche Lösung nutzte der Gerichtshof im Verlauf des Prozesses abgegebene schriftliche und mündliche Erklärungen der Bundesregierung, nach denen § 611 a Abs. 2 BGB den Anspruch auf Schadensersatz nicht beschränke und durch ihn die Anwendung allgemeiner Schadensersatzansprüche nicht ausgeschlossen sei. Vielmehr seien durch § 611 a BGB und durch § 823 Abs. 2 BGB iVm § 611a BGB konkrete Schadensersatzansprüche geschaffen worden. 62 Diese bis heute diskutierte Stellungnahme 63 diente dem Gerichtshof als Anknüp-

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EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1902. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 79/83, Ε 1984, 1921, 1928. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984,1891,1904ff.; EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 79/83, Ε 1984, 1921, 1938 ff. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1908; EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 79/83, Ε 1984, 1921, 1943. Im Fall „von Colson" hatten sich die Klägerinnen um zwei in der Justizvollzugsanstalt Werl ausgeschriebene Stellen für Sozialarbeiter beworben. Beklagte war das Land NordrheinWestfalen, siehe im einzelnen EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1893ff. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1901, 1908; EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 79/83, Ε 1984, 1921, 1935, 1942. In dieser Diskussion wird sowohl dem Gerichtshof vorgeworfen, die Erklärung der Bundesregierung entstellt wiedergegeben zu haben, vgl. Nicolaysen, EuR 1984, 381, 384, wie auch der Bundesregierung vorgeworfen wird, dem Gerichtshof schlicht unzutreffend geantwortet zu haben, Bertelsmann!Pfarr, DB 1984, 1297, 1298. Siehe auch Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 47 mwN in Fn. 66; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 404 Fn. 12; Nettesheim, AöR 119(1994), 261,264.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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fungspunkt. Er führt zunächst aus, die Auslegung des nationalen Rechts sei Sache des nationalen Gerichts. Sodann stellt er jedoch ausdrücklich klar, „daß die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 EWG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten." 64 Es sei Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden. 6 5 Die richtlinienkonforme Auslegung wird in der Rechtsprechung 6 6 und Literatur 67 im Grundsatz anerkannt. Für das Bundesverfassungsgericht kommt der Richtlinie für die Auslegung des mitgliedstaatlichen Umsetzungsrechts erhebliche Bedeutung zu. D i e Gerichte haben danach entsprechend der aus Art. 10, ex-Art. 5 E G V folgenden Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen, die dem Inhalt der Richtlinie gemäß der ihr v o m Gerichtshof nach Art. 234, ex-Art. 177 E G V gegebenen Auslegung entspricht. 68 Wie weit die Entscheidung des Gerichtshofs in den Fällen „von Colson" und „Harz" fortgewirkt hat, zeigt sich anhand der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. 69 D a s Gericht entschied zunächst, § 611 a Abs. 2 a. F. B G B könne auch im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung nicht über seinen Wortlaut und den

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EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1909. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1908f.; EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 79/83, Ε 1984, 1921, 1942 f. Siehe nur: BVerfGE 75, 223, 237f.; BVerwG 49, 60f.; BGHZ 63, 261, 264f.; besonders prägnant BGHZ 138, 55, 60ff; BAGE 61, 219ff; BGHSt 37, 333ff. Assmann in: Assmann/Schneider (Hrsg.), WpHG, Einl. Rn. 47ff.; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 127 ff.; Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 59f.; Cramer, Triffterer-FS, S. 323, 334f.; DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 8 Rn. 60ff.; Ehlers, DVB1. 1991, 605, 609; Everling, ZGR 1992, 376ff; Fischer, Europarecht, S. 102; Gellermann, Beeinflussung; S. 103 ff.; Grundmann, JZ 1996, 274, 281 ff.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 19; Herdegen, Europarecht, Rn. 182; Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 784; Lutter, JZ 1992, 593ff; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, S. 174; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 391 f.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 768; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569ff; SchwärzetHatje in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 33 Rn. 13 ff. mwN. Auf die kritischen Gedanken Di Fabios, NJW 1990, 945 ff, wird sogleich (5. Hauptteil Β. II. 1. b.) eingegangen. BVerfGE 75, 223, 237 f. In diesem Sinne ist auch das vermeintlich mißverständliche Zitat BGHSt 37, 333, 336, zu verstehen. BAGE 61, 219ff.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Willen des Gesetzgebers hinaus als Grundlage eines den Vertrauensschaden übersteigenden Anspruchs auf Schadensersatz herangezogen werden. 70 Sodann wandte sich das Gericht deliktischen Ansprüchen zu und prüfte, ob die geschlechtsspezifische Diskriminierung beim Zugang zum Beruf im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB als schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einzustufen ist. Im Rahmen dieser Prüfung stellt das Gericht auf die Vorgaben der Richtlinie ab. Hiernach sei bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot eine Sanktion zu verlangen, die über einen rein symbolischen Schadensersatz hinausgehe. Dieses Ziel sei von den nationalen Gerichten bei der Auslegung des nationalen Rechts zu beachten. Dies müsse dazu führen, eine Persönlichkeitsverletzung, die in einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung beim Zugang zum Beruf liegt, regelmäßig als anspruchsbegründend anzusehen. 71 Bemerkenswert daran ist, daß sich das Bundesarbeitsgericht nicht auf den Versuch einer richtlinienkonformen Auslegung des § 61 l a a.F. BGB beschränkte, sondern den unzweifelhaft nicht in Gefolge einer Richtlinienumsetzung geschaffenen § 823 BGB richtlinienkonform auslegte. Dieser breite Konsens gilt jedoch nur dem Grundsatz einer richtlinienkonformen Auslegung und darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es hinsichtlich der Voraussetzungen und der Grenzen einer richtlinienkonformen Interpretation weiteren Klärungsbedarf gibt, 72 der gerade aus strafrechtlicher Sicht zu konstatieren ist.

II. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Aus diesem Grund sind die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben aus strafrechtlicher Sicht näher zu beleuchten. Dabei wird nachfolgend zwischen der Pflicht und dem Gegenstand sowie dem Umfang bzw. Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung unterschieden. Obwohl sich diese Punkte nicht immer scharf voneinander trennen lassen, ist diese Aufspaltung notwendig, um präzise Antworten zu geben.

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BAGE 61, 219, 222f. BAGE 61, 219, 224f. Gellermann, Beeinflussung, S. 103. Kritisch: Di Fabio, NJW 1990, 947 ff; Scherzberg, Jura 1993,225, 231 f.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

335

1. Art. 10, ex-Art. 5 und Art. 249, ex-Art. 189 Abs. 3 E G V als gemeinschaftsrechtlicher Ursprung einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung a. Überblick Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung hat der Gerichtshof im Kern auf Art. 10, ex-Art. 5 EGV und Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV gestützt. 73 Damit stellt er auf die Zielverbindlichkeit der Richtlinie und den Gesichtspunkt der Gemeinschaftstreue ab, vermöge derer sämtliche Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten gehalten sind, im Rahmen ihrer Zuständigkeit geeignete Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art vorzunehmen, um die aus der Richtlinie folgenden Verpflichtungen zu erfüllen. 74 Die Literatur führt davon teilweise abweichende oder ergänzende Begründungselemente an. Für eine Auffassung folgt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor allem aus der Umsetzungsverpflichtung gemäß Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV.75 Diese Vorschrift biete gegenüber Art. 10, ex-Art. 5 EGV die speziellere Begründung. 76 Es wird jedoch auch genau umgekehrt argumentiert, wenn auf Art. 10, ex-Art. 5 Abs. 2 EGV und das innerstaatliche Gebot der Normerhaltung abgestellt wird.77 Für eine weitere Ansicht folgt die Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation aus dem nationalen Recht.78 Danach erhält das umgesetzte Recht den Charakter von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht und unterfällt den Auslegungsregeln des nationalen Rechts, die „im Rahmen ihrer Möglichkeiten den im EG-Recht wurzelnden Charakter des nationalen Rechts ausreichend beachten sollten".79 Daneben folge aus dem Gemeinschaftsrecht ein Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung.80 Aus der Sicht des Strafrechtlers drückt dieser Streit um die einzelnen Begründungselemente dem Grunde nach eine breite Akzeptanz einer Pflicht zur richt-

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EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1909; EuGH, Urteil vom 17.9.1997, Rs. C-54/96, Ε 1997,1-4961,4997. Gellermann, Beeinflussung, 104; Götz, NJW 1992, 1849, 1853; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 268; Veelken, JuS 1993, 265, 271. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 256 ff. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 258. Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 268ff. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 2, 5. Siehe ferner Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 613f. mwN. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 614. So: Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 614, der damit nochmals zwischen einer Pflicht und einem Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung differenziert.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

linienkonformen Auslegung aus. N u r vereinzelt ist die Annahme einer solchen Pflicht auf grundsätzliche Ablehnung gestoßen. 81 Danach betrifft Art. 10, ex-Art. 5 E G V nur die allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue. Da diese Vertragsnorm an die Mitgliedstaaten adressiert sei, könne daraus keine Bindung deutscher Gerichte an nur mittelbar geltendes EG-Recht abgeleitet werden. 82 Diese Bindung könne auch nicht aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts hergeleitet werden, da dem Gemeinschaftsrecht kein normentheoretischer Geltungsvorrang zukomme. Eine Ausweitung der Richtlinienverpflichtung auf alle Hoheitsträger kommt danach erst bei Vorliegen der unmittelbaren Wirkung in Betracht. 83 b. Stellungnahme U m hierzu Stellung nehmen zu können, muß man klären, was mit der „Pflicht" gemeint ist. Einmal kann damit nur das Gebot angesprochen sein, Richtlinien in die Auslegung einzubeziehen. Zum anderen kann mit dem Begriff der Pflicht die weitergehende Frage angesprochen sein, ob die richtlinienkonforme Auslegung Vorrang vor jeder anderen Auslegungsmethode genießt. 84 Man ist geneigt, letzteres zu assoziieren, da die Begriffe der Pflicht und der Konformität autoritative Züge tragen. U m die richtlinienkonforme Interpretation schrittweise zu erschließen, sollte man jedoch die grundsätzliche Pflicht von der Frage des Vorrangs trennen. 85 Hier geht es zunächst nur um die Pflicht, Richtlinien überhaupt in den Auslegungsvorgang zu integrieren. Unter diesem Gesichtspunkt sind Di Fabios Argumente nicht geeignet, die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung zu verneinen. Soweit diese Ansicht einen normentheoretischen Geltungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht ablehnt, entspricht das der auch hier vertretenen Meinung. 86 Daraus ergibt sich aber entgegen Di Fabio kein Argument gegen eine Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation, denn der Gerichtshof leitet dieses Gebot nicht

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Di Fabio, N J W 1990, 947 ff. Di Fabio, N J W 1990, 947, 953; Oehlert, JuS 1997, 317 f. Di Fabio, N J W 1990, 947, 953; ähnlich Scherzberg, Jura 1993, 225, 232. Bei Di Fabio, N J W 1990 947, 953 wird das nicht ganz deutlich. Während er sich ebenda, S. 953 linke Spalte, strikt gegen jede Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ausspricht, heißt es auf S. 953 rechte Spalte, die Richtlinie könne nicht als imperatives, andere Auslegungsregeln überspielendes Interpretationsgebot verstanden werden. Wie hier Gstaltmeyr, Bewehrung von Richtlinien, S. 211. Siehe oben 2. Hauptteil Α. I. 2. b.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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allgemein aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts her.87 Er schlägt vielmehr eine Brücke von der Verpflichtung gemäß Art. 249 Abs. 3, exArt. 189 Abs. 3 EGV zum Grundsatz der Gemeinschaftstreue nach Art. 10, ex-Art. 5 EGV. Die sich aus einer Richtlinie ergebende Pflicht der Mitgliedstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10, ex-Art. 5 EGV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen zu treffen, obliegt danach allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten gilt das auch für die Gerichte. 88 Die in Art. 10, ex-Art. 5 EGV zum Ausdruck kommende primärrechtliche Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue hat jeder Mitgliedstaat unstreitig übernommen. 89 Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung 90 im deutschen Recht erfahrt insoweit eine auf das Gemeinschaftsrecht bezogene Verdoppelung. 91 Eine in der Rechtsprechung des Gerichtshofs liegende Rechtsfortbildung kann darin gesehen werden, daß nach dem Wortlaut des Art. 10, ex-Art. 5 EGV die Pflichten zunächst nur die Mitgliedstaaten treffen und der Gerichtshof hier mit seiner Rechtsprechung die Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten in diese Pflichten involviert hat. 92 Bei genauem Hinsehen stellt der Gerichtshof aber zudem auf Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV ab, der nicht nur die Mitgliedstaaten erwähnt, sondern auch die innerstaatlichen Stellen. Hinsichtlich der Erreichung des Ziels eines Richtlinienprogramms sind die innerstaatlichen Stellen gerade nicht frei. 93 Erst eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kann sicherstellen, d a ß im Zuge der Rechtsanwendung nicht das divergiert, was durch die

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Es verdient Aufmerksamkeit, daß der Gerichtshof im Fall „Marleasing", EuGH, Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990, I-4135ff. gerade nicht die Argumentation des Generalanwalts van Gerven aufgriff, der explizit mit der Teilhabe der Richtlinie am Vorrang des Gemeinschaftsrechts argumentiert hatte. Siehe die Ausführungen van Gervens in: EuGH, Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990, 1-4135, 4147, aA Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 71, der meint, daß der Gerichtshof van Gerven sinngemäß gefolgt sei. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1908f.; EuGH, Urteil vom 17.9.1997, Rs. C-54/96, Ε 1997, 1-4961, 4997; ν. Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EU-Kommentar, Altbd. I, Art. 5 Rn. 55; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung, S. 35; Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 41 f.; Schwarze!Hatje in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 33 Rn. 16. Lutter, JZ 1992, 593, 605. Doehring, Völkerrecht, S. 308; Looscheldes/Roth, Juristische Methodik, S. 178; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 589. Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 402; Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 687. /arasi.EuR 1991,211,212,216. Schwarze!Hatje in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 33 Rn. 17.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Richtlinie vereinheitlicht werden soll. Trotz der innerstaatlichen Umsetzungsgesetzgebung besteht aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts die Gefahr, daß ohne diese Pflicht die abstrakt-generelle Regelung der Richtlinie in den unterschiedlichen Rechtsordnungen zerfließt, wenn nicht sichergestellt wird, daß die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten die Richtlinie bei der Bildung der individuell-konkreten Regelungen berücksichtigen. 94 Da der Gerichtshof die Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation von vornherein vom Bestehen eines entsprechenden Auslegungsspielraums im nationalen Recht abhängig macht, besteht aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts ohnehin schon eine nicht zu vermeidende Uneinheitlichkeit in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten. Deshalb ist es für den Fall, daß ein Interpretationsspielraum besteht, durchaus überzeugend, eine besondere Beachtung von Richtlinienvorgaben zu verlangen. Wollte man die Richtlinienbindung auf den Umsetzungsakt isolieren, so könnte sich auf der Grundlage der verschiedenen Umsetzungsgesetze in den Mitgliedstaaten im Laufe der Zeit eine unterschiedliche Praxis etablieren. Die Orientierung an dem gemeinsamen Ursprung verspricht, das Ziel der Rechtsangleichung dauerhaft zu gewährleisten. Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV verpflichtet die innerstaatlichen Stellen mithin nicht nur bei der Formulierung abstrakt-genereller Rechtssätze im Zuge der Richtlinienumsetzung, sondern auch bei der Bildung konkret-individueller Rechtssätze. Um diese Orientierung an dem Richtlinienrecht herzustellen, bedarf es einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung. 95 Man kann diese gemeinschaftsrechtliche Pflicht auch nicht mit dem Argument ausblenden, daß sich die Beachtung der Richtlinie schon aus den üblichen Auslegungsmethoden des nationalen Rechts ergibt. Freilich führt schon die historische Auslegung des nationalen Umsetzungsrechts und die Frage nach dem Gesetzeszweck regelmäßig zur Berücksichtigung der einschlägigen Richtlinie. Als innerstaatlich geltendes Recht kann die Richtlinie auch im Zuge der systematischen Auslegung zu beachten sein. Insoweit folgt die richtlinienkonforme Interpretation aus den nationalen Auslegungsregeln.96 Ungeachtet dieser zusätzlichen Begründungselemente kann jedoch kein Zweifel an der gemeinschaftsrechtlichen Fundierung der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung bestehen, 97 zumal auch das Bundesverfassungsgericht auf den gemeinschaftsrechtlichen Ursprung abstellt und damit die Verpflichtung der Gerichte begründet, diejenige Auslegung für die nationale

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Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 256. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 256 f. Vgl. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 5. RengelinglMiddeke! Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 917.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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Durchführungsregelung zu wählen, die dem Inhalt der Richtlinie entspricht. 98 Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wurzelt also im Gemeinschaftsrecht. Infolge der mitgliedstaatlichen Umsetzung geht die Richtlinie ferner in die Auslegung des Umsetzungsrechts ein."

2. G e g e n s t a n d der richtlinienkonformen Auslegung a. Umsetzungsrecht und sonstiges nationales Recht Die richtlinienkonforme Auslegung erstreckt sich zunächst auf die nationalen Durchführungsvorschriften einer Richtlinie. 100 Denn allein die Tatsache, daß die zuständigen Gesetzgebungsorgane zur Umsetzung tätig geworden sind, läßt auf einen entsprechenden Willen rückschließen. Darüber hinaus ist jedoch auch das weitere nationale Recht selbst dann richtlinienkonform auszulegen, wenn es sich um Vorschriften handelt, die vor oder unabhängig vom Erlaß der Richtlinie ergangen sind.' 01 Anderenfalls entstünden kaum zu überbrückende Wertungswidersprüche, denn die innerstaatlichen Gesetzgebungsorgane müssen ja nicht tätig werden, wenn die vorhandenen Normen den Richtlinienvorgaben entsprechen. 102 Da dieses vorab richtlinienkonforme Recht sich niemals mit dem Wortlaut der Richtlinie decken wird, ist die Entstehung eines Interpretationsbedarfs nicht auszuschließen, dem jedoch wie bei der Auslegung ausdrücklich zur Umsetzung erlassener Normen durch einen Rückgriff auf die Richtlinieninhalte entsprochen werden kann. Daran zeigt sich im übrigen auch, warum man sich des gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs der Pflicht zur richtlinien-

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BVerfGE 75, 223, 237 f. Insoweit kommt es zu einer Verdoppelung des rechtlichen Grundes der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, Rengelingl MiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 917. E u G H , Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1908f.; BVerfGE 75, 223, 237f.; Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 4; Everting, Carstens-FS, S. 95, 101; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 810 f.; Müller-Graff, D R i Z 1996, 305, 313; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 391. E u G H , Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, 3969, 3986; DoepnerlReese, G R U R 1998, 761, 771; Ehr icke, RabelsZ 59 (1995), 598, 603 f.; Gellermann, Beeinflussung, S. 106; Götz, N J W 1992, 1849, 1855; Jarass, Grundfragen, S. 92 f.; ders. EuR 1991, 211, 220; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 811; Müller-Graff, D R i Z 1996, 305, 313; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 392; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 583; Schwarze!Hatje in: E U D U R , Bd. I § 33 Rn. 14; Weiß, DVB1. 1998, 568, 569; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 155, 165. Bach, J Z 1990, 1108, 1111; Everling, Z G R 1992, 376, 377; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 811.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

konformen Interpretation bewußt sein muß und nicht auf den bekannten Auslegungskanon der grammatikalischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung für das Umsetzungsrecht verweisen kann. In den Fällen vorhandener Richtlinienkonformität muß der innerstaatliche Gesetzgeber nicht tätig werden. Folglich gibt es kein eigentliches Umsetzungsrecht, dessen Auslegung den Ansatzpunkt bei der Integration der Richtlinie in den Auslegungsvorgang bilden könnte. 103 b. Strafrecht Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung hat der Gerichtshof mit seinem Verweis auf Art. 10, ex-Art. 5 EGV auf das gesamte nationale Recht erstreckt 104 und nicht davon abhängig gemacht, ob es sich bei der auszulegenden Norm um einen Straftatbestand oder eine andere Vorschrift des nationalen Rechts handelt. 105 Das verdient abermals im Grundsatz uneingeschränkte Zustimmung, weil sich das Strafrecht dem Einfluß des Gemeinschaftsrechts nicht entzieht und sich insbesondere aus der einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof nicht verabschieden kann. In diesem Sinne ist auch ein auf eine Verfassungsbeschwerde ergangener Nichtannahmebeschluß des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen,106 der in der strafrechtlichen Literatur nicht immer ausreichend beachtet wird. Der Beschwerdeführer hatte als Angeschuldigter in einem Strafverfahren beantragt, eine nach seiner Auffassung entscheidungserhebliche Frage einer Richtlinie auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts dem Gerichtshof vorzulegen. Die Strafkammer eröffnete gleichwohl das Hauptverfahren, wogegen der nun Angeklagte mit der Verfassungsbeschwerde vorging, was in der Sache erfolglos blieb. Das Bundesverfassungsgericht sah die engen Voraussetzungen einer Anfechtung gerichtlicher Zwischenentscheidungen mittels der Verfassungsbeschwerde als nicht gegeben an. In diesem Zusammenhang fallen die hier wichtigen Ausführungen: „Diese Ausnahmevoraussetzungen liegen im Verfahren der vorliegenden Fallgestaltung nicht vor. Weder hat das LG über die Vorlage an den E u G H abschließend befunden, noch ergibt sich aus dem EröfTnungsbeschluß eine Auslegung von entscheidungserheblichem Gemeinschaftsrecht, die nicht in derselben Instanz oder in einer

103 Vgl auch Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung, S. 33; Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 37. 104 105

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Jarass, EuR 1991, 211, 220. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986f.; Schlußanträge des Generalanwalts Colomer, EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6622. BVerfG, NJW 1989, 2464 (2. Kammer des Zweiten Senats).

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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höheren Instanz nachgeprüft und korrigiert werden könnte. Ein Strafgericht ist zwar gehalten, in jedem Stadium des Strafverfahrens mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob bei der Auslegung einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts Zweifel bestehen und ob die Vorlage an den E u G H gemäß Art. 177 EWGV veranlaßt ist. (...) Auch nach Erlaß des Eröffnungsbeschlusses kann der EuGH angerufen und die gemeinschaftsrechtliche Frage durch den hierfür zuständigen Richter ausgelegt werden. ...)." 1 0 7

Das Bundesverfassungsgericht unterstellt mit diesen zwar knappen, aber eindeutigen Worten auch die Strafgerichte der Pflicht, bei ihrer Entscheidung das Gemeinschaftsrecht zu beachten. Aus dem konkreten Sachzusammenhang der Verfassungsbeschwerde ergibt sich, daß diese Pflicht der Strafgerichte auch Auslegungsfragen des Richtlinienrechts umfaßt. Bei verbleibenden Zweifeln muß der Strafrichter gemeinschaftsrechtliche Auslegungsfragen dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Die Aufgabe der richtlinienkonformen Interpretation stellt sich für das Strafrecht insbesondere auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts, weil wirtschaftsstrafrechtliche Normen oftmals an außerstrafrechtlich kodifizierte Verhaltensnormen anknüpfen. In diesem Fall unterliegen nicht die vom Strafrecht angedrohten Sanktionen, sondern die wirtschaftsrechtlichen Gebote und Verbote, welche dem Straftatbestand als Beschreibung der Normverletzung dienen, dem Einfluß von Richtlinien. 108 Bei einer Blankettverweisung ist dieser Einfluß augenfällig, doch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Abfallbegriff 109 zeigt, daß die Einwirkung auch nur einzelne Tatbestandsmerkmale betreffen kann. Die allgemeine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gilt mithin auch für das Strafrecht. Ob auf der Grundlage dieses Grundsatzes für das Strafrecht besondere Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, ist eine davon zu trennende und gesondert zu erörternde Frage. Von dem Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung ist jedoch mit dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundesgerichtshof und mit der vorherrschenden Meinung in der Literatur für das Strafrecht keine Ausnahme zu machen. 110 107 108 109 110

BVerfG, NJW 1989, 2464. Vgl. K. Tiedemann, NJW 1993, 24. BGHSt 37, 333 ff. BVerfG, NJW 1989, 2464; BGHSt 37, 333ff.; Bieneck in: Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, Anhang zu § 4 Rn. 39; B. Breuer, Der Im- und Export von Abfallen aus umweltstrafrechtlicher Sicht, S. 68; Cramer, Triffterer-FS, S. 323, 334 f.; Dannecker, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts, S. 161, 179 ff.; ders. in: Ulsamer (Hrsg.), Lexikon des Rechts, S. 309ff.; DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 60; Eser in: Schönke-Schröder, Vorbem. § 1 Rn. 26 iVm § 1 Rn. 37 a. E.; Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 64; Jung, JuS 2000, 417, 420; Köhne, Die richtlinienkonforme Aus-

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

3. D e r U m f a n g d e r P f l i c h t z u r r i c h t l i n i e n k o n f o r m e n A u s l e g u n g D i e R e c h t s p r e c h u n g des G e r i c h t s h o f s zur r i c h t l i n i e n k o n f o r m e n A u s l e g u n g g e h t vereinzelt sehr weit. 1 1 1 W ä h r e n d der Fall „ v o n C o l s o n " als b e d e u t e n d e E n t s c h e i d u n g hinsichtlich d e s „ O b " dieser I n t e r p r e t a t i o n s m e t h o d e a n g e s e h e n wird, f i n d e t der Fall „ M a r l e a s i n g " b e s o n d e r e B e a c h t u n g , w e n n es u m d i e Tragweite der richtl i n i e n k o n f o r m e n A u s l e g u n g g e h t . " 2 A u s g a n g s p u n k t war ein Rechtsstreit vor e i n e m s p a n i s c h e n Gericht. D i e M a r l e a s i n g S A 1 1 3 k l a g t e mit d e m A n t r a g , d i e G r ü n d u n g e i n e r a n d e r e n G e s e l l s c h a f t , der La C o m e r c i a l I n t e r n a c i o n a l d e A l i m e n t a t i o n S A , für n i c h t i g z u erklären. D i e M a r l e a s i n g S A trug vor, d a ß diese G e s e l l s c h a f t n u r g e g r ü n d e t w o r d e n sei, u m d a s V e r m ö g e n einer w e i t e r e n G e s e l l s c h a f t , der B a r v i e s a S A , ihrem Z u g r i f f z u e n t z i e h e n . D i e K l ä g e r i n stützte ihren A n t r a g a u f V o r s c h r i f t e n d e s s p a n i s c h e n Rechts, w o n a c h Verträge o h n e rechtlichen G r u n d o d e r mit e i n e m unerlaubten Grund unwirksam sind."4

legung im Umweltstrafrecht, S. 105; Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 783 f.; Otto, G r u n d k u r s Strafrecht, § 2 Rn. 57; Pananis, Insidertatsache und Primärinsider, S. 81; Prieß in: von der Groeben, EU-/EG-Vertrag, Art. 209a R n . 25; Satzger, Europäisierung, S. 549f.; Vogel, ZStW 109 (1997), 335, 348; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 781; in diesem Sinne auch Zuleeg, J Z 1992, 761,765. Die Auffassung von Lücker, Mißbrauch von Insiderinformation, S. 11, ist kaum einzuordnen. Er bezeichnet die richtlinienkonforme Auslegung im Zivilrecht als unumstritten und führt dazu u. a. Lutter, J Z 1992, 593, 604, Di Fabio, N J W 1990 947 und E u G H , Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986 an, siehe Lücker, Mißbrauch von Insiderinformationen, S. 11 Fn. 51. Lutter und Di Fabio sind aber hinsichtlich des Vorrangs der richtlinienkonformen Auslegung gerade unterschiedlicher Meinung und in E u G H , Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969 ff. geht es um das Strafrecht. Ob eine richtlinienkonforme Auslegung auch für strafrechtliche Vorschriften „Geltung beanspruchen kann", ist nach Lücker wegen „der durch das europäische Gemeinschaftsrecht nicht direkt berührten nationalen Souveränität zum Erlaß strafrechtlicher N o r m e n " fraglich. Warum aber die Kompetenzfrage die richtlinienkonforme Auslegung ausschließen soll, wird dabei nicht deutlich. 111 112

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Classen, E u Z W 1993, 83, 86 f; Lutter, J Z 1992, 593, 597. Vgl. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 66ff.; Lutter, J Z 1992, 593; MüllerGraff, D R i Z 1996, 305, 314. SA = Sociedad Anönima. Aktiengesellschaft nach spanischem Recht. Siehe im einzelnen: E u G H , Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990, 1-4135, 4137, 4138 f. Die Argumentation der Klägerin vor dem spanischen Gericht ist den Schlußanträgen des Generalanwalts van Gerven, ebenda, S. 4144, zu entnehmen. Hiernach sollte der Gründungsvertrag als Scheingeschäft anzusehen sein. In Rede stand die Anwendung allgemeiner Vorschriften des Zivilrechts, insbesondere des Art. 1275 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches: „Verträge ohne rechtlichen G r u n d oder mit einem unerlaubten G r u n d sind unwirksam. Ein G r u n d ist unerlaubt, wenn er gegen die Gesetze oder die guten Sitten verstößt." Näher zum Ausgangsverfahren: Rodriguez IglesiaslRiechenberg, Everling-FS, S. 1213, 1221 f.; siehe auch M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 583.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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Zu diesem Zeitpunkt hatte Spanien eine Richtlinie zur Koordinierung der Schutzbestimmungen für Gesellschafter und Gläubiger noch nicht umgesetzt. 115 Art. 11 dieser Richtlinie zählt die Nichtigkeitsgründe abschließend auf, ohne die von der Marleasing SA angeführten Gründe zu nennen. Das spanische Gericht fragte den Gerichtshof daher nach der unmittelbaren Wirkung des Art. 11. Der Gerichtshof verneinte zunächst diese Vorlagefrage, indem er auf seine einschlägige Rechtsprechung hinwies, nach der eine Richtlinienbestimmung nicht selbst Verpflichtungen für den einzelnen begründen und daher als solche gegenüber einem einzelnen nicht in Anspruch genommen werden könne." 6 „Aus den Akten" ergebe sich jedoch, daß das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen möchte, ob es sein nationales Recht unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen müsse, um zu verhindern, daß eine Aktiengesellschaft aus anderen als den in Art. 11 der Richtlinie aufgezählten Gründe für nichtig erklärt wird." 7 Damit eröffnete sich der Gerichtshof in diesem Fall selbst die Möglichkeit, zur richtlinienkonformen Auslegung Stellung zu nehmen. Er stellt klar, daß ein nationales Gericht die Auslegung des nationalen Rechts - unabhängig vom Zeitpunkt seines Erlasses - so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten müsse, um das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen und auf diesem Weg Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV nachzukommen." 8 Bei diesem Hinweis beläßt es der Gerichtshof nicht, sondern führt aus, dieses Erfordernis einer im Einklang mit der Richtlinie 68/151/EWG stehenden Auslegung des nationalen Rechts verbiete es, die nationalen Rechtsvorschriften über Aktiengesellschaften dergestalt auszulegen, „daß die Nichtigkeit einer Aktiengesellschaft aus anderen als den in Art. 11 der Richtlinie abschließend aufgezählten Gründen ausgesprochen werden kann." 119 Auch wenn diese Urteilspassagen nicht verpflichten, positivrechtlich verankerte Nichtigkeitsgründe außer Betracht zu lassen und die Richtlinienbestimmung selbst anzuwenden, geht der Gerichtshof doch sehr weit, da er dem vorlegenden Gericht im Ergebnis die Auslegung des nationalen Rechts vorgibt.120

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Richtlinie 68/151/EWG, Abi. 1968, L 65, S. 8. E u G H , Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990,1-4135, 4158. E u G H , Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990, 1-4135, 4158 a. E„ was mit Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 68, als Umformulierung der Vorlagefrage bezeichnet werden kann. E u G H , Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990,1-4135, 4159. E u G H , Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-106/89, Ε 1990,1-4135, 4159. Albers, Haftung für die Nichtumsetzung von EG-Richtlinien, S. 166; Vgl. auch die Kritik der „Einmischung in die Auslegung des nationalen Rechts" bei Lutter, JZ 1992, 593, 597. Für Μüller-Graff, D R i Z 1996, 305, 314, verschwimmen im Fall „Marleasing" die Grenzen zwischen richtlinienkonformer Auslegung und Direktwirkung der Richtlinie. Kritisch auch Hilf, EuR 1993, 1,10 (richtungslose Rechtsprechung). M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569,

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

4. Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung Infolge dieser extensiven Rechtsprechung des Gerichtshofs diskutiert die europarechtliche Literatur denn auch den Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung. 121 Dabei geht es vor allem um die Problematik, ob der richtlinienkonformen Interpretation Vorrang vor allen anderen Auslegungsmethoden zukommt. In diesem Zusammenhang werden oftmals zwei weitere Punkte angesprochen, die das Thema berühren, aber gesondert zu erörtern sind. In der Sache geht es zum einen um die sogenannte Sperrwirkung einer Richtlinie und zum anderen um ihre Funktion als Maßstabsnorm oder „legal review" für das nationale Recht. a. Exkurs: Sperrwirkung und Maßstabsfunktion der Richtlinie? Hinter diesen Fragen stehen Probleme, die bei genauem Hinsehen weder zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, noch zur richtlinienkonformen Auslegung passen. Bei beiden Themen geht es darum, ob es in bestimmten Konstellationen zu einer über den Fall der unmittelbaren Wirkung hinausreichenden Unanwendbarkeit des nationalen Rechts kommen kann. Um dies deutlich zu machen, werden diese Fragen im Rahmen eines Exkurses erörtert, aber doch im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung behandelt, weil auch die europarechtliche Literatur oftmals diese Verbindung herstellt 122 und der Strafrechtler mit diesem Problem im Zuge der Auslegung von innerstaatlichem Recht konfrontiert wird, das unter dem Einfluß von Richtlinien steht. aa. Sperrwirkung der Richtlinie Bei der Sperrwirkung der Richtlinie geht es um einen Konflikt zwischen dem Richtlinienrecht und dem innerstaatlichem Recht, der sich nach der Umsetzung einer Richtlinie ergeben kann. Die Literatur führt als typischen Beispielsfall die nachträgliche Änderung des Umsetzungsrechts durch den innerstaatlichen Gesetzgeber an. 123 Der Konflikt entsteht, wenn sich das Umsetzungsrecht von den Richtlinienvorgaben entfernt und nicht mehr als richtlinienkonform bezeichnet werden kann.

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584 meint sogar, im Fall „Marleasing" habe sich das Gemeinschaftsrecht mittels des Anwendungsvorrangs durchgesetzt. Für Zitscher, RabelsZ 60 (1996), 648, 659 hat der Gerichtshof ein vom nationalen Gericht nur contra legem zu erreichendes Auslegungsergebnis festgelegt. Umfassender Überblick bei Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 131 ff. mwN. Siehe etwa Bach, JZ 1990, 1108, 1111,1112f.; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 279. Karoff, RabelsZ 48 (1984), 649, 674ff; Timmermanns, RabelsZ 48 (1984), 1, 36f.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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Eine Konsequenz der Umsetzungsverpflichtung besteht zunächst in der europarechtlich unstreitigen Pflicht der Mitgliedstaaten, das infolge der Umsetzung der Richtlinie angepaßte nationale Recht nicht nachträglich in einer Weise abzuändern, die es in Widerspruch zum Richtlinienrecht setzt.124 Die Rechtsangleichung droht fehlzuschlagen, wenn die Mitgliedstaaten mit dem Umsetzungsrecht nach Belieben verfahren könnten. Die Europarechtswidrigkeit einer Änderung des Umsetzungsrechts ändert aber nichts daran, daß in einem solchen Fall auf der Ebene des nationalen Rechts neues Recht geschaffen wurde. Das eigentliche Problem kristallisiert sich heraus, wenn man sich gedanklich in die Rolle eines innerstaatlichen Richters versetzt. Die soeben formulierte Erkenntnis, nach der die richtlinienwidrige Abänderung europarechtlich als rechtswidrig anzusehen ist, hilft ihm nicht weiter. Er hat eine konkrete Entscheidung zu treffen und ihm liegt nationales Recht vor, das er grundsätzlich anzuwenden hat. Dieses Problem löst sich für einen Teil der Fälle noch einheitlich: Soweit Richtlinieninhalte unmittelbar wirken und der einzelne sich auf sie berufen kann, setzen sie sich auch gegenüber späteren Änderungen des Umsetzungsrechts durch. 125 Kompliziert wird es, wenn kein Fall der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie vorliegt, da es sich bei der Richtlinie nicht um unmittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht handelt und die Kollisionsregel des Anwendungsvorrangs an dieser Stelle nicht mehr weiterhilft. Eine radikaler Weg zur Lösung dieses Konflikts besteht darin, das innerstaatliche Recht insoweit als einen ultra vires ergangenen Gesetzgebungsakt einzustufen, wie es die Vorgaben der Richtlinie überschreitet. Für den sachlichen Regelungsbereich der Richtlinie verlieren danach die Mitgliedstaaten ihre gesetzgeberischen Befugnisse.126 Insoweit wäre das nationale Recht schon an einer ordnungsgemäßen Entstehung gehindert und nichtig. Dieser Ansicht kann mit der vorherrschenden Meinung nicht gefolgt werden. 127 Durch die Rechtsangleichung verlieren die Mitgliedstaaten nicht ihre Norm-

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Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 61; Gellermann, Beeinflussung, S. 89 f.; Karoff\ RabelsZ 48 (1984) 649, 674; Lutter, Everling-FS, S. 765, 781; Oehlert, JuS 1997, 317, 318; Oppermann, Europarecht, Rn. 554; Rengeling in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 28 Rn. 59; Scherzberg, Jura 1992, 572, 578; Timmermanns, RabelsZ 48 (1984) 1, 7, 36f.; Weigl, ÖJZ 1996, 933, 934. Gellermann, Beeinflussung, S. 97; Oppermann, Europarecht, Rn. 554 a. E. So explizit: Timmermanns, RabelsZ 48 (1984) 1, 7. In diesem Sinne schon Ophüls, NJW 1963, 1697, 1700; ähnlich Constantinesco, JuS 1965, 289, 294f.; Riegel, BayVBl. 1974, 33 ff. Gellermann, Beeinflussung, S. 92; Gstallmeyr, Bewehrung von Richtlinien, S. 15ff.; Η. P. Ipsen, EuR 1979, 223, 236f.; Karoff, RabelsZ 48 (1984), 649, 677; Lutter, Everling-FS,

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

gebungsbefugnis, sondern das gesamte System zielt gerade auf ein Tätigwerden der innerstaatlich zuständigen Stellen und somit insbesondere auf gesetzgeberische Aktivitäten. 128 Der nationale Gesetzgeber handelt bei der Umsetzung von Richtlinien kraft seiner fortbestehenden Staatsgewalt. Grundlage des im Rahmen der Harmonisierung erlassenen Rechts ist also die Rechts- und Verfassungsordnung der jeweiligen Mitgliedstaaten. 129 Diese Normgebungsbefugnis erschöpft sich auch nicht in der erstmaligen Umsetzung einer Richtlinie. Das beweisen Richtlinien, die den Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum einräumen. Davon kann der Mitgliedstaat bei der erstmaligen Umsetzung, aber auch später Gebrauch machen. 130 Des weiteren ist eine etwaige Nichtigkeit desjenigen Rechts, das die Umsetzungsnormen richtlinienwidrig ändert, auch normentheoretisch nicht gesichert, denn „die Vorrangregel des Gemeinschaftsrechts, verstanden als Gebot des Anwendungs-Vorrangs gegenüber dem staatlichen Rechtsanwender in Justiz oder Verwaltung, wird wirksam allein bei der Rechtsanwendung, nicht aber bereits in der Stufe der nationalen Rechtssetzung." 131 Da dem Gemeinschaftsrecht gegenüber dem nationalen kein normhierarischer Geltungsvorrang im Sinne des Stufenbaus der Rechtsordnung zukommt, 132 kann das nationale Recht nicht an seiner wirksamen Entstehung gehindert werden. Auf der Ebene des nationalen Rechts kommt es vielmehr zur Derogation des Umsetzungsrechts (lex posterior derogat legi priori). Gegen das neue Recht setzt sich die Richtlinie nur im Fall der unmittelbaren Wirkung im Wege des Anwendungsvorrangs durch. Ungeachtet dessen kann die Kommission gemäß Art. 226, ex-Art. 169 EGV wegen des von einem Mitgliedstaat geschaffenen, richtlinienwidrigen Rechtszustands das Vertragsverletzungsverfahren anstrengen. 133

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S. 765, 782 Fn. 85; Oppermann, Europarecht, Rn. 554; Scherzberg, Jura 1992, 572, 578; Zuleeg, Z G R 1980,466; 481. Gellermann, Beeinflussung, S. 92; Karoff, RabelsZ 48 (1984), 649, 677. Everting, Z G R 1992, 376, 378. Allerdings sind dabei auch Beschränkungen des Beurteilungsspielraums denkbar. Europarechtlich diskutiertes Beispiel: Eine Richtlinie stellt es in das Ermessen der Mitgliedstaaten, Gebiete zur Erhaltung wildlebender Vogelarten auszuweisen. Insoweit ist fraglich, o b der Mitgliedstaat einmal ausgewiesene Gebiete im nachhinein wieder ausnehmen darf, zusammenfassend Gellermann, Beeinflussung, S. 98 ff. mwN. H. P.Ipsen, EuR 1979, 223, 237. 2. Hauptteil Α. I. 2. b. Oppermann, Europarecht, Rn. 554.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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bb. Die Richtlinie als Maßstabsnorm Der Gedanke, das Richtlinienrecht auch in anderen als direkten Kollisionsfallen gegenüber dem nationalen Recht vorgehen zu lassen, taucht in der europarechtlichen Forschung mit unterschiedlichen Argumenten immer wieder auf.134 Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht ist das gut nachvollziehbar, weil die unmittelbare Wirkung dem Richtlinienrecht nur in einem Teil der Fälle zum Durchbruch verhilft. Eine Meinung tritt zwar nicht für eine Nichtigkeit des nationalen Rechts ein, will aber in der Richtlinie eine Art Maßstabsnorm für das nationale Recht erblicken.135 Hiernach liegt in der objektiven Wirkung der Richtlinie gegenüber den innerstaatlichen Stellen auch die Pflicht, das nationale Recht in den Fällen an der Richtlinie zu messen, in denen die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung nicht vorliegen und auch eine richtlinienkonforme Auslegung versagt. Sei das nationale Recht mit der Richtlinie nicht zu vereinbaren, müsse es unangewendet bleiben. 136 In diesem Sinne plädiert Weber für einen Geltungsvorrang der Richtlinie.137 Daran kann man kritisieren, daß die Regeln des Geltungsvorrangs im Sinne des Stufenbaus der Rechtsordnung auf das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht allgemein nicht übertragbar sind.138 Allerdings kann Webers Terminologie im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang auch nur die gedankliche Verknüpfung des aus der Funktionsfähigkeit abzuleitenden Vorranganspruchs mit der allgemeinen unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck bringen wollen, von der die Richtlinie nicht anzunehmen ist.139 Dafür spricht, daß Weber selbst lediglich von einer Anwendungssperre des nationalen Rechts und nicht von dessen Nichtigkeit ausgeht. 140 Jedenfalls strebt diese in sich heterogene Meinung eine größere Effektivität des Richtlinienrechts an und billigt der Richtlinie im Ergebnis eine über den Anwendungsvorrang reichende Vorrangwirkung zu.141 Dafür sprechen gute Gründe, denn eine Richtlinie bleibt nur Programm, solange sie nicht ihr Regelungsziel erreicht. Sie will ihre Inhalte auf der Ebene der innerstaatlichen Rechtsanwendung tatsächlich realisiert wissen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es durchaus schlüssig, wenn sich

134

Bach, JZ 1990, 1108, 1113; Langenfeld DÖV 1992, 955, 962 ff.; A. Weber, Oldenburg-FS, S. 699, 702. 115 Bach, JZ 1990, 1108, 1113; Langenfeld DÖV 1992, 955,962ff.; ähnlich A. Weber, OldenburgFS, S. 699, 702. 136 Bach, JZ 1990, 1108, 1112f.; Langenfeld DÖV 1992, 955, 962f. 137 A. Weber, Durchführung, S. 74; ders. Oldenburg-FS, S. 699, 702. 138 vgl. die Kritik von RengelinglΜiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 947 ff. 139 Siehe oben 2. Hauptteil Α. I. 1. h. 140 A. Weber, Durchführung, S. 74. 141 Vgl. dazu auch RengelinglMiddeke!Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 947.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

nach diesen Autoren die Unanwendbarkeit des nationalen Rechts nicht nur in den Fällen ergibt, in denen der Anwendungsvorrang als Kollisionsregel greift und das nationale Recht beiseite schiebt. So nachvollziehbar dieser Weg auch ist, führt er im Ergebnis aus innerstaatlicher Sicht zu erheblichen Problemen. Erkennt man diese Art der Unanwendbarkeit des nationalen Rechts an, so ergibt sich eine Schwierigkeit, die sich besonders gut anhand der Argumentation von Bach aufzeigen läßt. Dieser geht auch für den Fall, daß eine Berufung des einzelnen auf die Richtlinie nicht möglich ist und auch eine richtlinienkonforme Auslegung nicht weiterführt, von einer Unanwendbarkeit der nationalen Vorschrift aus.142 Daraus folgt ein Grundproblem dieser Ansicht: Es entsteht ein Rechtsvakuum, da die Richtlinie einerseits nicht unmittelbar anwendbar ist, aber andererseits auch kein nationales Recht mehr zur Verfügung steht, das angewendet werden könnte. 143 Bach sieht dieses Problem und will es den nationalen Gerichten bei einem zwingendem Bedürfnis erlauben, die richtlinienwidrige Norm weiter anzuwenden. 144 Was aber ein zwingendes Bedürfnis sein soll, führt Bach nicht aus. Der nationale Richter wird auf diese Weise in eine diffizile Rolle gedrängt. Seine Tätigkeit ist grundsätzlich am positiven Recht ausgerichtet. Es bindet und legitimiert seine Entscheidungen. Deshalb bedarf es im Zusammenspiel des Gemeinschaftsrecht mit dem nationalen Recht möglichst klarer Regeln, kraft derer der Richter die Ausrichtung an einer innerstaatlichen Norm aufgeben darf. Bei dem Anwendungsvorrang handelt es sich um eine zwar schwierige und komplexe Regel, die aber mit der Voraussetzung der innerstaatlichen Wirksamkeit einer Norm des Gemeinschaftsrechts im Ergebnis doch mit einer stringenten Grundvoraussetzung versehen ist. Infolge der rechtsfortbildenden Rechtsprechung des Gerichtshofs erzeugen auch unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte diesen Verdrängungseffekt. Das Zusammenspiel beider Rechtsordnungen wird aber noch komplizierter, wenn man die Anwendbarkeit des nationalen Rechts in eine diffuse Abhängigkeit von „zwingenden" Bedürfnissen bringt. Schon eher überzeugt daher die Meinung, die angesichts denkbarer Regelungslücken die Unanwendbarkeit auf die Fälle offensichtlicher Richtlinienwidrigkeit beschränkt. 145 Auch wird erwogen, die Unanwendbarkeit nur zuzulassen, wenn das

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Bach, JZ 1990, 1108, 1112 f. Gstaltmeyr, Bewehrung von EG-Richtlinien, S. 191; Scherzberg, Jura 1993, 225, 229; Zuleeg, ZGR 1980,466, 481. Bach, JZ 1990, 1108, 1113 Fn. A. Weber, Oldenburg-FS, S. 699, 702.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

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verbleibende Recht eindeutige Sachverhaltslösungen zuläßt. 146 Aber auch diesen Vorschlägen wird hier nicht gefolgt, weil sich erhebliche Probleme in der Rechtsanwendung ergeben. Durch die Maßstabsfunktion könnte im Einzelfall auch eine dem Bürger günstige Vorschrift verdrängt werden, weshalb es zu einer Belastung des Betroffenen käme.147 Das ginge über die Dogmatik der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien hinaus, wo es jedenfalls im Verhältnis zum Staat nicht zur Belastung des Bürgers kommen soll. Aber auch aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts ist ein derart weitreichender Verdrängungseffekt nicht ganz überzeugend, denn es stehen nicht nur positive und im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzustrebende Rechtsfolgen in Rede. Sieht eine Richtlinie etwa die Verschärfung der mitgliedstaatlichen Kennzeichnungspflichten für gesundheitsschädliche Produkte vor, würde ein gänzlicher Wegfall der innerstaatlich gebotenen Warnhinweise dem gemeinschaftsrechtlichen Schutzzweck deutlich zuwiderlaufen. 148 In dem entstehenden Rechtsvakuum fehlt jede Regelung, weil die Richtlinie selbst dem Bürger keine Pflichten auferlegen kann und das nationale Recht unanwendbar wird. Der bereits erörterte Fall „Ratti" 149 hat gezeigt, daß auch aus strafrechtlicher Sicht eine Wahrung der Anwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts für die Fälle sehr wichtig ist, in denen der Täter „gegen beide Rechtslagen" verstößt. Insgesamt handelt es sich bei der Frage nach der Maßstabsfunktion der Richtlinie um ein Problem noch nicht abgeschlossener, europarechtlicher Forschung. Für diese Untersuchung wird der Richtlinie nicht die Funktion einer Art Maßstabsnorm mit verdrängender Wirkung zugewiesen. Mit der vorherrschenden Meinung wird der Fall einer Verdrängung des nationalen Rechts auf den Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien beschränkt. 150

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Langenfeld, DÖV 1992, 955, 963 f. Scherzberg, Jura 1993, 225, 229, weshalb Langenfeld, DÖV 1992, 955, 963f. den Verdrängungseffekt bei nicht unmittelbar wirkenden Richtlinien auf den Bürger begünstigende Sachverhalte eingrenzen will. Dagegen hält Bach, JZ 1990, 1108, 1113 auch Belastungen für denkbar. Beispiel bei Scherzberg, Jura 1993, 225, 229; siehe ferner RengelinglMiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 948. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629ff. Gellermann, Beeinflussung, S. 89ff; Gstaltmeyr, Bewehrung von Richtlinien, S. 190fF.; Haneklaus, DVB1. 1993, 129, 131 f.; Rengelingl Middekel Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 947ff.; Scherzberg, Jura 1993, 225, 229; Zuleeg, ZGR 1980, 466,481.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

b. Zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung aa. Überblick Auf dieser Grundlage kann nunmehr der Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung erörtert werden. Dazu bedarf es eingangs einmal mehr der terminologischen Klarstellung. Die strafrechtliche Literatur bedient sich teilweise eigener Begriffe und spricht von persuasiver oder imperativer Richtlinienwirkung zweiten Grades. 151 Die Unterscheidung zwischen der Richtlinienwirkung ersten und zweiten Grades erfolgt in Anlehnung an Streil.iS1 Die Richtlinien Wirkung ersten Grades meint den Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, während der Fall der richtlinienkonformen Auslegung als Richtlinienwirkung zweites Grades bezeichnet wird. 153 Wenn Franzheim und Kreß sodann am Beispiel des § 326 StGB die persuasive oder imperative Richtlinienwirkung zweiten Grades diskutierten, sprechen sie damit in der Sache den Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung an, den sie für § 326 StGB ablehnen. Dieser Weg wird hier nicht verfolgt. Die Frage des Vorrangs wird unter Wahrung einer gemeinschaftsrechtlich und strafrechtlich möglichst einheitlichen Terminologie zunächst allgemein erörtert. Die dazu vorhandenen Meinungen lassen sich grob in zwei Lager aufspalten. 154 Die Verfechter eines Vorrangs der richtlinienkonformen Auslegung begründen ihre Ansicht unter anderem mit dem Hinweis auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, 155 aber auch mit einem Anwendungsvorrang der umgesetzten Richtlinie gegenüber dem sonstigen nationalen Recht, der sich im Rahmen der Auslegung des nationalen Rechts als Vorrang der speziellen gegenüber der allgemeinen Regelung durchsetzen könne.156 Ferner wird aus dem Gesichtspunkt der Gemeinschaftstreue ein Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung vor den allgemeinen Interpretationsgesetzen des nationalen 151 152 153

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FranzheimlKreß, JR 1991,402,403. Streil in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die EG, S. 210. Franzheiml Kreß, JR 1991, 402f. Das ist sachlich möglich, terminologisch jedoch nicht vorzugswürdig. Die Differenzierung nach Graden assoziiert ein Stufenverhältnis, das nur zu leicht zur gedanklichen Verquickung zweier unterschiedlicher Einflußmöglichkeiten des Richtlinienrechts verleitet. Wenn also in der Literatur vereinzelt die Richtlinienwirkung zweites Grades diskutiert wird, so wird vorliegend darunter die richtlinienkonforme Auslegung verstanden. Vgl. Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 407ff.; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 612. Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 75; Spelzler, R I W 1991, 579, 590; Wöhlermann, Die richtlinienkonforme Auslegung im Arbeitsrecht, S. 131. In diesem Sinne mit knapper Begründung offenbar auch Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 100. Götz, NJW 1992, 1849, 1854.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

351

Rechts hergeleitet.157 Wenn das nationale Recht nicht richtlinienkonform gedeutet werden könne, habe das Gericht die betreffende Norm als dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehend unangewendet zu lassen.158 Auch wenn der Fall der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie nicht vorliege, sei eine Rechtsfortbildung contra legem erforderlich, um der Richtliniennorm gegenüber der nationalen Vorschrift zum Durchbruch zu verhelfen. 159 Die überwiegende Meinung lehnt einen Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung ab.160 Der Aufstieg des Gebots der richtlinienkonformen Interpretation innerstaatlichen Rechts zum ranghöchsten Normauslegungsprinzip, mit dem gar Verfassungsnormen relativiert werden könnten, setze voraus, daß das EG-Recht auch materiell der Verfassung vorgehe. Das sei nicht der Fall, da es sich um zwei getrennte Rechtsordnungen handele. Anerkannt sei nur der Anwendungsvorrang, aber gerade kein umfassender Geltungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Art. 24 G G habe den Stufenbau der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht in dem Sinne nach oben erweitert, daß er die Verfassung selbst dem von der zwischenstaatlichen Einrichtung gesetzten Recht unterwerfen wollte.161 Der vom Gerichtshof postulierte Vorrang des Gemeinschaftsrechts setze voraus, daß die europarechtliche Norm im konkreten Fall tatsächlich eine unmittelbare Wirkung erzeugt. 162 Ein allgemeiner Vorrang der Richtlinie im Sinne eines Geltungsvorrangs liege der Lehre vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht zugrunde. 163 bb. Kein Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung Auch an diesem Punkt ist man einmal mehr zu klären, was unter dem Begriff des Vorrangs im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung konkret zu verstehen ist. Mit dem Vorrangbegriff wird grundsätzlich bei der Kollision zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht argumentiert, 164 wobei sich der bereits erörterte Begriff des Anwendungsvorrangs durchgesetzt hat, um zu verdeutlichen, daß die nationale Norm lediglich verdrängt wird und schlicht unange157 158 159 160

161 162 163 164

Lutter, JZ 1992, 593,605. Bach, IT 1990, 1108, 1113. Lutter, JZ 1992, 593, 607. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 213ff.; Classen, EuZW 1993, 83, 87; DänzerVanotti, StVj 1991, 1, 8 f.; DiFabio, NJW 1990, 947 ff.; Ehr icke, RabelsZ 59 (1995), 598, 612ff.; Gellermann, Beeinflussung, S. 112 f.; Gstaltmeyr, Bewehrung von Richtlinien, S. 211 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 531 f. Di Fabio, NJW 1990, 947, 950 ff. Classen, EuZW 1993, 83, 87. Gellermann, Beeinflussung, S. 112. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 9; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 280; Rengeling, DVB1. 1995,945,948.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

wendet bleibt.165 Dabei setzt der Anwendungsvorrang voraus, daß das Gemeinschaftsrecht unmittelbar wirksam und anwendbar ist.166 Im Gegensatz zu einem Widerspruch zwischen dem nationalem Gesetz einerseits und dem Primärrecht, der EG-Verordnung oder dem Fall der unmittelbaren Wirkung andererseits, handelt es sich bei der richtlinienkonformen Auslegung aber gerade nicht um einen Kollisionsfall zweier unmittelbar anwendbarer Vorschriften.' 67 Die richtlinienkonforme Interpretation findet vor allem dann statt, wenn eine Richtlinie nicht die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllt. 168 Es geht um eine Integration der Richtlinie in den Auslegungsvorgang. Die Frage ist sodann, ob sich das richtlinienkonforme Auslegungsergebnis durchsetzt. Freilich kann man diesen Fall als eine Art indirekte Kollision begreifen, die auftritt, wenn das Auslegungsergebnis unter Beachtung der Richtlinie die Rechtsfolge X vorsieht, während die Rechtsfolge Y das Ergebnis einer isolierten Ausdeutung des innerstaatlichen Rechts wäre. Das hat aber mit den Voraussetzungen und der Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs nichts zu tun. Da der richtlinienkonformen Auslegung kein Fall der Kollision zweier unmittelbar anwendbarer Vorschriften zugrundeliegt, überzeugt es nicht, wenn in der Literatur für den Fall, daß die nationale Norm nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, die Unanwendbarkeit der innerstaatlichen Vorschrift bejaht wird.169 Mangels unmittelbarer Anwendbarkeit der Richtlinie entstünde auch hier ein rechtsstaatlich bedenkliches Rechtsvakuum, 170 da in die vorhandene Lücke kein anwendbares Gemeinschaftsrecht strömen kann. Nun ist es denkbar, für diesen Fall eine Rechtsfortbildung contra legem zu fordern. 171 Das unterliegt jedoch Bedenken. Im Zuge einer derartigen Loslösung vom positiven Recht drohen Kompetenzübergriffe, da der ausstehende Legislativakt von den Behörden und Gerichten im Ergebnis vorwegzunehmen oder der unzureichende Legislativakt entgegen dem geschaffenen Umsetzungsrecht „richtlinienkonform" zu korrigieren wäre. Zudem wäre nicht gewährleistet, daß eine

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Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 155, 161, ausführlich im 2. Hauptteil Α. I. 2. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1088; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 280; Stern, JuS 1998, 769, 773; Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 EGV Rn. 19; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 155, 163. Siehe Jarass, DVB1. 1995, 954, 959. Schwarze!Hatje in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 33 Rn. 14; Stern, JuS 1998,769,773. So aber: Bach, JZ 1990, 1108, 1112f.; Dendrinos, Rechtsprobleme, S. 291; Lutter, JZ 1992, 593, 607. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 172. So: Lutter, JZ 1992, 593, 607, womit freilich nicht unterstellt werden soll, daß Lutter ähnliches für das Strafrecht vertritt.

Β. Gemeinschaftsrechtliche Vorfragen

353

Rechtsfortbildung auf einer derartig unsicheren Grundlage zu einheitlichen Ergebnissen führt. Ein derartiger Vorrang ist gemeinschaftsrechtlich auch nicht gefordert. Wenn der Gerichtshof im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung auf Art. 10, ex-Art. 5 EGV hinweist, enthält diese Argumentation sicherlich den bei der dogmatischen Begründung des Anwendungsvorrangs wichtigen Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Gemeinschaftsrechts, doch diese gemeinsame Anleihe sollte terminologisch keine Fortführung finden. Die „Vorrangigkeit" der richtlinienkonformen Auslegung unterscheidet sich grundsätzlich von der des Anwendungsvorrangs. Der Gerichtshof geht bei seiner Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Interpretation auch nicht von einem Vorrang aus, der dem Anwendungsvorrang ähnelt. 172 Er betont nicht nur die Auslegungsfähigkeit des nationalen Rechts, damit die nationalen Gerichte überhaupt richtlinienkonform auslegen können, sondern erwähnt auch die Zuständigkeit der innerstaatlichen Stelle.173 Die Beachtung eines Interpretationsspielraums und die Betonung der Zuständigkeiten führt dazu, daß KompetenzübergrifTe im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung vermieden werden. 174 cc. Die richtlinienkonforme Auslegung als Vorzugsregel Der Ausschluß des Vorrangs der richtlinienkonformen Interpretation präjudiziert jedoch nicht ihr Gewicht im Rahmen der Auslegung. 175 Bei dem schwierigen Unterfangen, den Einfluß zu umschreiben, den die Richtlinie bei der Auslegung nationalen Rechts spielt, wählt Ehricke den Begriff der Vorzugsregel.m Er hat damit eine treffende Terminologie für das gefunden, was der Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht in der Sache verlangen: Unter zwei oder mehreren Möglichkeiten der Interpretation einer nationalen N o r m ist diejenige zu wählen, die am besten mit der EG-Richtlinie zu vereinbaren ist. 172 173 174

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Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 413. EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705 ff Vgl. Gellermann, Beeinflussung, S. 113; Jarass, DVB1. 1995, 954, 960; Schwarze!Hatje in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 33 Rn. 21. Es sei noch auf eine Ansicht hingewiesen, die in der Frage des Vorrangs der richtlinienkonformen Auslegung eine vermittelnde Position einnimmt: Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 282 ff. plädiert für eine Pflicht der nationalen Gerichte zur gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß diese Ansicht im Lichte des Gesetzlichkeitsprinzips nach Art. 103 Abs. 2 GG und nach der entsprechenden Rechtsprechung des EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609 ff. nicht auf das Strafrecht übertragen werden und Nettesheim so auch nicht verstanden werden kann. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 9. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 623.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Dieser Stellenwert ist der richtlinienkonformen Auslegung in der Literatur bereits verschiedentlich zuerkannt worden.177 Die Ausrichtung der Interpretation nationalen Rechts an einer Richtlinie wurde in diesem Sinne auch mit der verfassungskonformen Auslegung verglichen.178 Dieser Vergleich überzeugt vor allem unter methodischen Gesichtspunkten, da in beiden Fällen unter mehreren denkbaren Auslegungsresultaten das richtlinienkonforme bzw. verfassungskonforme Ergebnis gewählt wird.179 Die Terminologie von der Vorzugsregel paßt aber noch besser, weil deutlich wird, daß es um einen umfassenden Auslegungsgrundsatz geht. Mit dem Begriff der verfassungskonformen Auslegung verbindet sich die Vorstellung, eine Bestimmung nur dann als verfassungswidrig anzusehen, wenn sie nicht verfassungskonform ausgelegt werden kann.180 Durch die verfassungskonforme Auslegung wird die Verwerfung der Norm als verfassungswidrig verhindert. 181 Im Strafrecht lebt dieser Gedanke vor allem auf, wenn verfassungsrechtliche Zweifel an der Bestimmtheit einer Strafnorm bestehen. 182 Da sich freilich nicht bei jeder Strafnorm derartige Bedenken ergeben, ist die verfassungskonforme Auslegung in diesem Sinne nicht regelmäßig Teil jeder Normdeutung. Bei der richtlinienkonformen Interpretation geht es aber um einen allgemeinen Auslegungsgrundsatz, der sich auf alle Auslegungsfalle bezieht. Dem wird der Begriff der Vorzugsregel besser gerecht. dd. Zwischenergebnis Aus dem Gemeinschaftsrecht folgt auch für das Strafrecht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung. Inhaltlich besteht diese Pflicht der Gerichte oder Behörden darin, innerhalb des Spielraums, den die nationale generelle Norm beläßt, bei der Findung der konkret-individuellen Rechtsfolge die Richtlinieninhalte zu berücksichtigen. Eine Anwendung der Richtlinie selbst scheidet aus,183 wie auch ein Auslegungsergebnis contra legem nicht in Betracht kommt. 184 177

Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 9; Gellermann, Beeinflussung, S. 113; Gstaltmeyr, Bewehrung von Richtlinien, S. 214; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 92 ff. 178 Cramer, Triffterer-FS, S. 323, 334; Gellermann, Beeinflussung, S. 113; Gstaltmeyr, Bewehrung von Richtlinien, S. 213; Jarass, EuR 1991, 211, 2 1 3 f f ; ders. DVB1. 1995, 954,958; Ress, DÖV 1994, 489 ff. Siehe Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 259. 180 LarenzICanaris, Methodenlehre, S. 160; Müller, Juristische Methodik, S. 86. 181 BVerfGE 2, 266, 282; 8, 28, 34; 9, 194, 197ff.; 14,56,73; 16,306,329; 18, 18, 34; 19, 1, 5; 21, 292, 305;48, 40,45; 69, 1,55; 88, 145, 166ff.; 88,203, 33Iff. 182 Als jüngeres Beispiel einer verfassungskonformen Auslegung einer Strafnorm kann BVerfGE 87, 209, 224ff. (Auslegung des § 131 StGB) angeführt werden. 183 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 251. 184 Schlußanträge des Generalanwalts Elmer in: E u G H , Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996, 1-4705, 4716.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht Um sich auf dieser Grundlage der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht systematisch zu nähern, wird sogleich an den verfassungsrechtlichen Hintergrund strafrechtlicher Auslegung erinnert und der eigene Standpunkt zum Analogieproblem benannt. Daran schließt sich die Beantwortung der Frage an, ob der Maßstab des Art. 103 Abs. 2 G G für die richtlinienkonforme Interpretation im Strafrecht gilt.

I. Verfassungsrechtliche Bindungen Der sachliche Gehalt des Strafgesetzes wird durch Auslegung in die Praxis der Rechtsanwendung umgesetzt. 185 Zwischen dem Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit im Sinne des Art. 103 Abs. 2 G G und dem Akt der konkreten Rechtsfindung besteht dabei naturgemäß ein Spannungsverhältnis, weil das Gesetz nicht jeden Einzelfall vorab zu erfassen vermag. Die Vielfalt der Lebenssachverhalte und der gesellschaftliche Wandel werfen immer wieder die Frage auf, ob ein konkretes Geschehen noch unter den abstrakten Rechtssatz subsumiert werden kann. Dessen Auslegung unterliegt nach vorherrschender Meinung im Strafrecht den Schranken des Analogieverbots, das als besondere Ausprägung und Konsequenz des Art. 103 Abs. 2 G G verstanden wird.186 So sehr das Grundgesetz unserer Justiz an anderer Stelle Vertrauen schenkt, akzentuiert es in Art. 103 Abs. 2 G G den allgemeinen Gesetzesvorbehalt. 187 Die

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JeschecklWeigend, AT, § 17, vor I. BVerfGE 71, 108, 114f.; 87, 209, 224; 87, 363, 391; 92, 1, 11 f.; Eser in: Schönke-Schröder, § 1 Rn. 24; Gribbohm in: LK, § 1 Rn. 72; Lackneri Kühl, § 1 Rn. 5; Looscheldersl Roth, Juristische Methodik, S. 293; C. Roxin, AT, § 5 Rn. 8, 30; Rudolphi in: SK-StGB, § 1 Rn. 22; Schmdt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 225. Allgemein zur Analogie und deren Voraussetzungen Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202 ff. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 225. Zumindest ein wichtiger Grund dafür sind die bitteren Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Straijustiz und Gesetzgebung. Auch in einer Arbeit, die sich dem Verhältnis des Strafrechts zum Europarecht und damit den Rechtsfragen einer gemeinsamen Zukunft der europäischen Völker zuwendet, muß dieser Zusammenhang benannt werden: In der Weimarer Zeit wurde das „nulla poena"-Prinzip im Sinne einer Wortsinnbindung verstanden, siehe RGSt 29, 111, 116; 32, 165, 185f.; 56, 161, 168; Lüken, Der Nationalsozialismus und das materielle Strafrecht, S. 68; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 136. Unter den Nationalsozialisten kam es zu einer „Reform", dazu Marxen, Der Kampf gegen

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

dort formulierte Forderung nach der Gesetzesbestimmtheit ist nicht nur eine Handlungsanweisung an den Gesetzgeber,188 sondern zugleich eine Handlungsbegrenzung für den Richter. 189 Möglichst genau formulierte Straftatbestände wären wirkungslos, wenn sich der Strafrichter nicht strikt an diesen Vorschriften orientieren müßte. 190 Er ist an das Gesetz gebunden, weil er den durch den Wortlaut der Norm gezogenen Rahmen zu beachten und nur konkretisierend auszufüllen hat. 191 Obwohl Art. 103 Abs. 2 G G seinem Wortlaut nach ja nicht direkt auf die Grenzen strafrechtlicher Auslegung eingeht, setzt diese Vorschrift somit der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen. 192 In diesem Sinne gibt es eine gegen Art. 103 Abs. 2 G G verstoßende Auslegung des Strafgesetzes.193 Sie beeinträchtigt nicht nur die Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit des Strafbaren, 194 sondern läuft Gefahr, kriminalpolitische Grundentscheidungen unter Ausklammerung des Parlaments vorwegzunehmen. 195 Wenn der strenge Gesetzesvorbehalt gewährleisten will, daß der Parlamentsgesetzgeber über das, was strafbar sein soll, selbst entscheidet, 196 dann muß es die Bindung des Richters an den Norm text geben. Das Analogieverbot stellt mithin die Aufgabe, die zulässige Auslegung von der verbotenen rechtsschöpferischen Analogie abzugrenzen.197 Dafür dient der vorherrschenden Meinung der sogenannte „mögliche Wortsinn" als Kriterium. 198 Auslegung und Analogie werden also überwiegend als gegensätzlich umschrieben und an dieser Stelle setzt Kritik ein. Sie geht auf die Einsicht zurück, daß jede Aus-

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das liberale Strafrecht, S. 192ff.; Rüping, Oehler-FS, S. 27, 30, an deren Ende ein Wortlaut stand, der für sich spricht. § 2 RStGB (RGBl. 1953 I, S. 839) lautete: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft". BVerfGE 87, 207, 223 a. E. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 225. Baumann/ WeberlMitsch, AT, § 9 Rn. 55. C. Roxin, AT, § 5 Rn. 28. BVerfGE 92, 1, 16. Siehe BVerfGE 87, 209, 229; 92, 1, 14; Müller, Juristische Methodik, S. 193 ff. Rüping in: BK, Art. 103 Rn. 44. Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 47 ff.; C. Roxin, AT, § 5 Rn. 30. BVerfGE 67, 207, 224; 71, 108, 114; 75, 329, 341; 78, 374, 382; 87, 209, 224; 95, 96, 131. C. Roxin, AT, § 5 Rn. 26. BVerfGE 47, 109, 121; 64, 389, 393; 71, 108, 115; 73, 206, 235; 82, 236, 269; 87, 209, 224f.; BGHSt 14, 144, 148; 28, 224, 230; Gropp, AT § 2 Rn. 20, 26; Jescheck/Weigend, AT, § 17 Anm. 5; Krey, Studien, S. 127 ff.; Lackneri Kühl, § 1 Rn. 6; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 137; Otto, Grundkurs, S. 30; C. Roxin, AT, § 5 Rn. 26fT.; Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 226; Schünemann, Klug-FS, 169, 180; WesselsI Beulke, AT Rn. 57.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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legung analogische Gedanken und daraus gezogene Folgerungen birgt. 199 Diese Kritik trifft zu, denn der Subsumtionsvorgang reflektiert den Gesetzestext und das Tatgeschehen und sucht nach einer Entsprechung von N o r m und Lebenssachverhalt. 200 Die Analogie ist Element der Auslegung. 201 Kein Strafrechtler wird bestreiten können, sich bei der Auslegung des Vergleichs zu bedienen und gerade für die Subsumtion der zweifelhaften Fallkonstellation unter das Gesetz stellt ihre Vergleichbarkeit mit den unstreitigen Fällen ein wichtiges Kriterium dar. Allein deshalb sollte man den Terminus vom Analogieverbot aber nicht aufgeben, solange damit das Ziel verfolgt wird, solche Analogieschlüsse auszuschließen, die den Rahmen des Gesetzes überschreiten und sich damit als eine praeter legem erfolgende freie Rechtsfindung erweisen. 202 Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zum Analogieverbot insoweit auch konkretisiert und erläutert, daß es den Begriff der Analogie nicht in einem technischen Sinn versteht, sondern damit jede Rechts-„Anwendung" ausschließen will, die über den Inhalt einer Sanktionsnorm hinausgeht. 203 Auch die Kritik an der Tauglichkeit des Kriteriums „möglicher Wortsinn", 204 anhand dessen die noch zulässige Auslegung von der unzulässigen Analogie

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Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 160 fT.; Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, S. 44ff., 136ff; Jakobs, AT 4/33ff. insbesondere Fn. 60; Arth. Kaufmann, Natur der Sache, S. 4ff., 40f., 47, 52f.; Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, S. 94ff, 147ff.Siehe ferner die Zusammenfassung bei Krey, Studien, S. 49 ff. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15; Otto, Grundkurs, S. 25. Baumann! Weber!Masch, AT, § 9 Rn. 56; Hassemer in: AK-StGB, § 1 Rn. 95; ders. Tatbestand und Typus, S. 164f.; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 102 (Exkurs IV zu Abschnitt X); Lackneri Kühl, § 1 Rn. 7; Otto, Grundkurs, S. 30; C. Roxin, ZStW 83 (1971), 369, 377; Schefßer, Jura 1996, 505, 510; H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 230. In diesem Sinne auch RaisehlMaasch, Benisch-FS, S. 216; Raisch, Juristische Methoden, S. 151 ff, wonach es sich bei der Analogie um einen Unterfall der systematischen Auslegung handelt. Das stimmt zunächst nachdenklich, aber diese Ansicht beruht auf der Annahme, daß die Analogie auch im Zivilrecht nur eingeschränkt zulässig ist. Unter dieser Prämisse schrumpfen die Interpretationsdivergenzen zwischen Zivil- und Strafrecht. Diese Gedanken müssen hier jedoch nicht im einzelnen nicht erörtert werden, zumal sich die Ergebnisse aus folgendem Grund weitgehend decken: Raisch selbst meint, das Bundesverfassungsgericht habe den möglichen Wortsinn verbindlich als Auslegungsgrenze bestimmt, siehe Raisch, Juristische Methoden, S. 153 f. und Fn. 97, mit Hinweis auf § 31 BVerfGG. Raisch bestreitet zwar einerseits, daß es ein spezifisches Analogieverbot im Strafrecht gibt, aber er billigt andererseits die vom Bundesverfassungsgericht mit dem „möglichen Wortsinn" gezogene Grenze. Damit kann es im vorliegenden Zusammenhang sein Bewenden haben, siehe auch v. Olshausen, Bemmann-FS, S. 125, 128 Fn. 12. Rudolphi in: SK-StGB, § 1 Rn. 22 a. E. BVerfGE71, 108, 115. Siehe nur Jakobs, AT 3/35.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

getrennt werden soll, kann man angesichts der Ambivalenz von Sprache nicht von der Hand weisen. Allerdings bietet der im Straftatbestand vertypte Kontext einer Vokabel regelmäßig ausreichende Gewähr, den konkret gemeinten Wortsinn aus der Fülle der abstrakt assoziierbaren Sinninhalte zu ermitteln. 205 Trotz einer gewissen Unschärfe ist der Begriff des Analogieverbots im Sinne der vorherrschenden Meinung vielmehr gut geeignet, um die aus Art. 103 Abs. 2 G G herzuleitende Gesetzesbindung terminologisch zum Ausdruck zu bringen. Hier ist nur der eigene Standpunkt zum Analogieproblem zu benennen, weil die fragliche Bindung der strafrechtlichen Auslegung durch Art. 103 Abs. 2 G G jenseits der Streitfragen um das Analogieverbot anzusiedeln ist. Ganz überwiegend bestreiten die Kritiker der vorherrschenden Meinung ja nicht, daß die in Art. 103 Abs. 2 G G formulierten Vorgaben auf die strafrechtliche Auslegung und Rechtsanwendung ausstrahlen. Sie unterstreichen diese Grenzen ausdrücklich, 206 spüren ihnen nach und bezeichnen sie als Generalisierungsverbot, 207 als Verbot der Überschreitung des im formellen Gesetz fixierten Typus der strafbaren Handlung 208 und unterbreiten Vorschläge, wie der Strafrichter bei der Auslegung methodisch vorgehen sollte.209 Auch die prägnante Klarstellung durch Arthur Kaufmann findet nicht immer ausreichende Beachtung. 210 Trotz aller Unterschiede im Detail erkennt die ganz vorherrschende Meinung an, daß die gesetzliche Bestimmtheit die Auslegung begrenzt. Unabhängig davon, welche Konsequenzen man aus Art. 103 Abs. 2 G G für die Auslegung im einzelnen zieht, ergibt sich hier die der Diskussion um das Analogieverbot vorgelagerte Frage, ob Art. 103 Abs. 2 GG für die richtlinienkonforme Interpretation überhaupt gilt. In den Auslegungsvorgang fließen Normen unter205

206 207 208 209 210

C. Roxin, AT, § 5 Rn. 37; Köhler, AT, S. 91; Schünemann, Nulla poena sine lege ?, S. 17ff.; allgemein Lorenz!Canaris, Methodenlehre, S. 164; LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 141 ff. Hassemer in: AK-StGB, § 1 Rn. 70f. Jakobs, AT 4/33. Arlh. Kaufmann, Natur der Sache, S. 52. Hassemer in: AK-StGB, § 1 Rn. 101. Die zweite Auflage (Analogie und „Natur der Sache", S. 60ff.) hat Arth. Kaufmann mit einem Nachwort versehen und wendet sich an seine Kritiker mit den Worten: „Mir ging es in erster Linie um den Nachweis, d a ß jede Rechtsanwendung bzw. Rechtsfindung ihrem Wesen nach kein formallogischer Schluß, keine einfache Subsumtion ist, sondern ein analogischer Prozeß, bei dem das teritum comparationis nichts anderes ist, als was mit einem etwas unpräzisen Spachgebrauch die ,Natur der Sache' genannt wird. Nur in diesem Zusammenhang hat meine Behauptung Gültigkeit, d a ß es ein striktes Analogieverbot, ein Verbot jeglicher strafbegründender und strafschärfender Analogie im Strafrecht nicht gibt und nie gegeben hat. Es ist deshalb ein Mißverständnis, wenn einige Kritiker meinen, ich wollte das strafrechtliche Analogieverbot überhaupt in Frage stellen. Daran denke ich nicht. Im Gegenteil, ich will die Grenzen enger ziehen (...)", siehe Arth. Kaufmann, Natur der Sache, S. 61 f. (Kursivdruck im Original).

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schiedlicher Herkunft ein. Dies sind auf der einen Seite die durch das Grundgesetz und mithin Art. 103 Abs. 2 G G begrenzten innerstaatlichen Strafgesetze und andrerseits Richtlinien, die jedoch gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs sind und als solche den Bindungen des Art. 103 Abs. 2 G G nicht unterliegen. Ohne zu wissen, ob Art. 103 Abs. 2 G G überhaupt einschlägig ist, ist es nicht sinnvoll, über Einzelfragen der richtlinienkonformen Auslegung zu diskutieren.

II. D a s nationale Recht als Ausgangspunkt der richtlinienkonformen Auslegung 1. Auslegungsfahigkeit des nationalen Rechts Wichtig f ü r die Beantwortung der Frage, ob der Maßstab des Art. 103 Abs. 2 G G gilt, ist der grundsätzliche Ausgangspunkt des Gerichtshofs und der europarechtlichen Literatur, der auch in der strafrechtlichen Diskussion der richtlinienkonformen Auslegung Aufmerksamkeit verdient: Das nationale Recht bildet den Anknüpfungspunkt der richtlinienkonformen Interpretation. Nach den Darlegungen des Gerichtshofs kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur insoweit in Betracht, als das nationale Recht dem Gesetzesanwender einen Spielraum einräumt. 2 " Jarass macht in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Entscheidung „Foster" aufmerksam. 2 1 2 Nach Auffassung des vorlegenden House of Lords war eine richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts nicht möglich. 213 Konsequenterweise ging der Gerichtshof in seinem Urteil allein auf die unmittelbare Wirkung und nicht auf eine richtlinienkonforme Auslegung ein. 214 Wenn der Gerichtshof die Interpretationsgrenzen des nationalen Rechts akzeptiert, dann gilt das eben auch für die Auslegungsgrenzen des Strafrechts. Die verfassungsrechtlich geprägten Grenzen strafrechtlicher Auslegung müssen nach der hier vertretenen strikten Differenzierung zwischen unmittelbarer Wirkung und richtlinienkonformer Interpretation im übrigen auch rechtstheoretisch für die richt-

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EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, 1891, 1909; Everling, ZGR 1992, 376 388; Gellermann, Beeinflussung, S. 107; Jarass, EuR 1991, 211,217; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 275; Scherzberg, Jura 1993, 225, 231 f.; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 155, 166. Jarass, Grundfragen, S. 94 Fn. 138; ders. EuR 1991, 211, 217. EuGH, Urteil vom 12.7.1990, Rs. C-188/89, Ε 1990, 1-3313, 3343, 3346. Es ging um den bereits im Zuge der Erörterung der unmittelbaren Wirkung angesprochenen Anspruch auf Gleichbehandlung gegenüber dem Energieversorger „British Gas". EuGH, Urteil vom 12.7.1990, Rs. C-188/89, Ε 1990,1-3313, 3343fT.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

linienkonforme Auslegung des nationalen Rechts gelten, denn es liegt kein Fall der unmittelbaren Anwendung einer N o r m des Gemeinschaftsrechts vor, für die der Maßstab der Verfassung eines Mitgliedstaats nicht gelten kann. Vielmehr wird eine N o r m des nationalen (Straf-)Rechts angewendet und hier ist eine richtlinienkonforme Deutung im Rahmen der vom nationalen Recht gegebenen Spielräume möglich. Diese Auslegungsspielräume des nationalen Strafrechts sind aber nicht das Produkt abstrakter, gleichsam in einem Rechtsvakuum ermittelter Rechtsregeln. Sie entstehen im Zuge einer Anwendung des nationalen Strafrechts durch grundrechtsgebundene Strafverfolgungsorgane und werden mithin auch durch die Verfassung festgelegt. Daher trifft es im Ergebnis grundsätzlich zu, wenn in der strafrechtlichen Literatur auf diesen Ausgangspunkt des Gerichtshofs im Sinne einer Auslegungsfahigkeit des nationalen Rechts abgestellt wird. 215 Die Auslegungsspielräume des nationalen (Straf-)Rechts werden von den verfassungsrechtlichen Vorgaben determiniert. Das gilt unabhängig davon, wie man zu diesen Vorgaben im einzelnen steht, also o b man nun mit der vorherrschenden Meinung aus Art. 103 Abs. 2 G G ein Analogieverbot ableitet oder nach anderen Wegen oder Terminologien sucht, um die Grenzen strafrechtlicher Rechtsfindung zu beschreiben.

2. K e i n e G e f ä h r d u n g d e r A u s l e g u n g s g r e n z e n im S t r a f r e c h t durch den Gerichtshof Eine Literaturansicht meint jedoch, die durch den Gerichtshof gezogene Grenze der Auslegungsfahigkeit des nationalen Rechts sei gemeinschaftsrechtlich keineswegs geboten. 216 Das EG-Recht habe die Tendenz, die Beschränkungen der nationalen Methodenlehre zu überwinden und damit mehr Einfluß im innerstaatlichen Raum zu erlangen. Daher lasse sich nicht darauf vertrauen, daß der Gerichtshof auch in Z u k u n f t auf die Beurteilungsspielräume des nationalen Rechts Rücksicht nehmen werde. Deshalb ist nach Heise zu klären, „ob die in Art. 103 Abs. 2 G G niedergelegten Grundsätze auch gegenüber der europarechtlichen Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung bzw. Rechtsfortbildung Bestand haben". 217 Daraus ergibt sich die Frage, ob die aus Art. 103 Abs. 2 G G folgenden Prinzipien des Bestimmtheitsgebots und des Analogieverbots unter die Ewig-

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Cramer, Triffterer-FS, S. 323, 335; DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 61; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 106, 147. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 125. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 126.

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keitsklausel des Art. 79 Abs. 3 G G fallen, 218 was diese Ansicht im Ergebnis bejaht. 219 Diese Gedanken reflektieren die Rechtsprechung des Gerichtshofs nur undifferenziert, weil das Gericht mit seiner Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen das Bestimmtheitsgebot f ü r Handlung und Strafe 220 und das Rückwirkungsverbot 221 explizit anerkannt hat. Für das Analogieverbot gilt nichts anderes, denn es folgt aus dem Prinzip gesetzlicher Bestimmtheit. 222 Diese Grundsätze sind Teil des Gemeinschaftsrechts, was Heise im übrigen selbst feststellt. 223 Die als denkbar erachtete Wende in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wäre zugleich ein Bruch mit den eigenen Entscheidungen und eine Mißachtung des vom Gerichtshof im Fall „Telecom Italia" explizit zitierten Art. 7 M R K . D a f ü r gibt es nicht einen Anhaltspunkt. Eine Diskussion derart hypothetischer Konfliktlagen hebt das Thema auf eine Ebene, die mit den anstehenden Auslegungsproblemen nichts mehr gemein hat. Um Mißverständnisse auszuschließen: Freilich überzeugt es grundsätzlich, die Ausprägungen des Art. 103 Abs. 2 G G als auch verfassungsrechtlich nicht änderbar zu deuten. 224 Allein darin liegt im vorliegenden Zusammenhang aber noch kein Gewinn. U m den verfassungsrechtlichen Kollisionsfall nicht nur anzudeuten, sondern wirklich greifbare Ergebnisse zu erzielen, wäre festzulegen, was genau dem unantastbaren Kern des Art. 103 Abs. 2 G G im Sinne des Art. 79 Abs. 3 G G unterfällt. 225 Das folgt aus Art. 23 G G und aus der „Solange II" Entscheidung, nach der auf europäischer Ebene insbesondere mittels der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein wirksamer Schutz der Grundrechte gewährleistet werden muß, der dem vom

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Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 126 ff. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 126 ff., 150. EuGH, Urteil vom 12. 12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95,1-6609, 6637. Für das Rückwirkungsverbot hat der Gerichtshof im Fall „Kirk", EuGH, Urteil vom 10.7.1984, Rs. 63/83, Ε 1984, 2689, 2718, erkannt: „Das Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften ist ein allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz, der in Artikel 7 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten als Grundrecht verankert ist und zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat." Vgl. ferner Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 1086f.; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 22. Schlußanträge des Generalanwalts Colomer in: EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95,1-6609, 6620. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 151 ff. Herzog in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20 VII Rn. 39; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, S. 103 f.; Stern, Staatsrecht Bd. III/2, S. 1126. Vgl. Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, S. 103 f. Fn. 328, denn es ist durchaus fraglich, ob Art. 103 Abs. 2 GG in jeder Hinsicht Verfassungsänderungen entzogen wäre, dazu zutreffend: Grünwald, Μ DR 1965, 521, 525.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Grundgesetz als unabdingbar gebotenem Schutz im wesentlichen gleichsteht. 226 Ein vergleichbarer Schutz ist aber kein identischer Schutz. Wir können auch im Strafrecht nicht verlangen, daß sich ein europäischer Grundrechtsschutz inhaltlich vollständig mit dem unseren deckt. Wenn jede der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen diesen Anspruch erheben würde, wäre das System gesprengt. Wir sollten angesichts unserer Strafrechtsgeschichte auch nicht meinen, gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten überzeugend aufzutreten, wenn wir unsere Maßstäbe von vornherein als für ganz Europa richtig ansehen. Wer in diesem Zusammenhang mit Art. 79 Abs. 3 G G argumentieren will, muß den unaufgebbaren Kern des Art. 103 Abs. 2 G G umschreiben und sodann ermitteln, wo die Rechtsprechung des Gerichtshofs diesen Kernbereich verletzt. D a f ü r gibt es aber keine Anhaltspunkte. Heises Äußerungen sind in der Sache gut gemeint, werden aber der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht gerecht und auch nicht mit Entscheidungen des Gerichtshofs belegt. Das kann nicht verwundern, denn die Befürchtung, der Gerichtshof könne die Strafgerichte anhalten, die ihnen durch das nationale Recht gezogenen Grenzen zu verlassen, findet in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Stütze. Das Gegenteil ist der Fall. Im Ergebnis bestehen zur Meinung Heises freilich keine Unterschiede: Die Grenzen des Art. 103 Abs. 2 G G gelten auch für die richtlinienkonforme Auslegung.

III. Zur Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen" Diese klare Festlegung auf die Grenzen der Auslegung nach Art. 103 Abs. 2 G G bedarf noch der Auseinandersetzung mit Dannecker, der sich zu diesem Thema vorsichtig äußert. 227 Danach nehmen die verfassungsrechtlich garantierten Strafrechtsprinzipien, jedenfalls soweit es sich dabei um allgemeine Rechtsgrundsätze handelt, Vorrang vor der richtlinienkonformen Interpretation ein.228 Diese Aussage legt sich nicht eindeutig auf Art. 103 Abs. 2 G G fest, sondern benennt für den Auslegungsvorgang eine „jedenfalls" geltende Schnittmenge aus den verfassungsrechtlich garantierten Strafrechtsprinzipien und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. 229

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BVerfGE 73, 339. Dannecker, JZ 1996, 869, 873. Dannecker, JZ 1996, 869, 873; siehe auch ders., Strafrecht der EG, S. 64. Zur Klarstellung: Daraus folgt nicht, daß Dannecker die einzelnen Ausprägungen des Art. 103 Abs. 2 GG, also z.B. das Rückwirkungsverbot, nicht gewahrt wissen will. Der Grundrechtsschutz verschiebt sich gewissermaßen auf die Ebene des Gemeinschaftsrechts.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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Diese Auffassung erinnert an Äußerungen des Gerichtshofs im Fall „Kolpinghuis Nijmegen". 230 Der Gerichtshof widmete sich in dieser Entscheidung neben der unmittelbaren Wirkung auch der richtlinienkonformen Auslegung unter strafrechtlichen Gesichtspunkten. Die Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Ausdeutung seines Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet danach ihre Grenze in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot. 231 Auf der Grundlage dieser Ausführungen des Gerichtshofs erscheint Danneckers Ansicht als konsequent, nach der die verfassungsrechtlich garantierten Strafrechtsprinzipien, jedenfalls soweit es sich dabei um allgemeine Rechtsgrundsätze handelt, die richtlinienkonforme Auslegung begrenzen. 232 Fraglich ist jedoch, ob aus dieser knappen Urteilspassage eine abschließende Umschreibung der Grenzen einer richtlinienkonformen Interpretation im Strafrecht entnommen werden kann. Im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" ist die als heikel zu bezeichnende Ausgangslage nach den innerstaatlichen Vorschriften zu beachten, über die das Urteil gleich an mehreren Stellen Auskunft gibt. 233 Zunächst ist wiederum auf die einschlägige Richtlinie hinzuweisen, 234 die festlegt, unter welchen Voraussetzungen ein Getränk als „Mineralwasser" vertrieben werden darf. Nach deren Art. 4 muß Mineralwasser aus einer Quelle gewonnen werden und darf bis auf den Entzug oder die Zufügung von Kohlensäure nicht weiter behandelt werden. Wie bereits dargelegt, hatten die Niederlande diese Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt, und der Tatzeitpunkt lag nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist, aber vor der später erfolgten Umsetzung. Die Anklage stützte sich auf eine Verordnung der Stadt Nijmegen, nach der es verboten war, für den Handel und den menschlichen Genuß bestimmte Waren, die aufgrund ihrer Zusammensetzung fehlerhaft sind, zum Verkauf oder zur Lieferung vorrätig zu halten. 235 In dem Wort „fehlerhaft" verbergen sich die diffizilen Züge dieses Falles. Das niederländische Recht präsentierte ein Einfalltor für eine belastende richtlinienkonforme Auslegung. Generalanwalt Mischo stellt die Problematik des Falles anhand eines hypothetischen Gedankengangs vor. Er führt aus, daß sich für den niederländischen Richter im Rahmen der ihm nach nationalem Recht erlaubten Auslegung auch

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EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969ff. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986. Dannecker, JZ 1996, 869, 873. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3983. Richtlinie 80/777/EWG vom 15.7.1980, Abi. Nr. L 229, S. 1. Weitere Einzelheiten zum Sachverhalt in: EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3971.

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5. Haupttteil: D i e richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

ohne Berücksichtigung der Richtlinie und unabhängig vom Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist ein Auslegungsergebnis ergeben könnte, welches die Möglichkeit eröffnet, das ausgeschenkte Leitungswasser als ein „fehlerhaftes" Getränk zu subsumieren. 236 In diesem Fall bestätigt die Richtlinie eines der nach den nationalen Auslegungsregeln denkbaren Ergebnisse. Umgekehrt sei es ebenso möglich, daß die aus dem nationalen Kontext zu entnehmende Auslegung die Austauschbarkeit der Begriffe „Mineralwasser" und „kohlensäurehaltiges Wasser" ergebe. In diesem Fall könnte das Gericht jedoch nicht die der Bezeichnung „Mineralwasser" durch die Richtlinie gegebene Bedeutung zur Auslegung der „Fehlerhaftigkeit" heranziehen, da sonst die aus dem nationalen Kontext zu entnehmende Auslegung durch die aus der Richtlinie ersetzt würde, was zur Folge hätte, daß indirekt eine nicht umgesetzte Richtlinie gegenüber dem einzelnen in Anspruch genommen würde.237 Über einen unbestimmten RechtsbegrifT drohte mithin eine verkappte unmittelbare Wirkung zu Lasten einzelner einzutreten. Der Gerichtshof erkennt diese Gefahr. Zunächst führt er aus, daß die Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung seines Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, ihre Grenze in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot findet.238 Sodann betont er nochmals die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, um sofort festzuhalten, „daß eine Richtlinie für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen". 239 Diese Ausführungen gelten nicht etwa der unmittelbaren Wirkung, sondern der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht. Um es im Sinne des Generalanwalts Mischo zu sagen: Der Gerichtshof verlangt nicht, Strafnormen über das nach nationalen Regeln mögliche Maß hinaus auszulegen. Bei der Würdigung dieser Rechtsprechung ist zu bedenken, daß die richtlinienkonforme Auslegung auf zwei Ebenen erfolgt. Wie das nationale Recht lösen Richtlinieninhalte ihrerseits einen Auslegungsbedarf aus.240 Der Gerichtshof widmet sich dabei im Rahmen seiner Zuständigkeit den Auslegungsfragen und Wirkungsweisen des Gemeinschaftsrechts. Wie zurückhaltend er der richtlinienkonformen Interpre-

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Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in: E u G H , Urteil vom 8 . 1 0 . 1 9 8 7 , Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3979. Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in: E u G H , Urteil v o m 8 . 1 0 . 1 9 8 7 , Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3980. Anhand dieser Ausführungen des Generalanwalts zeigt sich die Bedeutung der Frage nach der Auslegungsfahigkeit des nationalen Rechts. E u G H , Urteil vom 8 . 1 0 . 1 9 8 7 , Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986. E u G H , Urteil vom 8 . 1 0 . 1 9 8 7 , Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3987. Siehe die strikte Trennung dieser Auslegungsebenen bei Lutter, JZ 1992, 593 ff.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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tation im Strafrecht begegnet, zeigt sich an einer weiteren Urteilspassage im Fall „Kolpinghuis Nijmegen". Dem Sitzungsbericht ist zu entnehmen, daß die niederländische Regierung in der Sache zwar die unmittelbare Wirkung zu Lasten einzelner ablehnte, aber einleitend bemerkte, ein als „natürliches Mineralwasser" in den Handel gebrachtes und aus Leitungswasser und Kohlensäure bestehendes Getränk sei aufgrund seiner Zusammensetzung als fehlerhaft im Sinne der fraglichen niederländischen Vorschrift anzusehen. 241 Das niederländische Recht bot mithin nicht nur ein Einfalltor für eine belastende richtlinienkonforme Auslegung, sondern die niederländische Regierung stieß dieses Tor auch noch auf, indem sie darlegte, daß ein der Richtlinie entsprechendes Auslegungsergebnis schon nach innerstaatlichem Recht möglich sei. Gleichwohl überschreitet der Gerichtshof diese Schwelle nicht und enthält sich hinsichtlich der Auslegung der nationalen Strafrechtsnorm jeglicher Stellungnahme. Nun mag man dem entgegen, diese Vorgehensweise sei auch angezeigt, da die Auslegung des innerstaatlichen Rechts nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallt. Doch diese Zurückhaltung drückt eindeutig mehr aus. Bedenkt man, wie dankbar der Gerichtshof im Fall „von Colson" die Erklärung der Bundesregierung zu Einzelfragen des nationalen Schadensersatzrechts aufgegriffen und dieses inhaltlich gewertet hat, so übt das Gericht hier vergleichsweise strikte Zurückhaltung. Der Gerichtshof vermeidet jedwede Stellungnahme und versucht nicht im Ansatz, dem Strafgericht das Auslegungsergebnis des nationalen Rechts vorzugeben. Diese Trennung von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht läßt sich anhand dieses Urteils mit einem Gedankenspiel verdeutlichen. Unterstellt sei, daß der vorlegende niederländische Richter zur Auslegung des niederländischen Rechts eine Minderheitsmeinung vertrat und das Getränk nach ständiger Rechtsprechung als fehlerhaft zu subsumieren war. In diesem Fall stünde die Entscheidung des Gerichtshofs einer Verurteilung in einem etwaigen Rechtsmittelverfahren in den Niederlanden nicht im Weg. Es kommt auf eine Begründung aus dem nationalen Recht heraus an. Entscheidend ist, ob das innerstaatliche Recht überhaupt die von der Regierung behauptete Möglichkeit zur richtlinienkonformen Auslegung eröffnet. Allerdings dürfte eine Verurteilung nicht auf die Vorschriften der Richtlinie abstellen, wenn das niederländische Recht eine solche Deutung nicht zuließe. Diese belastende Inbezugnahme hat der Gerichtshof untersagt, da der Richtlinie nach der von ihm zu bestimmenden Auslegung diese Wirkung nicht zukommt. Generalanwalt Mischo formuliert das wie folgt: „Mit anderen Worten kann das Gericht meiner Auffassung nach, wenn die nationalen Auslegungsregeln es ihm erlauben, auf die Richtlinie Bezug nehmen, um eine Aus241

EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3972.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht legung des nationalen Rechts, die hauptsächlich auf andere Kriterien gestützt wird, zu bestätigen." 242

Generalanwalt Mischo geht damit richtigerweise von einem Auslegungsspielraum aus, den das innerstaatliche Recht nach den nationalen Regeln zulassen muß. Welche Auslegungsspielräume bei uns erlaubt sind, bestimmt Art. 103 Abs. 2 G G . Gerade dann, wenn sich der Gerichtshof wie im Strafrecht zur innerstaatlichen Rechtslage jeder Äußerung enthält, ist diese Zweistufigkeit der Auslegung zu vergegenwärtigen. Damit schließt sich der Kreis zu Danneckers Grenzbeschreibung der richtlinienkonformen Interpretation. Die Ausführungen aus der Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen", nach denen die Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung seines Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, ihre Grenze in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot findet,243 markieren eine aus dem Gemeinschaftsrecht selbst herzuleitende Grenze. Doch daraus ist nicht zu folgern, daß einzig und allein diese Grenzziehung gilt.244 Vielmehr ändert diese gemeinschaftsrechtlich verankerte Grenze nichts daran, daß die innerstaatliche Strafnorm den Ausgangspunkt der Rechtsfindung bildet und Art. 103 Abs. 2 G G den strafrichterlichen Weg zu Schuld- oder Freispruch begrenzt. Da Art. 103 Abs. 2 G G die Regeln der Auslegung umspannt, wirkt diese Vorschrift denknotwendig in die am Anfang der richtlinienkonformen Auslegung aufzuwerfende Fragestellung hinein, ob das nationale (Straf-)Recht überhaupt auslegungsfahig ist. Auch Generalanwalt Colomer deutet die Entscheidung im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" in dem hier verstandenen Sinne. 245 Danach respektiert die Rechtsprechung des Gerichtshofs die Garantie, die das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht für die Bürger darstellt. Der Gerichtshof habe sich dafür entschieden, das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht als eine der Wirksamkeit der Gemeinschaftsrichtlinien innewohnende Grenze zu betrachten. Das nationale Strafrecht sei

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Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in: EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3979 a. Ε. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986. In diesem Sinne ist auch die noch vertiefende Entscheidung im Fall „Telecom Italia", EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996, 1-6609 ff., zu deuten, in der das Gericht ausführt, daß es die Aufgabe des nationalen Gerichts sei, bei der Auslegung des zur Durchführung einer Richtlinie erlassenen nationalen Rechts unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie für die Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes zu sorgen. Schlußanträge des Generalanwalts Colomer in: EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74-95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6622.

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nach den „diesem Bereich der Rechtsordnung eigenen Kriterien und Prinzipien auszulegen". 246 Nichts anderes gilt grundsätzlich auch für diejenigen Strafnormen, die im Zuge einer Umsetzung von Richtlinien entstehen. Der zur Umsetzung einer Richtlinie tätig werdende Gesetzgeber ist bei der Gestaltung des Ausführungsrechts grundsätzlich an sein nationales Verfassungsrecht gebunden. 247 Der Ausführungsakt der Richtlinie bleibt nationales Recht und ist insofern der nationalen Verfassung, insbesondere den nationalen Grundrechten, unterworfen. 248 Die von Art. 103 Abs. 2 G G an den Gesetzgeber gerichtete Handlungsanweisung, die Voraussetzungen der Strafbarkeit bestimmt und möglichst konkret zu umschreiben, 249 gilt also auch, wenn im Zuge der Umsetzung Straftatbestände wie § 261 StGB oder § 38 W p H G geschaffen werden.

IV. Zwischenergebnis Die aus Art. 103 Abs. 2 G G für die Auslegung im Strafrecht herzuleitenden Grenzen gelten grundsätzlich auch im Rahmen der richtlinienkonformen Interpretation.

V. Das Problem detaillierter Richtlinienvorgaben Diese Zwischenbilanz gibt über die verfassungsrechtlichen Bindungen der richtlinienkonformen Auslegung aber noch keine erschöpfende Auskunft. Es tritt ein verstecktes, richtlinienspezifisches Problem hinzu: Fraglich ist, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen überschritten werden dürfen, wenn die Richtlinie dem Mitgliedstaat keinen Gestaltungsspielraum beläßt. 250 Dabei handelt es sich um eine komplizierte Fragestellung des Gemeinschaftsrechts und einen neuralgischen Punkt

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Schlußanträge des Generalanwalts Colomer in: EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74-95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6624. Everting, ZGR 1992, 376, 378; Rengeling, DVB1. 1995, 945, 949ff.; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 480. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 444; Klein, Der Verfassungsstaat, S. 56,83. Auf den Sonderfall der detaillierten Richtlinienvorgabe wird sogleich gesondert einzugehen sein. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 184 iVm Rn. 225. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 127.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

der richtlinienkonformen Auslegung,251 der in nahezu allen strafrechtlichen Analysen unberücksichtigt bleibt. Ist man der Auffassung, nur das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht könne entgegenstehendes nationales Recht verdrängen, müßte das Bundesverfassungsgericht ein nationales Gesetz, das gegen die Verfassung verstößt, auch dann aufheben, wenn der Inhalt des Gesetzes auch insoweit durch die Richtlinie festgelegt worden ist. Europarechtlich gebotenes Recht würde also wegen eines Verstoßes gegen die nationale Verfassung aufgehoben.252 In der europarechtlichen Literatur wird in dieser Fallkonstellation die Bindung durch das nationale Verfassungsrecht in Frage gestellt. Zur Lösung dieser Problematik wird vorgeschlagen, für das nationale Ausführungsrecht nur insoweit innerstaatliche Grundrechte heranzuziehen, als das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten eine Gestaltungsfreiheit beläßt.253 Soweit der Inhalt des nationalen Gesetzes verbindlich und zwingend von der Richtlinie vorgegeben ist, entzöge er sich einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle.254 Nationale Grundrechtsverstöße, die sich nicht zwingend aus der gemeinschaftsrechtlichen Regelung ergeben, unterliegen damit weiterhin der Kontrolle des Verfassungsgerichts.255 Ein Kammerbeschluß des Bundesverfassungsgerichts, der einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ablehnte, zeigt in diese Richtung.256 In der Sache 251

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Sie resultiert aus einer Konfliktlage der nationalen Rechtssetzungsorgane, die einerseits dem nationalen Verfassungsrecht und andererseits bindenden Richtlinienvorgaben verpflichtet sind, siehe Rickert, Grundrechtsgeltung, S. 32 f. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 445. Everting, Z G R 1992, 376, 387 a. E. f.; Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S. 190; ders. DVB1. 1995, 945, 951; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 480; ähnlich Klein, Der Verfassungsstaat, S. 56, 83f. Eher ablehnend: Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 5011; ferner Streinz, Grundrechtsschutz und EG-Recht, S. 187: Soweit die Richtlinie den Verfassungsverstoß des Umsetzungsgesetzes bedinge, könne das Gemeinschaftsrecht nicht auf verfassungskonforme Weise in nationales Recht umgesetzt werden. Auch Götz, N J W 1992, 1849, 1853, sieht nicht die Möglichkeit einer Suspendierung der verfassungsrechtlichen Bindungen. In diesem Fall müsse die Umsetzung der Richtlinie über eine Verfassungsänderung erfolgen, die dann zu den „Formen und Mitteln" im Sinne des Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV gehöre. Überblick zum Streitstand bei Rickert, Grundrechtsgeltung, S. 162 ff. mwN. Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S. 4; Stein, Zeidler-FS, S. 1711, 1727. F ü r diesen Fall darf freilich kein „grundrechtliches Vakuum" zugelassen werden. Detaillierte Richtlinien sind in diesem Fall an den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu messen, siehe Rengeling, DVB1. 1995, 945, 949. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 448. Auch wenn Dannecker, J Z 1996, 869, 873, das Problem nicht direkt anspricht, dürfte er diese Problematik vor Augen gehabt haben und sich deshalb so zurückhaltend über die verfassungsrechtlichen Bindungen der richtlinienkonformen Auslegung geäußert haben. Kevekordes, Tabakwerbung, S. 229; Pernice, N J W 1990, 2409, 2418.

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ging es um einen hier im einzelnen nicht interessierenden Richtlinienvorschlag zur Etikettierung von Tabakerzeugnissen. D i e Antragstellerin, eine Herstellerin von Tabakprodukten, wollte die Bundesregierung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens dazu verpflichten, gegen den im EG-Ministerrat zur Abstimmung anstehenden Vorschlag zu stimmen. D a s Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag ab und führte aus: 257 „Mag auch die Zustimmung der letzte von der deutschen Staatsgewalt gesetzte Mitwirkungsakt für eine - möglicherweise Grundrechte verletzende - Richtlinie sein, so erreichen die Regelungen der Richtlinie den Grundrechtsträger erst doch durch einen selbständig angreifbaren Rechtsetzungakt der deutschen Staatsgewalt: Die Etikettierungsrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihren Inhalt in nationales Recht umzusetzen, und eröffnet dabei einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Der nationale Gesetzgeber ist bei der Umsetzung an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden. Die Frage, ob er bei der Umsetzung im Rahmen des ihm von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraums Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte der Antragstellerin verletzt, unterliegt in vollem Umfang verfassungsgerichtlicher Überprüfung." Diese Ausführungen erklären das nationale Recht für verfassungsrechtlich nachprüfbar, soweit es auf der Wahrnehmung eines von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraums beruht. Daran schließen sich folgende Darlegungen an: 258 „Soweit die Richtlinie den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts verletzen sollte, gewährt der Europäische Gerichtshof Rechtsschutz." Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Umsetzung detaillierter Vorgaben nicht explizit erwähnt, deutet dieser Satz darauf hin, daß es grundrechtswidriges Umsetzungsrecht, soweit es auf detaillierten Vorgaben beruht, nicht mehr zu judizieren gedenkt. Nur „wenn auf diesem Wege der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden". 259

257 258 259

BVerfG, ΝJW 1990,974. BVerfG, NJW 1990, 974, rechte Spalte. BVerfG, NJW 1990,974. In BVerfGE 30,292, 310 wurde noch dargelegt, daß eine Richtlinie nicht die Prüfung des zu ihrer Ausführung erlassenen innerdeutschen Gesetzes auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hindere, da für den einzelnen nur das innerstaatliche Recht gelte.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

VI. Detaillierte Richtlinienvorgaben aus strafrechtlicher Sicht Fraglich ist, wie dieses Problem aus strafrechtlicher Sicht zu lösen ist. Den mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 G G problematischen Fall verkörpern Richtlinien, die - wie die Insiderhandelsrichtlinie oder die Geldwäscherichtlinie - auf die Schaffung von Strafnormen zielen.260

1. Das Beispiel der Geldwäscherichtlinie Anhand der Richtlinie zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche 261 und des darauf aufbauenden Straftatbestandes in § 261 StGB thematisierte Vogel diese Frage erstmals aus strafrechtlicher Sicht.262 Aus der ausführlichen Diskussion der einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 261 StGB sei hier nur ein Beispiel ausgewählt. § 261 Abs. 1 StGB knüpft an das Herrühren eines Gegenstandes aus einer der in § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB näher umschriebenen Taten an, wozu neben den enumerativ aufgezählten Tatbeständen grundsätzlich jedes Verbrechen gehört. Stammt ein Gegenstand aus einer solchen Tat, so stellt die Vorschrift zahlreiche Handlungsalternativen unter Strafe. Unter anderem wird gemäß § 261 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StGB bestraft, wer einen Gegenstand im Sinne des § 261 Abs. 1 StGB sich oder einem Dritten verschafft oder verwahrt oder für sich oder einen Dritten verwendet, wenn er die Herkunft des Gegenstandes zu dem Zeitpunkt kannte, zu dem er ihn erlangt hat. Die Weite des Tatbestandes läßt der Phantasie freien Lauf. Lampe fragt, ob der durch einen räuberischen Diebstahl erlangte Computer gemäß § 261 Abs. 2 Nr. 2 StGB verwendet werde, wenn jemand damit für sich oder einen Dritten einen Text niederschreibt und weist darauf hin, daß bisher ein unbefugter Gebrauch nur nach § 248 b StGB auf Antrag strafbar gewesen sei.263 Ebenso unterliegt der Kritik, daß „Geldwäscher" sein kann, wer die vom Räuber erbeutete Handtasche schlicht verwahrt. 264 Angesichts der Weite und der Unklarheiten des § 261 StGB nimmt Lampe einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Tatbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) an. 265

260 261 262 263

264 265

Vgl. K. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 46. Richtlinie vom 10.6.1991 Nr. 91/308/EWG, Abi. Nr. L 166, S. 77. Vogel, ZStW 109 (1997), 335, 349. Siehe im einzelnen Lampe, JZ 1994,123, 128; vgl. ferner die Kritik von Maiwald, Hirsch-FS, S. 631, 635. Löwe-Krahl, wistra 1993, 123, 124; Schoreit, StV 1991, 535, 539. Lampe, JZ 1994, 123, 128 a. E.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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Vogel erwidert, diese Kritik möge berechtigt sein oder nicht. Wenn der nationale Gesetzgeber zum Adressaten der Kritik gemacht werde, sei dies verfehlt. Wegen Art. 249 Abs. 3, ex-Art. 189 Abs. 3 EGV sei dieser nicht mehr frei und die Kritik müsse „sich gegen eine - immerhin von der Völker- und Europäischen Gemeinschaft getragene - kriminalpolitische Überzeugung richten".266 Vogel verfolgt seinen Ansatz mit aller Konsequenz, indem er darlegt, daß der Einwand des Verstoßes gegen innerstaatliches Verfassungsrecht wie Art. 103 Abs. 2 G G dann problematisch sei, wenn der nationale Gesetzgeber allein der Transformationspflicht aus der Geldwäscherichtlinie nachgekommen ist. Insoweit dürfe aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nur mehr ein Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliches Verfassungsrecht in Betracht kommen, was nur der Europäische Gerichtshof zu überprüfen hätte. 267 An diesem Punkt spiegelt sich die umschriebene gemeinschaftsrechtliche Problematik wider: Vogel hat den gemeinschaftsrechtlichen Lösungsvorschlag, 268 wonach für das Umsetzungsrecht nur insoweit innerstaatliche Grundrechte heranzuziehen sind, als das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum beläßt, auf das Strafrecht übertragen. a. Bedeutung der Kompetenzfrage Gegen einen solchen Transfer sprechen jedoch Bedenken. Es ist zu beachten, daß der in der europarechtlichen Literatur vorgeschlagene Lösungsweg nicht unter strafrechtlichen Gesichtspunkten erarbeitet wurde. Soweit sich Vertreter dieser Auffassung zu den Kompetenzen der Gemeinschaft hinsichtlich der Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen äußern, lehnen sie diese ab.269 Die Kompetenzfrage gewinnt in diesem Zusammenhang aber entscheidende Bedeutung. Nach hier vertretener Auffassung hat die Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts keine Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen 270 und es wurde dargelegt, daß sie auch nicht über eine imperative Anweisungskompetenz

266 267 268 269

270

Vogel, ZStW 109(1997), 335, 349. Vogel, ZStW 109(1997), 335, 349. Siehe zuvor 5. Hauptteil C. V. Bleckmann, StreeAVessels-FS, S. 107, 108 Fn. 7; Rengeling/MiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 1216. Vor dem Hintergrund der speziellen Kompetenzproblematik, also einer völlig anderen Ausgangslage, ist es schon methodisch fraglich, das gemeinschaftsrechtliche Meinungsbild vorbehaltlos auf die strafrechtliche Ebene zu spiegeln. Das gilt um so mehr, als aus Darlegungen von Vertretern dieser Auffassung zu schlußfolgern ist, daß sie kompetenzwidrigen Akten die beschriebene Bindungswirkung nicht zukommen lassen wollen. Siehe nur Rengeling, DVB1. 1995, 945, 949 rechte Spalte und sodann S. 950 linke Spalte oben. Siehe oben 2. Hauptteil B.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

zur Schaffung von Strafnormen verfügt, mittels derer dem Mitgliedstaat die Gestaltung des Straftatbestandes im Detail verbindlich vorgeschrieben werden kann. 271 Es zeigt sich einmal mehr, welche Schlüsselrolle der Kompetenzfrage in dem Zusammenspiel von Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht zukommt: Mit Blick auf die Kompetenzverteilung auf strafrechtlichem Gebiet verfügt der Mitgliedstaat grundsätzlich über einen Gestaltungsspielraum. Der innerstaatliche Gesetzgeber hat also gemäß seinen verfassungsrechtlichen Bedingungen die Vorgaben einer Richtlinie in sein Sanktionsrecht zu implementieren. Es gibt keinen gemeinschaftsrechtlichen Dispens von den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG. N u n hat gerade die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz dafür gesorgt, daß dieser Streitfrage unabhängig davon, wie man zur imperativen Anweisungskompetenz steht, nur geringe Bedeutung zukommen dürfte. Die im Zusammenhang mit der EG-Bildschirmrichtlinie vom Gerichtshof getroffenen Aussagen zur gesetzlichen Bestimmtheit 272 haben zur Folge, daß für den Fall einer bindenden Wirkung von Richtlinienvorgaben der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene in Form der allgemeinen Rechtsgrundsätze, hier in Gestalt des Bestimmtheitsgrundsatzes, greifen würde. Unter dem Strich wäre hinsichtlich des Prinzips der gesetzlichen Bestimmtheit ein dem innerstaatlichen Recht vergleichbarer Schutz gewährleistet. Der auf der Ebene des nationalen Rechts infolge der Unanwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 G G zu konstatierende Verlust würde durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts kompensiert und im Ergebnis in einer unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstandenden Weise ausgeglichen. Nach hier vertretener Auffassung kann aus der grundsätzlichen Kompetenzverteilung und der bisherigen Praxis der Rechtsangleichung jedoch die eindeutige Antwort hergeleitet werden, daß für die im Wege einer Richtlinienumsetzung geschaffenen Straftatbestände der Maßstab des Art. 103 Abs. 2 G G uneingeschränkt gilt. D a n n sollte dieser für die richtlinienkonforme Auslegung bedeutende Ausgangspunkt als solcher auch benannt werden. Hierfür spricht schon die rechtstheoretische Erwägung, d a ß sich der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz mit

271 272

Anders Zuleeg, JZ 1992, 761, 767, dazu oben 2. Hauptteil D. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, 1-6609, 6637, siehe oben 1. Hauptteil D. V. 3. cc. Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof den Grundsatz gesetzlicher Bestimmtheit eindeutig als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt, siehe Szczekalla in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 11 Rn. 10, 41, mwN aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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dem innerstaatlichen Grundrechtsschutz nicht vollständig decken muß. 273 Es ergeben sich ferner für Wissenschaft und Rechtsprechung methodische Unterschiede: Da es bis heute kein europäisches Kriminalstrafrecht gibt, finden wir eine im Vergleich mit der nationalen Rechtsprechung nur geringe Zahl an Entscheidungen des Gerichtshofs vor, die auf das Strafrecht eingehen. Auch deshalb ist es von Vorteil, wenn wir die Frage nach den verfassungsrechtlichen Bindungen der strafrechtlichen Auslegung eindeutig beantworten. Unter gleichzeitiger Beachtung der verbindlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Richtlinienrecht können wir also nach unserer Lösung die für Art. 103 Abs. 2 G G einschlägige Literatur und Rechtsprechung auch für Vorschriften wie § 261 StGB heranziehen. b. Methodische Grundprobleme Allerdings ist zu erwarten, daß der hier eingenommene Standpunkt zur Kompetenzfrage und die daraus soeben gezogenen Konsequenzen nicht auf allseitige Zustimmung stoßen werden. Daher soll nachfolgend dargelegt werden, daß nicht nur die Entscheidung der Kompetenzfrage, sondern zudem methodisch-systematische Argumente für die hier vertretene Meinung sprechen, nach der Art. 103 Abs. 2 G G für die richtlinienkonforme Auslegung uneingeschränkt gilt. Diese Argumente ergeben sich erst, wenn man sich den Auslegungsproblemen im Detail zuwendet. Hierzu sei Vogels Ansatz weiterverfolgt und danach gefragt, wann überhaupt eine derartig bindende Richtlinienvorgabe konkret vorliegen soll. Aufmerksamkeit verdient, daß die gemeinschaftsrechtliche Literatur als Beispiel detaillierter Richtlinienvorgaben vor allem die Fälle bemüht, in denen den Mitgliedstaaten nur noch das Abschreiben der Richtlinie verbleibt. 274 Wirft man einen Blick in die Geldwäscherichtlinie, so zeigt sich, daß deren Vorgaben zwar Begriffe definieren, aber in sich keinen zur wortgetreuen Wiedergabe tauglichen Straftatbestand bilden. 275 Gleichwohl will Vogel den Einwand des Verstoßes gegen innerstaatliches Verfassungsrecht wie Art. 103 Abs. 2 G G nicht gelten lassen, wenn der nationale Gesetzgeber allein der Transformationspflicht aus der Geldwäscherichtlinie nachgekommen ist.276

273

274 275 276

Beispiel: Der Fall „Hoechst", EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 46/87 und 227/88, Ε 1989, 2859, 2924, wo der Gerichtshof Geschäftsräume auf Gemeinschaftsebene nicht dem grundrechtlichen Schutz von Wohnräumen gleichgestellt hat. Kritisch dazu Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S. 121 ff.; Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499, 502, jeweils mwN. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 420flf.;Oppermann, Europarecht, Rn. 551. Ganz abgesehen davon, daß zutreffenderweise kein Strafrahmen vorgegeben wird. Vogel, ZStW 109 (1997), 335, 349.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Ob nun gerade die komplexe Entstehungsgeschichte der Geldwäscherichtlinie für die Einnahme eines derartigen Standpunktes ein glücklich gewähltes Beispiel darstellt, ist anzuzweifeln. 277 Diese Frage kann jedoch dahinstehen, weil hier grundsätzlich untersucht werden soll, ob die von Vogel behauptete „Befreiung" von den verfassungsrechtlichen Bindungen zutrifft. Insoweit läßt Vogels Erwiderung auf Lampes Kritik 278 offen, inwieweit er § 261 StGB von den Bindungen des Art. 103 Abs. 2 G G befreit wissen will, wann also realiter ein solcher Fall vorliegen soll. aa. Zur Abgrenzung von detaillierter Vorgabe und Gestaltungsspielraum Wie zweifelhaft die Unterscheidung von einer konkreten Richtlinienvorgabe und dem Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers aber gerade in dem von Vogel gewählten Fall der Umsetzung der Geldwäscherichtlinie ist, läßt sich anhand eines Beispiels aufzeigen. Dazu sei Lampes Kritik an § 261 StGB, auf die Vogel279 ausdrücklich Bezug nimmt, in Erinnerung gerufen. Lampe fragt, ob der durch einen räuberischen Diebstahl erlangte Computer gemäß § 261 Abs. 2 Nr. 2 StGB verwendet werde, wenn jemand mit dem Gerät für sich oder einen Dritten einen Text niederschreibt. 280 Art. 1 6. Sp. der Geldwäscherichtlinie 281 umschreibt Geldwäsche u. a. als Erwerb, Besitz oder Verwendung „von Vermögensgegenständen, wenn dem Betreffenden bei der Übernahme dieser Vermögensgegenstände bekannt war, daß diese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit oder aus der Teilnahme an einer solchen Tätigkeit stammen". Art. 1 8. Sp. definiert den Begriff des Vermögensgegenstandes wie folgt: „Vermögenswerte aller Art (materiell oder immateriell, beweglich oder unbeweglich) und Rechtstitel oder U r k u n d e n , die das Eigentumsrecht oder Rechte an solchen Vermögenswerten belegen."

277

278 279 280 281

Angesichts der oben, 2. Hauptteil D. III., wiedergegebenen internationalen Entstehungsgeschichte ist das äußerst fraglich. Fest steht, daß der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 261 StGB schon deshalb nicht allein der Transformationspflicht aus der Richtlinie nachgekommen sein kann, weil die Vorschrift auch auf das Wiener Abkommen und die Konvention des Europarats zurückgeht, an denen sich wiederum die Richtlinie orientiert hat. Fest steht aufgrund der Entstehungsgeschichte der Richtlinie zudem, daß die ursprünglich vorgesehene Verpflichtung zur Schaffung von Strafnormen scheiterte. Zutreffend: K. Tiedemann, Europäisierung des Strafrechts, 133, 135. Lampe, JZ 1994, 123, 128 a. E. Vogel, ZStW 109 (1997), 335, 349, Fn. 64. Lampe, JZ 1994, 123, 128. Richtlinie vom 10.6.1991 Nr. 91/308/EWG, Abi. Nr. L 166, S. 77.

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Nach Art. 1 9. Sp. bedeutet kriminelle Tätigkeit: „eine Straftat im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a) des Wiener Übereinkommens sowie alle anderen kriminellen Tätigkeiten, die für die Zwecke dieser Richtlinie von den einzelnen Mitgliedstaaten als solche definiert werden." 282

In der von Lampe beispielhaft kritisierten Fallkonstellation besteht ein Problem darin, daß der deutsche Gesetzgeber als Vortat der Geldwäsche in § 261 Abs. 1 Nr. 1 StGB jedes Verbrechen ausreichen läßt. Insofern hat er selbst gestaltet. Was jedoch das Merkmal „Verwenden" als Tatbestandsalternative in § 261 Abs. 2 Nr. 2 StGB angeht, hat er sich bei isolierter Betrachtung des Merkmals an die Richtlinie gehalten. Dieses Merkmal gewinnt jedoch vor allem dadurch kuriose Züge, daß über den nationalen Gestaltungsakt Taten wie der Handtaschenraub als Vortat genügen. 283 Die Frage ist nun, ob man das Merkmal „Verwenden" im Sinne Vogels unter Berufung auf Art. 1 6. Sp. der Geldwäscherichtlinie kraft seiner gemeinschaftsrechtlichen Herkunft als ein gemäß Art. 103 Abs. 2 G G nicht mehr überprüfbares Tatbestandsmerkmal ansehen soll oder nicht. Entscheidet man sich dafür, daß kraft der wortgetreuen Herkunft des Merkmals des „Verwendens" aus der Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 G G nicht mehr vorgeworfen werden darf, müßte rechtslogisch der gemeinschaftsrechtliche Maßstab der allgemeinen Rechtsgrundsätze angelegt werden. Denkbar wäre dann, daß ein Verstoß gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit als Ausprägung des Grundsatzes der Rechtssicherheit 284 vorliegt. Doch diese Prüfung dringt zum eigentlichen Problem nicht vor, das in dem von Lampe kritisierten Fall zwar auch in der Ausdeutung des Merkmals des „Verwendens", vor allem aber darin steckt, daß der nationale Gesetzgeber dieses Merkmal wie ein Netz über alle Verwertungshandlungen gelegt hat, die sich an die Verwirklichung von Verbrechenstatbeständen des Strafgesetzbuches und aller Nebenstrafgesetze anschließen. Zudem hat er in § 261 StGB den Begriff des „Gegenstandes" verwendet und nicht den Begriff des „Vermögensgegenstandes" aus der Richtlinie 282

283

284

An dieser Stelle atmet das deutsche Umsetzungsrecht nicht einen Hauch des Geistes der Richtlinie. Schon nach einer Lektüre der Erwägungsgründe der Richtlinie liegt offen zutage, daß die organisierte Kriminalität bei der „Legalisierung" ihrer Gewinne getroffen werden soll. Wenn der jugendliche Räuber seiner Freundin die erbeutete Handtasche für einen Spaziergang überläßt, weil diese mit der schönen Tasche einmal durch die Stadt flanieren möchte, ist nach dem Wortlaut der Norm allen Ernstes zu prüfen, ob sich die Freundin der Geldwäsche schuldig gemacht hat. Im Sinne von: EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95,1-6609, 6637.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

übernommen. 285 Erst diese Abweichungen von der Richtlinie bewirken, daß die Zahl möglicher Geldwäschedelikte nach dem Wortlaut der Vorschrift exorbitant zunimmt. Der Tatbestand wäre ungleich enger und weniger bedenklich, wenn sich der nationale Gesetzgeber auf Vortaten beschränkt hätte, die wie der Drogenhandel der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Daß der Gesetzgeber über dieses Richtlinienziel hinausgegangen ist, hat keinen gemeinschaftsrechtlichen Ursprung und bekommt ihn auch nicht dadurch, daß sich der Gesetzgeber bei der Vertypung der Tathandlung der Terminologie der Richtlinie bedient. Es zeigt sich, daß ein aus der Richtlinie übernommener und unbestimmter Begriff wie das Merkmal „Verwenden" im Kontext der weiteren Merkmale eines Straftatbestandes weiter oder enger sein kann. Es kommt darauf an, was den Bezugspunkt (Gegenstand oder Vermögensgegenstand) des Verwendens darstellt. Wenn aber der nationale Gesetzgeber diesen Kontext formuliert, ist es methodisch äußerst fragwürdig, wörtlich übernommene Richtlinienpassagen herauszugreifen, um sodann kraft ihrer gemeinschaftsrechtlichen Herkunft eine Unanfechtbarkeit hinsichtlich eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 G G zu reklamieren. 286 Dieser Gedanke läßt ein methodisches Grundproblem zutage treten. In dem streng am Wortlaut orientierten Strafrecht genügt schon die Hinzufügung 287 oder auch nur die Umformulierung 288 eines Merkmals, um den Tatbestand einzugrenzen, seinen Sinngehalt zu verändern oder den Anwendungsbereich wie bei der Geldwäsche extrem zu dehnen. Wenn es einerseits auf solche Nuancen ankommt, andrerseits das Gemeinschaftsrecht de lege lata gerade keine exakten Straftatbestände vorformuliert, so findet das hier schon aus der Kompetenzfrage begründete Ergebnis, daß der Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG uneingeschränkt gilt, eine weitere eigenständige und von der streitigen Kompetenzfrage unabhängige Begründung.

285

Der gemeinschaftsrechtlichen Zielverwirklichung wäre eher gedient gewesen, wenn sich der Gesetzgeber an dem Begriff des Vermögensgegenstandes orientiert und so versucht hätte, Gebrauchsgegenstände wie Handtaschen vorab aus dem Anwendungsfeld der N o r m zu eliminieren. Der Bundesrat hatte im Gesetzgebungsverfahren (unter Berufung auf Lampe, J Z 1994, 123, 136) vorgeschlagen, das Wort „Gegenstand" durch „Vermögensgegenstand" zu ersetzen, wofür die Bundesregierung kein Bedürfnis sah, siehe BT-Dr. 13/6620, S. 11, 14, vgl. schon die Stellungnahme des Bundesrates, BT-Dr. 12/989, S. 7. D a s war und ist jedoch sehr wohl vorhanden, wie die Rechtsentwicklung gezeigt hat, siehe zuletzt: Cebulla, wistra 1999, 28Iff. Wenn heute der Begriff des Gegenstandes im Sinne eines Vermögenswertes verstanden wird, siehe Bottke, wistra 1995, 87, 90; Kreß, wistra 1995,121, 127; Oswald, Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche, S. 63; Stree in: Schönke-Schröder, § 261 R n . 3, so zeigt das nur, wie richtig der Vorschlag des Bundesrates war.

286

In der Sache verdient damit die von Lampe, JZ 1994, 123 ff. am deutschen Gesetzgeber geübte Kritik Zustimmung. A m Beispiel der Geldwäsche: Die Einbeziehung aller Verbrechen als Vortat der Geldwäsche. A m Beispiel der Geldwäsche: Das Wort Gegenstand anstelle von Vermögensgegenstand.

287 288

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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bb. Inhaltliche Divergenzen eines Begriffs trotz orthographischer Identität Unterstrichen wird dieses Ergebnis durch versteckte, aus strafrechtlicher Sicht aber schwerwiegende methodische Grundprobleme. Unterstellt sei der Fall, daß sich der Text des nationalen Strafgesetzes tatsächlich weitgehend mit dem der Richtlinie deckt. Wer meint, damit sogleich den Fall der Befreiung von den verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgemacht zu haben, übersieht systematische Grundprobleme des Nebeneinanders des Strafrechts und des Gemeinschaftsrechts. Für das Strafrecht hat der Wortlaut einer Vorschrift überragende Bedeutung. Ein und derselbe Ausdruck kann im Gemeinschaftsrecht aber einen von der nationalen Rechtsordnung abweichenden Begriffsinhalt haben. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts erfolgt eine autonome Begriffsbildung,289 die von derjenigen abweichen kann, die dem Rechtsanwender aus seinem innerstaatlichen Recht vertraut ist.290 Aus einer orthographischen Identität kann nicht auf eine Parallelität des Gemeinten geschlossen werden.291 Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts kann eine Vokabel mehr als im innerstaatlichen Kontext meinen. Der Wechsel der Rechtsebene wandelt aus rechtstheoretischer Sicht zumindest den Bedeutungshof eines Wortes.292 Denkbar ist jedoch auch der umgekehrte Fall, daß ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff enger als der innerstaatliche ist. Das wortgetreu an der Richtlinienvorgabe haftende Strafgesetz sagt in diesem Fall mehr, als das Gemeinschaftsrecht vorgeben will, obwohl die Orthographie vermuten ließe, daß gleiches formuliert wurde.

289

EuGH, Urteil vom 1.2.1972, Rs. 49/71, Ε 1972, 23, 35; EuGH, Urteil vom 14.1.1982, Rs. 64/81, E. 1982, 13; EuGH, Urteil vom 29.4.1982, Rs. 17/81, Ε 1982, 1331, 1348; EuGH, Urteil vom 18.1.1984, Rs. 327/82, Ε 1984, 107, 119; EuGH, Urteil vom 8.3.1990, Rs. T-41/89, Ε 1990, 11-79, 89; Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365; ders. in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 552f.; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 165ff.; DoepnerI Reese, GRUR 1998, 761, 771; Everling, ZGR 1992, 376, 386; Folz, Demokratie und Integration, S. 221 f.; Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 65f.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung, S. 42f.; Huber, Recht der europäischen Integration, S. 130; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 809; Looschelders/ Roth, Juristische Methodik, S. 217; Lutter, JZ 1992, 593, 599; Oppermann, Europarecht, Rn. 682; Ch. Schmidt, Einfluß europäischer Richtlinien auf das innerstaatliche Privatrecht, S. 51; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 576; Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 EGV Rn. 7; Weigl, ÖJZ 1996, 933, 939; Zitscher, RabelsZ 60 (1996), 648, 658f.

290

Siehe Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 552. Das dort gebrachte Beispiel einer spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Begriffsbildung in den ex-Art. 48 ff. EGV bestätigt sich aus strafrechtlicher Sicht durch die Entscheidung im Fall „Sagulo, Brenca und Bakhouche", EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, Ε 1977, 1495 ff. Siehe das Beispiel zum Begriff der „Irreführung" bei Streinz, WiVerw 1993, 1, 48. Zur Unterscheidung von Bedeutungskern und Bedeutungshof, Schünemann, Klug-FS, S. 169, 177, grundlegend Heck, AcP 112 (1914), 1, 173.

291 292

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Wenn also der deutsche Gesetzgeber einen Begriff aus der Richtlinie übernimmt, kann er im Kontext des nationalen Rechts unbestimmt, im Kontext des Gemeinschaftsrechts aber gleichwohl bestimmt sein. Während folglich auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts der Grundsatz der Bestimmtheit gewahrt sein kann und kein diesbezüglicher Verstoß zu resümieren ist, muß das in der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht zwingend der Fall sein. Hier zeigt sich, wie zweifelhaft es ist, allein aus dem Wortlaut einer Richtlinie und dessen Wiedergabe im nationalen Straftatbestand auf eine Bindung des innerstaatlichen Strafgesetzgebers mit einhergehender verfassungsrechtlicher Unanfechtbarkeit schließen zu wollen. Diese Ambivalenz der Terminologie ist zwar im Zuge eines zweistufigen Auslegungsverfahrens überwindbar, 293 und es ist an dieser Stelle an den Gesetzgeber zu appellieren, die Vorgabe aus der Richtlinie stets auf ihren innerstaatlichen Bedeutungsinhalt zu überprüfen. Für ein auf den Wortlaut fixiertes Rechtsgebiet erschwert die autonome Begriffsbildung im Gemeinschaftsrecht jedoch unverkennbar die Bestimmung dessen, was als gemeinschaftsrechtliche Vorgabe oder als Akt innerstaatlicher Gestaltung zu gelten hat. cc. Das Sprachenbabylon der Gemeinschaft Das „Sprachenbabylon" der Gemeinschaft 294 stellt in diesem Zusammenhang überhaupt ein grundsätzliches Problem des Gemeinschaftsrechts dar. Seit Amsterdam sind der EG-Vertrag und EU-Vertrag nunmehr in zwölf Sprachfassungen verbindlich;295 Sekundärrechtsrechtsakte wie die Richtlinie sind es grundsätzlich in jeder der Amtssprachen. 296 Der Richtlinientext begegnet dem Rechtsanwender also in seiner Heimatsprache, was grundsätzlich von Vorteil ist und Beifall verdient. Dabei darf jedoch nicht in Vergessenheit geraten, was aus der Übersetzung fremdsprachlicher Rechtstexte und der Methodik der Rechtsvergleichung bekannt ist.297 Sie ist mehr als die Tätigkeit des Sprachübersetzers, 298 denn hinter dem Wort kann sich ein feststehender Begriff, ja ein spezifisches Rechtsgebilde verbergen. 299 Schon aus einer Methodenlehre, die sich monolinguistisch mit Fragen des Wortsinns beschäftigt, ist 293

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Siehe bei Lutter, J Z 1992, 593, 599. Zweistufig meint hier die unterschiedlichen Ebenen der Auslegung (nationales Recht und Gemeinschaftsrecht), siehe dazu im 5. Hauptteil D. Oppermann, Europarecht, Rn. 182. Siehe Art. 314 EGV und Art. 53 EUV. Anders f ü r den Montanvertrag, siehe Art. 100 E G Κ SV. LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 217; Luttermann, EuZW 1999, 401, 402; allgemeiner Überblick bei Oppermann, Europarecht, Rn. 180 f. Siehe Daig, Zweigert-FS, S. 395, 397 ff. Vgl. Meine in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 22 Rn. 45 a. E. Siehe auch die Beispiele bei Luttermann, EuZW 1998, 151, 155 f. Frosini, Gesetzgebung und Auslegung, S. 131: Das englische Wort „trust".

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hinreichend bekannt, daß ein besonderer Sprachgebrauch des Gesetzes nicht dem allgemeinen Spachgebrauch entsprechen muß. 300 Bedenkt man noch die Übersetzertätigkeit, bei der trotz aller Sorgfalt Ungenauigkeiten nicht auszuschließen sind, 301 so sprechen diese Unwägbarkeiten dafür, die Grenze des möglichen Wortsinns aus innerstaatlicher Sicht für jeden Fall der richtlinienkonformen Auslegung uneingeschränkt gelten zu lassen. Denn das Strafgesetz wendet sich an die in dem jeweiligen Mitgliedstaat lebenden Bürger und muß ihre Sprache sprechen. dd. Unbestimmtheit durch detaillierte Vorgaben ? Selbst wenn man die Kompetenzfrage anders entscheidet und vertritt, daß Richtlinienvorgaben den Strafgesetzgeber binden können, ist damit im Ergebnis nur wenig gewonnen. Aus strafrechtlicher Sicht dürfte der Konflikt einer Kollision von Richtlinienvorgaben mit dem Verfassungsrecht rechtstatsächlich dann aufleben, wenn es sich um Inhalte handelt, die so unbestimmt und weit sind, daß ihre wortgetreue Wiedergabe im Straftatbestand gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen würde. Exakte Formulierungen bergen aus strafrechtlicher Sicht unter dem Aspekt der Bestimmtheit gerade nicht die eigentliche verfassungsrechtliche Brisanz. In der Rechtsanwendung bilden weite, auslegungsbedürftige Formulierungen den neuralgischen Punkt. 302 Die These von einer den Rahmen des Art. 103 Abs. 2 G G sprengenden Bindung des Strafgesetzgebers an Richtlinienvorgaben verblaßt daher zu einem Gedankenspiel, da unbestimmte Vorgaben dem Gesetzgeber regelmäßig einen Gestaltungsspielraum belassen und damit eben nicht binden. Der Konfliktfall entsteht erst, wenn eine unbestimmte Formulierung in einer Richtlinie als bindende Richtlinienvorgabe in dem Sinne zu verstehen sein sollte, daß die Richtlinie die weite und unbestimmte Formulierung in den Straftatbeständen der Mitgliedstaaten niedergeschrieben wissen will.

2. Z w i s c h e n e r g e b n i s Auch für die Auslegung von Straftatbeständen, die zur Umsetzung von Richtlinien erlassen worden sind, gelten die verfassungsrechtlichen Bindungen des Art. 103 Abs. 2 G G uneingeschränkt. 300 301

302

Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 164; Looscheldes/Roth, Juristische Methodik, S. 140. Beispiele bei Frosini, Gesetzgebung und Auslegung, S. 132, Fn. 170; Luttermann, EuZW 1999, 401 ff.; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 575; Streit in: Beutler/Bicber/Pipkorn/ Streil, Die EG, S. 246; ausführlich Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 155 ff. mwN. C. Roxin, AT, § 5 Rn. 67.

380

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

VII. Ausmaß und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht Auf der soeben gewonnenen Grundlage sind nunmehr Ausmaß und Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation näher zu bestimmen. Dazu bedarf es zunächst wiederum einer näheren Analyse der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs. Obwohl sich der Gerichtshof grundsätzlich nicht der Auslegung des innerstaatlichen Strafgesetzes widmet, sind seiner Rechtsprechung konkrete Aussagen zur richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht zu entnehmen.

1. D e r G e r i c h t s h o f zu den G r e n z e n d e r richtlinienkonformen Auslegung i m Strafrecht Von der allgemeinen Pflicht, das nationale Recht „so weit wie möglich" am Wortlaut und am Zweck einer Richtlinie auszulegen, nimmt der Gerichtshof das Strafrecht nicht aus. Er fordert im strafrechtlichem Zusammenhang aber einen restriktiven Umgang mit dieser Pflicht. a. „Kolpinghuis Nijmegen" Allerdings ist es nicht immer einfach, den Aussagehalt der Entscheidungen des Gerichtshofs präzise zu bestimmen. Das zeigt sich ganz konkret am Fall „Kolpinghuis Nijmegen" 303 . Zwei Monographien, 304 die sich in jüngerer Zeit mit der richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts beschäftigt haben, weisen dem Urteil einen Aussagegehalt zu,305 der nicht ohne weiteres in diese Entscheidung hineingelesen werden kann. Es geht um die Beantwortung der dritten Vorlagefrage. In dieser Antwort verlangt der Gerichtshof vom nationalen Gericht zunächst, das nationale Recht im Lichte der Richtlinie auszulegen. Sodann kommt es zu der strafrechtsspezifischen Einschränkung, wonach eine „Richtlinie jedoch nicht für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die

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304

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Zum Fall „Kolpinghuis Nijmegen" vgl. schon oben 1. Hauptteil D. II, ferner Satzger, Europäisierung, S. 538 ff. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 164f.; Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 115, 147. Die Ausführungen von Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 164f. und Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 115, ähneln den Schlußfolgerungen von Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 110.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen." 306 Aus dieser Urteilspassage ziehen Heise und Köhne unterschiedliche Konsequenzen, stimmen aber in einem wichtigen Punkt überein. Bei Heise heißt es: „Nicht einleuchtend ist allerdings der vom EuGH gezogene Schluß, eine strafbarkeitserweitemde bzw. -verschärfende richtlinienkonforme Auslegung sei stets unzulässig." 307 „Soweit also die Grenzen der Auslegung beachtet werden, kann die richtlinienkonforme Auslegung durchaus zu einer Strafbarkeitserweiterung bzw. -Verschärfung führen. Die vom EuGH vertretene Einschränkung läßt sich so pauschal nicht nachvollziehen und ist daher abzulehnen." 308 Köhne führt aus: „Der Bürger wird in seinem Vertrauen geschützt, daß hoheitliche Maßnahmen, die auf Richtlinien beruhen, ihn erst nach einer erfolgten legislativen Umsetzung der Richtlinie in abstrakt-generelle Normen des nationalen Rechts treffen, denn Grundlage der Rechtssetzung durch Richtlinien ist die Zweistufigkeit. Vor der legislativen Umsetzung kann der Bürger auf die Rechtssicherheit vertrauen, daß ihn hoheitliche Eingriffe unmittelbar durch eine Richtlinie oder im Wege richtlinienkonformer Auslegung treffen. Dort, wo den Bürger eine belastende hoheitliche Maßnahme des Staates trifft, die allein auf der Hinzuziehung einer nicht durch die Legislative umgesetzten Richtlinie beruht, hat der Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot Vorrang vor der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung." 309 Bei einer fehlenden Umsetzung verbietet sich nach Köhne im Gegensatz zur Meinung Heises die richtlinienkonforme Auslegung. 3 1 0 Trotz ihrer insoweit unterschiedlichen Ansichten deuten beide Autoren die eigentliche Aussage des Gerichtshofs im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" durchaus einhellig: Sie meinen, der Gerichtshof halte es prinzipiell für unzulässig, nicht umgesetzte Richtlinien für die Auslegung einer Strafnorm heranzuziehen. Fraglich ist jedoch, ob diese Deutung zutrifft. Der Gerichtshof spricht von einer Wirkung der Richtlinie, die darin besteht, für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften, die strafrechtliche Verantwortlichkeit festzulegen oder zu verschärfen. Als Begründung führt der Gerichtshof den Grund-

306 307 308 309 310

EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3987. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 165. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 166. Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 115. Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 147.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

satz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot an.311 Diese Aspekte müssen aber nicht berührt sein, wenn sich unter Beachtung der Richtlinie eine schon nach dem nationalen Recht mögliche, vielleicht sogar im Vergleich mit der vorherigen Auslegung bessere Interpretation ergibt. In diesem Sinne muß es dem nationalen Gericht erlaubt sein, eine aus dem nationalen Recht heraus denkbare Auslegung durch die Richtlinie zu bestätigen.312 Diesen Fall wollte der Gerichtshof gewiß nicht ausschließen, sondern nur verhindern, daß die Richtlinie für sich allein eine für den Täter nachteilige Interpretation stützt. Eine Auslegungsfrage, bei der es um das Ob oder Wie der Strafbarkeit geht, kann nach diesem Urteil niemals anhand einer nicht umgesetzten Richtlinie entschieden werden. Einer nicht umgesetzen Richtlinie wohnt insoweit kein Imperativ für die Auslegung des innerstaatlichen Strafrechts inne. Der Gerichtshof hat aber kein Verbot postuliert, nicht umgesetze Richtlinien in den Auslegungsvorgang zu integrieren. 313 Indes können wir ein Ergebnis festhalten: Auch eine sehr detaillierte Richtlinie wie die „Mineralwasserrichtlinie" 314 vermag ein unbestimmtes Merkmal wie das Wort „fehlerhaft" im niederländischen Recht für sich allein und unabhängig vom nationalen Recht niemals auszufüllen. 315 Folglich müssen weitere Entscheidungen des Gerichtshofs analysiert werden, um den gemeinschaftsrechtlichen Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts schärfere Konturen zu geben.

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314 315

E u G H , Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3986. Auch DanneckerlStreinz in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 8 Rn. 61, stellen auf diese Grenzen ab. Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in: E u G H , Urteil vom 8. 10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3979 a. Ε. Das wäre auch schwerlich durchzuhalten. Es sind Fälle denkbar, in denen das nationale Recht bereits so weitgehend einer Richtlinie entspricht, d a ß dem Gesetzgeber eine Umsetzung als überflüssig erscheint, da die verbleibenden Inkongruenzen ohne weiteres durch eine richtlinienkonforme Auslegung auszugleichen sind. Dann wäre ζ. B. eine zivilrechtliche Verhaltensnorm richtlinienkonform auszulegen und es entstünde eine gespaltene Auslegung, wenn das Strafrecht ohne Umsetzungsakt nicht richtlinienkonform ausgelegt werden dürfte. Im Ergebnis käme es zu einer gespaltenen Auslegung, je nachdem, ob ein Zivil- oder Strafrechtler prüft. Ausführlich zum damit angesprochenen Problem der sogenannten N o r m spaltung sogleich, 5. Hauptteil C. VII. 3. Richtlinie 80/777/EWG vom 15. 7.1980, Abi. Nr. L 229, S. 1. Vgl. die luziden Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in: EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3979.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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b. Der Fall „Arcaro" In der Entscheidung „Arcaro" 316 ging es neben der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien auch um eine richtlinienkonforme Auslegung im Zuge eines Umweltstrafverfahrens. Der Gerichtshof wiederholt zunächst seine „so weit wie möglich"Formel aus dem Urteil im Fall „Marleasing". 317 Unmittelbar danach umschreibt er die Grenzen dieser Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung im Vergleich mit der Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen" prägnanter: 318 „Diese Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet jedoch ihre Grenzen, wenn eine solche Auslegung dazu führt, daß einem einzelnen eine in einer nicht umgesetzten Richtlinie vorgesehene Verpflichtung entgegengehalten wird, und erst recht dann, wenn sie dazu führt, daß auf der Grundlage der Richtlinie und in Ermangelung eines zu ihrer Umsetzung erlassenen Gesetzes die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen verschärft wird, die gegen die Richtlinienbestimmungen verstoßen."

Über die nähere Bedeutung der „erst recht"-Formel gibt der Gerichtshof im weiteren Verlauf der Entscheidung keine Auskunft. Die Formulierung bringt jedoch einmal mehr die Zurückhaltung des Gerichtshofs gegenüber einer strafrechtlichen Belastung durch das Richtlinienrecht sowohl in Gestalt der unmittelbaren Wirkung als auch im Wege der richtlinienkonformen Auslegung zum Ausdruck. Denn für die konkrete Fallösung hätte der Gerichtshof auf die „erst recht "-Formel verzichten und es bei dem Hinweis belassen können, daß dem einzelnen jedenfalls keine Verpflichtungen aus einer nicht umgesetzten Richtlinie entgegengehalten werden dürfen. 319 Zwischen den Zeilen deutet die Entscheidung zum Fall „Arcaro" damit bereits an, daß der Gerichtshof die allgemein „so weit wie möglich" reichende Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation im strafrechtlichen Kontext zurücknimmt. Neu war dieser Ansatz in seiner Grundrichtung freilich nicht, weil der Gerichtshof bereits bei der Auslegung von EG-Verordnungen dann restriktiv vorging, wenn

316 317 318 3,9

Zum Fall „Arcaro" siehe schon oben 1. Hauptteil D. III. EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705 ff EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705,4730. Das fallrelevante italienische Umsetzungsrecht hatte eine Genehmigungsverpflichtung bei der Ableitung von Schadstoffen fehlerhaft umgesetzt und von einem zusätzlichen innerstaatlichen Dekret abhängig gemacht, was zur Folge hatte, daß dem Täter im Zeitpunkt der Tat keine Genehmigungspflicht nach dem insoweit richtlinienwidrigen italienischem Recht traf. Insoweit hätte es der Gerichtshof dabei bewenden lassen können, daß die fehlende Verpflichtung nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung dadurch ersetzt werden kann, daß der einschlägige Richtlinieninhalt herangezogen wird.

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5. Haupttteil: D i e

richtlinienkonforme

A u s l e g u n g i m Strafrecht

eine sanktionsrechtliche Belastung in Rede stand. Im Fall „Könecke" führt der Gerichtshof folgendes aus: „ . . . Hierzu ist z u bemerken, daß eine Sanktion, selbst w e n n sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur d a n n verhängt werden darf, w e n n sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht ( . . . ) zu d i e s e m Zweck ist die Vorschrift im Lichte ihres Wortlauts, ihres T e x t z u s a m m e n h a n g s u n d des mit ihr verfolgten Z w e c k s auszulegen". 3 2 0

Die Ausführungen des Gerichtshofs in der „Arcaro"-Entscheidung verdienen um so mehr Beachtung, als sich auch aus einer Gesamtschau des Verfahrens gewichtige Anhaltspunkte für einen restriktiven Grundansatz des Gerichtshofs bei der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht ergeben. Die „erst recht"-Formel geht über die Stellungnahme des Generalanwalts Elmer hinaus. Die Kommission hatte in der Tradition der Rechtsprechung des Gerichtshofs angeregt, die Pflicht zur „so weit wie möglich" gehenden richtlinienkonformen Auslegung zu bejahen und den Zusatz hinzuzufügen, daß die Auslegung in Ermangelung einer Umsetzung der Bestimmungen in die interne Rechtsordnung nicht dazu führen dürfe, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit der verfolgten Person festgelegt oder verschärft wird.321 Generalanwalt Elmer wandte sich gegen diese strafrechtsspezifischen Ausführungen. Nicht etwa, weil Elmer eine strafrechtlich zu Lasten des Täters gehende Auslegung präferierte, sondern weil er den Gedanken entwickelte, daß die Auslegungsregel ohnehin keine Möglichkeit für eine Interpretation der nationalen Vorschrift contra legem biete. Der von der Kommission vorgeschlagene und strafrechtsspezifische Zusatz erscheint Elmer als überflüssig. 322 Der Generalanwalt stellte damit den strafrechtsspezifischen Zusatz ausdrücklich zur Disposition. Der Gerichtshof machte sich diese Ausführungen des Generalanwalts jedoch nicht zu eigen. Im Gegenteil: Er unterstreicht mit der „erst recht"-Formel seine restriktive Haltung gegenüber einer extensiven richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts zu Lasten des Bürgers.323 Als greifbares und wichtiges Ergebnis dieser Entscheidung bleibt die Schlußfolgerung, daß der Gerichtshof eine dem Fall „Marleasing" vergleichbare extensive

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EuGH, Urteil vom 2 5 . 9 . 1 9 8 4 , Rs. 117/83, Ε 1984, 3291, 3302. Weitere Beispiele bei Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 402 f., der die restriktive Vorgehensweise des Gerichtshofs im sanktionsrechtlichen Zusammenhang hervorhebt. Wiedergegeben in den Schlußanträgen des Generalanwalts Elmer in: E u G H , Urteil vom 2 6 . 9 . 1 9 9 6 , Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705, 4716. Schlußanträge des Generalanwalts Elmer in: E u G H , Urteil vom 2 6 . 9 . 1 9 9 6 , Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705, 4716. E u G H , Urteil v o m 2 6 . 9 . 1 9 9 6 , Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705, 4730.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

385

Auslegung des Strafgesetzes offenkundig nicht fordert und auch nicht billigt. Trotz dieser bedeutenden Aussage der „Arcaro"-Entscheidung darf man ihren praktischen Nutzen für die Auslegung im Strafrecht aber nicht überschätzen. Obwohl im Vergleich mit dem Fall „Kolpinghuis Nijmegen" durch die „erst recht"-Formel die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung offenkundig stärker markiert werden sollten, bleibt es eben auch nur bei dieser Botschaft. Das ist keine Kritik am Gerichtshof, da ihm die konkrete Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts nicht obliegt. Letztlich sind Rechtsprechung und Wissenschaft in den Mitgliedstaaten aufgerufen, die Aussagen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs herauszufiltern und in die Auslegung einfließen zu lassen. Deshalb ist es besonders wichtig, gerade diejenigen Urteile zu analysieren, in denen der Gerichtshof konkreter wird und deutlich werden läßt, welche Fälle für ihn jenseits der Grenze zulässiger Auslegung liegen. c. „Telecom Italia" Der Gerichtshof füllt das, was in der „Arcaro"-Entscheidung mit der „erst recht"Formulierung anklang, nur wenige Monate später ungleich konkreter aus und widmet sich dem Ausmaß und den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht in der bereits erwähnten Entscheidung „Telecom Italia". 324 Zum besseren Verständnis sei wiederholt, daß in Italien die EG-Bildschirmrichtlinie 325 durch ein Dekret umgesetzt worden war, das die Einhaltung der Vorschriften mit Strafnormen flankierte. 326 Der italienische Ermittlungsrichter hatte auf Antrag der Staatsanwaltschaft über die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu entscheiden, das Aufschluß darüber geben sollte, ob die Arbeitsbedingungen bei der Telecom Italia diesen Arbeitsschutzvorschriften entsprechen. Um diesen Antrag bescheiden zu können, stellten sich dem Richter Auslegungsfragen, die er dem Gerichtshof vorlegte. Das italienische Recht 327 hatte zwar die Richtlinienvorgaben konkretisiert 328 , doch für den zu entscheidenden Fall war für den Ermittlungsrichter schon nicht eindeutig, welche Arbeitnehmer konkret den Schutzvorschriften unterfielen. Um

324 325 326 327

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Siehe oben 1. Hauptteil V. D. 3. b. cc. Richtlinie 90/270/EWG vom 29.5.1990, Abi. Nr. L 156, S. 14. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609 ff. Nach Art. 51 des Dekrets gilt als Arbeitnehmer, wer die gesamte Arbeitswoche hindurch planmäßig und gewöhnlich mindestens vier Stunden hintereinander - nach Abzug der Pausen gem. Art. 54 - ein Bildschirmgerät benutzt. Nach Art. 2 lit. c gilt als Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer i. S. von Art. 3 lit. a Richtlinie 89/391/EWG, der gewöhnlich bei einem nicht unwesentlichen Teil seiner normalen Arbeit ein Bildschirmgerät benutzt."

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

dies zu klären, legte das italienische Gericht die Auslegungsfragen dem Gerichtshof vor. 329 D e r Gerichtshof nimmt dieses Verfahren zum Anlaß, seine Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht zu vertiefen. Zunächst betont er wiederum allgemein die „so weit wie möglich" gehende Pflicht und fügt einschränkend zugleich hinzu, daß auf diese Weise die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen Bestimmungen der Richtlinie verstoßen, nicht begründet oder verschärft werden kann. 330 Hierauf folgen Darlegungen, die in ihrer Aussagekraft über „Kolpinghuis Nijmegen" und „Arcaro" hinausreichen und - auch auf die Gefahr einer Wiederholung hin - der wörtlichen Wiedergabe bedürfen. D e n n es handelt sich bei diesen Ausführungen nicht nur um die explizite Anerkennung des Grundsatzes gesetzlicher Bestimmtheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz, sondern zugleich um die Einleitung der sodann folgenden Konkretisierung der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht. Der Gerichtshof führt aus: „Insbesondere in bezug auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens, in dem es um den Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geht, die sich aus speziell zur Durchführung einer Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften ergibt, ist festzustellen, daß der Grundsatz, wonach ein Strafgesetz nicht zum Nachteil des Betroffenen extensiv angewandt werden darf, der aus dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen und, allgemeiner, dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, es verbietet, die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Dieser Grundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, ist auch in verschiedenen internationalen Verträgen verankert, u.a. in Art. 7 EMRK (...). Daher ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, bei der Auslegung des zur Durchführung der Richtlinie erlassenen nationalen Rechts unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie für die Einhaltung dieses Grundsatzes zu sorgen." 331 In einer bemerkenswerten und für die vorliegende Untersuchung festzuhaltenden Weise nimmt der Gerichtshof sodann die Vorlagefrage zur Auslegung des Begriffs des Arbeitnehmers in Art. 2 lit. c der Bildschirmrichtlinie auf. Er stellt fest, daß die Richtlinie keine nähere Auskunft darüber gibt, was unter der Benutzung eines Bildschirmgeräts zu verstehen ist, die „gewöhnlich bei einem nicht unwesentlichen Teil

329

330 331

Es fragte, ob die Bestimmung der Arbeitnehmer in Art. 2 lit. c der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß sie Arbeitnehmer, die gewöhnlich an allen Tagen der Woche, außer an einem, vier Stunden hintereinander einen Bildschirm benutzen und Arbeitnehmer, die an allen Tagen der Woche weniger als vier Stunden hintereinander einen Bildschirm benutzen, erfaßt. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, 1-6609, 6636. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95,1-6609, 6637.

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der normalen Arbeit erfolgt". Als furios und wegweisend muß das nun folgende Vorgehen eingestuft werden. Der Gerichtshof verweigert unter Berufung auf den Bestimmtheitsgrundsatz dem vorlegenden Gericht kurzerhand die Beantwortung der Vorlagefrage und läßt es mit seinem innerstaatlichen Recht allein, das dem italienischen Gericht zur eindeutigen Fallösung nicht genügt und den Impuls zur Vorlage gegeben hatte. Eindrucksvoll und grundlegend formuliert der Gerichtshof wie folgt: „In Anbetracht des vagen Charakters des fraglichen Ausdrucks ist den Mitgliedstaaten beim Erlaß dieser Umsetzungsmaßnahmen ein weites Ermessen zuzuerkennen, das im Hinblick auf den oben (...) genannten Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen die zuständigen nationalen Behörden jedenfalls daran hindert, auf die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie Bezug zu nehmen, wenn sie auf dem von der Richtlinie erfaßten Gebiet Strafverfahren einleiten wollen. Unter diesen Umständen braucht diese Frage nicht beantwortet zu werden (...)." 3 3 2

Hervorzuheben ist zunächst, daß der Gerichtshof im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht den Grundsatz, nach dem sich die Strafbarkeit eindeutig aus dem Gesetz ergeben muß, gewahrt wissen will. Er bezeichnet es als Aufgabe des innerstaatlichen Gerichts, für die Einhaltung dieses Grundsatzes zu sorgen. Daraus folgt, daß eine bestimmte Richtlinie ein unbestimmtes Strafgesetz nicht auszufüllen vermag. Diese Ausführungen hat das Gericht seiner Beantwortung der Vorlagefragen vorangestellt. Sie gelten mithin allgemein für die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht und beziehen sich nicht auf die sodann für zu unbestimmt erachteten Vorgaben der Richtlinie. Auch wenn diese Aussage bereits aus der vorhergehenden Rechtsprechung herauszulesen war,333 ist ein Aspekt hervorzuheben: Es ging im Fall „Telecom Italia" um die Auslegung von Strafnormen, die sich auf innerstaatliches Umsetzungsrecht beziehen. Die Aussagekraft der Entscheidung geht im Rahmen der Prüfung des Art. 2 lit. c der Bildschirmrichtlinie noch weiter. Der Gerichtshof versagt die Bezugnahme auf unbestimmte Formulierungen der Richtlinie ,,jedenfalls" dann, wenn die Auslegung unter strafrechtlichen Gesichtspunkten erfolgt. Er verlangt damit f ü r die „Verwertbarkeit" einer Richtlinie im Strafrecht, daß sie bestimmt sein muß. Das folgt nicht nur aus der konkreten Prüfung der Richtlinienvorschrift durch den Gerichtshof, sondern aus der hieraus gezogenen Konsequenz: D a dem Gerichtshof die fragliche

332 333

EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95,1-6609, 6638. „Kolpinghuis Nijmegen", EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969ff.: Hier sei nur noch an das unbestimmte Merkmal „fehlerhaft" im niederländischen Recht erinnert. Auch eine überaus detaillierte Richtlinie vermag für sich allein niemals ein derart unbestimmtes Merkmal auszufüllen.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Richtlinienvorschrift zu unbestimmt war, konnte ihr für ein Strafverfahren wegen ihrer Unbestimmheit keine Bedeutung zukommen. Dann ist es in der Tat überflüssig, weitere Auslegungsversuche zu unternehmen und es ist konsequent, die Beantwortung der Vorlagefrage zu unterlassen, da sie für den vorlegenden Richter ohnehin keine Rolle spielen kann und darf. Diese Äußerungen des Gerichtshofs sind wichtig, weil die Bestimmtheit einer Richtlinienvorschrift - im Gegensatz zum Fall der unmittelbaren Wirkung - europarechtlich nicht verlangt wird, wenn es um die richtlinienkonforme Auslegung geht. 334 Soweit ein Teil der Literatur diese Aussage vorbehaltlos auf das Strafrecht überträgt, 335 ist dem nicht - mehr - zu folgen. Beachtung verdient weiterhin, d a ß der Gerichtshof nicht generell für jedes Rechtsgebiet eine Bezugnahme auf die Richtlinienregelung ausschließt, sondern mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz argumentiert und „jedenfalls" eine Bezugnahme im Strafverfahren verhindern will. Damit wird die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung/ür das Strafrecht enger gezogen.116 Eine weitere Urteilspassage unterstreicht diese Deutung des Urteils. Nach den Ausführungen, mit denen der Gerichtshof eine Bezugnahme auf die Richtlinienbestimmung im strafrechtlichen Zusammenhang untersagt, geht er auf die Stellungnahme der Kommission ein. Es müsse nicht geprüft werden, „ob die Auffassung (...) der Kommission zutrifft, daß es für den betreffenden Arbeitnehmer offensichtlich einen nicht unwesentlichen Teil seiner Arbeitszeit im Sinne von Artikel 2 der darstelle, wenn er an jedem Tag der Woche außer an einem gewöhnlich vier Stunden hintereinander vor einem Bildschirm verbringt". 337 Nach Ansicht der Kommission wäre die Vorlagefrage des Ermittlungsrichters also eindeutig zu bejahen gewesen. Gerade das lehnt der Gerichtshof unter Berufung auf seine strafrechtsspezifische Argumentation ab. Die Auslegungsergebnisse nehmen getrennte Wege, je nachdem in welchem Zusammenhang die Auslegungsfrage gestellt wird. Die „so weit wie möglich"-Formel hat damit eine rechtsgebietsspezifische Relativierung erfahren, die der Gerichtshof angesichts der zunehmenden Verzahnung des Gemeinschaftsrechts mit dem Strafrecht zukünftig noch weiter ausgestalten dürfte.

334 335 336

337

Siehe nur Jarass, EuR 1991, 211, 221. Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 101 f. Damit bestätigt sich in der „Telecom Italia"-Entscheidung abermals das, was bereits aus der Würdigung des Vorbringens des Generalanwalts Elmer im Fall „Arcaro" abzuleiten war. Elmer hatte keinen Anlaß für strafrechtsspezifische Begrenzungen der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gesehen, was der Gerichtshof nicht aufgriff. Der Fall „Telecom Italia" baut diese Rechtsprechung sogar weiter aus. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95,1-6609, 6638.

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d. Der Fall „Cantoni" Um das Bild der Rechtsprechung zur Verzahnung des Richtlinienrechts mit dem Strafrecht auf europäischer Ebene zu vervollständigen, ist noch auf den Fall „Cantoni" einzugehen, der dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorlag.338 Der Beschwerdeführer sah Art. 7 MRK als verletzt an, da die Strafbarkeit nach seiner Auffassung auf unbestimmte Vorschriften des französischen Rechts gestützt wurde. Der Gerichtshof für Menschenrechte folgte dem im Ergebnis nicht, doch in dieser Entscheidung findet sich - soweit ersichtlich erstmals - eine Stellungnahme zu der Frage, inwieweit das Problem der Bestimmtheit einer Strafvorschrift durch den Umstand berührt wird, daß diese Vorschrift den Vorgaben einer Richtlinie entspricht. Die französische Regierung hatte vorgetragen, daß die mit Blick auf Art. 7 M R K angegriffene Strafnorm nahezu wörtlich einer Richtlinienvorgabe entsprach. Die in dem Urteil hierzu getroffenen Ausführungen sind zwar sehr knapp gehalten, doch von grundsätzlicher Aussagekraft. Danach entzieht sich die französische Norm durch den Umstand, daß sie sich beinahe Wort für Wort mit der Richtlinienvorgabe deckt, nicht dem Anwendungsbereich des Art. 7 MRK. 339 Die Kernaussage lautet: Der Bestimmtheitsgrundsatz erfährt keine inhaltlichen Modifizierungen dadurch, daß sich die nationale Vorschrift auf die Vorgaben einer Richtlinie stützt. Das verdient Beifall und fügt sich nahtlos in die dargestellte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein.

2. Die Grenzen der Auslegung von richtlinienmodifizierten Bezugstatbeständen Das Strafrecht knüpft oftmals an außerstrafrechtliche Begriffe an oder es verweist in Blankettstrafgesetzen explizit auf außerstrafrechtliche Normen. Für das Strafrecht ist davon auszugehen, daß die Umschreibung des Strafbaren auch in diesem Fall dem Grundsatz der Bestimmtheit genügen muß.340 Für die Deutung eines unbestimmten Tatbestandsmerkmals, auf das die Strafnorm verweist, gilt, daß es

™ EuGHMR, Urteil vom 15.11.1996, Nr. 45/1995/551/637, Ε 1996, 1614fT. Die Einzelheiten des Falles bedürfen hier keiner ausführlichen Wiedergabe. Nur so viel: Es ging um den Verkauf von pharmazeutischen Produkten in einem Supermarkt. Der zu einer Geldstrafe Verurteilte berief sich darauf, daß nach nationalem Recht nicht erkennbar gewesen sei, daß die Produkte dem „Apothekenmonopol" unterfielen. 339 EuGHMR, Urteil vom 15.11.1996, Nr. 45/1995/551/637, Ε 1996, 1614, 1628. 340 BVerfGE 41, 314, 319; Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 106; Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Rn. 201; K. Tiedemann, Schaffstein-FS, S. 195, 208.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

unter strafrechtlichen Gesichtspunkten und nach den Maßstäben zu würdigen ist, die für die Auslegung von Strafgesetzen gelten,341 womit auch für diesen Fall das strafrechtliche Analogieverbot zu beachten ist.342 Der damit problematische Fall der richtlinienkonformen Auslegung ergibt sich, wenn der Bezugstatbestand der Strafnorm in einer Weise richtlinienkonform ausgelegt wird, die aus strafrechtlicher Sicht den Rahmen der vertretbaren Interpretation verläßt. Zu denken ist hier insbesondere an die richtlinienbedingte Analogie, die sich im Kontext der Strafnorm als strafbegründend oder strafschärfend erweist. Da nach hier vertretener Auffassung Art. 103 Abs. 2 G G jedoch auch im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung gilt, hat das Strafrecht an einer derartigen Extension des Anwendungsbereichs einer Bezugsnorm jedenfalls nicht teil. In diese Richtung weist auch die Entscheidung des Gerichtshofs im Fall „Telecom Italia", in der eine Bezugnahme auf einen unbestimmten Richtlinieninhalt nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern strafrechtsspezifisch mit dem Bestimmtheitsgrundsatz argumentiert und eine diesbezügliche Bezugnahme versagt wird. 343 Ein Vergleich mit nichtstrafrechtlichen Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bestätigt diesen Befund. Während der Gerichtshof im Fall „von Colson" unter Berufung auf die Stellungnahme der Bundesregierung dem nationalen Gericht ein an der Richtlinie orientierte Auslegung des § 823 Abs. 2 BGB beinah schon vorgibt, 344 ignoriert er im Fall „Kolpinghuis-Nijmegen" die von niederländischen Regierung vorgetragene Möglichkeit, die Richtlinieninhalte in den strafrechtlichen Auslegungsvorgang einfließen zu lassen.345

3. D i e richtlinienbedingte N o r m s p a l t u n g Somit eröffnet sich die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung. Die richtlinienkonforme Interpretation präsentiert das im Wirtschaftsstrafrecht bekannte Problem der sogenannten Normspaltung 346 in einem anderen Gewand.

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BVerfGE 48, 60 f. Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 106; Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Art. 103 Rn. 234; aA Raisehl Μaasch, Benisch-FS, S. 216; Raisch, Juristische Methoden, S. 151 ff., wo die Analogie als Unterfall der systematischen Auslegung eingeordnet wird. EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6638. EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Rs. 14/83, Ε 1984, S. 1891, 1901, 1908f. EuGH, Urteil vom 8. 10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969ff. Siehe dazu schon oben 5. Hauptteil C. III. Terminologie nach K. Tiedemann, NJW 1979, 1851; ders. Wirtschaftsstrafrecht I, S. 188, vgl. auch Satzger, Europäisierung, S. 560 ff.

C. G r u n d f r a g e n richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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a. Zur Normspaltung im nationalen Recht Historischer Schauplatz der Diskussion ist vor allem das Kartellordnungswidrigkeitenrecht, wenngleich es sich um eine grundsätzliche Problematik handelt. Die Möglichkeit der Normspaltung eröffnet sich, da Art. 103 Abs. 2 GG, § 3 OWiG nur für die Sanktionsnorm gelten und es somit nicht ausgeschlossen ist, eine kartellrechtliche Vorschrift, die auch zur Ausfüllung eines der Bußgeldtatbestände des § 81 GWB (§ 38 G W B a. F.) dient, bei rein zivilrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Anwendung weiter auszulegen als im Zusammenhang mit der Verhängung einer Geldbuße. 347 Normentheoretisch ist diese Abspaltung zu vertreten.348 Im Sinne Bindings 349 läßt sich zwischen der Verhaltens- und Sanktionsnorm differenzieren.350 Die allgemeine Norm wird in diesem Sinne nicht Bestandteil des Strafgesetzes. 351 Wird dieses z.B. aufgehoben, kann die Verhaltensnorm fortbestehen. 352 Auch wenn das grundsätzliche Problem bereits Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen war, hat sich keine eindeutige Rechtsprechung etabliert. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage im sogenannten „Teerfarben-Beschluß" letztlich offen gelassen. Es ging um den Vertragsbegriff im Sinne des § 1 GWB a. F., den der Bundesgerichtshof im Rahmen des Bußgeldverfahrens unter Berufung auf Art. 103

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Achenbach, in : F K , vor §§ 38-39 Rn. 38; Bartsch, Empfehlungsverbote, S. 168, jeweils mwN und Überblick zum Streitstand; ferner Dannecker in: Immenga-Mestmäcker, E G - W b R . Bd. II, S. 1756. Terminologischer Hinweis: In der Methodenlehre wird der Begriff der Normspaltung auch teilweise im Zusammenhang mit BGHSt 30, 105 fT. (§ 211 StGB, außergewöhnliche Umstände beim heimtückischen Mord) verwandt, so LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 261. Hier meint der Begriff der Normspaltung eine unterschiedliche Auslegung ein und derselben N o r m , je nachdem, ob sie als Bezugsnorm einer Sanktionsvorschrift ausgelegt wird oder nicht. Binding, Normen I, S. 35 ff. N u r hingewiesen sei auf Bucher, Das subjektive Recht, S. 52, dessen Differenzierung zwischen primären und sekundären Normen in der vorliegenden Untersuchung tunlichst vermieden wird, da sie im Kontext mit dem Gemeinschaftsrecht terminologische Unklarheiten mit sich bringt. Nur so viel: Die primäre N o r m ordnet hiernach ein menschliches Verhalten an, während die sekundäre N o r m die auf die Nichtbefolgung stehende Sanktion bestimmt. Ähnlich Herschel, N J W 1968, 533 im Kontext einer „Normspaltung" anhand des Rabattgesetzes. Haffke, Coimbra-Symposium, S. 89,90; Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 230ff.; Lagodny, Das Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 80ff. Diese Differenzierung ist freilich relativ, denn was für den Täter die Sanktionsnorm darstellt, kann für den Richter wiederum als Verhaltensnorm gedeutet werden, zusammenfassend Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 217f. Lenckner, Engisch-FS, S. 490, 495 f. Vgl. Binding, Normen I, S. 157.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Abs. 2 G G eng auslegte.353 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermittelt einen ambivalenten Eindruck. 354 In einem konkursstrafrechtlichen Zusammenhang waren die Worte „einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprechenden Zeit" auszulegen, die Teil einer von der Strafnorm in Bezug genommenen Vorschrift des Handelsrechts waren.355 Bleibe die nähere Bestimmung dieses Merkmals unter handelsrechtlichen Gesichtspunkten im Einzelfall auch schwierig, so böten sich aus strafrechtlicher Sicht für eine den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 G G genügende Eingrenzung jenes Zeitraums hinreichende Anhaltspunkte. 356 Indem die konkursrechtliche Strafvorschrift auf die Norm des Handelsrechts verweise, habe diese im Umfang der Verweisung den Charakter einer Strafnorm erhalten. Dies bedeute, daß das Tatbestandsmerkmal nunmehr, soweit eine Bestrafung in Frage stehe, unter .stra/rechtlichen Gesichtspunkten und nach den Maßstäben zu würdigen ist, die für die Auslegung von Strafgesetzen gelten.357 Das in der Literatur vorzufindende Meinungsspektrum zur Normspaltung im Kartellordnungswidrigkeitenrecht läßt sich grob in zwei Lager aufteilen. Eine Ansicht ficht für eine einheitliche Auslegung, was zu dem Ergebnis führt, daß die Ausdeutung der kartellrechtlichen Vorschrift von der sanktionsrechtlich orientierten engen Auslegung mitgeprägt wird.358 Dagegen plädiert eine andere Auffassung für die Möglichkeit einer differenzierenden Interpretation. 359 Der Maßstab des Art. 103 Abs. 2 G G begrenzt danach die Auslegung eines Merkmals nur dann, wenn es auf den sanktionrechtlichen Kontext ankommt.

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BGHSt 24, 54, 61 f. Aber auch: BGH, NJW 1978, 1856 f. mit einheitlich enger Auslegung unter Berufung auf BVerfGE 21, 292, 305. Siehe auch K. Tiedemann, Lackner-FS, S. 737, 746f. mit Hinweis auf eine unveröffentlichte Entscheidung des OLG Köln, in der eine restriktive Auslegung für den Tatbestand der Geschäftsfalschung gemäß § 400 Abs. 1 Nr. 4 AktG a. F. im Zusammenhang mit den Erläuterungen beim Erwerb eigener Aktien mit Art. 103 Abs. 2 GG begründet wurde. BVerfGE 48, 48 ff. Aber auch: BVerfGE 21, 292, 305 f. mit der Nichtigerklärung einer Vorschrift des Rabattgesetzes. Es ging um eine Bezugnahme des § 240 Abs. 1 Nr. 4 KO a. F. auf § 39 Abs. 2 HGB a. F. BVerfGE 48, 60. BVerfGE 48, 60 f. Achenbach in: FK, vor §§ 38-39 Rn. 38; Bartsch, Empfehlungsverbote, S. 170f.; Möhring, GRUR 1968, 543; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 125 ff. Unter Betonung wirtschaftspolitischer Aspekte, aber auf der Grundlage einer in sich nicht unproblematischen „wirtschaftlichen Betrachtungsweise", Sandrock, Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 22f.; 54ff.; Ähnlich BGH, NJW 1978, 1856, zur Zugabeverordnung. Kartte WuW 1962, 241, 250f.; Kleier, Empfehlungsverbote, S. 54ff.; Strickrodt, WuW 1960, 833f.; Ulmer, WuW 1971, 885. Zur Frage, ob das strafrechtliche Analogieverbot auf die Prüfung des Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 BGB durchschlägt, siehe v. Olshausen, Bemmann-FS, S. 125, 128 ff. mwN.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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Vor allem die Aspekte der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sprechen allgemein für die einheitliche Auslegung eines Begriffs in den Verbots- und Sanktionsnormen. 360 Achenbach und Bartsch führen für ein „monistisches Modell" im Kartellordnungswidrigkeitenrecht aber noch weitere Argumente an, 361 die den inneren Widerspruch einer Normspaltung konkret belegen: Wenn eine Untersagungsanordnung auf einer im Bußgeldrecht nicht mehr vertretbaren Interpretation beruht, so könnte diese Anordnung durch § 81 Abs. 1 Nr. 6 lit. a G W B (§ 38 Abs. 1 Nr. 4 G W B a. F.) nur insoweit bußgeldbewehrt sein, wie sie mit Art. 103 Abs. 2 G G vereinbar ist. Ein und dieselbe Anordnung spaltet sich in einen bußgeldrechtlich flankierten Teil und es verbleibt ein Rest, der kartellzivilrechtlich zwar rechtmäßig wäre, aber für den Fall einer Mißachtung sanktionslos bliebe. 362 Infolge einer gespaltenen Auslegung könnte ein Verhalten des weiteren in einer Kartellbußgeldsache als nicht tatbestandsmäßig angesehen werden, während eben dieses Verhalten außerhalb des Bußgeldverfahrens aufgrund derselben N o r m einen Unterlassungsoder Schadensersatzersatzanspruch stützen könnte. 363 Diese Argumente sprechen jedenfalls im Kartellrecht für eine einheitliche Auslegung. Es dürfte aber auch allgemein regelmäßig zutreffen, daß der Gesetzgeber bei einer Zusammenfassung der Strafnorm mit der außerstrafrechtlichen Regelung in einem Gesetz den Vorschriften dort, wo sie sich terminologisch überschneiden, den gleichen Anwendungsbereich und Aussagegehalt zuschreiben wollte.364 Dieser Gedanke trägt noch mehr bei einer expliziten Binnenverweisung innerhalb eines Gesetzes, bei der die Sanktionsnorm eine Verhaltensnorm nach Paragraph und Absatz in Bezug nimmt. Gerade in diesen Fällen handelt es sich ja um eine gesetzestechnische Erleichterung, da sich der Gesetzgeber auf diese Weise die volle Wiedergabe des Wortlauts der Verhaltensnorm erspart. Der Gesetzgeber verzichtet darauf, den Inhalt der Verhaltensnorm zu repetieren, indem er auf etwas verweist, was er an anderer Stelle bereits ausgeführt hat. Eine Wiederholung dessen erscheint ihm als überflüssig. Dieser Gedanke spricht für eine einheitliche Auslegung der Verhaltensnorm.

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BGH, NJW 1978, 1856; K. Tiedemann in: Immenga/Mestmäcker, WbR, vor § 38 Rn. 27 mwN. Achenbach in: FK, vor §§ 38-39 Rn. 38; Bartsch, Empfehlungsverbote, S. 170. Achenbach in: FK, vor §§ 38-39 Rn. 38. Bartsch, Empfehlungsverbote, S. 170. Mehring, GRUR 1968, 541 ff. Hierfür spricht auch BVerfGE 21, 292, 305f., wo die gesamte Norm für nichtig erklärt und keine „Abspaltung" vorgenommen wurde.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

b. Gründe für eine richtlinienbedingte Normspaltung Allerdings wird sich dieses Ziel im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung nicht in jedem Fall erreichen lassen. Die Relativierung der „so weit wie möglich"-Formel auf dem Gebiet des Strafrechts hat zur Folge, daß sich unterschiedliche Auslegungsergebnisse ergeben können. Im Wege einer einheitlichen Auslegung müßte die enge strafrechtliche Interpretation regelmäßig auf die Auslegung der nichtstrafrechtlichen Norm durchschlagen. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts bestehen hiergegen jedoch Bedenken. Der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung wohnt eine einheitsstiftende Kraft inne.365 Mit einer Richtlinie zielt das Gemeinschaftsrecht auf eine Angleichung der innerstaatlichen Rechtszustände in den Mitgliedstaaten. Die richtlinienkonforme Auslegung bewirkt, daß sich das harmonisierte Recht auch nach der Umsetzung an den Zielen der Richtlinie orientiert und stellt sicher, daß die Vorgaben auch im Rechtsalltag beachtet werden. Auch wenn sich eine deckungsgleiche Rechtsanwendung nie ganz erreichen lassen wird, bietet die richtlinienkonforme Interpretation aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts doch die Gewähr einer weitgehend einheitlichen Rechtspraxis. Diese gemeinschaftsrechtliche Intention gerät jedoch in Gefahr, wenn die gemeinschaftsweit harmonisierte Rechtsmaterie aufgrund einer innerstaatlichen Verknüpfung mit dem Straf- oder Bußgeldrecht nicht mehr „so weit wie möglich" im Sinne der Richtlinie ausgelegt werden könnte. Es ist durchaus denkbar, daß es im Zuge der Umsetzung der Richtlinienvorgaben zu einer nicht gemeinschaftsrechtlich veranlaßten, jedoch durch das Umsetzungsrecht bedingten Verzahnung mit dem Strafrecht kommt. Diese theoretische Erwägung findet sich in der Praxis durch eine Rechtsangleichung im Urheberrecht bestätigt. Durch eine Richtlinie sollte gemeinschaftsweit das Urheberrecht an Computersoftware harmonisiert werden. Als Konsequenz der Rechtsangleichung mittels dieser sogenannten Softwarerichtlinie ergab sich,366 daß über § 69 c Nr. 1 UrhG der Anwendungsbereich des § 106 Abs. 1 UrhG 3 6 7 erweitert wurde, obwohl die Richtlinie auf derart massive Sanktionen nicht zielte.368 Aber selbst in den Fällen, in denen die Richtlinie zumindest auch auf die Schaffung von Strafnormen ausgerichtet ist, bleibt es aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts eher zufällig, ob der Mitgliedstaat die jeweilige Rechtsmaterie mit der Strafnorm verwoben oder getrennt regelt. Diese Unwägbarkeit zeigt sich bei einem Vergleich des Umsetzungsrechts, das infolge der Richtlinien zur Bekämpfung der

365 Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, S. 93. 366 Richtlinie 91/250/EWG vom 14.4.1991, Abi. Nr. L 122, S. 42. 367 Die Einzelheiten dieser Extension der Strafnorm werden im weiteren Verlauf der Untersuchung noch gesondert dargestellt, 5. Hauptteil Ε. II. 368 Franzheim, CR 1993, 101, 103.

C. Grundfragen richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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Geldwäsche und des Insiderhandels ergangen ist. Die Insiderstrafnorm, § 38 W p H G , ist aus sich heraus nicht zu deuten. Es bedarf der Lektüre weiterer Vorschriften, um das Unrecht zu erfassen. Die Geldwäschestrafnorm, § 261 StGB, ist hingegen eine komplette, aus sich heraus lesbare Vorschrift. Der Gesetzgeber hätte jedoch auch in diesem Fall ein in sich geschlossenes Gesetz zur Bekämpfung der Geldwäsche schaffen können, an dessen Ende die Strafnorm mit zahlreichen Verbindungen zu den Vorschriften über das Aufspüren einschlägiger Gelder stünde. Ob der innerstaatliche Gesetzgeber derartige Verbindungen herstellt, sich einer einheitlichen Terminologie bedient oder die Verbindung des Strafrechts zu den sonstigen Regelungen kappt, liegt nicht in der Hand des Gemeinschaftsrechts und ist eine Konsequenz des mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraums. Zur Vermeidung einer Normspaltung wäre es notwendig, auch in einem nichtstrafrechtlichen Kontext die Begriffe einheitlich eng auszulegen. Es ist nicht zu erwarten, daß die allgemein anzustrebende einheitliche und damit im Ergebnis restriktive Auslegung durch den Gerichtshof gebilligt würde. Wenn der Gerichtshof es zuließe, daß die „so weit wie möglich"-Rechtsprechung aufgrund der gesetzestechnischen Verbindung eines Rechtsgebiets zu einer Sanktionsnorm an Bedeutung verliert, würde er in Kauf nehmen, daß die Rechtsentwicklung gemeinschaftsweit auseinanderläuft. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts läßt sich wie für eine innerstaatliche „Einheitslösung" argumentieren, daß eine möglichst einheitliche Auslegung anzustreben ist. Bei isolierter Betrachtung des Gemeinschaftsrechts verfolgt der Gerichtshof ja gerade eine monistische Lösung. Die gleiche Zielvorstellung führt jedoch zu abweichenden Ergebnissen, weil sich hinter dem Streben nach einer einheitlichen Lösung auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts etwas anderes verbirgt. Das Gemeinschaftsrecht steuert zur Sicherung seiner Funktionsfähigkeit in Richtung einer „so weit wie möglich" reichenden, effektiven und vor allem gemeinschaftsweit einheitlichen Orientierung an den Richtlinienvorgaben. Eine Abweichung hiervon läßt es zwar im strafrechtlichen Kontext ausnahmsweise zu, doch das grundsätzliche Ziel der einheitlichen Auslegung würde gefährdet, wenn sich innerstaatliche Rechtsordnungen aufgrund der nur in einem Teil der Anwendungsfalle relevant werdenden Verknüpfung mit dem Strafrecht der „so weit wie möglich" reichenden Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation entziehen würden. D a es denkbar ist, daß sich diese gemeinschaftsrechtliche „Einheitslösung" nicht in jedem Fall mit dem innerstaatlichen Bedürfnis nach einheitlicher Auslegung in Einklang bringen läßt, ist rechtstheoretisch die Möglichkeit einer zwar nicht wünschenswerten, aber hinzunehmenden richtlinienbedingten Normspaltung gegeben. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts läßt sich das wiederholen, was Herschel zur innerstaatlichen Verbindung von Verhaltens- und Sanktionsnorm resümiert hat. Der Umstand, daß das auf besonderen Erwägungen beruhende exzeptionelle

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Analogieverbot dem Rechtsanwender die Waffe des Strafrechts aus der Hand schlage, sei kein sachlicher Grund, auch auf die bürgerlich-rechtlichen Folgen zu verzichten, die sich aus einem Rechtssatz bei analoger Anwendung ergeben.369 Dieser Gedanke findet sich auch in der europarechtlichen Literatur: Szczekalla führt in Zusammenhang mit dem Gesetzlichkeitsprinzip aus, daß dieser Grundsatz nicht der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen zivilrechtlicher Streitigkeiten im Wege steht. 370 Bei aller Vorsicht, die bei der Deutung beiläufiger Bemerkungen geboten ist, dürfte in diesem Sinne eine Anmerkung des Generalanwalts Colomer zum Fall „Telecom Italia" zu verstehen sein. Die restriktive Interpretation im strafrechtlichem Zusammenhang bedeutet danach nicht, daß die Auslegung der Richtlinie in arbeitsrechtlichen Fragen keine Folgen zeitigen könne.371 Letztlich darf dieses Problem aus strafrechtlicher Sicht aber nicht überschätzt werden. Denn die Grenzen der Auslegung im Strafrecht verschieben sich trotz richtlinienkonformer Interpretation nicht. Gleichwohl muß man die europarechtlich auszumachende Tendenz zur Normspaltung zur Kenntnis nehmen, weil daraus die Notwendigkeit folgt, die mitunter sehr weitreichenden Urteile des Gerichtshofs auf ihre Übertragbarkeit in das Strafrecht zu überprüfen.

4. Z w i s c h e n r e s ü m e e Damit stehen wesentliche Eckpunkte fest: Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nimmt das Strafrecht nicht aus. Sie ist als Vorzugsregel zu verstehen, nach der unter zwei oder mehreren Möglichkeiten das richtlinienkonforme Auslegungsergebnis zu wählen ist. Indes kommen dafür von vornherein nur solche Auslegungsergebnisse in Betracht, die sich in den aus Art. 103 Abs. 2 G G ergebenden Grenzen strafrechtlicher Interpretation bewegen. Die Pflicht zu einer „so weit wie möglich" reichenden Ausdeutung hat der Gerichtshof für das Strafrecht relativiert. Er verlangt für eine strafrechtliche „Verwertbarkeit" der Richtlinie hinreichend klare Richtlinieninhalte.

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Herschel, RdA 1964, 44,47 a. E. Szczekalla in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 11 Rn. 41. Schlußanträge des Generalanwalts Colomer in: EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6619 Anm. 15.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht I. Zur Notwendigkeit methodischer Überlegungen War bei der Frage, ob Art. 103 Abs. 2 G G für die richtlinienkonforme Auslegung gilt oder nicht, noch zumindest ein Meinungsspektrum auszumachen, so wurde bisher nur fragmentarisch versucht, die Methodik einer richtlinienkonformen Auslegung des Strafrechts näher aufzuschlüsseln. 372 Das ist aber erforderlich, wenn man dieser Interpretationsmethode im Strafrecht inhaltlich schärfere Konturen verleihen will. Obwohl Art. 103 Abs. 2 G G den Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung bildet, ist es denkbar, daß sich die dem Rechtsanwender vertraute Methodik ändert. Die Ausdeutung beginnt zwar im nationalen Recht, wechselt aber auf die Ebene des Gemeinschaftsrechts. Deshalb muß ein Blick auf die Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht geworfen werden. Das könnte aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht Kritik erfahren, da die sich im Strafrecht stellende Aufgabe nicht in der Auslegung des Gemeinschaftsrechts besteht. Deshalb sei klargestellt: Dieser methodische Ausflug dient nicht einer spezifisch strafrechtlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Die Verbindlichkeit der Interpretation von gemeinschaftsrechtlichen Normen durch den Gerichtshof soll dadurch nicht angezweifelt werden. Die Integration des Richtlinienrechts in die Auslegung und Anwendung des Strafrechts bringt es aber mit sich, die jeweilige Richtlinie zu studieren. Schon dieses Studium der Richtlinie ist aber aus methodischer Sicht aber nichts anderes als eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts.

II. Überblick zur Auslegungsmethodik im Gemeinschaftsrecht Man kann einleitend sogleich eine Kernaussage treffen: Die Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht ähneln denen des nationalen Rechts.373 Auch eine Norm des Gemeinschaftsrechts ist also nach ihrem Wortlaut, der Systematik, dem Sinn und

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Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 107ff., Köhne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 72 ff. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 537 ff.; Lutter, JZ 1992, 593, 598; Oehlert, JuS 1997, 317,818; Oppermann, Europarecht, Rn. 680; Ch. Schmidt, Einfluß europäischer Richtlinien auf das innerstaatliche Privatrecht, S. 49; Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 EGV Rn. 7.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Zweck und ihrer Entstehungsgeschichte zu interpretieren. 374 Allerdings haben sich aus der Eigenart des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsprechung des Gerichtshofs besondere Schwerpunkte und Charakteristika herausgebildet. Diese werden nachfolgend skizziert.

1. Die g r a m m a t i k a l i s c h e Auslegung Die Auslegung einer Rechtsnorm beginnt mit der grammatikalischen Interpretation. 375 Sie setzt bei den einzelnen Wörtern des Rechtssatzes an, deren Bedeutung zu ermitteln ist.376 Bei fortwährender Ambivalenz liefert zumeist die kontextuale Interpretation näheren Aufschluß über den vom Gesetz gemeinten Begriffsinhalt. 377 Für die Auslegung im Gemeinschaftsrecht gilt dem Grunde nach nichts anderes und doch ist die grammatikalische Auslegung im Vergleich mit der des nationalen Rechts ungleich komplexer. a. Wortlaut und Wortsinn Die grammatikalische Auslegung findet eine Ausgangslage vor, die zu großer Vorsicht Anlaß gibt. Der bereits übersetzte Richtlinientext kann zu vorschnellen Assoziationen verleiten. Anhand der verfassungsrechtlichen Bindungen der richtlinienkonformen Auslegung im Fall detaillierter Richtlinienvorgaben wurde bereits auf dieses Problem hingewiesen.378 Deshalb sei es hier nur schlagwortartig wiederholt: Der Richtlinientext liegt dem Rechtsanwender zwar in seiner Heimatsprache vor, doch es können sich Übersetzungsfehler eingeschlichen haben. 379 Die Mehrsprachigkeit führt von vornherein dazu, daß die Grenzen des Wortlauts fließender als im nationalen Recht verlaufen. 380 Weiterhin erfolgt auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts eine autonome Begriffsbildung, 381 die nicht mit der des nationalen Rechts überein-

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Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 348; Müller-GraiT, D R i Z 1996, 305; Schwarze/ Hatje in: Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. I, § 33 Rn. 4; Weigl, ÖJZ 1996, 933, 938. 375 LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 130 mwN. 376 Larenz ICanar is, Methodenlehre, S. 141; LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 131 ff. 377 LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 141 ff. 378 Siehe oben 5. Hauptteil C. IV. 1. cc. 379 Lutter, J Z 1992, 593, 599; Streit in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die EG, S. 246; Wegener in: Callies/RufTert, Art. 220 EGV Rn. 7; Weigl, Ö J Z 1996, 933, 938. 380 Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 404. 381 E u G H , Urteil vom 1.2.1972, Rs. 49/71, Ε 1972, 23, 35; E u G H , Urteil vom 14.1.1982, Rs. 64/81, Ε. 1982, 13; E u G H , Urteil vom 29.4.1982, Rs. 17/81, Ε 1982, 1331, 1348; E u G H , Urteil vom 18.1.1984, Rs. 327/82, Ε 1984, 107, 119.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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stimmen muß. 382 Fraglich ist, wie diese Unsicherheiten methodisch bewältigt werden können. b. Wortlaut und synoptische Textkritik Die grammatikalische Auslegung beginnt mit einer Textkritik im Sinne einer genauen Feststellung des Wortlauts. 383 Gegenstand dieser Kritik sind die verschiedenen sprachlichen Fassungen der Richtlinie. 384 Der Wortlaut wird anhand der weiteren Fassungen überprüft. Der Gerichtshof hat diese Methodik zuletzt im Fall „Codan" ausdrücklich bestätigt. 385 Da diese Kritik auf einem Vergleich verschiedener Fassungen beruht, wird sie hier als synoptische Textkritik bezeichnet. Am Ende einer solchen Synopse können durchaus divergierende Ergebnisse stehen. Im Fall „Codan" ging es beispielsweise um die Besteuerung der Übertragung von Aktien. Während die deutsche und die dänische Fassung der einschlägigen Richtlinie den Begriff der „Börsenumsatzsteuer" gebrauchten, war in den übrigen Fassungen nur von „Steuern auf die Übertragung von Wertpapieren" die Rede.386 Das ist ein gravierender Unterschied, weil Aktien nicht nur an der Börse gehandelt, sondern auch außerbörslich verkauft und übertragen werden. Der Gerichtshof führt im Fall „Stauder" zum Wortlaut einer Entscheidung aus:387 „Ist eine Entscheidung an alle Mitgliedstaaten gerichtet, so verbietet es die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und damit Auslegung, die Vorschrift in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, und gebietet es vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen (...) Sprachen auszulegen."

Der damit geforderte Vergleich der sprachlichen Fassungen ist bis heute und auch speziell für Richtlinien ein fester Bestandteil der Auslegungsmethodik. 388 Insoweit 382

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Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365; Everling, ZGR 1992, 376, 386; LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 217; Wegener in: Callies/RufTert, Art. 220 EGV Rn. 7. Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 349; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung, S. 42f.; Lutter, JZ 1992, 593, 599; Luttermann, EuZW 1999, 401, 403f.; Meyer, Jura 1994, 455, 456; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995) 569, 575; Wegener in: Callies/RufTert, Art. 220 EGV Rn. 7. Beispiel: EuGH, Urteil vom 7.2.1985, Rs. 19/83, Ε 1985, 457 ff.; dazu ausführlich M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 575. EuGH, Urteil vom 17.12.1998, Rs. C-236/97, Ε 1998, 1-8679, 8696ff.; Luttermann, EuZW 1999,401,403 f. Ausführlich: EuGH, Urteil vom 17.12.1998, Rs. C-236/97, Ε 1998,1-8679, 8697. EuGH, Urteil vom 12.11.1969, Rs. 29/69, Ε 1969, 419, 425. EuGH, Urteil vom 27.10.1977; Rs. 30/77, Ε 1977, 2010; EuGH, Urteil vom 27.3.1990, Rs. C-372/88, Ε 1990, 1-1345, 1376; EuGH, Urteil vom 17.12.1998, Rs. C-236/97, Ε 1998, 1-8679, 8697; Meyer, Jura 1994, 455, 456.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

kommt dem Wortlaut also eine im Vergleich mit dem nationalen Recht abgeschwächte Bedeutung zu. Das Zitat aus dem Urteil im Fall „Stauder" deutet zugleich an, wie der Gerichtshof versucht, dieses Problem zu überwinden: Stellt er Unterschiede in den sprachlichen Fassungen fest, gewinnt die allgemeine Systematik und der Zweck der Regelung an Bedeutung.389 Im Vergleich mit dem nationalen Recht kommt daher der systematischen und vor allem der teleologischen Auslegung nicht nur allgemein größeres Gewicht zu,390 sondern systematische und teleologische Aspekte fließen schon in die Bildung des gemeinschaftsrechtlichen Begriffes ein.391 c. Wortsinn Selbst wenn die synoptische Textkritik zu einem einheitlichen Ergebnis führt, darf daraus nicht vorschnell auf den Wortsinn geschlossen werden. Wortlaut und Wortsinn divergieren auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene von vornherein ungleich stärker als im Rechtsraum des Nationalstaats.392 Der Wortsinn steht unter dem Einfluß der autonomen Begriffsbildung im Gemeinschaftsrecht.393 Der Gerichtshof führt hierzu aus: „Wie sich sowohl aus den Erfordernissen einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts wie auch aus dem Gleichheitsgrundsatz ergibt, ist den Begriffen einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Erläuterung ihres Sinnes und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft eine autonome und einheitliche Auslegung zu geben, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und der mit der betreffenden Regelung verfolgten Zielsetzung zu ermitteln ist." 394

Deshalb muß sich der Rechtsanwender vergewissern, ob einem bestimmten Begriff ein spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Inhalt zukommt. 389 390

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EuGH, Urteil vom 17.12.1998, Rs. C-236/97, Ε 1998,1-8679, 8697 a. Ε. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 82f.; LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 217. Oppermann, Europarecht, Rn. 683. Diese Vorgehensweise ist dem Grunde nach nicht nur im Gemeinschaftsrecht, sondern mittlerweile weltweit methodisch abgesichert. Sie findet sich in Art. 33 Nr. 4 des Wiener Ubereinkommens über das Recht der Verträge (siehe die Bekanntmachung vom 26.11.1987, BGBl. II S. 757). Beispiel nach Lutter, JZ 1992, 593, 599: Die unterschiedliche Bedeutung der Begriffe „Wohnsitz" im deutschen und „domicil" im englischen Recht. Während in Deutschland hierunter eine bestimmte politische Gemeinde, ζ. B. Berlin, verstanden wird, meint man im Vereinigten Königreich hiermit eine Region, also etwa Wales. Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung, S. 43; Lutter, JZ 1992, 593, 599; Schwarze!Hatje in: Rengeling (Hrsg.) EUDUR, Bd. I, § 33 Rn. 5; Weigl, ÖJZ 1996, 933, 939. EuGH, Urteil vom 18.1.1984, Rs. 327/82, Ε 1984, 107, 119.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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2. Die systematische Auslegung Die systematische Auslegung entnimmt das Verständnis der N o r m aus ihrer Stellung im Gesetz, dem Regelungszusammenhang und allgemeinen Prinzipien, die das jeweilige Rechtsgebiet betreffen. 395 In methodischer Hinsicht besteht eine Verwandtschaft mit der kontextualen Auslegung. 396 Für den Gerichtshof ist „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts ... auszulegen". 397 Als Teil des Gemeinschaftsrechts fließen auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze in die Auslegung mit ein. 398 Insoweit ergeben sich im Grundsatz hinsichtlich der allgemeinen Funktion dieser Interpretationsmethode keine Unterschiede zum nationalen Recht. 399 Teil dieser systematischen Auslegung kann im Einzelfall aber nicht nur das Gemeinschaftsrecht, sondern auch das Recht der Mitgliedstaaten zu einer bestimmten Frage sein und so im Wege der Rechtsvergleichung zum Instrument der systematischen Auslegung werden. 400

3. Die teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung will allgemein die leitenden Zweck- und Wertgedanken des Gesetzes herausarbeiten. 401 Die Literatur mißt dieser Methode im Gemeinschaftsrecht einen besonderen Stellenwert bei. 402 Der Gerichtshof stellt immer

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Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 642. LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 149. EuGH, Urteil 6.10.1982, Rs. 283/81, Ε 1982, 3415, 3430. Beispiele für die systematische Auslegung: EuGH, Urteil vom 17.12.1970, Rs. 30/70, Ε 1970, 1197, 1207; EuGH, Urteil vom 7.2.1979, Rs. 11/76, Ε 1979,245,278; ausführlich Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 177 ff. mwN. Fischer, Europarecht, S. 105f.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung, S. 45; Oppermann, Europarecht, Rn. 684 iVm Rn. 482; Schilling, EuGRZ 2000, 3,31; Weigl, ÖJZ 1996, 933, 940ff. Meyer, Jura 1994, 455, 456; Schwarze!Hatje in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. I, § 33 Rn. 8. Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 809. Beispiel: Der Fall „Abels", EuGH, Urteil vom 7.2.1985, Rs. 135/83, Ε 1985, 469ff., in dem nach einem Vergleich der sprachlichen Fassungen einer Richtlinie fraglich war, ob deren Anwendungsbereich den Unternehmenserwerb während eines Konkursverfahrens erfaßt, siehe dazu M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 577 f. Jescheckl Weigend, AT, § 17 IV. Anm. 1. b.; LarenzICanaris, Methodenlehre, S. 153 ff.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 633 fT. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 547 ff.; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 82f.; Everling, ZGR 1992, 376, 386; Hatje, Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 69f.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung, S. 44;

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

wieder auf das Ziel und den Zweck einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ab.403 Urteile mit weitreichender Bedeutung argumentieren mit teleologischen Gesichtspunkten.404 Wenn etwa auf die Verwirklichung im Vertrag genannter Ziele und die Funktionsfahigkeit des Gemeinschaftsrechts bei der Begründung des Vorrangs abgestellt wird,405 dann sind das teleologische Argumentationsmuster. Elemente der teleologischen Auslegung sind dabei auch die Lehren vom „effet utile" und den „implied powers".406 Das ist nicht ganz unproblematisch, weil sich die teleologische Interpretation oftmals gleichsam die Fesseln der Wortlautauslegung abstreift.407

4. Die historische Auslegung Elemente der historischen Auslegung im weiteren Sinne sind die Entstehungsgeschichte der Norm einschließlich ihrer Gesetzesmaterialien408 und die rechtsgeschichtliche oder gesetzgebungsgeschichtliche Analyse.409 Im primären Gemein-

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Huber, Recht der europäischen Integration, S. 130; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 810; LooschelderslRoth, Juristische Methodik, S. 217; Lutter, JZ 1992, 593, 602f.; Meyer, Jura 1994, 455, 456; Oppermann, Europarecht, Rn. 685f.; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 579; Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 E G V Rn. 10. E u G H , Urteil vom 18.1.1984, Rs. 327/82, Ε 1984, 107 erster Leitsatz, ausführlich Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 202 ff. mit zahlreichen Beispielen aus der Rechtsprechung. Oppermann, Europarecht, Rn. 685. Beispiel: E u G H , Urteil vom 19.1.1982, Rs. 8/81, Ε 1982, 53, 71, mit dem Argument von der „praktischen Wirksamkeit" als Argumentationsfigur zur Begründung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. E u G H , Urteil vom 15.7.1964, Rs. 6/64, Ε 1964, 1251, 1270; Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 10/36, 10/40 ff. Oppermann, Europarecht, Rn. 686; Schwarze! Hatje in: Rengeling (Hrsg.) E U D U R , Bd. I, § 33 Rn. 9. Teilweise wird die teleologische Auslegung weiter untergliedert und es werden einzelne Gesichtspunkte wie der des „efTet utile" gesondert behandelt, vgl. Meyer, Jura 1994, 456 f. mwN. Diese weitere Aufgliederung wird hier nicht mehr vollzogen. D a s Bundesverfassungsgericht hat sich im Maastricht-Urteil j a gerade mit dieser integrationsfreundlichen Rechtsprechung kritisch auseinandergesetzt, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aushöhlen kann, vgl. BVerfGE 89, 155, 210. Auch genetische Auslegung genannt, Müller, Juristische Methodik, S. 204f.; Looschelders/ Roth, Juristische Methodik, S. 157fT.; weiter differenzierend Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 632 f. In der Methodenlehre wird der Begriff der historischen Auslegung im letzteren, engeren Sinn gebraucht, Müller, Juristische Methodik, S. 205; Looscheldersl Roth, S. 155 ff.

D. D i e M e t h o d i k richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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schaftsrecht hat die historische Methode praktisch keine Bedeutung. 410 Gegenstand der Ausdeutung ist der objektive Sinngehalt der Norm. 411 Im Sekundärrecht wird hingegen auch die historische Interpretation relevant.412 Aus der Sicht der Methodenlehre handelt es sich dabei um eine genetische Auslegung des Sekundärrechts. So können aus den im Verlauf des Normsetzungsverfahrens verlautbarten Äußerungen der am Verfahren beteiligten Organe für die zu klärende Auslegungsfrage Gesichtspunkte gewonnen werden. 413 Indes kommt der historischen Ausdeutung des Sekundärrechts aber eine im Vergleich mit dem nationalen Recht deutlich abgeschwächte Bedeutung zu. 414 Der Verhandlungs- und Kompromißcharakter des europäischen Rechtssetzungsprozesses läßt es kaum zu, auf einzelne Stellungnahmen oder Protokollerklärungen abzustellen, um so im Wege der historischen Auslegung einen einheitlichen historischen Willen ermitteln zu wollen. 415

III. Wiederkehrende Gesichtspunkte der richtlinienkonformen Auslegung Uber diese allgemeinen Auslegungsregeln hinaus können noch einige wiederkehrende und wichtige Gesichtspunkte für die Analyse des Richtlinienrechts benannt werden.

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Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 538,556; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 81; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 809; Meyer, Jura 1994, 455; Oppermann, Europarecht, Rn. 687; vgl. aber auch Huber, Recht der europäischen Integration, S. 131. Meyer, Jura 1994, 455. Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 809; Streil in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ Streil, Die EG, S. 247; Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 8. Siehe Lutter, JZ 1992, 593, 600f., also ζ. B. Protokollerklärungen des Rates, der Kommission, der Mitgliedstaaten und die Mitwirkungsakte des Europäischen Parlaments. Vgl. dazu auch oben 2. Hauptteil D. III. die Entstehungsgeschichte der Geldwäscherichtlinie. Besonders deutlich in: E u G H , Urteil vom 15.4.1986, Rs. 237/84, Ε 1986, 1247, 1256 (zur Protokollerklärung eines Mitgliedstaates); E u G H , Urteil vom 14.1.1987, Rs. 278/84, 1, 42 (Verhandlungen eines Mitgliedstaats mit einem der Gemeinschaftsorgane). Diese Rechtsprechung ist durchaus überzeugend, denn die in einzelnen Verhandlungen oder Erklärungen deutlich werdende Motivlage eines Mitgliedstaats kann schwerlich die Auslegung einer in allen Mitgliedstaaten einheitlich geltenden N o r m bestimmen. Siehe ferner E u G H , Urteil vom 23.2.1988, Rs. 429/85, Ε 1988, 843, 851 f. (dem Wortlaut einer Vorschrift widersprechende Protokollerklärung des Rates). Ein Beispiel für eine - zumindest auch - historische Auslegung bildet dagegen E u G H , Urteil vom 12.7.1979, Rs. 260/78, Ε 1979, 2693, 2699ff. Wegener in: Callies/Ruffert, Art. 220 EGV Rn. 8.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

1. R e c h t s g r u n d l a g e Beachtung verdient die Rechtsgrundlage der Richtlinie. Regelmäßig wird sie im Einleitungssatz des Richtlinientextes den Erwägungsgründen vorangestellt. Die Rechtsgrundlage kann einen ersten Hinweis auf die Zielrichtung des Harmonisierungsvorhabens geben. Die Aussagekraft dieser Angabe für die richtlinienkonforme Auslegung unterliegt jedoch starken Schwankungen. So wurde die Geldwäscherichtlinie auf ex-Art. 57 Abs. 2 Satz 1 und 3 iVm ex-Art. 100 a EGV gestützt, 416 was nicht ohne weiteres einleuchtet und für die richtlinienkonforme Auslegung auch keinen Hinweis gibt. Ungleich klarer verhält es sich ζ. B. bei der im weiteren Verlauf der Untersuchung bei der Betrachtung des Bilanzstrafrechts noch zu vertiefenden „Jahresabschlußrichtlinie",417 die auf ex-Art. 54 Abs. 3 lit. g EGV gestützt wurde und damit einen deutlichen Hinweis auf die Zielrichtung liefert. Aus strafrechtlicher Sicht ist vor allem auf die Rechtsangleichung gemäß Art. 94ff, ex-Art. lOOff. EGV hinzuweisen. Das Ziel der Binnenmarktregelungen besteht regelmäßig im Abbau unterschiedlicher Regelungen. Da die Normen des nationalen Rechts oftmals bußgeld- oder strafrechtlich flankiert werden, ist dieser Bereich konfliktträchtig, wenn der nationale Gesetzgeber die Richtlinienvorgaben nicht oder nur unzureichend umsetzt. 2. A u f b a u d e r Richtlinie Der Aufbau der Richtlinie unterteilt sich grob in die einleitenden Erwägungsgründe, denen die Einzelartikel folgen. Die sachlich-rechtlichen Regelungen, insbesondere Definitionen, sind regelmäßig in den einzelnen Artikeln aufgeführt. Zumeist am Ende der Artikelfolge gibt die Richtlinie Auskunft über ihre Adressaten und die Umsetzungsfrist. Aus strafrechtlicher Sicht findet sich hier die wichtige Bemerkung, welche Erwartung das Gemeinschaftsrecht an das nationale Recht hinsichtlich etwaiger Sanktionen hegt. Von diesem Grundschema wird teilweise abgewichen, um die Übersichtlichkeit des Textes zu wahren. So werden vor allem in Umweltrichtlinien und in Arbeitsschutzrichtlinien konkretisierende Einzelangaben in Anhängen aufgelistet, 418 deren Umfang den der Einzelartikel übersteigen kann.

416 417 418

Richtlinie 91/308/EWG vom 10.6.1991, Abi. Nr. L 166, S. 77. Richtlinie 78/660/EWG vom 25.7.1978, Abi. Nr. L 222, S. 11. Details wie bestimmte Gefahrstoffe, Grenzwerte oder Meßwertverfahrensvorschriften zur Grenzwertbestimmung.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

405

3. Die Erwägungsgründe Von besonderer Bedeutung sind die Erwägungsgründe, da ihnen die Beweggründe und die Ziele der jeweiligen Richtlinie zu entnehmen sind.419 Sie werden teilweise auch als Präambel bezeichnet. 420 Die dort getroffenen Aussagen kommen der von Art. 253, ex-Art. 190 EGV auferlegten Begründungspflicht nach. 421 Sie fließen in die besonders wichtige teleologische Auslegung ein. Die Erwägungsgründe geben jedoch nicht nur die Zielrichtung der Richtlinie vor, sondern sie können sich darüber hinaus konkret zu den im Zeitpunkt ihres Erlasses absehbaren Auslegungsproblemen äußern. Im Zuge der noch folgenden Betrachtung des Insiderrechts wird sich zeigen, daß die Richtlinie zur Bekämpfung des Insiderhandels sehr konkrete Hinweise für die Lösung von Einzelproblemen bereit hält.

4. Höchst- und Mindeststandards Die aus den aus den Erwägungsgründen und Einzelartikeln herauszulesende Zielrichtung der Richtlinie ist wichtig für die Frage nach den sogenannten Höchst- und Mindeststandards. Richtlinien können eine unterschiedliche Zielrichtung aufweisen.422 Eine Richtlinie kann allein das Ziel verfolgen, auf dem jeweils betroffenen Rechtsgebiet gemeinschaftsweit einen bestimmten Mindeststandard herbeizuführen. Dem Mitgliedstaat steht es dann grundsätzlich frei, ob er schärfere Bestimmungen einführt. Denkbar ist jedoch auch, daß die Richtlinie zugleich einen Höchststandard formulieren will. Deutlich wird dieser Aspekt bei allen Richtlinien, die das Recht der Mitgliedstaaten mit dem Ziel der gemeinschaftsweiten Marktfähigkeit von Waren harmonisieren. 423 Die Beibehaltung oder spätere Schaffung strengerer Vorschriften durch einen Mitgliedstaat liefe dem Richtlinienziel zuwider, weil die betreffende

4,9

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422 423

Lutter, JZ 1992, 593,600; Wöhlermann, Die richtlinienkonforme Auslegung im Arbeitsrecht, S. 132. Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365. Innerstaatlich wird der oft gezogene Rückschluß von der „amtlichen Begründung" eines Gesetzesvorhabens, die aus der Feder der Exekutive stammt, auf den Willen des Gesetzgebers, also das Parlament, regelmäßig zutreffen. Doch um so mehr verdient die in Art. 253, ex-Art. 190 EGV vorgesehene Begründung Aufmerksamkeit, da ihr die Motive der Rechtssetzung unmittelbar zu entnehmen sind. Vgl. Bleckmann, ZGR 1992, 364, 372 f. Vgl. Lutter, JZ 1992, 593, 606.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Ware trotz Einhaltung der Richtlinienstandards ihre gemeinschaftsweite Verkehrsfähigkeit verlieren würde.424 In diesem Zusammenhang sind auch die bereits erwähnten Notifizierungsverfahren zu sehen.425 Man kann zu diesem Problem aber kaum allgemeingültige Aussagen treffen. 426 Die Frage, ob eine umfassende Harmonisierung stattgefunden hat, ist auch bei scheinbar umfassend normierten Gebieten nur sehr schwer zu beantworten. Sie ist aber wichtig, weil ein Fall der begünstigenden unmittelbaren Wirkung gegeben sein kann, wenn Höchststandards abschließend normiert werden und mit strengerem nationalen Recht kollidieren. a. Beispiel: BayObLGSt 1992, 105 ff. In dieser Entscheidung konnte die Frage nach der abschließenden Harmonisierung noch eindeutig beantwortet werden. Es ging es um den Tatvorwurf, entgegen dem deutschen Recht ein Tafelwasser unter Angabe einer bestimmten geographischen Herkunft in den Verkehr gebracht zu haben. Der Grund für diese Regelung liegt in einer Verwechselungsgefahr mit natürlichem Mineralwasser. 427 Das für die Beurteilung des Falles einschlägige deutsche Recht geht auf die Mineralwasserrichtlinie zurück, die den Gerichtshof im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" beschäftigte. 428 Diese Richtlinie dient zwar der Erleichterung des freien Warenverkehrs,429 doch Art. 10 der Richtlinie beläßt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, den Täuschungsschutz zu regeln. In diesem Fall folgte die Lösung mithin schon aus dem Studium der Einzelartikel. 430 Leider enthalten Richtlinien aber nicht immer derart konkrete Aussagen.

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Wenn sich das schärfere nationale Recht nicht richtlinienkonform auslegen läßt, ist zu prüfen, ob die strengere nationale Vorschrift gegen Artt. 28, 30, ex-Artt. 30, 36 EGV verstößt. Denkbar wäre zudem, daß einzelne Richtlinieninhalte die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen. In diesen Fällen entfaltet unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht den beschriebenen Anwendungsvorrang und verdrängt das strengere nationale Recht. Allerdings ist stets zu beachten, daß in Einzelfallen für Inländer strengere Vorschriften anwendbar bleiben können, siehe Luiter, Everling-FS, S. 765, 775 f. Siehe oben 4. Hauptteil C. VI. 3. Ausführlich Merkt, RabelsZ 61 (1997), 647ff. mwN. Wegen der hier nicht interessierenden Einzelheiten sei auf BayObLGSt 1992, 105, 106 f. verwiesen. EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969 fT. Vgl. den zweiten Absatz der Erwägungsgründe der Richtlinie 80/777/EWG, Abi. Nr. L 229, S. 1. BayObLGSt 1992, 105, 107.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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b. Beispiel: BayObLGSt 1996, 117 ff. Der Betroffene hatte einen Zusatzstoff für ein auf Hopfen aufzusprühendes Pflanzenschutzmittel entgegen dem deutschen Recht vertrieben. Dieser Zusatzstoff bewirkte, daß sich die aufgesprühte Lösung auf der Pflanze „vernetzt", wodurch eine bessere Verteilung und Wirkung des Pflanzenschutzmittels erreicht wird. Diese Stoffe sind aber nur Hilfsstoffe und keine eigentlichen Pflanzenschutzmittel. Das deutsche Recht (§ 2 Nr. 9 lit. f. PflSchG) definierte als Pflanzenschutzmittel aber auch Stoffe, die dazu bestimmt sind, dem eigentlichen Schutzmittel zugesetzt zu werden, um deren Eigenschaften oder Wirkungen zu verändern. Tatbestandsmäßig wurde der Hilfsstoff also erst durch seine Verwendung in Verbindung mit einem Pflanzenschutzmittel. Das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln war wiederum durch eine Richtlinie geregelt worden,431 die sich den Zusatzstoffen jedoch nicht widmete.432 Das Amtsgericht erblickte in der Richtlinie offenbar eine umfassende Harmonisierung und sprach den Betroffenen frei. Das BayOLG hob das Urteil auf die Sachrüge der Staatsanwaltschaft auf und erkannte, daß es sich hierbei um einen nichtharmonisieten Bereich handele, der Sache der Mitgliedstaaten geblieben sei. Das Gericht stützt sich dabei einmal auf die Auslegung von Einzelvorschriften der Richtlinie und eine im Amtsblatt der EG veröffentliche Stellungnahme der Kommission, aus der hervorging, daß zum Urteilszeitpunkt eine Harmonisierung der Zusatzstoffe noch bevorstand. 433 c. Konsequenzen Man kann die Frage nach den Mindest- und Höchststandards letztlich immer nur aus dem von der Harmonisierung betroffenen Rechtsgebiet heraus beantworten. 5. Gleichstellungserfordernis Unter dem Gesichtspunkt der in Art. 10, ex-Art. 5 EGV verankerten Gemeinschaftstreue verdient das in Art. 280, ex-Art. 209 a EGV hinsichtlich der Finanzinteressen betonte Gleichstellungserfordernis auch im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung grundsätzlich Beachtung. Danach muß der Mitgliedstaat prüfen, ob ein 431 432 433

Richtlinie 91/414/EWG vom 15.7.1991, Abi. Nr. L 230, S. 1. BayObLGSt 1996, 117, 119. Siehe im einzelnen BayObLGSt 1996, 117, 119 mwN. In dieser Entscheidung prüft das BayObLG im übrigen in vorbildlicher Weise auch einen etwaigen Verstoß gegen ex-Art. 30 EGV und kommt zur Rechtfertigung über ex-Art. 36 EGV, wobei es nicht vergißt, die Notwendigkeit der Vorlage nach ex-Art. 177 EGV zu erwägen, was es wegen offenkundiger Richtigkeit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts verneint.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

gemeinschaftsrechtlich geregeltes Rechtsgebiet des strafrechtlichen Schutzes bedarf. Bei der im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zu vertiefenden Einwirkung der Jahresabschlußrichtlinie auf das Bilanzstrafrecht und der Softwarerichtlinie auf das Urheberstrafrecht wird hierauf zurückzukommen sein.

IV. Die mehrphasige Auslegung Da die richtlinienkonforme Auslegung im nationalen Recht beginnt und Richtlinien in die Interpretation einbezieht, muß der Rechtsanwender inzident gleichsam zwei Rechtsebenen prüfen. Vom Grundverhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht her betrachtet, springt die Prüfung zwischen den Rechtsordnungen. Dieser Wechsel gestaltet die richtlinienkonforme Auslegung kompliziert, weil er methodisch bedingt, nicht nur die eigentliche Richtlinie zu prüfen. Das folgt schon aus dem Umstand, daß die systematische Auslegung auch im Gemeinschaftsrecht gilt. Die richtlinienkonforme Interpretation ist potentiell immer eine Prüfung, die neben der Richtlinie auch dem übrigen Gemeinschaftsrecht gilt. Mit anderen Worten: Indem der Rechtsanwender die Richtlinie zur Hand nimmt, öffnet er eine Schleuse, die sehr viel mehr als diese Richtlinie einströmen läßt. Auch im nationalen Recht haftet die Auslegung einer Norm nicht nur an deren Buchstabenfolge, sondern versucht, aus der Systematik des Gesetzes, seinem Sinn und Zweck oder der Verfassung weitere Anhaltspunkte zu gewinnen. Unabhängig von dieser methodisch bedingten Notwendigkeit einer Prüfung des gesamten Gemeinschaftsrechts, ist dessen Beachtung aus einem weiteren Grund erforderlich: Sobald das Richtlinienrecht in der Fallprüfung überhaupt eine Rolle spielt, ist ein Gemeinschaftsrechtsbezug gegeben. Allein dieser Bezug macht es erforderlich, auf eine etwaige unmittelbare Wirksamkeit des Primärrechts zu achten. Die richtlinienkonforme Auslegung sollte daher als eine mehrphasige Prüfung begriffen werden. Der Begriff „Phase" bringt zum Ausdruck, daß es mit der isolierten Analyse des Richtlinientextes nicht sein Bewenden haben kann. Wer sich für eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts in diesem Sinne öffnet, dem erwächst daraus eine Chance. Gerade der Strafrechtler kann mit diesem Ansatz Fälle besser einordnen, die ihm bis dahin als befremdliche und nur schwer nachvollziehbare Kasuistik erschienen. Mutige Worte wie die von Hassemer, wonach niemand so genau weiß, welche europäischen Regelungen das nationale Recht überlagern oder ersetzen, 434 sind 434

Hassemer, KritV 1999, 133.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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selten, denn sie könnten als Schwäche interpretiert werden. In Wahrheit spricht Hassemer nur offen aus, was gewiß nicht nur er so wahrnimmt. Auch im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung kommt es zu derart irritierenden Fallkonstellationen. Die strafrechtliche Literatur thematisiert diese Verunsicherung nicht. Indes wäre es auch ein nicht endendes Unterfangen, alle denkbaren Fallkonstellationen abarbeiten zu wollen, aber das darf kein Grund sein, die Problematik nicht anzusprechen. Aus strafrechtlicher Sicht befremdet den Rechtsanwender im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung vor allem ein oftmals überraschender Einfluß des Primärrechts. Was sich genau hinter dieser Aussage konkret verbirgt, kann gedanklich nur schrittweise entwickelt werden.

1. Geschriebenes und ungeschriebenes Primärrecht Der erste Gedankenschritt enthält einige schon angesprochene Aspekte und ist für die Auslegung der Richtlinie von Belang: Richtlinien stehen im Zusammenhang des geschriebenen Gemeinschaftsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze. Das Sekundärrecht und damit die Richtlinie sind vertragskonform und im Sinne der allgemeinen Rechtsgrundsätze auszulegen. 435 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts überlagern die Auslegung der Richtlinie wie unsere Verfassung die Interpretation des nationalen Recht umspannt. Es wurde bereits dargelegt, daß der Gerichtshof im Zuge einer Auslegung unter strafrechtlichen Gesichtspunkten den Bestimmtheitsgrundsatz als allgemeinen Rechtsgrundsatz auf die Richtlinienbestimmung selbst anwendet. 436 Folglich ist ein zu Lasten des Täters gehendes Auslegungsergebnis nur auf der Grundlage einer hinreichend bestimmten Vorschrift der Richtlinie möglich. In einer zwar nicht dogmatisch verwandten, aber doch terminologisch treffenden Anlehnung an eine strafprozessuale Vokabel, kann hier von einer Verwertbarkeit der Richtlinie gesprochen werden. Was in der Richtlinie nicht konkret geäußert wird, darf selbst im Zuge einer vermeintlich gemeinschaftsrechtsfreundlichen Interpretation nicht in die Auslegung der innerstaatlichen Strafnorm einfließen. So wird der Gefahr entgegen-

435 436

Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 554. Siehe EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, 1-6609, 6638. Hier ist nochmals die beeindruckende Vorgehensweise des Gerichtshofs hervorzuheben. Weil dem Gerichtshof die fragliche Richtlinienbestimmung nicht hinreichend bestimmt erschien, um in einem Strafverfahren herangezogen zu werden, verweigerte er dem vorlegenden Gericht kurzerhand die Antwort auf die gestellte Auslegungsfrage, siehe EuGH, ebenda, 1-6609, 6638. Das überzeugt. Wenn es auf das Auslegungsergebnis nicht ankommen kann und darf, muß auch nicht ausgelegt werden.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

gewirkt, daß eine auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts eher diffuse als klare Normdeutung auf die Auslegung der innerstaatlichen Strafnorm durchschlägt. 437 In diesem Sinne strahlt das Primärrecht auf die Auslegung von Richtlinie und Strafnorm aus, denn eine unbestimmte Richtlinienvorschrift kann die Vorzugsregel nicht auslösen.

2. Eigenständige B e d e u t u n g des P r i m ä r r e c h t s f ü r die Auslegung Ginge es nur um den soeben geschilderten Einfluß des Primärrechts auf die richtlinienkonforme Auslegung, wäre das noch kein Anlaß, nach einer besonderen Terminologie zu suchen und den Interpretationsvorgang als mehrphasig zu charakterisieren. Wir könnten hier sogar enden und meinen, die wesentlichen Aspekte der richtlinienkonformen Auslegung angesprochen zu haben. In einem engeren Sinne ist auch richtig, denn wir haben die Grundfragen einschließlich der Methodik der Interpretation des Richtlinienrechts untersucht. Der gesamte Auslegungsvorgang, also die Ausdeutung des nationalen Rechts und die der Richtlinie muß immer wieder den primärrechtlichen Hintergrund reflektieren, weil anderenfalls nicht in jedem Fall die Gemeinschaftskonformität des Auslegungsergebnisses gewahrt wird. Der Sinn dieser Prüfung läßt sich anhand von Beispielen verdeutlichen, die jeweils eine Fallgruppe umschreiben, in der es mit der isolierten Prüfung des nationalen Rechts und der Richtlinie nicht sein Bewenden haben kann. a. Primärrechtliche Begrenzungen trotz grundsätzlicher Zulässigkeit strengerer Regelungen Die Notwendigkeit dieser mehrphasigen Prüfung zeigt sich, wenn ein Artikel der Richtlinie ausdrücklich strengere Vorschriften zuläßt, jedoch der höhere nationale Standard seinerseits eine Begrenzung im Primärrecht findet. Die Tücke dieser Fallkonstellation liegt darin, daß sich der Leser der Richtlinie in der trügerischen Sicherheit wähnt, die strengere und strafrechtlich relevante Regelung des nationalen Rechts sei gemeinschaftsrechtlich zulässig.

437

Diesen Gesichtspunkt gilt es zu hervorzuheben. Denn der nationale Gesetzgeber kann ζ. B. im Zuge der Umsetzung der Richtlinie sehenden Auges auf eine unbestimmte, allgemein gehaltene Aussage nicht zurückgekommen sein. Er kann sich aus unterschiedlichen Motiven, ζ. B. weil das Umsetzungsrecht innerstaatlich ein strafrechtliches Blankett ausfüllt, ganz bewußt nur an den engen Vorgaben „so weit wie nötig" orientiert haben. Eine extensive Auslegung unterliefe diese gesetzgeberische Entscheidung.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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Um diese auf den ersten Blick unübersichtliche Rechtslage zu entwirren, ist zunächst in Erinnerung zu rufen, daß primärrechtliche Vorschriften selbst unmittelbar zur Anwendung kommen können und sodann auf dem dogmatischen Fundament des Anwendungsvorrangs das nationale Recht verdrängen. Aus strafrechtlicher Sicht ist hinsichtlich der Grundkonstellation der Wirkung des Primärrechts insbesondere auf die Fälle „Donckerwolcke" 438 und „Prantl" 439 hinzuweisen, die eine unmittelbare Anwendung des Primärrechts im Strafrecht veranschaulichen. Ungleich komplizierter wird es, wenn die nach der isolierten Auslegung einer Richtlinie denkbare strengere Lösung durch eine unmittelbar anwendbare Vorschrift des Primärrechts zu korrigieren ist. Ein zweistufiges Auslegungsverfahren, das sich nur auf die Analyse der nationalen Vorschrift und der Richtlinie beschränkt, führt in diesen Fällen nicht zum richtigen Ergebnis. Hinter dieser Aussage verbirgt sich ein in seinen Einzelfragen oftmals hochkompliziertes Gebilde der Verzahnung des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht. Die nachfolgenden Beispielsfälle dienen der Offenlegung der Grundstrukturen dieser Verzahnung und lassen zudem strafrechtsspezifische Ausprägungen zutage treten. aa. Der Fall „Skanavi" Der bereits bei der Betrachtung der begünstigenden unmittelbaren Wirkung angesprochene Fall „Skanavi" 440 zeigt besonders eindrucksvoll die unabdingbare Notwendigkeit, die richtlinienkonforme Auslegung nicht nur isoliert als Wechselwirkung einer Richtlinie mit der Strafnorm aufzufassen. Der Auslegungsvorgang kann fehlgehen, wenn er sich vom sonstigen Gemeinschaftsrecht abkapselt. Zum Sachverhalt sei folgendes berichtet: Die „Täter", griechische Staatsangehörige, hatten im Oktober 1992 von der Treuhandanstalt ein Unternehmen mit Sitz in Güstrow erworben, das den Transport von Gegenständen mit sich brachte. Dieser Tätigkeit gingen sie fortan nach. Ende Oktober 1993 geriet Frau Skanavi in Berlin in eine Polizeikontrolle, in deren Verlauf ihre Fahrerlaubnis kontrolliert wurde. Dabei wurde festgestellt, daß Frau Skanavi lediglich im Besitz ihrer in Griechenland ausgestellten Fahrerlaubnis war. Aufgrund dieses Sachverhalts wurde von der Staatsanwaltschaft gegen sie wegen eines Vergehens des „Fahrens ohne Fahrerlaubnis" gemäß § 21 StVG die Verhängung einer Geldstrafe beantragt. 441 438 439

440 441

EuGH, Urteil vom 15.12.1976, Rs. 41/76, Ε 1976, 1921 ff. EuGH, Urteil vom 13.3.1984, Rs. 16/83, Ε 1984, 1299ff„ siehe näher oben 2. Hauptteil E. zum „ius non puniendi". EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs. C-193/94, Ε 1996 I-929fT. Herrn Chryssanthakopoulos wurde vorgeworfen, das Führen des Firmenfahrzeugs als Geschäftsführer des Unternehmens in Kenntnis des Umstands zugelassen zu haben, daß die Fahrerin keine deutsche Fahrerlaubnis besaß.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Das in seinen Einzelheiten hier nicht wiederzugebende deutsche Verordnungsrecht sah vor,442 daß jeder Gemeinschaftsangehörige oder Inländer, der seinen Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat, für den Fall des ständigen Aufenthalts in Deutschland, worunter ein zusammenhängender Zeitraum von mindestens 185 Tagen zu verstehen ist, diesen Führerschein in einen deutschen Führerschein umschreiben lassen mußte. 443 Diese innerstaatliche Rechtslage steht im Zusammenhang mit zwei EG-Richtlinien: Die Führerscheine waren Gegenstand eines ersten Harmonisierungsschritts,444 der auf die Einführung des sogenannten EG-Führerscheins zielte. Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie Nr. 80/1263 blieb der Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat nach dem Wohnsitzwechsel für längstens ein Jahr gültig. Innerhalb dieser Frist konnte der Inhaber des Führerscheins einen „EG-Führerschein" beantragen, dessen Erteilung die innerstaatlichen Behörden nur unter bestimmten Voraussetzungen, die hier keiner Vertiefung bedürfen, verweigern konnten. In einem zweiten Harmonisierungsschritt 445 wurden die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Fahrerlaubnis angeglichen. Nach dieser Richtlinie besteht zwar weiterhin die Möglichkeit zum Umtausch, doch der Inhaber des Führerscheins ist dazu innerhalb einer bestimmten Frist nicht mehr gezwungen. Vor diesem Hintergrund ist nunmehr der Bogen zur richtlinienkonformen Auslegung und der Unabdingbarkeit der Beachtung des Primärrechts zu schlagen. Generalanwalt Leger und der Gerichtshof beschäftigen sich zunächst mit der Frage, ob eine Verpflichtung im Sinne des deutschen Rechts zur Umschreibung des Führerscheins mit den einschlägigen Vorschriften der Richtlinie 80/1263/EWG über den sogenannten „EG-Führerschein" vereinbar ist. Das wird im Ergebnis bejaht, 446 damit Kontrollen wie die hinsichtlich der Echtheit der entsprechenden Papiere bis zur endgültigen Harmonisierung der Rechtsmaterie durchgeführt werden konnten.

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Zur Ausgangslage nach nationalem Recht siehe die Schlußanträge des Generalanwalts Leger, EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs. C-193/94, Ε 1996 1-929, 932ff.; ferner Fischer, Europarecht, S. 286 f. Die Staatsanwaltschaft setzte mithin das Fahren mit einer „nicht umgeschriebenen" Fahrerlaubnis einem Fahren ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 StVG gleich. Diese Frage war umstritten. Das LG Memmingen, DAR 1994, 412 hat in einem vergleichbaren Fall mit dem Argument rechtskräftig freigesprochen, daß diese Gleichsetzung gegen Art. 103 Abs. 2 G G verstoße, da es einer diesbezüglich ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers bedurft hätte. Dieser Streit kann hier dahinstehen. Richtlinie 80/1263/EWG vom 4.12.1980, Abi. Nr. L 375 S. 1 ff. Richtlinie 91/439/EWG vom 29.7.1991, Abi. Nr. L 237 S. 1 ff. Art. 13 dieser Richtlinie hob die Richtlinie 80/1263/EWG mit Wirkung vom 1.7.1996 auf. Siehe EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs. C-193/94, Ε 1996 1-929, 946f.; sowie Schlußanträge des Generalanwalts Leger, ebenda, 1-932, 938 ff.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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Dieses Zwischenergebnis ist hervorzuheben. Gerichtshof und Generalanwalt stellen übereinstimmend fest: Die im deutschen Recht vorhandene Umschreibungspflicht war als solche mit der Richtlinie vereinbar. Man möchte meinen, daß es an dieser Stelle mit der Fallrelevanz des Gemeinschaftsrechts und der richtlinienkonformen Auslegung sein Bewenden hat. Das ist einerseits richtig und andererseits falsch. Richtig ist es, soweit die Gemeinschaftsrechtskonformität der verwaltungsrechtlichen Pflicht zum Umtausch des Führerscheins als solche in Rede steht. Falsch ist es hinsichtlich der strafrechtlichen Folgen gemäß § 21 StVG. D e n n der Gerichtshof nimmt sich in einem zweiten Schritt die von dem Berliner Amtsrichter aufgeworfene Frage vor, ob derartige Verstöße vor dem Hintergrund des ex-Art. 52 E G V strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Der Gerichtshof führt folgendes aus: „Mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung bleiben die Mitgliedstaaten befugt, einen Verstoß gegen diese Verpflichtung zu ahnden. Nach einer ständigen Rechtsprechung zur Nichtbeachtung der Formalitäten, die für die Feststellung des Aufenthaltsrechts einer durch das Gemeinschaftsrecht geschützten Person verlangt werden, dürfen die Mitgliedstaaten jedoch keine unverhältnismäßige Sanktionen vorsehen, die ein Hindernis für die Freizügigkeit schaffen würde, was namentlich bei einer Freiheitsstrafe der Fall ist (...). Wegen der Auswirkung, die das Recht zum Führen eines Kraftfahrzeugs auf die tatsächliche Ausübung der Rechte hat, die mit der Freizügigkeit verknüpft sind, gelten die gleichen Erwägungen für einen Verstoß gegen die Verpflichtung zum Umtausch des Führerscheins. Es ist hinzuzufügen, daß die Gleichstellung desjenigen, der es versäumt hat, den Führerschein umtauschen zu lassen, mit dem, der ein Fahrzeug ohne Fahrerlaubnis führt, mit der Konsequenz, daß strafrechtliche Sanktionen (...) wie die in den betreffenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen verhängt werden können, in Anbetracht der sich daraus ergebenden Folgen ebenfalls außer Verhältnis zur Schwere dieses Verstoßes stünden. Eine strafrechtliche Verurteilung könnte nämlich, wie das vorlegende Gericht bemerkt hat, Folgen für die Ausübung eines selbständigen oder unselbständigen Berufes, insbesondere für den Zugang zu bestimmten Tätigkeiten oder bestimmten Amtern, haben, was eine weitere, dauerhafte Beschränkung der Freizügigkeit darstellen würde." 447 A n dieser Stelle wird deutlich, daß gerade die Anwendung des § 21 St VG, aber nicht die verwaltungsrechtliche Pflicht, als gemeinschaftsrechtswidrig einzustufen war. Über eine „abgekapselte" richtlinienorientierte Auslegung ist dieses Ergebnis freilich nicht zu finden. Vielmehr ergibt die Analyse der Richtlinie „im ersten Takt" die Zulässigkeit der innerstaatlichen Regelung, während sich die durch einen Verstoß gegen ex-Art. 52 E G V ergebende und speziell auf das Strafrecht bezogene Gemeinschaftsrechtswidrigkeit erst ergibt, wenn das Primärrecht geprüft wird.

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EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs. C-193/94, Ε 1996 1-929, 955. Der Gerichtshof stützt sich dabei auf EuGH, Urteil vom 12.12.1989, Rs. C-265/88, Ε 1989,4209.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Anders ausgedrückt: Wäre allein die verwaltungsrechtliche Umschreibungspflicht als solche Gegenstand des Vorlageverfahrens gewesen, hätte der Gerichtshof nichts zu beanstanden gehabt. Denkbar wäre es auch noch, diese Pflicht bußgeldrechtlich zu flankieren. Gemeinschaftsrechtswidrig ist in diesem Fall nur eine Anwendung des Strafrechts in Gestalt des § 21 StVG. Der Fall „Skanavi" zeigt, wie kompliziert und versteckt die Verzahnung mit dem Gemeinschaftsrecht im Einzelfall ausfallen kann. Denn § 21 StVG ist keine unmittelbar verweisende Strafnorm, was die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts nicht von Anfang an augenfällig werden läßt. Selbst derjenige, der um die Fallrelevanz des Richtlinienrechts weiß und dieses zur Hand nimmt, droht in die Irre zu gehen, weil erst die Beachtung der Grundfreiheiten des Vertrages, hier in Form des ex-Art. 52 EGV, die juristische Analyse auf die richtige Fährte führt. Hier zeigt sich ganz konkret, warum man von einer mehrphasigen Auslegung sprechen sollte. Wer nur die Richtlinie studiert, kommt nicht zum richtigen Ergebnis. Hat man sich dieses Grundproblem jedoch einmal klargemacht, ist damit zugleich eine wiederkehrende Grundstruktur erkannt, die eine Bewältigung weiterer Fälle wesentlich erleichtert. bb. Artt. 28, 30, ex-Artt. 30, 36 EGV am Beispiel des Wettbewerbsrechts Ein weiteres Beispiel bildet das Wettbewerbsstrafrecht. Ohne auf das Verhältnis von § 3 UWG und der Strafnorm des § 4 UWG hier umfassend eingehen zu wollen, läßt sich allgemein sagen, daß eine Teilmenge der Wettbewerbsverstöße im Sinne des § 3 UWG durch § 4 U W G mit Strafe bedroht werden, 448 wobei über die Bedeutung des weiteren Tatbestandsmerkmal „unwahr" in § 4 UWG gestritten wird. 449 Unabhängig davon, welche Anforderungen im einzelnen an den Straftatbestand zu stellen sind, muß für die Strafbarkeit jedenfalls eine Eignung zur Irreführung im Sinne des § 3 UWG vorliegen. Nun hat die Gemeinschaft in einer Richtlinie über irreführende Werbung gewisse Mindestfestlegungen getroffen und in Art. 7 dieser Richtlinie ausdrücklich vorgesehen, daß die Mitgliedstaaten höhere Schutzstandards beibehalten oder einführen können. 450 Die Anwendung des strengeren deutschen Wettbewerbsrechts und damit 448

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Überblick bei Ebert-Weidenfeiler in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, §29 Rn. 9 ff. Ebert-Weidenfeller in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 29 Rn. 13; Gribowsky, Strafbare Werbung, S. 48 f. Richtlinie 84/450/EWG, Abi. Nr. L 250, S. 17. Im einzelnen str. Ackermann, Wettbewerbsrecht, S. 335; MdTtin-Ehlers, Die Irreführungsverbote des UWG im Spannungsfeld des freien europäischen Warenverkehrs, S. 54f.; zusammenfassend Weinand, Europarecht und unlauterer Wettbewerb, S. 25 ff. mwN.

D. D i e Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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auch der Strafnorm des § 4 UWG scheint damit keine Begrenzung durch das Gemeinschaftsrecht zu erfahren. Der Schein trügt. Denn ein strengerer nationaler Irreführungsbegriff kann trotz der von Art. 7 der Richtlinie grundsätzlich eröffneten Möglichkeit zur strengeren Regelung eine primärrechtliche Begrenzung in Art. 28, ex-Art. 30 EGV finden.451 Hier zeigt sich wiederum die Bedeutung der Berücksichtigung des Primärrechts innerhalb der Prüfung des Gemeinschaftsrechts. Läßt sich der Rechtsanwender allein von §§ 3, 4 UWG und Art. 7 der Richtlinie leiten, kann ihm diese Prüfung einen unvollständigen Eindruck vermitteln. Er muß vielmehr prüfen, ob das zwar nach der Richtlinie allgemein zulässige strengere Recht nicht eine primärrechtliche Beschränkung erfahrt. Soweit eine Richtlinie „strengere" Regelungen zuläßt, besteht folglich noch kein Anlaß, das Buch des Gemeinschaftsrechts zuzuschlagen. Es ist zu untersuchen, ob die strengere Lösung mit dem Primärrecht vereinbar ist. cc. Die Cassis-Rechtsprechung des Gerichtshofs In der Dogmatik des Gemeinschaftsrechts handelt es sich in der soeben umschriebenen Fallkonstellation der Sache nach um eine der „Cassis"-Rechtsprechung verwandte Problematik. Der Gerichtshof hat Art. 28, ex-Art. 30 EGV eine aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts äußerst effektive Wirkung verliehen, indem er im Fall „Dassonville" als Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 28, ex-Art. 30 EGV im Grundsatz „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern" 452 eingestuft hat. 453 In der Cassis-Entscheidung 454 hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung einerseits eingegrenzt und auf der anderen Seite ausgeweitet. Die Ausweitung ist darin zu erblicken, daß sogenannte formal nichtdiskriminierende Maßnahmen, die sich auf inländische und ausländische Waren gleichermaßen erstrecken, einbezogen wurden. 455 Die in der „Dassonville"-Entscheidung sehr locker gehaltenen Zügel wurden zugleich gestrafft, da entschieden wurde, daß Art. 28, ex-Art. 30 EGV nicht Handelshemmnisse betreffe, die aus gemeinschaftsrechtlich nichtharmonisierten Bereichen erwachsen und bestimmten zwingenden innerstaatlichen Interessen dienen, wie etwa dem Schutz der Gesund-

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452 453 454 455

Vgl. EuGH, Urteil vom 6.7.1995, Rs. C-470/93, Ε 1995, 1-1923, 1941; GRUR 1998, 761, 767; H . M . Meyer, Lebensmittelrecht, S. 93f. EuGH, Urteil vom 11.7.1974, Rs. 8/74, Ε 1974, 837, 852. Oppermann, Europarecht, Rn. 1292. EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78, Ε 1979, 649fT. Näher: Oppermann, Europarecht, Rn. 1299.

DoepnerlReese,

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

heit, der Steuerkontrolle oder des Verbraucherschutzes. 456 Diese Grenzen werden überwiegend als immanente Schranken des Art. 28, ex-Art. 30 EGV gedeutet und somit auch dann anerkannt, wenn sie nicht unter eine in Art. 30, ex-Art. 36 EGV ausdrücklich genannte Ausnahme fallen. 457 Seit der Entscheidung im Fall „Keck" 458 wird im Rahmen des Art. 28, ex-Art. 30 EGV zwischen produkt- und vertriebsbezogenen nationalen Beschränkungen der Freiheit des Warenverkehrs differenziert. 459 Vertriebsbezogene Maßnahmen fallen danach nicht unter Art. 28, ex-Art. 30 EGV, wenn die Verkaufsmodalität für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen gilt und den Absatz von inländischen Erzeugnissen und von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berührt. 460 Die darauf aufbauende Kasuistik bedarf hier keiner umfassenden Wiedergabe, da sie die strafrechtsspezifischen Fragestellungen zum Richtlinieneinfluß nicht mehr weiterführt. Für den methodisch-systematischen Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung genügt der Hinweis auf diese Rechtsprechung. Praktisch werden die Fälle aus strafrechtlicher Sicht, weil auch ein im nationalen Recht enthaltenes Verbot über Art. 28, ex-Art. 30 EGV verdrängt werden kann, das mit einem strafrechtlichen Flankenschutz versehen wurde. Neben den immanenten Schranken des Art. 28, ex-Art. 30 EGV ist aber vor der Annahme einer Unanwendbarkeit der nationalen Strafnorm grundsätzlich zu prüfen, ob eine „Rechtfertigung" des handelshemmenden Verbots gemäß Art. 30, ex-Art. 36 EGV in Betracht kommt. 461 b. Normenübergreifende Ausstrahlung des Art. 28, ex-Art. 30 EGV im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung am Beispiel des Lebensmittelstrafrechts Art. 28, ex-Art. 30 EGV kann nicht nur das nationale Recht als unmittelbar wirkende Norm im Einzelfall begrenzen, sondern in die Auslegung des nationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts einfließen und so auf nichtharmonisierte Vorschriften, einschließlich der daran anknüpfenden Strafnormen, ausstrahlen.

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460 461

Siehe Streinz, WiVerw 1993, 1, lOf. Oppermann, Europarecht, Rn. 1299; vgl. ferner Ackermann, Wettbewerbsrecht, S. 343f.; Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1523 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 738 ff.; Weinand, Europarecht und unlauterer Wettbewerb, S. 50. EuGH, Urteil vom 24.11.1993, Rs. C-267/91 und C-268/91, Ε 1993,1-6097 ff. Siehe Ackermann, Wettbewerbsrecht, S. 346f.; Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1511 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 678. Ackermann, Wettbewerbsrecht, S. 346 a. E. Siehe im einzelnen die Aufzählung der schützenswerten Interessen in Art. 30 Satz 1 EGV, zusammenfassend Oppermann, Europarecht, Rn. 1302 ff.; aus strafrechtlicher Sicht dazu: Rönnau, wistra 1994, 203, 208 ff.

D. D i e M e t h o d i k richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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U m diese Aussage mit Leben zu erfüllen, soll nachfolgend ein Auslegungsproblem aus dem Lebensmittelrecht, das zahlreichen Einflüssen des Gemeinschaftsrechts unterliegt, 462 vorgestellt werden. aa. Die Etikettierungsvorschriften für Lebensmittel Die Gemeinschaft hat durch eine Richtlinie die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung für diese Waren harmonisiert, 463 die innerstaatlich durch eine Kennzeichnungsverordnung umgesetzt wurde. 464 Der Detaillierungsgrad dieser Vorschriften ist hoch 4 6 5 Hinsichtlich des Täuschungsschutzes, der nicht unmittelbar mit der Einzelnormierung der Etikettierungsmerkmale zusammenhängt, vermittelt die Lektüre der einschlägigen Vorschriften der Richtlinie den Eindruck, daß strengeres nationales Recht weiterhin anwendbar bleibt. Der einschlägige Art. 2 der Richtlinie 466 enthält eine offene, auslegungsbedürftige Formulierung, die keine weitere Kodifizierung erfahrt. Die Erwägungsgründe enthalten den Hinweis, daß jede Regelung der Etikettierung von Lebensmitteln vor allem der Unterrichtung und dem Schutz der Verbraucher dienen soll. Ferner setzt Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie dem nationalen Recht nur hinsichtlich der einzelnen Etikettierungsmerkmale Grenzen, 467 während Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie ausdrücklich anordnet, daß sich die Grenz462

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Obwohl die Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet einen ständigen Wechsel mit sich bringt, kann zusammenfassend auf den in monographischem Umfang vorgelegten Überblick von Streinz, WiVerw 1993, 1 ff. verwiesen werden. Richtlinie 79/112/EWG vom 18.12.1978, Abi. Nr. L 33, S. 1 ff". Die Neuregelungen durch die Richtlinie 97/4/EG vom 27.1.1997, Abi. Nr. L 43, sind im vorliegenden Zusammenhang nicht erheblich. Grundlegend zur „Europäisierung des Täuschungsschutzes" neuerdings: Hecker, Produktwerbung, passim Verordnung zur Neuordnung lebensmittelrechtlicher Kennzeichnungsvorschriften vom 22.12.1981, BGBl. I, S. 1625. Siehe Streinz, WiVerw 1993, 1, 46. Art. 2 Abs. 1 lit. a lautet: „Die Etikettierung und die Art und Weise, in der sie erfolgt, dürfen nicht a) geeignet sein, den Käufer irrezuführen, und zwar insbesondere nicht i) über die Eigenschaften des Lebensmittels, namentlich über Art, Identität, Beschaffenheit, Zusammensetzung, Menge, Haltbarkeit, Ursprung oder Herkunft und Herstellungs- und Gewinnungsart; ii) durch Angabe von Wirkungen oder Eigenschaften, die das Lebensmittel nicht besitzt; iii) indem zu verstehen gegeben wird, d a ß das Lebensmittel besondere Eigenschaften besitzt, obwohl alle vergleichbaren Lebensmittel dieselben Eigenschaften besitzen ...". Art. 15 Abs. 1 lautet: „Die Mitgliedstaaten dürfen den Verkehr mit Lebensmitteln, die den Bestimmungen dieser Richtlinie entsprechen, nicht durch die Anwendung nichtharmonisierter einzelstaatlicher Vorschriften verbieten, die die Etikettierung und Aufmachung einzelner Lebensmittel oder der Lebensmittel allgemein regeln.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

ziehung aus Art. 15 Abs. 1 nicht auf den darüberhinaus gehenden Täuschungsschutz und nicht auf den unlauteren Wettbewerb bezieht.468 Im nationalen Recht findet sich in § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG das Verbot des Inverkehrbringens von irreführend bezeichneten Lebensmitteln. Zur irreführenden Kennzeichnung sind § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 lit. b LMBG 469 nähere Ausführungen zu entnehmen. Das Irreführungsverbot des § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 lit. b LMBG gab es bereits vor der Umsetzung der Richtlinie.470 bb. Lebensmittelrechtliche Täuschung trotz ordnungsgemäßer Etikettierung? Im Kern lautet die Frage, ob die Täuschungseignung noch bejaht werden kann, wenn ein Produkt ordnungsgemäß gekennzeichnet wurde, also den Anforderungen der Richtlinie in Gestalt des nationalen Umsetzungsrechts gerecht wird. Dazu ist zunächst zu prüfen, ob für ein Produkt eine spezifische Regelung getroffen wurde. Neben der allgemeinen Etikettierungsrichtlinie gibt es produktspezifisch ausgerichtete Richtlinien wie die „Fruchtsaftrichtlinie".471 In diesen Vorschriften

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Art 15 Abs. 2 lautet: „Absatz 1 findet keine Anwendung auf nichtharmonisierte einzelstaatliche Vorschriften, die gerechtfertigt sind zum Schutz - der Gesundheit, - vor Täuschung, sofern sie nicht bewirken, d a ß die Anwendung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Definitionen und Bestimmungen beeinträchtigt wird, - des gewerblichen und kommerziellen Eigentums, der Herkunftsbezeichnungen und Ursprungsangaben sowie vor unlauterem Wettbewerb." Nach dieser Vorschrift liegt eine Irreführung insbesondere dann vor, wenn zur Täuschung geeignete Bezeichnungen, Angaben, Aufmachungen, Darstellungen oder sonstige Aussagen über die Herkunft der Lebensmittel, ihrer Menge, ihr Gewicht, über den Zeitpunkt der Herstellung oder Abpackung, über ihre Haltbarkeit oder über sonstige Umstände, die f ü r ihre Bewertung mitbestimmend sind, verwendet werden. Zipfel, Z L R 1994, 557, 563. Es handelt sich somit um einen Fall, in dem das nationale Recht schon vor der Umsetzung teilweise richtlinienkonform gestaltet war. Dannecker, WiVerw 1996, 190, 199 zählt die Vorschrift deshalb zum harmonisierten Bereich. Es kommt gleichsam zu einer Art „ideellen" Harmonisierung, indem die bereits bestehende N o r m im Sinne der Richtlinie und des übrigen Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird, vgl. Weinand, Europarecht und unlauterer Wettbewerb, S. 37 f. mwN. Richtlinie 93/77/EWG vom 21.9.1993 für Fruchtsäfte und einige gleichartige Erzeugnisse, Abi. Nr. L 244, S. 23. Dazu sei eine Anmerkung erlaubt: Die produktspezifischen Harmonisierungsergebnisse auf dem Gebiet des Lebensmittelrechts überzeugen nicht immer. Die Fruchtsaftrichtlinie verkörpert jedenfalls kein gutes Beispiel, da sie den Begriff „Fruchtnekt a r " beinah schon irreführend definiert. Nach Art. 1 Nr. 7 dieser Richtlinie ist darunter ein „durch Zusatz von Wasser und Zucker zu Fruchtsäften, konzentrierten Fruchtsäften, Fruchtmark, konzentriertem Fruchtmark oder einem Gemisch dieser Erzeugnisse" hergestelltes Erzeugnis zu verstehen. Der unbefangene Verbraucher dürfte sich unter einem Nektar dagegen etwas anderes, nämlich ein besonders reines und hochwertiges Produkt vorstellen, vgl. Streinz, Gitter-FS, S. 977, 981.

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kann die für eine Ausdeutung der Vorschriften über den Täuschungsschutz bedeutende Verkehrsauffassung normiert sein. Sind derartige Spezialvorschriften nicht vorhanden, stellt sich die Frage, ob bei ordnungsgemäßer Etikettierung noch getäuscht werden kann, was sich am besten am konkreten Fall erschließt. Die einschlägige verwaltungsrechtliche Rechtsprechung stand z.B. vor der Frage, ob ein Produkt als „Bauernrotwurst aus eigener Schlachtung" bezeichnet werden darf, wenn es Zusatzstoffe wie Ascorbinsäure und Nitritpökelsalz enthält, 472 die entsprechend gekennzeichnet wurden. Einschlägig ist § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG, wo sich das Verbot des Inverkehrbringens von irreführend bezeichneten Lebensmitteln findet. Die Verwaltungsgerichte haben die Täuschungsvorschrift des 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt und kommen zum Ergebnis, daß bei ordnungsgemäßer Etikettierung regelmäßig keine Irreführung vorliegt.473 Auf den ersten Blick überrascht dieser Befund, weil der Wortlaut der Richtlinie bei isolierter Betrachtung eher dafür spricht, keine weitergehende Einschränkung des nationalen Täuschungsschutzes anzunehmen. Denn die Vorschriften über die Etikettierung besagen nichts darüber, wie ein Produkt, das die Einzelmerkmale der Etikettierung erfüllt, vom Hersteller oder Vertreiber dem Verbraucher gegenüber betitelt wird. Für die richtlinienkonforme Auslegung offenbart sich an dieser Stelle die Bedeutung des übrigen Gemeinschaftsrechts und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs. Denn der Gerichtshof hatte im Kontext des Art. 28, ex-Art. 30 EGV und angesichts unterschiedlichen Rechts in den Mitgliedstaaten entschieden, daß für den Schutz des Verbrauchers vor Irreführung grundsätzlich die zutreffende Angabe über die Zusammensetzung des Erzeugnisses im Rahmen der Produktetikettierung ausreicht. 474

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BayVGH, ZLR 1996, 95 ff. In der Sache geht es letztlich um die Frage, ob irregeführt wird, wenn lebensmittelrechtlich als solche zulässige Zusatzstoffe wie Stabilisatoren, Emulgatoren und Geschmacksverstärker einem Produkt zugeführt und auf der Verpackung genannt werden, das Ganze sodann aber ζ. B. als „Leberwurst nach guter alter Hausmacher Art" bezeichnet wird, obwohl hausgemachter Wurst nach alter Art bekanntlich nur Salz und Gewürze zugefügt wurde, siehe Wershoven, ZLR 1996, 101 ff. BVerwGE 89, 320, 323ff.; BayVGH, ZLR 1996, 95, 99f.; Meyer, Lebensmittelrecht, S. 92f.; Stern, JuS 1998, 769, 773. Siehe ζ. B. EuGH, Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-269/89, Ε 1990, I-4169ff. und speziell zur Irreführung im Sinne der Richtlinie, EuGH, Urteil vom 12.12.1990, Rs. C-241/89, Ε 1990, 1-4695, 4720; zuletzt EuGH, Urteil vom 9.2.1999, Rs. C-383/97, Ε 1999,1-731, 752 (Vorlage durch das Amtsgericht Nordhorn). Weitere Nachweise in BVerwGE 89, 320, 324.

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cc. Wettbewerbsrechtliche Täuschung? Die Täuschungsproblematik zeigt sich im Kontext des § 3 UWG in einem anderen Gewand. Die Etikettierungsrichtlinie läßt das nationale Wettbewerbsrecht zunächst unberührt. Es handelt sich mithin um einen nichtharmonisierten Bereich.475 Umstritten ist nun, ob für den Schutz des Verbrauchers vor Irreführung auch in diesem rechtlichen Zusammenhang die zutreffende Angabe über die Zusammensetzung des Erzeugnisses im Rahmen der Produktetikettierung ausreicht. Die Fragestellung erschließt sich anhand eines rechtstatsächlich einfach liegenden Falles, den das OLG Köln zu entscheiden hatte.476 Der Sachverhalt läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Beklagte brachte aus den Niederlanden stammendes Geflügel (Hähnchen und Poularden) ohne Herkunftsangabe als „Frischgeflügel" auf den deutschen Markt, wobei das Produkt die Vorschriften über die Lebensmittelkennzeichnung erfüllte. Die Beklagte wurde vom O L G Köln verurteilt, weil sie das Geflügel ohne einen Hinweis auf seine Herkunft aus den Niederlanden vertrieben hatte. Dieser Fall ist in der einschlägigen Literatur umstritten. Streinz führt unter Berufung auf die „Cassis-Rechtsprechung" aus, daß sich die Bundesrepublik bei einer Häufung derartiger Entscheidungen der Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens aussetze.477 Einer Veröffentlichung eines mit der Rechtsmaterie befaßten Richters am Bundesgerichtshof ist freilich zu entnehmen, daß die Revision des Beklagten noch nicht einmal angenommen wurde.478 Nach Ullmann betrifft die Etikettierungsrichtlinie nicht das Wettbewerbsrecht, was durch entsprechende Vorbehalte zum Ausdruck komme. 479 Aber selbst wenn eine Richtlinie ausdrücklich auf

475

Streinz, WiVerw 1993, 1, 53. OLG Köln, ZLR 1988, 667 ff. 477 Streinz, WiVerw 1993, 1, 48; kritisch auch Weinand, Europarecht und unlauterer Wettbewerb, S. 85 f. 478 Ullmann, ZLR 1991, 317, 326 Fn. 26. Ausschlaggebend war hiernach, daß die Ware derart beworben wird, daß der Verbraucher ihr Eigenschaften zumißt, die er bei Nennung des Herstellerlandes nicht für gegeben erachtet. Da ein nicht unerheblicher Teil der Verbraucher meine, deutsches Frischgeflügel sei frischer als importiertes Geflügel, nutze die Werbung als „Frischgeflügel" diese Vorstellung unabhängig davon, ob sie richtig sei, aus. Bei tiefgefrorenem Geflügel wäre nach Ullmann wohl anders zu entscheiden gewesen. Siehe Ullmann, ebenda, S. 328 f. Auf diese Rechtsprechung reagierte die Kommission mit einer an die Bundesregierung gerichteten „Abmahnung", siehe das Schreiben der Kommission in: EuZW 1993, 126 f. In der Sache wurde erklärt, daß man zwar wisse, daß die Bundesregierung auf die Gerichtsurteile keinen Einfluß nehmen könne. Gegebenenfalls müsse jedoch das innerstaatliche Recht geändert werden. 4 ™ Ullmann, ZLR 1991, 317, 328 Fn. 29 mit Hinweis auf Art. 2 Abs. 1 lit. a i und Art. 3 Abs. 1 Nr. 7 der Richtlinie. 476

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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die Nichtharmonisierung und damit auf die Anwendbarkeit des entsprechenden nationalen Rechts hinweist, kann dieser Bereich sodann nicht als von jeglicher primärrechtlicher Bindung befreit angesehen werden. Die Grenzen des Art. 28, ex-Art. 30 EGV gelten vielmehr weiterhin. 480 Streinz selbst setzt bei Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie an, wonach die Anwendung nichtharmonisierter einzelstaatlicher Vorschriften „gerechtfertigt" sein muß. Dieser Begriff sei gemeinschaftsrechtlich auszulegen. Auszugehen sei damit von einem anderen Verbraucherbild, also nicht dem „flüchtigen" Verbraucher, sondern dem Verbraucherbild, der die produktbezogenen Informationen liest und auf ihrer Grundlage seine Entscheidungen trifft. 481 Streinz überträgt die Rechtsprechung zu Art. 28, ex-Art. 30 EGV mithin in die Auslegung der Richtlinie und verlangt eine durchgängige Auslegung nationaler Täuschungsvorschriften, soweit sie im Kontext mit der Kennzeichnung von Lebensmitteln in Rede stehen. Darin zeigt sich, daß Art. 28, ex-Art. 30 EGV nicht nur als „Kollisionsnorm" wirkt, sondern in den Auslegungsvorgang der Richtlinie einfließen kann. dd. Die Verbindung zum Strafrecht Den Bogen zum Strafrecht schlägt § 52 Abs. 1 Nr. 9,10 L M B G in der für das Wirtschaftsstrafrecht klassischen Form. Diese Vorschrift knüpft an die Tatbestände des § 17 L M B G an und bedroht vorsätzliche Verstöße mit Strafe. 482 Doch nicht nur diese augenfällige Verknüpfung liegt vor, sondern Fragen des Täuschungsschutzes reichen indirekt über den Straftatbestand des § 4 UWG 4 8 3 bis in das Kernstrafrecht 484 in Gestalt des Betrugstatbestandes. 485 Zwanglos erschließt sich daraus die von Dannecker vertiefte Fragestellung, ob die Auslegung der lebensmittelrechtlichen Täuschungsvorschriften auf diese Tatbestände durchschlägt, was er bejaht 4 8 6

480

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482 483 484

485 486

Art. 3 Abs. 1 Nr. 7 verlangt die Angabe des Ursprungs- oder Herkunftsortes, falls ohne diese Angabe ein Irrtum des Verbrauchers über den tatsächlichen Ursprung oder die wahre Herkunft des Lebensmittels möglich wäre. Streinz, WiVerw 1993, 1, 51. Siehe der Fall „Mars" EuGH, Urteil vom 6.7.1995, Rs. C470/93, Ε 1995,1-1923 ff.; Weinand, Europarecht und unlauterer Wettbewerb, S. 57. Streinz, WiVerw 1993, 1, 51 f.; ders. Gitter-FS, S. 977, 982ff.; vgl. nunmehr auch: Hecker, Produktwerbung, S. 306 ff. Nach § 53 Abs. 1 LMBG ist der fahrlässige Verstoß eine Ordnungswidrigkeit. Der freilich öffentliche Werbung voraussetzt, vgl. Dannecker, WiVerw 1996, 190, 195. Siehe BGHSt 34, 199, 200 zur Anwendung des § 263 StGB bei irreführender, teilweise grotesker Werbung für „Produkte" wie Haarverdicker, Nichtraucherpillen oder Schlankheitspräparate. Dannecker, WiVerw 1996, 190ff.; ausführlich dazu: Hecker, Produktwerbung, S. 306ff. Dannecker, WiVerw 1993, 190, 208 ff.

422

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Rechtstatsächlich darf die Relevanz dieser Fragestellung allerdings nicht überschätzt werden. Wenn eine Werbemaßnahme eines Händlers, ζ. B. durch eine irreführende Außenwerbung, § 4 UWG mit seinen gegenüber § 3 UWG verschärften Anforderungen verwirklicht, bleibt die Tat auch dann strafbar, wenn der so angelockte Verbraucher beim Kauf der Ware eine ordnungsgemäße Etikettierung vorfindet. Die Reduktion des Täuschungsschutzes geht nicht über die substanzbezogene Etikettierung des Produkts hinaus. Die daneben und im anderen Zusammenhang bewirkte Täuschung bleibt in der Welt und kann strafrechtlich verfolgt werden. 487 c. Bedeutung des Primärrechts für die Auslegung einzelner Richtlinieninhalte Die Bedeutung des primärrechtlichen Kontextes für den Auslegungsvorgang soll noch anhand eines letzten Beispiels, dem Fall „Sagulo, Brenca und Bakhouche", 488 verdeutlicht werden. Diesen drei Personen, zwei italienischen und einem französischen Staatsbürger, war vorgeworfen worden, sich gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 489 strafbar gemacht zu haben, indem sie sich ohne Paß bzw. ohne Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hatten. Der im Lichte des Strebens nach umfassender Freizügigkeit und einer Unionsbürgerschaft aus heutiger Sicht antiquiert anmutende Sachverhalt zeigt deutlich, warum die Auslegung einer Begrifflichkeit die Gewährleistung der Grundfreiheiten durch das Primärrecht nicht vernachlässigen darf. Selbst für den Fall, daß sich ein Ausdruck im nationalen Recht mit dem der Richtlinie deckt, die diesbezüglich auch noch nähere Regelungen des Mitgliedstaats zuläßt, kann die Beachtung des Primärrechts ergeben, daß ein und dieselbe Buchstabenfolge im gemeinschaftsrechtlichen Gesamtkontext von vornherein etwas anderes meint.

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Wer eine minderwertige Ware unter den Voraussetzungen des § 4 UWG irreführend bewirbt und als hochwertig ausgibt, entgeht dem § 4 UWG nicht dadurch, daß er dem so angelockten Käufer im kleingedruckten Etikett die Wahrheit sagt. Um es konkret anhand eines Beispiels auszudrücken: Wer minderwertiges Schweinefleisch in seiner Werbung als erstklassiges Rinderfilet ausgibt, muß sich strafrechtliche Konsequenzen vergegenwärtigen, auch wenn das Etikett aussagt, daß es sich bei dem vermeintlichen Rinderfilet um Schweinefleisch handelt. Ein Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht entsteht dadurch nicht. EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, Ε 1977, 1495ff. Die Entscheidung steht in der Tradition der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Recht auf Freizügigkeit, siehe dazu bereits im 2.Hauptteil E. Vom 28.4.1965, BGBl. I, S. 353.

D. Die M e t h o d i k richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

423

D a z u ist auf eine R i c h t l i n i e zur H a r m o n i s i e r u n g d e s A u f e n t h a l t s r e c h t s hinzuweisen, 4 9 0 nach deren Art. 4 die Mitgliedstaaten v o n E W G - B ü r g e r n eine „ A u f e n t haltserlaubnis für A n g e h ö r i g e eines Mitgliedstaats der E W G " verlangen konnten. 4 9 1 Z u r strafrechtlichen S a c h e n t s c h e i d u n g w a r d a s A m t s g e r i c h t R e u t l i n g e n berufen. D i e italienischen Staatsbürger S a g u l o - A c o l i o u n d Brenca hatten gegen entsprechende S t r a f b e f e h l e Einspruch eingelegt, w ä h r e n d g e g e n den f r a n z ö s i s c h e n Staatsbürger Bakhouche

Anklage

erhoben

worden

war. 4 9 2

Das

Amtsgericht

legte

dem

G e r i c h t s h o f g e m ä ß A r t . 2 3 4 , ex-Art. 177 E G V v e r s c h i e d e n e Fragen zur Vorabe n t s c h e i d u n g vor. In d e m hier zu vertiefenden Z u s a m m e n h a n g sind i n s b e s o n d e r e die ersten b e i d e n Vorlagefragen v o n Interesse. 4 9 3 Bereits der d e m V o r l a g e b e s c h l u ß des A m t s g e r i c h t s R e u t l i n g e n zu e n t n e h m e n d e H i n w e i s auf die „deklaratorisch wirkende A u f e n t h a l t s b e s c h e i n i g u n g " d e u t e t in die richtige R i c h t u n g . D a s A u f e n t h a l t s r e c h t e n t s p r a n g s c h o n seinerzeit d e m Primärrecht u n d die M i t g l i e d s t a a t e n hatten ü b e r

490

491

492

493

Richtlinie Nr. 68/360/EWG vom 15.10.1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, Abi. Nr. L 257, S. 13. Art. 4 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie lautet: „Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts wird eine Bescheinigung, die .Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der EWG' erteilt." Dem Tatbestand der Entscheidung des Gerichtshofs ist gar zu entnehmen, daß der französische Staatsbürger wegen eines entsprechenden Verstoßes nur zehn Monate zuvor zu einer Geldstrafe verurteilt worden war und in Untersuchungshaft genommen worden war, siehe E u G H , Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, 1495, 1497. Anlaß zur Vorlage an den Gerichtshof könnte dem Amtsgericht die Entscheidung im Fall „Royer" gewesen sein. In diesem Fall entschied der Gerichtshof, d a ß sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus dem Vertrag und den zu seiner Durchführung ergangenen Bestimmungen ergibt, siehe E u G H , Urteil vom 8.4.1976, Rs. 48/75, Ε 1976, 497 ff. Die erste Frage lautete: „ K a n n die in Artikel 4 der Ratsrichtlinie 68/360 genannte besondere, deklaratorisch wirkende Aufenthaltsbescheinigung für die aus Artikel 48 EWG-Vertrag ff. berechtigten Ausländer verwaltungs- und strafrechtlich der allgemeinen Aufenthaltserlaubnis nach dem deutschen Ausländergesetz gleichgestellt werden mit der Folge, d a ß diese Ausländer bei Fehlen oder Ungültigwerden der Aufenthaltsbescheinigung nach § 47 Absatz 1 Nr. 1 oder 2 Ausländergesetz wegen Aufenthalts oder Einreise ohne gültige Aufenthaltserlaubnis gemäß § 5 Ausländergesetz bestraft werden können, oder verstößt dies gegen den EWG-Vertrag?" Die zweite Frage lautete: „Verstößt es gegen den EWG-Vertrag, wenn einem Ausländer, der nach Artikel 48 EWG-Vertrag und der obengenannten Ratsrichtlinie unmittelbar berechtigt ist, lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Ausländergesetz mit den möglichen nachteiligen Folgen nach § 47 Ausländergesetz erteilt wird?" Z u r Formulierung der ersten Frage ist allerdings darauf aufmerksam zu machen, daß es hinsichtlich der Einreise nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 12.7.1969 (BGBl. I, S. 927) bereits seinerzeit keiner Aufenthaltserlaubnis bedurfte, siehe auch die Stellungnahme der Kommission, E u G H , Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, 1495, 1498 a. E. f.

424

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

das „Wie" des Aufenthaltsrechts, nicht aber über das „Ob" zu entscheiden. So betonte denn auch der Gerichtshof, das vorlegende Gericht habe zu Recht darauf hingewiesen, daß das Aufenthaltsrecht ein je nach Sachlage unmittelbar aus dem Vertrag oder aus den zu seiner Durchführung ergangenen Bestimmungen fließendes Recht sei.494 Sodann legte der Gerichtshof dar, daß den Mitgliedstaaten nicht die Befugnis genommen worden sei, mittels der in den Artt. 2 , 4 der Richtlinie vorgesehenen Anforderungen nationale Interessen wie die Erfassung der Zuwanderungsströme zu verfolgen und den Vollzug entsprechender Regelungen mit Sanktionen zu gewährleisten. Der Mitgliedstaat dürfe jedoch keine Maßnahmen treffen, die sich dahin auswirken würden, daß die volle Ausübung der Rechte beschränkt werde, die das Gemeinschaftsrecht den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten gewährt. Insbesondere sei es mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, wenn eine allgemeine Aufenthaltserlaubnis verlangt oder erteilt würde, der eine andere Tragweite als der Nachweis des Aufenthaltsrechts durch die Ausstellung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen besonderen Aufenthaltserlaubnis zukommt. Deshalb sei die Verhängung von Strafsanktionen ausgeschlossen, soweit eine von den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts geschützte Person innerstaatlichen Vorschriften nicht nachkommt, die für eine solche Person den Besitz einer allgemeinen Aufenthaltserlaubnis statt der in der Richtlinie vorgesehenen Bescheinigung vorschreiben, da die innerstaatlichen Stellen wegen der Nichtbeachtung einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Vorschrift keine Sanktionen verhängen dürften. 495 Aber auch dann, wenn das nationale Recht zwischen der allgemeinen Aufenthaltserlaubnis und der EWG-Aufenthaltserlaubnis differenziert, müssen etwaige Sanktionen „dem Charakter und dem Zweck der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften" angemessen sein.496 Der Gerichtshof verlangt mithin auch auf der sanktionsrechtlichen Rechtsfolgenseite eine ausreichende Differenzierung zwischen der allgemeinen Aufenthaltserlaubnis und der EWG-Aufenthaltserlaubnis. Dieser Unterschied ging im deutschen Recht aus der Sicht des Strafrechtlers jedoch weitgehend unter. Das Umsetzungsrecht 497 regelte zwar die Verpflichtung zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, verwies aber über § 15 AufenthG/EWG hinsichtlich der Sanktionen auf das Ausländergesetz. 498 Damit war der Strafrechtler wieder bei den Sanktionen angelangt, die das Ausländergesetz für einen Aufenthalt ohne konstitutive Aufenthaltserlaubnis vorsah. Der Wille des Gemeinschaftsrechts, 494 495 496 497

498

EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, 1495, EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, 1495, EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, 1495, Die Bundesrepublik Deutschland setzte die 22.7.1969, BGBl. 1 S. 927, um. Ausführlich: BayObLG, EuGRZ 1978, 74, 75.

1503. 1503 f. 1507. Richtlinie durch das AufenthG/EWG vom

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

425

die Grundfreiheit der Freizügigkeit gewährleistet zu wissen und nur „deklaratorisch" wirkende Einschränkungen zuzulassen, konnte nur zu leicht unberücksichtigt bleiben. Für den Strafrichter, der nun einmal vom Wortlaut der Sanktionsnorm ausgeht, lief am Ende wieder alles unter dem Begriff „Aufenthaltserlaubnis" zusammen, was sich zuvor in zwei Prüfungswege verzweigt hatte. Selbst wenn der Richter den Wortlaut des Art. 4 der Richtlinie würdigt, erschließt sich der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund kaum. Diese Vorschrift spricht vielmehr wie die Strafnorm des § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG von einer Aufenthaltserlaubnis. Der Fall zeigt, wie ein und dasselbe Wort, das dem Rechtsanwender auf beiden Auslegungsstufen begegnet, einen unterschiedlichen Begriffshof haben kann und trotz orthographischer Identität die Beachtung des Primärrechts für den Auslegungsvorgang nicht obsolet werden läßt. 499 Wenn das Gemeinschaftsrecht in der Richtlinie von einer Aufenthaltserlaubnis des Bürgers eines Mitgliedstaats sprach, hatte es von vornherein eine andere Assoziation als das deutsche Ausländerrecht. Wenn innerstaatlich allgemein von einer Aufenthaltserlaubnis die Rede war, stieß der Begriff auf ein größeres Anwendungsfeld, da sich das Ausländerrecht mit der Verwendung dieser Vokabel eben nicht wie das Gemeinschaftsrecht lediglich auf die Bürger der anderen Mitgliedstaaten konzentrierte. Der Strafrechtler muß sich dem öffnen, weil aus der Beachtung der Grundfreiheiten folgen kann, daß gerade und nur sein Rechtsgebiet betroffen ist. Wie im Fall „Skanavi" lautet auch im Fall „Sagulo, Brenca und Bakhouche" die Botschaft des Gerichtshofs, daß zwar ein gegen die innerstaatlichen Vorschriften verstoßendes Verhalten sanktioniert, aber nicht (Fall „Skanavi") oder nur geringfügig bestraft werden darf (Fall „Sagulo"). 500 d. Die Funktion einer mehrphasigen Auslegung Das ist eine strafrechtsspezifische Konsequenz, die es zu unterstreichen gilt. Es ist nicht einfach, aus der deutschen Strafrechtsdogmatik heraus diesen Weg zu gehen und ein Teil der Literatur erblickt in Entscheidungen wie im Fall „Skanavi" noch heute 499

500

Dieser Fall verdeutlicht abermals, daß ein Begrifflichkeit wie die der Aufenthaltserlaubnis im Kontext des Gemeinschaftsrechts einen abweichenden Sinngehalt haben kann. In diesem Fall ist er enger, weil das Gemeinschaftsrecht von vornherein nur den möglichst freizügig zu gestaltenden Aufenthalt von EG-Bürgern im Auge hat. Wer sich in derartigen Fällen lediglich auf eine orthographische Identität des Begriffs „Aufenthaltserlaubnis" in der nationalen Strafvorschrift und im Richtlinientext stützt und meint, damit sei es der richtlinienkonformen Auslegung genug, kann zu einem nicht gemeinschaftsrechtlich konformen Ergebnis kommen. So denn auch im Ergebnis: BayObLG, EuGRZ 1978, 74, 76 linke Spalte, dem folgt: OLG Stuttgart, NJW 1978, 1758, 1759.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

eine Kompetenzanmaßung des Gerichtshofs. 501 Die hier eingenommene Sichtweise ist eine andere. Urteile wie im Fall „Skanavi" sind Ausdruck des „ius non puniendi" der Gemeinschaft. 5 0 2 Freilich kann man reklamieren, daß derartige Entscheidungen dem nationalen Gericht letztlich die Rechtsanwendung vorschreiben und damit den Bereich der Interpretation des Gemeinschaftsrechts verlassen. D e m Gerichtshof obliegt nach Art. 220, ex-Art. 164 E G V aber nicht nur die Auslegung des Vertrages, sondern auch dessen Wahrung bei der Rechtsanwendung. Daher sind die Entscheidungen vertretbar, da anderenfalls sehr geringfügige Verstöße im Zuge der Ausübung einer Grundfreiheit unverhältnismäßige Strafen nach sich ziehen könnten. Unser Blick wandert also nicht nur zwischen der Richtlinie und der Strafnorm hin und her, sondern wir wenden uns dem gesamten Gemeinschaftsrecht zu und versuchen auch, das vom Richterrecht geprägte Primärrecht als Quelle freiheitlicher Botschaften und Rechte zu begreifen und zu berücksichtigen. Wer sich dem Gemeinschaftsrecht in diesem Sinne widmet, wird Entscheidungen wie in den Fällen „Skanavi" und „Sagulo" nicht mehr als überraschende Kasuistik empfinden. Diese Offenheit meint der Begriff der mehrphasigen Auslegung. Wenn es infolge des Vorabentscheidungsverfahrens im Fall „Sagulo" zu einer ungewöhnlichen und erbittert geführten Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Strafjustiz kam, 503 so zeigt das nur, wie schwierig dieser Prozeß ist. Wankel-

501 502 503

Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 27. Oben 2. Hauptteil E. Der tiefgreifende Konflikt muß heute als Symptom für die Probleme im Zusammenspiel des Gemeinschaftsrechts mit dem Strafrecht gelten. Hassemer, KritV 1999, 133, könnten diese Spannungen als Beleg für seine Bemerkung dienen, nach der niemand so genau weiß, welche europäischen Regelungen das nationale Recht überlagern oder ersetzen. - Am Anfang stand der Vorlagebeschluß des AG Reutlingen, der zur Entscheidung EuGH, Urteil vom 14.7.1977, Rs. 8/77, Ε 1977, 1495ff. führte. - Das Amtsgericht Reutlingen sprach die Angeklagten zunächst frei. Das folgt inzident aus dem Parallelverfahren „Farinella", siehe AG Reutlingen, EuGRZ 1977, 415fT., vgl. auch die redaktionell mitgeteilte Prozeßgeschichte in EuGRZ 1977, 415. - Die den Freispruch tragenden rechtlichen Schlußfolgerungen, die das AG Reutlingen aus dem EuGH-Urteil im Fall „Sagulo" gezogen hatte, griff die Staatsanwaltschaft mit der Sprungrevision an, siehe Schwaiger, EuGRZ 1978, 77. - Das Rechtsmittel hatte Erfolg. Das OLG Stuttgart, NJW 1978, 1758 f. hob das amtsgerichtliche Urteil mit einer abweichenden Interpretation der EuGH-Entscheidung im Fall „Sagulo" auf. - Es folgt ein höchst ungewöhnlicher Vorgang: Der Reutlinger Richter griff nun seinerseits mit ausgefallenen Mitteln die Entscheidung des OLG Stuttgart an. Er wandte sich mit zwei Eingaben an die Europäische Kommission, aus der sich nach seiner Ansicht verschiedene Verstöße deutscher Behörden und Gerichte gegen das Gemeinschaftsrecht ergaben. Diese beeindruckenden Eingaben eines überzeugten Europäers sind wörtlich

D. D i e Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

427

mütige Stellungnahmen der Ministerialverwaltung 504 vervollständigen dieses Bild. Man sollte diese Probleme auch strafrechtswissenschaftlich nicht länger durch Stillschweigen übergehen, sondern offen ansprechen und versuchen, sie zu überwinden. Dem dient der Vorschlag einer mehrphasigen Auslegung, die das Gemeinschaftsrecht nicht als Widerpart versteht, sondern seine Grundaussagen aufnimmt und in die strafrechtliche Auslegung einfließen läßt.

3. Ergebnis Die richtlinienkonforme Auslegung ist eine mehrphasige Prüfung, die sich auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts nicht nur auf das Studium der Richtlinie beschränkt, sondern weitergehend das gesamte Primärrecht beachten muß.

V. Auslegung und Verdrängung Nach alledem kann der Gedankengang auf einen zentrales Problem der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht zurückkommen: Es geht um den Unterschied zwischen der Auslegung und der Verdrängung des Strafrechts. Diese Untersuchung differenziert strikt zwischen der richtlinienkonformen Interpretation des nationalen Rechts und der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. Dieser Unterschied droht freilich in der konkreten Rechtsanwendung aus methodischen Gründen unterzugehen. Dem Strafrechtler präsentiert sich der Einfluß des Richtlinienrechts als ein Problem, das sich im Zuge der Auslegung seiner nationalen Strafnorm stellt. Er nähert sich dem Richtlinienrecht vom nationalen Recht her. Aus dieser Position heraus erscheinen ihm die unmittelbare Wirkung von Richtlinien und die richtlinienkonforme Auslegung als Facetten des allgemeinen Richtlinieneinflusses. Diese Sichtweise ist einerseits richtig, aber andererseits in hohem Maße geeignet, den Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zu bagatellisieren und die Verdrängung des nationalen Rechts nur als einen Unterfall der Auslegung aufzufassen.

504

abgedruckt in EuGRZ 1979, 556 ff. Sie zeugen von einem über Jahre andauernden Justizkonflikt und vor allem großer Unsicherheit bei der strafrechtlichen Verfolgung von ausländerrechtlichen Verstößen durch EG-Bürger. Die Verunsicherung zeigt sich in entsprechenden Erlassen des baden-württembergischen Justizministeriums: - In einem Erlaß vom 31.8.1977, abgedruckt in EuGRZ 1977, 524, wurden die ausländerrechtlichen Verstöße als nicht strafbar eingestuft. - Diese Meinung wurde mit Erlaß vom 8.12.1977 aufgegeben, siehe EuGRZ 1978, 77, wobei jedoch sogleich beschwichtigend auf §§ 153, 153 a StPO hingewiesen wurde.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

1. Die V e r d r ä n g u n g als Rechtskonflikt Wenn eine Norm des nationalen Rechts mit einer unmittelbar wirkenden Vorschrift des Gemeinschaftsrechts kollidiert, dann ist das ein Konflikt. Er drückt eine Unvereinbarkeit der Rechtsfolgen aus, die beide Rechtsordnungen nach der Subsumtion eines Lebenssachverhalts vorsehen. Das Zusammenspiel beider Rechtskreise ist einem solchen Fall gestört. Das ist ein gleichsam pathologischer Befund, den es zu vermeiden gilt. Richtig verstanden bietet die richtlinienkonforme Auslegung die Chance zur Konfliktvermeidung und zur praktischen Konkordanz von nationalem Recht und europäischem Richtlinienrecht. 505 Insoweit trägt der Vergleich mit der verfassungskonformen Auslegung, die ja ebenfalls versucht, eine Verwerfung der N o r m als verfassungswidrig zu verhindern. Die richtlinienkonforme Interpretation liegt auch im Interesse des nationalen Rechts. Gleiches gilt grundsätzlich auch für das Strafrecht. Die Normenkollision sollte nicht gesucht, sondern vermieden werden. Uber diese Argumente hinaus gibt es noch weitere Gründe, der Kollision des Strafrechts mit unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalten zurückhaltend zu begegnen. Die Verdrängung nationalen Rechts durch Richtlinien erscheint als plausibel, wenn ein Rechtsgebiet betroffen ist, auf dem die Gemeinschaft rechtsangleichend tätig wurde. Auf dem Gebiet des Strafrechts ist das aber regelmäßig nicht der Fall, weshalb eine denkbare Unanwendbarkeit besonders sorgfältig zu prüfen ist. Dieser Gedanke gewinnt gerade in dem von einem strengen Gesetzesvorbehalt geprägten Strafrecht an Bedeutung. Freilich setzt sich das Gemeinschaftsrecht im Konfliktfall auch im Strafrecht bis an die in Art. 23 G G umschriebenen Grenzen durch, und dieser Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist zu akzeptieren. Gleichwohl handelt es sich bei der Verdrängung des nationalen Strafrechts um einen durchaus schwerwiegenden Vorgang. Ungeachtet der unterschiedlichen Rechtsfolgen von Anwendungs- und Geltungsvorrang handelt es sich für den konkreten Einzelfall um e i n e A r t fakultative

Verwerfung

des formellen

Gesetzes.

Dessen m u ß m a n

sich

bewußt sein und darf die Verdrängung des nationalen Rechts nicht wie einen Streit verstehen, der sich um die extensive oder restriktive Auslegung eines Tatbestandsmerkmals dreht. Das parlamentarisch legitimierte Strafgesetz bildet nicht nur die Grundlage für den richterlichen Eingriff, sondern enthält auch den Willen, bestimmte Verhaltens-

505

Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630 f.; Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, S. 155, 165.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

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weisen bestraft zu wissen. Die Bejahung des Kollisionsfalls mit der einhergehenden Unanwendbarkeit des Strafgesetzes verkörpert mithin einen Vorgang, mit dem behutsam umzugehen ist. Wenn man unter dem Begriff der richtlinienkonformen Auslegung auch den Fall der unmittelbar wirkenden und verdrängenden Richtlinie versteht, geht das Verständnis für diese Zusammenhänge nur zu schnell verloren. Der Begriff der Auslegung überspielt den Konflikt. Der Terminus verstellt den Blick auf die in Rede stehenden Rechtsfolgen, denn im Fall der Verdrängung des Strafgesetzes geht es nicht nur um seine Auslegung im eigentlichen Sinne, sondern um das Ob seiner Anwendbarkeit. Das nach nationalem Recht „an sich" einschlägige Gesetz wird verdrängt und für den konkreten Einzelfall unanwendbar. Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie umfaßt eben mehr, als wir gemeinhin unter einer Auslegungsfrage verstehen. Daher wäre es wünschenswert, wenn auch in der strafrechtlichen Literatur stärker zwischen richtlinienkonformer Auslegung des Strafrechts und seiner Verdrängung differenziert werden würde.

2. V e r d r ä n g u n g u n d Auslegung a m Beispiel des Bilanzstrafrechts Um diesen Gedanken konkret auszufüllen, bietet sich das Bilanzstrafrecht an, weil in diesem Rechtsgebiet sehr weitreichende Thesen zur Unanwendbarkeit des Strafrechts vorgetragen werden. Das im Handelsgesetzbuch kodifizierte Bilanzrecht geht auf Richtlinien der EG zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts zurück. 506 Die Verbindung zum Straf-, Ordnungswidrigkeiten- und Zwangsgeldrecht ergibt sich durch §§ 331 ff. HGB, die eng mit dem materiellen Bilanzrecht verwoben sind. Der Bezug des § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB zum materiellen Bilanzrecht wird allerdings nicht durch explizite Verweisungen, sondern mittelbar hergestellt, indem die Vorschrift als Tathandlungen die unrichtige Wiedergabe und Verschleierung aufführt. Cobet hat diese Begriffe anschaulich als Negationen des Grundsatzes, daß der Jahresabschluß ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage vermitteln muß, 507 bezeichnet. 508

506 507

508

Schuppen, Bilanzstrafrecht, S. 85, 183. Siehe Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660/EWG vom 25.7.1978, Abi. Nr. L 222, S. 11 und § 264 Abs. 2 HGB. Cobet, Fehlerhafte Rechnungslegung, S. 4.

430

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

a. Das Strafrecht als strengere Lösung? Eine Analyse der Verzahnung des Bilanzstrafrechts mit den Vorgaben der Richtlinie kommt zu dem Ergebnis, § 331 H G B dürfe im Strafverfahren nicht angewendet werden, da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nationale Gesetze, die mit europäischem Recht nicht in Einklang stehen, einer Bestrafung nicht zugrunde gelegt werden dürften. 5 0 9 Die Argumentation basiert auf Art. 51 Abs. 3 der vierten EG-Bilanzrichtlinie. 510 Anhand dieser Darlegungen zeigt sich nicht nur die Notwendigkeit, zwischen richtlinienkonformer Auslegung und Verdrängung des nationalen Rechts zu differenzieren. Sie geben auch Gelegenheit, dem Verbot der strengeren Lösung und dem damit einhergehenden Gebot des „stand-still" unter strafrechtlichen Gesichtspunkten nachzugehen. b. § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B und das Verbot der strengeren Lösung Schüppens Gedankengang läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Richtlinie verlangt in Art. 51 Abs. 3 Sanktionen für den Fall, daß kleinere Gesellschaften von der Pflicht zur Prüfung befreit werden und deren Jahresabschluß nicht den Vorgaben der Richtlinie entspricht. Im Grundsatz gehe die Richtlinie damit davon aus, daß die Prüfung des Jahresabschlusses eine ausreichende Gewähr für dessen Rechtmäßigkeit biete. N u r für den Fall, daß kleinere Gesellschaften nach den nationalen Vorschriften nicht geprüft würden, seien nach der Richtlinie Sanktionen vorzusehen. Der deutsche Gesetzgeber habe aber Bußgeld- und Strafandrohungen nicht nur für die befreiten Gesellschaften, sondern für alle Kapitalgesellschaften vorgesehen. § 334 Abs. 1 Nr. 1 H G B habe er als Ordnungswidrigkeitentatbestand formuliert, um Art. 51 Abs. 3 der vierten Bilanzrichtlinie zu entsprechen. Darüberhinaus habe er mit § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B einen zusätzlichen Straftatbestand geschaffen, der unanwendbar sei. Das Ziel der Rechtsangleichung und das Erfordernis europafreundlichen Verhaltens verbieten danach nationale Alleingänge, soweit nicht weitergehende Vorschriften zugelassen würden. N u r bei Erlaß der Richtlinie bestehende strengere Vorschriften könnten fortbestehen, eine Neueinführung verstieße gegen das „stand still"-Gebot. Diesem Gebot unterfielen auch Strafvorschriften. In der Rechtsprechung des

509 510

Schuppen, Bilanzstrafrecht, S. 189. Richtlinie 78/660/EWG vom 25.7.1978, Abi. Nr. L 222, S. 11 ff. Die Vorschrift lautet: „Im Falle des Absatzes 2 nehmen die Mitgliedstaaten in ihre Rechtsvorschriften geeignete Sanktionen f ü r den Fall auf, daß der Jahresabschluß oder der Lagebericht dieser Gesellschaften nicht nach dieser Richtlinie erstellt sind." In Art. 51 Abs. 2 wird festgelegt, d a ß die Mitgliedstaaten kleinere Gesellschaften im Sinne des Art. 11 von der Pflicht zur P r ü f u n g des Jahresabschlusses befreien können.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

431

Gerichtshofs sei anerkannt, daß auch Strafnormen diskriminierenden Charakter haben könnten. Für die Wahl eines Unternehmensstandortes könnten unterschiedliche strafrechtliche Bewehrungen bedeutend sein.511 aa. Auslegung des Richtlinienartikels Schuppens Hauptargument lautet: Die Richtlinie sieht mit der Prüfung des Jahresabschlusses einen eigenen Durchsetzungsmechanismus zur Beachtung des Bilanzrechts vor, da nach Art. 51 Abs. 3 der Richtlinie Sanktionen nur für den Fall vorzusehen sind, daß in das nationale Recht eine Befreiungsmöglichkeit von der Prüfungspflicht für kleinere Gesellschaften eingefügt werde. Vor dem Hintergrund der Kompetenzfrage überschätzt Schüppen die Aussagekraft des Art. 51 Abs. 3 der Richtlinie. Die Vorschrift will lediglich sicherstellen, daß die Manipulation von ungeprüften Abschlüssen nicht ohne Sanktion bleibt. Der weitergehende Schluß, nach dem die Manipulation von geprüften Abschlüssen nicht strafbar sein darf, findet in Art. 51 Abs. 3 der Richtlinie keine Stütze. 512 Allerdings ist es richtig, daß eine isolierte Betrachtung des Art. 51 Abs. 3 der Richtlinie ein ambivalentes Bild ergibt und die Möglichkeit einer Deutung im Sinne Schüppens zuläßt. Eine methodisch orientierte Auslegung muß somit den weiteren Kontext der Richtlinie berücksichtigen. bb. Auslegung der Erwägungsgründe Eine Betrachtung der Erwägungsgründe führt sodann zum gegenteiligen Befund. Bereits im ersten Absatz der Gründe wird die Bedeutung der Richtlinie für den Schutz der Gesellschafter und von Dritten hervorgehoben. Im zweiten Absatz wird ausgeführt, daß den Dritten oftmals nur das Gesellschaftsvermögen eine Sicherheit biete. Im vierten Absatz wird das Erfordernis betont, daß der Jahresabschluß ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermitteln muß. Es zeigt sich, daß die Vergleichbarkeit und inhaltliche Richtigkeit der Jahresabschlüsse wesentliches Ziel der Richtlinie sind. Warum dann aber § 331 HGB, der die Manipulation des Jahresabschlusses unter Strafe stellt und damit das gemeinschaftsrechtliche Interesse in besonderer Weise schützt, gegen die Richtlinie verstoßen soll, ist nicht erkennbar.

511 512

Schüppen, Bilanzstrafrecht, S. 186, 188. Ransiek in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 23 III Rn. 254.

432

5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

cc. Gleichstellungserfordernis Hier ist zudem das aus dem „Mais-Urteil" 5 1 3 herzuleitende Gleichstellungserfordernis in Erinnerung zu rufen.514 Hiernach ist jeder Mitgliedstaat zu der Prüfung verpflichtet, ob eine sekundärrechtlich geregelte Materie des Strafschutzes bedarf. Schuppen selbst weist zutreffend darauf hin, daß der „Strafbarkeitskern" des § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B mit dem des § 400 Abs. 1 Nr. 1 und 4 a. F. A k t G und § 82 Abs. 2 Nr. 2 a. F. G m b H G vergleichbar ist. Wenn aber die nationale Rechtsordnung die lautere Bilanzierung vor der richtlinienbedingten Reform als strafrechtlich schützenswert einstufte, ist es im Lichte der Ziele der Richtlinie und des „MaisUrteils" sehr bedenklich, diese Notwendigkeit des Strafschutzes nicht mehr anzunehmen, wenn es das richtliniengemäße Bilanzrecht zu schützen gilt. Warum das gemeinschaftsrechtlich geprägte Bilanzrecht, das bestimmte Kreise vor unlauterer Bilanzierung schützen will, im Vergleich zum vorherigen Rechtszustand keine zu schützende Rechtsmaterie darstellen soll, leuchtet nicht ein. dd. Verbot der strengeren Lösung? Unabhängig davon ist Schüppens Gedankengang aufzugreifen, die strafrechtliche Regelung ohne weiteres als strengere Lösung einzustufen, weil sich hier ein grundsätzliches Problem der Verzahnung des Strafrechts mit dem Richtlinienrecht zeigt. Wenn die wirtschaftsrechtliche Literatur in diesem Zusammenhang von einer strengeren Lösung spricht, dann diskutiert sie die sachlich-rechtlichen Regelungen des Bilanzrechts. 515 Es geht also um die Sach- und Rechtsfragen, die der Harmonisierung unterfallen. § 331 H G B enthält jedoch überhaupt kein strengeres Bilanzrecht. Nicht ein Wort der N o r m verschärft die sachlich-rechtlichen Richtlinienvorgaben. Die Vorschrift flankiert vielmehr das Umsetzungsrecht f ü r den Fall besonders grober Verstöße. Dadurch wird das eigentliche, von der Gemeinschaft vorgegebene nationale Bilanzrecht für die bilanzierenden Kapitalgesellschaften jedoch nicht zur strengeren Lösung. Aus normentheoretischer Sicht betrachtet: Die Verhaltensnorm im Sinne der sachlich-rechtlichen Regelung des Bilanzrechts, wird nicht dadurch strenger, daß sie sanktionsrechtlich flankiert wird. Vielmehr wird das richtlinienkonforme Bilanzrecht durch den strafrechtlichen Flankenschutz effektiv geschützt.

513 514

515

EuGH, Urteil vom 21.9.1989, Rs. 68/88, Ε 1989, 2965 ff. Dazu schon oben 2. Hauptteil D. IV.; Gröblinghoff.\ Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 34fT. Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, S. 24ff.

D. Die M e t h o d i k richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

433

Schüppens Lösung ist im übrigen in sich auch nicht widerspruchsfrei. Wer aus Art. 51 Abs. 3 der Richtlinie mit dem Gedanken der strengeren Lösung die Unzulässigkeit von Sanktionen ableitet, muß diesen Weg konsequent zu Ende gehen und auch § 334 HGB für alle geprüften Gesellschaften verwerfen, da die dort vorgesehenen Ordnungswidrigkeiten ebenfalls Sanktionen darstellen. 516 ee. Das stand-still Gebot Das von Schuppen mit dem Verbot der strengeren Lösung erwähnte Gebot zum stand-still bedarf der kurzen Erläuterung. Der Sache nach handelt es sich um einen Begriff, der im Zusammenhang mit der Diskussion um die Sperrwirkung des Richtlinienrechts steht.517 Eine Rechtsangleichung kann nur dann Erfolg haben, wenn sie über den Moment des Umsetzungsakts hinauswirkt. 5 ' 8 Wäre es gemeinschaftsrechtlich zulässig, daß sich ein Mitgliedstaat alsbald aufmachen würde, das angeglichene Recht zu ändern, so liegt es auf der Hand, daß die Harmonisierungsbemühungen fehlschlagen könnten, weil sich die angepaßte Rechtsmaterie anschließend in den Mitgliedstaaten zu zerfasern und aufzulösen droht. Daraus folgt für den Mitgliedstaat das Gebot zum „stand-still". Indes gilt auch für diesen Fall, daß zwischen der Ebene des Gemeinschaftsrechts und der des innerstaatlichen Rechts zu differenzieren ist. Die gemeinschaftsrechtliche Rechtswidrigkeit eines solchen Akts ist die eine Frage und kann ein Vertrags-

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Anders aber offenbar Schuppen, Bilanzstrafrecht, S. 186: zutreffend dagegen Ransiek in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 23 III R n . 254. Die Terminologie ist nicht einheitlich. Teilweise wird das „stand-still" Gebot auf den Zeitraum bezogen, der auf den Erlaß der Richtlinie folgt, so ζ. B. Langeheine in: Grabitz/Hilf, EU/Kommentar, Altbd. I, Art. 100 Rn. 63. Luiter, Everling-FS, S. 765, 781 bezieht das Gebot zum „stand-still" dagegen auch auf die Zeit nach der Umsetzung, was Langeheine in: Grabitz/Hilf, EU/Kommentar, Altbd. I, Art. 100 Rn. 69 terminologisch mit dem Begriff der „Sperrwirkung" der Richtlinie beschreibt. Hier wird der Begriff im Sinne Lutters verwandt. Die inhaltliche Differenzierung zwischen dem „stand-still" nach Erlaß der Richtlinie und der Sperrwirkung nach der Umsetzung wird in dieser Untersuchung nicht mehr vollzogen. Man könnte insoweit die Frage diskutieren, ob der Mitgliedstaat nach Erlaß, aber vor der Umsetzung der Richtlinie noch einen ihr widersprechenden Rechtszustand schaffen darf. Ungeachtet des europarechtlichen Interesses an dieser Frage, kann es aus der Sicht des nationalen Rechts mit dem Hinweis auf die Entscheidung E u G H , Urteil vom 18.12.1997, Rs. C-129/96, Ε 1997,1-7411, 7448 ff. sein Bewenden haben. Nach dieser Entscheidung kann man jedenfalls nicht grundsätzlich annehmen, daß ein während der Umsetzungsfrist gesetzter und richtlinienwidriger nationaler Rechtsakt gemeinschaftsrechtlich untersagt wäre, siehe Weiß, DVB1. 1998, 568, 572 f. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist kann sich das Richtlinienrecht freilich unter den allgemeinen Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien gegen den richtlinienwidrigen Rechtszustand durchsetzen. Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, S. 22 f.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

verletzungsverfahren mit entsprechender Verurteilung nach sich ziehen.519 Die Rechtswirkungen im innerstaatlichen Recht sind davon zu unterscheiden. Das gesamte Problem präsentiert sich im Strafrecht aufgrund der besonderen Kompetenzlage in modifizierter Form. Es ist bereits im Ansatz höchst zweifelhaft, ob eine nachträgliche strafrechtliche Vorschrift überhaupt unter der Überschrift des „stand-still"-Gebots diskutiert werden sollte. Die ganze Idee des „stand-still"Gebots geht ja davon aus, daß auf einem Rechtsgebiet eine Harmonisierung stattfindet und die Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet sodann stillhalten. Die Gemeinschaft besitzt auf dem jeweiligen Rechtsgebiet nach erfolgter Harmonisierung in diesem Sinne eine Art Fortschrittskompetenz. Diese Gedanken passen aber nicht zum Strafrecht, weil die Gemeinschaft kein Strafrecht setzt und sie verfügt auch nicht über eine imperative Anweisungskompetenz. Da die Gemeinschaft strafrechtliche Fragen von Anfang an nicht regelt, droht durch eine spätere nationale Rechtssetzung auch nicht das zu zerfließen, was das Richtlinienrecht harmonisieren wollte. Die Fragestellung zum stand-still Gebot ist im Strafrecht von vornherein eine andere als der gemeinschaftsrechtlichen Dogmatik. Sie kann nicht auf Strafnormen wie § 331 HGB übertragen werden. Hier schließt sich der Kreis zu den einleitenden Bemerkungen über die vorschnelle Bejahung einer Verdrängung des Strafrechts. Man kann die europarechtlichen Lösungen nicht ohne weiteres auf das Strafrecht übertragen. Die sich um die Schlagworte der strengeren Lösung und des „stand-still"-Gebots rankenden Probleme tauchen vielmehr erst an folgender Stelle auf: Unterstellt sei, daß eine Bezugsnorm des Strafrechts, die auf einem Umsetzungsakt beruht, gemeinschaftsrechtswidrig abgeändert wird. Um im Kontext zu bleiben, sei das Beispiel sogleich zu § 331 H G B gewählt. Das Problem entsteht, wenn eine strafrechtsrelevante, aber dem eigentlichen Bilanzrichtlinienrecht zuzuordnende Verhaltensnorm nachträglich geändert wird. Dann kommt es entscheidend darauf an, ob man neben den Fällen der unmittelbar wirkenden Richtlinieninhalte eine weiterreichende Sperrwirkung annimmt. Für diese Untersuchung wurde bereits umfassend dargelegt, daß hier der vorherrschenden Lehre zum Anwendungsvorrang gefolgt und den Richtlinien kein weiterreichender Vorrang zugestanden wird. Eine aus einer „Vorrangigkeit" der Richtlinie abzuleitende Sperrwirkung scheidet aus. Soweit also die Richtliniennorm unmittelbar wirkt, verdrängt sie das richtlinienwidrig geänderte Recht, was wiederum auf die strafrechtliche Würdigung durchschlägt. Liegt kein Fall der unmittelbaren Wirkung vor, bleibt es trotz der Europarechtswidrigkeit und

519

Vgl. Gellermann, Beeinflussung, S. 102.

D. Die Methodik richtlinienkonformer Auslegung im Strafrecht

435

der M ö g l i c h k e i t eines Vertragsverletzungsverfahrens bei der A n w e n d b a r k e i t d e s n a t i o n a l e n Rechts. 5 2 0 ff. B e a c h t u n g d e s Primärrechts Schuppen

bringt n o c h z w e i A r g u m e n t e dafür, d a s Strafrecht als strengere L ö s u n g

e i n z u s t u f e n . Er stellt e i n m a l d a r a u f ab, d a ß S t r a f n o r m e n bei der W a h l eines U n t e r n e h m e n s s t a n d o r t s z u W e t t b e w e r b s v e r z e r r u n g e n führen k ö n n t e n u n d m e i n t z u d e m , d a ß die Strafvorschriften als Verstoß g e g e n die „Niederlassungsfreiheit" e i n z u s t u f e n sein k ö n n t e n . 5 2 1 A l l e r d i n g s spricht Schüppen

diese primärrechtlichen

Gesichts-

p u n k t e nur an, o h n e präziser zu werden. D a s ü b e r z e u g t m e t h o d i s c h nicht, weil der G e d a n k e n g a n g a u f diese Weise u n v e r b i n d l i c h bleibt. Er läßt nicht erkennen, w i e es zur b e h a u p t e t e n U n a n w e n d b a r k e i t des § 331 H G B k o m m e n soll. Schüppen

bedient

sich keiner Kategorie, m i t der eine U n a n w e n d b a r k e i t d e s § 331 H G B b e g r ü n d e t w e r d e n könnte. 5 2 2 Er a r g u m e n t i e r t w e d e r m i t der u n m i t t e l b a r e n W i r k u n g , n o c h stellt er fest, o b u n d w a r u m er in § 331 H G B einen V e r s t o ß g e g e n primärrechtliche V o r s c h r i f t e n erblickt, s o n d e r n sagt nur, d a ß d i e s der Fall sein könnte. 5 2 3 A l l e n f a l l s w ä r e denkbar, d a ß Schüppen

die U n a n w e n d b a r k e i t d e s § 331 H G B m i t

e i n e m V o r r a n g der r i c h t l i n i e n k o n f o r m e n A u s l e g u n g im S i n n e Lutters w i s s e n will. D o c h a u c h hier bezieht Schüppen

begründet

keine greifbare P o s i t i o n , weil er diese

520

Die strafrechtliche Literatur verfahrt mit diesem Problem in einer teilweise diffusen Art, siehe de Weehrt, Bilanzordnungswidrigkeiten, S. 44. Er bejaht wie selbstverständlich neben der unmittelbaren Wirkung eine Sperrwirkung des Richtlinienrechts, meint aber, sich nicht mit Vertretern der vorherrschenden Meinung wie Oppermann, Europarecht, Rn. 554, auseinanderzusetzen zu müssen, die auf das Vertragsverletzungsverfahren verweisen. Auf diese Weise geht der wichtige Unterschied zwischen der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienwidrigkeit des nationalen Rechts und dessen Unanwendbarkeit unter. Freilich gibt es f ü r eine über die unmittelbare Wirkung reichende Sperrwirkung gemeinschaftsrechtlich gute Argumente. Doch de Weehrt behauptet nur undifferenziert eine das nationale Recht verdrängende Sperrwirkung, ohne zu erläutern, was er genau darunter versteht und welches Verständnis vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts seiner Meinung zugrundeliegt. Terminologisch höchst unglücklich ist es, wenn de Weehrt sodann den Fall „Kolpinghuis Nijmegen" als „eine nur in Strafverfahren auftauchende Sonderform der Sperrwirkung einer Richtlinie" anführt, siehe de Weehrt, Bilanzordnungswidrigkeiten, S. 45 f. Damit will de Weehrt offenbar sagen, d a ß eine Richtlinie ohne Umsetzungsakt die Strafbarkeit nicht begründen oder verschärfen kann. Das aber hat mit dem Problem der Sperrwirkung des Richtlinienrechts im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Terminologie nichts zu tun.

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Schüppen, Bilanzstrafrecht, S. 188. Zutreffend z.B. Steindorff, AG 1988, 57, der f ü r den Fall der unmittelbaren Wirkung von begünstigenden Richtlinienvorschriften eine Verdrängung des Strafgesetzes bejaht. Das in der Sache auch äußerst zweifelhaft. An Kapitalgesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten werden über § 331 H G B keine Anforderungen gestellt, die es gemeinschaftsweit nicht gäbe.

522

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Fragen dahinstehen läßt. 524 Schuppen bezieht letztlich nicht eindeutig Stellung und bleibt die Begründung schuldig, nach welchen Regeln er den vermeintlichen Konflikt lösen will. Dem ist entgegenzutreten. Selbst wenn ein irgendwie gearteter Widerspruch des Strafgesetzes zum Gemeinschaftsrecht vorliegt, folgt daraus nicht automatisch die Unanwendbarkeit der Strafnorm. 525 Wer die Unanwendbarkeit behauptet, m u ß definitiv festlegen, aufgrund welcher Rechtsregeln er zu diesem Ergebnis kommt. Es unterliegt Bedenken, Begriffe wie die Beeinträchtigung des Wettbewerbs oder der Niederlassungsfreiheit in die Diskussion zu bringen, um sodann die Unanwendbarkeit des Strafgesetzes zu resümieren. Diesem Aspekt kommt grundsätzliche Bedeutung zu. Anderenfalls droht sich über das Verhältnis des Strafrechts zum Gemeinschaftsrecht ein nebulöser Schleier zu legen, der im Ergebnis der Rechtssicherheit abträglich ist. Unbestreitbar ist es ein Verdienst Schuppens, d a ß er in seiner Analyse des Bilanzstrafrechts auf die europarechtlichen Bezüge abgestellt und somit die grundsätzliche Relevanz dieser Vorgaben f ü r das Strafrecht betont hat. Allerdings zeigt sich anhand seiner Begründung der Unanwendbarkeit des § 331 H G B auch, wie notwendig es ist, ein derartiges Ergebnis anhand eindeutiger, aus der Dogmatik des Europarechts abgeleiteter Kriterien zu begründen. Schuppen zitiert in diesem Zusammenhang ex-Artt. 52, 54 Abs. 1 EGV. 526 Diese primärrechtlichen Vorschriften widmen sich dem Abbau der Beschränkungen des freien Niederlassungsrechts und dem Programm zu ihrer Aufhebung. Diese Bezugnahme ist jedoch eindeutig zu undifferenziert. Die Richtlinie wurde gemäß den Erwägungsgründen explizit auf ex-Art. 54 Abs. 3 lit. g EGV gestützt. 527 Dort ist von Schutzbestimmungen zugunsten von Gesellschaftern und Dritten die Rede. 528 In der europarechtlichen Literatur werden insoweit denn auch strengere Vorschriften nicht als grundsätzlich unzulässig eingestuft. 529 Motiv zur Schaffung der Richtlinie war sicherlich auch, einen Beitrag zur gemeinschaftsweiten Niederlassungsfreiheit zu leisten. Doch die Richtlinie will den Unternehmen in Gestalt des Umsetzungsaktes 524 525

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Schuppen, Bilanzstrafrecht, S. 193. Die Frage, ob sich ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung einer Richtlinie gemeinschaftsrechtskonform verhalten hat, ist eine Frage, die auch in der strafrechtlichen Diskussion scharf von der gesondert zu prüfenden Frage der Unanwendbarkeit eines richtlinienwidrigen Gesetzes getrennt werden sollte. Schuppen, Bilanzstrafrecht, S. 188. Niessen, RabelsZ 48 (1984), 81, 85; Schön, ZHR 160 (1996), 221, 224. Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie - Mindest - oder Höchstnorm ?, S. 87 ff.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 22; Schön, ZHR 160 (1996), 221, 224. Bleckmann in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 453; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 22, im einzelnen str.

Ε. Was heißt Richtlinienkonformität

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in erster Linie recht exakt umrissene Verpflichtungen auferlegen und zur Erreichung des Schutzes der Gesellschafter und Dritter vorschreiben, wie zu bilanzieren ist. Freilich ist es denkbar, daß primärrechtlich verankerte Freiheiten zur Unanwendbarkeit des Strafrechts führen können. Als Beispiel sei auf die bereits vorgestellten Fälle „Bordessa" 530 und „Skanavi" 531 verwiesen. Im Fall „Bordessa" wurde jedoch auch die gemeinschaftsrechtlich verbriefte Freiheit über den Willen des Gemeinschaftsrechts hinaus eingeschränkt und im Fall „Skanavi" drohte eine unverhältnismäßige Sanktion. In diesen Fällen ist die Zielrichtung des Gemeinschaftsrechts eine andere. Die mit den Bilanzierungsregeln verbundenen Einschränkungen verlangt das Gemeinschaftsrecht jedoch selbst, um die in den Erwägungsgründen der Richtlinie zum Ausdruck kommenden Ziele zu erreichen. Die daran anknüpfende strafrechtliche Regelung schützt nicht mehr als diese gemeinschaftsrechtliche Zielvorstellung und das Gleichstellungserfordernis verlangt diesen Schutz. c. Ergebnis Vor dem Hintergrund der Kompetenzfrage ist einer vorbehaltlosen Übertragung von Begriffen wie dem der „strengeren Lösung" oder dem des „stand-still" auf das Strafrecht mit Zurückhaltung zu begegnen. Das Strafrecht kann nicht als Ganzes ohne weiteres als „strengere Lösung" eingestuft und auch nicht grundsätzlich dem „stand-still"-Gebot unterworfen werden, 532 da die Gemeinschaft strafrechtliche Fragen nicht regelt.

E. Was heißt Richtlinienkonformität? I. Einleitung Wenn nach den bisherigen Ergebnissen die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung das Strafrecht nicht ausnimmt und eine Vorzugsregel verkörpert, nach der unter mehreren Auslegungsmöglichkeiten die richtlinienkonforme zu wählen ist, könnte die jetzt zu stellende Frage überraschen: Wann ist ein Auslegungsergebnis im Strafrecht richtlinienkonform? Denkbar wäre es, ein möglichst eng an der Richtlinie ausgerichtetes Auslegungsresultat als das richtige anzusehen, wenn die der richtlinienkonformen Auslegung 530 531 532

EuGH, Urteil vom 23.2.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Ε 1995,1-361 ff. EuGH, Urteil vom 29.2.1996, Rs. C-193/94, Ε 1996 I-929ff. Siehe zum Bilanzstrafrecht auch Cobet, Fehlerhafte Rechnungslegung, S. 4.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

gezogenen Grenzen eingehalten werden. Ein solches Verständnis der Vorzugsregel wäre jedoch im Strafrecht verfehlt, was sich sogleich am Beispiel des Urheberstrafrechts belegen läßt.

II. Umsetzungsbedingte Auslegungsprobleme des Urheberstrafrechts 1. Die EG-Richtlinie über den Rechtsschutz von Computerprogrammen Das Urheberrecht an Computerprogrammen wurde durch eine EG-Richtlinie 533 harmonisiert, die im Vergleich mit dem bisherigen deutschen Recht Neuerungen mit sich brachte und in ihrer Tendenz den Urheberrechtsschutz erweiterte.534 Für den nachfolgenden Gedankengang ist die auf Art. 4a der Richtlinie zurückzuführende Regelung in § 69c Nr. 1 UrhG von Interesse.535

2. Der strafrechtliche Kontext Nach der hier interessierenden Alternative des § 106 Abs. 1 UrhG macht sich derjenige strafbar, der in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ohne Einwilligung des Berechtigten ein Werk vervielfältigt. Die Einstufung von Computerprogrammen als geschützte Werksart und damit als Tatobjekt ergibt sich aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 69a UrhG. 536 Für die Tathandlung gewinnt § 69 c Nr. 1 UrhG an Bedeutung. Vor dessen Einfügung war die Vervielfältigung eines Computerprogramms anhand des § 16 UrhG zu prüfen. Unter einer

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Richtlinie 91/250/EWG vom 14.4.1991, Abi. Nr. L 122, S. 42, dazu: Th. Dreier, CR 1991, 577fT.; Lehmann, NJW 1991, 2112fT. Siehe nur: Ensthalerl Möllenkamp, GRUR 1994, 151 ff. Heghmanns in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 25 Rn. 61 f. § 69c UrhG lautet: Der Rechtsinhaber hat das ausschließliche Recht, folgende Handlungen vorzunehmen oder zu gestatten: 1. die dauerhafte oder vorübergehende Vervielfältigung, ganz oder teilweise, eines Computerprogramms mit jedem Mittel und in jeder Form. Soweit das Laden, Anzeigen, Ablaufen, Übertragen oder Speichern des Computerprogramms eine Vervielfältigung erfordert, bedürfen diese Handlungen der Zustimmung des Rechtsinhabers; Nr. 2 . . . Die Anforderungen an die sogenannte Schöpfungshöhe von Programmen wurden durch das Umsetzungsrecht (§ 69 a UrhG) abgesenkt, Kappes, JuS 1994, 659, 660 f. mwN.

Ε. Was heißt Richtlinienkonformität

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Vervielfältigung im Sinne dieser Vorschrift ist die Herstellung einer oder mehrerer Festlegungen eines Werkes zu verstehen, die geeignet sind, das Werk den menschlichen Sinnen auf irgendeine Weise wiederholt oder mittelbar wahrnehmbar zu machen. 537 Es bestand weitgehend Einigkeit darüber, daß ein bloßes Laden des Programmes in den Arbeitsspeicher keine Vervielfältigung darstellt, 538 obwohl aus technischer Sicht nutzungsbedingt vorübergehende Vervielfältigungsvorgänge stattfinden. 539 Die urheberrechtliche Literatur sieht nach der Einfügung des § 69 c Nr. 1 UrhG überwiegend bereits in dem schlichten Ladevorgang eine Vervielfältigung des Computerprogramms gemäß § 69c Nr. 1 UrhG. 540 Dieses Ergebnis soll hier unterstellt werden, weil es vorliegend nicht um die urheberrechtliche Fragestellung, sondern um die strafrechtlichen Folgen geht. Diese hat erstmals Franzheim aufgezeigt.541 Er hat darauf hingewiesen, daß derjenige, der eine bereits vorhandene Raubkopie schlicht nutzt, wozu er das Programm denknotwendig laden muß, sich nach dem Inkraftreten des § 69c Nr. 1 UrhG bereits strafbar macht. Mittlerweile stuft eine Ansicht denn auch die schlichte Nutzung einer raubkopierten Software ohne weiteres als Straftat ein.542 Dieses Ergebnis überzeugt schon deshalb nicht, weil damit allein die Nutzung der Raubkopie strafbar wird.543 Das war dem Urheberstrafrecht jedoch bislang fremd. Besonders anschaulich hatte der Bundesgerichtshof in Zivilsachen in diesem Sinne entschieden, daß die bloße Benutzung eines Werkes, also das Lesen eines Buches, das Abspielen einer Schallplatte und auch das Benutzen eines Computerprogramms kein urheberrecht-

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Loewenheim in: Schricker, Urheberrecht, § 16 Rn. 6; A. Nordemann in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), § 26 I Rn. 25; ausführlich U. Weber, Urheberstrafrecht, S. 194 ff.; W. Nordemann·. Fromm/Nordemann, Urheberrecht, § 16 Rn. 1, jeweils mwN. Überblick bei Heghmanns in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 25 Rn. 66f., str. Für die A n n a h m e einer Vervielfältigung im Sinne des § 16 U r h G mit umfassender Argumentation: Marly, Urheberrechtsschutz, S. 161 ff., der für die Auslegung des § 16 U r h G Überlegungen zur Softwarerichtlinie herangezogen hat, siehe Marly, ebenda, S. 163 Fn. 46, 173. Siehe ferner zur zweifelhaften erstinstanzlichen Rechtsprechung die Nachweise bei Achenbach, N S t Z 1991, 409, 413. Kappes, JuS 1994, 659, 662; A. Nordemann in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), § 26 I Rn. 25. Bär, C R 1995, 158, 165; Brandi-Dohrn, BB 1994, 658, 659; Kappes, JuS 1994, 659, 662; W. Nordemann/ Vinck, in: Fromm/Nordemann, Urheberrecht, § 69 c Rn. 3; Pres, C R 1994, 520, 521; Schulte, CR 1992, 648, 651; zur aA Michalski, DZWir 1995, 265, 268. Überblick zum Streitstand bei Loewenheim in: Schricker, Urheberrecht, § 69c Rn. 9 mwN. Franzheim, CR 1993, 101 ff. Bär, C R 1995, 158, 164; H a ß in: Schricker, Urheberrecht, § 106 Rn. 3; offenbar auch Vinck, in: Fromm/Nordemann, Urheberrecht, § 106 Rn. 3 a. E. Franzheim, C R 1993, 101, 102.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

lieh relevanter Vorgang sei.544 In diesen Fällen konnte § 106 Abs. 1 U r h G mangels Vervielfältigung mithin nicht verwirklicht werden. Das Lesen des raubkopierten Buches, das Hören eines illegalen Livemitschnittes eines Konzertes und eben auch das Nutzen einer illegal kopierten Software waren straflos. Selbst die Nutzer rechtmäßig erworbener Software laufen Gefahr, sich strafbar zu machen. Franzheim wählt das Beispiel eines Rechtsanwalts, der ein Textverarbeitungsprogramm auf einem Bürocomputer und einem Notebook installiert, was regelmäßig dem Softwarevertrag entspricht, wenn die Programme nicht gleichzeitig benutzt werden. Wenn der Anwalt nun das Programm daheim benutzt und seine Sekretärin entgegen seiner Weisung den Bürocomputer mit dem Programm lädt, so wird der Tatbestand des § 106 Abs. 1 UrhG objektiv verwirklicht. 545 Hier kann man noch am Vorsatz zweifeln, aber was ist mit dem Familienvater, der darum weiß, daß seine Kinder während seiner Abwesenheit gerne heimlich am Computer spielen? Wenn er dasselbe Programm auf seinem Notebook zeitgleich lädt, kann darin allen Ernstes eine vorsätzliche Straftat nach § 106 Abs. 1 UrhG zu sehen sein. Ob das noch dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts entspricht, unterliegt starkem Zweifel. Vielmehr ist Franzheim zu folgen, wenn er darin einen Verstoß gegen den ultima ratio-Grundsatz erblickt. 546 3. P r o b l e m d e u t u n g Damit deutet sich bereits die Ursache des Problems an. Der Gesetzgeber hat die wortgetreue Wiedergabe der Richtlinienvorgabe gewählt, um die ordnungsgemäße Umsetzung sicherzustellen. Vergleicht man den Wortlaut des Art. 4 a der Richtlinie mit der Formulierung des § 69 c Nr. 1 UrhG, so ist festzustellen, daß sich die Vorschriften decken. Das Bemühen des Gesetzgebers um eine richtliniengetreue Umsetzung ist angesichts von Verurteilungen der Bundesrepublik wegen unzureichender Umsetzungsakte gut nachzuvollziehen und soll nicht kritisiert werden. In Anbetracht des denkbaren gemeinschaftsrechtlichen Tadels 547 oder gar etwaiger gemeinschaftsrechtlich bedingter Staatshaftungsansprüche 548 wird der sichere Weg gewählt. 544

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BGHZ 112, 264, 278, näher: Heghmanns in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 25 Rn. 66; Franzheim, CR 1993, 101, 102. Franzheim, CR 1993, 101, 102. Franzheim, CR 1993, 101, 102 f., der als Lösung einen strafrechtlichen Vervielfaltigungsbegriff vorschlägt. Kritisch auch Heghmanns in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 25 Rn. 67. EuGH, Urteil vom 28.2.1991, Rs. C-131/88, Ε 1991,1-825ff. EuGH, Urteil vom 19.11.1991, Rs. C-6/90 und C-9/90, Ε 1991, I-5357ff.; Adamek, EGRichtlinien im Umweltrecht, S. 435ff.; Herdegen, Europarecht, Rn. 232fF.

Ε. Was heißt Richtlinienkonformität

441

Aus strafrechtlicher Sicht kann dieser Weg jedoch schwerwiegende Probleme aufwerfen, wenn sich die umgesetzte Richtlinienvorgabe mit dem Strafrecht verzahnt. Das Urheberstrafrecht kann als Paradebeispiel dafür gelten, daß bei der wortgetreuen Umsetzung die Verknüpfung der jeweiligen Rechtsmaterie mit Strafnormen nicht aus den Augen verloren werden darf. Die Tücke des Auslegungsproblems wird deutlich, wenn es vom Wortlaut des § 106 Abs. 1 U r h G ausgehend Schritt für Schritt entwickelt wird: Danach soll regelmäßig nur die Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Wiedergabe strafrechtlich relevant sein.549 Das Vervielfaltigungsrecht steht nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 U r H G dem Urheber zu und ist grundsätzlich nach § 16 Abs. 1 UrhG zu beurteilen. § 16 Abs. 1 UrhG umschreibt das Vervielfaltigungsrecht als das Recht, Vervielfaltigungsstücke des Werkes herzustellen, gleichviel in welchem Verfahren und in welcher Zahl, also doch zumindest ein Exemplar. Deshalb wird der Begriff der Vervielfältigung im Sinne des § 16 UrhG auch definiert als jede körperliche Festlegung eines Werks, die geeignet ist, das Werk den menschlichen Sinnen auf irgendeine Weise unmittelbar oder mittelbar wahrnehmbar zu machen. 550 Zwar wird grundsätzlich eine irgendwie geartete körperliche Fixierung gefordert, 551 doch diesen Grundsatz durchbricht § 69 c Nr. 1 Satz 1 UrhG. Die Norm nennt neben der dauerhaften auch die ganz oder teilweise vorübergehende Vervielfältigung eines Computerprogramms mit jedem Mittel und in jeder Form. § 69 c Nr. 1 Satz 2 U r h G bezieht auch noch ausdrücklich die Vervielfältigung im Fall des Ladens ein.552 Im Ergebnis wird der Begriff der Vervielfältigung so modifiziert, daß plötzlich auch die bloße Nutzung als Vervielfältigung gilt. Selbst wenn man das Laden des Programms technisch als Vervielfältigung ansehen muß, ist durch § 69 c Nr. 1 U r h G eine im Vergleich zum vorherigen Rechtszustand geradezu aberwitzige Erweiterung des § 106 Abs. 1 UrhG eingetreten. Die Strafnorm gebraucht zwar zur Beschreibung der strafbaren Handlung den Begriff der Vervielfältigung, doch sie erfaßt nach der Umsetzung der Richtlinie auch das Nutzen, weil eine richtlinienbedingt eingefügte Bezugsnorm das Vervielfältigen im Ergebnis so definiert, daß auch Handlungen zu subsumieren sind, die jedermann als ein Nutzen ansehen würde.

549 550

551 552

A. Nordemann in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 26 Rn. 6. Loewenheim in: Schricker, Urheberrecht, § 16 Rn. 6; W. Nordemann: Fromm/Nordemann, Urheberrecht, § 16 Rn. 1, jeweils mwN. Loewenheim in: Schricker, Urheberrecht, § 16 Rn. 6 mit Beispielen. W. Nordemann: Fromm/Nordemann, Urheberrecht, § 16 Rn. 2.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

4. Kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG Anknüpfungspunkt des Auslegungsproblems im nationalen Recht ist also der Begriff des Vervielfaltigens in § 106 UrhG. Bei isolierter Betrachtung des Merkmals dürfte es dem natürlichen Wortsinn widersprechen, unter dieser Tathandlung auch die kurzzeitig nutzungsbedingte, technisch unausweichliche und auch nicht plagiatorische Vervielfältigung zu verstehen. Wortlaut und Wortsinn der Strafnorm legen es nahe, von einer Vervielfältigungshandlung nur dann auszugehen, wenn der Täter einen fortan eigenständig zu verwendendes Plagiat erstellt. So zweifelhaft die Subsumtion von Nutzungsvorgängen bei isolierter Betrachtung der Strafnorm auch ist, liegt sie im Ergebnis aber nicht jenseits der Grenze, die Art. 103 Abs. 2 G G der strafrechtlichen Auslegung zieht. Das Gesetz läßt in § 69 c Abs. 1 Nr. 1 UrhG ausdrücklich temporäre Vervielfältigungen genügen und drückt sich klar aus, wenn es in § 69 c Nr. 1 Satz 2 UrhG das Laden auch noch konkret benennt. Die systemfremde und im Vergleich mit § 16 UrhG widersinnige Regelung ist in sich sogar sehr bestimmt. Damit ist der Gedankengang an den neuralgischen Punkt gelangt, an dem wir uns entscheiden müssen, was Richtlinienkonformität heißt: Wir haben eine Strafnorm (§ 106 UrhG), die sich über ein Merkmal (Vervielfältigung) für eine bestimmte Werksart (Computerprogramme) mit einer wortgetreu umgesetzten Richtlinienvorschrift (§ 69 c UrhG) verzahnt und eine strikte Ausrichtung am Wortlaut der umgesetzten Norm hält sich im Rahmen der verfassungsrechtlich zulässigen Auslegung. Jetzt kommt es entscheidend darauf an, wie man die Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation im Sinne einer Vorzugsregel inhaltlich begreift. Wäre immer nur ein möglichst eng am Wortlaut des Umsetzungsrechts ausgerichtetes Auslegungsergebnis zu wählen, müßte man hier enden und z.B. eine Strafbarkeit der vertragswidrigen Nutzung legal erworbener Software bejahen. a. Analyse des Richtlinientextes Fraglich ist nun, ob der Softwarerichtlinie für diese Auslegungsfrage über Art. 4 a der Richtlinie hinausgehende Entscheidungshilfen zu entnehmen sind. Dazu sind die Erwägungsgründe und Einzelartikel der Richtlinie zu Rate zu ziehen. Aus den Erwägungsgründen ergibt sich kein Argument für eine strafrechtliche Ahndung der vertragswidrigen Nutzung. In den Einzelartikeln finden sich in Art. 7 der Richtlinie die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zur wirkungsvollen Durchsetzung des Programmschutzes. Danach müssen die Mitgliedstaaten gemäß ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften „geeignete Maßnahmen" gegen Rechtsverletzungen vorsehen. Als Rechtsverletzung werden unter anderem das Inverkehrbringen (Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie) und der Besitz einer Programmkopie zu

Ε. Was heißt Richtlinienkonformität

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Erwerbszwecken (Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie) eingestuft, wenn der Handelnde wußte oder G r u n d zu der Annahme hatte, daß es sich um eine unerlaubte Kopie handelt. 553 Der private Besitz einer Raubkopie wird also wie die vertragswidrige Nutzung gerade nicht erfaßt. Die beschriebene Extension des Urheberstrafrechts findet in der Richtlinie keine Rechtfertigung. 554 Man muß es deutlich sagen: Es hat keinerlei gemeinschaftsrechtlichen Ursprung, daß durch die Umsetzung der Richtlinie die vertragswidrige Nutzung einer Software zur Straftat mutiert. b. Das Gleichstellungserfordernis Unabhängig davon könnte sich unter dem Gesichtspunkt des Gleichstellungserfordernisses ein Argument dafür ergeben, die von der Umsetzung betroffenen Softwarerechte auch strafrechtlich zu schützen. Das Gegenteil ist der Fall·. D a das Urheberrecht sonstige Nutzungsvorgänge, also ζ. B. das Lesen eines raubkopierten Buches, nicht schützt, ergibt auch dieser Gedanke kein Argument für eine Strafbarkeit bloßer Nutzungsvorgänge. c. Zwischenergebnis Dem Gemeinschaftsrecht sind zur Lösung des Auslegungsproblems keine Vorgaben zu entnehmen. Die Auslegung des nationalen Strafrechts ist in diesem Fall frei von gemeinschaftsrechtlichen Bindungen. Das Problem ist eine Frucht der Umsetzungsgesetzgebung und ist im nationalen Recht zu lösen. Die Softwarerichtlinie verlangt nicht, das unberechtigte Laden eines Computerprogramms gemäß § 106 U r h G zu bestrafen. d. Konsequenzen aa. Kein sklavischer Gehorsam trotz wortgetreuer Umsetzung Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen. Die allgemein bestehende Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung und die daraus folgende Vorzugsregel müssen gleichsam für die spezifische Auslegungsfrage weiter konkretisiert werden. D a s gilt nach dem soeben erörterten Beispiel selbst dann, wenn eine Richtlinienvorgabe wortgetreu umgesetzt wurde. Ein Gehorsam, der zu einer sklavischen Orientierung an den Richtlinienvorgaben führt, ist nicht hilfreich und nicht gefordert. Die richt-

553 554

Vgl. dazu auch Th. Dreier, CR 1991, 577, 583. Franzheim, CR 1993, 101, 103.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

linienkonforme Interpretation legt sich nicht als diffuser Imperativ über das nationale Recht. Es gilt, die Vorgaben einer Richtlinie für die Lösung von Auslegungsfragen fruchtbar zu machen und sie dort heranzuziehen, wo sie etwas aussagen und bewirken wollen. Ob das der Fall ist, ergibt die Auslegung der gesamten Richtlinie. bb. Keine Richtlinienkonformität als Selbstzweck Die Vorzugsregel hat also nicht zum Inhalt, daß bei Wahrung der von Art. 103 Abs. 2 G G gezogenen Grenzen nur noch ein strikt am Wortlaut der Richtlinie ausgerichtetes Auslegungsergebnis in Betracht kommt. Richtlinienvorgaben müssen nicht vorbehaltlos in das Strafrecht übertragen werden. Die Richtlinienkonformität ist kein Selbstzweck, der davon befreit, über Sinn und Zweck der Strafbarkeit nachzudenken. Die allgemeine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verlangt, die Richtlinie als solche zu beachten und erweitert in diesem Sinne das Material, das der Rechtsanwender bei der Lösung einer Auslegungsfrage zu beachten hat. Die konkrete Pflicht, sich an der Richtlinie im Einzelfall zu orientieren, ist bereits ein Ergebnis der Ausdeutung der Richtlinie. Für den Fall des § 106 UrhG ist eine restriktive Auslegung der Strafnorm auch insoweit möglich, als sie durch richtliniengetreues Umsetzungsrecht ausgefüllt wird. Die Pflicht zur richtlinienkonformen

Interpretation

wird auf diese Weise nicht

verletzt.

Es wird sogar vermieden, daß dem Gemeinschaftsrecht etwas zugerechnet wird, was es nicht bewirken will. Das Gemeinschaftsrecht hat es nicht in der Hand, ob sich das Umsetzungsrecht auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts mit dem Strafrecht strafbegründend verzahnt. Es wäre unzulässig, daraus resultierende strafbarkeitsbegründende Effekte unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung der wissenschaftlichen und auch kriminalpolitischen Diskussion zu entziehen und fortan als unantastbar zu behandeln. Derartige Mutationen des Strafrechts sind nicht vom Gemeinschaftsrecht gewollt und können folglich auch keine gemeinschaftsrechtliche Rechtfertigung erfahren. Ohne die urheberstrafrechtliche Diskussion hier austragen zu wollen, sei doch die Anregung erlaubt, eine teleologische Reduktion des § 106 UrhG in dem Sinne vorzunehmen, daß der Vervielfältigungsbegriff unter strafrechtlichen Gesichtspunkten die dauerhafte Erzeugung eines „zweiten Gegenstandes" im Sinne des § 16 U r h G verlangt. Auf diese Weise wäre es möglich, zumindest die Fälle einer kurzzeitigen, nicht dauerhaften und mit einer Nutzung notwendig einhergehenden Vervielfältigung aus dem Tatbestand des § 106 U r h G zu eliminieren.

Ε. Was heißt Richtlinienkonformität

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III. Exkurs: Die Gefahr einer Extension der Strafnorm ohne kriminalpolitische Willensbildung Die Einwirkung der Softwarerichtlinie auf das Urheberstrafrecht steht für ein ernstes Grundproblem der Verzahnung des Strafrechts mit dem umgesetzten Richtlinienrecht. Es berührt das, was wir mit den Begriffen der ultima ratio-Funktion oder dem fragmentarischen Charakters des Strafrechts umschreiben. Das Problem tritt auf, wenn das Umsetzungsrecht eine bereits vorhandene Verknüpfung von Verhaltens- und Sanktionsnorm inhaltlich modifiziert. Nicht gemeint sind die Fälle, in denen sich der nationale Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung des Richtlinienrechts für einen strafrechtlichen Flankenschutz entscheidet. 555 Vielmehr geht es um eine versteckte Verschiebung des Inhalts der Verhaltensnorm.

1. N o t w e n d i g k e i t kriminalpolitischer Willensbildung Die Diskussion um die Funktion und die Begrenzung des Strafrechts in unserem Rechtssystem ist sehr facettenreich und kaum noch zu überblicken. Im Mittelpunkt stehen der materielle Verbrechensbegriff 556 und der Rechtsgutsbegriff 557 und die Versuche, Kriterien für die Begrenzung des Strafrechts zu finden.558 Die Begriffe vom fragmentarischen Charakter des Strafrechts 559 und der ultima ratio Funktion 560 mahnen den Gesetzgeber, die Notwendigkeit des Einsatzes des Strafrechts zu reflektieren, wenngleich sie über diesen Appell hinaus für die konkret zu treffende Entscheidung über das Ob der Strafbarkeit keinen inhaltlichen Maßstab liefern.561 Die Literatur benennt bei der Suche nach inhaltlichen Orientierungspunkten vor allem die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens,562 dessen Strafwürdigkeit und Straf-

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Beispiele: Geldwäscherichtlinie (§ 261 StGB), Insiderhandelsrichtlinie (§ 38 WpHG). Jescheckl Weigend, AT, § 7 I. Anm. 1; Lampe, Schmitt-FS, S. 77 f.; Roxin, AT, § 2 Rn. 1; Zipf, Kriminalpolitik, S. 106 ff. Siehe nur Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 15 ff. (historische Darstellung), S. 258 ff. (zur Diskussion unter dem Grundgesetz); BaumannlWeberlMitsch, AT, § 3 Rn. lOff.; Hirsch, Bekämpfung neuer Kriminalitätsformen, S. 11, 12ff; Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 13ff. Rn. 9; MaurachlZipf\ AT, Teilband 1, § 19 Rn. 4ff.; Rudolphi, Honig-FS, S. 151 ff. Neuere Zusammenfassung mit umfassenden Nachweisen bei Appel, Verfassung und Strafe, S. 333 ff. Maiwald, Maurach-FS, S. 9 ff. Frisch, Stree/Wessels-FS, S. 69, 85ff„ 95ff. Achenbach, Wirtschaftsdevianz, S. 163; Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 10. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 366ff; Schall, Schutzfunktionen, S. 7 0 f f , 88.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

bedürftigkeit, 563 die Freiheitsvermutung „in dubio pro libertate", 564 die Subsidiarität des Strafrechts im Sinne eines Vorrangs anderer Mittel, 565 die Verhältnismäßigkeit im Sinne einer Erforderlichkeit der Strafe 566 unter Wahrung des Ubermaßverbots. 567 Im einzelnen muß dem nicht nachgegangen werden, weil unser Problem gleichsam in einer Klammer vor diesen Fragen steht. Die Schwierigkeit entsteht in dem Bereich, den die Literatur trotz aller unterschiedlichen Ansichten gemeinsam mit dem Bundesverfassungsgericht als legislatorischen Spielraum des Gesetzgebers respektiert. 568 D e n n unsere Verfassung weist der Volksvertretung die Aufgabe zu, darüber zu befinden, was strafbar sein soll und die so Gesetz gewordene Entscheidung ist grundsätzlich zu akzeptieren.

2. Die kriminalpolitisch unreflektierte Extension der Strafnorm D i e Umsetzung der Softwarerichtlinie zeigt allerdings, wie es zu einer umsetzungsbedingten Extension der Strafnorm ohne einhergehenden Willensbildungsprozeß kommen kann. Franzheim berichtet folgendes: „Auf einer Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft EDV und Recht... habe ich den für den Entwurf zuständigen Referenten des Bundesjustizministeriums bereits auf die bedenkliche Ausweitung des Strafrechtsschutzes ... hingewiesen. Der Referent beschwichtigte mich in der Diskussion mit dem Hinweis, die von mir aufgezeigten Straftaten der Softwarebenutzer würden in der Strafverfolgungspraxis keine Bedeutung haben, weil diese Straftaten nicht auffallen. Zudem habe die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, die Verfahren gemäß § 153 StPO wegen geringer Schuld einzustellen."569 D i e recht eigenwillige Argumentation, die für strafbar erklärten Fälle in der Praxis nach § 153 StPO einstellen zu können, läßt tief blicken: Offenbar wurde im Gesetz-

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Alwart, Strafwürdiges Versuchen, S. 30fF.; JeschecklWeigend, AT, § 7 I. Anm. la; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, S. 174 f. Gentz, NJW 1966, 1600, 1602; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 200f.; ders., Einführung, S. 26 f. Baumannl Weber!Müsch, AT, § 3 Rn. 19; Arth. Kaufmann, Henkel-FS, S. 89, 102. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 173ff.; Lagodny, Das Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 275ff.; K. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 179fT. Achenbach, Wirtschaftsdevianz, S. 147, 164 ff. BVerfGE 27, 18, 30; 37, 104, 118; 43, 291, 347; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 294; Lenckner in: Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 13fT. Rn. 10; C. Roxin, AT, § 2 Rn. 31; Zipf, Kriminalpolitik, S. 106. Franzheim, CR 1993, 101, 102 a. E. rechte Spalte, letzter Absatz.

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gebungsverfahren über die Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit nicht ernsthaft nachgedacht, obwohl die fragwürdige Extension des Anwendungsbereichs des § 106 UrhG erkannt wurde. Gewiß darf man Worten, die in einer Diskussion fallen, kein zu großes Gewicht beimessen. Nachdenklich stimmt jedoch, daß auch die Begründung des Regierungsentwurfs zu dieser Ausdehnung des Strafbaren schweigt.570 Man mag der Meinung sein, die illegale Nutzung einer Software müsse strafrechtlich verfolgt werden. 571 Dann muß aber ein entsprechender kriminalpolitischer Willensbildungsprozeß zumindest im Ansatz erkennbar sein. In alledem könnte man nun einen Beispielsfall für eine Überkriminalisierung erblicken und den Gesetzgeber dafür schelten. Doch dieser Weg wird hier aus zwei Gründen nicht beschritten. Erstens führt er die Sachfragen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht nicht weiter. Zweitens trifft das Schlagwort von der Überkriminalisierung nicht den Kern des Problems, da der Gesetzgeber die vertragswidrige Softwarenutzung offenbar überhaupt nicht kriminalisieren wollte. Der Begriff der Überkriminalisierung unterstellt den legislatorischen Willen zur Kriminalisierung. Gerade das ist im Fall der Softwarerichtlinie zweifelhaft und darin liegt der eigentlich beunruhigende Vorgang. Anstelle des Schlagworts von der Überkriminalisierung liefert der Begriff „Mutation des Strafrechts" eine präzisere Beschreibung, weil ein offenbar unkontrollierter Vorgang abläuft. Der Hinweis auf die Einstellungsmöglichkeit nach § 153 StPO verrät eine gewisse Hilflosigkeit, mit der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung zur exakten Umsetzung einerseits und der Verzahnung des Umsetzungsrechts mit dem Strafrecht andererseits umzugehen. Ein Grund dafür wird in dem zweistufigen Normgebungsverfahren zu suchen sein. Wenn die Gemeinschaft in einer Richtlinie bindende Vorgaben für ein bestimmtes Rechtsgebiet formuliert, dann hat sie nur dieses Rechtsgebiet vor Augen und hinterfragt nicht dessen etwaige Verzahnung mit dem Strafrecht in den Mitgliedstaaten. Diese Aufgabe ergibt sich für die Mitgliedstaaten im Zuge des Umsetzungsverfahrens. Ihre Bewältigung droht aber vernachlässigt zu werden, weil die Richtlinieninhalte keine strafrechtlichen Aussagen treffen und so den Eindruck vermitteln, sie seien nichtstrafrechtlicher Art. Das ist bei isolierter Betrachtung einerseits richtig, doch andererseits trügerisch. Sobald die Umsetzung einer Richtlinie eine strafrechtliche Bezugsnorm umformuliert oder auch nur einen Begriff inhaltlich modifiziert, schlägt der Richtlinieninhalt auf das Strafrecht durch. Das wird in vielen Fällen akzeptabel und auch inhaltlich richtig sein. Allerdings kann es eben auch wie im Fall der Softwarerichtlinie zu einer fragwürdigen Inhaltsänderung kommen.

570 571

BT-Dr. 12/4022, S. 6 ff. Bär, CR 1995, 158, 164.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

3. Die versteckte Verschiebung von Rechtssetzungskompetenzen Weiterhin können durch eine kriminalpolitisch nicht hinterfragte Änderung von strafrechtlichen Bezugsnormen die Rechtssetzungskompetenzen auf strafrechtlichem Gebiet ungewollt verschoben werden. Insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht verkörpert die eigentliche Strafnorm für sich betrachtet oftmals nur eine leere Hülse, die durch Blankette ausgefüllt wird. Erst die außerstrafrechtliche Verhaltensnorm definiert in diesen Fällen die Strafbarkeit einer Handlung. Mit jeder richtlinienbedingten Änderung einer Verhaltensnorm ändert sich auch das Strafrecht. Der nationale Gesetzgeber muß aber darüber entscheiden, ob es mit den außerstrafrechtlichen Rechtsfolgen öffentlich- oder zivilrechtlicher Natur sein Bewenden haben kann. Ist er der Meinung, diese Rechtsfolgen genügten nicht, so steht er vor der Frage, ob der Verbotsverstoß so schwer wiegt, daß er der Bekämpfung als Straftat bedarf oder ob er als Ordnungswidrigkeit geahndet werden soll. Entscheidet er sich für eine dieser Möglichkeiten, entsteht ein umfassender Regelungsbedarf. Für den Fall der strafrechtlichen Verfolgung hat er über zahlreiche Punkte wie die Formulierung eines Strafrahmens zu entscheiden. Beim Erfolgsdelikt in Gestalt eines Vergehens wird zu prüfen sein, wie es um eine Versuchsstrafbarkeit steht, während bei abstrakten Gefahrdungsdelikten zu erwägen sein kann, ob die Vorverlagerung des Vollendungszeitpunktes durch eine Regelung der tätigen Reue korrigiert wird. Ist der außerstrafrechtliche Tatbestand weit gespannt, kann seine Ergänzung durch Merkmale wie das der Gewerbsmäßigkeit sinnvoll sein. Deshalb ist an den Gesetzgeber und die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Ministerien zu appellieren, im Zuge der Umsetzung einer Richtlinie etwa vorhandene Verzahnungen mit dem Strafrecht nicht aus den Augen zu verlieren. Soweit eine Richtlinie eine Verhaltensnorm modifiziert, ist zu prüfen, ob und inwieweit die daran anknüpfende Sanktionsnorm geändert werden soll. Der Gesetzgeber muß eine sachgerechte Anpassung vornehmen und sich der bei ihm verbliebenen Gesetzgebungskompetenz und der daraus folgenden Verantwortung auf strafrechtlichem Gebiet bewußt sein. In gewisser Weise läßt sich eine Parallele zur Verweisung auf die EG-Verordnung ziehen: Der Gesetzgeber muß im Lichte der gespaltenen Kompetenzlage ein Problembewußtsein entwickeln, wie es von der Literatur 572 und der Rechtsprechung bei der Verweisung von Blankettstrafgesetzen auf EG-Verordnungen an den Tag gelegt wurde.573

572 573

Krey, EWR 1981, 109 ff. BGHSt 27, 181, 182, ausführlich oben 2. Hauptteil C.

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Es mag den Leser ermüden, aber man muß das Kompetenzthema immer wieder ansprechen. Wenn Teile der Literatur offenbar meinen, mit einem allgemeinen Hinweis auf die fehlende Strafrechtssetzungskompetenz könne es sein Bewenden haben, dann ist das eine trügerische Sichtweise, weil die Kompetenzaufteilung im Zusammenspiel von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht immer wieder gefährdet wird. Die Umsetzung der Softwarerichtlinie zeigt deutlich, wie sich eine Extension des Strafbaren durch die Hintertür einschleichen kann. Sollten sich Ungereimtheiten wie im Urheberstrafrecht etablieren, besteht die Gefahr einer rechtsgebietsspezifischen Spaltung der Auslegung von Verhaltens- und Sanktionsnorm. Am Ende einer solchen Entwicklung steht die bereits am Beispiel des Kartellordnungswidrigkeitenrechts problematisierte Normspaltung, die es grundsätzlich zu vermeiden gilt.

IV. Kein Automatismus einer richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht Was für die Gesetzgebung gilt, muß auch in die Auslegung von strafrechtlichen Normen einfließen, bei denen der Gesetzgeber einen aus sich heraus lesbaren und nicht verweisenden Straftatbestand geschaffen hat. Die Verbindung zum Gemeinschaftsrecht entsteht indirekt durch auslegungsbedürftige Begriffe wie den des „Abfalls" in § 326 StGB. Soweit der Gesetzgeber einen kompletten und sich mit dem Leben entwickelnden Straftatbestand formuliert, legt er im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen die Entscheidung darüber, ob realiter auftretende Handlungen unter die N o r m zu subsumieren sind, in die Hände von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. Eine devote Haltung gegenüber Richtlinienvorgaben könnte die damit vom Gesetz gewollte Reflexion und Diskussion im Keim ersticken. Wollte man eine imperative Wirkung jeglicher Richtlinienvorgaben bejahen, so würde die Intention des Gesetzes gefährdet. Denn der Wille des Gesetzgebers, in die Interpretation eines auslegungsbedürftigen Begriffs - im Lichte des sozialen Wandels unter Beachtung der ultima ratio Funktion des Strafrechts - auch kritische und abwägende Gedanken einfließen zu lassen, würde unterlaufen, wenn es nicht mehr erlaubt wäre, das O b und Wie der Strafbarkeit zu reflektieren. Bei den indirekt an außerstrafrechtliche Regelungen anknüpfenden Tatbeständen droht eine Wucherung des Strafbaren, wenn die Feststellung, daß eine Richtlinie eine Handlung in den Mitgliedstaaten zukünftig als Normverstoß eingestuft wissen will, sogleich die Bejahung eines Straftatbestandsmerkmals bedingt.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

Es widerspricht der Stellung des Strafrechts in unserem Rechtssystem, jeden außerstrafrechtlichen Normverstoß sogleich als straftatbestandsmäßig einzustufen. Also widerspricht es auch unserem Rechtssystem, eine Auslegungsregel einzuführen, die zur automatischen Bejahung eines Merkmals führt. Die Annahme einer imperativen Wirkung von Richtlinienvorgaben für das Strafrecht führt jedoch diese Gleichsetzung ein.

V. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte Die vorhergehenden Gedanken sollen nicht den Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts aus strafrechtlicher Sicht erschüttern. Mit ihnen wird auch keine dem Gemeinschaftsrecht gegenüber unfreundliche Haltung eingenommen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Gerichtshof wird nicht müde, immer wieder die Grenzen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und der richtlinienkonformen Auslegung für das Strafrecht besonders hervorzuheben 574 und verlangt keine blinde Gefolgschaft gegenüber Richtlinienvorgaben. Die Gemeinschaft will bei der Harmonisierung eines Rechtsgebiets, das innerstaatlich einen Bezug zum Strafrecht aufweist, regelmäßig keine strafrechtlich relevanten Aussagen treffen. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts ist es oftmals der pure Zufall, ob sich die jeweilige Materie in einem der Mitgliedstaaten mit dem Strafrecht verzahnt. Aber auch in den Fällen, in denen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht diese Verzahnung erkennbar ist, geht mit diesen Richtlinienvorgaben kein Wille einher, den strafrechtlichen Kontext bindend zu gestalten. Es liegt auch nicht im Interesse des Gemeinschaftsrechts, daß ihm Ungereimtheiten wie im Fall der Umsetzung der Softwarerichtlinie zugerechnet werden könnten. Es bleibt zu hoffen, daß ein deutsches Strafgericht dieses Auslegungsproblem dem Europäischen Gerichtshof vorlegen und fragen wird, ob eine restriktive Interpretation des § 106 UrhG, die Nutzungsvorgänge trotz technisch bedingter Vervielfältigung ausnimmt, gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt. Der Gerichtshof dürfte passende Worte finden, anhand derer deutlich wird, wo die gesetzgeberische Verantwortlichkeit in einem solchen Fall zu suchen ist.

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EuGH, Urteil vom 11.6.1987, Rs. 14/86, Ε 1987, 2545, 2570; EuGH, Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, Ε 1987, 3969, 3985f.; EuGH, Urteil vom 26.9.1996, Rs. C-168/95, Ε 1996,1-4705, 4729f.; EuGH, Urteil vom 12.12.1996, Rs. C-74/95 und C-129/95, Ε 1996,1-6609, 6637.

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VI. Zwischenergebnis Nach alledem nimmt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung das Strafrecht nicht aus. Sie verkörpert eine Vorzugsregel, nach der unter zwei oder mehreren Möglichkeiten der Interpretation einer nationalen Strafnorm diejenige zu wählen ist, die am besten mit der EG-Richtlinie vereinbart werden kann. Diese Pflicht entspringt keinem Automatismus, sondern ist im Einzelfall festzustellen. Die Vorzugsregel verkörpert im Strafrecht also keinen starren Auslegungsgrundsatz.

VII. Lösungsvorschlag: Das mehrphasige Auslegungsmodell Nach den bisherigen Ergebnissen genügt es nicht, innerstaatlich allein auf die Auslegungsfahigkeit der Strafnorm abzustellen. Dieses Raster ist zu grob. Der mögliche Wortsinn umschreibt zwar die Grenze der Auslegung, verkörpert aber keine Rechtsregel, nach der sich an dieser Linie die jeweils richtigen Auslegungsergebnisse aufreihen. D a auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht wenig für eine gedankenlose Rezeption von Richtlinienvorgaben spricht, muß eine Lösung gesucht werden, die dieses Spannungsfeld auflöst und zu sinnvollen Auslegungsresultaten führt. Dazu ist es erforderlich, die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht nicht mehr nur von den Extremen her zu definieren, sondern als einen methodisch unterlegten, ganzheitlichen Vorgang aufzufassen. Dem dient der folgende Lösungsvorschlag, der den Auslegungsvorgang in unterschiedliche, aber miteinander kommunizierende Phasen unterteilt.

1. Die erste Phase: Auslegung des nationalen Rechts Die erste Phase wurde in dieser Arbeit bereits hinreichend diskutiert: Der Auslegungsvorgang beginnt mit der Fixierung des im nationalen Recht vorhandenen Interpretationsspielraums. Es gelten die von Art. 103 Abs. 2 G G festgelegten Auslegungsgrenzen, also insbesondere das strafrechtliche Analogieverbot.

2. Die zweite Phase: Auslegung der Richtlinie Auch die zweite Phase bewegt sich im Rahmen der allgemeinen Grundsätze der richtlinienkonformen Auslegung: Es folgt die Auslegung der Richtlinie nach der geschilderten Auslegungsmethodik unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

3. Die dritte Phase: Teleologische Gesamtschau von nationalem Strafrecht und Gemeinschaftsrecht In einer dritten Phase werden diese Auslegungsergebnisse einer teleologischen Gesamtschau unterworfen. Dieser Auslegungsschritt bietet die Chance, nach dem Sinn und Zweck der Strafnorm, der Richtlinie und ihres Zusammenspiels zu fragen. Auf diese Weise gelingt es, einen nach den ersten beiden Prüfungsstufen denkbaren Einfluß der Richtlinienvorgaben teleologisch zu reflektieren. So kann eine nach dem Wortlaut mögliche, aber inhaltlich nicht sinnvolle Extension der Strafnorm vermieden werden. Die teleologische Gesamtschau bietet nicht nur allgemein die Möglichkeit, den ultima ratio Gedanken im Strafrecht zu wahren. Vielmehr können die Richtlinienvorgaben aus der konkreten strafrechtsspezifischen Fragestellung heraus gewürdigt werden. Es kommt zu keiner blinden Rezeption der Richtlinie, sondern es kann das gemeinschaftsrechtliche Interesse am mitgliedstaatlichen Strafrechtsschutz im Sinne eines Miteinanders der Rechtsordnungen geprüft werden. In gewisser Weise vereinigen sich an dieser Stelle die Ebenen des nationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts mit dem Ziel, eine nach beiden Rechtsordnungen tragfähige Antwort auf die konkrete Auslegungsfrage zu formulieren. Ein weiteres Argument stützt diesen Auslegungsmodell: Es führt einen Prüfungsschritt ein, der auf die gespaltene Kompetenzlage eingeht. Dieser neuralgische Punkt in der Verzahnung des Strafrechts mit dem Gemeinschaftsrecht kann offen thematisiert und Gegenstand juristischer Argumentation werden. Eine nur zweistufige Auslegung überwindet diesen Konflikt nicht, denn sie verharrt in einem Denken, das sich innerstaatlich auf die Grenzen der Auslegung nach Art. 103 Abs. 2 G G konzentriert und dem Gemeinschaftsrecht inzident unterstellt, es wolle immer bis an diese Grenzen gehen. Das Strafrecht benötigt einen Prüfungspunkt, an dem überlegt werden kann, wie mit den originär öffentlichen-rechtlichen oder zivilrechtlichen Richtlinienvorgaben im Strafrecht umzugehen ist. Denn in den Bereichen des öffentlichen Rechts oder des Zivilrechts, auf die das jeweilige Harmonisierungsvorhaben zielt, bewegt sich die Gemeinschaft grundsätzlich in den Grenzen der ihr anvertrauten Kompetenzen. Im Strafrecht ist das nicht der Fall und deshalb müssen wir die Auslegungsmethodik der richtlinienkonformen Auslegung ergänzen. Eine nur zweistufige richtlinienkonforme Auslegung zwingt uns einen Automatismus auf, der aus der Sicht beider Rechtsordnungen nicht weiterführt. Die kompetenzrechtlich begründete Sprachlosigkeit zwischen dem Strafrecht und dem Gemeinschaftsrecht wird überwunden, indem sich der Rechtsanwender den Normen beider Rechtsordnungen zuwendet und nicht nur isoliert voneinander

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prüft, sondern die gewonnenen Ergebnisse in einem letzten Schritt gleichsam miteinander kommunizieren läßt. Der mögliche Wortsinn eröffnet dann zunächst einmal eine nur mögliche Auslegung der Strafnorm im Sinne einer Offenheit für das Gemeinschaftsrecht. Ob die Richtlinieninhalte im Ergebnis tatsächlich auf die Auslegung durchschlagen, ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Richtlinie und der Strafnorm. Genau das ist gefordert, wenn die Gefahr besteht, daß dem Gemeinschaftsrecht etwas zugerechnet wird, was es nicht bewirken will und im nationalen Recht eine fragwürdig anmutende Extension des Strafbaren droht.

VIII. Zum Inhalt der Vorzugsregel Die Terminologie von der „Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung" ist im Strafrecht mithin nicht ganz glücklich, weil sie die unentbehrliche Reflexion des Richtlinieneinflusses nicht deutlich werden läßt. Wenn wir von einer Pflicht zur Richtlinienkonformität sprechen, unterstellen wir damit konkludent nur zu leicht einen gemeinschaftsrechtlich unbedingt geforderten Gehorsam. Hinter der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verbirgt sich jedoch keine gemeinschaftsrechtliche „vis compulsiva", die uns ein Auslegungsergebnis aufzwingt. Wenn wir die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung also prinzipiell anerkennen und inhaltlich als Vorzugsregel verstehen, nach der unter zwei oder mehreren Möglichkeiten der Interpretation einer nationalen Strafnorm diejenige zu wählen ist, die am besten mit der EG-Richtlinie vereinbart werden kann, dann können wir diese Aussage jetzt noch weiter präzisieren: EG-Richtlinien kann von vornherein kein bindender Aussagegehalt für strafrechtliche Auslegungsprobleme unterstellt werden. Wir müssen diese Aussagekraft vielmehr jeweils ermitteln. Aus methodischer Sicht betrachtet: Wir prüfen an dieser Stelle, ob sich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung inhaltlich so verdichtet, daß sie die Vorzugsregel auslöst und das Ergebnis der Auslegung bestimmt.

1. Die Vorzugsregel am Beispiel des Insiderrstrafrechts Das Insiderrecht bietet Beispielsfalle, in denen sich die allgemeine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung konkretisiert und die Vorzugsregel auslöst. Das Insiderstrafrecht ist mit dem eigentlichen Insiderrecht eng verwoben, da der Straftatbestand des § 38 WpHG aus sich heraus keine Auskunft über die mit Strafe bewehrten Verstöße gibt. Will der Leser das Verbotene erfassen, so wird er auf eine

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme A u s l e g u n g i m Strafrecht

Reise quer durch das Wertpapierhandelsgesetz geschickt. 575 Unter dem Gesichtspunkt der richtlinienkonformen Auslegung bedarf es keiner umfassenden Darstellung dieser Materie, sondern es genügt als Einstieg die nachfolgende Zusammenfassung: Der Straftatbestand besagt in § 38 Abs. 1 Nr. 1-3 WpHG, daß derjenige zu bestrafen ist, der den in § 14 Abs. 1 Nr. 1-3 und Abs. 2 W p H G aufgestellten Verboten zuwiderhandelt. Aus dem Kreis dieser Verbote soll hier nur der klassische Fall des Transaktionsverbots herausgegriffen werden. a. Das Transaktionsverbot nach deutschem Recht Dieses Verbot gilt nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 W p H G und § 14 Abs. 2 W p H G gleichermaßen für Primär- und Sekundärinsider. Ihnen ist es nicht gestattet, unter Ausnutzung der Kenntnis von einer Insidertatsache Insiderpapiere für eigene oder fremde Rechnung oder für einen anderen zu erwerben oder zu veräußern. Was eine Insidertatsache ist, definiert § 13 Abs. 1 W p H G inzident im Zuge der Umschreibung des Insiderbegriffs. Insider ist danach, wer als eine der in § 13 Abs. 1 Nr. 1-3 W p H G umschriebenen Personen, also ζ. B. als Vorstand der börsennotierten Aktiengesellschaft, „Kenntnis von einer nicht öffentlich bekannten Tatsache hat, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf Insiderpapiere bezieht und die geeignet ist, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Kurs der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen (Insidertatsache)". 576 b. Zwei Beispiele für eine richtlinienkonforme Auslegung Die Weite des Tatbestandes führt zu einigen Auslegungsproblemen, die ein einfaches Beispiel veranschaulicht: Der vermögende Anleger Α faßt den Entschluß, sich an einer kleineren, börsennotierten Gesellschaft zu beteiligen. Er erteilt seiner 575 576

Überblick bei CA. Schröder in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 24 III. Hierzu sei eine Anmerkung erlaubt: Straftatbestände sollten klar und - wenn möglich - einfach formuliert werden. D a s Insiderstrafrecht bildet ein Gegenbeispiel: Der die zahlreichen Vorschriften aus strafrechtlicher Sicht musternde Leser reibt sich am Ende der Lektüre der zahlreichen N o r m e n verwundert die müden Augen. Hat er den Faden von der Strafnorm des § 38 W p H G her aufgewickelt und die Odyssee durch das Wertpapierhandelsgesetz hinter sich gebracht, stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Gesetzgebungstechnik. Hinsichtlich des Transaktionsverbots mündet das Delta der N o r m e n in der schlichten Erkenntnis: Es ist jedermann bei Strafe untersagt, in Kenntnis einer Insidertatsache eine diese ausnutzende Transaktion zu tätigen. Weniger ist manchmal mehr. Ein in sich lesbarer Grundtatbestand wie „Wer seine Kenntnis von einer Insidertatsache zu einem Kauf oder Verkauf von Insiderpapieren für sich oder einen Dritten ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe ... bestraft" wäre ungleich verständlicher und klarer gewesen. Ein solcher Satz enthält eine klare Aussage und erzeugt eine Appellwirkung, die sich beim unbefangenen Lesen des § 38 W p H G nicht einstellt.

Ε. Was heißt Richtlinienkonformität

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Bank den Auftrag, über mehrere Tage auch zu stark steigenden Kursen eine große Anzahl an Aktien zu erwerben. Der Börsenhändler Β führt die Kauforder des A aus, die auch tatsächlich zu erheblich steigenden Kursen führt. 577 Der Kaufentschluß und die Kauforder stellen jeweils eine nicht öffentlich bekannte Tatsache dar, die geeignet ist, den Kurs der Aktie erheblich zu beeinflussen. Nach dem Wortlaut des § 14 W p H G könnte es Α und Β somit verboten sein, die Aktien für eigene bzw. fremde Rechnung zu kaufen. Im Ergebnis liegt in beiden Fällen jedoch keine Insiderstraftat vor. Die Tathandlung des Α stellt einen Unterfall der Fallgruppe dar, in der schon die Entscheidung zum Kauf oder Verkauf eines Insiderpapiers als Insidertatsache zu werten ist.578 Wenn sich etwa ein Anleger von einem großen Aktienpaket trennen will und anfangs nur vorsichtig verkauft, um zunächst noch gute Kurse zu bekommen, dann hat er gegenüber dem Käufer dieser ersten Tranchen ein klaren Wissensvorsprung. Denn der Verkäufer weiß um seine noch folgenden Verkäufe und handelt in dem Wissen fallender Kurse, während der Käufer von dem Geschäft Abstand nehmen und noch warten würde, wenn er um die noch folgenden Verkäufe wüßte. Dieser Fallgruppe widmet sich der elfte Erwägungsgrund der Insiderhandelsrichtlinie. Dort heißt es: „Da dem Erwerb oder der Veräußerung von Wertpapieren stets eine entsprechende Entscheidung der Person vorausgehen muß, die eines der beiden Geschäfte tätigt, stellt die Tatsache dieses Erwerbs oder dieser Veräußerung nicht als solche eine Verwendung einer Insider-Information dar."

Auch der Börsenhändler Β handelt in Kenntnis einer Insidertatsache, wenn er die Käufe tätigt. Auch diese Fallgruppe will die Insiderhandelsrichtlinie nicht erfaßt wissen und sagt dazu im zwölften Erwägungsgrund: „Ein Insider-Geschäft setzt voraus, daß eine Insider-Information ausgenutzt wird; der Umstand, daß ein Marktmacher oder eine Stelle, die befugt, als ,contrepartie' zu handeln, oder ein Börsenbroker zwar über eine Insider-Information verfügen, die beiden ersteren aber lediglich ihre normale Tätigkeit des An- und Verkaufs von Wertpapieren ausüben bzw. letzterer einen Auftrag ausführt, kann daher nicht schon als solcher als Ausnutzung einer dieser Insider-Information gewertet werden."

577

578

Bei kleineren Aktiengesellschaften, deren Grundkapital zum überwiegenden Teil auch noch in festen Händen liegt, können derartige Käufe zu stark steigenden Kursen führen, da der Nachfrage oftmals nur ein geringes Angebot gegenübersteht. Man spricht in diesen Fällen von einem sogenannten „engen Markt". AssmannlCramer in: Assmann/Schneider, WpHG, § 13 Rn. 36, § 14 Rn. 30.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

2. Der Verbindlichkeitsgrad der Richtlinienvorgaben für die strafrechtliche Auslegung In den genannten Beispielsfällen kommt nur noch ein richtlinienkonformes Auslegungsergebnis in Betracht. Die Erwägungsgründe bringen deutlich zum Ausdruck, daß derjenige, dessen Kauf- oder Verkaufentscheidung eine Insidertatsache darstellt, diesen Entschluß gleichwohl umsetzen darf.579 Bei dem Börsenhändler Β liegt nach den Erwägungsgründen kein Fall des Ausnutzens vor, da er lediglich die kurstreibende Order ausführt 580 und seine positive Kenntnis von der Orderlage nicht für anderweitige Geschäfte nutzt.581 Hopt hat diese Vorgaben der Richtlinie bereits vor der Umsetzung der Insiderhandelsrichtlinie anschaulich als Auslegungsregeln bezeichnet.582 Die Verbindlichkeit der Richtlinienvorgaben für das Strafrecht hat folgenden Grund: Der Gesetzgeber hat die strafrechtliche Norm des § 38 WpHG anläßlich der Umsetzung der Richtlinie geschaffen. Die Strafnorm knüpft dabei unmittelbar an außerstrafrechtliche Verhaltensnormen an, die ihren Ursprung in der Richtlinie finden. Die verbindliche Vorgabe dieser Verhaltensnormen für die Mitgliedstaaten, hier in Gestalt des Insiderrechts, liegt in der Kompetenz der Gemeinschaft. Das Strafrecht hat daran teil, weil es an dieses Umsetzungsrecht anknüpft. In diesen Fällen könnte man auch von einer imperativen Wirkung der Richtlinienvorgaben sprechen. Deren Verbindlichkeit für das Strafrecht folgt aber nicht aus einer Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft, sondern aus der unmittelbaren Verbindung des Umsetzungsrechts mit dem Strafrecht. Der innerstaatliche Strafgesetzgeber ist es, der die Sanktionsnorm kraft der ihm verbliebenen Kompetenz mit dem Umsetzungsrecht verbindet. Bei einer derart engen Verknüpfung spricht alles für eine einheitliche Auslegung von Verhaltens- und Sanktionsnorm, und deshalb schlägt die Auslegung der Richtlinie auf das Strafrecht durch.

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Siehe Hopt in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, § 107 Rn. 60; Schröder in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 24 III Rn. 32. Ob etwas anderes gilt, wenn die Käufe einen nach § 21 Abs. 1 WpHG mitteilungspflichtigen Umfang erreichen, kann hier dahinstehen, im einzelnen str., dazu AssmannlCramer in: Assmann/Schneider, WpHG, § 14 Rn. 31 f. mwN. 580 v g l Assmannl Cramer in: Assmann/Schneider, WpHG, § 14 Rn. 36; Hopt in: Schimansky/ Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, § 107 Rn. 63; Lücker, Mißbrauch von Insiderinformationen, S. 99; Schröder in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch, § 2 4 III Rn. 31. 581

582

Beispiel für einen Fall des Ausnutzens: In Kenntnis der Orderlage erwirbt der Händler für sich Optionen, die zum Kauf der Aktie berechtigen. Hopt, Beusch-FS, S. 393, 405.

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Man könnte erwägen, bei einer so engen Verknüpfung des Strafrechts mit dem Umsetzungsrecht auf die dritte Auslegungsstufe im Sinne einer teleologischen Gesamtschau ganz zu verzichten. Dafür spricht, daß sich die Zielrichtung der Richtlinie mit der des Umsetzungsrechts regelmäßig deckt. Da die teleologische Auslegung der Richtlinie bereits auf der zweiten Auslegungsstufe erfolgt, erscheint die teleologische Gesamtschau gewissermaßen als überflüssig. Indes sollte auf diesen Auslegungsschritt nicht verzichtet werden. Freilich werden sich bei einer vollständigen Kongruenz des Richtlinienrechts mit dem Umsetzungsrecht oftmals keine neuen Erkenntnisse ergeben. Allerdings mahnt uns die dritte Auslegungsstufe eben diese Übereinstimmung des Umsetzungsrechts mit der Richtlinie zu überprüfen. Das ist notwendig, weil der innerstaatliche Gesetzgeber es nicht bei der Verknüpfung der Sanktionsnorm und richtliniengetreuer Verhaltensnorm belassen muß. Er kann die Sanktionsnorm aufgrund seiner Strafrechtssetzungskompetenz mit weiteren Merkmalen versehen haben. Auch wenn die Sanktionsnorm auf eine gemäß der Richtlinie umgesetzte Verhaltensnorm verweist, kann sie mit einem weiteren Merkmal wie dem der Gewerbsmäßigkeit versehen worden sein. Der innerstaatliche Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, daß der schlichte Normverstoß für die Strafbarkeit nicht ausreichen soll. Darauf müssen wir methodisch eingehen. Freilich ermitteln wir auf der ersten Auslegungsstufe auch die Wortlautgrenzen dieses zusätzlichen Merkmals, aber auch hier impliziert die äußerste Grenze nicht das richtige Auslegungsresultat. Wenn der innerstaatliche Gesetzgeber zusätzliche Merkmale in die Sanktionsnorm einfügt, dann kann er damit eine Aussage treffen, die in der teleologischen Gesamtschau zu berücksichtigen ist. Die dritte Auslegungsstufe führt einen Mechanismus ein, der uns immer wieder eine kritische Reflexion abringt. Das Beispiel der Softwarerichtlinie hat zudem gezeigt, daß es selbst bei einer engen Verbindung der Strafnorm mit dem Umsetzungsrecht notwendig sein kann, die nach dem Wortlaut mögliche Extension des Anwendungsbereichs der nationalen Strafnorm nicht zuzulassen.

3. Die Vorzugsregel am Beispiel des JahresabschlußbegrifFs des § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB Indes genügt es nicht, die Vorzugsregel allein anhand des Insiderrechts zu erproben, weil die Aussagen der Insiderhandelsrichtlinie vergleichsweise eindeutig sind. Bei derart klaren Vorgaben lösen sich die geschilderten Auslegungsprobleme mit beinahe schon mathematischer Stringenz. Deshalb müssen wir unser Lösungsmodell noch anhand eines weiteren Beispiels hinterfragen, zu dem möglichst gegensätzliche Ansichten vertreten werden und auch widerstreitende Ergebnisse am Ende des Auslegungsvorgangs stehen. Ein solches Problem enthält § 331 HGB.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

a. Das innerstaatliche Auslegungsproblem § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B droht den dort genannten Organvertretern der Kapitalgesellschaft eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe an, wenn sie Verhältnisse der Gesellschaft im Jahresabschluß unrichtig wiedergeben oder verschleiern. F ü r das Strafrecht ergibt sich aus den weiteren Vorschriften des Handelsgesetzbuches ein Auslegungsproblem. Dieses erschließt sich aus der Lektüre des § 264 Abs. 1 Nr. 1 HGB. 583 Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Jahresabschluß" ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob der Anhang dazugehört oder nicht. Wer im Wirtschaftsleben steht, wird diese Problemstellung mit einem Kopfschütteln quittieren, da der Anhang den Jahresabschluß oftmals erst mit Leben erfüllt. Ihm sind wichtige, für das Verständnis des Jahresabschlusses mitunter unerläßliche Informationen zu entnehmen. 584 Gerade durch die Verletzung der für den Anhang bestehenden Aufklärungspflichten kann ein irreführender Eindruck erweckt werden. Die aus strafrechtlicher Sicht bestehende Unsicherheit zeigt sich jedoch, wenn man systematisch prüft und vom Wortlaut des § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B ausgeht. Dort ist das Merkmal „Jahresabschluß" der Kapitalgesellschaft auszulegen und zu subsumieren. In der einschlägigen Vorschrift des § 264 Abs. 1 H G B findet sich der Begriff „Jahresabschluß" wieder, wobei das Gesetz durch einen Klammerzusatz auf § 242 H G B verweist, wo aber in der Legaldefinition des § 242 Abs. 3 H G B ein Anhang nicht genannt wird. Der unbefangene Leser steht nach einer Betrachtung des nationalen Rechts mithin vor zwei Auslegungsmöglichkeiten: Er kann auf § 264 Abs. 1 Satz 1 H G B abstellen, wonach der Anhang mit dem Jahresabschluß eine Einheit bildet. Es ist jedoch auch eine Deutung möglich, nach der es für § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B nur auf Manipulationen in den von § 242 Abs. 3 H G B legal definierten Teilen des Jahresabschlusses ankommt. b. Die richtlinienkonforme Auslegung des Merkmals Schüppen hat zur Klärung dieser Frage die richtlinienkonforme Auslegung bemüht. Er stellt auf Art. 2 Abs. 1 der vierten EG-Bilanzrichtlinie ab, 585 wo der Jahresabschluß als aus Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung und Anhang bestehend 581

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Die Vorschrift lautet: „Die gesetzlichen Vertreter einer Kapitalgesellschaft haben den Jahresabschluß (§ 242) um einen Anhang zu erweitern, der mit der Bilanz und der Gewinnund Verlustrechnung eine Einheit bildet, sowie einen Lagebericht aufzustellen." Zutreffend: K. Tiedemann in: Scholz, G m b H G , Vor §§ 82 ff. Rn. 70. Siehe nur § 265 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 HGB, die Erläuterungen verlangen, wenn einzelne Posten mit dem Vorjahr nicht vergleichbar sind oder Vorjahresbeträge angepaßt werden. Schüppen, Bilanzstrafrecht, S. 197.

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definiert wird. 586 Nach Schuppen löst sich das strafrechtliche Auslegungsproblem hierdurch in dem Sinne, daß der Anhang als Teil des Jahresabschlusses anzusehen ist. 587 Die Gegenmeinung hält eine richtlinienkonforme Auslegung für unzulässig. Entscheidend sei die Definition in § 242 Abs. 3 HGB. Nach dieser Ansicht wäre durch die Einbeziehung des Anhangs in den strafrechtlichen Schutz des § 331 Nr. 1 H G B die Wortlautgrenze überschritten. 588 U m das Auslegungsproblem methodisch zu lösen, bedarf es nach der hier vertretenen Auffassung zunächst der Auslegung des nationalen Rechts. aa. Auslegungsfahigkeit des nationalen Rechts Das nationale Recht müßte auslegungsfähig sein. Diese Voraussetzung liegt vor, denn § 264 Abs. 1 Satz 1 H G B eröffnet einen Auslegungsspielraum, weil die N o r m zwar auf § 242 Abs. 3 H G B verweist, jedoch sogleich im folgenden Halbsatz festlegt, daß der in § 242 Abs. 3 H G B umschriebene Jahresabschluß um einen Anhang zu erweitern ist. Nach dieser Vorschrift bilden der Jahresabschluß im Sinne der engen Legaldefinition und der Anhang eine Einheit. Sie sind im Sinne dieser N o r m mithin ein Ganzes. Diese Tatbestandsfassung trägt von Anfang an eine Mehrdeutigkeit in sich. Auch ohne Berücksichtigung der Richtlinie läßt § 264 Abs. 1 Satz 1 H G B die Deutung zu, daß der Jahresabschluß der Kapitalgesellschaft mehr als den in § 242 Abs. 3 H G B geforderten Umfang hat. Das nationale Recht ist mithin auslegungsfahig. bb. Auslegung der Richtlinie Nach der Richtlinie ist die Definition des Jahresabschlusses eindeutig, weil Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie eine „und-Verknüpfung" enthält und damit klarstellt, daß der Anhang zum Jahresabschluß gehört. Die für eine teleologische Deutung wichtige Zielrichtung der Richtlinie wurde bereits dargelegt: 589 Das Harmonisierungsvorhaben beruht auf ex-Art. 54 Abs. 3 lit. g EGV und dient dem Schutz von Gesellschaftern und Dritten vor Manipulationen des Jahresabschlusses.

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Art. 2 Abs. 1 lautet: „Der Jahresabschluß besteht aus der Bilanz, der Gewinn- und Verlustrechnung und dem Anhang zum Jahresabschluß. Diese Unterlagen bilden eine Einheit". Im Ergebnis ebenso K. Tiedemann in: Scholz, GmbHG, Vor §§ 82 ff. Rn. 70 und Otto in: Heymann, HGB, §331 Rn. 19. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 175 f. Siehe oben 5.Hauptteil D. V. 2. b.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

cc. Teleologische Gesamtschau § 331 H G B geht auf das Bilanzrichtliniengesetz zurück, 590 knüpft also an das harmonisierte Rechtsgebiet an und bewehrt entsprechende Tathandlungen mit Strafe. Richtlinie und Strafnorm weisen mithin die gleiche Schutzrichtung auf und wollen beide vor Manipulationen von Jahresabschlüssen schützen. Eine enge Interpretation des Jahresabschlussbegriffes verfehlt die Intention der Richtlinie, weil es danach einen Jahresabschluß der Kapitalgesellschaft nur mit Anhang gibt. In diesem Fall verdient mithin ein an der Richtlinie ausgerichtetes Auslegungsergebnis den Vorzug. 591 Entgegen der Ansicht von Heise592 überschreitet diese Auslegung die Wortlautgrenze nicht. § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B verweist j a nicht auf § 242 Abs. 3 HGB. Der Leser muß das Gesetz systematisch auslegen, um den Sinngehalt des Merkmals Jahresabschluß zu erschließen. Im Verlauf der systematischen Auslegung ergibt sich sodann die beschriebene Mehrdeutigkeit des Gesetzes. Im Sinne unserer Vorzugsregel ergeben sich für den Rechtsanwender zwei denkbare Auslegungsmöglichkeiten. Freilich verweist § 264 Abs. 1 Satz 1 H G B auf § 242 Abs. 3 HGB, doch das Gesetz verfügt im folgenden Halbsatz, den Jahresabschluß im Sinne des § 242 Abs. 3 H G B um einen Anhang zu erweitern. Wenn Jahresabschluß und Anhang im Sinne der N o r m auch noch eine Einheit bilden, dann sind sie nach dieser Vorschrift nicht verschieden, sondern ein Ganzes. Wäre diese Interpretationsmöglichkeit nicht im Gesetz enthalten und ausschließlich ein Verweis auf § 242 H G B zu finden, so würde nur das dort Beschriebene Teil des Strafbaren und es wäre nicht zulässig, über die unzureichende Legaldefinition hinaus eine Manipulation des Anhangs als vom Gesetz erfaßte Deliktsverwirklichung anzusehen. Das gilt selbst dann, wenn aufgrund der Richtlinie der Anhang Teil des Jahresabschlusses sein müßte. Ein solches Ergebnis stünde nicht im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht. Heise, der es nicht für möglich hält, den Anhang als vom Begriff des Jahresabschlusses umfaßt zu sehen, kommt zu dem Ergebnis: „Eine entsprechende gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsanwendung ist nicht möglich." 5 9 3 Darin schwingt einmal mehr der Gedanke mit, das Gemeinschaftsrecht strebe immer bis an die Grenze der möglichen Auslegung und habe die Tendenz, diese Grenzen zu 590 591

592 593

Ausführlich Gramich, wistra 1987, 158 ff. Auf das weitere Beispiel einer richtlinienkonformen Auslegung des Bilanzrechts, der Interpretation des §§ 248 Abs. 2, 264 Abs. 2 HGB durch Großfeld, Bilanzrecht Rn. 57 ff. und Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, S. 170 ff, aA Schuppen, Bilanzstrafrecht, S. 199ff; 205, 211 f., sei hier nur noch hingewiesen. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 175 f. Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, S. 176.

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sprengen oder zu verschieben. In dem hier verstandenen Sinne ist das nicht richtig. Im Gegenteil: Ein solches Ergebnis findet im Gemeinschaftsrecht und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Stütze. Daran zeigt sich, wie wichtig es ist, die richtlinienkonforme Auslegung als ganzheitliche Auslegung zu begreifen und das Primärrecht in der zweiten Auslegungsphase in den Auslegungsvorgang zu integrieren. Diese Vorgehensweise führt den Rechtsanwender zu den Urteilen „Kolpinghuis Nijmegen" und „Telecom Italia", die doch gerade aussagen, daß es nicht gemeinschaftsrechtswidrig ist, ein nach dem Wortlaut der Richtlinie zunächst vorzugswürdiges Auslegungsresultat im Ergebnis doch nicht zu wählen, wenn wir dabei die Grenzen strafrechtlicher Auslegung übertreten müßten. In dem hier verstandenen Sinne erschöpft sich die richtlinienkonforme Auslegung in der zweiten Auslegungsphase nicht im Studium der Richtlinie. Der Rechtsanwender wendet sich vielmehr dem ganzen Gemeinschaftsrecht zu. Dann kann es passieren, daß in einer Gesamtschau des Gemeinschaftsrechts das zunächst nach dem Studium der Richtlinie gewonnene Ergebnis im Lichte des Primärrechts zu revidieren ist. Für die Vorzugsregel ist aber das Endergebnis der zweiten Auslegungsphase entscheidend. Nach unserem Verständnis verletzen wir in einem solchen Fall damit nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung. Denn wir haben den Wortlaut und den Willen der Richtlinie ermittelt und diese in den Auslegungsvorgang aufgenommen. Indes enden wir hier nicht und bannen so die Gefahr, von einem gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstoßenden Auslegungsergebnis sagen zu müssen, es wäre ja eigentlich das gemeinschaftsrechtskonforme Auslegungsresultat gewesen, wenn wir dem nicht Art. 103 Abs. 2 GG entgegengestellt hätten. Die Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs würden das zurückweisen, weil eine gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstoßende Auslegung nicht gemeinschaftsrechtskonform ist.

4. Umsetzungsfrist und Vorzugsregel a. Keine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist Die gemeinschaftsrechtliche Literatur diskutiert über den Zeitpunkt, mit dem die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung einsetzt. Nach einer Ansicht entsteht die Pflicht mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist. 594 Die Gegenansicht stellt auf 594

BGHZ 138, 55, 61; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 621 f.; Götz, NJW 1992, 1849, 1854; Jarass, EuR 1991, 211, 220f.; Klein, Everling-FS, S. 641, 647; Rengeling/MiddekelGellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 922 ff.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

den Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie ab,595 wobei diese Meinung auf die Entscheidung im Fall „Kolpinghuis Nijmegen" verweisen kann. Der Gerichtshof geht in diesem Urteil offenbar auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist von einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung aus.596 Indes darf dieser Streit nicht vorschnell aus der Sicht des innerstaatlichen Rechts diskutiert werden. Denn die europarechtliche Literatur meint an dieser Stelle die gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung. Soweit eine Richtlinie vor Ablauf der Frist umgesetzt wurde, folgt die Beachtlichkeit der Richtlinie für die Auslegung des Umsetzungsrechts schon aus dem nationalen Recht. 597 Aus strafrechtlicher Sicht sind also nur die Fälle erheblich, in denen eine Richtlinie noch nicht umgesetzt wurde und die Umsetzungsfrist noch läuft. Versteht man unter der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung sodann eine möglichst strikte Orientierung an den Vorgaben der Richtlinie, so überzeugt es nicht, diese Pflicht bereits ab Erlaß der Richtlinie anzunehmen. Damit würde in den legislativen Entscheidungsspielraum des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers über Form und Mittel der Umsetzung eingegriffen. 598 Die Gerichte würden den noch ausstehenden Umsetzungsakt gleichsam vorauseilend vorwegnehmen. Dafür gibt es aber keinen Anlaß, da die Umsetzungsfrist in diesen Fällen noch nicht verstrichen ist. Innerstaatlich muß das Richtlinienrecht grundsätzlich ein Gesetzgebungsverfahren durchlaufen, 599 bei dem erhebliche Ermessensspielräume gegeben sein können. Das Gemeinschaftsrecht will mit der Richtlinie die gesetzgeberischen Aktivitäten gerade anstoßen. Das Umsetzungsprogramm richtet sich an die inner-

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Lenz, DVB1. 1990,903,908. Everling, Z G R 1992,376, 383 f. differenziert wie folgt: Soweit die Richtlinie ganz oder teilweise ein Recht vorfindet, das ihr so weitgehend entspricht, daß es der Umsetzung nicht mehr bedarf, sei dieses Recht mit dem Erlaß der Richtlinie konform auszulegen. E u G H , Urteil vom 8.10.1987, Rs. 80/86, 3969, 3987, wenngleich die Entscheidung nicht ganz eindeutig ist, siehe nur die unterschiedlichen Deutungen von Götz, N J W 1992, 1849, 1854 a. E. und - wie hier - Rengelingl Μ iddekel Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 922. Die Entscheidung B G H Z 138, 55, 61 geht darauf leider nicht ein, sondern zitiert nur den Fall „Dorsch Consult", E u G H , Urteil vom 17.9.1997, Rs. C-54/96, Ε 1997,1-4961, 4997. Auch dieses Urteil ist jedoch nicht eindeutig und kann nicht als Beleg für die Ansicht des B G H angeführt werden, nach der die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist einsetzt. Langenfeld, DOV 1992, 955, 964; Rengelingl Μ iddekel Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 917 iVm Rn. 924. Auf die teilweise abweichende Begründung - bei gleichem Ergebnis - von Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 623, sei hier nur hingewiesen. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 599, 621; Götz, N J W 1992, 1849, 1854 a.E.; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 964; RengelinglMiddeke/Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, Rn. 923. Der Fall, in dem das nationale Recht bereits dem Richtlinienrecht entspricht, sei hier ausgeblendet, zumal rechtstatsächlich kaum Auslegungsunterschiede auftreten dürften.

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staatlichen Gesetzgebungsorgane und erst dann, wenn der Mitgliedstaat den darin ruhenden Auftrag nicht ausführt, gibt es einen Grund, dem Richtlinienrecht mittels einer konformen Auslegung des nationalen Rechts oder der unmittelbaren Wirkung zum Durchbruch zu verhelfen. Um es mit unserer Terminologie auszudrücken: Während der Umsetzungsfrist löst eine Richtlinie die Vorzugsregel grundsätzlich nicht aus. b. Auslegungsgrenzen nach Art. 103 Abs. 2 G G Unabhängig davon gelten auch für diese Frage die aus Art. 103 Abs. 2 G G und der Rechtsprechung des Gerichtshofs herzuleitenden Auslegungsgrenzen. U m es anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B nennt als eine Tathandlung die „Verschleierung". Bei der Auslegung des Merkmals kommt es auf den Normenzusammenhang des materiellen Bilanzrechts an, da nur so zu ermitteln ist, wie überhaupt zu bilanzieren ist. Wenn nun die Gemeinschaft in einer weiteren Richtlinie mit einer zweijährigen Umsetzungsfrist das Bilanzrecht ergänzt und in einem Artikel dieser Richtlinie eine nach dem bisherigen Recht zulässige Bilanzierungsart als unzulässig bezeichnet, darf bei der Auslegung des Merkmals „Verschleierung" auf dieses neue Bilanzrecht erst dann abgestellt werden, wenn es in das nationale Recht umgesetzt wurde. 600 Aber selbst nach der Umsetzung kann das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 G G die Vorzugsregel sperren. Das Richtlinienrecht ändert zwar nur die von der Strafnorm in Bezug genommene Verhaltensnorm. Indes kommt es für die strafrechtliche Beurteilung bei Blankettvorschriften im Lichte des Rückwirkungsverbots entscheidend darauf an, welche außerstrafrechtliche Verhaltensnorm im Zeitpunkt der Tat galt. 601 In unserem Beispiel wäre das Rückwirkungsverbot mithin verletzt, wenn das Merkmal der „Verschleierung" in § 331 Abs. 1 Nr. 1 H G B nach der Umsetzung zu Lasten des Täters richtlinienkonform ausgelegt würde, obwohl das innerstaatliche Bilanzrecht eine der Richtlinie entsprechende Vorschrift nicht enthielt. Nach der hier vertretenen Sichtweise sollte dieser Fall aber wiederum nicht als ein Konflikt mit dem Gemeinschaftsrecht aufgefaßt werden, weil der Gerichtshof das Rückwirkungsverbot als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt hat. 602 Es liegt dem Gemeinschaftsrecht fern, eine richtlinienkonforme Auslegung unter Verletzung des Rückwirkungsverbots zu erzwingen.

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Das gilt auch bei Ablauf der Umsetzungsfrist, denn anderenfalls käme es zu einer verkappten unmittelbaren Wirkung der Richtlinie zu Lasten des Täters. Hassemer in: NK, § 2 Rn. 12; MaurachlZipf, AT, Teilband 1, § 12 Rn. 7; Rogall in: KKOWiG, § 4 Rn. 9. EuGH, Urteil vom 10.7.1984, Rs. 63/83, Ε 1984, 2689, 2718.

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5. Haupttteil: Die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht

c. Richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist Allerdings folgt daraus wiederum kein Verbot einer richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist. In Einzelfallen kann es sinnvoll sein kann, das Auslegungsergebnis frühzeitig an einer Richtlinie auszurichten. So hat der Bundesgerichtshof in Zivilsachen seine Rechtsprechung zu § 1 UWG bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie angepaßt, 603 obwohl er eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist ausdrücklich ablehnte. 604 Indes ist die diesem Fall zugrunde liegende Rechtsmaterie für das deutsche Recht eher untypisch, denn bei der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu § 1 UWG handelt es sich um eine Art „case-law". Der Bundesgerichtshof wendet sich mithin nicht vom positiven Recht ab, sondern er ändert sein Fallrecht und sagt in diesem Zusammenhang treffend: 605 „Die Generalklausel ermöglicht eine Änderung des deutschen (Richter-)Rechts (...)." Diese Entscheidung bietet ein gutes Beispiel dafür, wie die Auslegung des nationalen Rechts das Gemeinschaftsrecht in einer Gesamtschau aufnehmen und nicht als Gegenpol begreifen kann. Der Bundesgerichtshof scheut mit feinem Gespür davor zurück, ein gemäß der Richtlinie rechtmäßiges Verhalten bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist nach nationalem Recht als sittenwidrig im Sinne des § 1 UWG zu tadeln, um es mit dem Tag des Ablaufs dieser Frist fortan als rechtskonform anzusehen. 606 Derartige Wertungswidersprüche sind zu vermeiden und deshalb verdient diese Entscheidung Beifall. Im Strafrecht sind solche Fälle allerdings kaum zu erwarten, weil die anstehende gemeinschaftsrechtliche Rechtsänderung in der überwiegenden Zahl der Fälle das eigentliche Unrecht der Tat nicht berührt. Der Fall „Ratti" bildet ein gutes Beispiel.607 Es entsteht kein Wertungswiderspruch in dem zuvor beschriebenen Sinne, wenn Vorschriften des nationalen Rechts über die Kennzeichnungspflicht von Waren im Vergleich mit der Richtlinie andere Symbole vorsehen oder nicht alle Inhaltsstoffe identisch zu deklarieren sind. Für diese Fälle genügt das Institut der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien völlig, um bei Ablauf der Umsetzungsfrist etwaige Widersprüche zugunsten des Gemeinschaftsrechts zu lösen.608 Auch wenn 603

604 605 606 607 608

Auf die wettbewerbsrechtlichen Einzelheiten kommt es hier nicht an, siehe dazu BGHZ 138, 55, 59 ff. BGHZ 138, 55,61. BGHZ 138, 55, 61. Vgl. BGHZ 138, 55,64. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, Ε 1979, 1629ff. Der Gerichtshof hat im Fall „Ratti" insoweit ja auch ausdrücklich erklärt, daß die Mitgliedstaaten bis zum Ablauf der Frist abweichende Regelungen des nationalen Rechts aufrechterhalten können, siehe EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Rs. 148/78, E. 1979, 1629, 1645.

Ε. Was heißt Richtlinienkonformität

465

eine Richtlinie wie im Umsatzsteuerfall 609 eine Befreiung von bestimmten Steuern vorsieht, entsteht kein Wertungswiderspruch, wenn der Mitgliedstaat diese Steuern bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist erhebt und deren Hinterziehung strafrechtlich verfolgt. Die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen ändern jeweils nicht das Unrecht der Deliktsverwirklichung nach nationalem Recht. Eine der wettbewerbsrechtlichen Entscheidung des Bundesgerichtshofs ähnelnde Problematik könnte auftreten, wenn eine Richtlinie eine Grundfreiheit des Primärrechts mit dem Ziel konkretisiert, nationale Hemmnisse komplett oder möglichst weitgehend abzubauen. Da wir die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht als mehrphasige Auslegung begreifen, sind wir auf diese Fälle jedoch vorbereitet, denn das Primärrecht und die den Erwägungsgründen der Richtlinie zu entnehmende Zielsetzung einer Harmonisierung sind immer Teil unserer Interpretation. Freilich scheidet auch in diesen Fällen eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem aus, doch den Strafgerichten bieten sie die Gelegenheit, freiheitliche Botschaften des Gemeinschaftsrechts in einer Gesamtschau beider Rechtsordnungen frühzeitig aufzunehmen und in die Strafzumessung einfließen zu lassen. Insbesondere die Obergerichte sollten diese Chance verstärkt nutzen, denn auf diesem Weg ist es möglich, auf den Ablauf einer Umsetzungsfrist aufmerksam zu machen und die Sensibilität aller Strafverfolgungsorgane für eine möglicherweise bevorstehende unmittelbare Wirkung von Richtlinieninhalten zu wecken. d. Ergebnis: Vor Ablauf der Umsetzungsfrist gibt es die Möglichkeit, aber nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung.

609

BGHSt37, 168, 174 ff.

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