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German Pages 280 Year 2014
Elisabeth Kübler Europäische Erinnerungspolitik
Erinnerungskulturen | Memory Cultures
Band 1
Elisabeth Kübler (Dr. phil., MSc [LSE]) lehrt Politikwissenschaften an der Universität Wien und ist Fachhochschulprofessorin an der Lauder Business School Wien.
Elisabeth Kübler
Europäische Erinnerungspolitik Der Europarat und die Erinnerung an den Holocaust
Gefördert durch die Universität Wien und das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung der Republik Österreich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 7
1. 1.1 1.2 1.3
Wege durch die Tektonik europäischer Erinnerungen | 11 Problemaufriss, Fragestellung und methodische Vorgehensweise | 11 Begriffliche Klärungen | 31 Geschichte, Struktur und Arbeitsschwerpunkte des Europarates | 45
2. Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik | 63 2.1 Holocausterinnerungspolitik im Europarat | 65 2.2 Holocausterinnerungspolitik in den Institutionen der Europäischen Union | 89 2.3 Holocausterinnerungspolitik in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa | 114 2.4 Die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research | 123 2.5 Holocausterinnerungspolitik bei den Vereinten Nationen | 130 2.6 Erinnerungspolitische Kooperation, Konkurrenz und Komplementarität | 135
3. Erkundungen der Erinnerungspolitik im Europarat | 141 3.1 Holocaust Education (Teaching remembrance) statt Gedenken | 143 3.2 Schulische Geschichtsvermittlung | 170 3.3 Bildung zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität | 181 3.4 Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung | 19o 3.5 Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma | 197 3.6 Europäische demokratische Citizenship nach dem Holocaust | 208
4. Fazit: Holocausterinnerungspolitik im kosmopolitischen Projekt Europa | 211
5. Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis | 219 5.1 Abkürzungen | 219 5.2 Quellen | 221 5.3 Literatur | 252 5.4 Hintergrundgespräche | 277
Danksagung
Eine Dissertation und ein Buch können nur in einem inspirierenden und motivierenden Umfeld entstehen. Ich hatte in den vergangenen Jahren das große Glück mit Personen zusammenarbeiten zu dürfen, die mein Projekt unterstützten und deren zum richtigen Zeitpunkt gestellte Fragen und vorgebrachte Anmerkungen für seine Fertigstellung unerlässlich waren. Mein größter Dank richtet sich an Herrn Professor Walter Manoschek vom Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, dessen höchst kompetente, intensive und aufmunternde Betreuung für das Entstehen dieser Arbeit maßgeblich waren. Professor Manoschek regte mich in zahlreichen inhaltlich äußerst gewinnbringenden Gesprächen in kollegialer Atmosphäre zum Nachdenken über vergangenheits- und erinnerungspolitische Themen an. Das intellektuelle Interesse und die akademische Integrität von Professor Manoschek werden mir stets Vorbild sein. Gleichfalls dankbar bin ich meinem Zweitgutachter Herrn Professor Andrei S. Markovits, Lehrstuhlinhaber an der Universität Michigan, der – absolut nicht selbstverständlich für einen Zweitgutachter – die Dissertation von meinem ersten Brainstorming bis zur Einreichung begleitete. Professor Markovits trug mit seinen unverzichtbaren fachlichen Impulsen und seiner konstruktiven Kritik entscheidend zum Fortschritt meines Vorhabens bei. Professor Markovits lehrte mich klarer und zielgerichteter zu argumentieren und bewahrte mich vor unnötigen Exkursen. Frau Professor Karin Liebhart vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien erklärte sich bereit die Aufgabe der Zweitprüferin im Rahmen der Verteidigung meiner Doktorarbeit zu übernehmen, wofür ihr mein herzlicher Dank gebührt. Meinen fünfzig Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern danke ich, dass sie mir ihre wertvolle Zeit sowie zentrale Informationen zum Gegenstand meiner Dissertation zur Verfügung gestellt haben. Ohne die-
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se Einblicke in andere Forschungsarbeiten und die politische Praxis wäre die Untersuchung der Holocausterinnerungspolitik des Europarates unmöglich gewesen. Herrn Professor Robert S. Wistrich und seinem Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism an der Hebräischen Universität Jerusalem gilt mein besonderer Dank für die Aufnahme in das Felix Posen Fellowship Program. Die gewährte finanzielle Unterstützung erleichterte die Interview- und Rechercheaufenthalte außerhalb Österreichs wesentlich. Zu meiner großen Freude wurde mein Manuskript von Frau Professor Aleida Assmann und Frau Doktor habil. Birgit Schwelling (beide Universität Konstanz) und Herrn Professor Natan Sznaider (Academic College Tel Aviv) als Eröffnungsband für die neue Reihe Erinnerungskulturen/Memory Cultures ausgewählt. Frau Professor Assmann gab mir dank ihrer unvergleichlichen Kompetenz auf dem Gebiet der Erinnerungsforschung entscheidende Hinweise zur inhaltlichen und strukturellen Verbesserung des Textes. Frau Doktor habil. Birgit Schwelling redigierte meinen Text mit jener herausragenden fachlichen und sprachlichen Kompetenz, die sich wissenschaftliche Autorinnen und Autoren nur wünschen können. Für ein ausgezeichnetes Lektorat bin ich Herrn Doktor Philipp Schönthaler zu großem Dank verpflichtet. Frau Christine Jüchter, Projektmanagerin beim transcript Verlag in Bielefeld, danke ich herzlich für die höchst professionelle Zusammenarbeit. Ich habe die Geduld des Herausgeberteams und des Verlages mehr als einmal strapaziert und bin umso dankbarer, dass sie mein Projekt trotzdem weiterhin unterstützten. Großzügige Druckkostenzuschüsse seitens der Universität Wien und des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung ermöglichten die Umsetzung der vorliegenden Monografie. Vor, während und nach Abschluss meines Doktorates bot und bietet mir die Lauder Business School Wien ideale berufliche Entwicklungsmöglichkeiten am Schnittpunkt von Lehre, Forschung und Wissenschaftsmanagement. Für ihre großartige Förderung, das in mich gesetzte Vertrauen sowie das äußerst angenehme Arbeitsklima möchte ich daher der Leitung und Kollegenschaft der Lauder Business School meinen allerherzlichsten Dank aussprechen. Die im Vorfeld der Drucklegung durchgeführten Überarbeitungen betreffen drei Bereiche technischer und inhaltlicher Art. Zwischen der Einreichung der Dissertation im November 2009 und der Fertigstellung des
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Buchmanuskriptes entstand eine Fülle an Quellen zu europäischer Holocausterinnerungspolitik oder wurde erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Als Redaktionsschluss gilt Ende Februar 2011, wobei vereinzelt Sekundärliteratur jüngeren Datums berücksichtigt wurde. Neben diesen Aktualisierungen wurden die Abschnitte zur Forschungsmethode und zur Literaturbetrachtung erheblich gekürzt. Nicht das Nachvollziehen bereits publizierter Erkenntnisse, sondern die Präsentation der Ergebnisse meiner empirischen Untersuchungen der Holocausterinnerungspolitik im Europarat bildet das Kernstück des vorliegenden Buches. Gleichfalls wurde die Dichte an Dokumenten zugunsten der argumentativen Verarbeitung der Untersuchungsergebnisse reduziert. In die Überarbeitung der Dissertation sind schließlich zahlreiche, wenn auch thematisch breiter gefasste Anregungen eingeflossen, die ich während meines Aufenthaltes am European Institute der London School of Economics and Political Science im Studienjahr 2009/2010 erhalten hatte: jene, Europa als sich beständig wandelndes kosmopolitisches Projekt zu denken, ist mit Sicherheit die zentralste davon. Auslassungen, Fehler und Falschinterpretation liegen selbstverständlich ausschließlich in meiner Verantwortung. Wien, im November 2011 Elisabeth Kübler
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1. Wege durch die Tektonik europäischer Erinnerungen
1.1 P ROBLEMAUFRISS , F R AGESTELLUNG UND ME THODISCHE V ORGEHENSWEISE Ausgangspunkt für das vorliegende Buch, das auf meinem am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien im Januar 2010 abgeschlossenen Promotionsvorhaben beruht, sind zwei Interessensgebiete: die Erinnerung an den Holocaust und Europäische Studien in einem breiteren, nicht auf die politisch-institutionelle Dimension der europäischen Integration beschränkten Sinne – sowie ein Unbehagen. Die Themenstränge Holocausterinnerung und Europa bleiben in der politikwissenschaftlichen und historischen Forschung meist isoliert. Während sich zahlreiche Debatten und Analysen mit nationalstaatlicher Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik befassen und Vergleichsstudien unterschiedlicher Länder große Popularität erfahren, werden erinnerungspolitische Maßnahmen, die auf europäischer Ebene gesetzt werden, vielfach in spekulativ-impressionistischen Essays und normativ orientierten Epilogen erwähnt. Umgekehrt hinterfragen die Laufmeter an Publikationen zur europäischen Integration und Identität(en) selten den Stellenwert des Holocaust als historisches Ereignis und die vielfältigen Formen der Erinnerung daran im europäischen Nachkriegsprojekt. Wenn also seit den späten 1990er Jahren intellektuelle, publizistische und politische Debatten die Themenfelder Holocausterinnerung und Europa doch verschränken, fehlen vielfach drei Komponenten: eine begriffliche Annäherung an Europa, eine Auseinandersetzung mit dem politischen Moment von Holocausterinnerung in Kontexten jenseits, aber nicht unter Ausschluss des Nationalstaates sowie eine ergebnisoffene Verankerung in der Empirie. Die programmatische Leitidee dieser Studie zu europäischer Holocausterinnerungspolitik rückt das Politische an der Holocausterinnerung in den
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Mittelpunkt; ganz grundsätzlich also die Fragen nach Handlungskompetenzen und Handelnden im Spannungsfeld von Gestaltungsmacht, konflikthaftem Interessensausgleich und Hegemoniebestrebungen in Wechselwirkung mit den jeweiligen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen. Die vorliegende Untersuchung reflektiert gleichzeitig die Bearbeitung des historisch klar definierbaren Ereignisses der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einem ob seiner Prozesshaftigkeit und Dynamik analytisch schwierig zu fassenden Projekt namens Europa. Nicht der prominente Fall der Europäischen Union, sondern der seit 1949 bestehende Europarat erregte meine Aufmerksamkeit. Die in Straßburg ansässige Einrichtung wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Fundament der Förderung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie gegründet. Das grenzt den Europarat seit seinem Bestehen klar von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der NATO ab. Der geografische Rahmen umfasste theoretisch immer alle Staaten, die zumindest im deutschsprachigen schulischen Wissenskanon dem europäischen Kontinent zugerechnet werden, plus der Türkei und der südkaukasischen Republiken, was nach dem Systemumbruch von 1989 und 1991 zur raschen Aufnahme der ehemals realsozialistischen Staaten führte. Sogar die eindeutig undemokratischen Staaten Belarus und Heiliger Stuhl ratifizierten als Nichtmitglieder das Europäische Kulturabkommen, das die rechtliche Grundlage für die geschichtspolitischen Maßnahmen bildet. Die Schwerpunkte des Europarates machen diese Institution außerdem zu einem zentralen Vordenker für bildungs-, wissenschafts- und kulturpolitische Fragen auf europäischer Ebene. In diesem Bereich sind auch die ab Ende der 1990er Jahre ausformulierten erinnerungspolitischen Aktivitäten des Europarates angesiedelt. Es kann nicht von der Erinnerungspolitik des Europarates gesprochen werden, vielmehr soll es im Europarat heißen. Das hängt mit den unterschiedlichen institutionellen und inhaltlichen Kontexten zusammen, in denen auf die präzedenzlosen nationalsozialistischen Verbrechen Bezug genommen wird. Der Europarat stützt sich auf eine breite Basis von Politikgestalterinnen und Politikgestaltern, die mitgliedstaatliche Vertreterinnen und Vertreter, den Verwaltungsapparat der Straßburger Organisation, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Pädagoginnen und Pädagogen umfasst. Auf einem starken normativen Post-Holocaust-Fundament lässt die Holocausterinnerungspolitik eine Pluralität an Standpunkten zu, de-
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ren Grenzen dort zu ziehen sind, wo die Gefahr eines neuerlichen Holocaust besteht. Konkret soll beantwortet werden, in welchen institutionellen Zusammenhängen (innerhalb des Europarates und in Bezug auf andere erinnerungspolitische Akteure1) erinnerungspolitische Maßnahmen im Europarat ergriffen werden, welche inhaltlichen Schwerpunkte sich dabei herausbilden und welche Vorstellung von Europa damit transportiert wird2 . Die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung konzentriert sich auf das Wer, Was und Wo der Holocausterinnerungspolitik im Europarat, ist mithin also explorativ. Das Warum und Wozu werden argumentativ aufgegriffen, können jedoch aufgrund der erstmaligen Untersuchung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat nicht umfassend beantwortet werden. Das erste Kapitel skizziert, wie sich die transnationale und europäische Erinnerungspolitik entwickelt hat; damit führt es auch in den entsprechenden Forschungsstand ein und legt das methodische Vorgehen dar. Daran anschließend werden die grundlegenden Begriffe Holocaust, Erinnerungspolitik und Europa in Bezug auf die Herausforderungen europäischer Holocausterinnerungspolitik definiert. Ein Überblick zur Geschichte, Struktur und Arbeitsweise des Europarates rundet diese Einführung ab. Kapitel 2 zeichnet eine Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik und schaut sich besonders den institutionellen Ort des Europarates auf dieser Karte an. Hingegen konzentriert sich Kapitel 3 auf die inhaltliche Ausrichtung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat und identifiziert europäische Citizenship3 nach dem Holocaust als deren thematischen Kern. Im Fazit werden anhand des bearbeiteten Materials die Bedeutung und spezifische Rolle des Europarates in der Holocausterinnerungspolitik im kosmopolitschen Europa diskutiert. 1 | Die nicht-gendersensible Schreibung Akteure steht für Institutionen und Organisationen im Sinne der Internationalen Beziehungen. Sind unterschiedliche Personen angesprochen, so lautet die Formulierung Akteurinnen und Akteure. 2 | Die Holocausterinnerungspolitik (politics of Holocaust remembrance) wird also nach Klaus Schubert durch Analysen der institutionellen (polity) und inhaltlichen (policy) Dimension erklärt (Schubert 1991: 27). 3 | Citizenship ist im Weiteren bewusst nicht übersetzt, um die zweifache Bedeutung des englischen Terminus – Staatsbürgerschaft und Bürgerschaft/bürger schaftliche Haltung – beizubehalten.
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Durch die wissenschaftliche Analyse der europäischen Holocausterinnerungspolitik erachte ich letztere als grundsätzlich berechtigt. Meine Kritik richtet sich allerdings gegen die konkrete Ausgestaltung dieser Politik im Europarat. Auf einer Metaebene lehne ich jeglichen selbstgerechten Wiedergutmachungsgestus für ein Verbrechen, das nicht wieder gut zu machen ist, ab. Das in der wissenschaftlichen Literatur und politischen Debatte vielfach strapazierte und meist als Vorwurf formulierte Argument, die Holocausterinnerung zu instrumentalisieren, erachte ich analytisch als unproduktiv. Jede Bezugnahme auf die Geschichte nimmt sie für heutige, bestimmte Zwecke in Dienst. Eine Erinnerung frei von Motiven gegenwärtig Handelnder kann es weder auf der individuellen noch auf der kollektiven Ebene geben. Timothy Garton Ash weist darauf hin, dass die Formulierung forging memories die Bedeutungen von schmieden und verfälschen in sich trage (Garton Ash 2007b). Ob es moralisch statthaft ist, sich auf Vergangenes beziehungsweise auf Erinnertes zu beziehen, unterliegt gesellschaftlichen Wertungen, nicht aber die Instrumentalisierung selbst. Einer der schärfsten Kritiker dieser Unterscheidung ist Peter Novick. »[D]es einen Gebrauchs ist des anderen Missbrauchs.« (Assmann/ Novick 2007: 29; Übers. E.K.) Es ist entscheidend, dass die Instrumentalisierung durch die erinnerungspolitischen Akteure selbst dargelegt und bewusst gemacht wird (indem beispielsweise gesagt wird, warum erinnert wird und was damit für die Zukunft erreicht werden soll). Trotz allem ist in Eigenbeschreibungen nicht mit dem negativ besetzten Begriff der Instrumentalisierung zu rechnen. Der Holocaust selbst war ein transnationales Ereignis, das – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – ganz Europa betraf (Assmann 2011: 271). Aber erst die Dekade von 1995 bis 2005, also der Zeitraum zwischen dem 50. und 60. Jahrestag der Niederschlagung des Nationalsozialismus, ist dadurch geprägt, dass inter- und transnationale sowie europäische erinnerungspolitische Bemühungen anwachsen, die den Fokus auf den Holocaust als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die daraus potentiell global zu ziehenden Lehren richten. Die Hinwendung zur Holocausterinnerungspolitik wurde maßgeblich durch die systempolitischen Umbrüche der Jahre 1989 und 1991 ausgelöst; damit ging einher, dass Restitutionsdebatten erneut aufkeimten, dass in zahlreichen europäischen Staaten eine selbstkritische Vergangenheitspolitik eingefordert wurde (wie die Kritik am Opferstatus Österreichs, der Résistance-Erzählung in Frankreich oder die Debatten um Schweizer Bankkonten mit geraubtem Vermögen
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jüdischer NS-Verfolgter), und dass die Verbrechen in den 1990er Jahren in Srebrenica und Ruanda als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wurden. Henry Rousso, der ein gesamteuropäisches Gedächtnis eher als Erwartungshorizont, denn als Erfahrungsraum begreift, nennt mit Wiedergutmachung, Judikaisierung, Viktimisierung und Entnationalisierung (besser: Transnationalisierung; Anm. E.K.) vier Phasen der Nachkriegserinnerungspolitik. In der Zeit unmittelbar nach 1945 changierte die Vergangenheitspolitik zwischen Vergessen zum Zwecke des nationalen Wiederaufbaus, Heldenverehrung und politischer wie justitieller Maßnahmen gegen NSTäterinnen und NS-Täter sowie Kollaborateurinnen und Kollaborateure. Darauf folgte eine lange Periode, in der geschwiegen und verdrängt wurde, und die erst ab den 1970er Jahren in West- und ab 1989 in Osteuropa endete, um sich schließlich mit Schwerpunkt auf den Holocaust zu transnationalisieren (Rousso 2004). Die nachträglich beobachteten strukturellen Gemeinsamkeiten nationaler Erinnerungen können als »Grundlage transnationaler Initiativen gewertet werden, weil die nationalen Gesellschaften zwar zunächst nicht miteinander, aber doch dieselben historischen Ereignisse erinnert haben, wenn auch aus jeweils nationaler, spezifischer Perspektive« (Schwelling 2010: 217). Gegenseitige Wahrnehmung und punktuelle Diskussionen erinnerungspolitisch relevanter Themen (beispielsweise in den 1990er Jahren der Spielfilm Schindlers Liste oder Daniel Jonah Goldhagens Studie Hitlers willige Vollstrecker) intensivierten diesen Trend (ebd.: 218). Aus gegenwärtiger Perspektive erweitert sich Roussos Liste um die noch nicht abgeschlossenen Phasen der europäischen Erinnerungspolitik, der Expansion auf weitere NS-Opfergruppen sowie außernationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diktaturen sowie deren konflikthafte Aushandlung. Nun taugt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust auch außerhalb Deutschlands und Österreichs, selbst in ehemals nationalsozialistisch besetzten Ländern, kaum, um Heldenepen zu kultivieren. Nicht-unmittelbare Tätergesellschaften konnten somit zwischen zwei Strategien wählen: entweder sie gestanden eine Mitschuld und Verantwortung ein oder sie blendeten die/ihre Täterschaft und Kollaboration zugunsten einer auf die Opfer fokussierten Erinnerung aus. Doch mit Frank Renken lässt sich demonstrieren, dass offizielle Erinnerung an dunkle und dunkelste Kapitel der eigenen Geschichte nicht »per se der Staatsräson zuwiderlaufen würde. Sie macht dann Sinn, wenn es nachträglich gelingt, sie als Aus-
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gangspunkt für das Ankommen im ruhigen, verfassungsgemäßen Fahrwasser der Gegenwart umzuinterpretieren.« (Renken 2006: 459) Die Transnationalisierung und Europäisierung der Erinnerung an den Holocaust wird in der einschlägigen Forschung inzwischen vielfältig thematisiert und zum Teil auch kritisch kommentiert. Dabei sind die im Folgenden diskutierten Thesen von besonderer Bedeutung für die vorliegende Studie. Das Standardwerk zu den Opfern und Traumata des Holocaust als paradigmatisches Verbrechen ist das 2001 veröffentlichte und mittlerweile ins Englische übersetzte Buch Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust von Daniel Levy und Natan Sznaider. Die beiden Autoren führen die soziologischen Konzepte Zweite Moderne und Kosmopolitismus in die Analyse der Holocausterinnerung ein und lösen diese somit aus den nationalstaatlichen Vorstellungsgrenzen. Der Holocaust werde im Übergang von der Ersten zur Zweiten Moderne die Metapher für das absolut Böse, was sich in der internationalen Menschenrechtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegelt (Levy/Sznaider 2001: 15). Ausgerechnet die jüdische Diasporaerfahrung, die keinen Schutz vor dem nationalsozialistischen Massenmord bot, wandle sich zur Schablone für den heutigen Kosmopolitismus und erlaube vielen Opfergruppen, »sich in den jüdischen Opfern wiederzuerkennen« (ebd.: 56). Die Entortung des Holocaust impliziere »keinesfalls das Ende der Nationalstaaten, wohl aber das Ende seiner hegemonialen Rolle als sinnstiftendes Organ. […] Der Staat und die Nation stehen in einem Wechselverhältnis mit anderen kollektiven Ausdrucksformen der Solidarität (z.B. Ethnizität, Geschlecht, Religion).« (Ebd.: 47) Die Befunde von Levy und Sznaider können punktuell kritisiert werden. So konzentriert sich die Untersuchung auf mediale Repräsentationen, wodurch politische Entscheidungsprozesse unterbelichtet bleiben. »Daher vermögen sie [Levy/Sznaider; Anm. E.K.] auch nur bedingt zu erklären, weshalb zahlreiche, mehrheitlich europäische Länder zum Ende des 20. Jahrhunderts gemeinsame politische Maßnahmen in Hinblick auf holocaustbezogene Erinnerung, Forschung und Erziehung ergreifen.« (Kroh 2008b: 229) Der Übergang von einer rechtlich-justititellen Vergangenheitspolitik zu einer vom historischen Ereignis zunehmend entkoppelten Erinnerungspolitik ist aber auch mit dem voranschreitenden Ableben sowohl der Täter- als auch der Überlebendengeneration zu erklären. Eine Konsequenz daraus ist eine abstrakte Holocausterinnerung, die nicht mehr in tradierten familialen oder nationalen Erzählungen oder konkret mit dem Holocaust
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verbundenen Kollektiven verankert ist. Unter letztere zählt Aleida Assmann in Erweiterung von Levy und Sznaider Israel als Opfernation mit den jüdischen Gemeinden in der Diaspora, Deutschland und Österreich als Täternationen, die anderen europäischen Nationen mit den historischen Stätten des Holocaust und die Alliierten als Retternationen (Assmann 2010: 100). Die Beschäftigung mit dem Holocaust lenkt auch von der eigenen Vergangenheit ab – Assmann referiert unter anderem auf die Sklaverei in den USA, den Atombombeneinsatz durch die USA sowie die Kolonialgeschichte mehrerer europäischer Staaten (ebd.: 105). Allerdings bleibt die Differenz zwischen einer jüdischen und einer universellen Interpretation des Holocaust bestehen: »eine historisch argumentierende Perspektive, wie sie vor allem von den Opfern eingenommen wird; und eine eher ins Universelle drängende, anthropologisch geleitete Wahrnehmung des Geschehens« (Diner 2007: 14). Der Befund, dass die Holocausterinnerung auf vom historischen Ereignis nicht betroffene Nationen ausgedehnt wird, gilt vorerst nur für westliche Gesellschaften. Mit den Stockholmer Konferenzen 1998 und 2000 und der Gründung der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) rückte die ehedem vornehmlich auf Nationalstaaten bezogene Debatte, bei der es um konkrete Schuld- und Verantwortungsfragen ging (Stichwort Historikerkommission und Restitutionsfragen), endgültig zugunsten der Erinnerung an den Holocaust in den Hintergrund. Jens Kroh legte mit seiner Studie zur ITF auch die erste empirische Untersuchung zu einem transnationalen erinnerungspolitischen Akteur vor (Kroh 2008b). Tatsächlich kann ab der Jahrtausendwende von einer Konjunktur transnationaler und europäischer Holocausterinnerung bei zunehmender Institutionalisierung derselben gesprochen werden. Führende europäische und internationale Organisationen beschäftigen sich substantiell mit dem Holocaust. Zu nennen sind hier der Europarat, die Europäische Union (speziell die in Wien ansässige European Union Fundamental Rights Agency – FRA), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit dem Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) in Warschau und das von der UNVollversammlung beschlossene Programm Remembrance & Beyond sowie die UNESCO mit eigenständigen Initiativen. Größeres mediales Interesse erfuhren die erinnerungspolitischen Aktivitäten zur Etablierung der ITF, die Verurteilung von Holocaustleugnung durch die UN-Vollversammlung und die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten
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Halbjahr 2007 beschlossene Richtlinie zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Holocaustleugnung sowie die Festlegung des 27. Januars, der Tag der Auschwitz-Befreiung, als internationalem und europäischem Holocaustgedenktag. Nicht zu vernachlässigen sind die erinnerungspolitischen Impulse zahlreicher transnational agierender Gedenkstätten, Museen, Dokumentations- und Forschungseinrichtungen, wie beispielsweise das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., Yad Vashem in Jerusalem, das Simon Wiesenthal Center mit seinen Niederlassungen in Los Angeles, Jerusalem und Paris, die in Amsterdam (Anne-Frank-Haus) und Berlin (Anne-Frank-Zentrum) tätige Anne Frank Stichting und das für die frankophone Welt bedeutende Mémorial de la Shoah in Paris. Im Zusammenhang mit Restitutions- und Entschädigungsfragen verstärkten länderübergreifende Anwaltsnetzwerke transnationalisierende Tendenzen (Unfried 2003: 247). Einen Schritt weiter als die Transnationalisierung der Holocausterinnerung führt ihre konkrete Verknüpfung mit dem Problemfeld der europäischen Integration. Prominent formulierte dies Tony Judt in seinem 2005 erschienenen Monumentalwerk zur Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, das er mit dem Epilog Erinnerungen aus dem Totenhaus. Ein Versuch über das moderne europäische Gedächtnis schließt. Anknüpfend an die im Vorfeld der EU-Osterweiterungsrunden 2004 und 2007 erfolgten Verantwortungseingeständnisse der damaligen Staatspräsidenten Polens, Aleksander Kwaśniewski (1995-2005), und Rumäniens, Ion Iliescu (19891996, 2000-2004), paraphrasiert Judt Heinrich Heines Diktum, wonach die Taufe das Entreebillet für Jüdinnen und Juden nach Europa sei, dass »jeder, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirklich Europäer werden will, zunächst ein neues und weit bedrückenderes Erbe auf sich nehmen muß. Heute ist die einschlägige europäische Bezugsgröße nicht die Taufe, sondern die Vernichtung. […] Die Anerkennung des Holocaust ist zur europäischen Eintrittskarte geworden.« (Judt 2005: 933) Aus der EU-Terminologie stammen Schlagwörter wie acquis historique (Jarausch 2010: 314) oder Copenhagen memorial criterion (Droit 2007: 114). Pessimistischer ist hingegen die Einschätzung Michael Jeismanns, wonach die allfällige Herausbildung der europäischen Einigung auf den Holocaust als negativen, wenn auch umstrittenen Gründungsmythos nur gelingen kann, »indem man die verfolgten und ermordeten Juden in ihrer Gesamtheit als etwas Drittes begriff, als etwas, was im Unterschied zu den Vertreibungsgeschichten sich nicht in den zwischenstaatlichen Beziehungen lokalisieren ließ.« (Jeismann
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2005: 222) Er identifiziert dabei strukturelle Ähnlichkeiten mit dem nationenübergreifenden und einheitsstiftenden Antisemitismus, der den Holocaust ermöglichte. Vor allem von wissenschaftlicher Seite artikulierte Kritik entzündete sich an der Rolle Deutschlands und – wenn auch weniger häufig – an der Österreichs (vgl. Rupnow 2008) im Zuge transnationaler erinnerungspolitischer Initiativen, die auf die Frage hin laut wurden, ob Täter- und Komplizenschaft ausgeblendet wurden und ob sich Schuld und Verantwortung über ganz Europa (und darüber hinaus) aufteilen lassen. Pointiert spricht Timothy Garton Ash von den »DIN-Standards – die ›Deutschen Industrie-Normen‹ – im Bereich der Geschichtsaufarbeitung« (Garton Ash 2001/2002: 33; Herv. i.O.). Und Jan-Werner Müller führt an, dass man heute »nicht ein aggressiv-nationalistisches Deutschland [fürchtet], sondern eines, das Europa sein Modell der Vergangenheitsbewältigung und damit letztlich einen ›negativen Nationalismus‹ aufdrängen will – und das dadurch ganz nebenbei, mit gutem Gewissen und besten Absichten, auch eine Art Umverteilung der Lasten der Vergangenheit durchsetzt« (Müller 2007: 1). Transnationalisierungstendenzen fordern eingeschliffene Gewohnheiten nationalstaatlicher Geschichtsschreibung – exemplarisch seien hier der deutsche Sonderweg oder die exception française angeführt – durch neue Erzählungen einer entangled history oder histoire croisée heraus. Das Anliegen einer europäischen Historiografie wird jedoch als »retrospektive Teleologie« (Kallscheuer/Leggewie 1994: 118 zu moderner Nationsbildung) abgelehnt, wie auch davor gewarnt wird, das europäische Integrationsprojekt zu Legitimationsdiensten einzusetzen4 . Diese Anmerkungen korrespon4 | Matthias Middell ortet ein »Tauschgeschäft«, in das Historikerinnen und Historiker einträten, »indem sie gegen Förderung ihrer Projekte und Aktivitäten bei der Beratung für europäische Museen und die Ausstattung der neuen Institutionen mit historischen Referenzen entsprechende Ressourcen erwarten können« (Middell 2009: 284). Kornelia Ko´nczal sieht die Gefahr der »Treitschke-Falle« (Ko´n czal 2009: 60), während Carola Sachse und Edgar Wolfrum die gebotene Zurückhaltung von Historikerinnen und Historikern (und potentiell von mit der Thematik befassten Vertreterinnen und Vertretern anderer Fachrichtungen fordern: »Es ist auch nicht ihre Aufgabe – etwa im Sinne einer allzu kurzschlüssigen ›angewandten‹ Geschichtswissenschaft – aus den Trümmern der europäischen Geschichte die für eine zukünftige europäische Identität noch brauchbaren Bausteine heraus-
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dieren mit einer auch herrschaftskritischen Auseinandersetzung mit dem europäischen Integrationsprojekt und insbesondere mit EU-Politiken (vgl. z.B. Judt 2002; Bischoff/Schröder/Sobich 2005; Schwelling 2006; Gaisbauer 2009). Die Außenwirkung europäischer Holocausterinnerungspolitik, verdeutlicht im Bild von Europa als geläutertem »Zivilisationsbringer« (vgl. Ifversen 2007: 183; Übers. E.K.), könnte laut Jan-Werner Müller als »internationale Schulmeisterei« (Müller 2007: 4) beanstandet werden, wenn damit nicht zumindest die transnationale Aushandlung von scheinbar aus der Geschichte ableitbarer Normen verbunden wäre. Ein weiterer Kritikstrang richtet sich gegen Normierungs- und Vereinheitlichungstendenzen sowohl in der ITF als auch im Zuge europäischer Erinnerungspolitik. »Es handelt sich dabei insofern um einen einseitigen Prozess der Einflussnahme, als die Förderung nicht auf die Initiierung eines Austausches und Abgleiches zwischen spezifisch nationalen, divergierenden Erinnerungskulturen aufbaut, sondern eine klare Vorstellung von dem Inhalt der europäischen Erinnerung aufweist.« (Schwelling 2010: 221; Hervorhebung im Original) Dieser Einschätzung läuft die Praxis der Holocaustgedenktage5 zumindest partiell zuwider. Trotz der Top-downzuklauben und den Sinnproduzenten als Material zukünftiger Denkmäler anzuliefern.« (Sachse/Wolfrum 2008: 30-31). 5 | Der 27. Januar, der Tag der Auschwitzbefreiung, wurde 1996 in der Bundesrepublik Deutschland als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt. Im Jahre 2002 folgte der Europarat (zusammen mit der ITF und der EU) mit dem erinnerungspädagogisch orientierten Day of Remembrance of the Holocaust and for the Prevention of Crimes against Humanity, der zum gleichen Datum begangen wird. Zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau folgten die Vereinten Nationen mit dem International Holocaust Remembrance Day. ITF-Mitglieder verpflichten sich zur Einrichtung eines Holocaustgedenktages, es kann mit Rekurs auf die eigene Nationalgeschichte auch ein anderes Datum ausgewählt werden. Offizielle Holocaustgedenktage zu anderen Anlässen: Lettland – 4. Juli 1941 (Niederbrennung der Rigaer Synagoge), Litauen – 23. September 1943 (Zerstörung des Ghettos in Vilnius), Polen – 19. April 1943 (Warschauer Ghetto-Aufstand), Ungarn – 16. April 1944 (Errichtung des ersten Ghettos in Budapest). Österreich stimmte im Europarat zwar der Einführung des 27. Januar zu, offizieller Gedenktag bleibt jedoch der 5. Mai, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen. Frankreich führte zwar den 27. Januar ein, die Gedenkfeierlichkeiten konzentrieren sich aber auf
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Vorgabe können und sollen die einzelnen Staaten nationale Spezifika, die auch die Terminierung miteinschließen, umsetzen und darauf achten, dass sie für die jeweilige Bevölkerung sinnvoll sind (vgl. Schmid 2008; Schnettler/Baer/Zifonun 2010). In einer globalen Perspektive bezweifelt Assmann, ob der Verweis auf den Holocaust genügt, damit Menschenrechte eingehalten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindert werden, oder ob für nichtwestliche Gesellschaften auch andere Identifikationsangebote mit universellen Normen denkbar wären (Assmann 2010: 109, 113). Die jüdischen Opfererfahrungen im Holocaust sind paradigmatisch für sämtliche Opfererfahrungen geworden. Ihre Aneignung geschieht auf einer globalen Skala und führt, gemessen an historischen Kriterien, zu unzulässigen Gleichsetzungen. Trotz allem wird auch unter transnationalen erinnerungspolitischen Akteuren zunehmend die Forderung laut, dieses Opferparadigma auf andere, außernationalsozialistische Verbrechen zu übertragen. Auf die nationalsozialistische Judenvernichtung beziehen sich andere NS-Opfergruppen (z.B. Romnia und Roma und im unmittelbaren Nachkrieg auch kommunistische und patriotische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer) sowie Opfer von Verbrechen, die unter den 1945 im Londoner Statut6 festgelegten völkerrechtlichen Straftatbeden 16. Juli, an dem im Jahr 1942 die Großrazzia der französischen Polizei gegen Juden/Jüdinnen in Paris stattfand. Der bereits seit 1952 institutionalisierte israelische Gedenktag an die Shoah und den Heldenmut sollte laut ursprünglicher Planung auf den 14. Nissan, dem hebräischen Datum des Warschauer Ghetto-Aufstandes vom 19. April 1943, terminiert werden. Schließlich wählte die israelische Knesset den 27. Nissan, womit der Yom HaShoah eine Woche vor dem Gedenktag an die israelischen Gefallenen und Terrorismusopfer und dem darauf folgenden Unabhängigkeitstag stattfindet. Abgesehen von jüdischen Gemeinden in der Diaspora betrachten auch Kanada und die Vereinigten Staaten von Amerika dieses Datum als Holocaustgedenktag. Einige orthodoxe Strömungen im Judentum integrieren die jüdischen Holocaustopfer in religiöse Trauer- und Fastentage. Nicht zu vernachlässigen ist schließlich die anhaltende Bedeutung des Tages des Sieges in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (mit Ausnahme Estlands, Lettlands und Litauens). 6 | Der Begriff Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird erstmals 1907 in der Haager Konvention gebraucht. Den ersten diesbezüglichen Prozess gab es 1919 wegen des Genozids an den Armeniern und Armenierinnen (vgl. Knigge 2005:
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stand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und/oder die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossene Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes7 fallen. Vergleiche mit Ereignissen mit konsekutivem Bezug auf den Nationalsozialismus werden angestellt (z.B. im europäischen Kontext prominent die parallelisierende Rede von den beiden Diktaturen – also Nationalsozialismus und Stalinismus beziehungsweise poststalinistischer Realsozialismus – in Staaten wie Estland, Lettland, Litauen, Polen und Ungarn, einzelne deutsch-türkische Intellektuelle mit ihrer Sorge, die nächsten Juden zu sein oder die die Lage 22). Im 2002 als Rechtsgrundlage für den Internationalen Strafgerichtshof in Kraft getretenen Rom-Statut werden folgende Verbrechen bei verbreiteter und systematischer Anwendung gegen die Zivilbevölkerung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert: Vorsätzliche Tötung; Ausrottung; Versklavung; Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung; Freiheitsentzug; Folter; Vergewaltigung, sexuelle Versklavung, erzwungene Sterilisation; Verfolgung einer Gruppe aus politischen, rassistischen, nationalen, ethnischen, kulturellen, religiösen und geschlechtlichen Gründen; Apartheid; zwangsweises Verschwindenlassen von Personen. 7 | Der Begriff Genozid wurde erstmalig 1943 vom polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin im amerikanischen Exil für ein Rechtsinstrument zur Bestrafung der NS-Täter und -Täterinnen in Polen verwendet. Unter die UN-Konvention fallen folgende Handlungen, wenn sie in der Absicht begangen werden eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören: Töten von Angehörigen der Gruppe; Zufügen schwerer körperlicher oder seelischer Schäden; absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen; Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung; gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in andere Gruppen. Als außernationalsozialistische Genozide nennt Boris Barth den türkischen an den Armenierinnen und Armeniern 1915 sowie die 1994 von Hutus massenhaft ermordeten Tutsis und gemäßigten Hutus in Ruanda (Barth 2006), während die Klassifikation der Ermordung von Millionen Kongolesinnen und Kongolesen während der Herrschaft des belgischen Königs Leopold II. 1885-1908, der Niederschlagung des Aufstandes der Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika 19041908 durch deutsche Kolonialtruppen, des ukrainischen Holodomor 1932-1933, des Massakers von Setif in Algerien 1945, der von den Roten Khmer durchgeführten Säuberungen in Kambodscha in den 1970er Jahren und der Ereignisse im bosnischen Srebrenica 1995 kontroverser diskutiert wird.
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der Palästinenserinnen und Palästinenser im israelisch-arabischen Konflikt verkennende Metapher von den Opfern der Opfer8). Außerdem sind Geschehen ohne Bezug auf den Nationalsozialismus zu nennen wie beispielsweise die im Zuge kolonialer Eroberungen begangenen Verbrechen an indigenen Bevölkerungsgruppen, die Sklaverei oder das von japanischen Truppen 1937 verursachte Massaker von Nanking oder auf einer anderen Ebene selbst Organisationen, die radikal gegen Schwangerschaftsabbrüche oder Massentierhaltung vorgehen. Die Konsequenzen aus einer nivellierenden, die Vernichtung der Jüdinnen und Juden transzendierenden Holocausterinnerung wird an der Politik der deutschen Vertriebenenverbände sichtbar, die das Bild von den deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges fördern, weil sie die diffuse, nicht organisierte Masse an Vertriebenen vertreten. In Bezug auf das gegenwärtige deutsch-polnische Verhältnis und die Personalie der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, lässt sich konstatieren: »Seit die EU-Erweiterung beschlossen ist, bedient sich Steinbach weniger aus dem Vokabular des Kalten Krieges, sondern aus dem internationalen Repertoire von Opferdiskursen. Es geht nicht mehr um Forderungen und Interessen, sondern um Erinnerung, Gedenken und Anerkennung.« (Ther 2005/2006: 77) Laut Assmann sind dafür aufmerksamkeitsökonomische Gründe anzuführen, die marginalisierte, beispielsweise in Diktaturen verübte Verbrechen sichtbar machen (Assmann 2010: 111). Die Aneignung spezifischer jüdischer Holocausterinnerung muss nicht zwingend sekundärantisemitische Motive aufweisen (Jüdinnen und Juden würden Profit aus dem Holocaust schlagen), stellt aber zumindest die bis dato einzigartig gegen jüdische Menschen gerichtete Vernichtung für den Zweck der eigenen Interessensdurchsetzung in Frage. Die jüngste erinnerungspolitische Literatur formuliert Auswege aus den Dilemmata der Normierung und Anerkennungskonkurrenz. Allen Vorschlägen gemeinsam ist, dass sie die konflikthafte Aushandlung unterschiedlicher Standpunkte positiv bewerten. Den Ausgangspunkt bildet Assmanns Modell einer dialogischen Erinnerung, demgemäß Gesellschaften unterschiedliche, auch traumatische historische Erfahrungen gegenseitig anerkennen, nicht aufrechnen, relativieren oder trivialisieren und damit 8 | Zu den beiden Diktaturen detailliert z.B. Troebst 2006; zu deutsch-türkischen Intellektuellen Margalit 2009; zur Rezeption des Nationalsozialismus bei Palästinenserinnen und Palästinensern Kamil 2008.
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eine gemeinsame, aber nicht homogenisierende Erinnerung an diese Vergangenheit(en) ermöglichen (Assmann 2006: 266ff.). Müller entwickelt diese Idee weiter, indem er den politischen Willen, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, in einem grenzüberschreitenden öffentlichen Rahmen als »Barometer für die liberal-demokratische Qualität einer politischen Kultur« (Müller 2010: 26; Übers. E.K.) festhält. Nicht die Inhalte europäischer Erinnerung würden dadurch angeglichen, sondern die »moralisch-politischen Einstellungen und die Praktiken im Umgang mit tiefgreifend unterschiedlichen Vergangenheiten« (ebd.: 27; Übers. E.K.). Eine konflikthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in diachroner Perspektive ortet Müller bei den ehemals realsozialistischen Staaten. Die relative Sicherheit des EU-Beitritts hätte es wesentlich erleichtert, die eigenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die gewaltsamen Diktaturerfahrungen zu konfrontieren (ebd.: 32). Claus Leggewie mahnt diese Vorgangweise an sieben für Europa erinnerungswürdigen Ereignissen und Entwicklungen an, die er in konzentrischen Kreisen anordnet. Den Kreismittelpunkt bildet der Holocaust, von dem ausgehend der Stalinismus, ethnische Säuberungen (auch die Vertreibungen von sprachlich-kulturell deutschen Bevölkerungsgruppen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa), Kriege und Krisen, Kolonialverbrechen und Migration zu behandeln seien. Die äußerste Schale, die die im Inneren befindlichen hochgradig konflikthaften Themen zusammenhält, ist die europäische Integration (Leggewie 2011: 14). Leggewie ist optimistisch, dass eine »selbstbewusste europäische Gesellschaft […] auch Zerrbilder der eigenen Vergangenheit aushalten [kann]« (ebd.: 188). Erste Spuren in der Empirie hinterließen erinnerungspolitische Entscheidungsprozesse im parlamentarischen Rahmen auf der europäischen Ebene (Europäisches Parlament und Parlamentarische Versammlung des Europarats). Bis jedoch tatsächlich von einer Demokratisierung der transnationalen und europäischen Erinnerungspolitik gesprochen werden kann, sind fundamentale Fragen der konstitutionellen Spielregeln, Zugänglichkeit zu Deliberation und Öffentlichkeit(en) jenseits sprachlicher und nationalstaatlicher Begrenzungen zu klären. Eine inhaltliche Neuorientierung schlägt indes Birgit Schwelling vor, die mehr integratives Potential bei Erinnerungsinitiativen zur europäischen Einigungsgeschichte nach dem Holocaust ausmacht (Schwelling 2010: 216). Zwar findet eine positive, zukunftsorientierte Erinnerung an die europäische Integration nach 1945 derzeit noch wenig Resonanz,
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was sich an der fehlenden Aufmerksamkeit für die Europatage am 5. Mai (Gründung des Europarates) und 9. Mai (Schumann-Erklärung) sowie an den ausbleibenden Debatten zu den Brüsseler Europamuseen9 feststellen lässt (ebd.: 229). Der Vorteil liegt jedoch darin, dass der Einigungsprozess offen bleibt und potentiell inklusiv wirkt. Auch wenn die ehemals realsozialistischen Diktaturen erst verzögert einsteigen konnten, sind sie trotzdem als gestaltende Akteure beteiligt. Die Erinnerung erfolgt an Ereignisse und Prozesse, die gemeinsam geschaffen wurden und denen damit ein gewisser Konsens vorausgegangen war. Ein gravierendes Manko der transnationalen und europäischen Holocausterinnerungspolitik bildet die fehlende Implementierungs- und Wirkungsforschung. Zwar muss man, um der ITF beizutreten, einen Bericht zu länderspezifischen kommemorativen und erinnerungspolitischen Aktivitäten erstellen, dieser bietet jedoch ebenso wie die von ODIHR produzierten und auf staatlichen Angaben beruhenden Vergleichsschauen nur einen deskriptiven Überblick. Da kein regelmäßiger Monitoringmechanismus vorgesehen ist, müssen sich die inter- und transnational sowie auf europäischer Ebene tätigen erinnerungspolitischen Akteure bis dato auf informelles Feedback von nationalen Behörden, wissenschaftlichen Einschätzungen und – im Kontext der Holocaust Education – auch von Rückmeldungen bei Lehrerfortbildungsveranstaltungen verlassen. Flächendeckende Untersuchungen über einen mehrjährigen Erhebungszeitraum fehlen noch gänzlich. Eine mit ITF-Unterstützung erstellte Rezeptionsanalyse wurde 2008 von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit präsentiert. In dieser an bayerischen Schulen durchgeführten explorativen Studie wurden 60 Interviews mit 48 Schülerinnen und Schülern und 12 Lehrkräften an 14 Bildungseinrichtungen unterschiedlichen Typs und differenziert nach Großstädten, Kleinstädten und ländlichen Regionen geführt, wobei besonderes Augenmerk auf Lernende mit verschiedenen Migrationshintergründen gelegt wurde. Die Autorinnen und Autoren fragen weniger vorhandenes Wissens zu Nationalsozialismus und Holocaust ab, als dass sie sich darauf konzentrieren, ob Einstellungs- sowie intergenerationelle 9 | Das Musee de l’Europe ist aus einer Graswurzelinitiative entstanden, wohingegen das Haus der Geschichte vom früheren Präsidenten des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, angeregt wurde.
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und interkulturelle Tradierungsmuster nachvollzogen werden. (Kühner/ Langer/Sigel 2008). Ein größer angelegtes, jedoch ebenfalls geografisch beschränktes Projekt mit 8000 Auskunftspersonen wurde ebenfalls mit ITF-Finanzierung an schwedischen Schulen durchgeführt. In Hinblick auf die Debatten um Holocaust Education in Migrationsgesellschaften und Antisemitismus in muslimischen Communities moniert Robert Sigel, dass eine »genaue Untersuchung der Situation in Ländern mit einer relevanten Anzahl muslimischer Schüler, also Großbritannien, Frankreich, Niederlande u.a., […] noch aus[steht]« (Sigel 2008). Die im Rahmen des Holocaust Education Development Programme am Londoner Institute of Education erstellte Studie Teaching About the Holocaust in English Secondary Schools: An empirical study of national trends, perspectives and practice (Pettigrew et al. 2009) beschränkt sich in ihrem geografischen Radius zwar auf England, könnte aber ob ihres ausgeklügelten Designs und der Aussagekraft ihrer Ergebnisse für spätere transnationale Studien Vorbildwirkung entfalten. Eine Online-Befragung wurde zur Beantwortung an Lehrerinnen und Lehrer in der Sekundarstufe in ganz England im Zeitraum von November 2008 bis Februar 2009 zugänglich gemacht10. Aus den 2018 Respondentinnen und Respondenten wurden 68 10 | Die Fragen an die Lehrerinnen und Lehrer drehten sich neben der Erhebung ihrer Sozialdaten und Dienstverhältnisse um ihr Verständnis vom Holocaust, ihre prioritären Ziele beim Unterrichten über den Holocaust, ihre Wahrnehmungen zu eigenem Wissen, Vorbereitungen und Sicherheit in diesem Bereich, inwieweit ihr Wissen über den Holocaust aus Büchern (nicht aus Lehrbüchern), Gedenkstättenbesuchen im Vereinigten Königreich oder außerhalb und Gesprächen mit Überlebenden stammt. Darüber hinaus wurde gefragt, wie ausgeprägt ihr tatsächliches historisches Wissen über den Holocaust sei, und ob der Holocaust bereits Gegenstand im schulischen Unterricht war. Wurde letztere Fragen verneint, wurde nach Gründen hierfür gesucht. Wurde sie hingegen bejaht, so fokussierte der anschließende Fragenkatalog auf die Fächer und Schulstufen, in denen sie das Wissen über den Holocaust vermittelten, die eingeräumte Zeit, Zusammenarbeit mit anderen Unterrichtsgegenständen, Vermittlungsmethoden, Lehrmittel und Themenauswahl sowie einschlägige Weiterbildungen (Pettigrew 2009 et al.: 22). Zur Feststellung des tatsächlichen Wissens der Lehrenden wurden Testfragen zum systematischen Massenmord an den Jüdinnen und Juden, der Verweigerungsmöglichkeit individueller Soldaten an der Teilnahme an Mordaktionen, der ersten Opfergruppe eines nationalsozialistischen Tötungsprogramms, dem Herkunfts-
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von 24 verschiedenen Schulen für Tiefen- und Kleingruppeninterviews ausgewählt. Ziel der Studie war, neben einem Gesamtüberblick zur Holocaust Education in England Daten zur einschlägigen Lehrendenausbildung und Weiterbildung, der individuellen Einstellung zur Holocaust Education und allfälligen Herausforderungen in der Unterrichtssituation zu generieren. Naheliegenderweise wurde auch in der englischen Studie dem Aspekt von Holocaust Education im diversen Klassenzimmer und hier auch dem Umgang mit Antisemitismus (ebd.: 15) hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Im Januar 2010 legte die EU-Grundrechteagentur (FRA) eine transnationale Studie explorativen Charakters zur Verbindung von Holocaust Education und Menschenrechtserziehung mit dem Titel Discover the Past for the Future. A study on the role of historical sites and museums in Holocaust education and human rights education in the EU (FRA 2010a; FRA 2010b) vor. Diese Untersuchung wird im Detail in Kapitel 2.2 im Zusammenhang mit anderen Maßnahmen zur Holocausterinnerungspolitik in den Institutionen der Europäischen Union besprochen. Vorweg ist festzuhalten, dass die FRA-Studie eine Pionierleistung auf dem Gebiet transnationaler Wirkungsforschung darstellt. Ausgehend von der inhaltlichen Orientierung der erinnerungspolitischen Programme der FRA entlang des Konnexes von Holocaust Education und Menschenrechtserziehung werden Mitarbeitende von Gedenkstätten und Museen, Lehrende sowie Schülerinnen und Schülern über das Gelingen ebenjener thematischen Verbindung aus dem Lernen über die NS-Vergangenheit für die Verbesserung menschenrechtlicher Standards im Heute und Morgen befragt.
land der meisten jüdischen Opfer, der Rolle des Vereinigten Königreiches während des Zweiten Weltkrieges, Größe der jüdischen Bevölkerung in Deutschland im Jahr 1933, jüdischen bewaffneten Aufständen, speziell für den Mord an Jüdinnen und Juden gebaute Vernichtungslager sowie zum Novemberpogrom 1938 gestellt. (Ebd.: 51-62) Des Weiteren interessierte sich die Studie für die von den Lehrenden angewandte Holocaustdefinition (ebd.: 65), wie sie professionell mit Gefühlsausbrüchen und den Grenzen des Verstehbaren umgehen (ebd.: 95-97), welche pädagogischen Ziele sie mit der Holocaust Education verfolgen, die von Vorurteilsbekämpfung, Vergrößerung des historischen Wissens, Aufmunterung zu bürgerschaftlichem Engagement über die Personalisierung von Geschichte bis hin zur Bewusstseinsschaffung gegen Schwarz-Weiß-Vorstellungen von Gesellschaft reichen (ebd.: 76-85).
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Prägnant lässt sich der Zeitraum von 1995 bis 2005 als Phase der Transnationalisierung zusammenfassen, in der sich die Aufmerksamkeit von konkreten Schuld- und Verantwortungsfragen hin zu einer oft abstrakten Opfererfahrung verschoben hat. Holocausterinnerung bekam eine globale (im Sinne der Aneignung und Entfremdung jüdischen Opferseins im Nationalsozialismus) und eine europäische (offizielle Entschuldigung und Implementierung von Erinnerungsmaßnahmen als Zugehörigkeitskriterium) Dimension. Transnationale und europäische Akteure begannen sich diesem Politikfeld anzunehmen oder es entstanden Organisationen wie die ITF, die sich der Holocausterinnerung widmen. Kritische Stimmen sprechen von einer Top-down-Normierung und einem Export sowie von einer fragwürdigen Rolle Deutschlands (und Österreichs). Schuld würde großzügig über Europa verteilt und die entsprechenden Bearbeitungsinstrumentarien gleich mitgeliefert. Die aktuelle akademische Debatte weist drei Schwerpunkte auf. Erstens sei die Expansion von Erinnerungspolitik auf andere NS-Opfergruppen und außernationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diktaturen unaufhaltsam. Anstatt sie zu unterdrücken, sollte sie so gestaltet werden, dass der Holocaust nicht relativiert werde. Diese Gestaltungsprozesse müssten zweitens viel mehr auf offenen Diskussionsprozessen denn auf expertokratischen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen beruhen. Die Literatur hat jedoch noch wenig schlüssige Antworten hervorgebracht, wie dieser politische Austausch angesichts einer nicht vorhandenen europäischen Öffentlichkeit und dem wiederum sehr voraussetzungsvollen Zugang zu politischer und intellektueller Deliberation aussehen könnte. Drittens finden sich rezent auch Beiträge, die fordern, dass sich die Erinnerung an der europäischen Integrationsgeschichte neu orientiert. Dadurch würde der Holocaust nicht ausgeblendet, jedoch um einen Erinnerungsgegenstand ergänzt, der mehr integrative Kraft für die sich einigenden europäischen Gesellschaften verspricht. Die eingangs formulierte Fragestellung, in welchen institutionellen und inhaltlichen Kontexten der Europarat erinnerungspolitische Maßnahmen setzt, anhand welcher thematischen Schwerpunkte die Darstellung des Holocaust erfolgt und welches Bild von Europa damit entworfen wird, ließ die Wahl der Untersuchungsmethode auf eine textorientierte Spielart (vgl. z.B. Titscher et al. 1998) der Grounded Theory (aufbauend auf die methodologischen Überlegungen von Strauss/Corbin 1996 und Clarke 2007) fallen. Anders als bei einer (qualitativen) Inhaltsanalyse werden keine
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A-priori-Kategorien aus den vorhandenen – im konkreten Fall eher spärlichen – theoretischen Einsichten entwickelt und an das Textmaterial angelegt. Allerdings beruht auch die Anwendung der Grounded Theory auf gewissen Vorannahmen, die sich sowohl aus der Kenntnis bereits existierender Veröffentlichungen als auch aus den durch die Autorin erfolgten Begriffsabgrenzungen speisen (vgl. Breuer 2010: 29). Am Anfang der Materialrecherche standen das offene Sammeln verschiedener Publikationen und Dokumente aus dem Umfeld des Europarates sowie zahlreiche Interviews mit Expertinnen und Experten. Vorproduzierte, das heißt unabhängig von der Forschungssituation entstandene schriftliche Materialien hatten Priorität. Es wird argumentiert, dass bestehende Texte in Hinblick auf längerfristige Entwicklungen und auf kommunikative Latenzen aussagekräftiger sind. Interviews sind punktuell und bergen besonders bei einem sensiblen Gegenstand wie europäische Holocausterinnerungspolitik die Gefahr, gewünschte oder diplomatisch geglättete Antworten zu generieren. Die Auswahl der verfügbaren Quellen wurde nur anfänglich geringfügig eingegrenzt. Das Material stammt von unterschiedlichen entweder institutionellen oder vom Europarat konsultierten externen Autorinnen und Autoren. Thematisch wurde eine gewisse Breite zugelassen. Zu betonen ist, dass die veröffentlichten Materialien teilweise klassische Selbstdarstellungen sind, teilweise aber einen evaluativen Charakter in Bezug auf Programmschienen des Europarates aufweisen. Das heißt, dass auch Dokumente, die nicht lexikalischen Indices wie Holocaust, Shoah, Nationalsozialismus oder Erinnerung und Gedenken zugeordnet werden können, in der Recherche berücksichtigt wurden. Ein weiteres Auswahlkriterium richtete sich danach, ob die Materialien erhältlich und mir sprachlich zugänglich waren. Die meisten der herangezogenen Texte wurden als Druckwerk und/oder im Internet publiziert. Das hat nicht nur forschungspragmatische Gründe. Die langfristige Wirkung von unter Verschluss gehaltenen Papieren oder internen Kommuniqués kann für einen auf Öffentlichkeit und Weitergabe angewiesenen Gegenstand wie Holocausterinnerung als gering eingeschätzt werden. Englischsprachige Dokumente und die dort enthaltenen Formulierungen wurden bevorzugt, weil sie häufiger verwendet werden. Deutsch- und französischsprachige Texte wurden lediglich dann konsultiert, wenn kein englischsprachiges Pendant vorhanden war. Zusätzlich waren die insgesamt fünfzig Gespräche mit Politikgestalterinnen und Politikgestaltern (policy-makers) und einschlägig tätigen
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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Europa, Israel und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Orientierung im Politikfeld und zum Verständnis institutioneller und prozeduraler Zusammenhänge unverzichtbar. Die Tatsache, dass der Verfasserin die meisten Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sowohl aus dem akademischen Bereich als auch aus der politischen Praxis im Schneeballsystem vermittelt wurden, legt das Bestehen eines transnationalen Netzwerkes der im Bereich europäischer und globaler Holocausterinnerung tätigen Akteure nahe. Dementsprechend wird nicht zwischen Hintergrundgesprächen mit Politikgestalterinnen und Politikgestaltern auf der einen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf der anderen Seite unterschieden, da im Feld transnationaler beziehungsweise europäischer Holocausterinnerungspolitik beide Akteursgruppen tätig sind und einzelne Personen auch oft eine situationsbedingte Doppelrolle einnehmen. Die persönlich, telefonisch oder durch E-Mail-Austausch geführten Gespräche, denen ein jeweils situationsangepasster Leitfaden zugrunde lag, spielten auch beim Aufspüren relevanter Literatur (vor allem bei grauer Literatur sowie bei Forschungsergebnissen aus frankophonen und osteuropäischen Wissenschaftszusammenhängen) eine wichtige Rolle. Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat mit ihrer institutionellen Einbettung, ihren thematischen Schwerpunkten und ihrem dadurch entwickelten Europabild wurde bis dato weder in der erinnerungs- noch in der europapolitischen Forschung entsprechend berücksichtigt. Die erinnerungspolitischen Bestrebungen in der Straßburger Organisation reflektieren selbstverständlich einige der allgemeinen Trends der erinnerungspolitisch so relevanten eineinhalb Dekaden seit 1995. Sie weisen allerdings auch Besonderheiten auf; die Tatsache, dass der Europarat nach dem Nationalsozialismus auf dem normativen Fundament, die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie zu schützen und zu fördern, gegründet wurde, ist nur ein – noch dazu oberflächlich leicht beobachtbares – Alleinstellungsmerkmal. Um aufzuspüren, welche Spezifika, aber auch welche Gemeinsamkeiten mit vergleichbaren Programmen sich aus den Entscheidungsprozessen und Dokumenten der Holocausterinnerungspolitik im Europarat ergeben, bietet sich die Grounded Theory als Forschungsmethode an. Zunächst ist zu klären, was die Autorin des Buches und der Europarat, oft voneinander abweichend, unter dem Holocaust, unter Erinnerungspolitik sowie unter Europa verstehen.
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1.2 B EGRIFFLICHE K L ÄRUNGEN Die Wörter Holocaust, Erinnerung und Europa werden in publizistischen, politischen und akademischen Debatten inflationär eingesetzt. Nur vordergründig herrscht Konsens über den konkreten Gehalt dieser Begriffe. Selbst in einem nicht geschichtsrevisionistischen Spektrum bezieht sich der Holocaust teils nur auf die nationalsozialistische Vernichtung jüdischer Menschen, teils aber auch auf NS-Verbrechen an anderen Opfergruppen. Bei Erinnerung besteht die Herausforderung, den Begriff politikwissenschaftlich einzugrenzen und vor allem von seinem psychologischen Gehalt zu trennen. Europa konzeptuell zu fassen scheint aussichtslos und trotzdem notwendig, um wegzukommen von einem zu engen, lediglich auf die EU bezogenen Europabegriff oder einer zu weiten Vorstellung, in der Europa ein substanzloser Platzhalter entweder für überzogene Hoffnungen (europhil) oder übertriebene Befürchtungen (europhob) ist. Die begrifflichen Klärungen weisen zwei Dimensionen auf: jene der Autorin und jene aus dem Umfeld des Europarates. Beide sollen offengelegt werden.
Der Holocaust Die von den Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten unter Mithilfe und Stillschweigen großer Teile der deutschen und österreichischen Bevölkerung sowie anderer Europäerinnen und Europäer vor allem an Jüdinnen und Juden begangenen Verbrechen entziehen sich trotz akribischer Erforschung menschlicher Vorstellungskraft, wiewohl sie von Menschen an anderen Menschen verübt wurden. Umso dringlicher ist die Auseinandersetzung darüber, mit welchen Begriffen das Geschehene bezeichnet wird. In Publizistik und Wissenschaft hat der englisch-amerikanische Terminus Holocaust die Chiffre Auschwitz seit den 1980er Jahren zunehmend abgelöst. Ursache dafür war mitnichten nur die Ausstrahlung der TV-Serie Holocaust im Jahre 1978, sondern auch die langsam in die öffentliche Debatte einsickernden Forschungsergebnisse, die belegen, dass der millionenfache Massenmord an Jüdinnen und Juden nicht nur in abgeschlossenen Konzentrations- und Vernichtungslagern stattfand, sondern Bestandteil der Vernichtungsfeldzüge in Südost- und Osteuropa war. Dadurch erweiterte sich auch der öffentlich sichtbare Täterkreis von den seit 1945 weitgehend verdammten SS-Schergen bis tief in die jahrzehntelang als sauber eingestufte Wehrmacht. Ebenfalls rückläufig ist die Verwendung der aus
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der NS-Terminologie stammenden Endlösung zugunsten der vor allem von Raul Hilberg monierten präzisen Bezeichnung Vernichtung der europäischen Juden. Das Berliner Mahnmal inkorporiert, eventuell auch mangels deutschsprachiger Synonyme für Holocaust oder Shoah, ebenfalls diesen Begriff. In innerjüdischen Diskursen ist Shoah (aus dem Hebräischen übersetzt: Katastrophe) üblich, wobei im Französischen allgemein wesentlich häufiger Shoah als Holocaust benutzt wird und die hebräischsprachige Begrifflichkeit seit Mitte der 1990er Jahre auch von zahlreichen germanophonen Sprecherinnen und Sprechern präferiert wird. Dieser Umstand lässt sich möglicherweise durch die von Daniel Levy und Natan Sznaider beobachtete Hinwendung zur jüdischen Opfererfahrung erklären (vgl. Levy/Sznaider 2001). Die vorliegende Untersuchung verwendet den international gebräuchlichsten, wenn auch bedeutungsgeschichtlich problematischen Terminus Holocaust (die griechische Übersetzung des biblischen Ganzbrandopfers), um der Inter- beziehungsweise Transnationalität des Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden (vgl. auch Marchart/Öhner/Uhl 2003: 309). Entscheidender als die Bezeichnung ist jedoch die Bedeutung oder mit anderen Worten: welche Ereignisse und Opfergruppen werden unter dem Terminus Holocaust zusammengefasst? Als engste Definition gilt die Stockholmer Deklaration der ITF, die sich auf den Holocaust und in Parenthese auf die Shoah bezieht, aber auch Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer ehrt und dazu aufruft, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen (vgl. ITF 2000). Kathrin Meyer, Direktorin des ITF-Büros, betont, dass der Begriff Holocaust im ersten Absatz der Stockholmer Deklaration klar auf die jüdischen NS-Opfer begrenzt wird, obwohl sich mittlerweile ein Arbeitsgruppenunterausschuss mit dem Genozid an Romnia und Roma befasst (vgl. Gespräch Meyer 2009). Von der ITF-Arbeitsgruppe Bildung und Erziehung wurde unterdessen ein Dokument veröffentlicht, das die Definitionen des Imperial War Museum11 11 | Imperial War Museum: »Zur Errichtung ihrer ›Neuen Ordnung‹ wollten die Nationalsozialisten alle Juden Europas im Schatten des Zweiten Weltkrieges vernichten. Erstmals in der Geschichte kamen industrielle Methoden für die Massenvernichtung eines ganzen Volkes zum Einsatz. Sechs Millionen Menschen wurden ermordet, darunter 1,5 Millionen Kinder. Dieses Ereignis wird Holocaust genannt. Die Nationalsozialisten versklavten und ermordeten darüber hinaus Millionen anderer Menschen. Roma, Menschen mit physischen oder psychischen Behinde-
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in London, des United States Holocaust Memorial Museum12 in Washington, D.C. und von Yad Vashem13 in Jerusalem gegenüberstellt, wobei alle drei Institutionen Jüdinnen und Juden als Opfer des Holocaust benennen, jedoch andere Opfergruppen des Nationalsozialismus miterwähnen (ITF o.J.a). Während die ITF für gewisse Ergänzungen offen ist, arbeitet das Sekretariat des Europarates mit einer äußerst breiten Begriffsbestimmung. Diese sieht als Opfer des Holocaust Jüdinnen und Juden, Romnia und Roma, Opfer sogenannter Medizinverbrechen, Homosexuelle, Zeuginnen und Zeugen Jehovas sowie aus politischen Gründen Verfolgte beziehungsweise Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, nicht jedoch die Zivilbevölkerung in Osteuropa, da die gegen sie begangenen Taten Kriegsverbrechen und nicht Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien (vgl. Gespräch Regard 2009). Auch im Nationalsozialismus als asozial kategorisierte und verfolgte Menschen erwähnt sie nicht. Zu berücksichtigen sei, dass länderübergreifende Definitionen immer einen Minimalkonsens rungen, Polen, sowjetische Kriegsgefangene, Gewerkschafter, politische Gegner, Deserteure, Homosexuelle und andere wurden getötet.« (Zit.n. ITF o.J.a) 12 | United States Holocaust Memorial Museum: »Holocaust ist die Bezeichnung für ein einzigartiges genozidales Ereignis des 20. Jahrhunderts: die vom Staat organisierte und systematische Verfolgung und Auslöschung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Kollaborateure zwischen 1933 und 1945. Juden waren die Hauptleidtragenden – sechs Millionen wurden ermordet; Roma, Behinderte und Polen waren ebenso Ziel nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik aus rassistischen, ethnischen oder nationalistischen Gründen. Millionen mehr, darunter Homosexuelle, Zeugen Jehovas, sowjetische Kriegsgefangene oder Oppositionelle waren ebenso Opfer von brutaler Unterdrückung und Tod durch das NS-Regime.« (Zit.n. ITF o.J.a) 13 | Yad Vashem: »Holocaust steht für den Mord an etwa sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure. Zwischen dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 und dem Kriegsende in Europa im Mai 1945 war es das erklärte Ziel des nationalsozialistischen Deutschlands und seiner Komplizen, jeden in ihrem Einflussbereich befindlichen Juden zu ermorden. Weil die Diskriminierung der Juden durch die Nationalsozialisten mit Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 begann, sehen viele Historiker dies als den Beginn der Epoche des Holocaust. Die Juden waren nicht die einzigen Opfer des NSRegimes, aber sie waren die einzige Gruppe, deren Vernichtung total sein sollte.« (Zit.n. ITF o.J.a)
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darstellen. Dieser lautet derzeit, dass Jüdinnen und Juden die Opfer des Holocaust waren (vgl. Gespräch Stokholm Banke 2009). Trotzdem plädiert Karel Fracapane für exakte begriffliche Trennungen. Es gehe dabei nicht darum, Opfererfahrungen auf- oder abzuwerten, sehr wohl aber um ein präzises Begriffsinstrumentarium, um die Geschichte zu verstehen und künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern (vgl. Gespräch Fracapane 2009). Der israelische Holocausthistoriker Yehuda Bauer und mit ihm nach wie vor Yad Vashem, dessen Forschungsabteilung er leitete, verfechten eine enge Definition, die den Terminus Holocaust ausschließlich auf die jüdischen Opfer und das an ihnen begangene präzedenzlose Verbrechen anwendet. Die Präzedenzlosigkeit darf nicht mit dem Singularitätstopos14 verwechselt werden, denn Erstmaligkeit muss in künftiger Perspektive nicht Einmaligkeit bedeuten. Bauer schlussfolgert, »daß es zwischen der Absicht der Zerstörung einer Gruppe im Zusammenhang eines selektiven Massenmords und dem Ziel der Vernichtung innerhalb dieser Gruppe zu unterscheiden gilt. Um dies soweit wie möglich zu vereinfachen, schlage ich vor, den Begriff ›Genozid‹ für den ›partiellen‹ Mord und den Begriff ›Shoah‹ für die totale Vernichtung zu verwenden.« (Bauer 2001: 29; Herv. i.O.)15 Bauer stemmt sich 14 | Zur Kritik an der Singularitätsthese: »Die Aporien, in die sich Versuche, die Singularität des Holocaust anhand empirisch-historischer, ja vielleicht sogar quantitativer Kriterien zu erweisen, verstricken, sobald diese Versuche mit anderen empirisch-historischen Darstellungen von Genoziden […] konfrontiert werden, diese Aporien sind genau der Verwechslung eines philosophisch-theoretischen Grenzbegriffs mit einem empirischen oder empirisch-operationalisierbaren Begriff geschuldet. Singularität im strengen Sinn kann kein Kriterium einer Wissenschaft sein, die historische, soziale oder diskursive Bewegungen nachzuzeichnen versucht, wenn es sich zuallererst um eine uneinholbar ontologische Kategorie handelt, um einen quasi-transzendentalen Grenzbegriff.« (Marchart 2003: 40; Herv. i.O.) 15 | Die retrospektive Definition Charles S. Maiers bietet ein ähnliches Unterscheidungskriterium zwischen den an Jüdinnen und Juden verübten Verbrechen einerseits und Stalinismus sowie poststalinistischem Realsozialismus andererseits. »Ein ausschlaggebender Grund, warum die Erinnerung an den Nationalsozialismus über eine längere Halbwertzeit verfügt, ist der, dass die anvisierte Gruppe der Opfer weniger diffus bzw. sehr viel ›organischer‹ ausfiel.« (Maier 2001/2002: 161; Herv. i.O.)
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dagegen, den Holocaust mystisch oder metaphysisch aufzuladen. Er besteht darauf, dieses Verbrechen zu erklären, das von rational handelnden, wenn auch nur der inneren Logik des Nationalsozialismus mit seinem Vernichtungsantisemitismus folgenden Menschen verübt wurde. Folglich setzt sich Bauer für eine komparative Forschung ein, um die Präzedenzlosigkeit des Holocaust nachzuweisen und seine historische Bedingtheit nachvollziehen zu können (vgl. ebd.: 62). »Das Grauen der Shoah besteht nicht darin, daß sie von menschlichen Normen abwich, sondern gerade darin, daß dies nicht der Fall war.« (ebd.: 65; Herv. i.O.; vgl. theoretisch fundiert Bauman 1994). Romnia und Roma sind in Bauers Definition nicht enthalten, da empirisch nachgewiesen werden kann, dass sie außerhalb des Deutschen Reiches nicht systematisch ermordet wurden. Damit wird das Merkmal der potential globalen und totalen Vernichtung nicht erfüllt (vgl. Bauer 2001: 73). Der Definition Bauers wohnt die Gefahr inne, Opferkategorien zu hierarchisieren und nichtjüdische Opfer des Nationalsozialismus erneut zu viktimisieren. Dem ist beizukommen, indem andere Opfergruppen mit anderen Termini – Samudaripen (Romanes für Mord an allen) für die verfolgten und ermordeten Romnia und Roma – bezeichnet und die von ihnen erlittenen Opfererfahrungen als ebenso erinnerungswürdig wie der Holocaust betrachtet werden. Die Verfasserin der vorliegenden Studie steht also vor dem Dilemma, einerseits die klassische Definition nach Yehuda Bauer zu bevorzugen, weil sie analytisch klar ist, andererseits aber nolens volens die vom Europarat angewendete inklusive Betrachtungsweise ebenso berücksichtigen zu müssen. Der engen Definition Bauers folgend bedingt der Holocaust, sich auch mit jener des Antisemitismus auseinanderzusetzen. Aus Sicht der intentionalistischen Holocausthistoriografie ist diese Verknüpfung zwingend notwendig, doch auch der der funktionalistischen Richtung zugerechnete Raul Hilberg betrachtet in seinem 1961 erstmalig auf Englisch publizierten Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden (Hilberg 1998) den Antisemitismus als nationalsozialistisches Kernideologem. In Hinblick auf die Holocausterinnerung ist insbesondere der sekundäre Antisemitismus zu bedenken, der nicht trotz sondern wegen des Holocaust entstand und jüdischen Individuen, Gemeinden, Organisationen und dem demokratischen und jüdischen Staat Israel vorwirft, aus dem Holocaust Profit schlagen zu wollen oder von ihnen erwartet, sich gerade aufgrund der Verfolgungs- und Vernichtungserfahrung moralisch höher-
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wertig als andere verhalten zu müssen. Manfred Gerstenfeld weist den antisemitischen Gehalt der Leugnung oder Trivialisierung des Holocaust nach (Gerstenfeld 2010). Für Untersuchungen im transnationalen Umfeld ist auch danach zu fragen, wie der Antisemitismus sich jenseits nationalstaatlicher Zusammenhänge fortsetzt und wandelt, indem er Jüdinnen und Juden sowie Israel vorwirft, einem rückständigen Nationalismus in einer vorgeblich postnationalen Welt zu fröhnen (Falter/Kübler 2010; Rensmann 2011).
Erinnerung An den Holocaust kann privat, im familiären und sozialen Umfeld oder auch öffentlich beziehungsweise offiziell erinnert werden. Der Begriff Erinnerung beschreibt hier jedenfalls einen bewussten Akt der Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er beinhaltet sowohl das Sich-Erinnern als auch das (an) jemanden oder etwas Erinnern (vgl. Lottes 2005) und setzt Anamnese (recollection) voraus (vgl. Ricœur 2001/2002). Damit grenzt sich diese Definition vom Gedächtnis ab, das permanent im Hintergrund wirkt und Handlungen auch beeinflussen kann, ohne dass diese gezielt abgerufen werden16. Dem nicht-privaten Erinnern liegt politisches Handeln zugrunde. Vielfach wird auch das Erinnern im privaten Rahmen durch gesellschaftliche und politische Intervention angestoßen. Der Europarat spricht knapp von Erinnerung (remembrance) anstelle von Gedenken (commemoration), wobei er ersteres als Tätigkeit mit zukunftsgerichteter Handlungsperspektive, zweiteres hingegen als Ritual ohne konkretes Lernziel versteht. In keiner Eigendarstellung ist explizit von Erinnerungspolitik die Rede. Erinnerungspolitik kann in Abgrenzung zu Geschichts- und Vergangenheitspolitik definiert werden. Gemäß der von Günter Sandner vorgeschlagenen Definition bezieht sich Vergangenheitspolitik auf die unmittelbare Aufarbeitung von diktatorischen Vergangenheiten, wohingegen Geschichtspolitik die politische Auseinandersetzung mit historischen Ereig16 | Zentrale neuere Literatur der theoretisch-konzeptuell weit entwickelten, auf den Holocaust bezogenen Gedächtnisforschung befasst sich mit europäischen Aspekten von Gedächtnis (z.B. Assmann 2006), familialen Tradierungsmustern (z.B. Welzer/Lenz 2007) oder Erinnerungsorten (z.B. François 2006; François 2008).
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nissen und Entwicklungen (beziehungsweise den davon existierenden Aufzeichnungen und Vorstellungen) umfasst. »Wenn von Geschichtspolitik gesprochen wird, ist daher Vergangenheitspolitik nicht ausgeschlossen, wenn der Begriff Vergangenheitspolitik verwendet wird, ist ein spezieller Teil von Geschichtspolitik gemeint.« (Sandner 2001: 7; vgl. auch Bock/Wolfrum 1999) Vergangenheitspolitik ersetzt somit zwei im Deutschen vor allem in den Nachkriegsjahrzehnten sehr gebräuchliche Begriffe: den psychologisierenden von der Vergangenheitsbewältigung und den moralisierenden von der Wiedergutmachung. Als Funktionen von Geschichtspolitik gelten Traditionsstiftung und Kontinuität, (De)Legitimierung, (kollektive) Identität, Antizipation, Emanzipation sowie (nationale und/oder soziale) Integrationen (vgl. Sandner 2001: 7-9). Im Unterschied zu Sandners Definition von Geschichtspolitik inkludiert der hier bevorzugte Begriff der Erinnerungspolitik Handlungen und Orte der Kommemoration sowie das angeleitete Nachdenken über ein zeitlich klar bestimmtes Ereignis und die daraus erwachsenen Konsequenzen. Erinnerung (remembrance) bezieht sich also auf ein aktives, ja politisches Vergegenwärtigen von Vergangenem – so selektiv dies im Detail sein mag. Elaborierter ist die von Claus Leggewie und Erik Meyer formulierte Differenzierung, die unterschiedlichen Politiken, deren Dimensionen, Aspekten sowie Adressatinnen und Adressaten Rechnung trägt. Vergangenheitspolitik sei demnach politisch-justitiell, würde auf Rechtsfrieden und Rechtssicherheit abzielen und Täterinnen und Täter sowie Opfer ansprechen. Der erste Typus von Geschichtspolitik könne als Erinnerungspolitik bezeichnet werden. Er sei politisch-instrumentell, habe Legitimation, Diskurshegemonie, Deutungshoheit und symbolische Politik im Blick und richte sich an die/eine politische Öffentlichkeit. Es bestehe allerdings in Form von Erinnerungskultur als Politikfeld ein zweiter Typus an Geschichtspolitik. Dieser sei politisch-administrativ, fokussiere auf Dezision, Implementation, Evaluation und Integration und möchte nicht weniger als die Gesamtheit der Akteurinnen und Akteure im Politikfeld ansprechen (Leggewie/Meyer 2005: 13).17 Mit Leggewie und Meyer legt der in der vorliegenden Arbeit zur Anwendung kommende Erinnerungspolitikbegriff tatsächlich großes Augenmerk auf Legitimation, Diskurshegemonie und 17 | Leggewie/Meyer nennen außerdem institutionalisiertes Gedenken (politischkulturell – Einstellungen – Gesellschaft) und Bildung bzw. Holocaust Education (politisch-didaktisch – Verhalten – Jugend) (vgl. Leggewie/Meyer 2005: 13).
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Deutungshoheit. Damit unterscheidet er sich von dem kürzlich in die Debatte hineingetragenen Konzept des Erinnerungsmanagements, das das politische Moment tendenziell ausblendet (vgl. Kaschuba 2010; Noetzel 2006; Zimmerli/Landkammer 2006). Weniger anschlussfähig ist jedoch Leggewies und Meyers Definition der Erinnerungskultur, da Dezision, Implementation, Evaluation und Integration in der vorliegenden Untersuchung sehr wohl als immanenter Teil des politischen Moments von Erinnerung betrachtet werden. Überhaupt ist die Gegenüberstellung oder zumindest trennscharfe Unterscheidung von Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur fragwürdig. Erinnerungspolitik findet in einem erinnerungskulturellen Umfeld statt, ist mithin ein Gradmesser für das in einer Erinnerungskultur Mögliche und kann durch Ausübung von Gestaltungsmacht zur Transformation einer Erinnerungskultur beitragen. Birgit Schwelling schlägt eine positive Verknüpfung von kulturwissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Annäherungen an Erinnerung vor. Die von Leggewie und Meyer en passant erwähnte symbolische Politik ist demnach nicht bloß weiche Oberfläche von harten erinnerungspolitischen Deutungskämpfen und Entscheidungsfindungen, sondern integraler Teil politisch-instrumentellen und politisch-administrativen Handelns (Schwelling 2008: 106). Schwellings Konsequenz, Herstellung und Darstellung von Politik zusammenzuführen, ist für die vorliegende Arbeit, die sich mit der Frage nach den inhaltlichen und institutionellen Zusammenhängen der Holocausterinnerungspolitik im Europarat und der Darstellung derselben in thematischen Schwerpunkten befasst, von zentraler Bedeutung. »In symbolischen Formen wird ›eigentliche‹ Politik nicht nur dargestellt, sondern sie sind selbst als elementare Formen des Politischen zu verstehen. Umgekehrt dienen praktisch-politische Maßnahmen der Politik nicht nur der Herbeiführung allgemein verbindlicher Entscheidungen, sondern sie enthalten darüber hinaus immer auch Sinn.« (Ebd.: 110) Außerdem greift Schwelling den oft von politikwissenschaftlicher Seite an die Kulturwissenschaften adressierten Vorwurf, wonach Akteurinnen und Akteure und deren Handlungsmöglichkeiten unterbelichtet blieben, auf. Akteurshandeln im Politikfeld braucht beziehungsweise produziert nicht nur Steuerung und Integration, sondern in gleichem Maße auch Ordnung und Orientierung (ebd.: 114). Die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Definition des Politischen – Gestaltungsmacht, konflikthafter Interessensausgleich und Hegemoniebestrebungen in Wechselwirkung mit den
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jeweiligen historischen und ökonomischen Bedingungen – favorisiert eine akteurszentrierte Perspektive, die danach fragt wie Politik sich organisiert, formt und darstellt. Jan-Werner Müller merkt kritisch an, dass der Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs sich häufig automatisch auf den Holocaust bezieht (vgl. Müller 2002: 14). Auch im vorliegenden Buch ist oftmals ohne beschreibendes Attribut die Rede von Erinnerungspolitik oder dem dazu gehörenden Adjektiv erinnerungspolitisch. Dass damit auf Holocausterinnerungspolitik abgezielt wird, ergibt sich aus dem spezifischen Forschungsgegenstand. Dieser verallgemeinernde Gebrauch darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene erinnernd auf andere Verbrechen und Opfergruppen Bezug genommen wird.
Europa Beiläufig fielen bisher Wendungen wie transnationale oder europäische Erinnerungspolitik. Das Wort transnational schlägt zunächst vor, dass über nationalstaatliche Begrenzungen hinweg interagiert wird und – im Gegensatz zu internationalen oder intergouvernementalen Prozessen – auch nichtstaatliche Akteurinnen und Akteure beteiligt sind. Insofern ist europäische Erinnerungspolitik auch transnational, da sie deutlich über zwischenstaatliche Zusammenarbeit oder Top-down-Implementierung hinausreicht. Europäisch bedeutet jedoch keineswegs, dass der Nationalstaat aufgehoben wird, sondern dass er durch Integration und Europäisierung ergänzt und transformiert wird. Es ist also weder postnational (nationalstaatliche Bezugsrahmen sind nicht obsolet) noch durchgehend supranational, da dieser Begriff korrekt gebraucht nur Institutionen wie die Europäische Kommission oder die Europäische Zentralbank beschreibt, die von den EU-Mitgliedstaaten Souveränität übertragen bekamen und somit zumindest partiell föderalistisch handeln. Vier Definitionen von Europa bieten sich an. Erstens könnte Europa als geografisch eingrenzbares Territorium und über Zugehörigkeit von Individuen und/oder Kollektive definiert werden. Diese – ohnehin willkürlichen – Grenzziehungen nach außen verraten jedoch nicht, was innerhalb Europas geschieht. Die zweite Definition – Europa als Idee – weist das gegenteilige Problem auf. Europäische Ideen, die von der positiv besetzten Aufklärung bis zum Antisemitismus reichen, können überall
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auf der Welt auftreten, sich dort aber unterschiedlich stark ausprägen. Abgrenzungen zu dem, was nicht Europa ist, werden unmöglich. Die EU-Integrationsforschung bietet drittens mit dem europäischen Mehrebenensystem aus mitgliedstaatlicher und europäischer Ebene ein vergleichsweise leicht greifbares Modell an, auch wenn dies in der Empirie nicht so schematisch haltbar ist. Durch die europäische Integration geben die Nationalstaaten Kompetenzen und Souveränität an die EU ab, die topdown als Europäisierung18 auf die Mitgliedstaaten zurückwirkt (vgl. Börzel/Risse 2003). Dieser Europabegriff ist jedoch außerhalb der EU, also beispielsweise beim Europarat, nicht praktikabel. Viertens – dabei handelt es sich um die Definition der Wahl – kann Europa als kosmopolitisches Projekt gedacht werden. Mit Kalypso Nicolaïdis lässt sich Europa als geteilte anstelle einer gemeinsamen Identität, als eine Projekte- anstelle einer Identitätsgemeinschaft und als multizentrisches anstelle des Mehrebenenregierens auf den Punkt bringen (Nicolaïdis 2004: 84). Das Projekt Europa ist unabgeschlossen, unterschiedlichste Akteurinnen und Akteure arbeiten daran, wenn auch mit ungleicher Macht ausgestattet, es weiterzuentwickeln. Sie verhandeln divergierende Identitäten und Vorstellungen darüber, was Europa sein soll. Michael Geyer wendet ein, dass Europa als Konfliktraum und nicht als auserwählter Ort von Zugehörigkeit zu verstehen sei (Geyer 2007: 242). Durch Handlungen (enactment) tritt das nicht vollendbare Projekt Europa gegenüber dem vollendeten und in der Gegenwart nur nachwirkenden Erbe Europas in den Vordergrund. Dem Projekt ist jedoch inhärent, dass auf ein Ziel hingearbeitet und dafür projektrelevante Allianzen gebildet werden. So unrealistisch das gesetzte Ziel auch sein mag, können sich aus der Projektzusammenarbeit stabile Netzwerke und längerfristige Bindungen ergeben.
18 | Europäisierung wird jedoch auch weniger rigide als »kulturelle Europäisierung« verstanden, die »ein dynamischer und vielschichtiger Prozess ist, an dem nicht nur europäische Repräsentanten, sondern auch Gelehrte, Intellektuelle, Journalisten, Lehrer und andere teilnehmen« (Karlsson 2010: 44; Übers. E.K.). Karlssons Begriff ist einerseits ob seiner breiten Akteursperspektive anschlussfähiger für den Europabegriff der vorliegenden Arbeit, andererseits verdeutlicht er aber die Dissonanzen zwischen politikwissenschaftlicher EU-Integrations- und kulturwissenschaftlicher Europaforschung.
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Die Überlegungen von Ulrich Beck und Edgar Grande zum kosmopolitischen Europa erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als hilfreich (Beck/ Grande 2007). Mit ihrer Vorstellung vom kosmopolitischen Europa bekommen sie erstens das Dynamische und Prozesshafte in den Blick und versagen sich Ausschließlichkeiten wie hermetisch abgeschlossener Nationalstaat versus übergeordnete supranationale Ebene. Wiewohl Becks und Grandes Konzeptualisierung in erster Linie auf die EU-Politik abzielt, wird mit dem von ihnen vorgeschlagenen Zugang auch die Infragestellung des Nationalstaates von unten oder von innen durch kleinere regionale oder grenzübergreifende, vielfach entlang scheinbar nicht verhandelbarer Kriterien wie Kultur, Ethnie und Religion definierte Einheiten sichtbar (vgl. auch König 2008b: 20). Jedenfalls bedeutet kosmopolitische europäische Politik nicht die Replikation nationaler Politik auf den über- oder untergeordneten Ebenen. Wenn von einem kosmopolitischen Europa die Rede ist, so geht es Beck und Grande nicht vorderhand um eine normative Erwartungshaltung an ein gleichsam anzustrebendes kantianisches Weltbürgertum (politischer Kosmopolitismus) (vgl. z.B. Held 2010), sondern um die Kritik an den Sozialwissenschaften, die drohen, entnationalisierende Wirklichkeiten mit ihrem herkömmlichen Begriffsinstrumentarium nicht mehr ausreichend in den Blick zu bekommen (methodologischer Nationalismus). Grundlegende Konzepte der modernen Gesellschaft wie beispielsweise Familie, soziale Ungerechtigkeit, Demokratie, Herrschaft, Staat, Handel, Öffentlichkeit, Gemeinschaft, Recht, Geschichte und Erinnerung müssen folgerichtig unter kosmopolitischen Vorzeichen neu definiert werden (soziologischer Kosmopolitismus) (Beck/Sznaider 2006: 6). Hinzu kommt, dass Nationalismus und (National-)Staat entkoppelt werden (Levy 2004: 184), was dazu führt, dass nationale Vorstellungen, wie auch nationale Geschichtsbilder, weder verschwinden noch automatisch mit territorial definierten Nationalstaaten kongruent sind. Trotzdem betonen Beck und Grande, dass es normativ wichtig sei, den Umgang mit dem situationsbedingt sich verändernden Anderen »auf eine gesellschaftlich akzeptable Weise auszutragen« (Beck/Grande 2007: 31). Dies ist zum Scheitern verurteilt, wenn »Normen fehlen, wenn es keine von allen akzeptierten Kriterien und keine geregelten Verfahren des Umgangs mit Andersartigkeit gibt« (ebd.)19 . 19 | Beck und Grande führen diesen Aspekt näher aus: »Zunächst muß zwischen konstitutiven und kontrollierenden Regeln unterschieden werden. Konstitutive Regelsysteme sind solche, die es uns ermöglichen, ein Spiel zu spielen; ohne sie
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Ein reflexiver Umgang mit Geschichte ist für Beck und Grande signifikant. Zwar bräuchte ein kosmopolitisches Europa vorgeblich kein normatives Fundament (ebd.: 203). Sie schränken jedoch ihre eigene These ein, indem sie »die Erfahrung der Kriege und Diktaturen, der KZs und Gulags des 20. Jahrhunderts – und ihrer politischen Verarbeitung in einem zu erschaffenden gemeinsamen Bezugshorizont des Erinnerns« (ebd.) als unverzichtbar für eine Kosmopolitisierung Europas halten. Mehr noch sehen sie Europa als »institutionalisierte Kritik seiner selbst« aufgrund der »radikale[n] selbstkritische[n] Konfrontation mit der eigenen Geschichte« (ebd.: 21). Dies ließe sich insbesondere an den Nürnberger Prozessen ablesen: »Sind die Traditionen, aus denen der Horror des Holocaust, aber auch der kolonialistische, nationalistische und genozide Wahn entstammen, europäisch, so sind es auch die Wertmaßstäbe und Rechtskategorien, an denen gemessen diese Taten als Verbrechen gegen die Menschheit weltöffentlich verhandelt werden.« (Ebd.: 205) Die Vielzahl an individuellen und institutionellen Akteuren mit teilweise wechselnden Rollen gestaltet das Projekt und wird von diesem gestaltet (making Europe). »Das englischsprachige Making verweist auf das widersprüchliche Zusammenspiel von (Selbst-)machen und Gemachtwerden, von individuellem Handeln und institutioneller Struktur.« (Poehls 2009: 21; Herv. i.O.) Das europäische Projekt ist somit bei aller Berücksichtigung von Machtgefällen kein alleiniges Elitenprojekt. Das making Europe vollzieht sich nicht nur in abgeschotteten Brüsseler und Straßburger Identitätsfabriken, sondern findet in Form von Abgrenzungen und Selbstvergewisserungen von Menschen, die sich als Europäerinnen und Europäer verstehen oder denen dieses Attribut zugeschrieben wird, statt. Europa macht sich und wird gemacht nicht nur durch erfreuliche Statistiken zu gestiegener Arbeits- und Bildungsmobilität, sondern mindestens ebenso dadurch, dass sich Menschen als Europäerinnen und Europäer begreifen, indem sie sich physisch von Bootsflüchtlingen aus dem subsaharischen Afrika oder verbal von US-amerikanischer Außen-, Sozial- und Justizpoligibt es kein Spielfeld. Kontrollierende Regeln sind präskriptiv. Sie legen fest, wie ein Spiel gespielt wird, welche Strategien und welche Spielzüge unter welchen Bedingungen ausgeführt werden dürfen. Um die Regulierung transnationaler Diversität genauer zu verstehen, ist es außerdem wichtig zwei Arten von kontrollierenden Regeln zu unterscheiden. Fremdkontrollen und reflexive Selbstkontrollen.« (Beck/ Grande 2007: 140; Herv. i.O.)
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tik (beziehungsweise dem, was sie darunter verstehen) abgrenzen (vgl. doing Europe bei Wodak 2007). Diesen performativen und multizentrischen Europabegriff fasst Wolfgang Schmale mit seiner Metapher von Europa als Hypertext, der kein Meisternarrativ produziert, pointiert zusammen: »Ein Hypertext beruht auf vielen Stellen der Sinnentstehung und Sinnproduktion oder anders ausgedrückt: ein Hypertext benötigt ein Netzwerk als Voraussetzung. Ein Hypertext ist wie das Netzwerk am Ende per definitionem offen.« (Schmale 2008: 138) Dabei stellt sich die Frage, wer in welcher Sprache an diesem Hypertext mitschreiben oder ihn zumindest lesen kann und seine dynamischen Inhalte wahrnehmen wird. Dieses gemeinsame, an den Nationalstaat erinnernde Repertoire aus Sprache und (wenn auch konstruiertem) historischem Erbe steht bekanntlich nicht zur Verfügung. Thomas Risse erkannte Anzeichen für einen europäischen Kommunikationsraum darin, dass trotz des Fehlens einer europäischen Öffentlichkeit Themen von europaweiter Relevanz in nationalstaatlichen Öffentlichkeiten an Sichtbarkeit gewinnen und Menschen über Sprachgrenzen unbeschadet konfligierender Ansichten gemeinsame Referenzrahmen entwickeln (Risse 2010: 231). Das sind Indikatoren für politisierte und demokratisierte Deutungs- und Aushandlungsräume, die ohne Demos im nationalstaatlichen Sinne funktionieren20. Risses Analyse von Zeitungsartikeln kann derartige länder- und sprachenübergreifende Kommunikationsräume nur punktuell nachweisen. Sie harren also einer Institutionalisierung in Form festgelegter Medien oder Aushandlungsorte mit klaren Spielregeln. Jonathan White legt aus Sicht der politischen Soziologie mehr Wert auf den Nachweis europäischer Gesellschaftlichkeit jenseits, aber nicht anstatt der nationalstaatlichen Ebene. White übersetzt die Erkenntnisse Risses in sein Modell der drei Formen europäischer Citizenship, die er anhand der Bindemittel und -kraft zwischen den Individuen als kulturelle Bindung (dicke Identität durch gemeinsames Erbe), kommerzielle Bindung (dünne Identität durch gemeinsamen Markt) und politische Bindung (Relevanz 20 | Das Fallbeispiel der im Jahr 2000 nach dem Eintritt der Freiheitlichen Partei Österreichs in die österreichische Bundesregierung ergriffenen bilateralen Maßnahmen der damaligen EU-14 ist für Risse ein europäisches Ereignis nicht ob der damit verknüpften Debatte um europäische Werte, sondern weil sie über Staatsund Sprachgrenzen hinweg einen ähnlichen Grad an Aufmerksamkeit, Bezugspunkten und Interpretationsmustern erzeugte (Risse 2010: 140).
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und Konflikt) einteilt (White 2010; vgl. auch europäische Identitätsbildung als Lernprozess bei Eder 2005: 213 oder Politisierung und demokratischer Konflikt zum Aufbau von geteilter Identität und Solidarität bei Castiglione 2009: 46). So gesehen gehört es ebenso zum kosmopolitischen Projekt Europa, dass diesem argumentativ widersprochen oder es abgelehnt wird, ohne dass dies als Europa zuwiderlaufender Nationalismus verbucht werden kann. Die Befürchtungen Peter Kraus’, wonach es rein politischen Bindungen daran mangle, kulturell verankert zu sein, mit der Folge, dass die Menschen in den einzelnen europäischen Gesellschaften nicht erreicht werden (Kraus 2008: 28), zerstreuen sich insofern, als dass Aushandlungsprozessen im kosmopolitischen Projekt Europa erstens schwer umstößliche Basisnormen zugrunde liegen und zweitens Kultur – egal ob als Erbe oder als Lebensweise verstanden – genauso über Landes- und Sprachgrenzen hinweg debattiert und gegebenenfalls neu definiert werden kann. Der Leitspruch der Europäischen Union – In Vielfalt geeint – verliert im Lichte des diskutierten Europabegriffes seine Sloganhaftigkeit und gewinnt an politischer und politikwissenschaftlicher Relevanz. Das kosmopolitische Projekt Europa sowie die darin lebenden und daran beteiligten Menschen sind in ihrem politischen und alltäglichen Handeln aufgefordert Bedingungen zu schaffen, unter denen Andersartigkeit existieren kann, wobei letztere das Projekt nicht zerstören darf. Eine derartige Konzeptualisierung Europas erweist sich als mehrfach passend für die Annäherung an europäische Holocausterinnerungspolitik. Im Sinne des soziologischen Kosmopolitismus gibt es keine europäische Ebene, die abgehoben von den nationalstaatlichen Zusammenhängen Entscheidungen fällt. Jan-Werner Müller hält fest, dass europäische Holocausterinnerungspolitik postnationalistisch (das heißt Nationalismus ablehnend) sein kann, postnational ist sie jedoch realiter nicht (Müller 2007: 2). Europäische Politik, so auch jene zur Holocausterinnerung, entsteht im Zusammenspiel von nationalen, supra-, inter-, trans- und subnationalen Akteurinnen und Akteuren. Holocausterinnerung beruht auf Normen, die allerdings nicht von der europäischen Ebene top-down und uniformierend verordnet werden. Vielmehr entstehen auf der Grundlage dieser stabilen Normen Verhandlungsräume, in denen die Holocausterinnerungspolitik unter Einbeziehung anderer Perspektiven gestaltet wird, sich weiterentwickelt und nach neuer, anderer Politik verlangt. Demgemäß ist der im Englischen sichtbare Gegensatz von geteilten Erinnerungen als shared memories und divided memories nur ein scheinbarer, da nicht Erinnerungen zu teilen sind, sondern die
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von Konflikten und Kompromissen geprägte Verständigung darüber Gemeinsamkeit schafft. Im Zwischenfazit ist mit Oliver Rathkolb von einem europäischen Erinnerungsraum (Rathkolb 2007: 131) mit nicht definierten Grenzen, nicht jedoch von einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft zu sprechen. Ungelöst bleiben allerdings Herausforderungen wie die Zugänglichkeit zu diesen Verhandlungsräumen, der Umgang mit Machtgefällen und die Transparenz von Entscheidungen. Aber auch der politische Kosmopolitismus berührt die europäische Holocausterinnerungspolitik. Kosmopolitismus ist eine normative Zielsetzung europäischer erinnerungspolitischer Programme. Das Fundament des kosmopolitischen Projektes Europa ist der Moment nach dem Holocaust, hinter den als normative Stunde Null nicht mehr gegangen werden kann und darf. Diese Rahmung fasst die Bedeutung der nationalsozialistischen Massenvernichtung für das europäische Projekt klarer als jene des Gründungsmythos, denn es bedurfte politischer Entscheidungen das Nazi-Regime niederzuschlagen und den Versuch europäischer Einigung zu wagen. Zeitgenössische Akteurinnen und Akteure trafen diese Entscheidungen historisch real. Der Holocaust kann also nicht erst in der Rückblende zu einem europäischen Gründungsmythos (v)erklärt werden. Mit dem Blick auf die Zukunft bedeutet dies, dass sich europäische Gesellschaften und Menschen mit dem Holocaust auseinandersetzen und Wege finden sollen, mit divergierenden Erinnerungen zu leben, ohne dabei jemals den Holocaust in Frage zu stellen und stets zu verhindern, dass er sich wiederhole. In der Zusammenschau von soziologischer und politischer Perspektive des Kosmopolitismus beschränkt sich Europa nicht auf einen Raum, in dem Erinnerungspolitik gemacht wird. Es stellt ein kosmopolitisches Projekt dar, das von der Holocausterinnerung produziert und angetrieben wird.
1.3 G ESCHICHTE , S TRUK TUR UND A RBEITSSCHWERPUNK TE DES E UROPAR ATES Holocausterinnerungspolitik im Europarat findet in einer Organisation statt, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf den normativen Grundlagen von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie entstand, und sich durch hohe Inklusivität im geografischen Sinne auszeichnet. Bildungs- und geschichtspolitische Arbeit gehörte vom
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Gründungsmoment an zu den genuinen Aufgaben der Straßburger Einrichtung. Trotz seines zwischenstaatlichen Charakters ist der Europarat im pädagogischen und geschichtsvermittelnden Bereich äußerst offen gegenüber nichtstaatlichen Akteuren aus der Praxis und Forschung. In diesem Abschnitt werden die Entstehungsgeschichte, die Mitgliedschaftskriterien, die institutionelle Architektur, die Tätigkeitsfelder und die Kooperationen des Europarates mit anderen europäischen und internationalen Akteuren dargelegt, um aufzuzeigen, in welchem Umfeld die Holocausterinnerungspolitik ausgehandelt und gestaltet wird. Gegründet wurde der Europarat 1949 in London. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass dies nur vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Nationalsozialismus und dem Holocaust erfolgte. Am Gründungsjahr lässt sich ablesen, dass die Straßburger Organisation auch ein Kind des beginnenden Kalten Krieges ist. Das zentrale Ereignis im Vorfeld der Europaratskonstituierung war die Haager Konferenz 1948. Dort waren die meisten der sogenannten Gründerväter Europas vertreten, wobei der wichtigste Impuls vom britischen Premierminister Winston Churchill kam, der bereits 1943 mitten im Zweiten Weltkrieg in einer Rundfunkansprache vorschlug, einen Europarat zu schaffen und diese Forderung in seiner Zürcher Rede 1946 bekräftigte (Schwimmer 2008a: 57). Die Gründung des Europarates war von der europapolitischen Auseinandersetzung zwischen föderalistischen und unionistischen Positionen geprägt; erstere waren bereit, nationalstaatliche Souveränität auf die europäische Ebene zu übertragen, während letzteren eine intergouvernementale Zusammenarbeit genügte (vgl. Bitsch 1997: 3, 4). Die zwischenstaatliche Verfasstheit des Europarates kann mithin als Zugeständnis an das Vereinigte Königreich und die damals integrationskritischen skandinavischen Länder (ohne Island und das geografisch zu Skandinavien zählende Finnland) gewertet werden. Achim Trunk nennt die Jahre 1949 bis 1957 nicht umsonst die »experimentelle Phase der europäischen Integration« (Trunk 2007: 6). Die beiden wichtigsten Dokumente aus der Anfangszeit sind die Satzung des Europarates (1949) und die 1950 zur Zeichnung aufgelegte Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Durch diese »›verfassungsrechtlichen‹ Quellen« (Benoît-Rohmer/Klebes 2006: 23) wird die Wertetrias des Europarates – Menschenrechte, Rechtsstaat und (pluralistische) Demokratie – sowie das Ziel, einen paneuropäischen Rechtsraum zu schaffen, deutlich. Fragen sozialer Gerechtigkeit beziehungsweise im zeitgenössischen Terminus: sozialer Wohlfahrt wurden von Anfang an auch behandelt, so
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wie sich der Europarat generell mit allen Themen außer der nationalen Verteidigung befassen kann. Eine große Zäsur für den Europarat kam mit den Umbrüchen von 1989 und 1991. Bereits 1990 wurde Ungarn aufgenommen, alleine bis 1996 traten 17 weitere Staaten bei, darunter auch die Ukraine und die Russische Föderation. In dieser Phase standen sich in der Frage der Aufnahmegeschwindigkeit zwei Schulen gegenüber (l’école de la ›democratie évolutive‹ und l’école ›pure et dure‹; vgl. Raue 2005: 23, 34), wobei sich ein Mittelweg durchsetzte. Zwar erfolgte eine vergleichsweise rasche Eingliederung der Reformstaaten, doch wurden diese mit zahlreichen Verpflichtungen und kontinuierlichem Monitoring belegt. Um diesen Erweiterungsschub inhaltlich und institutionell zu bewältigen, wurden drei Gipfeltreffen abgehalten (Wien 1993, Straßburg 1997, Warschau 2005). Es ist außerdem zu konstatieren, dass das menschenrechtliche, rechtsstaatliche und demokratiepolitische Engagement das Konfliktmanagement in BergKarabach, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Zypern und mit einigen Abstrichen in Tschetschenien erleichterte sowie zu Reformen in der Türkei beitrug (vgl. Schwimmer 2008a: 67, 68). Der Europarat war somit zwei Mal – in den 1950er und 1990er Jahren – Vorbild für die Vertiefung des europäischen Einigungsprojektes, wobei die Europäische Gemeinschaft und später die Europäische Union bei der vertikalen Integration durch das Prinzip der Supranationalität immer einen Schritt weiter gingen, jedoch nie die geografische Ausdehnung des Europarates annahmen (vgl. z.B. Hack 2004). Gegenwärtig gehören dem Europarat 47 Staaten an21 . Die Amtsspra-
21 | Beitrittsdatum in Klammer: Albanien (1995), Andorra (1994), Armenien (2001), Aserbaidschan (2001), Belgien (1949), Bosnien und Herzegowina (2002), Bulgarien (1992), Dänemark (1949), Bundesrepublik Deutschland (1950), Mazedonien (FYROM) (1995), Estland (1993), Finnland (1989), Frankreich (1949), Georgien (1999), Griechenland (1949), Irland (1949), Island (1950), Italien (1949), Kroatien (1996), Lettland (1995), Liechtenstein (1978), Litauen (1993), Luxemburg (1949), Malta (1965), Moldau (1995), Monaco (2004), Montenegro (2007), Niederlande (1949), Norwegen (1949), Österreich (1956), Polen (1991), Portugal (1976), Rumänien (1993), Russische Föderation (1996), San Marino (1988), Schweden (1949), Schweiz (1963), Serbien (2003), Slowakische Republik (1993), Slowenien (1993), Spanien (1977), Tschechische Republik (1993), Türkei (1950), Ukraine (1995), Ungarn (1990), Vereinigtes Königreich (1949), Zypern (1961).
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chen sind Englisch und Französisch22 . Einer schulgeografischen Definition der Grenzen Europas folgend sind somit nur vier Länder nicht im Europarat vertreten: Belarus (seit 1993 Beitrittskandidat, aber Nichterfüllung der Europaratsstandards), der Heilige Stuhl (Beobachterstatus im Ministerkomitee), das zu einem kleinen Teil in Europa liegende Kasachstan und Kosovo (internationaler Status ungeklärt). Beobachterstatus im Ministerkomitee genießen außerdem Japan, Kanada, Mexiko und die Vereinigten Staaten von Amerika, während Israel, Kanada und Mexiko einen solchen in der Parlamentarischen Versammlung inne haben. Die beiden Beitrittskriterien sind geografisch (ein Teil des Territoriums muss in Europa liegen; im Falle der Kaukasusstaaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien war eine vage definierte kulturelle Zugehörigkeit ausreichend, vgl. BenoîtRohmer/Klebes 2006: 38) und rechtlich (Achtung von Menschenrechten, Rechtsstaat und pluralistischer Demokratie; Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention und Antifolterkonvention). Die Aufnahme Griechenlands und der Türkei im Gründungsjahr 1949 wird auf »militärstrategische Gründe« (Trunk 2007: 66) zurückgeführt. Die Einladung eines Nicht-Mitgliedstaates durch das Ministerkomitee wird durch Prüfverfahren juristischer Expertinnen und Experten sowie Stellungnahmen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates begleitet. Das Ministerkomitee entscheidet schließlich mit Zwei-Drittel-Mehrheit, wobei den Reformländern seit den 1990ern mit dem Entschluss zur Aufnahme in den Europarat vielfach Bedingungen im Bereich institutioneller Reformen auferlegt wurden. Die Möglichkeiten freiwillig auszutreten oder ein Land auszuschließen sind gegeben. Bisher verließ Griechenland nach massivem Druck anderer Europaratsmitglieder, die während des Obristenregimes Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie nicht gewährleistet sahen, 1967 als einziger Staat den Europarat für vier Jahre. Der intergouvernementale Europarat kann als problemfeldübergreifende Programmorganisation mit partikularer Mitgliedschaft und Akteursqualität definiert werden (Rittberger/Zangl 2005: 29ff.). Die Mitgliedstaaten sind dem Europarat nicht untergeordnet, denn alle Beziehungen zwischen ihnen und der Straßburger Institution sind vertraglich geregelt und auf Kooperation und Konsensfindung ausgerichtet (vgl. Winkler 2006: 534). Von 22 | Deutsch, Italienisch und Russisch sind als Arbeitssprachen in der Parlamentarischen Versammlung zugelassen, wobei die betreffenden nationalen Delegationen für Übersetzungsdienste aufkommen müssen.
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den Europaratsverträgen (Konventionen, Abkommen)23 wurden bislang nur die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), das Europäische Kulturabkommen und die Anti-Folter-Konvention von allen Mitgliedstaaten ratifiziert. »Alle anderen Konventionen stehen den Mitgliedsstaaten sozusagen à la carte zur Verfügung.« (Schwimmer 2008a: 69; Herv. i.O.) Während also die seit 1990 beigetretenen Staaten zur Unterzeichnung des sich herausbildenden Aquis communautaire verpflichtet wurden, weigern sich beispielsweise Frankreich, Griechenland und die Türkei beharrlich die Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten zu unterzeichnen. Konventionen, die keine Akte des Europarates, sondern völkerrechtliche Verträge darstellen, müssen, um in Kraft zu treten, von mindestens drei Staaten ratifiziert werden. Die Konventionen richten sich ausschließlich an Vertragsparteien. Erweiterte Abkommen können auch von Nicht-Mitgliedern unterzeichnet werden. Dem Europäischen Kulturabkommen gehören auch Belarus und der Heilige Stuhl an. Hinzu kommt, dass viele ältere Konventionen nicht mit entsprechenden Kontrollmechanismen ausgestattet wurden (vgl. Brummer 2008: 90). Deshalb erachten Florence Benoît-Rohmer und Heinrich Klebes die bis 1994 dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegenden und seither durch Zweidrittelmehrheit bei einfacher Mehrheit der Stimmberechtigten zu billigenden Empfehlungen des Ministerkomitees oft für effektiver. Empfehlungen werden sofort nach Verabschiedung wirksam und richten sich an alle Mitgliedstaaten. Die Empfehlungen des Ministerkomitees und der Parlamentarischen Versammlung stellen teilweise sogar soft law mit Auswirkungen auf das internationale öffentliche Recht dar. Doch selbst wenn sie keine Verbindlichkeit im rechtlichen Sinne entfalten, so verfügen sie jedenfalls über eine »›moralische‹ Wirkung, da sie 23 | Auswahl von weiteren Europaratsverträgen (Jahr der Ratifizierung in Klammer): Europäische Sozialcharta (1965), Übereinkommen über die Ausarbeitung eines Europäisches Arzneibuches (1974), Europäisches Abkommen über Soziale Sicherheit (1977), Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus (1978), Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung (1988), Europäisches Übereinkommen zum Schutz von Haustieren (1992), Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (1998), Europäische Sozialcharta (revidiert) (1999), Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (1999), Europäisches Landschaftsübereinkommen (2004), Übereinkommen über Computerkriminalität (2004), Übereinkommen des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (2007), Konvention des Europarates gegen Menschenhandel (2008).
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die gemeinsame Position der europäischen Regierungen zu dem jeweiligen Thema widerspiegeln – und ihr Einfluss auf die Mitgliedstaaten erwiesen [ist].« (Benoît-Rohmer/Klebes 2006: 129; vgl. auch Hummer 2008: 41) Aus der institutionellen Architektur des Europarates lassen sich Entscheidungsprozesse und Tätigkeitsfelder ablesen. Die Straßburger Institution verfügt laut der Gliederung von Klaus Brummer über Hauptorgane (Ministerkomitee, Parlamentarische Versammlung), ein Hilfsorgan (Generalsekretärin, Sekretariat), institutionelle Partner (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats, Menschenrechtskommissarin oder Menschenrechtskommissar des Europarats), Themeneinheiten (Antifolterausschuss, Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, Europäische Kommission für Demokratie durch Recht bzw. Venedig-Kommission) und externe Partner (Internationale Organisationen, nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen) (vgl. Brummer 2008: 19). An dieser Stelle werden das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung, das Sekretariat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ob ihrer Wichtigkeit herausgegriffen. Charakteristisch für eine intergouvernementale Organisation ist das Ministerkomitee das zentrale Entscheidungsorgan des Europarates. Das Ministerkomitee arbeitet horizontal in drei verschiedenen Formationen, die sich jeweils in die politische Ebene und die Verwaltungsebene gliedern: Ministerkomitee (einmal jährlich tagende Außenministerinnen und Außenminister der Mitgliedstaaten und wöchentliche Treffen des Komitees der Ministerbeauftragten, d.h. die ständigen Vertreterinnen und Vertreter, und seiner thematischen Berichterstatter- und Arbeitsgruppen sowie Themenkoordinatorinnen und Themenkoordinatoren), Ausschussebene24 (Ausschüsse des Ministerkomitees und Untereinheiten des Komitees der Ministerbeauftragten) und Sonderformationen (Gipfeltreffen und Fachministerkonferenzen) (vgl. Brummer 2008: 34). Ebenfalls dem Typus einer internationalen Regierungsorganisation entsprechend hat im Ministerkomitee die Vertreterin oder der Vertreter jedes Mitgliedstaates eine gleichwertige Stimme. Der Vorsitz des Ministerkomitees rotiert 24 | Ausschüsse des Ministerkomitees für folgende Bereiche: Bioethik, Rechtliche Zusammenarbeit, Soziale Kohäsion, Menschenrechte, Bildung, Gleichstellung von Frauen und Männern, Jugend, Massenmedien, Kommunale und Regionale Demokratie, Probleme der Kriminalität, Gesundheit, Wirksamkeit der Justiz.
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halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten. Obwohl die Sitzungen des Ministerkomitees vertraulich sind, werden Abschlusskommuniques, die Schlussfolgerungen des Vorsitzlandes sowie verabschiedete Erklärungen und Resolutionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zudem muss das jährliche Arbeitsprogramm inhaltlich und ressourcenbezogen durch das Ministerkomitee bewilligt werden. Außerdem kann das zentrale Entscheidungsorgan des Europarates auch Konventionen, Rahmenkonventionen, Abkommen, Teilabkommen, Erweiterte (Teil-)Abkommen und Empfehlungen zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten auflegen. Je nach Abstimmungsmaterie sind Einstimmigkeit oder unterschiedliche Mehrheiten notwendig25 . Zur Einhaltung der Europaratsstandards in den Mitgliedstaaten führt das Ministerkomitee Monitoringaktivitäten26 durch. Diese umfassen den gesamtem Zuständigkeitsbereich des Europarates und sind im Gegensatz zum öffentlichen Monitoring der Parlamentarischen Versammlung vertraulich. Zwar wurde 1974 die Beratende Versammlung in Parlamentarische Versammlung umbenannt, jedoch liegt die legislative Kompetenz weiterhin vorrangig beim Ministerkomitee. Es erfolgt auch keine demokratische Legitimation durch Wahlen wie beim Europäischen Parlament. Der Parlamentarischen Versammlung gehören 636 Personen an, von denen die Hälfte Mitglieder und die Hälfte Stellvertreterinnen und Stellvertreter sind, die 25 | Einstimmigkeit (Annahme des Tätigkeitsberichtes, Änderung bestimmter Satzungsartikel, jede andere Frage, die das Ministerkomitee aufgrund ihrer Bedeutung der Einstimmigkeit unterwerfen will); einfache Mehrheit aller Stimmberechtigten (Fragen, die zur Geschäftsordnung oder zu Haushalts- und Verwaltungsanordnungen gehören, Tagesordnungen, Wiederaufnahme von Aussprachen); Zweidrittelmehrheit aller Stimmberechtigten (Einladung eines Staates zur Mitgliedschaft im Europarat bzw. zur Assoziierung, Suspendierung bzw. Ausschluss eines Staates); Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen und einfache Mehrheit der Stimmberechtigten (Verabschiedung des Haushalts, Änderung aller anderen Satzungsartikel, Auflage zur Zeichnung von Konventionen und Abkommen, Genehmigung der Verfolgung eines Teilabkommens, Annahme von Empfehlungen, Antworten auf Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung). 26 | Drei Typen von Monitoring: Monitoring unter Anwendung der MonitoringDeklaration (On Compliance with Commitments accepted by Member States of the Council of Europe, 1994), thematisches Monitoring, länderspezifisches Post-Accession-Monitoring).
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bei Abwesenheit der Mitglieder deren Abstimmungsbefugnis übertragen bekommen. Die Größe der nationalen Delegationen, deren Zusammensetzung in den Parlamenten der Europaratsstaaten unterschiedlich geregelt wird, reicht von zwei bis 18 Mitglieder. Die Mitglieder einer nationalen Delegation sind jedoch nicht an die Weisung ihrer Regierung gebunden. Eine weitere Gliederung der Parlamentarischen Versammlung erfolgt entlang parteipolitischer Fraktionen27. Dem vier Mal jährlich im Plenum tagenden Parlament steht eine Präsidentin oder ein Präsident mit 20 Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten vor. Es wird durch ein Sekretariat unterstützt. Die Ausschussstruktur28, die Abstimmungsquoren und Dokumenttypen29 sowie die Monitoringaktivitäten ähneln jener des Ministerkomitees, sind aber konsultativ ausgerichtet. Als versammlungsinterner Sanktionsmechanismus kann es verweigert werden, dass eine nationale Delegation beglaubigt wird. Neben informeller Interaktion bildet der Gemeinsame Ausschuss die zentrale Koordinations- und Kooperationsplattform zwischen Ministerkomitee und Parlamentarischer Versammlung. Außerdem muss das Ministerkomitee der Parlamentarischen Versammlung bei jeder ihrer Sitzungen einen Tätigkeitsbericht vorlegen und kann ebendort Stellungnahmen abgeben sowie innerhalb von sechs Monaten auf Empfehlungen antworten. Auch einzelne Abgeordnete können ihre Anliegen beim Ministerkomitee vortragen.
27 | Sozialistische Gruppe (SOC), Gruppe der Europäischen Volkspartei (EPP/ CD), Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), Europäische Demokratische Gruppe (EDG), Gruppe der Vereinigten Europäischen Linken (UEL). 28 | Ausschüsse der Versammlung für folgende Bereiche: Politischer Ausschuss, Recht und Menschenrechte, Wirtschaft und Entwicklung, Soziales – Gesundheit – Familie, Migration – Flüchtlinge – Bevölkerung, Kultur – Wissenschaft – Bildung, Umwelt – Landwirtschaft – Kommunale und regionale Angelegenheiten, Gleichstellung von Frauen und Männern, Einhaltung von Verpflichtungen durch Mitgliedstaaten, Geschäftsordnung und Immunität. 29 | Empfehlung (Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen) – Vorschläge der Versammlung an das Ministerkomitee; Stellungnahme (Zweidrittelmehrheit) – Fragen des Ministerkomitees an die Versammlung; z.B. Aufnahme eines neuen Mitgliedstaates; Resolution (einfache Mehrheit) – Verantwortung und Umsetzung im alleinigen Zuständigkeitsbereich der Versammlung; Weisung (einfache Mehrheit) – Verfahrensfragen.
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Laut Europaratssatzung soll das Sekretariat den beiden zentralen Organen des Europarates zur Seite stehen. Dieses wird von einer Generalsekretärin oder einem Generalsekretär für einen fünfjährigen Turnus mit de jure Möglichkeit der Wiederwahl geleitet. Während diese Position mit Personen besetzt wird, die über einen europapolitischen Karrierehintergrund verfügen, rekrutiert sich die Stellvertretende Generalsekretärin oder der Stellvertretende Generalsekretär aus der Beamtenschaft des Europarates. Das Sekretariat gliedert sich in themenspezifische Verwaltungseinheiten30, die auch die institutionellen Partner und Themeneinheiten des Europarates unterstützen. Das Sekretariat unterhält zudem Informationsbüros und Field offices in den ehemals realsozialistischen Europaratsstaaten. Die Ressourcenknappheit des Sekretariates bildet eine enorme Herausforderung für seinen gegenwärtigen Aktionsradius. »Eine Beamtenschaft von 1800 Personen, die sich um Anliegen von 800 Millionen Menschen kümmert, mutet ausnehmend gering an. Zugleich ist keine signifikante Aufstockung des Haushaltes des Europarates zu erwarten.« (Brummer 2008: 139) Das Budget des Europarates setzt sich aus drei Komponenten zusammen. Die Kosten für die Vertretung im Ministerkomitee und die nationale Delegation in der Parlamentarischen Versammlung trägt jeder Mitgliedstaat selbst. Für das Sekretariat und alle anderen gemeinsamen Ausgaben muss jeder Europaratsstaat einen Beitrag leisten, dessen Höhe beim Beitritt unter Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße und des Bruttosozialprodukts festgelegt wird. Ersucht ein Mitgliedstaat um Beitragsreduktion, so führt dies nach Verhandlung im Ministerkomitee meist dazu, dass die Anzahl seiner Versammlungssitze und die ihm zustehenden Spitzenpositionen im Sekretariat reduziert werden. Mitgliedstaaten können aber auch projektbasierte freiwillige Beiträge leisten. Die Generalsekretärin oder der 30 | Direktorate: Kommunikation, Strategische Planung, Protokolle, Interne Revision, Auswärtige Beziehungen, Rechtsberatung und Völkerrecht; Generaldirektorate: Demokratie und Politische Fragen, Menschenrechte und Recht, Sozialer Zusammenhalt, Bildung – Kultur und Kulturelles/Natürliches Erbe – Jugend und Sport, Verwaltung und Logistik; Sekretariate: Ministerkomitee, Parlamentarische Versammlung, Kongress der Gemeinden und Regionen; Privatbüro Generalsekretärin oder Generalsekretär und Stellvertretende Generalsekretärin oder Stellvertretender Generalsekretär; Büro der Menschenrechtskommissarin oder des Menschenrechtskommissars; Kanzlei EGMR.
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Generalsekretär ist mit der Ausarbeitung des Haushaltsplanes betraut, der zur Genehmigung selbstverständlich das Ministerkomitee passieren muss. In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Europarat hauptsächlich aufgrund der 1953 in Kraft getretenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; eigentlich Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) bekannt. Die EMRK beruht auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1945. Sie hat jedoch einen regional eingeschränkten Wirkungskreis und ist dank des EGMR ein effektives Instrument zur Staatenbeschwerde und nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges zur häufig genutzten Individualbeschwerde; zwischen 1992 und 2007 war ein Zuwachs dieser Beschwerden von unter 10.000 auf das über Fünffache jährlich zu verzeichnen (vgl. ebd.: 151). Die EMRK wird durch Zusatzprotokolle an aktuelle gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen angepasst. Die Richterinnen und Richter des EGMR werden aus den Vertragsparteien beziehungsweise Mitgliedsländern rekrutiert und durch die Parlamentarische Versammlung aus einem Dreiervorschlag gewählt. Ihre Urteile werden veröffentlicht und sind von den Vertragsparteien verpflichtend umzusetzen. Die Umsetzung wird durch das Ministerkomitee, wahrgenommen durch die Ständigen Vertreterinnen und Vertreter in sechs Mal jährlich stattfindenden Menschrechtssitzungen, unter Beachtung der Kriterien gerechte Entschädigung, individuelle Maßnahmen und allgemeine Maßnahmen überwacht. Die Urteile des EGMR, deren Implementierung das Ministerkomitee überwacht, sind für den betreffenden Mitgliedstaat verbindlich und entfalten darüber hinaus Leitcharakter für die Rechtsprechung in anderen Europaratsstaaten. Streng genommen ist der EGMR nur institutioneller Partner des Europarates, jedoch bildet die Auslegung der Menschenrechte durch den EGMR eine maßgebliche normative Grundlage für die Anregung und Weiterentwicklung von Europaratspolitiken. Der Europarat arbeitet mit anderen europäischen und internationalen Organisationen in zweierlei Hinsicht zusammen. Zum einen sind die Mitgliedstaaten des Europarates auch in anderen zwischenstaatlichen oder supranationalen Organisationen vertreten. Alle 27 EU-Mitgliedsländer gehören auch dem Europarat an. Ministerien für Auswärtige Angelegenheiten (oder fallweise andere Ressorts) in den einzelnen Europaratsstaaten sind gleichzeitig mit ihren Beiträgen zu anderen intergouvernementalen
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Formen der Zusammenarbeit befasst. Der Europarat als solcher und seine Organe unterhalten ebenfalls Beziehungen mit der Europäischen Union (EU), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und den Vereinten Nationen (UN). In der Statutarischen Entschließung über die Beziehungen zu zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen internationalen Organisationen von 1951 wurde festgelegt, dass das Ministerkomitee mit anderen internationalen Organisationen Abkommen schließen kann. Mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begann die Regelung des Austausches bereits 1959. Die Kooperation, die zunehmend von geografischen und inhaltlichen Überschneidungen geprägt ist, entwickelte sich bis zum 2007 unterzeichneten Memorandum of Understanding, das weiter unten besprochen wird. Auf der Spitzenebene legen der Europarat und die EG beziehungsweise nachmalig die EU seit 1989 auf sogenannten Vierparteientreffen (quadripartite meetings) zwischen der Europaratsgeneralsekretärin oder dem Europaratsgeneralsekretär, der oder dem Vorsitzenden des Ministerkomitees, der EU-Ratspräsidentschaft und meist dem für Außenpolitik zuständigen Kommissionsmitglied die großen Linien der Zusammenarbeit fest. Mit dem Jahr 1993 wurden auch gemeinsame Programme institutionalisiert, deren Zielländer vor allem in den jeweiligen EU-Beitrittsländern lagen und liegen. Auf der Arbeitsebene findet zwischen der EU und dem Europarat kontinuierlicher Austausch statt. Vor dem Hintergrund von Zweigleisigkeiten wurde auf dem dritten Europaratsgipfeltreffen in Warschau 2005 eine gemeinsame Erklärung mit der OSZE verabschiedet. Die beiden Institutionen koordinieren sich auf hochrangigen Treffen und auf der täglichen Arbeitsebene; ferner kooperieren sie bei ausgewählten Wahlbeobachtungen und Demokratiemissionen. Um die OSZE und UN einzubinden, die bereits in der Satzung des Europarates von 1951 Erwähnung findet, werden Dreiparteientreffen (tripartite meetings) abgehalten. Im Jahre 2007 fand ein Tripartite-Plus-Treffen statt, zu dem außerdem die Europäische Kommission, das Ratssekretariat der EU, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und die NATO eingeladen wurden. Separate Abkommen hat der Europarat mit im Menschenrechtsbereich angesiedelten UN-Körperschaften und UN-Sonderorganisationen geschlossen. Diese Zusammenkünfte dürfen jedoch nicht über Konkurrenzdenken und Kompetenzstreitigkeiten hinwegtäuschen, denen die Gefahr innewohnt, den Europarat schrittweise zu verdrängen und in letzter
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Konsequenz überflüssig werden zu lassen. Bis 1989 war die Aufgabenteilung zwischen den drei großen europäischen Organisationen eindeutig. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft kümmerte sich um die Entwicklung eines gemeinsamen Marktes, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE), die Vorläuferorganisation der OSZE, war vor allem mit der Ost-West-Annäherung beschäftigt, während sich der Europarat der Förderung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie verschrieb. Diese saubere Trennung geriet in den frühen 1990er Jahren mit der Expansion des Europarates in die ehemals realsozialistischen Staaten (ab 1990), der Gründung der Europäischen Union als wirtschaftliche, politische und militärische Gemeinschaft (1993) und dem stärkeren Engagement der OSZE in Menschenrechts- und Demokratiefragen (Einrichtung des ODIHR 1992) ins Wanken. Die ehemals realsozialistischen Staaten wurden zum Spielfeld der EU, der OSZE (mit dem ODIHR) und des Europarates, wobei alle drei Akteure trotz unterschiedlicher Zugänge die Ziele Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung verfolg(t)en (vgl. ohne EU-Bezug Wästfelt 2008: 1276ff.) Das in den 1990ern ins Spiel gebrachte und im Vorfeld des 50. Jahrestages auch vom Europarat aufgenommene Konzept der interlocking institutions streicht hervor, dass internationale Organisationen »nicht miteinander konkurrieren oder wetteifern [dürfen], sondern […] ihre Arbeit koordinieren [müssen], um effektiver zu sein und Dopplungen zu vermeiden« (Benoît-Rohmer/Klebes 2006: 169). Duplizitäten weist indes das gegenwärtige Verhältnis zwischen Europarat und EU auf. Auf dem Europaratsgipfeltreffen in Warschau 2005 wurde der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker beauftragt, einen Bericht zur künftigen Gestaltung der Beziehungen zwischen diesen beiden europäischen Akteuren zu verfassen. In dem 2006 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vorgelegten Dokument werden unter anderem der Beitritt der EU zur EMRK und die Anerkennung des Europarates als zentrale europäische Menschenrechtsinstanz gefordert (Juncker 2008: 1219). Diese Vorschläge kollidierten jedoch mit der für März 2007 angesetzten Einrichtung der EU-Grundrechteagentur und anderer durch die Europäische Grundrechtecharta erwartbarer Überlappungen. Deshalb wurde bereits im Mai 2007 ein Memorandum of Understanding unterzeichnet, das vor allem die institutionalisierte Einbindung des Europarates in die Arbeit der EU-Grundrechteagentur gewährleistet. Zudem werden »die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und die Verantwortung dafür von der
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Kommission auf den Rat ausgedehnt, und erstmals wird der Europarat formell als europäischer Maßstab für Menschenrechte, den Rechtsstaat und Demokratie anerkannt« (Taylor 2008: 1253; zu den ratsinternen Kontroversen vgl. Ettmayer 2008: 1194). Der 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon sieht zudem die Möglichkeit vor, dass die EU als solche der EMRK beitritt. Hinzu kommt die Zusammenarbeit mit internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGO). Bereits seit 1952 verfügen diese über einen Beraterstatus, der 2003 zu einem Teilnehmerstatus ausgebaut wurde und der momentan von über 300 für ihr Feld europaweit repräsentativen INGOs genossen wird. »Der neue Status soll […] die aktive Teilnahme von INGOs innerhalb des Europarats nicht nur widerspiegeln, sondern auch honorieren.« (Brummer 2008: 247) Die Nichtregierungsorganisationen können in die inhaltlich-programmatische Arbeit der Europaratsgremien in Expertisefunktionen miteinbezogen werden. Die Koordination zwischen den Nichtregierungsorganisationen erfolgt auf den zwei Mal jährlich stattfindenden Plena der INGO-Konferenz, wobei noch zusätzliche themenspezifische und themenübergreifende Treffen anberaumt werden. Seit 1976 bilden die Präsidentin oder der Präsident der INGO-Konferenz zusammen mit jeweils einer oder einem für sechs Jahre gewählten Vertreterin oder Vertreter von 36 thematisch unterschiedlichen INGOs einen Verbindungsausschuss. Das daraus hervorgehende Präsidium stellt das zentrale Bindeglied zwischen den INGOs und dem Europarat dar. Es ist geplant, den Verbindungsausschuss durch einen zahlenmäßig reduzierten Ständigen Ausschuss zu ersetzen, der »für die Umsetzung der Beschlüsse der INGO-Konferenz sorgen« (ebd.: 251) soll. Um die Leistung nationaler NGOs und deren Kooperationswillen mit dem Europarat zu würdigen, wurde diesen im Jahre 2003 ein Partnerschaftsstatus zugebilligt, der die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung, des Kongresses der Gemeinden und Regionen und Veranstaltungen des Europarates ermöglicht. Der Europarat blickt auf sein sechzigjähriges Bestehen zurück, was vor der Folie der oben geschilderten Trends in der europäischen Integration Anlass bietet, um über die Zukunft der Straßburger Institution nachzudenken. Als Vorzüge des Europarates sind gegenüber der OSZE seine normgebende Funktion (vermittels EMRK und EGMR) und gegenüber der EU sein geografischer Umfang zu nennen, woraus sich eine gewisse Vorbildfunktion ergibt (vgl. Benoît-Rohmer/Klebes 2006: 171). Die geo-
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grafische Expansion und Inklusion vor allem der Russischen Föderation bargen und bergen nach wie vor die Gefahr, dass die menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Standards des Europarates aufgeweicht werden. Als Konsequenz weitgehend fehlender Sanktionsmechanismen – Ausschlussverfahren wären sehr stark von geopolitischen Entwicklungen abhängig – muss auch vor einem Europarat unterschiedlicher Geschwindigkeiten gewarnt werden (Winkler 2006: 525). Im Grund- und Menschenrechtsbereich sieht Klaus Brummer einen klaren Vorteil von EMRK und EGMR gegenüber der Europäischen Grundrechtecharta und dem Europäischen Gerichtshof, da nur erstere die häufig genutzte Option der Individualbeschwerde kennen. Brummer setzt auf seine Zukunftsagenda für den Europarat folgende Punkte: Konzentration (auf Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie), Konsolidierung (Ratifizierung der Europaratsverträge durch alle Mitgliedstaaten), Konsequenz (stärkere Ahndung bei anhaltender Missachtung der Europaratsstandards), Komposition (Etablierung einer Nachbarschaftspolitik), Kommunikation (politisches Schwergewicht als Generalsekretärin oder Generalsekretär und Spitzenkräfte in Ministerkomitee und Parlamentarischer Versammlung) sowie Kooperation (Begründung einer europäischen Stabilitätspolitik gemeinsam mit der EU) (Brummer 2008: 255-262). Für eine Beschränkung auf die Kernaufgaben des Europarates plädiert Günther Winkler aus juristischer Sicht, da die Abgabe von Souveränität auf Kosten der Mitgliedstaaten rechtlich nicht gedeckt sei (Winkler 2006: 538). Walter Schwimmer, Generalsekretär des Europarates von 1999 bis 2004, sieht den Europarat hingegen als bewährtes Forum, um Nicht-EU-Mitgliedstaaten in gesamteuropäische und globale Herausforderungen wie den »Kampf gegen das internationale Verbrechen und gegen den internationalen Terror, den Menschenhandel, aber auch die Frage der Regulierung der Wanderbewegungen oder Fragen der Bioethik« (Schwimmer 2008b: 1337) einzubinden. Schwimmer sieht im Europarat insbesondere ein Potential für die Förderung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation. Kritisch vermerkt der ehemalige Europaratsgeneralsekretär die angespannte budgetäre Situation, die sich über einige Jahre in einem realen Nullwachstum ausdrückte, und das Fehlen eines programmübergreifenden Monitoringmechanismus (Schwimmer 2011: 19). Xavier Pinon unterstreicht die mit der Funktionsperiode des amtierenden Generalsekretärs Thorbjørn Jagland eingeleiteten Reformbemühungen, die Zahl der Arbeitsfelder zu reduzieren, die Parlamentarische
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Versammlung stärker einzubinden und sichtbar zu machen (Pinon 2011: 74) sowie die Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma auszubauen (ebd.: 131ff.). Die geografische Erweiterung des Europarates ist – mit Ausnahmen geringerer Tragweite wie potentiellen Beitritten von Belarus und dem Kosovo – abgeschlossen. Gleichsam steht eine grundlegende Veränderung des institutionellen Gefüges nicht zur Diskussion, wodurch auch keine fundamental anderen Formen der Politikgestaltung und Entscheidungsfindung zu erwarten sind. Eine Aufwertung der Parlamentarischen Versammlung in ein dem Europäischen Parlament vergleichbares Abgeordnetenhaus mit direkt gewählten Vertreterinnen und Vertretern wurde bis dato nicht aufgegriffen. Allenfalls könnten andere Kooperationsmechanismen mit der EU und der OSZE oder eine stärkere Einbindung von Nichtregierungsorganisationen zu organisatorischen Reformen beitragen. Aus diesen Gründen sowie aufgrund von Umweltfaktoren und globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen ist auch nicht mit einer spürbaren Erhöhung der Budgetmittel durch die Mitgliedstaaten zu rechnen. Die größte Herausforderung, die sich im siebten Jahrzehnt des Bestehens des Europarates stellt, betrifft das Spannungsfeld aus thematischer Verbreiterung gegenüber thematischer Vertiefung, was unweigerlich die Frage nach den Grenzen menschenrechtlicher, rechtsstaatlicher und demokratiepolitischer Aktivitäten aufwirft. Die von Schwimmer genannten Felder internationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität, Migration und Bioethik berühren genau diese Randbereiche. Diese Diskussion könnte jedoch gleichsam den Kerngegenstand des vorliegenden Buches – nämlich das relativ junge und schwach institutionalisierte Engagement in der Holocausterinnerungspolitik – treffen, zumal aufgrund fehlenden Monitorings keine systematischen Aussagen darüber getroffen werden können, ob die ergriffenen Maßnahmen effektiv sind. Auch potentiell erweiterte Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma werden ihr Hauptgewicht nicht auf Erinnerungspolitik legen. Fährt der Europarat seine Aktivitäten auf die ursprünglichen Kompetenzen wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und (pluralistische) Demokratie zurück, würde möglicherweise auch die langfristige Wirksamkeit der etablierten Vermittlungsschiene Bildung und die mit ihr verbundenen Programmschwerpunkte struktureller (z.B. Lehrendenfortbildung, Unterrichtsmittelproduktion) und thematischer (Geschichtsvermittlung, Citizenship Education und Diversitätsförderung) Art zur Disposition stehen. Spitzt sich die politische
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Debatte auf die Bedeutung und Sinnhaftigkeit von Europaratsaktivitäten zu und wird über nationalstaatliche Begrenzungen hinweg geführt, dann könnte sie auch den künftigen Kurs der Straßburger Organisationen sowie ihre normativ-gestaltende Funktion in einem projekthaft gedachten Europa mitgestalten. Die Fokussierung auf den Europarat in der vorliegenden Studie rückt diese vor allem in der politologischen Europaforschung vernachlässigte, mehrheitlich durch die Rechtswissenschaften abgedeckte Institution (vgl. Brummer 2008: 17; Zikmund 2008: 219) in den Mittelpunkt. Darüber hinaus ist die Holocausterinnerungspolitik im Europarat ein Bereich, der bis dato allenfalls in allgemeinen Texten und anhand isolierter Zitate als Beispiel für transnationale und europäische Erinnerungspolitik verhandelt wurde. Die Arbeit leistet somit einen spiegelbildlichen Beitrag sowohl für die akademische Auseinandersetzung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit als auch für eine nicht auf die EU fixierte Europaforschung. Es wird deutlich, dass Holocausterinnerung wie jeder andere Politikbereich nicht frei von Interessen, Ideologien und institutionellen Zwängen ist. Umgekehrt wird am Beispiel Holocausterinnerungspolitik exemplifiziert, dass europäische Integration über eine symbolisch-ideelle Grundausstattung verfügt, die das fest verankerte Fundament für konkrete Aushandlungs- und Politikgestaltungsprozesse bildet. Allgemein zu Geschichtspolitik vermerkt Anton Pelinka: »Die Deutung der Geschichte ist die Gestaltung von Macht. […] Wer Macht über die Vergangenheit hat, hat auch Macht über die Zukunft.« (Pelinka 2007: VII) Das gründliche Studium der relevanten Dokumente aus dem Umfeld der Straßburger Organisation zeigt, dass die Holocausterinnerungspolitik nicht lediglich zur Erinnerungsverantwortung aufruft oder Genozidprävention einfordert. Sie entwirft – unbeschadet ihrer begrenzten Durchsetzungsmöglichkeiten – eine Vorstellung von europäischer Citizenship nach dem Holocaust und dem erwünschten Handeln von Individuen, um die Zukunft eines Europas zu gestalten, das nicht hinter die normative Stunde Null des Holocaust zurückfallen kann. Die Frage nach europäischer Citizenship und nach dem enactment derselben erfährt nicht nur im Wissenschaftsbetrieb Aufmerksamkeit, sondern stellt auch für das Policy-making in Bezug auf Vermittelbarkeit und Akzeptanz von Politik und politischer Identifikation jenseits des Nationalstaates eine bedeutende Herausforderung dar. Mit der Holocausterinnerungspolitik im Europarat wird ein konkreter Aspekt davon besprochen. Eine Einschränkung muss an dieser
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Stelle jedoch deutlich formuliert werden: auch das vorliegende Buch wird keine Ergebnisse zu Fragen der Implementierung und Wirksamkeit von erinnerungspolitischen Maßnahmen im Europarat vorlegen. Dies könnte erst sinnvoll im Rahmen einer Folgeuntersuchung geschehen.
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2. Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik
Erinnerungspolitik überschritt in der Dekade von 1995 bis 2005 ihre nationalstaatlichen Grenzen und wurde zu einem Politikfeld transnational agierender europäischer und internationaler Organisationen. In besagtem Jahrzehnt dominierte klar die Erinnerung an den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, wohingegen in den letzten Jahren eine kontrovers verhandelte thematische Expansion zu verzeichnen ist. Dabei standen zwei Varianten der Institutionalisierung offen. Entweder wurde Erinnerungspolitik in bestehende oder gerade in Ausbau befindliche Programme integriert und so mit einer bestimmten Schwerpunktsetzung versehen. Oder aber schuf sich das Politikfeld Erinnerung eigene Strukturen, die mittlerweile zum Teil in neue Institutionen überführt wurden. Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat ist zum ersten Typ zu zählen, da auch die spezifisch mit der nationalsozialistischen Vernichtung von Jüdinnen und Juden sowie von Romnia und Roma befassten Aktivitäten in das Gesamtportfolio von menschenrechtsrelevanter Bildungsarbeit eingebettet wurden. Ähnlich verhält es sich mit den entsprechenden Maßnahmen der OSZE, die in das Antisemitismusbekämpfungsportfolio des ODIHR eingegliedert wurden, sowie mit den Vereinten Nationen, deren Programmschiene United Nations Outreach Programme – Remembrance and Beyond eng mit den Aufgaben in der Genozidprävention verbunden ist. Den umgekehrten Weg beschritt die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF). Hier stand am Anfang der politische Wille Holocausterinnerung zwischenstaatlich und transnational zu verhandeln, ehe ein Prozess der zunehmenden Institutionalisierung einsetzte. Die Europäische Union befasst sich in unterschiedlichen Zusammenhängen mit Erinnerungspolitik. Das
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rechtlich effektivste Instrumentarium ist das EU-Gesetzgebungsverfahren, bei dem die Rahmenentscheidung zur Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung angewendet wurde, die das Verbot der Holocaustleugnung einschließt. Holocausterinnerung wurde von der 2007 entstandenen Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) in die Menschenrechtsförderung inkorporiert. Auch die Europäische Kommission befasst sich mit eigenen Schwerpunkten oder als Komponente der Zusammenarbeit mit Israel im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik kontinuierlich mit Holocausterinnerungspolitik. Das Europäische Parlament dient neben seinen legislativen Kompetenzen als Ort für erinnerungspolitische Debatten und Resolutionen, wobei es eine weitere institutionelle Verankerung nur anstoßen kann. Punktuelle Strukturen entstanden hingegen für die 2009 unter der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft abgehaltene Holocaust Era Assets Conference. Der Adressatenkreis der genannten Organisationen ist höchst unterschiedlich. Dabei sind eine quantitative (Mitgliederzahl) und eine qualitative (Durchsetzungskraft) Dimension mitzudenken. Die EU hat derzeit 27 Mitgliedstaaten und fünf Kandidatenländer. Zum Europarat zählen 49 und zur OSZE sogar 56 Staaten, die in letzterem Fall auch die USA, Kanada sowie die Republiken des Kaukasus und Zentralasiens einschließen. Die ITF versammelt 28, darunter auch außereuropäische Staaten. Die Vereinten Nationen adressieren weltweit 192 Staaten. Beim Europarat kommen als Beitrittskriterien die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rechtstaatlichkeit und eine pluralistische Demokratie hinzu. Ungleich strikter sind die Beitrittskriterien in die EU und zur ITF – in letzterem Fall beziehen sie sich ausschließlich auf für Holocausterinnerung relevante Aspekte. Die EU verfügt mit ihrem legistischen Verfahren und ihrer budgetären Ausstattung über Durchsetzungskompetenzen, aber auch über faktische Durchsetzungsmöglichkeiten, die die anderen Akteure nicht besitzen. Die ITF hingegen kann als Single-Issue-Organisation gezielten Druck gegen erinnerungspolitische Standards, die implementiert werden sollen, setzen und muss Holocausterinnerung nicht vor anderen, konkurrierenden Themen schützen. Auch wenn die EU eine zahlenmäßig vergleichsweise kleine Gruppe an Ländern erfasst, so wirkt ihre normative Macht über ihre tatsächlichen Grenzen vor allem in angrenzende oder von der EU unterstützte Regionen hinaus. Seit den späten 1990er Jahren erlangte die Holocausterinnerungspolitik einen Platz auf der Agenda transnationaler und vor allem europäischer
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Politik, womit sich auch die Debatten um die Inhalte und Methoden auf Verhandlungsräume jenseits des Nationalstaates verlagerten. Im Folgenden wird eine Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik mit den Spielfeldern der Akteure Europarat, Europäische Union, OSZE, ITF und Vereinte Nationen gezeichnet. Am meisten Gewicht wird der historischen Genese der Holocausterinnerungspolitik im Europarat und ihrer institutionellen Verankerung in das Gesamtgefüge des Europarates sowie der aus diesen beiden Umständen zu erklärenden programmatischen Ausrichtung und Vermittlungsmethoden beigemessen. Der Schwerpunkt bei der Behandlung der weiteren Akteure liegt auf den institutionellen Kontexten, thematischen Orientierungen und zur Verfügung stehenden Repertoires der Politikvermittlung, die als Ergebnisse spezifischer Aushandlungsprozedere zu werten sind. Das Kapitel bespricht abschließend die Kooperation und Konkurrenz zwischen den genannten erinnerungspolitischen Akteuren, um inhaltliche und strukturelle Charakteristika, Überschneidungsflächen und Defizite deutlicher zu machen. Aus dem bisher Gesagten wird bereits deutlich, dass akzeptierte und wirksame Erinnerungspolitik nur durch inhaltliche und strukturelle Komplementarität gewährleistet werden kann, was aber zusätzlicher politischer Aushandlung bedarf.
2.1 H OLOCAUSTERINNERUNGSPOLITIK IM E UROPAR AT »Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges hatten viele Menschen überzeugt, dass die internationale Zusammenarbeit von lebenswichtiger Bedeutung war, um neue Konflikte abzuwenden und um Bedingungen zu schaffen, unter denen die Staaten fruchtbringend zusammenarbeiten können.« (Benoît-Rohmer/Klebes 2006: 14) So oder ähnlich lautet die offizielle und auch im wissenschaftlichen Diskurs verbreitete Lesart der beginnenden europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Francis Rosenstiel, der auf eine jahrzehntelange Spitzenkarriere im Europarat zurückblickt und als Kind einer französisch-jüdischen Familie der nationalsozialistischen Vernichtung entkommen konnte, kommentiert lapidar und gleichzeitig eindringlich: »Europaratsbeamte verdienen gut Geld mit unseren Leichen.« (Gespräch Rosenstiel 2009) Diese beiden Zitate veranschaulichen eindringlich den unüberbrückbaren Antagonismus zwischen einer vielfach pathetisch aufgeladenen Sicht auf den Europarat sowie auf seine erinnerungspolitischen Aktivitäten als Antwort auf den Holocaust und
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einen Standpunkt, der die nachträgliche Ritualisierung, Rationalisierung und Sinnzuweisung des völlig sinnentleerten Massenmordes als Anfangspunkt des von postnazistischen Kontinuitäten geprägten europäischen Integrationsprojektes erkennt und benennt. Wie der folgende historische, institutionelle und programmatische Überblick zeigt, positioniert sich die Holocausterinnerungspolitik im Europarat klar an der Botschaft der Transformation Europas nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und verknüpft die vor allem pädagogisch ausgerichtete Beschäftigung mit dem Holocaust mit der Hoffnung eines universalistischen Nie wieder. Wobei sehr wohl zu konzedieren ist, dass die seit Ende der 1990er Jahre im Europarat gesetzten erinnerungspolitischen Maßnahmen historischer und begrifflich zunehmend präziser werden und mittlerweile ausgereifte Überlegungen zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen, die sich bis zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit steigern können, vorliegen. Der Bruch, den der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus auslösten und der die Gründung des Europarates sowie die weitere Integrationsgeschichte antrieb, wurde und wird im Europarat stark kontextualisiert. Es finden sich mithin keine Belege, in denen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust als außerhistorische Gründungsmythen europäischer Einigung verklärt werden. Trotzdem verhallen plakativ vorgetragene Einwände, wie jener von Rosenstiel, der die Alternativlosigkeit des Rituals der Holocausterinnerung einen »Erfolg Himmlers post mortem« (Gespräch Rosenstiel 2009) nennt, im erinnerungspolitischen Umfeld des Europarates, in dem die mit großen Erwartungen besetzte Verknüpfung von Holocausterinnerung und einem Lernen für die Zukunft unwidersprochen ist. In der Rückblende auf das Gründungsjahrzehnt des Europarates lässt sich erkennen, dass die Mitgliedschaft der NS-Nachfolgestaaten Bundesrepublik Deutschland (seit 1951, Saarland ab 1957) und Österreich (nach Abzug der alliierten Befreiungstruppen seit 1956) relativ rasch von der Schuld am Zweiten Weltkrieg entkoppelt wurde. In einer Phase, in der die Entnazifizierungsverfahren ad acta gelegt wurden, die Angehörigen der mittleren Führungsebene des NS-Staates ihre Karrieren fortführten und der Wirtschaftsaufschwung einsetzte, wurden Westdeutschland und Österreich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges respektable Mitglieder der freien demokratischen Welt. Bereits im August 1949 wies Winston Churchill in der Beratenden Versammlung (der nachmaligen Parlamentarischen Versammlung des Europarates) darauf hin, dass angesichts des beginnenden Kalten Krie-
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ges die Einbindung der neu entstandenen Bundesrepublik Deutschland in den Europarat nicht versäumt werden dürfe (Churchill 1949). Achim Trunk stellt in seiner Studie zu europäischen parlamentsähnlichen Versammlungen (z.B. Beratende Versammlung des Europarates) in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren die verschiedenen Ebenen der Zurückhaltung und Vorbehalte gegenüber Deutschland seitens anderer westeuropäischer Staaten dar. »Während also die Betrachtungsweise vom europäischen Bürgerkrieg […] vor allem von deutschen Vertretern sowie von ausgesprochenen Europa-Aktivisten vertreten wurde, fand sie bei europaskeptischen Politikern […] weit weniger Anklang.« (Trunk 2007: 165) Trotzdem wurde Deutschland in Plenen selten offen Verantwortung zugewiesen, während sich aus dem privaten Briefverkehr der nicht aus Deutschland stammenden Delegierten und aus nicht direkt an Deutsche adressierten Debatten ein offenerer Umgang rekonstruieren lässt: »Von einer allgemeinen Verstrickung in europäische Wirren war hier keine Rede mehr; statt dessen wurden Roß und Reiter genannt und als Verursacher der Kriege Deutschland bzw. die deutsche Nation klar benannt.« (Ebd.) Es muss allerdings eingewendet werden, dass diese Haltung kaum eine spezifische Auseinandersetzung mit Deutschland und Österreich als Tätergesellschaften des Holocaust und seinen ideologischen Bedingungen und Weiterwirkungen nach sich zog. Die Wahl Straßburgs, dieses Symbols des deutsch-französischen Verhältnisses, als Standort des Europarates unterstreicht, wie sehr sich die Aussöhnungsrhetorik gegenüber dem gerade besiegten NS-Deutschland bereits vier Jahre nach Kriegsende durchzusetzen begann. Während also die spezifische Schuld Deutschlands und Österreichs vor allem in der öffentlichen Artikulation völlig in den Hintergrund trat, setzten zeitgleich geschichtspolitische Bemühungen seitens des Europarates ein. Im Jahre 1954 wurde das Europäische Kulturabkommen vom Ministerkomitee als Erweitertes Abkommen aufgelegt, das auch früheren oder derzeitigen Nichtmitgliedstaaten zur Unterzeichnung offen steht1 . Damit 1 | Jahr des Inkrafttretens des Kulturabkommens: Albanien (1992), Andorra (1996), Armenien (1997), Aserbaidschan (1997), Belarus (1993), Belgien (1955), Bosnien und Herzegowina (1994), Bulgarien (1991), Dänemark (1955), Bundesrepublik Deutschland (1955), Estland (1992), Finnland (1970), Frankreich (1955), Georgien (1997), Griechenland (1962), Heiliger Stuhl (1962), Island (1956), Irland (1955), Italien (1957), Lettland (1992), Liechtenstein (1979), Litauen (1992), Lu-
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realisierte der Europarat eine Forderung der Haager Konferenz von 1948, wonach europäische Integration politisch, wirtschaftlich und kulturell geschehen müsse. Das Europäische Kulturabkommen trat bereits 1955 in Kraft und schuf somit die zentrale Ausgangsbasis für alle kultur- und bildungspolitischen Aktivitäten des Europarates. Kulturelle Zusammenarbeit wurde in den 1950er Jahren hauptsächlich in den Dienst der Konstituierung europäischer Einheit gestellt und erst schrittweise zumindest von den Proponentinnen und Proponenten der kulturellen Kooperation als eigenständiges Politikfeld positioniert (vgl. Guillen 1997: 326). Pierre Guillen weist für die Zeitspanne bis zum Ende der 1960er Jahre nach, dass die Aufforderung zu kultureller Zusammenarbeit anfangs von den Mitgliedstaaten als nicht gerechtfertigtes Eindringen in die Sphäre ihrer nationalen Souveränität empfunden wurde (vgl. ebd.: 328). Dieser teilweise ablehnenden Haltung zum Trotz setzte sich das Europäische Kulturabkommen als zentraler Referenzpunkt jeglicher weiterer Aktivitäten auf den Feldern der Geschichts- und später der Erinnerungspolitik durch. Die Bildungsministerkonferenz forderte 1961 auf, geisteswissenschaftliche Fächer im Schulunterricht ausreichend zu berücksichtigen und schätzte diese als »essentiell für die intellektuelle, gesellschaftliche und politische Ausbildung des europäischen Bürgers« (Standing Conference 1961; Übers. E.K.) ein. Allerdings zeichnete sich für die darauf folgenden beiden Jahrzehnte eine Durststrecke in der historischen und politischen Bildung ab. Die geschichtspädagogischen Bestrebungen der ersten Jahrzehnte klammerten die nationalsozialistischen Verbrechen gänzlich aus, weil sie diese als kaum geeignet ansahen, um eine angestrebte gemeinsame europäische Identität zu festigen (vgl. Gespräch Titz 2009). Wie weiter unten zu zeigen sein wird, wurde die Entwicklung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat durch weniger sichtbare vergangenheitspolitische Entscheidungen ab den 1960er Jahren ergänzt. Erste Spuren einer spezifischen Ausxemburg (1956), Malta (1966), Mazedonien (F YROM) (1995), Moldau (1994), Monaco (1994), Montenegro (2006), Niederlande (1956), Norwegen (1956), Polen (1989), Portugal (1976), Rumänien (1991), Russische Föderation (1991), San Marino (1986), Schweden (1958), Schweiz (1962), Serbien (2001), Slowakische Republik (1993), Slowenien (1992), Spanien (1957), Kroatien (1993), Österreich (1958), Tschechische Republik (1993), Türkei (1957), Ukraine (1994), Ungarn (1989), Vereinigtes Königreich (1955), Zypern (1969).
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einandersetzung mit dem Holocaust können auf die 1980er Jahre datiert werden. Auch wenn die Terminologie aus heutiger Sicht antiquiert klingt, ist eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung aus dem Jahr 1980, dass die Bekämpfung wiedererstarkender faschistischer Propaganda und ihrer rassistischen Aspekte notwendig ist, hier einzuordnen. Im Education Newsletter des Europaratsgeneraldirektorates für Bildung reißt ein mit The Shoah: teaching the unspeakable betitelter Beitrag Antisemitismus, Holocaustleugnung, den Umgang mit dem Holocaust im Realsozialismus sowie Methoden der Holocaust Education (Kontakt mit Überlebenden, Besuche von Lagern und Museen zur jüdischen Kultur und Geschichte) an (DG IV 1996b). Danach nahm dieses Medium erst 2001 wieder Bezug auf den Holocaust. In die erinnerungspolitisch so entscheidende Dekade zwischen dem 50. und 60. Jahrestag der Kapitulation Nazideutschlands fiel auch die Herausbildung einer genuinen Holocausterinnerungspolitik im Europarat. Seit Mitte der 1990er Jahre und mit der Herausbildung von Teaching remembrance adressierte die Bildungspolitik des Europarates den Holocaust als eigenen Gegenstand und nicht etwa als Teilgebiet des Zweiten Weltkrieges (vgl. Gespräch Titz 2009). Der ehemalige Generalsekretär des Europarates, Walter Schwimmer, forderte anlässlich der Stockholm-Konferenz der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) im Jahr 2000 einen Holocaustgedenktag an Schulen in allen Europaratsstaaten einzurichten. Auf der Ständigen Konferenz der Bildungsminister in Krakau im Jahr 2002 wurde die Institutionalisierung des Day of Remembrance of the Holocaust and of Prevention of Crimes against Humanity formell empfohlen und auf dem Ministerseminar 2002 in Straßburg abgesegnet. Dieser Tag – in der Regel der Jahrestag der Auschwitzbefreiung (27. Januar), wenn nicht bereits vorher ein anderes Datum mit nationaler Bedeutung etabliert wurde – soll dem reflektierten Lernen über den Holocaust, seinen Entstehungsbedingungen und seinen Folgen gewidmet werden. Mitte der 2000er Jahre erreichte die Holocausterinnerungspolitik im Europarat mit der dichten Abfolge von Ministerseminaren 2002 in Straßburg, 2005 in Krakau und Auschwitz-Birkenau sowie 2006 in Prag und Theresienstadt ihren Höhepunkt. Mit der Amtsperiode des Briten Terry Davis als Europaratsgeneralsekretär (2005-2010) pendelte sich die Bedeutung der Holocausterinnerungspolitik auf der politischen (high-level) Ebene ein. Das kann auch als Indikator für die Etablierung auf der Verwaltungsebene gewertet werden. Hochkarätig besetzte Konferenzen und eine hohe Publikationsfrequenz sind einer konstanten Weiterbildungsarbeit ge-
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wichen. Großereignisse wie das Ministerseminar 2008 in Nürnberg sind seltener geworden. Damit sind auch schon Grundlinien der inhaltlichen Ausrichtung und einige der Akteure der Holocausterinnerungspolitik im Europarat angeschnitten. Im folgenden Abschnitt wird die institutionelle Seite dieses Politikfeldes vertieft. Grundsätzlich zuständig sind für alle Belange im Wirkungsbereich des Europäischen Kulturabkommens auf der Entscheidungsebene das Ministerkomitee mit seinen Außen- und Fachministerkonferenzen, die Lenkungsausschüsse für Bildung (CDED), Höhere Bildung und Forschung (CDESR), für Jugend (CDEJ) und für Kultur (CDCULT) und kulturelles Erbe (CDPAT)2, die von (aus)gewählten nationalen Beamtinnen und Beamten besetzten Präsidien dieser Ausschüsse, die Berichterstattergruppe für Bildung, Kultur, Sport, Jugend und Umwelt (GR-C) sowie der komplementäre Ausschuss für Kultur, Wissenschaft und Bildung in der Parlamentarischen Versammlung. Während das Ministerkomitee Regierungspositionen widerspiegelt, entstehen in der Parlamentarischen Versammlung auch innovative erinnerungspolitische Debatten (Garcia 2008: 17-19). Verwaltet wird der Bereich im Sekretariat durch das Generaldirektorat für Bildung, Kultur und Kulturelles/Natürliches Erbe, Jugend und Sport (kurz: Generaldirektorat für Bildung bzw. Directorate General 4 – DG IV), das mit rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das größte Generaldirektorat des Europarates darstellt (vgl. Kordik 2008: 802). Wie in allen Politikfeldern des Europarates entstehen längerfristige Trends und konkrete Arbeitsprogramme in einem engen Wechselspiel aus der wissenschaftlich orientierten Expertise des Generaldirektorates und den stärker politisch akzentuierten Standpunkten der mitgliedstaatlichen Vertretungen (vgl. Gespräch Kordik 2009). Die Aufgabengebiete des Generaldirektorates für Bildung, die im öffentlichen Auftritt unter den Titel Kulturelle Zusammenarbeit (The Europe of cultural co-operation) subsumiert werden, sind entsprechend vielfältig3 . Im Kernbereich Bildung sind die Programme Bildung für Kinder 2 | Im Jahre 2001 ersetzten CDED, CDESR, CDCULT und CDPAT den seit 1962 existierenden Rat für kulturelle Zusammenarbeit (CDCC). 3 | Bildung, Charta für Regional- und Minderheitensprachen, Eurimages – Europäischer Filmförderungsfonds, EUR-OPA Major Hazards – Katastrophenverhütung, European Audiovisual Observatory – Audiovisuelle Informationsstelle, European Centre for Modern Languages – Mehrsprachigkeit, Jugend, Kultur und Kulturelles/ Natürliches Erbe, North-South Centre – globale Solidarität, Sport – Erweitertes
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von Romnia und Roma in Europa, Holocausterziehung, Demokratie- und Menschenrechtserziehung, Geschichtspädagogik, Interkulturelle Bildung, Sprachenförderung, Höhere Bildung und Forschung sowie das PestalozziProgramm zur Lehrendenfortbildung beheimatet. Seit Mitte der 1990er Jahre kristallisierte sich in der DG IV ein Europabild heraus, das stark mit der Bildung verknüpft ist und sich in der berühmten europäischen Baumetapher – also eine Vorstellung des aktiven Handelns – zusammenfassen lässt. Die entsprechenden Europaratsprogramme sollen junge Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern zusammenbringen, um ihr Interesse am Bau eines vereinten Europas zu entfachen (DG IV 1996b: 4; DG IV 2005/2006: 3). Bildung, die auch helfen soll, im sogenannten globalen Wettbewerb zu bestehen, charakterisiert Europa. »Der Europarat hat seit Langem die wichtige Rolle von Bildung bei der Schaffung eines sichereren, faireren und friedlicheren Ortes für alle Europäer erkannt.« (DG IV 2005a: 3; Übers. E.K.) Heranwachsende sollen folgerichtig Europa debattieren und sich so in politische Diskussionsprozesse einbringen (ebd.: 4). Die DG IV erhebt Bildung zur Visitenkarte Europas in der Welt. »Bereits ein halbes Jahrhundert lang war die europäische Flagge Symbol für europäische Ambition und Realität. Lassen wir Bildung ihre Bannerträgerin sein.« (DG IV 2005/2006: 2) Der Verweis auf die wissensbasierte Gesellschaft kann auch als Europabild – siehe Lissabon-Strategie der EU – gelesen werden (DG IV 2006b: 7; DG IV 2007c: 8). Auf den Punkt gebracht umfasst Bildung laut der DG IV vier Dimensionen: persönliche Entwicklung, Vorbereitung auf das Berufsleben, Vorbereitung auf aktive bürgerschaftliche Beteiligung in der demokratischen Gesellschaft und die Entwicklung und Erhaltung einer breiten fortgeschrittenen Wissensbasis (Standing Conference 2010: 7) sowie darüber hinaus die Demokratisierung von Wissen und Kompetenzen (ebd.: 9) und – in gewissem Widerspruch zur allgemeinen Schulpflicht – den Aspekt, dass Lernen freiwillig ist (ebd.: 10). Das sowohl vom Europarat als auch im Bologna-Prozess favorisierte Teilabkommen zu Sport (EPAS); zusätzliche Arbeitsfelder betreffen Mobilität von Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Lehrenden, soziale Kohäsion im Bildungsbereich mit besonderem Fokus auf dem Abbau sozialer Zugangshürden zu höherer Bildung und die Integration von – auch erwachsenen – Migrantinnen und Migranten sowie strukturelle Aspekte wie Politikimplementierung, Transversalität zwischen den inhaltlichen Schwerpunkten und interinstitutionelle Kooperationen auf der europäischen und globalen Ebene und Qualitätssicherung.
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kompetenzbasierte gegenüber dem stoffbasierten Lernen verdeutlicht die aktive Handlungskomponente, die besagt zukunftsorientiert an Europa zu bauen, anstatt das europäische Erbe passiv zu rezipieren. In diesem Geflecht an Entscheidungs- und Durchführungsinstitutionen sowie ideellen Prämissen wurde im Jahre 2001 die erinnerungspolitische Kerntätigkeit, die gemäß ihrer institutionellen Verankerung vor allem auf Erinnerungspädagogik abzielt, unter dem Titel Teaching remembrance. Education for the prevention of crimes against humanity im DG IV angesiedelt und mit einem expliziten erinnerungspolitischen Mandat ausgestattet. Die rechtliche Basis stellt die Empfehlung (2001)15 des Ministerkomitees (Recommendation on history teaching in twenty-first century Europe) von 2001 dar (vgl. Gespräch Titz 2009). Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat materialisiert sich in einer Reihe von bisher abgehaltenen Ministerseminaren und pädagogischen Weiterbildungsseminaren sowie daraus erwachsenen Publikationen. Diese Tagungen entstehen im inhaltlich-konzeptuellen und organisatorischen Zusammenspiel von Teaching remembrance, mitgliedstaatlichen Behörden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, pädagogischen Praktikerinnen und Praktikern sowie Vertreterinnen und Vertretern von Gedenkstätten (vgl. Gespräch Sigel 2009). Vor allem an den hochrangigen Ministerseminaren nehmen politische Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen teil. Alle 49 Staaten, die das Europäische Kulturabkommen ratifiziert haben, können an den erinnerungspolitischen Aktivitäten teilnehmen beziehungsweise sind sie aufgefordert, den Gedenktag (27. Januar) einzelstaatlich maßgeschneidert umzusetzen und zu finanzieren. Innerhalb des zuständigen Generaldirektorates ergeben sich inhaltliche Überschneidungen mit den Aktivitäten für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma sowie mit den Schwesterprogrammen zur schulischen Geschichtsvermittlung (History teaching), und zur Bildung zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität (Education for democratic citizenship4 4 | Education for democratic citizenship (EDC) »bedeutet Erziehung/Bildung (education), Weiterbildung/Training (training), Bewusstseinsschärfung, Information, Praktiken und Aktivitäten, die durch das Ausstatten der Lernenden mit Wissen, Fähigkeiten und Verständnis und das Entwickeln von Einstellungen und Verhalten darauf abzielen ihnen Handlungsmacht zu geben (to empower), um demokratische Rechte und Verantwortung in der Gesellschaft auszuüben und zu verteidigen, Diversität wertzuschätzen und eine aktive Rolle im demokratischen Leben zu spielen
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and human rights education5 bzw. EDC/HRE). Mit der seit dem Europäischen Kulturabkommen existenten Geschichtsvermittlung besitzt Teaching remembrance Gemeinsamkeiten in Hinblick auf den Gegenstand und die Vermittlungsmethoden (vgl. allgemein Stradling 2001b; Van der Leeuw-Roord 2001; Weber 2000). Dahingegen bietet die ab 1997 institutionalisierte Bildung zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität, vor allem bei den aus der Holocaust Education zu ziehenden Schlussfolgerungen Andockmöglichkeiten (vgl. allgemein Bîrzéa 2004). Hauptsächlich zur Politikvermittlung nutzt Teaching remembrance das zum DG IV ressortierende Pestalozzi-Programm6 zur Lehrendenweiterbildung. mit dem Blick auf Förderung und den Schutz der Demokratie und Rechtstaatlichkeit« (CM 2010b; Übers. E.K.). 5 | Human Rights Education (HRE) »bedeutet Erziehung/Bildung (education), Weiterbildung/Training (training), Bewusstseinsschärfung, Information, Praktiken und Aktivitäten, die durch das Ausstatten der Lernenden mit Wissen, Fähigkeiten und Verständnis und das Entwickeln von Einstellungen und Verhalten darauf abzielen ihnen Handlungsmacht zu geben (to empower), um zum Aufbau und zur Verteidigung einer universellen Menschenrechtskultur in der Gesellschaft beizutragen mit dem Blick auf die Förderung und den Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten« (CM 2010b; Übers. E.K.). 6 | Seit 1969 stehen allen Signarstaaten des Europäischen Kulturabkommens die Lehrendenfortbildungsseminare des Europarates offen (zunächst unter den Namen Teacher Bursary Scheme und nachmalig Programme of in-service training for education staff ). Mit dem Jahr 2005 wurde diese Koordinationsstelle nach dem Schweizer Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) in Pestalozzi-Programm umbenannt. Lehrende sollen in den Seminaren über die Ziele des Europarates informiert und in interkultureller Umgebung fortgebildet werden sowie mit den anderen Teilnehmenden Austausch pflegen und als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in ihren Staaten und Gesellschaften die erfahrenen Botschaften weitertragen. Eine Auswahl erinnerungspolitisch relevanter Pestalozzi-Workshops (Titel in Tagungssprache), aus denen jedoch keine verschriftlichten Berichte hervorgingen, lautet: 2006: Slowakische Republik (Teaching and Remembrance about the Holocaust), Polen (Auschwitz: History and Symbolism), Österreich (Österreicher als Täter – Österreicher als Opfer); 2007: Kroatien (The Holocaust: History and Memory), Österreich (Zeitzeugen des Nationalsozialismus berichten), Schweiz (Cinéma et enseignement de l’Histoire), Norwegen (Teaching Remembrance: Education for the Prevention of Crimes against Humanity), Polen
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Außerhalb der DG IV liefern die European Commission Against Racism and Intolerance (ECRI)7 und die in mehrjährigen Abständen stattfindenden Bildungsministerkonferenzen, die den Fachministerinnen und Fachministern aller Signatarstaaten des Europäischen Kulturabkommens offen stehen, wichtige inhaltliche Anstöße. Zu erwähnen ist auch der amtierende Kommissar für Menschenrechte8 Thomas Hammarberg (2006(Teaching about the Holocaust at the Authentic Memorial Site); 2008: Österreich (Hermann-Langbein-Symposium: Ideologie und Wirklichkeit des Nationalsozialismus), Ungarn (The Remembrance of the Holocaust and of the Roma Samudaripen), Frankreich (L’histoire de la Shoah et des génocides au XXième siècle), Polen (Auschwitz: Remembering the Future), Polen (Education and Remembrance), Frankreich (L’histoire de la Shoah et des génocides au XXième siècle), Österreich (Teaching and Learning about National Socialism and the Holocaust: An International Comparison); 2009: Polen (Education and Remembrance), Kroatien (Teaching and Learning about the Holocaust and the Prevention of Crimes against Humanity). 7 | Die Gründung der ECRI wurde beim ersten Europaratsgipfel 1993 angeregt und die entsprechende Satzung 2002 vom Ministerkomitee verabschiedet. Die entscheidenden Impulse erhielt ECRI durch die Abschlusserklärung des Europaratsgipfels 1997, in der sich die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs zu weiteren Anstrengungen im Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz verpflichten, und durch die 2000 in Straßburg als Vorbereitung auf die Durban-Weltkonferenz gegen Rassismus (2001) abgehaltene Europäische Konferenz gegen Rassismus (vgl. Brummer 2008: 215). ECRI erstellt Länderberichte im vertraulichen Dialog mit den Mitgliedstaaten während eines mehrjährigen Beobachtungszeitraums (country monitoring) und veröffentlicht allgemeine Empfehlungen (general policy recommendations) und nachahmenswerte Praxisbeispiele aus dem Bereich der Rassismusbekämpfung. Gegen verdächtigte Länder kann jedoch keine Ad-hoc-Untersuchung eingeleitet werden, wie ein Mitgliedstaat sogar die Publikation eines für ihn unangenehmen Berichtes unterbinden kann (vgl. ebd.: 220). Der Terminus Intoleranz wird in direkten und indirekten Zitaten wiedergegeben. Ich erachte dies als problematisch, weil Rassismus und Antisemitismus nicht lediglich fehlender Duldung geschuldet sind, sondern sozial-psychologische, sozio-ökonomische und ideologische Grundlagen haben. 8 | Die Funktion der Kommissarin oder des Kommissars für Menschenrechte des Europarates wurde 1999 geschaffen. Die oder der einmalig für sechs Jahre von der Parlamentarischen Versammlung aus einem Dreiervorschlag des Minister-
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2012), der seit 2007 jährlich einen Vortrag zu Kinderrechten veröffentlicht, der dem 1942 im nationalsozialistischen Vernichtungslager Treblinka ermordeten polnisch-jüdischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak gewidmet ist (vgl. Hammarberg 2007). Obwohl die Menschenrechtskommissarin oder der Menschenrechtskommissar primär mit aktuellen Menschenrechtsverletzungen befasst ist, werden im Standpunktpapier von 2009 die nationalsozialistischen Massenverbrechen an Romnia und Roma im Rahmen einer Darstellung der Geschichte und Gegenwart des Antiziganismus angesprochen (Hammarberg 2009: 72ff.). Mittelfristig neue Impulse sind außerdem durch das 2008 in Oslo gegründete und durch die norwegische Regierung finanzierte European Wergeland Centre – European Resource Centre on Education for Intercultural Understanding, Human Rights and Democratic Citizenship, einem engen Kooperationspartner des Europarates, zu erwarten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) setzt im engeren Sinn keine Themen, sondern reagiert im Instanzenzug auf vergangenheits- und erinnerungspolitisch relevante Fälle in den Mitgliedstaaten. Damit steuert der EGMR in erster Linie einzelstaatliche Jurisdiktion und Gesetzgebung, kann aber die Politik im Europarat auch richtungsweisend mitgestalten. Die Europaratsmitglieder bringen sich und somit auch ihre spezifischen erinnerungspolitischen und erinnerungspädagogischen Traditionen in sehr unterschiedlichem Ausmaß ein. Frankreich und die in frankophonen Ländern diesbezüglich geführten Debatten bestimmen die Holocausterinnerungspolitik im Europarat am deutlichsten. Wenig überraschend sind deutsche und österreichische Akteurinnen und Akteure aus dem Bereich der Holocausterinnerung vergleichsweise aktiv. An den entsprechenden Europaratsinitiativen beteiligen sich zudem Polen, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Slowenien, Kroatien, Rumänien, Litauen, Norwegen und Belgien mit eigenen, im Falle der ersten beiden Länder auch groß dimensionierten Veranstaltungen. Jene postsowjetischen Länder, die das Geschichtsbild des Großen Vaterländischen Krieges durchsetzen oder in deren Gesellschaften es auf breite Akzeptanz stößt, sind Mitglieder des Europarates oder haben wie im Falle von Belarus das Europäische Kulturabkommen ratifiziert. Die Russische Föderation, die Ukraikomitees gewählte Kommissarin oder Kommissar ist im Sekretariat angesiedelt und soll als nichtrichterliche Instanz bei den Mitgliedstaaten Bewusstsein zur Einhaltung von Menschenrechtsstandards schaffen.
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ne, Belarus oder auch Armenien, Aserbaidschan und Georgien, in denen die sowjetische Erinnerungstradition in unterschiedlichen Ausmaßen präsent ist, fallen nicht durch besonders großes Engagement im Rahmen der erinnerungspolitischen Aktivitäten im Europarat auf. Vertreterinnen und Vertreter anderer Mitgliedstaaten der Straßburger Organisation nehmen am Entscheidungs- und Politikimplementierungsprozess in variierender Intensität teil, bringen ihre erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen und Kompetenzen allerdings kaum in die diesbezügliche Politikgestaltung ein. Die Publikationstätigkeit britischer Expertinnen und Experten aus den Bereichen Erinnerungs- und Geschichtspädagogik für den Europarat bildet eine Ausnahme. An der Peripherie des Europarates agieren sowohl Staaten mit Beobachterstatus in der Parlamentarischen Versammlung und/oder im Ministerkomitee als auch Internationale Nichtregierungsorganisationen, die in die INGO-Konferenz des Europarates eingebunden sind. Die Einbindung von INGOs mit Akkreditierung beim Europarat in erinnerungspolitische Aktivitäten ist punktuell beziehungsweise noch im Aufbau begriffen9 . Generell gilt für Beobachterländer, dass sie zwar Statements abgeben, im Politikgestaltungs- und Entscheidungsprozess aber nicht aktiv mitwirken können. Die inter- und transnationalen erinnerungspolitischen Aktivitäten der Vereinigten Staaten von Amerika (Beobachterstatus im Ministerkomitee) und Israels (Beobachterstatus in der Parlamentarischen Versammlung) zielen hauptsächlich auf die ITF ab (vgl. Gespräch Regard 2009). Die Vereinigten Staaten von Amerika verfolgen als Beobachterstaat die Aktivitäten des Europarates im Bereich der Holocausterinnerungspolitik genau, wobei der Fokus der USA deutlicher auf menschenrechtlichen Themen liegt (vgl. Gespräche Kennedy 2009; Konick 2009). Israel schlägt jährlich eine Zeremonie am 27. Januar am Gedenkstein für Holocaustopfer vor dem Europaratshauptgebäude vor, obwohl es sich eine derartige Initiative von den Europaratsmitgliedstaaten erwartete (vgl. Gespräch Frankel 2009). Bezüglich Israel ist hinzuzufügen, dass die seit 1999 bestehende intensive Kooperation mit Yad Vashem von großer Bedeutung für die erinnerungspolitischen Initiativen des Europarates ist (vgl. Gespräch Budd
9 | Alle INGOs folgender Kompetenzgruppen wurden von mir mehrfach kontaktiert: Bildung und Kultur, Demokratie, Internationale Zusammenarbeit, Jugend, Medien und Kommunikation, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit.
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Caplan 2009). Diese Zusammenarbeit manifestierte sich 2003 in einem Teaching-remembrance-Weiterbildungsseminar in Jerusalem. Im Rahmen des akkreditierten European Democracy Forum10 entwarf sein Gründungsdirektor Francis Rosenstiel ein Projekt, um die Gerechten unter den Völkern Europas11 kollektiv zu ehren. Die Ehrung sollte in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates stattfinden, wobei Deutschland und Frankreich die Initiative maßgeblich organisieren sollten. Im Jahre 2007 wurde die schriftliche Deklaration On a solemn tribute to the ›Righteous‹ of Europe (Nr. 392) von 21 Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung unterschiedlicher Länder- und Parteienherkunft unterzeichnet. Allerdings ist die Ehrung der europäischen Gerechten unter den Völkern bis zum heutigen Tag nicht erfolgt (Gespräch Rosenstiel 2009). Eine Zusammenarbeit zwischen Teaching remembrance und der französischen Holocaustgedenkstätte Mémorial de la Shoah12 konkretisiert sich seit 2008. Das Mémorial de la Shoah zählt nicht zu den beim Europarat akkreditierten INGOs. Die Anfänge der Kooperation liegen in der französischen Präsidentschaft der ITF im Jahre 2002. Seit 2008 organisieren 10 | Das European Democracy Forum wurde im Jahre 2000 gegründet, befindet sich räumlich im Europaratshauptgebäude und weist durch die Präsidentschaft Walter Schwimmers (Generalsekretär des Europarates 1999-2004) auch gewisse personelle Verflechtungen mit der Straßburger Organisation auf. Inhaltlich beschäftigt sich das European Democracy Forum mit der Demokratisierung auf politischem, sozialem und kulturellem Gebiet. Es werden unter anderem Projekte zur Demokratieförderung in Südosteuropa und zu Bioethik betrieben. 11 | Das Konzept der Gerechten unter den Völkern bezeichnet im jüdischen Religionsgesetz (Halakha) ursprünglich alle Noahidinnen und Noahiden, das heißt Nichtjüdinnen und Nichtjuden, die die im Talmud ausgeführten sieben Gesetze des Noah einhalten und damit ebenfalls wie Jüdinnen und Juden in das Paradies kommen könnten. Mit dem 1953 in Israel verabschiedeten Yad-Vashem-Gesetz fand ein fundamentaler Bedeutungswandel statt, denn nunmehr werden Nichtjüdinnen und Nichtjuden, die während des Holocaust Jüdinnen und Juden retteten, von Yad Vashem mit dem Ehrentitel Gerechte/r unter den Völkern (bislang mehr als 22.000 aus über 40 Ländern) ausgezeichnet 12 | Das 2005 in Paris eröffnete Mémorial de la Shoah ist Museum, Dokumentations- und Lernstätte. Es integriert das Centre de Documentation Juive Contemporaine, das während des Zweiten Weltkrieges von Isaac Schneersohn und Léon Poliakov im Untergrund begonnen wurde.
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Teaching remembrance und das Mémorial de la Shoah gemeinsam mit dem Pestalozzi-Programm des Europarates Weiterbildungsworkshops insbesondere für frankophone Lehrerinnen und Lehrer in der Holocaust Education (vgl. Gespräch Fracapane 2009). Es lässt sich übrigens konstatieren, dass die jüdische Gemeinde Straßburgs seit der Gründung des Europarates in regem Austausch mit jenem steht. Das Engagement europäischer und internationaler jüdischer Organisationen (z.B. European Jewish Congress, World Jewish Congress, Bnai Brith International, American Jewish Committee) im Bereich der Holocausterinnerung adressiert hingegen kaum den Europarat spezifisch (vgl. Gespräch Dreyfus 2009; Gespräch Gutman 2009; Gespräch Pallade 2008). Die Tätigkeiten von Teaching remembrance müssen mit einem äußerst kleinen jährlichen Budget von 15.000 Euro bestritten werden (vgl. Gespräch Reich 2009)13, was unbezahlte Arbeitsleistung von vielen Beteiligten erfordert. Abgefedert wird diese dramatische finanzielle Situation durch freiwillige Zuwendungen einzelner Mitgliedstaaten (v.a. durch Austragung von Tagungen und die Drucklegung/Übersetzung daraus resultierender Veröffentlichungen) und die Übernahme der Reisekosten der Konferenzteilnehmerinnen und Konferenzteilnehmer durch das transversale Pestalozzi-Programm für Lehrendenfortbildung im Europarat. Im Bereich punktueller Förderungen durch Mitgliedstaaten lässt sich auch ein gewisser Erinnerungswettbewerb ehemals realsozialistischer Staaten konstatieren (vgl. Gespräch Regard 2009). Zu betonen ist der informelle und entsprechend kostensparende Charakter der Seminare, da im Gegensatz zu den Treffen der ITF auf sämtliche protokollarische Vorgaben verzichtet wird. Die programmatischen Schwerpunkte der Holocausterinnerungspolitik im Europarat erklären sich aus der historischen Genese, der institutionellen Verankerung und der tragenden Rolle von Mitgliedstaaten sowie Expertenstimmen in der Politikgestaltung. Ein streng vertikales Modell im Sinne eines übergeordneten Europarates und darunter liegenden Mitgliedstaaten ist nicht haltbar. Es mag der Vielzahl an Akteuren geschuldet sein, dass die Opferdefinition eine äußerst inklusive ist, die historische Genauigkeit vermissen lässt. Teaching remembrance zählt zu den Opfern des Holocaust Jüdinnen und Juden, Romnia und Roma, Opfer der soge13 | Budget Bildungsbereich 2006: 8,3 Millionen Euro, Anteil am Gesamtbudget: 14 Prozent (vgl. Brummer 2008: 60).
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nannten Medizinverbrechen, Homosexuelle, Zeuginnen und Zeugen Jehovas sowie aus politischen Gründen inhaftierte und ermordete Menschen beziehungsweise Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, nicht jedoch die Zivilbevölkerung in Osteuropa, da die gegen sie begangenen Taten Kriegsverbrechen und nicht Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien (vgl. ebd. 2009). Die Rechtsgrundlagen (Europäisches Kulturabkommen, Empfehlung (2001)15 des Ministerkomitees zur Geschichtsvermittlung im 21. Jahrhundert), die politische Grundsatzerklärung durch den damaligen Europaratsgeneralsekretär Walter Schwimmer sowie die Ansiedlung innerhalb der DG IV des Europaratssekretariates bedingen eine stark bildungspolitisch-pädagogische Ausrichtung der Erinnerungspolitik. Von inhaltsleeren Schweigeminuten und anderen Ritualen wird abgeraten (vgl. ebd. 2009). Das Hauptgewicht liegt darin, die Holocaust Education im schulischen Bereich zu vermitteln. Dem außerschulischen Lernen und dem potentiellen Bildungsraum Internet wird jedoch vergleichsweise wenig Platz eingeräumt. Generell wurden ab den 1990er Jahren politische Bildung, ein Fokus auf Berufsbildung, europäische West-Ost-Kooperation und die rücksichtsvolle Integration von Kindern aus migrantischen oder Minderheiten angehörenden Familien in das Regelschulwesen neben hier weniger relevanten Aspekten wie zeitgemäße Fremdsprachendidaktik und Berufsbildung etabliert (vgl. Kordik 2008: 802-805). Diese Aufstellung ist um die rezente Hinwendung zu Fragen der Interkulturalität und Diversität zu ergänzen. Die Programmschiene Teaching remembrance bleibt von den allgemeinen Entwicklungen in der DG IV selbstverständlich nicht unberührt. Die Bemühungen des Europarates laufen klar auf eine Vermittlung des Holocaust als Teil von politischer Bildung oder Menschenrechtserziehung, also nicht lediglich von abgeschlossener Geschichte, hinaus. Die große Herausforderung der Holocaust Education im durch Migration geprägten Klassenzimmer berührte die Straßburger Organisation jedoch allenfalls punktuell. Da das wesentlich ältere Schwesterprogramm History teaching14 auf der gleichen Rechtsgrundlage wie Teaching remembrance beruht und sich 14 | Laut Sissela Matzner lassen sich geschichtspolitische Aktivitäten im Europarat in fünf Stadien gliedern: »Die erste Phase war durch ›Aussöhnung‹ gekennzeichnet. Ziel war die Bewusstseinsbildung, dass Europa eine Zivilisation darstellt und Vielfalt eine Bereicherung ist. Die kulturellen Maßnahmen dieser Phase soll-
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auch inhaltliche und personelle Überschneidungen ergeben, beeinflussen die Prinzipien der allgemeinen schulischen Geschichtsvermittlung auch die spezifische Holocaust Education. Nach Phasen der dringend notwendigen Überarbeitung von nationalistischen Schulbüchern und Lehrplänen (nach dem Zweiten Weltkrieg sowie nach 1989/1991) und der gegenseitigen Anerkennung nationaler und regionaler Unterschiede, werden in jüngster Zeit Gemeinsamkeiten wieder stärker betont. Ausgehend von gemeinsamen historischen und sozioökonomischen Phänomenen (z.B. die Industrielle Revolution, das Konzept Stadt) sollen differente Sichtweisen erforscht werden. Deutlich grenzt sich das Team von History teaching jedoch von Versuchen ab, eine gemeinsame Geschichte Europas oder ein einheitliches Schulbuch zu schreiben (vgl. Gespräch Titz 2009). Vielmehr greift in den letzten Jahren die Multiperspektivität Platz. Dieses Konzept fördert nicht nur das gegenseitige Kennenlernen europäischer National-, Regional- und Minderheitengeschichten, sondern erfordert auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen historiografischen Traditionen, ihren Quellen und den jeweiligen geschichtspolitischen Hintergründen. Die Verantwortlichen von Teaching remembrance begründen die Forcierung der Holocaust Education im Zwangskorsett der Schulpflicht damit, dass Einstellungen Erwachsener kaum mehr geändert werden können und der Schwerpunkt deshalb auf die nächsten Generationen zu legen sei (vgl. Gespräch Regard 2009). Es geht also primär um die Gestaltung der Zukunft, während bei diesem Ansatz die unmittelbare Veränderung der gegenwärtigen Erwachsenenwelt in den Hintergrund tritt. Holocaust Education im Europarat möchte den Heranwachsenden auch Beispiele ten die politischen Aufbaumaßnahmen unterstützten. Diese Phase ist durch Reformen im Geschichts- und Geografieunterricht, sowie Kunstausstellungen und Expertenkonferenzen gekennzeichnet. In der zweiten Phase wurde der Akzent auf gegenseitiges Wissen und Erkennen gesetzt, wozu Vergleichsstudien zu Lehrplänen dienten. Die dritte Phase widmete sich der Entwicklung einer gemeinsamen Philosophie im kulturellen Bereich und in Richtung zukunftsorientierter Lösungen. Die vierte Phase war durch die Krise der multilateralen Zusammenarbeit, Zweifel an der kulturellen Identität und der Positionierung des Europarates als eigenständigen Faktor in Europa geprägt. […] Die derzeitige fünfte Phase soll gemeinsamen Aktionen, Informationsverbreitung und Ausbildung gewidmet sein.« (Matzner 2008: 773)
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für vorbildliches Verhalten an die Hand geben. Die Gerechten unter den Völkern sollen dabei eine Schablone abgeben, wie in krisenhaften Situationen, die nicht zwingend Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschließen müssen, reagiert werden kann. Die enge institutionelle Verzahnung mit der Bildung zu Menschenrechten und Diversität (Education for Democratic Citizenship/Human Rights Education – EDC/HRE) verstärkt die Orientierung auf Schülerinnen und Schüler, während die Bekämpfung präsenter Formen von Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus nicht als integrale Bestandteile von Holocausterinnerungspolitik betrachtet und stärker durch andere Organisationseinheiten (besonders ECRI) wahrgenommen werden. Eine Ausnahme davon bilden Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden, allerdings ursprünglich nicht mit einer erinnerungspolitischen Absicht initiiert wurden (vgl. Gespräch Baumgartner 2009). Wissen über den an den Romnia und Roma verübten nationalsozialistischen Genozid soll mehr Menschen erreichen. Der Europarat erkennt den 2. August als Gedenktag für die im Nationalsozialismus vernichteten Romnia und Roma an (vgl. CoE o.J.). Des Weiteren soll öffentliches Bewusstsein für die andauernde antiziganistische Diskriminierungspolitik gegen Romnia und Roma im heutigen Europa erzeugt und Ideologien der Ausgrenzung bekämpft werden. Die entsprechenden Europaratsprogramme zielen gleichzeitig darauf ab, die Lebenssituation und Bildungschancen von Romnia und Roma zu verbessern und sie behutsam in die Mehrheitsgesellschaften zu integrieren. Eine Reihe von rechtlich-vergangenheitspolitischen und kulturellen Themen stand und steht immer wieder im Raum, hat es aufgrund der institutionell vorgegebenen Konzentration auf die Bildungsarbeit jedoch bisher nicht auf die Agenda der Holocausterinnerungspolitik im Europarat geschafft. Die Parlamentarische Versammlung und die European Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to Crimes against Humanity and War Crimes befassten sich bereits in den 1960er und 1970er Jahren mehrfach mit der Verjährung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (CETS 1974; PACE 1965; PACE 1969; PACE 1979), ohne aber unmittelbar eine inhaltliche Auseinandersetzung mit derartigen Verbrechen und ihrer Folgen, darunter der Holocaust, anzuregen. Nach wie vor werden Verantwortungsfragen bis hin zur juristischen Ahndung nur peripher aufgegriffen. Die Themenfelder Restitution geraubten Besitzes oder die
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strafrechtliche Verfolgung von Holocaustverharmlosung und Holocaustleugnung stehen nicht im Aufgabenportfolio von Teaching remembrance (vgl. Gespräch Reich 2009). Dabei werden im Umfeld des Europarates Debatten angestoßen, die darauf harren, fortgesetzt und institutionalisiert zu werden. Besonderes Augenmerk verdient die bis in die 1990er Jahre zurückreichende Initiative des litauischen Mitgliedes der Parlamentarischen Versammlung Emanuelis Zingeris, der sich in Fragen der Restitution im Nationalsozialismus geraubter Güter engagiert. Im November 1999 wurde von der Parlamentarischen Versammlung einstimmig die Resolution 1205 zur Rückgabe jüdischen Kulturbesitzes in Europa angenommen (PACE 1999). Das im Oktober 2000 abgehaltene Vilnius International Forum mit seinen 38 Teilnehmerstaaten15 wurde ebenfalls unter den Auspizien des Europarates veranstaltet. In der dort angenommenen Erklärung werden die Regierungen aufgerufen, während des Holocaust geraubte Güter an die rechtmäßigen Parteien zurückzugeben. Zu diesem Zweck sollen Behörden, Archive, Museen und der Kunsthandel alle notwendigen Informationen zur Verfügung stellen und eine zentrale Ansprechstelle schaffen. Bei Beutekunstgütern, für die keine Angehörigen ausfindig gemacht werden können, sind individuelle Lösungen zu suchen, wobei die Tatsache des früheren jüdischen Besitzes zu berücksichtigen sei. Es wird empfohlen, regelmäßig Expertentreffen abzuhalten (Central Registry 2000). In diesem rechtlich-vergangenheitspolitischen Kontext ist auch die einschlägige Judikatur des EGMR zu nennen, die Verharmlosung und Leugnung des Holocaust, neonazistische Wiederbetätigung und Aufstachelung zu rassistischer Diskriminierung umfasst16. Die im Europarat generelle Vernachlässigung 15 | Albanien, Argentinien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Heiliger Stuhl, Israel, Italien, Kanada, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien (F YROM), Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russische Föderation, Schweden, Schweiz, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ukraine, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika, Zypern sowie eine offizielle Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. 16 | Konkrete EGMR-Urteile betreffen die Fälle Glimmerveen and K. Hagenbeek vs. the Netherlands (1979), B.H., M.W., H.P. and G.K. vs. Austria (1987), F.P. vs. Germany (1993), Walter Ochensberger vs. Austria (1994), Remer vs. Germa-
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rechtlich-vergangenheitspolitischer Aspekte überrascht nicht zuletzt ob des Europaratsgrundprinzips der Rechtsstaatlichkeit (neben Menschenrechten und pluralistischer Demokratie). Vereinzelte Empfehlungen und Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung beschäftigen sich seit über drei Jahrzehnten damit, wie Gedenkstätten gestaltet und verwaltet (PACE 1980; PACE 1987; PACE 2009a; PACE 2009b) und wie die jüdische Kultur und das Jiddische in Europa bewahrt werden können (PACE 1987; PACE 1996b). Keines dieser Anliegen führte jedoch zu einem institutionalisierten erinnerungspolitischen Aufgabenfeld. Dies ist überraschend, da sich beide Bereiche an das Tätigkeitsspektrum der DG IV anschließen ließen. Es ist zu erwarten, dass die Frage, wie sich erinnerungspolitische Maßnahmen auf andere Genozide, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diktaturen ausweiten lassen, auch den Europarat und möglicherweise auch Teaching remembrance erfassen wird. Mehrere Rechtsakte aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates deuten in diese Richtung: die Resolution zu Maßnahmen zum Umgang mit dem Erbe ehemaliger kommunistischer totalitärer Regime (PACE 1996c), die Resolution zur Errichtung eines europäischen Erinnerungszentrums für Opfer erzwungener Bevölkerungswanderungen (PACE 2006d) sowie die schriftliche Erklärung zum Weltkrieg und zur Verurteilung totalitärer Verbrechen (PACE 2009c). Die von der EPP eingebrachte, aber auch von sozialdemokratischer Seite unterstützte Resolution 1481(2006) On the need for international condemnation of crimes of totalitarian communist regimes (PACE 2006b) rief kommunistische Parteien, darunter die russische, mit der Kritik des »blinden Antikommunismus« (Closa Montero 2010a: 14; Übers. E.K.) auf den Plan. Davon unbeeindruckt bekräftigte die Parlamentarische Versammlung mit Resolution 1652(2009) die Verurteilung diktatorischer Regimes wie den Nationalsozialismus, Faschismus und totalitären Kommunismus (PACE 2009b). Die Empfehlung, das Franco-Regime zu verurteilen, löste eine Kontroverse zwischen der Parlamentarischen Versammlung und dem Ministerkomitee aus. Die Empfehlung 1736(2006) der Parlamentarischen Versammlung sieht vor, dass in die Bildung investiert, ein Archiv ny (1995), Rebhandl vs. Austria (1996), Marais vs. France (1996), Nachtmann vs. Austria (1998), Lehideux and Isorni vs. France (1998), Witzsch vs. Germany (1999), Sug and Dobbs vs. Sweden (2001), Garaudy vs. France (2003) und Chauvy and other vs. France (2004) (vgl. Closa Montero 2010b: 404-408).
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eröffnet und Gedenkstätten und eine Dauerausstellung an der Grabstätte Francisco Francos errichtet werden (PACE 2006a). Das korrespondierende Dokument des Ministerkomitees ruft hingegen auf, eine Erklärung zu publizieren oder einen Gedenktag für alle totalitären Regime zu schaffen, der entgegen geschichts- und politikwissenschaftlich üblicher Definitionen auch das autoritäre Franco-Regime einschließt. Die Begründung lautet: »Das Herausheben eines Regimes anstelle eines anderen könnte den falschen Eindruck erwecken, dass einige totalitäre Regime eher der Verurteilung wert wären als andere, während alle zusammen unsere Missbilligung verdienen.« (CM 2006; Übers. E.K.) Keineswegs ist gewiss, ob daraus neue Aktivitäten für den Europarat erwachsen und, wenn überhaupt, in welchem Rahmen sie institutionalisiert würden. Allerdings wird der generelle Trend der thematischen Ausweitung der Erinnerungspolitik und der daraus resultierenden Konflikte, nicht vor der Straßburger Organisation Halt machen. Schulische Holocaust Education mit einem starken Präventionsauftrag an heranwachsende Generationen dominiert die Holocausterinnerungspolitik im Europarat. Eine gewisse Sonderstellung nehmen Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma ein, die jedoch erst mit der Erinnerung an den Samudaripen Bestandteil der Holocausterinnerungspolitik im Europarat wurden. Es ist aus der historischen Genese und institutionellen Einbettung zu erklären, dass Aspekte wie Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung, der Umgang mit Kulturgütern sowie vergangenheitspolitische Fragen bisher wenig berücksichtigt worden sind. Schließlich sind Bereiche zu nennen, die der Europarat zumindest bis dato kaum oder überhaupt nicht angeschnitten beziehungsweise daraus resultierende Kontroversen umgangen hat. Sensible Themen wie die Türkei, die den Genozid an Armenierinnen und Armeniern nicht anerkennen will, oder die Bewertung stalinistischer und realsozialistischer diktatorischer Vergangenheit wurden in den Tagungen von Teaching remembrance angesprochen, fanden aber keinen Niederschlag in den dazugehörigen Publikationen (vgl. Gespräch Clerc 2009). Aus der Außenperspektive ergibt sich dadurch folgendes Bild: Konflikte um Geschichtsdeutungen werden hinter verschlossenen Türen ausgehandelt, um der Öffentlichkeit danach konsensuale Kompromisse präsentieren zu können. Ein weiteres Manko betrifft die Tatsache, dass die Akteure von Teaching remembrance auf tagesaktuelle Ereignisse und Skandale, wie mit dem Holocaust umgegangen wird, höchstens sehr verzögert in Seminaren und pädagogischen Veröffentlichungen reagieren können. Die Erforschung des Holocaust und der
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unterschiedlichen Vergangenheits- und Erinnerungspolitiken, einschließlich der Frage, ob diese wirksam und effektiv sind, kann der Europarat aufgrund der geringen monetären und personellen Mittel weder selbst betreiben noch fördern. Die beschränkten Ressourcen und die pädagogische Schlagseite produzieren in der Folge bevorzugte Wege der Politikvermittlung. Sowohl Teaching remembrance als auch die Schwesterprogramme History teaching und EDC/HRE haben stets auf Basis vermittelter Öffentlichkeit gearbeitet. Nicht die Europäerinnen und Europäer sollen angesprochen werden, sondern interessierte Lehrkräfte, die über ihre jeweils nationalstaatlichen Bildungsbehörden mit dem Weiterbildungsangebot des Europarates in Kontakt kommen. Von ihnen wird erwartet, dass sie die entsprechenden Botschaften im Klassenzimmer und im Kollegium verbreiten. Idealerweise schließen sich nach dem Besuch der Europaratsveranstaltungen alle, die an dieser Distribution beteiligt sind, zu informellen transnationalen Netzwerken zusammen: das pädagogische Lehrpersonal und die Autorinnen und Autoren von Curricula und Schulbüchern einschließlich der Schulbuchverlage. Weniger ausgereift ist der Websiteauftritt von Teaching remembrance. Beispielsweise sind nicht alle erinnerungspolitischen Publikationen erhältlich oder aber kostenpflichtig. Der Einsicht, dass junge Menschen (die Zielgruppe dieser Programme), aber auch Politikgestalterinnen und Politikgestalter, zivilgesellschaftlich Aktive, Medienleute sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rasch auf erinnerungspolitische Materialien zugreifen möchten und sich dabei einen kompakten Überblick erwarten, wird derzeit nur partiell Rechnung getragen. Teaching remembrance setzt darüber hinaus Kenntnisse des Englischen und/oder des Französischen voraus. Anders ist dies beispielsweise bei ECRI, das auf seiner Website alle Berichte und Politikempfehlungen neben Englisch und Französisch auch in weiteren Sprachen gratis anbietet. Ähnliches gilt für die Antiziganismuskampagne Dosta!, die ihre Texte vor allem in südosteuropäischen Sprachen und in Romani übersetzt und auch kostenfrei zum Herunterladen anbietet. Web-2.0-Funktionen (z.B. Kommentarmöglichkeit, Foren) oder Social-Media-Tools (z.B. Verknüpfung mit Facebook, Google+, Twitter) stehen gleichfalls nicht zur Verfügung. Eine für den erinnerungspolitischen Bereich spezifische Einschränkung ergibt sich durch die fehlende Monitoringfunktion (es ist beispielsweise nicht möglich, unabhängig zu evaluieren, wie die erinnerungspoli-
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tischen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten implementiert werden). Im Gegensatz zu ECRI kann Teaching remembrance kein datenbasiertes naming and shaming von säumigen Mitgliedstaaten betreiben. Bei einem moralisch und emotional so stark besetzten Thema wie Holocausterinnerung wird, wo Standards nicht erfüllt werden, auf zwischenstaatlichen sanften Druck (soft power) vertraut. Wie bereits erwähnt, steuert Teaching remembrance aufgrund von Ressourcenengpässen keine unmittelbaren Reaktionen zu (transnationalen) erinnerungspolitischen Debatten und Skandalen bei. Um eine größere, auch journalistische Öffentlichkeit zu erreichen, werden wichtige, erreichte Meilensteine von Teaching remembrance im mehrmals jährlich erscheinenden Education Newsletter der DG IV – fallweise auch an prominenter Stelle – platziert und in die allgemeine Pressearbeit des Europarates eingespeist. Die Presseabteilung verbreitet Mitteilungen, lädt Medienleute zu erinnerungspolitisch relevanten Veranstaltungen ein und stellt Informationen auf dem allgemeinen Webportal der Straßburger Organisation bereit. Damit würde zumindest die Angebotseite der Öffentlichkeit bedient werden (Gespräch Regard 2009). Punktuelle Öffentlichkeit wird durch kommemorative Elemente erzeugt. Mit der Einführung des Holocaustgedenktages am 27. Januar durch den Europarat im Jahr 2002 findet jährlich eine Zeremonie statt; seit 2005 beim Holocaustgedenkstein am Vorplatz des Europaratshauptgebäudes. Dieses beherbergt seit seinem Bestehen regelmäßig von Mitgliedstaaten organisierte historische oder künstlerische Ausstellungen. Im Jahr 2009 wurden beispielsweise zwei Ausstellungen von Albanien (albanisch-muslimische Gerechte unter den Völkern) und Spanien (Repatriierung sephardischer Jüdinnen und Juden während des Holocaust) gezeigt. Hinzu kommen auch Redebeiträge von Spitzenbeamtinnen und Spitzenbeamten des Europarates mit Bezugnahmen auf den Holocaust und teilweise auch auf die erinnerungspolitischen Aktivitäten des Europarates. Alle genannten Initiativen, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, müssen vor dem Hintergrund beurteilt werden, dass die Straßburger Organisation, was ihre mediale Aufmerksamkeit betrifft, strukturell massiv benachteiligt ist. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2008, der für die Herausbildung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat von großer Relevanz war, wurden in der Parlamentarischen Versammlung jährlich im Schnitt 104 Dokumente verabschiedet, wobei im Falle von Empfehlungen die Antworten des Ministerkomitees hinzukommen. So besehen nehmen die Entschei-
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dungen und Empfehlungen, die sich mit der Holocausterinnerungspolitik befassen, einen Bruchteil des gesamten Themenvolumens ein. Allerdings greift eine rein quantitative Perspektive, die auch auf unterschiedliche Budgetmittel zuträfe, zu kurz. Potentiell generiert der Holocaust eine hohe Aufmerksamkeit; diese verharrt aber vielfach im Symbolischen, anstatt automatisch zu politischen Programmen und Maßnahmen zu führen. Der Übergang von der rechtlichen Entscheidungsgrundlage für Holocausterinnerung – im engeren Sinne ist das die einzelne Ministerkomiteeempfehlung (2001)15 – zu den vielfältigen und im Europaratssekretariat institutionalisierten Veranstaltungen und Publikationen im Bereich Holocaust Education belegt, dass der legistische Output alleine nur wenig über die Bedeutung eines Politikfeldes aussagt. Ähnlich schwierig lässt sich das Gewicht der Holocausterinnerungspolitik im Rahmen der Initiativen der DG IV bestimmen, da hier wiederum mehrere Ebenen zusammentreffen. In den Hintergrundgesprächen mit zuständigen Europaratsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern wurde betont, dass die Holocausterinnerungspolitik wichtig sei; dies könnte aber auch dem spezifischen Forschungsanliegen der Interviewerin geschuldet sein. Werden beispielsweise bildungsrelevante Europaratspublikationen, der Education Newsletter oder die thematische Gewichtung bei den angebotenen Pestalozzi-Programmen als Maßstab herangezogen, so kann Holocausterinnerungspolitik quantitativ als kleinstes und inhaltlich wie strukturell abhängigstes Element in der Trias aus History teaching, EDC/HRE und Teaching remembrance eingestuft werden. Eine gültigere Aussage ließe sich aber erst dann treffen, wenn beurteilt werden könnte, ob die angebotenen Programme im Bereich Holocaust Education akzeptiert werden; dies ist allerdings aufgrund fehlender Evaluierungsdaten gegenwärtig nicht möglich. Abgesehen von geschichts- und vergangenheitspolitischen Vorläufern seit den 1950er Jahren kann von einer institutionalisierten Holocausterinnerungspolitik ab Ende der 1990er Jahre gesprochen werden. Dieses Politikfeld ist in der DG IV beheimatet, wodurch sich der klare Bildungsschwerpunkt erklären lässt. Dieser geht auf Kosten von rechtlichen, wissenschaftlichen und kommemorativen Zugängen zum Holocaust. Die Einbindung und auch budgetäre Abhängigkeit von den Mitgliedstaaten und der breite Teilnehmendenkreis bei erinnerungspolitischen Veranstaltungen sind Grund für die sehr inklusive Definition der Opfer des Holocaust, die sich besonders darin zeigt, dass die Erinnerung an den Samudaripen und weitere Programme von und in Zusammenarbeit mit Romnia
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und Roma hereingenommen werden. Die Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung wiederum ist institutionell ausgelagert an ECRI. Alle erinnerungspolitischen Bemühungen im Europarat adressieren die heranwachsende Generation und deren Aufgabe, eine Gesellschaft ohne Menschenrechtsverletzungen und, in der schlimmsten Steigerung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gewährleisten. Die Programmschiene Teaching remembrance ist selbst in zivilgesellschaftlichen und akademischen Fachkreisen wenig präsent, da sie ihre Politik in erster Linie in Lehrendenfortbildungen zu vermitteln sucht. Die institutionellen Rahmenbedingungen und die Programmschwerpunkte der Holocausterinnerungspolitik im Europarat sind eng miteinander verschränkt. Dies ist eine Stärke und Schwäche zugleich. Einerseits kann Teaching remembrance auf eine hervorragende Expertise und bestehende Infrastruktur in der transnationalen Bildungspolitik zurückgreifen und somit auch sein Profil gegenüber anderen erinnerungspolitischen Akteuren schärfen. Andererseits rücken durch die einseitige Konzentration auf Bildungsbemühungen andere wichtige Zugänge wie die genannte legislative und juristische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, die Verknüpfung mit der Antidiskriminierungsarbeit oder die Förderung einer ergebnisoffenen Evaluation umgesetzter erinnerungspolitischer Maßnahmen in den Hintergrund. Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat kann somit nur in Ergänzung mit anderen mitgliedstaatlichen und transnationalen Programmen ein potentiell wirksames Angebot bieten. Sollte Teaching remembrance weiterhin Bestand haben, sind die Herausforderungen für die Zukunft mannigfaltig. Auf der intrainstitutionellen Ebene muss das erinnerungspolitische Dossier innerhalb der DG IV seinen Platz vor allem durch eine wesentlich bessere Ressourcenausstattung absichern. Interinstitutionell wäre es förderlich, mehr mit anderen Programmen und Einrichtungen – hier zentral mit ECRI – zu kooperieren, damit Ergebnisse nicht nur gegenseitig wahrgenommen, sondern künftig gemeinsam produziert und implementiert werden. In einer kritischen Perspektive beschreibt Martina Maschke Teaching remembrance als »zahnlosen Tiger«, der jedoch für erinnerungspolitisch noch weniger etablierte Staaten eine gute Einstiegsmöglichkeit in die Holocausterinnerung und die ITF bieten würde. Der Monitoringmechanismus von ECRI könnte, die Zustimmung der Mitgliedstaaten vorausgesetzt, auch auf die Umsetzung erinnerungspolitischer Mindeststandards angewendet werden.
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Zudem wird sich Teaching remembrance mit den Opfern anderer Genozide, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diktaturen auseinandersetzen müssen, die gleichfalls transnationale Bildungsprogramme fordern werden. Die institutionalisierte Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid an Romnia und Roma ist in dieser Hinsicht wenig kontrovers. Sollten jedoch die Vertreibungen von sprachlich-kulturell deutschen Bevölkerungsgruppen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, der Holodomor in der sowjetischen Ukraine, der Völkermord an Armenierinnen und Armeniern oder europäische Kolonialverbrechen auf die Agenda kommen, wird der Europarat vermutlich mit wesentlich stärkerem Widerstand aus den für die jeweiligen Taten verantwortlichen Mitgliedstaaten konfrontiert werden und sich als eigenständige Organisation in konflikthaften Auseinandersetzungen politisch positionieren müssen.
2.2 H OLOCAUSTERINNERUNGSPOLITIK IN DEN I NSTITUTIONEN DER E UROPÄISCHEN U NION Obwohl die Europäischen Gemeinschaften ähnlich dem Europarat Nachkriegsgründungen sind, hatte erst die 1993 mit Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht begründete Europäische Union überhaupt die rechtlichen Grundlagen, erinnerungspolitische Maßnahmen zu setzen. Wenig überraschend bildete sich eine konkrete Holocausterinnerungspolitik in der Europäischen Union ebenfalls seit der Jahrtausendwende. Wie beim Europarat wirft die Auseinandersetzung mit einer internationalen Organisation das folgende analytische Dilemma auf: eine internationale Organisation kann weder als bloße Summe ihrer Mitgliedstaaten noch als von nationalstaatlicher Politik völlig losgelöste eigenständige Einheit betrachtet werden. Dieser Befund verschärft sich im Rahmen der Europäischen Union17 nochmals, da jenseits des Nationalstaates sowohl intergouvernementale Zusammenarbeit (z.B. der Europäische Rat und die Ministerräte; auch 17 | 27 Mitgliedstaaten: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Zypern; fünf Kandidatenländer: Island, Kroatien, Mazedonien (FYROM), Montenegro, Türkei.
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Politikbereiche wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik), supranationale Instanzen (z.B. die Europäische Kommission, der Europäische Gerichtshof), als auch das in Wahlen demokratisch legitimierte Parlament existieren. Die genannten Körperschaften wirken beim Willensbildungsund Gesetzgebungsprozess auf der EU-Ebene zusammen. Dazu kommen thematisch spezialisierte Agenturen sowie die Delegation von Forschungsaufgaben an externe Partner und Projektförderungen. Holocausterinnerungspolitik in der EU findet in sieben verschiedenen institutionellen Zusammenhängen statt, die jedoch keinesfalls isoliert voneinander agieren. Mit größter Durchsetzungskraft verbunden sind legislative Akte der EU, die in das mitgliedstaatliche Recht umzusetzen sind. Erinnerungspolitisch relevant ist die Rahmenentscheidung Combating racism and xenophobia: approximation of laws, closer cooperation, die auch Bestimmungen zur Holocaustleugnung enthält (a). Ein weiteres durch die EU häufig eingesetztes Steuerungsmittel sind Finanzierungsprogramme, die im Regelfall in der von den Interessen der Mitgliedstaaten stärker entkoppelten Europäischen Kommission verwaltet werden. Die sogenannte Aktion 4 bietet unter dem Titel Europa für Bürgerinnen und Bürger auch eine erinnerungspolitische Förderschiene an (b). Als wichtigster Ideen- und Expertisegeber für Holocausterinnerungspolitik innerhalb der EU fungiert die Grundrechteagentur der Europäischen Union (FRA). Die Holocausterinnerung ist in das allgemeine Mandat zur Grundrechteförderung eingebettet. Die FRA selbst kann nur Daten publizieren und Bewusstseinsbildungskampagnen starten. Allerdings zeigt sie dadurch potentiell den Bedarf für gesetzliche Regelung auf supranationaler Ebene oder Fördermittel aus dem EU-Budget auf (c). Die Europäische Kommission hat die Untersuchung Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States (Closa Montera 2010b) an einen Wissenschaftler außerhalb der eigenen Organisation vergeben. Das Papier befindet sich noch im Diskussionsprozess. Vergleichbare Auftragsforschungen zu anderen Themen stießen jedoch bereits vielfach Gesetzesinitiativen seitens der Brüsseler Kommission an (d). Wenn auch nicht mit dem Monopol für legislative Initiativen ausgestattet, so können erinnerungspolitische Debatten und Entschließungen des Europäischen Parlaments sehr wohl eine indirekte Agenda-SettingWirkung entfalten. Zudem ist das Europäische Parlament der einzige Ort, an dem erinnerungspolitische Themen öffentlich entlang ideologischer Bruchlinien diskutiert werden können (e). Die Verpflichtung der EU zu
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Holocausterinnerung spiegelt sich auch in den Aktionsplänen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) zwischen der Europäischen Union und Israel wider (f). Punktuell erinnerungspolitisch eingebracht hat sich die EU bei der unter der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft abgehaltenen Holocaust Era Assets Conference (HEAC) im Jahr 2009, wobei in diesem Fall die Umsetzung der Konferenzerklärung allen unterzeichnenden Parteien und nicht spezifisch der EU obliegt (g). Nach einem Überblick zu den einzelnen Akteuren innerhalb der EU und ihren programmatischen Schwerpunkten werden Vor- und Nachteile dieses hohen Grades an organisatorischer Komplexität für eine wirksame Holocausterinnerungspolitik beleuchtet. (a) Anders als Internationale Organisationen kann die EU Verordnungen und Richtlinien, oft als Gesetze bezeichnet, beschließen, die für die Mitgliedstaaten bindend sind und die Anpassung nationalen Rechtes erfordern. Der Entscheidungsprozess bezieht die Europäische Kommission als offiziellen Agenda-Setter, den Rat der resortzuständigen Fachministerinnen und Fachminister sowie das Europäische Parlament als Entscheidungsorgane ein. Zudem nehmen Expertinnen und Experten sowie Interessensgruppen beratend teil. Das Ergebnis eines EU-Gesetzgebungsverfahrens ist keine ausschließlich hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Kompromissformel, sondern zeigt ein weitgehend repräsentatives Bild dessen, was in der EU zum Zeitpunkt der Beschlussfassung mehrheitsfähig ist. Im konkreten Fall der Holocausterinnerung ist einzuräumen, dass laut EU-Vertragsrecht die meisten Kompetenzen in den Bereichen Bildung, Kultur und symbolische Politik auf nationaler Ebene liegen (Closa Montero 2010a: 5). Die 2008 angenommene Rahmenentscheidung Combating racism and xenophobia: approximation of laws, closer cooperation enthält Bestimmungen, denen zu Folge die Holocaustverharmlosung und -leugnung strafrechtlich geahndet werden kann. Damit reagierte die EU auf ein seit Jahren schwelendes und auch international potentiell skandalträchtiges Thema. Erinnert sei hier an die Prozesse gegen den englischen Historiker und verurteilten Holocaustleugner David Irving im Vereinigten Königreich im Jahr 2000 inklusive der vorangegangenen teils vor Gericht ausgetragenen Kontroversen mit der US-amerikanischen Holocausthistorikerin Deborah Lipstadt und Irvings Verurteilung in Österreich mit anschließender Haftstrafe im Jahr 2006. Außerdem zu erwähnen sind die 2006 in Teheran
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abgehaltene Holocaustleugnerkonferenz und anschließende Gründung einer revisionistischen Stiftung für Holocaustforschung, die beide von der iranischen Regierung nahe stehenden Körperschaften organisiert wurden. Ein Beispiel vom Frühjahr 2009, also nach Annahme der EU-Rahmenentscheidung, ist die länderübergreifende Empörung, nachdem die Exkommunikation des Holocaustleugners Richard Williamson und anderer Bischöfe der einschlägig bekannten Piusbruderschaft durch Papst Benedikt XVI. aufgehoben worden war. Hinzu kommt die weitgehend ungehinderte Verbreitung von neonazistischen und islamistischen, den Holocaust leugnenden oder zumindest trivialisierenden Materialien über das Internet oder andere elektronische Medien, deren Justiziabilität sich aufgrund fehlender gesetzlicher Grundlagen und nicht vorhandenen politischen Willens (z.B. arabische Staaten und Iran) oder verfassungsrechtlicher Garantie der Meinungsfreiheit (z.B. USA) in den Stützpunktländern der entsprechenden Internetserver und Sendeanstalten als fast unmöglich erweist (vgl. Whine 2008: 71). Während ein 2001 von der Europäischen Kommission herausgegebenes Papier zur Angleichung von Gesetzen gegen rassistische und fremdenfeindliche Verbrechen noch relativ allgemein gehalten ist, integrieren die im Rahmen des Konsultationsverfahrens beteiligten europäischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres in der ersten Lesung 2002 das strafrechtliche Verbot von Holocaustleugnung explizit in den Entwurf (vgl. EP 2008b). Damit beginnt ein langer Diskussionsprozess, der vor allem aufgrund unterschiedlicher rechtlicher und kultureller Traditionen im Umgang mit (dem Verbot von) Holocaustleugnung und somit bei der Beschneidung von Meinungsfreiheit stockte. Nach einer fünfjährigen Pause griff die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 das Legislativverfahren wieder auf. Die damals ressortzuständige Ministerin Brigitte Zypries verwies in ihren Begründungen klar auf die Verantwortung Deutschlands als NS-Nachfolgestaat. Ende 2008 trat schließlich eine von Kompromissen durchzogene Rahmenentscheidung in Kraft. Diese Richtlinie ist in den folgenden zwei Jahren in allen EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht zu transferieren (vgl. ebd.). Der Titel der Rahmenentscheidung (Combating racism and xenophobia: approximation of laws, closer cooperation) verdeutlicht, dass die strafrechtliche Ahndung der Leugnung von Verbrechen laut Definition der Nürnberger Prozesse und des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) – also
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ein genuin vergangenheitspolitisches Anliegen – in den größeren Rahmen eingegliedert wurde, Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen. Im Detail hakt die Initiative zum Verbot jedoch mehrfach; beispielsweise im Fall der Leugnung des Holocaust oder des Genozides in Ruanda. EU-Mitglieder können einzelstaatlich wählen, ob nur Verhalten, das die öffentliche Ordnung stört, bestraft wird, oder ob bereits Drohungen, Schmähungen und Beleidigungen unter die zu schaffenden Paragraphen fallen. Der legistische und in weiterer Konsequenz jurisdiktorische Spielraum bleibt auch deshalb groß, weil die strafrechtliche Option als letzter Ausweg zu betrachten ist. Immerhin liegt der Strafrahmen bei Verurteilungen zwischen einer ein- bis dreijährigen Gefängnishaft. Eine im Sinne grund- und menschenrechtlicher Abwägungsdebatten bemerkenswerte Feststellung ist, dass die Freiheit der Religionsausübung die Rahmenentscheidung nicht verhindern darf. Es ist Mehrheitsentscheidungen inhärent, dass sie Gewinner- und Verliererseiten hervorbringen. Die Tragweite der Einwände klärt über den Umsetzungswillen der mitgliedstaatlichen Parlamente und Verwaltung auf. Die angelsächsische und implizit auch nordische Gegenposition zur Rahmenentscheidung vertrat Timothy Garton Ash besonders pointiert in einem Anfang 2007 im britischen Guardian erschienenen Kommentar. So sei die freie Meinungsäußerung ohnehin schon von vielen Seiten bedroht, wobei nur ungehinderte wissenschaftliche Forschung und die Vermittlung ihrer Ergebnisse in Medien und Schulen das Bewusstsein gegen Holocaustleugnung und Holocaustverharmlosung stärken könne. Garton Ash nennt Frankreich mit dem Front National, Belgien mit dem Vlaams Belang, Deutschland mit der NPD und Rumänien mit der Partei für ein Großrumänien – Österreich mit der FPÖ fehlt in dieser unvollständigen Aufzählung – als Beispiele für Länder, die das Vergehen strafrechtlich erfassen und trotzdem starke rechtsextreme bis neonazistische Parteien haben. Er sieht bei der Verurteilung von Holocaustleugnerinnen und -leugnern das Gefahrenpotential, Märtyrerfiguren für die extreme Rechte zu schaffen (Garton Ash 2007a). Garton Ash erinnert auch an den von der Rahmenentscheidung nicht berührten türkischen Genozid gegen Armenierinnen und Armenier und provokanterweise auch daran, dass das Hakenkreuz im Hinduismus als religiöses Symbol verwendet wird (ebd.). Ebenfalls enttäuschend fiel der Kompromiss für die baltischen Länder aus, die die Leugnung stalinistischer Verbrechen EU-weit verboten wissen wollten. Michael Whine, grundsätzlich ein Befürworter der Rahmenent-
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scheidung, führt die Zurückhaltung ehemals realsozialistischer Staaten darauf zurück, dass sie neuerliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit befürchten (Whine 2008: 71). Jedoch wurde das Hakenkreuz auch deshalb nicht verboten, weil Ungarn und Litauen mit dem Hinweis auf erlaubte realsozialistische Symbole ihre Zustimmung verweigerten (Fritz/Hansen 2008: 75). Zweifelsohne ist die EU-Rahmenentscheidung ein starkes Signal gegen die Verharmlosung und Leugnung des Holocaust. Appelle können verhallen, Gesetze hingegen sind anzuwenden, selbst wenn den einzelnen Mitgliedstaaten ein Spielraum bleibt, sie in den jeweiligen Rechtsbestand aufzunehmen. Die lange Entstehungsdauer des Rechtsaktes verdeutlicht die tief verwurzelten Dissonanzen innerhalb der Mitgliedstaaten in Bezug auf eine eingeschränkte Meinungsfreiheit. Die ersten Prüfsteine sind, sie in nationales Recht umzusetzen und die Vorschriften zu exekutieren. Das Verbot den Holocaust zu trivialisieren oder gar in Abrede zu stellen, könnte aber auch den gegenteiligen Effekt haben, dass das Verbot auch auf andere Verbrechen wie den Genozid an Armenierinnen und Armeniern oder den Stalinismus ausgeweitet wird. Je mehr Einschnitte in Grundrechte vorgenommen werden sollen, umso lauter werden die Gegenstimmen erklingen. Das erinnerungspolitisch Herausfordernde und demokratiepolitisch Positive ist, dass im Zuge eines EU-Gesetzgebungsverfahrens die Argumente beider Seiten auf den Tisch kommen und ein Aushandlungsprozess mit verbindlichem Ergebnis – getroffen von direkt gewählten Abgeordneten oder über die nationalen Regierungen indirekt legitimierten Ministerinnen und Ministern – einsetzt. (b) Neben der gesetzlicher Regulierung vergibt die Europäische Kommission als zweites Steuerungsinstrument projektbezogene Fördermittel, die auch im Zusammenhang mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus, Stalinismus und zunehmend auch an den post-stalinistischen Realsozialismus eingesetzt werden und im konkreten Fall zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure unterstützen. Unter dem Titel Europa für Bürgerinnen und Bürger etablierte die Generaldirektion Bildung und Kultur (DG EAC) der Europäischen Kommission ab 2004 eine Förderschiene, die für den Zeitraum von 2007 bis 2013 vier Schwerpunktbereiche unterstützt. Aktion 1 – Aktive Bürgerinnen und Bürger in Europa deckt Städtepartnerschaften und Bürgerbeteiligungsprojekte ab. Mit europäischer Politik befasste ThinkTanks und zivilgesellschaftliche Einrichtungen werden unter dem Titel
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Aktion 2 – Aktive Zivilgesellschaft in Europa subventioniert. Währenddessen konzentriert sich die Aktion 3 – Gemeinsam für Europa auf Veranstaltungen mit großer Öffentlichkeitswirkung, Studien sowie Informations- und Verbreitungsinstrumente zur Bewusstseinsschärfung für europäische Themen. Erinnerungspolitische Projekte können über die Aktion 4 – Aktives Europäisches Erinnern Zuschüsse beantragen. Ziel der Aktionen ist es, Bürgerinnen und Bürger in ihren lokalen Kontexten für europäische Entwicklungen und Werte zu sensibilisieren. Die Europäische Kommission gewährt bei allen Aktionen nur Kofinanzierungen, die nicht mehr als 60 Prozent des Gesamtvolumens ausmachen dürfen. Teilnahmeberechtigt sind alle Bürgerinnen und Bürger sämtlicher EU-Mitgliedstaaten sowie der Kandidatenländer Kroatien und neuerdings Mazedonien (FYROM). Anzumerken ist die ungleiche Aufteilung der Fördermittel zwischen den vier Schienen. Auf Aktion 1 entfallen mindestens 45 Prozent, die Aktionen 2 und 3 werden mit 31 respektive zehn Prozent bedacht, während sich die erinnerungspolitisch relevante Aktion 4 mit rund vier Prozent begnügen muss (vgl. EC – DG EAC 2009: 17). Die Projektabwicklung obliegt der Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA), die wiederum den Generaldirektionen für Bildung und Kultur (DG EAC), Informationsgesellschaft und Medien (DG INFSO) und EuropeAid – Entwicklung durch Zusammenarbeit (DG AIDCO) unterstellt ist. Hinter der sogenannten Aktion 4 – deren Namen ersichtlich aus dem eurokratischen Begriffslexikon stammt und dennoch für mit NS-Terminologie vertraute Ohren Assoziationen mit der sogenannten Aktion T 4 weckt – steckt die Intention, das europäische Integrationsprojekt mit seinen Grundsätzen der Freiheit, Demokratie und Wahrung der Menschenrechte abzusichern: »Um sich der Bedeutung dieser Grundsätze bewusst zu werden, ist es notwendig sich an die Zeiten des Nationalsozialismus und des Stalinismus zu erinnern, in denen diese Grundsätze in Europa verletzt wurden. Durch das Gedenken an die Opfer und die Erhaltung dieser mit Deportationen in Verbindung stehenden Stätten sowie der Archive, in denen diese Ereignisse dokumentiert sind, können Europäer die Erinnerung an die Vergangenheit – auch in ihre dunklen Zeiten – wahren.« (Ebd.: 96) Ein Blick auf die 2007, 2008 und 2009 für die Laufzeit von jeweils einem Jahr genehmigten Projekte zeigt, dass unter Stalinismus offensichtlich Realsozialismus in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und nicht die stalinistische Herrschaftsperiode in der UdSSR und in den nach dem
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Zweiten Weltkrieg in ihrem Einfluss stehenden Ländern von 1924 bis 1953 verstanden wird. Die 2007 finanzierten Projekte wurden nach Themenbereichen aufgegliedert: 27 davon beschäftigten sich ausschließlich mit dem Nationalsozialismus, zwei fallen unter die Stalinismusdefinition und sieben setzen sich mit beiden Ideologien und deren Verbrechen auseinander (vgl. EACEA 2007). Im Folgejahr wurden Fördermittel beispielsweise auch an das Projekt Donauschwaben und Serben – Zusammenleben in der multiethnischen Region Vojvodina der Stiftung Donauschwäbisches Zentrum in Ulm oder an den ungarischen Pecs-Baranya Ethnic Circle of Germans in Hungary ausgeschüttet (vgl. EACEA 2008). Die 2009 genehmigten und 2010 implementierten 64 Projekte (vorbehaltlich der Mittel für acht Vorhaben auf der Warteliste) adressieren sowohl den Nationalsozialismus als auch den Stalinismus und weisen vielfach eine gegenwarts- und zukunftsbezogene europäische Dimension auf (EACEA 2010). Insgesamt wurden in den Jahren 2007, 2008 und 2009 Förderungen über fünf Millionen Euro vergeben, wobei geografisch gesehen Deutschland mit 23, Italien mit 20, Polen mit 18, Österreich mit 11, Ungarn mit zehn und Litauen mit sieben genehmigten Projekten am stärksten vertreten waren18. Die unmittelbare Durchsetzungskraft von zumal niedrig budgetierten Projektförderungen ist mit jener von Gesetzgebungen nicht zu vergleichen. Trotzdem setzt die Aktion 4 erinnerungspolitische Trends, indem die Europäische Kommission förderungswürdige Projekte auswählt. Bei kleineren, schlecht ausgestatteten zivilgesellschaftlichen Initiativen kann damit die Existenzfrage verbunden sein. Inhaltlich auffällig ist, dass der Nationalsozialismus und Stalinismus gleich behandelt werden, wobei angesichts der Projektauswahl festzustellen ist, dass sie sich vermehrt dem post-stalinistischen Realsozialismus widmen. Damit stellen die Verantwortlichen der Aktion 4 Verbrechen gegen die Menschlichkeit und autoritäre Diktaturen erinnerungspolitisch auf die gleiche Ebene. Es bleibt abzuwarten, ob mögliche weitere Projekte zur Vertreibung von sich als ethnische Deutsche bezeichnender oder bezeichneter Menschen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa nach 1945 ähnlich heftige und zugleich notwendige 18 | Weitere Länder mit geförderten Projekten (Anzahl in Klammer): Frankreich (9), Tschechische Republik (7), Belgien und Griechenland (je 4), Lettland und Ungarn (je 3), Estland und Vereinigtes Königreich (je 2), Bulgarien, Kroatien, Niederlande und Rumänien (je 1).
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Debatten erzeugen werden, wie auf der national- und zwischenstaatlichen Ebene. Was die Gesamteinbettung der Aktion 4 anbelangt, so ist es bemerkenswert, dass die Erinnerungspolitik in bürgerschaftliches Handeln im lokalen Kontext eingegliedert wird. Dadurch verschiebt sich Holocausterinnerungspolitik, vergleichbar mit dem Europarat, von der von oben verordneten staatlichen oder allenfalls publizistisch-intellektuellen Ebene auf die Lebenszusammenhänge aller Bürgerinnen und Bürger. (c) Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) ist, wie die anderen 22 thematisch spezialisierten EU-Agenturen, mit Datensammlung, Auswertung und Bündelung von Expertise zu einem jeweils beschränkten Sachgebiet beauftragt. Die mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestatteten und dezentral organisierten Agenturen, die FRA sitzt beispielsweise in Wien, agieren vergleichsweise unabhängig vom Europäischen Rat, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament. Die FRA berät mit ihren Dokumentationen und Einschätzungen sowohl EU-Institutionen als auch mitgliedstaatliche Behörden und adressiert darüber hinaus eine interessierte Öffentlichkeit mehrsprachig. Die FRA gliedert wenig überraschend Holocausterinnerungspolitik in den größeren Rahmen der Grundrechtepolitik ein. Da in der FRA auch die Kompetenzen zur Antisemitismus- und Antiziganismusbekämpfung angesiedelt sind, ergeben sich teilweise Überschneidungen zwischen diesen und der Holocausterinnerungspolitik. Die FRA baute ab März 2007 auf den Fundamenten der Vorläuferorganisation – der ab 1997 ebenfalls in Wien ansässigen Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) – auf. Von Fundamenten kann in der Tat gesprochen werden, da die EUMC nur mit einem Bruchteil der Aufgaben der FRA, nämlich primär mit der Datensammlung und Veröffentlichungen zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit Antisemitismus, Antimuslimismus19 und Antiziganismus, betraut war. 19 | Der umstrittene und hinsichtlich Bedeutungsgehalt und Genese in hohem Maße problematische Begriff Islamophobie wurde in den vergangenen Jahren stärker durch Diskriminierung von/gegen Musliminnen und Muslime ersetzt. In den großteils englischen Publikationen wird nach der bewussten Verwendung von antisemitism allerdings wieder stärker die zwar sprachlich einzig korrekte, aber inhaltlich falsche Vorstellungen von semitischen Völkern etc. evozierende Bindestrichversion anti-Semitism gebraucht.
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Mit der durch den Ratsbeschluss erfolgten Errichtung der EU-Grundrechteagentur wurde der Aktionsradius in mehrfacher Hinsicht erweitert, obwohl geografisch nach wie vor nur die EU-Mitgliedstaaten und optional die Kandidatenländer abgedeckt werden. Bereits die EUMC rief zum Zwecke der Datensammlung das als Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher nationaler Beobachtungspunkte konzipierte Netzwerk RAXEN (Racism and Xenophobia Network) ins Leben, das durch FRALEX (Fundamental Rights Agency Legal Experts) ergänzt wird. Zusätzlich führen FRA-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter gemeinsam mit externen Kooperationspartnerinnen und -partnern Forschungsprojekte durch. Die FRA wird von einem Verwaltungsrat (management board) geleitet, in den jeder Mitgliedstaat und der Europarat einen sowie die Europäische Kommission zwei stimmberechtigte Vertreterinnen und Vertreter und jeweils eine Stellvertreterin oder einen Stellvertreter entsendet. Aus dem Verwaltungsrat, der auch die Direktorin oder den Direktor der FRA ernennt, rekrutiert sich der ihn unterstützende Exekutivrat (executive board), dem die oder der Vorsitzende und die oder der stellvertretende Vorsitzende und zwei weitere Mitglieder des Verwaltungsrates und eine oder einer der beiden Kommissionsvertreterinnen und -vertreter angehören. Die Vertreterin oder der Vertreter des Europarates im Verwaltungsrat kann an den Sitzungen des Exekutivrates teilnehmen. Außerdem wurde ein wissenschaftlicher Ausschuss (scientific committee) bestehend aus elf renommierten Expertinnen und Experten eingerichtet. Der Europarat ist also, obwohl kein EU-Organ, in den thematisch eng verwandten Bereich von Grund- und Menschenrechtsfragen formal eingebunden. Wie die meisten Gemeinschaftsagenturen finanziert sich auch die FRA aus Gemeinschaftsmitteln und unterliegt somit der externen Revision des Europäischen Rechnungshofes. Der Mehrjahresrahmen, der die Agenturtätigkeit inhaltlich festlegt, wurde nach Anhörung durch das Europäische Parlament 2008 vom Rat für fünf Jahre angenommen. Über nationale Verbindungsbeamte (National Liaison Officers) steht die FRA in ständigem Austausch mit den EU-Mitgliedstaaten und gewährleistet so einen möglichst umfassenden Informationsaustausch. Anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist die FRA nicht befugt, Individualbeschwerden zu behandeln und verfügt überdies über keine Entscheidungskompetenzen oder Sanktionsinstrumente.
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Die seit 2007 festgesetzten Aufgabengebiete20 umfassen auch die Holocausterinnerung und Holocaust Education. Die Koinzidenz der FRA-Gründung mit politischen Interventionen zur erstmaligen spezifischen Beauftragung einer EU-Institution mit Holocausterinnerung und Holocaust Education war ein günstiger Zufall (vgl. Gespräch Sobotka 2009). Die Einbettung der Holocausterinnerungspolitik – schwerpunktmäßig der Holocausterziehung – in das Spektrum der Grund- und Menschenrechtsarbeit wird in einer anlässlich des 70. Jahrestages des Novemberpogroms edierten Pressemitteilung mit der schrittweisen antisemitischen Entrechtung der Jüdinnen und Juden vor und während des Nationalsozialismus begründet. »Anfangs wurden Juden soziale und wirtschaftliche Rechte wie das Recht auf Freiheit der Berufswahl oder das Recht auf Besitz verweigert. Später wurden bürgerliche und politische Rechte, wie die Denk- und Redefreiheit geschmäht und schließlich zahlten Juden mit ihrem Leben, als ihre grundlegendsten Rechte brutal und systematisch mit Füßen getreten wurden – das Recht auf menschliche Würde, das Folterverbot oder das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit und letztlich die Verletzung ihres Rechts auf Leben.« (FRA 2008a; Übers. E.K.) Im Vergleich mit anderen europäischen und internationalen Akteuren, die substantiell auf freiwillige Beiträge und Mitarbeit angewiesen sind, verfügt die FRA über vergleichsweise vorteilhafte institutionelle und budgetäre Voraussetzungen für die Holocausterinnerungspolitik. Als wichtiger Kooperationspartner gilt die israelische Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, mit der die FRA Videokonferenzen zwischen Holocaustüberlebenden und Jugendlichen sowie zum
20 | Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und verwandte Intoleranz; Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Abstammung oder ethnischer Herkunft, Religion oder Glauben; Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung oder gegen Angehörige einer Minderheit oder irgendeine Kombination dieser Gründe (Mehrfachdiskriminierung); Opferentschädigung; Kinderrechte inklusive Kinderschutz; Asyl, Einwanderung und Integration von Migranten; Visaangelegenheiten und Grenzkontrollen; Teilhabe der EU-Bürger an der funktionierenden Unionsbürokratie; Informationsgesellschaft und besonders Achtung der Privatsphäre und personenbezogener Daten; Zugang zu effizient arbeitender und unabhängiger Justiz (FRA 2008b; Übers. E.K.). Die analytisch unscharfen Termini Toleranz und Intoleranz werden auch in der S’Cool Agenda 2009 im Zusammenhang mit dem Internationalen Tag der Toleranz (16. November) bejahend expliziert (vgl. FRA 2008d).
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Gedenken an den Novemberpogrom 1938 ein Fortbildungs- und Vernetzungstreffen für Lehrerinnen und Lehrer aus EU-Staaten organisiert. Kernstück der Anstrengungen zur handlungsorientierten Verbindung von Holocaust Education21 und Menschenrechtserziehung22 in der FRA ist die im Januar 2010 zum Holocaustgedenktag der Öffentlichkeit präsentierte Studie Discover the Past for the Future. A Study on the role of historical sites and museums in Holocaust education and human rights education in the EU. Die qualitative Untersuchung wurde vom Living History Forum Schweden gemeinsam mit Gedenkstätten-, Museums- und Universitätsmitarbeitenden sowie Expertinnen und Experten aus Polen, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden und der Schweiz aus den Disziplinen Geschichte, Sozialpsychologie und Pädagogik mit Hintergründen in Holocaust Education, Menschenrechtsarbeit, Antirassismus und interkultureller Bildung abgewickelt. Ausgangspunkt ist das Postulat, dass der Besuch eines Ortes mit Holocaustbezug Fragen aufwerfen und nicht vorgefertigte Antworten oder Lehren liefern soll. Im Rahmen der Studie wurden zuerst Begriffe wie Holocaust Education und Authentizität problematisiert, danach Ministerien aller EU-Mitgliedstaaten und 22 relevante Gedenkstätten und Museen23 befragt und schließlich Fokusgruppen21 | »Bildung/Erziehung (education), die die Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der Juden durch das nationalsozialistische Regime zum Fokus hat, aber auch Nazi-Verbrechen gegen andere Opfergruppen einschließt, beides zum Zweck eines tieferen Verständnisses und der Kontextualisierung des Holocaust, aus dem Wunsch heraus das Leiden der zahlreichen nicht jüdischen Opfer der Nazi-Zeit anzuerkennen und ihrer zu gedenken.« (FRA 2010a: 5; Übers. E.K.) 22 | »Bildung/Erziehung (education), Weiterbildung/Training (training) und Information, die auf den Aufbau einer universellen Menschenrechtskultur abzielen, die nicht nur Wissen über Menschenrechte und Schutzmechanismen zur Verfügung stellt, sondern auch die Fähigkeiten vermittelt, diese zu fördern, zu verteidigen und im Alltag anzuwenden.« (Basierend auf UNESCO; FRA 2010a: 5; Übers. E.K.) 23 | Terezín Memorial (Tschechische Republik), Jüdisches Museum Prag (Tschechische Republik), Dänisches Jüdisches Museum Kopenhagen (Dänemark), Frøslev Prison Camp (Dänemark), Danish Institute for International Studies, Department of Holocaust and Genocide Studies (Dänemark), Gedenkstätte Buchenwald (Deutschland), Anne-Frank-Zentrum Berlin (Deutschland), Haus der Wannseekonferenz (Deutschland), Mémorial de la Shoah (Paris), Center of Contemporary Jewish Documentation Mailand (Italien), San Sabba Risiera Civic Museum Triest (Ita-
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diskussionen mit Lehrenden sowie Schülerinnen und Schülern in neun Mitgliedsländern24 zu Methoden, Erwartungshaltungen und Erfahrungen sowie Vorortbesuche bei 14 Gedenkstätten und Museen inklusive Interviews durchgeführt. Haupterkenntnis der Studie ist, dass die reflektierte Verknüpfung von Holocaust Education und Menschenrechtserziehung (was den Kampf gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus beinhaltet) in der schulischen und musealen beziehungsweise gedenkstättenbezogenen Praxis kaum vollzogen wird und hier auch Kompetenzmängel bei den Pädagoginnen und Pädagogen bestehen (FRA 2010b: 12). Begleitet wird die Studie von einem Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer, das unter dem Titel Excursion to the past – teaching for the future den von der FRA forcierten Konnex aus Holocaust- und Menschenrechtserziehung für den schulischen Unterricht praktikabel macht. Dies basiert auf den Annahmen, dass die Erfahrung des Holocaust zwar nicht den Beginn der Menschenrechtsentwicklung, jedoch ein entscheidendes Datum für zentrale Menschenrechtskonventionen und Schutzmechanismen markiere. Zudem sei das Lernen über den Holocaust sowohl wichtig, um das Andenken an die Opfer sowie die wenigen Retterinnen und Retter zu ehren und seine Relevanz für die Geschichte des modernen Europas zu verstehen (FRA 2010d: 12). Ausgehend von den Nürnberger Prozessen wird der Bogen bis zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gespannt. Angesprochen werden auch ideologische Kontinuitäten trotz der von den meisten Europäerinnen und Europäern erfolgten vordergründigen Ablehnung des Nationalsozialismus. »Das Menschenbild und die Werte, die hinter der nationalsozialistischen Politik standen, bestehen an vielen Orten weiter. Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile gegen Roma, Homophobie und andere Formen von Intoleranz, Vorurteil und Stigmatilien), Vilna Gaon Jewish State Museum (Litauen), Kaunas Ninth Fort Museum and Memorial Site (Litauen), Anne-Frank-Haus (Niederlande), Schloss Hartheim (Österreich), Gedenkstätte Mauthausen (Österreich), State Museum of Majdanek (Polen), Auschwitz-Birkenau State Museum (Polen), The Grodzka Gate – NN Theatre Centre (Polen), Holocaust Centre Beth Shalom (Vereinigtes Königreich), Imperial War Museum (London); zusätzlich Holocaust Educational Trust (Vereinigtes Königreich) und Foundation for the Memory of the Deportation Mailand (Italien). 24 | Dänemark (Kopenhagen), Deutschland (Berlin), Italien (Mailand), Litauen (Vilnius), Niederlande (Amsterdam), Österreich (Linz), Polen (Krakau), Tschechische Republik (Prag) und Vereinigtes Königreich (London).
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sierung flammen in allen europäischen Ländern in regelmäßigem Abstand auf.« (ebd.; Übers. E.K.) Des Weiteren werden die genannten Ideologien in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden dargestellt. Abschließend gibt die FRA Hinweise zu Gedenkstättenbesuchen, dem Umgang mit Emotionen und Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Positiv zu vermerken ist, dass mit dem Beispiel der Altstadt von Rhodos ein Ort gewählt wird, der fast ausschließlich touristisch bekannt ist, jedoch Ausgangspunkt der Deportation der örtlichen jüdischen Bevölkerung in nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager war. Außerdem schneidet die Veröffentlichung auch das Lernen über Täterinnen und Täter und hier besonders die schwer begreifbare Tatsache an, dass diese gleichzeitig Massenmörderinnen und -mörder und fürsorgliche Eltern von Kleinkindern sein konnten. Abgerundet wird Excursion to the past – teaching for the future mit Hinweisen zur Holocaust Education in einer durch Einwanderung und Vielfalt geprägten Unterrichtsumgebung und zu möglichen Interferenzen mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Während die Publikationen mit erinnerungspolitischem Fokus in ihrem Reflexionsgrad den State of the Art der entsprechenden Forschung widerspiegeln, gelingt dies nicht in allen FRA-Materialien. Exemplarisch steht dafür die S’Cool Agenda. Am Schnittpunkt von Promotion und Bewusstseinsbildungsarbeit gibt die FRA seit 2008 diesen Jahresplaner für Schülerinnen und Schüler in mehreren Sprachen heraus (vgl. FRA 2008d; FRA 2010f). Die Gestaltung durchkreuzt klassische Kalenderelemente dort, wo anstelle der religiösen und staatlichen Feiertage internationale und europäische Gedenk- und Thementage eingetragen sind. Die religiösen Feiertage für Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum und Sikhismus werden am Ende der S’cool Agenda zusammengefasst. Terminlich entsprechend finden sich Informations- und Reflexionsseiten; beispielsweise zur Lebenssituation von Romnia und Roma sowie zu Antiziganismus am Internationalen Tag der Romnia und Roma (8. April), zu Homophobie am Internationalen Tag gegen Homophobie (17. Mai), aber auch zu weniger beachteten Phänomenen wie Diskriminierung aus Gründen des Alters am Internationalen Tag der älteren Menschen (1. Oktober). Der Kalender thematisiert rassistische, homophobe und frauenfeindliche Diskriminierung im Sport zwischen den Kalendermonaten Mai und Juni – der ereignisreichsten Phase der europaweit populärsten Sportart Fußball. Das Format der S’cool Agenda erlaubt es, alle in den Aufgabenbereich der FRA fallenden Diskriminierungsphänomene und Grundrechtsfragen auf-
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zuzeigen und an die Heranwachsenden ein Plädoyer zu richten, Vielfalt zu akzeptieren, selbstständig nachzudenken und sich aktiv zu engagieren; nicht zuletzt erklärt der Kalender, wie bei der EU Projektfördermittel zu beantragen sind. Die S’cool Agenda bietet die Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler kompakt und über ein vertrautes Medium mit generationentypischer Ikonografie zu erreichen. Dies geschieht allerdings zum Preis problematischer Verkürzungen und Vermengungen, was sich daran zeigen lässt, wie die Holocausterinnerung in der Ausgabe von 2009 inkorporiert wird (FRA 2008d). Der Kalender erwähnt im Kontext von Antiziganismus und Homophobie die nationalsozialistischen Verbrechen gegen Romnia und Roma und gleichgeschlechtlich liebende Personen nur beiläufig. Religionsbezogene Informationen zur Jüdischen Gemeinschaft stehen im Monat Dezember unvermittelt neben Einschüben zum Antisemitismus und zum Holocaust. Breitere Thematisierung erfährt das Holocaustgedenken rund um den 27. Januar. Auf einer Seite sind ein Jugendlicher mit Gürtelschnalle in Kreuzform und dem Zitat Meine Großmutter bat mich, den Gürtel abzunehmen sowie ein Cheeseburger mit der Bemerkung Von 180 Kalorien am Tag leben abgebildet. Blättert man weiter, klärt sich auf, dass die Gürtelschnalle einem an Hermann Göring verliehenen Siegeszeichen nachgebildet ist, das heute noch als Markenzeichen und unter Motorradfahrenden in Umlauf sei; 180 Kalorien waren hingegen die Tagesration, mit der die in nationalsozialistischen Ghettos Eingesperrten auskommen mussten. Dieser äußerst streitbaren Annäherung an die Erfahrungswelt heutiger Jugendlicher folgen Erläuterungen zum Internationalen Holocaustgedenktag, zu Yad Vashem und zu einem dort abgehaltenen Jugendkongress. Die in Kooperation mit Yad Vashem und dem Mémorial de la Shoah erstellte S’cool Agenda 2010 (FRA 2010f) hebt sich in ihren Bezugnahmen auf den Holocaust deutlich vom Vorgängerkalender ab. Sechs Seiten sind dem 27. Januar gewidmet und lassen neben historischen Fakten auch zwei überlebende jüdische Frauen zu Wort kommen. Sowohl Wissen über den Holocaust als auch die Beteiligung junger Menschen an erinnerungspolitischen Aktivitäten (unter anderem im Rahmen des zweiten Internationalen Jugendkongresses in Yad Vashem) werden als notwendig zur Bekämpfung von Rassismus, Antisemtismus und Xenophobie benannt. Anlässlich des Internationalen Roma-Tages am 8. April setzen sich zwei weitere Seiten und mehrere verstreute Einschübe mit dem NS-Genozid an den Romnia
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und Roma sowie Antiziganismus und entsprechenden Gegenmaßnahmen aus Bulgarien, Polen, Rumänien und Ungarn auseinander. Es ist jedoch diskutabel, welchen Mehrwert der Hinweis auf die Einwanderung der Romnia und Roma aus Indien im 13. Jahrhundert und die Kurzporträts eines Musikers und eines Fußballers mit Roma-Herkunft in Hinblick auf die Erklärung von antiziganistischer Diskriminierung haben sollen. Der Jahresplaner schneidet gleichfalls die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus kurz an. Auch in der für Jugendliche gestalteten Broschüre zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010 (FRA 2010c) sind Internet-Links zu Yad Vashem, ODIHR, der US-amerikanischen Holocaust Education Foundation und zur UNESCO sowie zu den Programmen für Romnia und Roma des Europarates platziert. Der Jahresplaner weist den Internationalen und Europäischen Holocaustgedenktag, den Yom HaShoah, den Internationalen Roma-Tag und den Jahrestag des nationalsozialistischen Novemberpogroms aus. Eine ganze Seite beschäftigt sich mit jüdischen Gemeinden während des Holocaust und heute, Antisemitismus und dem Erinnerungsprojekt centropa.org. Bedenklich hingegen ist eine Quizfrage, was das Wort Shoah bedeutet, wobei als Antwortmöglichkeiten Hello, Holocaust und Peace geboten werden. Die Beispiele des Projektes Excursion to the past und des Jahresplaners S’cool Agenda legen nahe, dass Holocausterinnerungspolitik in der FRA stark pädagogisch ausgerichtet ist. Anders als im Europarat ist dies jedoch keine zwingende institutionelle Konsequenz. Laut FRA-Mandat wird Holocausterinnerung als Teil einer umfassenden Grundrechtepolitik gesehen. Dies präjudiziert noch keine an Jugendlichen orientierte Schwerpunktsetzung. Die FRA nahm erst Anfang 2007 ihre Arbeit auf und ist somit vergleichsweise spät in den Kreis der auf Erinnerungspolitik spezialisierten Programme und Institutionen eingestiegen. Das kann ein Grund für den noch relativ engen Zugang zur Holocausterinnerungspolitik sein. Auf der Basis der bisher produzierten Materialien lässt sich noch nicht ersehen, ob die Beschäftigung mit Holocausterinnerung in eine wissenschaftlich grundierte Richtung (siehe Excursion to the past) ausschlägt, oder ob sich der appellative Charakter der S’cool Agenden durchsetzt, in deren Rahmen der Holocaust als moralisch besonders eindringliche Unterlegung verstanden und zum Grundrechteschutz aufgerufen wird. Auf der organisatorischen Ebene wird sich zeigen, inwieweit sich die FRA als von supranationalen und mitgliedstaatlichen Interventionen unabhängige Instanz in Grund-
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rechtefragen, und somit auch in Bezug auf Holocausterinnerungspolitik, etablieren kann beziehungsweise ob die Arbeit der FRA auch tatsächlich zu neuen Gesetzesinitiativen oder Förderschienen beiträgt. (d) Im Jahr 2010 veröffentlichte der spanische Politikwissenschaftler Carlos Closa Montero eine von der Europäischen Kommission beauftragte Forschungsarbeit unter dem Titel Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States (Closa Montero 2010b). Den Hintergrund der Studie bildet die oben bereits diskutierte Rahmenentscheidung zur Rassismus- und Antisemitismusbekämpfung sowie Holocaustleugnung. Der Europäische Rat der Justiz- und Innenminister bat die Europäische Kommission um fundiertere Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex (vgl. ebd.: 12; vgl. Prag-Prozess und Stockholm-Programm der EU). Die Studie befindet sich zwar nach wie vor im Diskussionsprozess, ihr Inhalt könnte aber für künftige Gesetzesinitiativen oder Förderprogramme der Europäischen Kommission maßgeblich werden. Closa Montero stellt juristisch-vergangenheitspolitische Maßnahmen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, des stalinistischen und poststalinistischen Realsozialismus sowie von faschistischen und anderen autoritären Regimes äußerst detailliert, wenn auch aufgrund der Materialfülle gelegentlich oberflächlich, dar. Das im Studientitel angekündigte Gedenken behandelt er hingegen nur peripher. Gleich zu Beginn räumt der Autor ein, dass er den Terminus totalitär nur ungenau verwendet, indem er ihn als Überbegriff für sämtliche repressive Regimes, die er nur gelegentlich differenziert (oder spezifiziert), gebraucht (Closa Montero 2010b: 12). In weiterer Folge ordnet Closa Montero die in den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen zur Transitional Justice am Übergang von Diktatur zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entlang der Kategorien strafrechtliche Ermittlungen, Verfolgung und Begnadigung, Wahrheitsfindungsmechanismen (z.B. Wahrheitskommissionen), Rehabilitation von Opfern und Reparationsleistungen für Opfer sowie Garantien zur Nicht-Wiederholung und institutionelle Reformen. Darüber hinaus nennt die Studie institutionelle Zuständigkeiten in den Mitgliedstaaten sowie Archivbestände und spezialisierte Forschungseinrichtungen. Auch auf Denkmäler, Gedenkstätten und offizielle Entschuldigungen als explizit erinnerungspolitische Momente geht Closa Montero ein. Erfreulicherweise schenkt die Studie entsprechenden Rechtsakten der Parlamentarischen Versammlung des
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Europarates und den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gebührende Aufmerksamkeit. Die Auftragsarbeit von Closa Montero ist trotz ihrer vordergründig unkommentierten Faktensammlung politisch brisant. In ihr wird der postdiktatorische Umgang mit nationalsozialistischen, stalinistischen, faschistischen und anderen autoritären Verbrecherregimen gleichrangig diskutiert. In der Tat verliefen und verlaufen juristische Ahndungen und vergangenheitspolitische Aufarbeitungen oft unabhängig von der vorangegangenen ideologischen Ausrichtung. Es ist jedoch relativ neu, dass Nationalsozialismus, Stalinismus und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit anders zu klassifizierenden Verbrechen autoritärer Regime in Südeuropa im Rahmen der EU-Erinnerungspolitik behandelt werden. Bislang galt in der EU-Holocausterinnerungspolitik der Holocaust als einzigartiges oder präzedenzloses Ereignis, das um die Formel gegenseitiger Anerkennung von Erinnerung als Voraussetzung für ein vereintes Europa um andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diktaturen ergänzt wurde. Sollten auf Closa Monteros Untersuchung Gesetzesvorhaben und Förderprogramme folgen und sämtliche diktatorische Vergangenheiten im Europa des 20. Jahrhunderts gleichrangig behandelt werden, ist mit einer konflikthaften Auseinandersetzung zu rechnen. (e) Im Zuge der EU-Rahmenentscheidung zu Rassismus, Xenophobie und Holocaustleugnung wurde das Europäische Parlament bereits als Ko-Gesetzgeber genannt. Davon unabhängig fassen Mitglieder des Europäischen Parlamentes erinnerungspolitische Resolutionen (Entschließungen) und Erklärungen25, die zwar nicht unmittelbar binden, jedoch künftige Entscheidungsprozesse anstoßen können. Zusätzliche Bedeutung erlangt das Europäische Parlament dadurch, dass Debatten und Abstimmungen öffentlich sind. 25 | 1995: Entschließung des Europäischen Parlaments zum Holocaust-Gedenktag; 2005: Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus; 2005: Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa zum 8. Mai 1945; 2008: Erklärung des Europäischen Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus; 2009: Entschließung des Europäischen Parlaments zu Europas Gewissen und dem Totalitarismus.
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Die Rechtsakte, die zum 50. und 60. Jahrestag der Niederschlagung Nazi-Deutschlands entstanden sind, konzentrieren sich auf die massenhafte Vernichtung von Jüdinnen und Juden sowie Romnia und Roma, verweisen zudem auf die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus und unterstreichen die Bedeutung von Demokratie, Menschenrechten und Antidiskriminierungsbestimmungen in der EU sowie ab 2005 auch des Holocaust-Gedenktages (EP 1995; EP 2005a; EP 2005b). Ein einschneidender Wandel setzt erst ein, als sich die Holocausterinnerungspolitik in der EU konsolidiert. Zwar hatte schon die Entschließung von 1995 die »erneute Diktatur, diesmal durch die stalinistische Sowjetunion«, für viele Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie den Sturz der kommunistischen Regimes und Selbstbefreiung jener Gesellschaften, erwähnt (EP 1995). Jedoch stellten die Abgeordneten in diesem Kontext noch keine erinnerungspolitischen Forderungen. Dies geschah erstmals 2008 mit einer von zahlreichen Abgeordneten aus östlichen und westlichen Mitgliedstaaten und quer über die politischen Lager unterzeichneten Erklärung zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer des Stalinismus und Nazismus. Bezugnehmend auf die Resolution 1481(2006) On the need for international condemnation of crimes of totalitarian communist regimes (PACE 2006b) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, wollen die EU-Abgeordneten mit dem 23. August die Sichtbarkeit stalinistischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Auswirkungen des sowjetischen Machteinflusses auf die Bürgerinnen und Bürger der nunmehr postkommunistischen Staaten erhöhen (EP 2008a)26. Ein Jahr später inkorporiert die Entschließung zu Europas Gewissen und dem Totalitarismus auch den Holodomor in der sowjetischen Ukraine, das Massaker von Srebrenica, den Staatsstreich General Francos 1936 in Spanien und die faschistischen Regimes in Griechenland, Spanien und Portugal. Abgesehen von dieser thematischen Ausweitung betont das Dokument weiterhin die »Einzigartigkeit (uniqueness) des Holocaust« (EP 2009, Übers. E.K.) und stellt die Möglichkeit geschichtswissenschaftlicher Objektivität in Frage (ebd.). Für ein sich vereinigendes Europa ist es unabdinglich, dass die Sicht auf den Nationalsozialismus, den Stalinismus und auf autoritäre Diktaturen von gegenseitiger Anerkennung geprägt sei (ebd.). 26 | Gegenwärtig begehen Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Schweden, Slowenien und Ungarn, das Beitrittsland Kroatien, aber auch Kanada oder Georgien offiziell den 23. August als Gedenktag.
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Das Europäische Parlament beschloss im April 2009 mit großer Mehrheit (533 Ja, 44 Nein, 33 Enthaltungen) den 23. August, also den 2009 zum 70. Mal sich jährenden Tag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, zum Gedenktag für Opfer totalitärer und autoritärer Regime zu erheben. Die erinnerungspolitisch relevanten Entschließungen und Erklärungen des Europäischen Parlaments verdeutlichen eine ab 2005 stattfindende thematische Ausweitung auf weitere erinnerungswürdige Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Regime und Ereignisse. Dies geschieht nach der Schablone der etablierten Instrumentarien der Holocausterinnerungspolitik mit parlamentarischen Entschließungen, Gedenktagen und Aufrufen, Erinnerungen gegenseitig anzuerkennen als Voraussetzung für ein tatsächlich geeintes Europa. Die Rechtsakte stellen die Holocausterinnerung nicht in Frage, sondern ergänzen und kopieren diese. Auch wenn Medien und die Öffentlichkeit(en) in Europa noch wenig Notiz vom 23. August nehmen, so ist dieser Gedenktag auf der Basis öffentlich zugänglicher Parlamentsdebatten zustande gekommen. Die Entschließungen im Europäischen Parlament transferieren Erinnerungspolitik vom hermetischen expertokratischen und bürokratischen Bereich in die Arena öffentlicher politischer Aushandlung. Die Politisierung und Demokratisierung transnationaler und europäischer Erinnerungspolitik steht erst am Anfang, da abgesehen vom Europäischen Parlament kein adäquates Forum für repräsentativ-demokratische Entscheidungsfindung jenseits des Nationalstaates existiert. Die angesprochene Entwicklung stellt auch eine neue Herausforderung normativ-konstitutioneller Grundlagen und Schranken der politischen Verhandelbarkeit von Geschichte dar, insbesondere von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. (f) In der Generaldirektion Außenbeziehungen (DG RELEX) der Europäischen Kommission ist die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) angesiedelt, die die Beziehungen mit jenen Ländern an den und nahe der Ostund Südgrenzen der EU, die mittelfristig keine Chance auf einen Beitritt haben, auf die Basis enger Zusammenarbeit stellen soll. Mit jedem einzelnen ENP-Partnerstaat27 hat die EU einen maßgeschneiderten bilateralen Aktionsplan ausgehandelt und großteils auch abgeschlossen. Alle Aktions27 | Algerien, Armenien, Aserbaidschan, Ägypten, Belarus (kein Aktionsplan), Georgien, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen (kein Aktionsplan), Marokko, Moldau, Palästinensische Autonomiegebiete, Syrien (kein Aktionsplan), Tunesien, Ukraine;
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pläne sind entlang der gleichen Großkapitel28 aufgebaut und enthalten in den Unterpunkten partiell länderspezifische Aspekte. Der 2005 beiderseitig angenommene Aktionsplan für Israel beinhaltet in der Sektion Politischer Dialog und Zusammenarbeit – Geteilte Werte (im englischen Original: shared values) auch einige Vorschläge zur Antisemitismusbekämpfung, beispielsweise die Implementierung der Berliner Deklaration von 2004 und der Programme der damaligen EUMC, Hasspropaganda im Internet zu bekämpfen, Holocausterinnerung und Holocausterziehung zu fördern sowie die EU für UN-Resolutionen einzusetzen, um Antisemitismus zu verurteilen (EC – DG RELEX 2005: 4-5). Die Forderungen werden im Abschnitt zu Zivilgesellschaftlichem Austausch nochmals wiederholt (ebd.: 22). In der kurz nach Unterzeichnung des Aktionsplans veröffentlichten Einschätzung fordert Yonatan Touval eine einheitliche Antisemitismusdefinition, die Reform europäischer Strafrechtskataloge zur Ahndung von Antisemitismus, Expertengremien zum Monitoring von Antisemitismus in jedem EU-Mitgliedstaat, eine speziell zur Antisemitismusbekämpfung beauftragte Einrichtung innerhalb der Europäischen Kommission sowie den Beitritt aller EU-Mitglieder und Kandidatenländer zur ITF (Touval 2006: 259). Einige dieser Forderungen wurden mittlerweile diskutiert und teilweise umgesetzt. Indes wird auch in den mit Israel befassten ENP-Fortschrittsberichten von 2006 und 2008 auf die Holocausterinnerung und Antisemitismusbekämpfung eingegangen, beispielsweise in zwei diesbezüglich von der Europäischen Kommission, dem israelischen Außenministerium und Yad Vashem 2006 und 2008 organisierten Seminaren (EC – DG RELEX 2008: 4; vgl. auch EC – DG RELEX 2006). Im Jahr 2009 wurde eine gemeinsame europäisch-israelische Erklärung zur Antisemitismusbekämpfung, zur Holocaust Education und zur Rückgabe geraubter Güter unterzeichnet (EC – DG RELEX 2010). Da die Europäische Kommission trotz des vorgeblich partnerschaftlichen Charakters hauptsächlich einseitige wirtschafts-, sicherheits- und dedie Russische Föderation ist nur in das Europäische Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument (ENPI) eingebunden. 28 | Politische Zusammenarbeit und Dialog; wirtschaftliche und soziale Kooperation und Entwicklung; handelsbezogene Angelegenheiten, Markt- und Regulierungsreform; Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres; Transportwesen, Energieversorgung, Informationsgesellschaft, Umwelt, Wissenschaft und Technologie; zivilgesellschaftlicher Austausch.
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mokratiepolitische Vorgaben (Konditionalität und Incentive) an die Nachbarländer formuliert, kann erst längerfristig beurteilt werden, ob in diesem Politikforum tatsächlich eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Holocausterinnerungspolitik innerhalb der EU-Institutionen angeregt wird. Dass im israelisch-europäischen Verhältnis Holocausterinnerung und Antisemitismusbekämpfung eine Rolle spielen, überrascht kaum. Da diese Themen in den bilateralen Aktionsplänen mit den anderen ENPPartnerländern nicht erwähnt werden, scheinen sie noch nicht in den gegenüber Nachbarstaaten kommunizierten Normenkatalog aufgenommen worden zu sein. (g) Auf mitgliedstaatliches Engagement mit starker Präsenz der supranationalen Europäischen Kommission ist die Holocaust Era Assets Conference (HEAC), die sich mit Rückgabe- und Entschädigungsfragen auseinandersetzte, zurückzuführen. Als gleichsam letzte Chance aufgrund des unaufhaltsamen Alterungsprozesses Holocaustüberlebender kann die viertägige HEAC in Prag und Theresienstadt (Terezín) als Abschluss der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft im Juni 2009 verstanden werden. Teilgenommen haben an der Veranstaltung in Prag und Theresienstadt Delegationen aus 46 auch außereuropäischen Ländern29, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher relevanter, vor allem jüdischer Nichtregierungsorganisationen, die Holocaustopfer30 repräsentieren; hinzu kamen Jüdische Museen, Kunstmuseen 29 | Albanien, Argentinien, Australien, Belarus, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Brasilien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Israel, Italien, Kanada, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien (F YROM), Moldau, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russische Föderation, Schweden, Schweiz, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ukraine, Ungarn, Vereinigte Staaten von Amerika, Vereinigtes Königreich, Uruguay, Zypern; Beobachterstatus: Heiliger Stuhl, Serbien. 30 | Beispielsweise: American Jewish Committee; American Jewish Joint Distribution Committee; Bnai Brith International; Conference on Jewish Material Claims Against Germany; European Council of Jewish Communities; Fondation pour la Mémoire de la Shoah; Holocaust Educational Trust; Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft; World Jewish Congress; World Jewish Restitution Organisation, World ORT.
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und Auktionshäuser. Die Teilnahme der damals im Amt befindlichen Mitglieder der Europäischen Kommission31 und des damaligen tschechischen Außenministers Jan Kohout und Europaministers Štefan Füle verdeutlicht, welche Wichtigkeit die EU und die tschechische Regierung der HEAC beimaßen. Die EU schaltete sich damit in einen schon Jahrzehnte andauernden zwischenstaatlichen und (unter Beteiligung individueller Opfer und ihrer Nachfahren) transnationalen Verhandlungsprozess ein. Chronologisch folgt die tschechische Konferenz den in den 1990er Jahren sich transnationalisierenden Restitutionsdebatten, die mit der Washington Conference on Holocaust-Era Assets 1998 und den dort verabschiedeten Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art (vgl. Central Registry 1998) ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Die Forderung nach Rückgabe geraubter Güter oder nach monetären Entschädigungsleistungen überschritt seit der Unterzeichnung des Reparationsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel im Jahre 1952 und durch das Engagement der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (kurz: Claims Conference) zwingend nationalstaatliche Grenzen. Wie sich jedoch an der zwischen 1946 von den Westalliierten eingesetzten und bis 1998 aktiven Tripartite Commission for the Restitution of Monetary Gold zeigen lässt, war die Rückgabe geraubten, auch nichtjüdischen Vermögens an im Wiederaufbau befindliche Staaten prioritär. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus ging ein Wandel hin zur Reprivatisierung und Individualisierung der von den Vereinigten Staaten von Amerika betriebenen und von europäischen Ländern schrittweise nachvollzogenen Restitutionspolitik einher. Auf der Londoner Raubgoldkonferenz von 1997 präsentierte Stuart Eizenstat im Namen der US-Administration eine Fondslösung mit der Möglichkeit freiwillige Beiträge zu leisten, die bei den beteiligten Staaten auf sehr hohe Resonanz stieß und der sich sogar Argentinien, Brasilien und Schweden anschlossen. Erblose Vermögen wurden beispielsweise an jüdische Gemeinden transferiert, was unter anderem mit einer auch 2009 seitens der israelischen Regierung vertretenen Position korrespondiert, wonach alles getan werden müsste, um »Shoahüberlebenden und künftigen jüdischen Generationen zu helfen« und »die Verteilung erb31 | Margot Wallström – Vizepräsidentin, Institutionelle Beziehungen und Kommunikationsstrategie; Jacques Barrot – Vizepräsident, Justiz, Freiheit, Sicherheit; Ján Figel’ – Bildung, Kultur, Jugend; Vladimír Špidla – Beschäftigung, Soziales, Chancengleichheit.
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losen Besitzes im jüdischen Volk dann die Angelegenheit von Juden selbst« (State of Israel 2009b: 21; Übers. E.K.) sei. Der sogenannte Eizenstat-Plan sieht zudem vor, dass ein Teil der Restitutions- und Entschädigungssummen für pädagogische Programme verwendet wird. Damit war auch der Übergang zur Holocausterinnerungspolitik der letzten Dekade angezeigt, während der Bildungsprogramme, vor allem für junge Menschen, in den Mittelpunkt rückten. Die tschechische Konferenz 2009 kann somit als Rückblick auf erfolgte Restitutionen und als Auftrag für noch zu bewältigende Herausforderungen eingeordnet werden. Die Konferenzarbeitsgruppen beschäftigten sich mit der Restitution von beziehungsweise Kompensation für unbewegliche Güter, Beutekunst, Judaika und jüdischen Kulturbesitz; darüber hinaus wurde diskutiert, ob Archive zugänglich sind (besonders der International Tracing Service in Bad Arolsen), ob sich Verfahrenswege in der Restitution vereinfachen lassen, ob Informationen im Internet veröffentlicht werden, wie jüdische Friedhöfe erhalten werden können und nicht zuletzt wurde über Gedenkstätten sowie Bildung, Erinnerung und Forschung gesprochen. Während der Fokus klar auf den jüdischen Opfern lag, wurden andere Verfolgtengruppen – primär Romnia und Roma – mitbedacht. In den Expertenschlussfolgerungen der tschechischen Konferenz wird von Holocaustüberlebenden und anderen NS-Verfolgten »unabhängig von Nationalität, Glaube oder Ethnizität« gesprochen und der Anspruch auf Entschädigung »besonders für Inhaftierung in Konzentrationslagern, Ghettos und Arbeitsbataillonen« aufgeworfen (HEAC 2009b: 15; Übers. E.K.). Zentrale Ergebnisse betreffen die Terezín-Deklaration und die Übereinkunft, ein Zentrum mit der Bezeichnung European Shoah Legacy Institute in Theresienstadt zu eröffnen. Die Terezín-Deklaration nennt explizit die Pflicht, Überlebenden des Holocaust und anderer nationalsozialistischer Verfolgungen ein Altern in Würde und sozialer Grundabsicherung zu ermöglichen (vgl. HEAC 2009e). Das European Shoah Legacy Institute soll den transnationalen Informationsaustausch, Netzwerkbildung und die Unterstützung nationalstaatlicher Initiativen im Bereich Restitution bündeln (vgl. HEAC 2009c). Damit wird eine vom Europäischen Parlament 2003 verabschiedete Resolution endgültig umgesetzt (vgl. State of Israel 2009b: 25). In einer Gemeinsamen Erklärung unterstützen die anwesenden tschechischen und EU-Politikerinnen und Politiker ebenso die Terezín-Deklaration wie die Verpflichtung Rassismus, Fremdenhass und Antisemitismus zu bekämpfen (vgl. HEAC 2009c). Abgesehen von HEAC
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veranstaltete die tschechische Ratspräsidentschaft im Europäischen Parlament ein Hearing mit dem Titel European crimes of totalitarian communism und regte an, die Platform of European Memory and Conscience zu gründen (vgl. Closa Montero 2010a: 16). Die HEAC ist ein Beispiel dafür, dass sich die EU-Ratspräsidentschaft und die Europäische Kommission in außerinstitutionelle erinnerungsund vergangenheitspolitische Prozesse einbringen und diesen dadurch Öffentlichkeit und Legitimität verleihen kann. Allerdings war die Präsenz der EU in diesem Fall zeitlich begrenzt, da weder die Vor- noch die Nachbereitung zur HEAC von ihr getragen wurde und das Anliegen der Konferenz, nämlich die geraubten jüdischen Güter zurückzuerstatten und zu kompensieren, institutionell nicht verankert wurde. Es lässt sich also zusammenfassen: Unabhängig von den verschiedenen institutionellen Zusammenhängen, in denen die EU Holocausterinnerungspolitik betreibt, kann als gemeinsame inhaltliche Konjunktur die thematische Expansion um andere zu erinnernde Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diktaturen – am prominentesten der Stalinismus und poststalinistische Realsozialismus – festgehalten werden. Die Entschließungen des Europäischen Parlaments streichen die Einzigartigkeit des Holocaust hervor. Die in der Europäischen Kommission angesiedelte Förderschiene Aktion 4 finanziert Erinnerungsprojekte, die den Nationalsozialismus, Stalinismus und post-stalinistischen Realsozialismus betreffen. Eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie zur justitiellen Vergangenheitspolitik behandelt die genannten Regime neben den faschistischen Diktaturen Südeuropas. Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft legte ihre vergangenheits- und erinnerungspolitischen inhaltlichen Schwerpunkte sowohl auf den Holocaust als auch auf den stalinistischen und post-stalinistischen Realsozialismus. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Trend auch das Gesetzgebungsverfahren (z.B. Verbot stalinistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie den Holodomor zu leugnen), ein erweitertes erinnerungspolitisches Mandat für die FRA oder Restitutionsforderungen beispielsweise von aus Mittel-, Ost-, Südosteuropa vertriebenen Menschen, die sich selbst als Deutsche bezeichnen oder von anderen so bezeichnet werden, nach sich ziehen wird. Wo symbolische Anerkennung um gesetzliche Regelungen und Fördermittel ergänzt wird, sind erinnerungspolitische Konflikte noch wahrscheinlicher.
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Die EU prädestiniert sich für erinnerungspolitische Deutungs- und Anerkennungskämpfe, gerade weil dieses Politikfeld organisatorisch so hoch differenziert ist. Politische Debatten und Entscheidungen in der EU verfügen über mehr Öffentlichkeit, Legitimität und Durchsetzungskraft als vergleichbares Handeln in zwischenstaatlichen Organisationen. Vier Pole sind dafür bedeutsam: die FRA (oder extern vergebene Auftragsforschung) für Datensammlung und Expertise, die Kommission als formeller Agenda-Setter, das Europäische Parlament als Ort öffentlicher und ideologisch grundierter Debatten, letzteres gemeinsam mit dem Europäischen Rat (also den Mitgliedstaaten) als Entscheidungsträger (soweit vertragsrechtlich vorgesehen) sowie schließlich die Europäische Kommission als Verwalter, Sponsor und Kommunikator institutionalisierter Erinnerungspolitik der EU. Nur die EU hat die institutionellen Voraussetzungen erinnerungspolitische Aushandlungsprozesse in der Öffentlichkeit einigermaßen nachvollziehbar zu machen und dadurch potentiell alle Wählerinnen und Wähler im Politikgestaltungsprozess mitwirken zu lassen beziehungsweise ihre Akzeptanz (im Gegensatz zu stillschweigender Zustimmung) für die Erinnerungspolitik hervorzurufen. Über das Europäische Gericht (erste Instanz vor dem Europäischen Gerichtshof) ist EU-Recht schließlich für jede natürliche und juristische Person einklagbar.
2.3 H OLOCAUSTERINNERUNGSPOLITIK IN DER O RGANISATION FÜR S ICHERHEIT UND Z USAMMENARBEIT IN E UROPA Vergleichbar mit der oben diskutierten Grundrechteagentur der Europäischen Union (FRA) ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Akteur, der die Holocausterinnerungspolitik in sein bestehendes Aufgabenspektrum integriert hat. Die OSZE verfügt über 56 lose organisierte Teilnehmerstaaten und zeichnet sich durch einen umfassenden und kooperativen Sicherheitsbegriff aus, der großen Wert auf Menschenrechte und Antidiskriminierung legt. Darunter fällt auch die prominent platzierte Antisemitismusbekämpfung, die wiederum den in quantitativer Hinsicht marginalisierten Bereich der Holocausterinnerungspolitik beherbergt. Die OSZE legte einige Überblicksdarstellungen und Handreichungen für die pädagogische Praxis vor, die das breiter angelegte Zusammenspiel transnationaler Holocausterinnerung bedienen.
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Ansonsten setzte die OSZE keine eigenständigen erinnerungspolitischen Impulse. Die OSZE-Holocausterinnerungspolitik erreicht somit auch Länder, die nicht an entsprechenden Initiativen des Europarates, der EU oder der ITF partizipieren. Die Konferenz und nachmalige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit können als Annäherung zwischen dem westlichen und östlichen Europa (unter Berücksichtigung der Rolle der nicht-alliierten und nicht-paktgebundenen Staaten) seit den 1970er Jahren betrachtet werden. Mit der Annahme der Helsinki-Schlussakte 1975 wurde erstmals ein blockübergreifender Kooperationsrahmen im geografischen Raum zwischen »Vancouver und Wladiwostok« (Tudyka 2002: 9) in Form einer regionalen Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen geschaffen, der jedoch erst nach dem Niedergang des Realsozialismus durch die Charta von Paris 1990 eine institutionelle Infrastruktur als intergouvernementale Organisation erhielt (derzeit 56 Teilnehmerstaaten32 , Ministerrat mit jährlich rotierendem Vorsitz, Sekretariat, Sonderinstitutionen etc.). Grundlegend ist ein umfassender33 und kooperativer34 32 | 56 Teilnehmerstaaten: Albanien, Andorra, Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Heiliger Stuhl, Irland, Island, Italien, Kanada, Kasachstan, Kirgistan, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien (F YROM), Moldau, Monaco, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russische Föderation, San Marino, Schweden, Schweiz, Serbien, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Tadschikistan, Tschechische Republik, Turkmenistan, Türkei, Ukraine, Ungarn, Usbekistan, Vereinigte Staaten von Amerika, Vereinigtes Königreich, Zypern. 11 Partnerstaaten: Afghanistan, Ägypten, Algerien, Israel, Japan, Jordanien, Marokko, Mongolei, Südkorea, Thailand, Tunesien. 33 | Umfassender Sicherheitsbegriff: Politische, gesellschaftliche, pädagogische, ökonomische, soziale, ökologische und militärische Sicherheitskomponenten, Engagement in allen Phasen des Friedens- und Konfliktzyklus (Ausbruch, Eskalation, Deeskalation, Folgen). 34 | Kooperativer Sicherheitsbegriff: Einbindung internationaler, nationaler, regionaler und lokaler, militärischer und ziviler staatlicher und nicht-staatlicher Akteurinnen und Akteure (Subsidiarität), Präventivdiplomatie, Präferenz für Dialog sowie friedlicher und vertrauensbildender Maßnahmen, keine Anwendung von Willkür und Zwangsmaßnahmen.
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Sicherheitsbegriff. Die Tätigkeitsfelder wurden in drei Körbe, oder in der heutigen Terminologie in Dimensionen, eingeteilt: politisch-militärische, ökonomisch-ökologische und menschliche Dimension. Die sogenannte dritte Dimension ist in der OSZE gemeinsam mit der politisch-militärischen zentral, da demokratie- und menschenrechtsbezogene Aktivitäten als sicherheits- und stabilitätsfördernd betrachtet werden. Die Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten ist eines der zehn 1975 verabschiedeten Grundprinzipien (Helsinki-Dekalog). Seit den 1990er Jahren sind primär das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) in Warschau, die Hohe Kommissarin oder der Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten (HCNM) in Den Haag, die oder der Beauftragte für die Freiheit der Medien und die Koordinatorin oder der Koordinator für Bekämpfung des Menschenhandels (beide in Wien) sowie persönliche Repräsentantinnen und Repräsentanten des OSZE-Vorsitzes mit demokratie- und menschenrechtlich relevanten Belangen befasst, wobei diese Tätigkeiten dem Charakter einer zwischenstaatlichen Organisation entsprechend immer auf Diskussion und Konsensus in den Ministerräten fußen. Der für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand relevante Bereich der Holocausterinnerungspolitik wird primär von ODIHR bearbeitet. Das Aufgabenfeld dieser 1992 gegründeten Einrichtung konzentrierte sich ursprünglich darauf, Wahlen zu beobachten und demokratische Herrschafts- und Entscheidungsstrukturen zu unterstützen und zu implementieren. Das unter dem Eindruck der Debatten um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus entstandene Toleranz- und Nichtdiskriminierungsprogramm – der zu Recht umstrittene Begriff Toleranz wird mittlerweile durch gegenseitigen Respekt und Verstehen ergänzt (Bishop 2008: 226) – wurde 2004 auf Basis der Entscheidung 4/03 des Maastrichter Ministerrates aus dem Jahr 2003 implementiert. Es beschäftigt sich themenspezifisch mit Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus, Antiziganismus, Feindschaft gegen Musliminnen und Muslime und Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften sowie Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung. Querschnittsmaterien hingegen sind Zivilgesellschaft, Gesetzgebung, Berichterstattung zu Hassverbrechen und das Tolerance and Non-Discrimination Information System (TANDIS). Ziel ist es den Teilnehmerstaaten Werkzeuge an die Hand zu geben, um die genannten Phänomene zu bekämpfen, weshalb Vorfälle und erfolgreiche Gegenmaßnahmen (Best-Practice-Beispiele) veröffentlicht werden (vgl. Zerstreuung
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der Befürchtungen vor naming and shaming, ebd.: 238). Den Vorteil des ODIHR gegenüber anderen thematisch ähnlich arbeitenden Institutionen sieht Jo-Anne Bishop in der Felderfahrung durch die zahlreichen OSZEMissionen und darin, dass die Antidiskriminierungsprogramme in eine umfassende und kooperative Sicherheitspolitik mit einbezogen werden (vgl. ebd.: 233-234). Es ist jedoch fraglich, ob die erinnerungspolitischen Aktivitäten der OSZE von diesen Stärken profitieren können. Holocausterinnerung bildet ein quantitativ eher sekundäres Tätigkeitsfeld im Portfolio für Antisemitismusangelegenheiten. Auf der vom bulgarischen OSZE-Vorsitz 2004 veranstalteten Berliner Antisemitismuskonferenz wurde eine Erklärung angenommen, die auch die OSZE-Teilnehmerstaaten zur Holocaust Education verpflichtet (detailliert vgl. Boden 2008). Das begrenzte Mandat der oder des ODIHR-Beauftragten für Antisemitismusangelegenheiten schließt Monitoringaktivitäten aus und muss Druck durch – teilweise auch moralische – Appelle und Vergleiche mit anderen Teilnehmerstaaten herstellen. Auch im Bereich der Datensammlung ist das ODIHR vielfach auf die EU-Grundrechteagentur und ECRI angewiesen, womit der geografischen Breite der OSZE nie gänzlich Rechnung getragen wird (d.h. Nordamerika und Zentralasien). Zahlreiche Projekte lassen sich nur aus von Teilnehmerstaaten freiwillig zur Verfügung gestellten Sonderbudgets finanzieren, wobei Regierungen tendenziell eher Projekte mit starken Bezügen zur Geschichte des eigenen Landes fördern (vgl. Gespräch Hinterleitner 2009). Auch eine institutionelle Neuerung – die Einsetzung einer oder eines persönlich Beauftragten des Vorsitzes für Antisemitismusbekämpfung (Personal Representative of the OSCE Chair-in-Office on Combating Anti-Semitism) – wertete das erinnerungspolitische Dossier nicht spürbar auf. Die OSZE verfügt seit 2005 über persönliche Beauftragte des Vorsitzes für die drei Felder Antisemitismus, Diskriminierung gegen Musliminnen und Muslime sowie Diskriminierung gegen Christinnen und Christen und Angehörige anderer Religionen. Bei allen Länderbesuchen35, die in Jahren 2009 und 2010 durchgeführt wurden, kamen der Umgang mit dem Holocaust, die Auswirkungen auf die lokalen jüdischen Gemeinden 35 | 2009: Bosnien und Herzegowina (OSCE 2009a), Lettland (OSCE 2009c), Rumänien (OSCE 2009d), Slowakische Republik (OSCE 2009e), Spanien (OSCE 2009f), Ungarn (OSCE 2009b); 2010: Deutschland (OSCE 2010b), Schweden (OSCE 2010c).
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und erinnerungspolitische Maßnahmen in den Treffen mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Vertreterinnen und Vertretern zur Sprache. Zudem wurden landesspezifische Empfehlungen formuliert, deren Umsetzung allerdings letztlich im Ermessen der einzelnen Regierungen liegt. Seit kurzem wird auch die Erinnerung an den an Romnia und Roma verübten nationalsozialistischen Genozid gefördert. Dieser Bereich resortiert beim Programm, antiziganistische Diskriminierung zu bekämpfen. Als wichtige projektbezogene Kooperationspartner mit mehr Kompetenz und Ressourcen im Bereich der Holocausterinnerungspolitik gelten die israelische Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, die in Amsterdam ansässige Anne Frank Stichting und jüngst auch die ITF sowie der Europarat im Zuge der Erinnerung an den Genozid an den Romnia und Roma. Aus den Projekten entstanden bis dato mehrere leicht zugängliche Publikationen. Diese Veröffentlichungen bilden eine Handlungsgrundlage für weitere OSZE-Politiken, begründen aber keine eigenen Weiterbildungsveranstaltungen sowie Vernetzungs- und Feedbackmechanismen für Lehrende oder Politikgestalterinnen und Politikgestalter. Die Verantwortung der Übersetzung dieser Vorgaben in (selbst-)kritische Lernprozesse liegt aber großteils bei Schulleitungen, Lehrpersonen und der Schulpartnerschaft mit den Familien der Schülerinnen und Schüler (vgl. Gespräch Polak 2009). Einen wichtigen Schritt im Übergang von Deklarationen zu konkreten Maßnahmen markiert der 2006 edierte Band Education on the Holocaust and on Anti-Semitism. An Overview and Analysis of Education Approaches. Neben relevanten Dokumenten, der europäischen Arbeitsdefinition zu Antisemitismus, der Stockholmer Erklärung, wissenschaftlichen und pädagogischen Überlegungen zur Holocaust Education und Antisemitismusbekämpfung, Best-Practice-Beispielen und Informationen zu anderen Initiativen auf der europäischen und nationalstaatlichen Ebene bildet eine Erhebung zur Situation der Holocausterinnerung und Holocausterziehung in 54 der damals 55 OSZE-Teilnehmerstaaten (nur Turkmenistan gab keine Rückmeldung) das Kernstück der Publikation (vgl. ODIHR 2006). Antworten, die auch aufgrund des eingeschränkten Mandates und der geringen budgetären Mittel des ODIHR auf Regierungsangaben beruhen, werden länderweise entlang der Bereiche gesetzliche Grundlagen für Holocausterziehung, Holocausterziehung in Schullehrplänen, Definition des Holocaust, Lehrerfortbildung, praktische Umsetzung sowie Holocaustgedenkstätte(n) und Holocaustgedenktag(e) aufgeschlüsselt und schließlich komparativ eingeordnet. Gesetzliche Rahmenbedingungen, auf national-
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staatliche Gegebenheiten abgestimmte Politikempfehlungen und budgetäre Ausstattung sind unerlässliche Grundvoraussetzungen. Die Antworten im vorliegenden Band zeigen, dass die erinnerungspolitischen Bemühungen in den 56 Teilnehmerstaaten heterogen sind. Auch der völlig uneinheitliche Opferbegriff hat einen strukturellen Grund. ODIHR kann ohne Zustimmung aller 56 Teilnehmerstaaten keine verbindliche Definition der Reichweite des Terminus Holocaust festlegen (vgl. Gespräch Hinterleitner 2009). Die seit 2005 bestehende Kooperation mit Yad Vashem mündete in zwei pädagogischen Handreichungen einerseits, um einen Holocaustgedenktag zu gestalten (ODIHR/Yad Vashem 2006) und andererseits, um Antisemitismus in schulischen Bildungskontexten zu thematisieren (ODIHR 2007). Die von ODIHR praktizierte Verknüpfung von Holocausterziehung und Antisemitismusbekämpfung wird folgendermaßen begründet. »[B]ewusstseinsstärkende Maßnahmen und Diskussionen zu Antisemitismus [können] in einigen Fällen sogar als Instrument zur effektiven Umsetzung von Holocaust Education angesehen werden. Der Holocaust und Antisemitismus sind Themen, die miteinander verbunden werden können und sollten, wobei das eine das andere Unterrichtsthema jedoch nicht ersetzen kann.« (Ebd.: 6; Herv. i.O.) Die Förderung von Reflexionsprozessen, der Umgang mit Vielfalt, das kritische Hinterfragen identitärer Prägungen (zum Beispiel, aber nicht zwingend in muslimischen Communities), die Thematisierung von antisemitischen Stereotypen in und außerhalb des Klassenzimmers und eine möglichst faktenorientierte Herangehensweise an den Nahostkonflikt sind einige der Eckpfeiler der Vorschläge von ODIHR und Yad Vashem. Es wird außerdem festgehalten, dass Antisemitismus nicht als austauschbare Variable für jegliche Form von Rassismus diskutiert werden soll, da »Antisemitismus oft und gerade mit der sozialen Einbindung von Jüdinnen und Juden in allen Schichten der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaft einhergeht« (ODIHR 2007: 6; Herv. i.O.). Mithin ist es notwendig, dass altersgerecht jene gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgezeigt werden, die Antisemitismus hervorbringen. Dies erfordert konsequenterweise permanente Weiterbildung und Selbstreflexion der Lehrenden, denn »Predigen ist eine unwirksame Methode zur Veränderung von ressentimentgeladenen Ansichten und hat in vielen Fällen eher den gegenteiligen Effekt. Geben Sie Ihrer Klasse oder Gruppe stattdessen die Möglichkeit, Konflikte zu lösen, Probleme zu diskutieren, in heterogenen Teams zusammenzuarbeiten und eine kritische
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Einstellung zu entwickeln.« (Ebd.: 9) Ähnliche Strategien (selbst)kritischer und selbstbestimmter Auseinandersetzung schlugen ODIHR und Yad Vashem für Schulveranstaltungen an Holocaustgedenktagen vor. So wird unter anderem die gründlich vorbereitete Durchführung kleinerer Rechercheprojekte mit lokalgeschichtlichem Bezug vorgeschlagen (vgl. ODIHR/ Yad Vashem 2006: 16-19). Wie Unterrichtsmaterialien, die die Holocausterinnerung und Antisemitismusbekämpfung verknüpfen, in der Praxis ausschauen können, wird am Beispiel eines Kooperationsprojektes zwischen ODIHR und Anne Frank Stichting ersichtlich. Die Aufbereitung dieser Materialien berücksichtigt, dass der Holocaust in den meisten Lehrplänen nicht mehr als vier Stunden behandelt und gleichzeitig oft noch versucht wird, Themen wie Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus, Antisemitismus oder Judentum und Menschenrechte mitzuvermitteln (vgl. Gespräch Polak 2009). In den drei auf Englisch edierten und in weitere Sprachen übersetzten Heften Anti-Semitism in Europe up to 1945 (Beispielland Litauen), Anti-Semitism: a never-ending struggle? (Beispielland Polen), Prejudices. You too? (Beispielland Niederlande) werden jahrhundertelange antijüdische und antisemitische Verfolgung, die Entrechtung und Ermordung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus, aber auch Informationen zu jüdischer Geschichte, Religion und Kultur verknüpft (vgl. Anne Frank House/ODIHR 2007a, 2007b, 2007c). Der Staat Israel und der heftig umstrittene Bereich der Grenze zwischen legitimer Kritik an israelischer Politik und gegen den jüdischen Staat gerichteten Antisemitismus werden nicht ausgespart. Im dritten Heft werden weitere Formen von Diskriminierung und Hass – beispielsweise aufgrund von Hautfarbe, religiösem Bekenntnis, Einwanderungshintergrund oder sexueller Orientierung – angeführt. Die jugendlichen Lernenden werden auf zwei Ebenen abgeholt. Erstens präsentieren sich in kürzeren Einschubtexten jüdische beziehungsweise im letzten Lernbehelf auch migrantische, homosexuelle oder muslimische junge Menschen, die Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede mit den antizipierten Erfahrungswelten der mehrheitlich christlich geprägten, heterosexuellen und der im jeweiligen Land der gesellschaftlichen Mehrheit zugehörigen Leserschaft aufzeigen. Zweitens ist jedes Thema mit Reflexionsfragen verknüpft und ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, eigene Überlegungen zu notieren. Dabei geht es weniger darum, historische Details zu erlernen, als vielmehr darum, Gegenwartsbezüge und individuelle Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Angesetzt wird bewusst bei Schü-
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lerinnen und Schülern, die über ein durchschnittliches Lerntempo sowie über wenig oder kein Vorwissen verfügen (vgl. Gespräch Polak 2009). Kritik könnte sich an der Tatsache entzünden, dass plakativ verkürzt Litauen den Judenhass, Polen den Holocaust und die Niederlande die pluralistische Gesellschaft repräsentieren, was jedoch durch Gegenwartsbezüge im Falle der ersten beiden Länderbeispiele zumindest aufgeweicht wird. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat die Unterrichtsmaterialien deutlich adaptiert und für alle drei Phasen den Schwerpunkt auf Deutschland gelegt (vgl. BPB 2008). Lernende müssen sich also mit den Ambivalenzen auseinandersetzen, dass vitales jüdisches Gemeindeleben und ein im Holocaust gipfelnder exterminatorischer Antisemitismus in der gleichen Gesellschaft entstanden und auch gegenwärtig pluralistische Schulklassen ebenso ein Teil Deutschlands sind, wie Neonazismus und Holocaustverharmlosung. Das Ukrainian Center for Holocaust Studies (UCHS) übertrug die Broschüren beispielsweise auch ins Ukrainische (Gespräch Podolskyj 2009). In den letzten Jahren produzierte ODIHR wiederum mehr vergleichende Darstellungen ohne konkrete pädagogische oder politische Umsetzungsvorschläge. So veröffentlichte ODIHR im Jahr 2008 eine Länderübersicht von Holocaustgedenktagen und entsprechenden kommemorativen und pädagogischen Aktivitäten (ODIHR 2008). Eine Datenbank von BestPractice-Beispielen im Bereich der Antisemitismusbekämpfung soll auf der ODIHR-Homepage und mittelfristig in Printform erscheinen, die die Erkenntnisse anderer europäischer und internationaler Akteure auf den Gebieten der Holocausterinnerungs- und Antidiskriminierungspolitik laufend aktualisiert (vgl. Gespräch Hinterleitner 2009). In Kooperation mit der ITF entstand eine Studie über Holocaustgedenktage, die durch Regierungen, Parlamente und andere öffentliche Einrichtungen in den 56 Teilnehmerstaaten erstellt wurde (ODIHR 2010a). Dabei sollte herausgefunden werden, zu welchem begründeten Datum der Gedenktag stattfindet, wie das offizielle Gedenken vonstatten geht, welche zusätzlichen Aktivitäten vorgesehen sind und wie Holocausterinnerung und die Teilnahme daran mehr Verbreitung finden können. Die Rückmeldungsrate auf die von den teilnehmerstaatlichen Regierungen auszufüllenden Fragebögen war jedoch dürftig36. 36 | Folgende Länder meldeten nicht: Albanien, Armenien, Island, Kasachstan, Kirgistan, Malta, Moldau, Montenegro, San Marino, Tadschikistan, Türkei, Ukraine
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Ab dem Jahr 2010 erweitert ODIHR seine erinnerungspolitischen Bemühungen um den Samudaripen, wobei dieser Bereich eng mit Maßnahmen gegen heutigen Antiziganismus verbunden ist. Im ODIHR-Statement zur Sektion Antisemitismusbekämpfung auf der High-level Conference on Tolerance and Non-Discrimination in Astana 2010 wurde auf die Holocausterinnerung, Holocaust Education und die Verurteilung der Holocaustleugnung durch die Teilnehmerstaaten Bezug genommen (ODIHR 2010b), wodurch letzterer Aspekt gemeinsam mit der Genozidprävention auch in die Astana-Deklaration gemeinsam mit mehreren Absätzen zu Antisemitismus und Diskriminierung von Romnia und Roma Eingang fand (OSCE 2010a). Die OSZE differenziert die Holocausterinnerungspolitik weiter aus, indem sie verstärkt den nationalsozialistischen Genozid an Romnia und Roma berücksichtigt, wodurch wiederum eine Brücke zu den Antiziganismusmaßnahmen geschlagen wird (vgl. OSCE 2010d; OSCE 2010e; OSCE 2011). Dies konkretisiert sich auch im Kooperationsprojekt romagenocide.com mit dem Europarat (vgl. Kapitel 3.4), von dem allerdings noch keine konkreten Ergebnisse vorliegen. Deshalb ist auch noch unklar, welche Wirkung die zur Holocausterinnerung und Holocaust Education erstellten ODIHR-Materialien im Bereich der Erinnerung an an Romnia und Roma verübten Massenverbrechen entfalten werden. Holocausterinnerungspolitik in der OSZE ist den Programmen zur Antisemitismusbekämpfung untergeordnet. Letztere wurde von der OSZE und ihren Teilnehmerstaaten nicht nur sichtbar in der medialen und Fachöffentlichkeit positioniert, sondern auch institutionalisiert und mit entsprechenden Mitteln ausgestattet. Weil der Holocausterinnerungspolitik ein eigenes Profil mitsamt Ressourcen fehlt – auch die einsetzende Erinnerung an den Samudaripen stellt ein Teilgebiet der Maßnahmen gegen Antiziganismus dar –, besteht das Risiko, dass ein potentiell veränderter Fokus in der ODIHR die Holocausterinnerungspolitik weiter zurückdrängt. Umgekehrt kann eingewendet werden, dass gerade die Verknüpfung mit der Politik gegen präsente Hassideologien und Diskriminierungsphänomene die wirksamste Form des Nie wieder darstellt. ODIHR erarbeitet mit spezialisierten Kooperationspartnern zwar pädagogische Konzepte, verbreitet diese aber nicht in Multiplikatorenseminaren. Die Holocausterinund Zypern. Folgende Länder verfügen über keinen Holocaustgedenktag: Andorra, Aserbaidschan, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Heiliger Stuhl (trotz offizieller Erinnerungsaktivitäten) und Mazedonien (F YROM).
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nerungspolitik bildet nur einen unter vielen Bausteinen, mit der die OSZE im Rahmen ihrer umfassenden und kooperativen Sicherheitsförderung auch zu menschenrechtsbezogenen Lernprozessen motiviert. Die geringen unmittelbaren Durchsetzungsmöglichkeiten werden durch die große geografische Reichweite besonders auch in Krisengebiete aufgewogen.
2.4 D IE TASK F ORCE FOR I NTERNATIONAL C OOPER ATION ON H OLOCAUST E DUCATION , R EMEMBR ANCE AND R ESE ARCH Die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) ist die einzige zwischenstaatliche Organisation, die sich ausschließlich mit der Holocausterinnerungspolitik befasst. Wie der Name bereits andeutet, geschieht dies über Kooperationen und Projektförderungen in den Bereichen Bildung, Erinnerung und Forschung. Die ITF entstand durch die Initiativen von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern sowie prominenter Vertreterinnen und Vertreter der Holocaustforschung. Der Beitritt ist geografisch nicht reglementiert und steht grundsätzlich allen Staaten offen, die (theoretisch) auch die für einen EU-Beitritt notwendigen Demokratie- und Menschenrechtskriterien erfüllen, ist aber mit einem Aufnahmeprozess verbunden, bis zu dessen Abschluss Maßnahmen zur Holocausterinnerung implementiert sein müssen. Als Single-Issue-Organisation kann sich die ITF voll auf die Holocausterinnerungspolitik konzentrieren, muss aber über die normative Wichtigkeit dieses einen Themenfeldes auch ihre Existenz rechtfertigen. Am Zenit internationaler vergangenheitspolitischer Bestrebungen – die Rolle der während des Nationalsozialismus neutralen Staaten Schweiz und zu einem wesentlich geringeren Maße Schweden gerät in den Fokus der Weltöffentlichkeit (vgl. Kroh 2008b: 158) – rief der damalige schwedische Premierminister Göran Persson im Jahre 1998 das Expertennetzwerk ITF ins Leben. Göran Perssons Motivationsfaktoren waren der Genozid in Ruanda, die Balkankriege, das Erstarken des Rechtsextremismus in Schweden und ein Besuch im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Neuengamme (ITF 2009e: 8, 12). Zeitlich fiel die Entstehung der ITF mit den Projekten der schwedischen Organisation Forum för levande historia (Living History Forum) zur Holocausterinnerung zusammen, dem wiederum eine Erhebung unter Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe vorausgegangen
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war, die diesen ein großes Unwissen bezüglich des Holocaust ausstellte. Verdankten sich die anfänglich informellen Treffen der ITF vor allem dem Engagement des ersten wissenschaftlichen Beraters der ITF, Yehuda Bauer, so bekam die Transnationalisierung der Erinnerungspolitik durch das International Forum on the Holocaust in Stockholm vom 25. bis 27. Januar 2000 mit der Verabschiedung der Stockholmer Deklaration als normatives Grundlagendokument eine ganz neue Dynamik. Der Termin der Veranstaltung, zu der anders als bei ihren Nachfolgetreffen hochrangige Regierungspolitikerinnen und -politiker der damals involvierten 46 Staaten anreisten, war nicht nur aufgrund des 27. Januars – dem Tag der Auschwitz-Befreiung und späteren internationalen Holocaustgedenktag – bedeutsam. Zugleich zeichnete sich in Österreich eine Regierungskoalition der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) mit der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) ab. In Stockholm anwesende Spitzenpolitikerinnen und -politiker zeigten sich über den bevorstehenden Koalitionseintritt der FPÖ besorgt und in Österreich folgten innenpolitische Spekulationen, inwieweit die zum damaligen Zeitpunkt noch den Bundeskanzler stellende Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) für die nachmaligen bilateralen Maßnahmen der EU-14 bei den Konferenzdelegierten geworben hätte (vgl. Kroh 2008a: 165ff.). Die Tatsache, dass prominente Politikerinnen und Politiker die FPÖ-Regierungsbeteiligung diskutierten, bescherte dem International Forum on the Holocaust eine nicht erwartete und später auch nie mehr erreichte internationale Berichterstattung. Das Thema der Holocausterinnerung wurde aufgrund der Regierungsverantwortung einer Partei, deren Kader nicht unmissverständlich mit der NS-Ideologie gebrochen hatte, zwingend aktuell. Zwischenzeitlich wurde die ITF als zwischenstaatliche Organisation graduell institutionalisiert und erreichte 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt, als sie ein ständiges Büro in Berlin eröffnete. Trotzdem blieb die Netzwerkstruktur aus Politikerinnen und Politikern, Ministerialbürokratinnen und -bürokraten, wissenschaftlichen Expertinnen und Experten und pädagogischen Praktikerinnen und Praktikern erhalten, die auch den transnationalen Charakter der ITF unterstreicht. Die ITF-Delegierten kooperieren in acht Arbeitsgruppen37 mit thematischen Unterausschüs37 | Academic Working Group, Education Working Group (Other Genocides Subcommittee, Roma Genocide Sub-committee Special Challenges Sub-committee), Communication Working Group, Museums and Memorials Working Group, Fund
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sen. Die Direktorin des Berliner ITF-Büros, Kathrin Meyer, beschreibt die Arbeitsgruppen und Treffen als Orte, an denen divergierende vergangenheits- und erinnerungspolitische Ansichten ausgehandelt und gemeinsame Standpunkte entwickelt werden (vgl. Gespräch Meyer 2009). Entscheidungsbefugte Mitglieder der ITF können nur Einzelstaaten38 werden. Von ihnen hängen auch die durch Beitritt verpflichtende Finanzierungsleistung (derzeit jährlich EUR 30.000 pro Mitglied) sowie die Bereitschaft ab, Konferenzen und Seminare abzuhalten. Für Entscheidungen gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Der anfangs semestrale und seit November 2000 jährliche Vorsitz39 der ITF wechselt zwischen den Mitgliedstaaten, die dieses Tätigkeitsfeld auf freiwilliger Basis in ihren jeweiligen Außenministerien beziehungsweise auf diplomatischer Ebene ansiedeln. In der Liaison Working Group werden Aufnahmeanträge in die ITF gründlich geprüft, wobei – in Anlehnung an die Kopenhagener Kriterien für einen EU-Beitritt – die demokratische und rechtsstaatliche Verfasstheit im Allgemeinen und die Umsetzung der Prinzipien der Stockholmer Deklaration im Speziellen (darunter ein jährlicher Holocaust-Gedenktag; vgl. ITF 2000) unabdingbar vorausgesetzt werden. Der norwegische Vorsitzführende 2009, Tom Vraalsen, vergleicht den Beitrittsprozess zur ITF treffend mit einer schmerzhaften Gewissensprüfung, die jedes Land in Hinblick auf seine Working Group, Special Working Group on Implementation of the Holocaust Remembrance Day, Strategic and Implementation Working Group, Liaison Country Working Group. 38 | Derzeitige ITF-Mitgliedstaaten mit Beitrittsjahr: Argentinien (2003), Belgien (2005), Dänemark (2004), Deutschland (1998), Estland (2007), Finnland (2010), Frankreich (1999), Griechenland (2005), Israel (1998), Italien (1999), Kanada (2009), Kroatien (2005), Lettland (2004), Litauen (2003), Luxemburg (2003), Niederlande (1999), Norwegen (2003), Österreich (2001), Polen (1999), Rumänien (2004), Schweden (1998), Schweiz (2004), Slowakische Republik (2005), Spanien (2008), Tschechische Republik (2001), Ungarn (2002), Vereinigte Staaten von Amerika (1998), Vereinigtes Königreich (1998); Liaisonstaaten: Irland, Serbien, Slowenien; Beobachterstaaten: Mazedonien (F YROM), Portugal, Türkei. 39 | Vereinigte Staaten von Amerika (1998), Vereinigtes Königreich und Israel (1999), Schweden und Deutschland (2000), Niederlande (2001), Frankreich (2002), Vereinigte Staaten von Amerika (2003), Italien (2004), Polen (2005), Ungarn (2006), Tschechische Republik (2007), Österreich (2008), Norwegen (2009), Israel (2010).
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Rolle während des Holocaust leisten muss (ITF 2010i). Jedoch wurde bis dato kaum über Ausschlussgründe und Ausschlussmechanismen nachgedacht (vgl. Gespräch Kroh 2009). Es besteht eine enge Kooperation mit Nicht-Regierungsorganisationen sowie internationalen Einrichtungen40, die Beobachterstatus genießen. Im Jahr 2010 wurden zwei Memoranda of Understanding zwischen der ITF und dem Europarat sowie zwischen der ITF und dem ODIHR unterzeichnet. Die erwähnte Stockholmer Deklaration aus dem Jahr 2000 reflektiert die gemeinsamen Ziele der ITF in Hinblick auf die Holocausterinnerung und bildet somit ihre Arbeitsgrundlage. Die ersten beiden Sätze der deutschen Version lauten: »Der Holocaust (die Schoah) hat die Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert. In seiner Beispiellosigkeit wird der Holocaust für alle Zeit von universeller Bedeutung sein.« (ITF 2000) Wiewohl sich mittlerweile ein Arbeitsgruppenunterausschuss mit dem Genozid an Romnia und Roma befasst, geht aus dem ersten Absatz der Stockholmer Deklaration klar hervor, dass der Begriff Holocaust auf die jüdischen NSOpfer eingeschränkt ist (vgl. auch Gespräch Meyer 2009). Die universelle Bedeutung, die dem nach der Definition Yehuda Bauers beispiellosen Verbrechen zugeschrieben wird, öffnet einerseits den geografischen Adressatenkreis der ITF und stattet sie andererseits mit dem exklusiven Mandat der Holocausterinnerung aus. Auf dieser normativen Grundlage setzt die ITF in ihren Arbeitsgruppen Standards für die Bereiche der holocaustbezogenen Bildung, Erinnerung und Forschung. Die Education Working Group trägt bislang den Hauptanteil der von der ITF geleisteten inhaltlichen Auseinandersetzung, was auch auf ihre Größe zurückführbar ist. »[N]eben der Erstellung der diversen Leitfäden zum Unterricht über den Holocaust befindet sich die Evaluation der meisten Projektanträge in der Verantwortung von Mitgliedern der ›Education Working Group‹.« (Kroh 2008b: 168) Im Jahr 2010 wurde eine Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer zu Holocaust, Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit publiziert. Diese Zusammenstellung wird damit begründet, dass der Holocaust paradigmatisch für das historische und strukturelle Verständnis anderer Genozide (konkret: der Genozid an den Armenierinnen und Armeniern, der Genozid an den Herero, stalinistische Morde und Vertreibungen und weniger weit zurück40 | Europarat seit 2002, OSZE seit 2004, Vereinte Nationen seit 2006, EUGrundrechteagentur seit 2007.
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liegende Verbrechen in Zentralafrika, im Sudan und in Kambodscha) sei (ITF 2010b). Impulse in Form kleinerer Studien kommen jedoch auch aus den übrigen Arbeitsbereichen der ITF. So wurden 2010 ein Bericht zu Massengräbern und Tötungsorten im östlichen Europa (Bruttmann 2010) und die Ergebnisse einer schriftlichen Befragung zu Originalschauplätzen des Holocaust in den ITF-Mitgliedstaaten veröffentlicht. Der Transfer der erinnerungspolitischen Maßnahmen der ITF in die Mitgliedstaaten erfolgt relativ unmittelbar, da Ministerialbeamtinnen und -beamten und zudem die aus zivilgesellschaftlichen und akademischen Zusammenhängen entsandten Arbeitsgruppenteilnehmenden direkt daran beteiligt sind. Konkrete pädagogische, kommemorative und wissenschaftliche Projekte werden durch Budgetmittel der ITF unterstützt. Insgesamt konnten nur rund 50 Prozent oder in absoluten Zahlen 221 der Förderanträge, die externe Antragstellerinnen und Antragsteller sowie die ITFArbeitsgruppen eingebracht hatten, genehmigt werden (vgl. ITF 2009e: 14)41 . In der Anfangsphase wurden transnationale Projekte, vor allem zwischen älteren und jüngeren Mitgliedstaaten präferiert, wobei es sich bei den letztgenannten meist um mittel- und osteuropäische Mitgliedstaaten handelte (vgl. ebd.: 16, 76). Die Förderstrategie 2010-2013 verlangt Kofinanzierungen aus anderen Quellen und Projektbeteiligungen aus mehreren Ländern (»um internationalen Austausch von Expertise und eine geteilte Erinnerungskultur anzuregen«; ITF 2010g; Übers. E.K.) und will nur mehr Vorhaben fördern, die gehobene Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik, Gesellschaft und Bildungswesen adressieren. Besonders gefragt werden Projekte, die sich mit dem Genozid an den Romnia und Roma befassen. Laut Eigendarstellung ist die ITF eine internationale Stimme von moralischer Autorität, die das Bewusstsein zum Holocaust schärft und dabei hilft, Dynamiken zu erkennen, die zu Massentötungen und Genoziden führen. Damit setzt sie sich an vorderster Front gegen Leugnung und Verharmlosung des Holocaust sowie aktuellen Antisemitismus ein. Auf Basis der Erinnerung an die Vergangenheit zielt die ITF darauf ab, demokrati41 | Projekttypen und Anteil am Gesamtfördervolumen: Schulungsprogramme (45 Prozent), Bücher und Unterrichtsmaterialien (14 Prozent), Ausstellungen (8 Prozent), Websites und Datenbanken (7 Prozent), Dokumentarfilme (6 Prozent), Wissenschaftliche Konferenzen (6 Prozent), Schreibwettbewerbe (3 Prozent), Forschung (2 Prozent), ITF-Arbeitsgruppen (2 Prozent), Andere (7 Prozent).
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sche und pluralistische Gesellschaften sowie den Respekt vor ethnischer, kultureller und religiöser Diversität für die Zukunft zu sichern (ITF 2011). Anerkennend ist festzustellen, dass die ITF tatsächlich auf tagesaktuelle und politisch brisante Ereignisse, die für die Holocausterinnerung relevant sind, reagiert. Die rezenten norwegischen (2009) und israelischen (2010) Vorsitze veröffentlichten Pressemeldungen zur wiederholten Holocaustleugnung durch den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad (ITF 2009b), zu Referenzen auf den Holocaust in der US-amerikanischen Debatte um die Reform des Gesundheitswesens (ITF 2009a), zu Angriffen auf und Diskriminierung von Romnia und Roma in Europa (ITF 2009d; ITF 2010e), zum Diebstahl der Arbeit macht frei-Aufschrift von der Gedenkstätte Auschwitz (ITF 2009c), zur Brandschatzung einer Synagoge auf Kreta (ITF 2010f), zu einer Holocaustleugnungswebsite einer dem iranischen Regime nahestehenden Stiftung (ITF 2010d) sowie den Redebeitrag eines israelischen Ministers, der sich explizit auf die Bedrohung von Israels Existenz durch Nuklearwaffen bezieht (ITF 2010c). Die ITF hebt sich von anderen Akteuren auf der Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik dadurch ab, dass sie über ein klar umrissenes Mandat zur Holocausterinnerungspolitik verfügt und mit den Spitzenvertreterinnen und -vertretern der mitgliedstaatlichen Ministerien und Diplomatie direkt kommuniziert. Die von der ITF gewählten Zugänge zum Holocaust verlaufen über die Wege der Bildung, Erinnerung und Forschung. Anders als der Europarat, die EU, die OSZE oder die Vereinten Nationen mit ihren ungleich größeren Organisationsapparaten kann die ITF nicht auf hausinterne Kapazitäten und Expertise in benachbarten Feldern zurückgreifen. Letztlich stehen und fallen die Mittelausstattung und somit das Fortbestehen der ITF mit dem Interesse der Mitgliedstaaten an einer eigenen Organisationsstruktur zur intergouvernementalen Zusammenarbeit im Bereich der Holocausterinnerungspolitik. Wie bereits betont, ist der Beitritt zur ITF daran gebunden, die erinnerungspolitischen Mindeststandards zu erfüllen, zu denen auch gehört, den Holocaust als ein an Jüdinnen und Juden verübtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen. Darüber hinaus berücksichtigt die ITF den NS-Genozid an Romnia und Roma in ihren pädagogischen, kommemorativen und wissenschaftlichen Bemühungen. Die bezüglich dieser Fokussierung nach außen demonstrierte Geschlossenheit bekommt jedoch Risse, wenn man genauer hinsieht. Die von einem Teil der Regierungen
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der Mitgliedstaaten eingereichten Länderberichte42 zu Holocaust Education und Holocausterinnerung verdeutlichen dieses Spannungsverhältnis, transnationale Standards zu setzen und zugleich die für die jeweilige Gesellschaft wichtigsten erinnerungspolitischen Maßnahmen fortzuführen. Das wird besonders in den Abschnitten zur Holocaustdefinition, der Integration der eigenen Nationalgeschichte in die Holocaust Education und den größten aktuellen Schwierigkeiten im Bereich der Vermittlung des Holocaust sichtbar. Jens Kroh räumt aus den Erfahrungen seiner Recherche ein, dass die aktive Mitarbeit einiger ehemals realsozialistischer Staaten – konkret nennt er die baltischen Länder – in der ITF möglicherweise auch dazu dienen könnten, dass die stalinistischen Verbrechen stärker beachtet werden, der Beitritt dieser Staaten aber im Zuge der EU- und NATO-Erweiterungsrunden primär aus pragmatischen Gründen erfolgte (vgl. Gespräch Kroh 2009). Es ist also zu bezweifeln, »dass sich dabei eine echte europäische Erinnerungsgemeinschaft entwickelt hat« (Kroh 2008a: 235). Damit korrespondiert auch Krohs weitgehend ernüchternde Einschätzung zur künftigen Handlungsfähigkeit der ITF, die auf dem Konsensprinzip der wachsenden Zahl an Mitgliedstaaten und dem »freiwilligen, mehrheitlich unentgeltlichen Engagement« (Kroh 2008b: 173) von Expertinnen und Experten beruht: »Die wachsende Varianz und Differenz der in der ITF repräsentierten politischen Kulturen und geschichtspolitischen Ziele stellt eine große Herausforderung für die Verständigung und Einigung zwischen den Delegierten dar.« (Ebd.) Die Frage besteht, ob die ITF thematisch außerhalb nationalsozialistischer Verbrechen expandieren wird, oder ob konkurrierende Task Forces beispielsweise zum Stalinismus oder zum Kolonialismus ins Leben gerufen werden.
42 | Argentinien (ITF 2010a), Dänemark (ITF 2005a), Deutschland (ITF o.J.c), Frankreich (ITF 2006b), Griechenland (ITF o.J.d), Israel (ITF 2005b), Kroatien (ITF 2006a), Litauen (ITF 2006c), Luxemburg (ITF 2006d), Norwegen (ITF 2005c), Österreich (ITF o.J.b), Schweden (ITF 2004), Schweiz (ITF o.J.i), Vereinigtes Königreich (ITF 2010j), Vereinigte Staaten von Amerika (ITF o.J.j).
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2.5 H OLOCAUSTERINNERUNGSPOLITIK BEI DEN V EREINTEN N ATIONEN Den zahlenmäßig größten Rezipientenkreis – nämlich potentiell die ganze Welt – möchten die Vereinten Nationen mit ihren Aktivitäten im Bereich der Holocausterinnerung und Genozidprävention sowie sekundär die UNESCO mit einer auf das Weltkulturerbe abzielenden Erinnerungsaktivität erreichen. Die Vereinten Nationen sind selbst eine Nachkriegsgründung, der die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte als normative Handlungsgrundlage dient. Die Holocausterinnerungspolitik wird also in bestehenden Bemühungen, künftige Völkermorde zu verhindern, sowie im Bereich der UNESCO ein universales Menschheitserbe zu bewahren, miteinbezogen. Die öffentlichen Gedenkzeremonien am 27. Januar fanden jedoch erstmalig am 60. Jahrestag der Auschwitzbefreiung statt. Ihrem Grundgedanken gemäß trachten die Vereinten Nationen danach, die ganze Welt zu erreichen und können daher mit dem Europarat, der EU, der OSZE und der ITF mit ihrem eingeschränkten Wirkungsradius nur bedingt verglichen werden. Der globalen Ausrichtung folgend müssen Regierungen und mithin Menschen erreicht werden, die familiär oder gesellschaftlich nicht mit dem Holocaust verbunden sind, ihn verharmlosen oder sogar leugnen. Auf Basis der 2005 von der UN-Generalversammlung konsensual angenommenen, rechtlich allerdings nicht bindenden Resolution A/ RES/60/7 zu Holocausterinnerung43 und der Resolution A/RES/61/255 43 | Unterstützerstaaten des Resolutionsentwurfes: Albanien, Andorra, Argentinien, Australien, Äthiopien, Belarus, Belgien, Benin, Bolivien, Bosnien und Herzegowina, Brasilien, Bulgarien, Chile, China, Costa Rica, Demokratische Republik Kongo, Dänemark, Deutschland, Dominikanische Republik, Elfenbeinküste, El Salvador, Estland, Fiji, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Guatemala, Haiti, Honduras, Irland, Island, Israel, Italien, Japan, Kamerun, Kanada, Kolumbien, Kroatien, Kasachstan, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Madagaskar, Malta, Marshallinseln, Mazedonien (F YROM), Mikronesien, Moldau, Monaco, Mongolei, Mozambique, Nauru, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Palau, Paraguay, Peru, Polen, Portugal, Republik Korea (Süd), Ruanda, Rumänien, Russische Föderation, Samoa, San Marino, Schweden, Schweiz, Serbien und Montenegro, Singapur, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Timor Leste, Tonga, Trinidad und Tobago, Tschechische Republik, Türkei, Uganda,
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zu Holocaustleugnung44 aus dem Jahre 2007 wurde die Holocausterinnerungspolitik der Vereinten Nationen konzipiert. Erstere Resolution beruft sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Charta der Vereinten Nationen und die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (vgl. UN 2005). Die Tatsache, dass die Holocausterinnerungspolitik überhaupt etabliert werden konnte, muss als Erfolg gewertet werden. Das Mandat des 2006 im Department of Public Information im New Yorker UN-Sekretariat eingerichteten United Nations Outreach Programme – Remembrance and Beyond liegt darin, die Zivilgesellschaft für die Holocausterinnerung und Genozidprävention zu mobilisieren. In seinem Rahmen werden Weiterbildungsseminare und Podiumsdiskussionen veranstaltet. Das Programm kooperiert mit anderen internationalen, nationalen und lokalen Akteuren der Holocausterinnerung, kuratiert eine Dauerausstellung im UN-Hauptquartier in New York, nähert sich dem Holocaust künstlerisch an und stellt ein multimediales Informationsangebot bereit. Letzteres ist nicht nur über das Internet leicht zugänglich, sondern großUkraine, Ungarn, Uruguay, Usbekistan, Vereinigte Staaten von Amerika, Vereinigtes Königreich, Zentralafrikanische Republik, Zypern; Addendum: Aserbaidschan, Äquatorialguinea, Ecuador, Gabun, Gambia, Kongo, Liberia, Mali, Nicaragua, Panama, Papua Neuguinea, Philippinen, Saint Kitts und Nevis, Sierra Leone. 44 | Unterstützerstaaten des Resolutionsentwurfes: Albanien, Andorra, Argentinien, Australien, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Chile, Costa Rica, Demokratische Republik Kongo, Dänemark, Deutschland, Dominikanische Republik, El Salvador, Estland, Fiji, Finnland, Frankreich, Gabun, Georgien, Griechenland, Guatemala, Haiti, Irland, Island, Israel, Italien, Kamerun, Kanada, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Marshallinseln, Mazedonien (F YROM), Mexiko, Mikronesien, Moldau, Montenegro, Nauru, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Palau, Panama, Peru, Polen, Portugal, Ruanda, Rumänien, Russische Föderation, Samoa, Schweden, Schweiz, Serbien, Singapur, Slowakische Republik, Slowenien, Tonga, Trinidad und Tobago, Tschechische Republik, Türkei, Ukraine, Ungarn, Uruguay, Vanuatu, Vereinigte Staaten von Amerika, Vereinigtes Königreich, Zentralafrikanische Republik, Zypern; Addendum: Äthiopien, Benin, Bolivien, Brasilien, Elfenbeinküste, Ghana, Grenada, Honduras, Jamaika, Japan, Kenia, Kolumbien, Kongo, Liberia, Madagaskar, Malediven, Mauritius, Monaco, Mongolei, Mozambique, Paraguay, Republik Korea (Süd), Saint Kitts und Nevis, San Marino, Senegal, Seychellen, Sierra Leone, Timor Leste, Togo.
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teils auch in allen sechs UN-Sprachen (Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch) erhältlich. Um seine erinnerungspolitischen Programme zu verbreiten, bedient sich das Outreach Programme auch des weltweiten Netzwerkes der United Nations Information Centres45 (vgl. UN 2006; UN 2008). Zusätzliches Gewicht wird den erinnerungspolitischen Bestrebungen durch die regelmäßig auf Basis der Resolution 61/255 erfolgende Verurteilung von Holocaustleugnung durch den derzeitigen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon gegeben. Beispielhaft sei hier die Reaktion Ban Ki-moons auf die Ausfälle des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad während der Durban-Review-Konferenz 2009 in Genf genannt (vgl. Gespräch Prud’homme 2009). Kommemorativen Charakter haben die seit 2006 im Beisein höchstrangiger UN-Vertreterinnen und -Vertreter durchgeführten Veranstaltungen zum Internationalen Holocaustgedenktag am 27. Januar. Zudem lässt sich an den seit 2007 publizierten Diskussionspapieren ablesen, dass die inhaltliche Auseinandersetzung im Outreach Programme breit ist. Mit Simone Veil, Elie Wiesel und Yehuda Bauer sind zwei jüdische Holocaustüberlebende und ein dem Nationalsozialismus gerade noch Entkommener vertreten, die aufgrund ihres transnationalen Engagements im Bereich der Holocausterinnerung über einen hohen Bekanntheitsgrad verfügen (vgl. Bauer 2007; Veil o.J.; Wiesel o.J.). Der ungarische Rom und Parlamentsabgeordnete László Teleki fordert in seinem von faktischer Darstellung und gleichzeitig persönlicher Trauer geprägten Beitrag die intensivere Beschäftigung mit dem Genozid an Romnia und Roma (Teleki o.J.). Dieses Anliegen wird auch von Andrzej Mirga, dem OSZE/ 45 | UNIC in Afrika: Burkina Faso, Burundi, Eritrea, Ghana, Kamerun, Kenia, Kongo, Lesotho, Madagaskar, Namibia, Nigeria, Senegal, Südafrika, Tansania, Togo, Sambia, Zimbabwe; UNIC in den Amerikas: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Mexiko, Panama, Paraguay, Peru, Trinidad und Tobago, Vereinigte Staaten von Amerika; UNIC in arabischen Staaten: Algerien, Ägypten, Bahrain, Jemen, Libanon, Libyen, Marokko, Sudan, Tunesien; UNIC in Asien und Ozeanien: Australien, Bangladesh, Indien, Indonesien, Iran, Japan, Myanmar, Nepal, Pakistan, Philippinen, Sri Lanka; UNIC in Europa und der GUS: Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Polen, Rumänien, Russische Föderation, Tschechische Republik, Türkei, Usbekistan; United Nations Information Service (UNIS) in der Schweiz (Genf) und Österreich (Wien); United Nations Regional Information Centre (UNRIC) für Westeuropa in Belgien (Brüssel).
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ODIHR-Berater für Angelegenheiten von Romnia und Roma, mit dem Verweis auf die erst in den 1980er Jahren erfolgte Anerkennung ihrer Vernichtung aus rassistischen Gründen in Deutschland, der späten Einrichtung einer Dauerausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz im Jahr 2011 sowie der Diskriminierung bei Restitutionsfragen vertreten (Mirga o.J.). Die globale Ausrichtung dieses Programms der Vereinten Nationen wird durch den Beitrag von Xu Xin, dem Direktor des Institutes für Jüdische Studien an der Universität Nanjing in China, unterstrichen, indem er skizziert, wie sich die akademische Auseinandersetzung mit dem Holocaust entwickelt (vgl. Xin o.J.). Der oben angesprochene Konnex aus Holocausterinnerung und Genozidprävention wird in einer vergleichenden Studie zum Nationalsozialismus, den Roten Khmer in Kambodscha und dem hunderttausendfachen Mord durch ruandische Behörden an Tutsis und gemäßigten Hutus beleuchtet (Kiernan o.J.). Ideologische und strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen letztgenanntem Genozid und dem Holocaust verdeutlichen der Afrikanist Edward Kissi und Francis Deng, Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Genozidprävention, die auch auf die Möglichkeiten und Grenzen internationalen Handelns gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verweisen (Kissi o.J.; Deng o.J.). Auf die Frage, ob und wie aus dem Holocaust für heutigen Menschenrechtsschutz und Genozidprävention gelernt werden kann, reagieren Edward Mortimer und Kaja Shonick Glahn (beide Salzburg Global Seminar) mit einem Ansatz, der Lernen über Antisemitismus, Rassismus, Ursachen für genozidale Gewalt sowie bürgerschaftliche Verantwortung miteinbezieht (Mortimer/Shonick Glahn o.J.). Etwas aus der Reihe der unmittelbaren Beschäftigung mit dem Holocaust und der Genozidprävention fällt der Beitrag von Monika Richarz zur Geschichte der Jüdinnen und Juden in Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Richarz o.J.). Jedes Diskussionspapier schließt mit einigen Impulsfragen, die dazu anregen, sich mit den aufgeworfenen Thesen vertiefend zu beschäftigen. Im pädagogischen Bereich entwickelt das Outreach Programme gemeinsam mit dem Institute of Education der Universität London unter dem Titel Ordinary Things? Discovering the Holocaust through historical artefacts eine Bildungsaktivität, die mit Alltagsgegenständen, die von NS-Behörden konfisziert wurden (beispielsweise Schuhe, die Kindern abgenommen wurden, bevor sie in Gaskammern ermordet wurden), dazu anregen soll, sich mit den individuellen Lebensgeschichten von Holocaustopfern auseinanderzusetzen (vgl. Salmons 2009). Im Jahr 2011 veröffentlichte
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das Outreach Programme eine Broschüre zu Women and the Holocaust: Courage and Compassion (UN 2011), in der die Entschlossenheit, die Führungskraft, der Mut, die Hingabe und die Willenskraft von Jüdinnen und Romnia im Angesicht der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung anhand historischer Hintergrundinformationen und Überlebendengeschichten aufgezeigt werden. Auch die in Paris ansässige United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) führt die Holocausterinnerung in ihrem Arbeitsprogramm auf. Rund zwei Jahrzehnte vor dem Beginn der transnationalen Bemühungen um das Gedenken an den und die Vermittlung des Holocaust wurde das nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau auf die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste gesetzt. Seit 1999 steht das Emanuel-Ringelblum-Archiv beziehungsweise Oneg-Shabbat-Archiv aus dem Warschauer Ghetto unter dem Schutz der UNESCO (Memory of the World/Weltdokumentenerbe). Das Archiv stellt ein einzigartiges Zeugnis aus der Opferperspektive dar. Ringelblum und seine Familie wurden 1944 von Deutschen erschossen. Im Jahre 1999 sind die Tagebücher der Anne Frank ebenfalls in das Weltdokumentenerbeprogramm aufgenommen worden. In der 2007 verabschiedeten UNESCO-Resolution zur Holocausterinnerung werden die Zusammenarbeit mit dem Outreach Programme und somit die diesbezügliche Rolle der UNESCO definiert (vgl. UNESCO 2007). Das Outreach Programme lenkt dadurch, dass es die Diskriminierung von Romnia und Roma sowie die Völkermorde in Kambodscha und in Ruanda berücksichtigt, den Brennpunkt auf den gegenwärtigen Menschenrechtsschutz und globale Genoziderinnerung wie -prävention. Damit ermöglicht es Regierungen und Gesellschaften, die wenig oder keine unmittelbaren Bezüge zur nationalsozialistischen Judenvernichtung herstellen können, an ihr Progamm anzuschließen. Die pädagogischen Programme sind ähnlich motiviert. Das Projekt Ordinary Things? Discovering the Holocaust through historical artefacts soll dazu veranlassen, dass Gesellschaften, die sich sonst kaum mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, selbstbestimmt nachdenken und lernen (Salmons 2009). In diesem Angebot an eine möglichst globale Rezipientenschaft liegt jedoch auch das hervorstechende Manko der Holocausterinnerungspolitik der Vereinten Nationen. Auch die UNESCO macht partikulare Erfahrungen der Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus zu einem Allgemeingut für die gesamte Menschheit. Je universeller die vermittelte
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Botschaft wird, umso mehr geraten Spezifika wie der zum Holocaust führende Antisemitismus und seine postnazistischen, bis in die Gegenwart reichenden Kontinuitäten aus dem Blickfeld. Zugespitzt formuliert koexistieren sowohl die Erinnerung als auch die Infragestellung der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter dem Dach einer Organisation, der aufgrund ihrer Inklusivität jegliche Durchsetzungs- oder zumindest Ächtungsmittel fehlen. Die Verbreitung von Holocaustleugnung und Holocaustverharmlosung sowie von manifestem Antisemitismus in vielen UN-Mitgliedstaaten – der Iran mit seiner staatlich legitimierten und propagierten Holocaustleugnung ist nur die Spitze eines Eisberges – führt dramatisch vor Augen, dass ein Konsens fehlt beziehungsweise erinnerungspolitische Bestrebungen gezielt missachtet werden. Dass sich die Vereinten Nationen mit Holocausterinnerung befassen, ist grundsätzlich positiv zu werten. Die Organisation kann zumindest theoretisch auf alle Regierungen von 192 Staaten zugreifen und verfügt über weltweite Diffusionsmöglichkeiten. Die äußerst universelle Auseinandersetzung mag den institutionellen Bedingungen geschuldet sein, führt aber auch dazu, dass der Holocaust zur beliebig abrufbaren Schablone für andere Massenverbrechen mutiert, und nicht in seiner ideologischen und historischen Spezifizität erinnert wird. Die massive Schwäche der Holocausterinnerungspolitik in den Vereinten Nationen liegt aber darin, dass ihr normatives Fundament – nämlich die Universalität der Allgemeinen Menschenrechte – von einem Großteil der Mitgliedstaaten nicht eingehalten wird.
2.6 E RINNERUNGSPOLITISCHE K OOPER ATION , K ONKURRENZ UND K OMPLEMENTARITÄT Basierend auf den vorhergehenden Ausführungen kann im Folgenden eine Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik angefertigt werden. Zunächst stehen die existierenden Beziehungen von Europarat, EU, OSZE, ITF und UN zur Diskussion. Das Verhältnis der Akteure zueinander ist von Kooperation und Konkurrenz, nicht aber von Komplementarität geprägt. Letzteres Prinzip verlangt, dass die erinnerungspolitischen Akteure auf Basis ihrer strukturellen Voraussetzungen, Befugnisse und Gestaltungsmöglichkeiten zusammenwirken. Es gilt zu klären, wie sich der Europarat angesichts seiner Stärken und Schwächen in ein komplementäres erinnerungspolitisches Gefüge einbringt.
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Das Engagement der genannten Organisationen mit ihren jeweiligen intrainstitutionellen Verästelungen erfordert Kommunikation und Koordination, um Duplizitäten zu vermeiden. Die unterschiedlichen Ansätze können neue Ideen generieren und sollten daher nicht vereinheitlicht werden. Der Europarat begreift Holocausterinnerung als Teil seiner bildungspolitischen Bemühungen, wohingegen diese Aufgaben von ODIHR im Rahmen der Antisemitismusbekämpfung und in der FRA (die einzige EU-Körperschaft mit explizitem erinnerungspolitischem Auftrag) unter dem Dach der Grund- und Menschenrechtsförderung behandelt werden. Das erinnerungspolitische Mandat des global wirkenden United Nations Outreach Programme – Remembrance and Beyond inkludiert auch die Genozidprävention, während die Annäherung der UNESCO primär über die Kulturschiene läuft. Die ITF konzentriert sich ausschließlich auf Holocausterinnerung. Um Doppelungen zu verhindern, tauschen sich die politische und die Verwaltungsebene regelmäßig aus, wobei die in inter- und transnationalen Erinnerungsaktivitäten tätigen Personen sich ohnehin untereinander kennen und dadurch regelmäßiger informeller Kontakt besteht (vgl. Gespräche Hinterleitner 2009; Meyer 2009; Regard 2009; Sobotka 2009). Dessen ungeachtet wurde die Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren formal reguliert. Der Europarat verfügt in der ITF über einen Beobachterstatus und ist somit als zwischenstaatliche Organisation bestmöglich eingebunden. Formal noch enger verläuft die Zusammenarbeit mit der FRA, was die beiden Institutionen dadurch besiegelten, dass sie im Jahr 2007 ein Memorandum of Understanding unterzeichneten, das den Sitz einer Europaratsvertreterin oder eines Europaratsvertreters im Verwaltungsrat der FRA garantiert. Im Jahr 2010 folgte ein Memorandum of Understanding zwischen dem Europarat und der ITF. Ein in dieser Hinsicht richtungsweisendes Ereignis war eine von der ITF und ODIHR organisierte und im November 2008 in Wien abgehaltene Konferenz zum 70. Jahrestag des Novemberpogroms (vgl. ITF/ODIHR 2008). Im Rahmen dieser Veranstaltung verpflichteten sich die hochrangigsten Repräsentantinnen und Repräsentanten der ITF, des ODIHR, des Europarates, der FRA, der UN und der UNESCO zur Holocausterinnerung und Antisemitismusbekämpfung46. 46 | Europarat (Generalsekretär – Terry Davis), FRA (Direktor – Morten Kjaerum), ITF (Österreichischer Vorsitz 2008 – Ferdinand Trauttmansdorff), ODIHR (Direktor
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Die Landkarte transnationaler und vor allem europäischer Erinnerungspolitik ist jedoch komplexer als es die vertiefte Zusammenarbeit zwischen den genannten Akteuren vordergründig erscheinen lässt. Der fachliche Austausch und die thematische Koordination zwischen den jeweiligen Beauftragten für Holocausterinnerungspolitik dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass dahinter jeweils sehr unterschiedlich strukturierte Organisationen mit anders gelagerten Kapazitäten, Wirkungsradien und Durchsetzungsmöglichkeiten stehen. Die ITF kann sich einerseits ausschließlich auf die Holocausterinnerungspolitik konzentrieren, ihr fehlt jedoch andererseits die Verankerung in einer stabilen und thematisch breiter aufgestellten Organisation und somit die Gelegenheit auf inhaltliche, personelle und institutionelle Ressourcen zuzugreifen. Die Durchsetzungsmöglichkeit der jeweiligen Akteure verhält sich indirekt proportional zum Empfängerkreis. Die erinnerungspolitischen Programme der Vereinten Nationen verfügen über eine globale Ausrichtung, nicht aber über einen minimalen Konsens aller Regierungen. Die EU adressiert mit ihrer Holocausterinnerungspolitik in erster Linie die 27 Mitgliedstaaten, wozu sie über wirkmächtige Instrumentarien bis hin zur gesetzlichen Regelung verfügt. Auch die ITF, die die Umsetzung erinnerungspolitischer Mindeststandards als Beitrittsbedingung vorschreibt, ist folglich eine langsam wachsende Einrichtung. Bei ihr ist jedoch fraglich, ob sie auf die unaufhaltsame Expansion erinnerungspolitischer Debatten und Forderungen auf andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie europäische Diktaturen reagiert, indem sie ihr eigenes Portfolio erweitert, oder ob im Zuge dessen neue Task Forces entstehen und mit der ITF um Aufmerksamkeit, Mittelzuwendung und Expertise konkurrieren werden. Alle besprochenen Akteure weisen inhaltliche wie strukturelle Stärken und Schwächen auf. Ein erinnerungspolitischer Ansatz, der breite Akzeptanz und hohe Wirksamkeit erzielen soll, benötigt nicht nur thematische Abstimmung, sondern auch organisatorische Komplementarität. Der Europarat, die OSZE und die Vereinten Nationen mit der UNESCO sowie die innerhalb der EU angesiedelte FRA besitzen die Möglichkeit, innerhalb der jeweiligen Schwerpunktsetzungen erinnerungspolitische Initiativen zu entwickeln und auch mit einer beschränkten Netzwerköffentlichkeit zu diskutieren. Ausgereifte Ansätze und Programme können dann – Janez Lenarˇciˇc), UN-Sonderbeauftragter für Genozidprävention (Bevollmächtigter – Maher Nasser), UNESCO (Programmbeauftragter – Marcello Scarone Azzi).
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auf Basis der vertragsrechtlich zugestandenen Kompetenzen über das EU-Gesetzgebungsverfahren (wo notwendig, um Verbote zu erlassen, ansonsten auch für soft law), durch EU-Förderschienen oder als ITF-Beitrittsvoraussetzungen höhere normative Wirkungskraft erfahren. Auch wenn der Adressatenkreis der EU und der ITF beschränkt ist, bieten von diesen beiden Organisationen beschlossene erinnerungspolitische Maßnahmen wiederum eine stärkere Argumentations- und Handlungsgrundlage für andere Akteure wie den Europarat, die ITF oder die Vereinten Nationen. Die von damaligen EUMC (später FRA) im Jahr 2005 entwickelte Arbeitsdefinition steht beispielhaft für den skizzierten Prozess (vgl. EUMC 2005). In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende setzten sich die OSZE, der Europarat und die EU intensiv mit Antisemitismusbekämpfung auseinander. Nachdem im Rahmen der EU eine Arbeitsdefinition festgelegt worden war, die zwar nicht rechtsverbindlich ist, aber den Konsens der Mitgliedstaaten ausdrückt, bekamen auch andere zwischenstaatliche und zivilgesellschaftliche Akteure einen Standard an die Hand, auf dem weitere einschlägige Politiken entwickelt werden können. In einer strukturell komplementären erinnerungspolitischen Landschaft kann der Europarat in der Phase der Programmentwicklung seine Expertise im menschenrechtlichen und bildungspolitischen Bereich einbringen und auf sein Netzwerk aus 47 Mitgliedstaaten sowie zivilgesellschaftlichen, pädagogischen und akademischen Kontakten zurückgreifen. Die Tatsache, dass die mediale Beachtung weitgehend fehlt, könnte in diesem experimentellen Stadium vorteilhaft sein. Im nächsten Schritt würde der Europarat danach trachten, die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, die EU-Mitgliedstaaten und zuständigen Fachministerinnen und -minister sowie die ITF für seine Ansätze zu gewinnen, um sie mit stärkerer öffentlicher Wahrnehmung und Wirkungskraft auszustatten. Danach würde der Europarat die erinnerungspolitischen Maßnahmen innerhalb seines auf die Länderanzahl bezogenen größeren Adressatenkreises verbreiten. Dabei könnte der Europarat auch auf sein Image als speziell mit Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie befasste und vom alltäglichen Politikbetrieb abgehobene Organisation setzen. Eine derartige Kompetenzteilung bedarf jedoch des Eingeständnisses, dass nicht jeder Akteur für sich eine wirkungsmächtige Erinnerungspolitik gewährleisten kann, und dass er anderen Partnern bei der Planung und Umsetzung vertrauen muss.
2. L ANDKARTE TRANSNATIONALER E RINNERUNGSPOLITIK
Im Moment befindet sich die Holocausterinnerungspolitik im Europarat noch in der ersten experimentellen Phase. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Europarat sein Profil als Expertisegeber für die EU und die ITF sowie als Multiplikator einer pädagogisch orientierten Erinnerungspolitik schärfen und zum Alleinstellungsmerkmal ausbauen kann. Beabsichtigt der Europarat eine stärkere Präsenz und Wirkungskraft der in seinem Umfeld entworfenen Erinnerungspolitik, so ist er auf vertiefte strukturelle Zusammenarbeit mit anderen Akteuren auf der Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik angewiesen.
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3. Erkundungen der Erinnerungspolitik im Europarat
Nachdem der Ort der Holocausterinnerungspolitik im Europarat auf der Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik bestimmt, ihre Genese und institutionelle Verankerung dargelegt sowie in ihre programmatischen Schwerpunkte eingeführt wurde, stehen die Inhalte der erinnerungspolitischen Maßnahmen im Europarat im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Wie bereits gezeigt, geht die inhaltliche Ausrichtung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat in erster Linie aus ihrer organisationalen Einbettung im Bildungsbereich hervor. Das zentrale Teaching remembrance wird von schulischer Geschichtsvermittlung (History teaching) und Bildung zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität (EDC/HRE) begleitet. ECRI steuert von außen Elemente der Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung bei. Die Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma zielen primär darauf, antiziganistische Diskriminierung einzudämmen und ihre Lebens- und Bildungschancen zu verbesseren; inzwischen richten sie sich allerdings auch auf die Erinnerung an den Samudaripen. Innerhalb dieser Programmschwerpunkte entfalten sich unterschiedliche Aspekte, die in ihrer Summe und ihrem Zusammenwirken die inhaltliche Substanz der Holocausterinnerungspolitik im Europarat ausmachen. Der Kernbereich Teaching remembrance verdeutlicht, dass viele Akteurinnen und Akteure die Prinzipien und Definitionen der Holocausterinnerung immer wieder neu verhandeln und entsprechend uneinheitlich auslegen. Gleichwohl ziehen sich die Konzentration auf die Opfer und die zukunftsorientierte Vermittlung für Schülerinnen und Schüler als rote Fäden durch sämtliche Bemühungen im Bereich der Holocaust Education. Um heutige Heranwachsende zu erreichen, liegt der Fokus auf den Lebenswelten der
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Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und auf einer an Handlungsidealen aufgehängten Betrachtung von ausgewählten Gerechten unter den Völkern. Täter- und Mitläuferschaft bleibt konsequent unterbelichtet. Teaching remembrance forciert, in der Hoffnung möglichst viele Jugendliche zu erreichen, einen entpolitisierten – also Ideologien, Macht, Interessen und Konflikte vernachlässigenden – Umgang mit dem Holocaust. Die Schülerinnen und Schüler sollen als künftige erwachsene Bürgerinnen und Bürger ein demokratisches und die Menschenrechte achtendes Europa aufrechterhalten, damit kein weiterer Holocaust passieren möge. Die Programme zur schulischen Geschichtsvermittlung und zur Bildung zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität untermauern das Streben nach einer European Democratic Citizenship als Lehre aus den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Präventionsmittel gegen ein Wiederauftreten derselben. Der Holocaust wird als Teil der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wahrgenommen, für den die europäischen Gesellschaften (nicht etwa genau benannte Täter-, Mitläufer- und Kollaborationsgesellschaften) Verantwortung trügen, aus dem europäische Integration aber erst erwachsen sei. Die vom Europarat vorgeschlagenen didaktischen Prinzipien setzen sehr stark darauf, vor allem den auf strukturelle Merkmale der Geschichte abzielenden Unterrichtsstoff zu reflektieren. Die Anerkennung von Multiperspektivität in einem diversen und interkulturellen Lernumfeld erfordert einen selbstkritischen Umgang mit eigenen Standpunkten, ohne dabei die normative Grundlage des Nie wieder zu verlassen. Die Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus, die Erwachsene und Heranwachsende dazu veranlassen könnte, europäische demokratische Citizenship konkret zu leben, bleibt im Kontext der Holocausterinnerungspolitik, auch aufgrund der institutionellen Ausklammerung, randständig. Antisemitismus und Rassismus werden allenfalls im Sinne von Opferschutz und Antidiskriminierung bekämpft, weniger jedoch um antisemitische und rassistische Ideologien und ihrer Verbreitung zu begegnen. Dieses Muster kehrt bei den Programmen für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma wieder. Zusätzlich zur Anerkennung der historischen, im NS-Genozid gipfelnden und nach wie vor anhaltenden Unterdrückung und Ausgrenzung von Romnia und Roma verfügen die entsprechenden Europaratsaktivitäten auch über eine EmpowermentKomponente. Weil die Beschäftigung mit der Verfolgungsgeschichte der Romnia und Roma noch wenig etabliert ist, stellt der Europarat viel Hin-
3. E RKUNDUNGEN DER E RINNERUNGSPOLITIK IM E UROPARAT
tergrundwissen bereit, das sich jedoch hauptsächlich auf angenommene oder tatsächliche Lebenswelten von Romnia und Roma bezieht, nicht auf die ideologischen Grundlagen sowie Täterinnen und Täter antiziganistischer Verbrechen. Die hier skizzierten Inhalte der Holocausterinnerungspolitik im Europarat erlauben auf die Bedeutung rückzuschließen, die die Straßburger Organisation, ihre Mitgliedstaaten und von ihr kooptierte Akteurinnen und Akteure dem Holocaust angesichts der europäischen Integrationsgeschichte zuschreiben. Der gemeinsame Nenner lautet, dass europäische demokratische Citizenship es erfordert, den Holocaust reflektierend zu erinnern, um jene Handlungsgrundsätze zu erwerben, die einen künftigen Holocaust verhindern können. Dieses normative Dach beherbergt ein breites Spektrum an Sagbarem und Unwidersprochenem. Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat, das belegen die im Folgenden diskutierten Textbeispiele, entsteht nicht durch eindeutige Mehrheitsentscheidungen. Sie lässt sich durch einen großen Aushandlungsraum versinnbildlichen, in dem mit unterschiedlicher Macht ausgestattete Akteurinnen und Akteure ihre Deutungen anbieten, die dann im administrativen Rahmen des Europaratssekretariates (DG IV) gefiltert, gebündelt und zur weiteren Diskussion veröffentlicht werden. Dieser komplexe Aushandlungsprozess produziert letztlich eine spezifische Vorstellung von Europa nach dem Holocaust.
3.1 H OLOCAUST E DUCATION (TE ACHING REMEMBR ANCE) STAT T G EDENKEN Im Zentrum der Holocausterinnerungspolitik steht die bildungspolitische Programmschiene Teaching remembrance, die in der DG IV des Europaratssekretariates beheimatet ist. Den Anstoß zu Teaching remembrance gab der damalige Europaratsgeneralsekretär Walter Schwimmer, indem er einen pädagogisch orientierten Holocaustgedenktag forderte. Teaching remembrance begann seine Arbeit auf Basis der Ministerkomitee-Empfehlung (2001)15 (Recommendation on history teaching in twenty-first century Europe). Teaching remembrance zeichnet sich dadurch aus, dass es wissenschaftliche und pädagogische Expertinnen und Experten sowie mitgliedstaatliche Beamtinnen und Beamte einbindet. Im Folgenden analysiere ich anhand einer Reihe von Texten, die von und im Umfeld von Teaching remembrance entstanden sind, inhaltliche
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Schwerpunkte und Auslassungen. Politische Grundlagentexte wie das Abschlussdokument des Europaratsgipfels in Warschau 2005 (Summit 2005), Redebeiträge der konsekutiven Europaratsgeneralsekretäre Walter Schwimmer, Terry David und Thorbjørn Jagland sowie die Abschlusserklärungen der Bildungsministerkonferenzen (Standing Conference) legitimieren die Holocausterinnerungspolitik, ohne jedoch ihre inhaltliche Ausgestaltung vorwegzunehmen. Die Anzahl der ausschließlich von der DG IV produzierten erinnerungspolitischen Quellen ist überschaubar, weshalb sie sich für die Untersuchung besonders eignen. Neben knappen Eigendarstellungen von Teaching remembrance (Clerc/Reich 2002; Teaching remembrance o.J.a; Teaching remembrance o.J.c) erscheinen im zwei Mal jährlich produzierten Education Newsletter 1 Beiträge zu Teaching remembrance. Bei dieser Selbstdarstellungsquelle handelt es sich um ein jeweils rund fünfzehnseitiges Bulletin, das in kurzen Texten und mit zahlreichen Fotos und Grafiken der interessierten Öffentlichkeit Einblicke in die Arbeit und Ziele des DG IV verschaffen soll. Für die Holocausterinnerungspolitik sind die Berichte zu den Ministerseminaren am aussagekräftigsten (Straßburg2 2002, Krakau und Ausch-
1 | Berücksichtigt wurden alle Nummern (inklusive Sondernummern) ab Juni 1996. 2 | Institutionelle Teilnehmende in Straßburg: Delegationen (Albanien, Andorra, Armenien, Belarus, Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Heiliger Stuhl, Island, Italien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Mazedonien (F YROM), Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russische Föderation, Schweden, Schweiz, Serbien und Montenegro, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, Vereinigtes Königreich); Beobachterstaaten (Israel, Japan); Internationale und Nichtregierungsorganisationen (Fondation pour la mémoire de la Shoah, UNESCO); Europaratsorgane (Sekretariat – DG IV, Generalsekretär, Parlamentarische Versammlung).
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witz-Birkenau3 2005, Prag und Theresienstadt4 2006; für Nürnberg 2008 siehe Sondernummer des Education Newsletter DG IV 2009b). Die Ministerseminare verdichten das Ineinanderwirken der europäischen und mitgliedstaatlichen Ebenen, indem sie externe und zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure miteinbeziehen. Ähnlich vielfältig, wenn auch mit weniger prominenten Namen besetzt, sind die pädagogischen Weiterbildungsseminare, die jeweils auf ein breit gestecktes Thema5 fokussieren. 3 | Institutionelle Teilnehmende in Krakau und Auschwitz-Birkenau: Delegationen (Andorra, Aserbaidschan, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Heiliger Stuhl, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Mazedonien (F YROM), Moldau, Monaco, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Serbien und Montenegro, Schweiz, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Zypern); Beobachterstaaten (Israel); Internationale und Nichtregierungsorganisationen (European Jewish Congress, Islamic Educational, Scientific and Cultural Organization, INGO-Gruppe »Bildung und Kultur«); Europaratsorgane (CDCULT, Sekretariat – DG IV, Ministerkomitee, Parlamentarische Versammlung). 4 | Institutionelle Teilnehmende in Prag und Terezín: Delegationen (Albanien, Armenien, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Georgien, Heiliger Stuhl, Irland, Litauen, Luxemburg, Kroatien, Mazedonien (F YROM), Monaco, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Schweiz, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Zypern), Beobachterstaaten (Israel), Internationale und Nichtregierungsorganisationen (INGO-Gruppe »Bildung und Kultur«, OSZE), Europaratsorgane (CDED, CDCULT, Sekretariat – DG IV, Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates, Sekretariat der Ständigen Konferenz der Europäischen Bildungsminister). 5 | Auswahl an Weiterbildungsveranstaltungen: (1998, Remembrance and Citizenship: From Places to Projects); Moskau (1998, Teaching about the Holocaust in Russia in the 21st Century); Vilnius (2000, Teaching the Holocaust); Donaueschingen (2000, Teaching about the Holocaust and the History of Genocide in the 21st Century); Straßburg (2002, Teaching the Shoah and Artistic Creation); Bukarest (2003, Remebering the Past and Preventing Crimes Against Humanity); Jerusalem (2003, Our Memory of the Past and for the Future); Zagreb (2004, Seminar: Day of Remembrance of the Holocaust and for the Prevention of Crimes against Humanity); Brüssel (2004, History and remembrance: Education for the Prevention of
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Die Berichte über die jeweiligen Ergebnisse sind gleichfalls maßgeblich, um Teaching remembrance zu verstehen. Zudem entstanden im Umfeld von Teaching remembrance in unregelmäßigen Abständen Handreichungen für die Holocaust Education6. Eine Überblicksdarstellung zum sechzigjährigen Bestehen des Europarates 2009 (Petaux 2009) rundet die Auswahl an semi-institutionellen Publikationen ab. Im Gegensatz zu anderen bildungspolitischen Programmen des Europarates machte Teaching remembrance bislang keine Projektberichte oder Evaluationen der Öffentlichkeit zugänglich. Die Berichte der Ministerseminare und der pädagogischen Weiterbildungsseminare und die Handreichungen widerspiegeln die Ansichten von zahlreichen Autorinnen und Autoren, die sowohl dem Europarat als auch mitgliedstaatlichen Behörden angehören oder zivilgesellschaftlich und akademisch tätig sind. Der Europarat hält zu Beginn jeder dieser Publikationen ausdrücklich fest, dass sich nicht alle geäußerten Ansichten mit seinen institutionellen Standpunkten decken müssen. Das verringert aber nicht deren Stellenwert, geht es doch um die Holocausterinnerungspolitik im Europarat, indem alle darin involvierten Akteurinnen und Akteure miteinbezogen werden. Zudem darf angenommen werden, dass Veröffentlichungen im hauseigenen Verlag den Positionen des Europarates nicht grundlegend widersprechen. Einem anderen Genre gehören schließlich die im Foyer des Europaratshauptgebäudes in Straßburg gezeigten, mit dem Holocaust befassten Ausstellungen dreier Mitglieds- beziehungsweise Beobachterländer (Spa-
Crimes against Humanity); Budapest (2004, Teaching remembrance: Education for the prevention of Crimes against Humanity); Bratislava (2006, Training Workshop for Educators Regarding the Theme of Teaching the Holocaust); Paris (2010, Histoire de la Shoah et des génocides du XXe siècle). Ein für 2003 in Antwerpen geplantes Seminar wurde nicht abgehalten (vgl. Gespräch Budd Caplan 2009). 6 | The Holocaust in the school curriculum. A European perspective (Short 1998; Supple 1998); Teaching about he Holocaust in the 21st century (Lecomte 2001); The Shoah on screen. Representing crimes against humanity (Baron 2006); European pack for visiting Auschwitz-Birkenau Memorial and Museum (u.a. Regard 2010a) und das nur auf Französisch vorliegende Le témoignage du survivant en classe (Regard o.J.).
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nien, Albanien7, Israel8) an. Die Ausstellungen erreichen damit vor allem die Teilöffentlichkeit der Europaratsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung, Diplomatinnen und Diplomaten sowie Besucherinnen und Besucher. Die temporäre Präsenz des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden in Form einprägsamer Fotografien und Texte, vermag eine Schneise in die rege Betriebsamkeit des Hauptquartiers einer internationalen Organisation zu schlagen, macht aber gleichzeitig deutlich, dass die Holocausterinnerung und der politische und administrative Alltag nebeneinander existieren. Die von den Ausstellungsverantwortlichen edierten Kataloge bilden im Folgenden einen weiteren Untersuchungstext. Zunächst werde ich anhand einer Gesamtschau zur Holocausterinnerungspolitik im Europarat einige zentrale Prinzipien herausfiltern. Der Holocaust ist eines der »Hauptereignis[se] der Menschheitsgeschichte« (DG IV, 2001b: 4; Übers. E.K.), das trotz seiner bisherigen Singularität Aufschluss über die menschliche Bereitschaft zu Verfolgung und Massenmord gibt (Supple 1998: 48). Weil der Holocaust die menschliche Existenz in ihren Grundfesten berührt, sollen junge Menschen ein Bewusstsein für die »Ereignisse, die einen Schatten über die europäische und die Weltgeschichte werfen, [entwickeln] und die Einzigartigkeit des Holocaust als ersten vorsätzlichen Versuch ein Volk weltweit auszurotten, anerkennen« (Clerc/Reich 2002; Übers. E.K.). An vorderster Stelle steht dabei Holocaust Education im schulischen Kontext. Das Lernen über den und nach 7 | Die spanische Ausstellung Visados para la libertad/Visas for freedom (Ministerio/Casa 2008) und die albanische Schau BESA: A Code of Honor – Muslim Albanians Who Rescued Jews During the Holocaust (Gershman 2008; in Straßburg 2009 gezeigt) setzten sich beide mit Gerechten unter den Völkern in den jeweiligen Ländern auseinander. 8 | Die von der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem konzipierte Wanderausstellung Auschwitz – The Depth of the Abyss war im Jahre 2008 auch beim Europarat zu sehen. Die Schau, die zentrale Fotografien und Exponate aus der Sammlung von Yad Vashem zeigt und ursprünglich für die Markierung des 60. Jahrestages der Auschwitzbefreiung im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York entworfen worden war, machte auch im Europäischen Parlament in Straßburg und bei der UNESCO in Paris Station (vgl. Gespräche Budd Caplan 2009; Roos 2009). Allerdings wurde kein entsprechender Ausstellungskatalog veröffentlicht, weshalb Auschwitz – The Depth of the Abyss für eine genauere Untersuchung ausschied.
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dem Holocaust erschöpft sich weder in inhaltslosem Gedenken noch in purem Faktenlernen. Ein reflexiver Zugang soll Jugendliche für künftige Genozidprävention handlungsfähig machen. Charakteristisch für zahlreiche, nicht ausschließlich auf den Holocaust bezogene, Europaratspublikationen ist, dass eine demokratische Citizenship postuliert wird, aufgrund derer Menschen in ihrem Nahbereich zu einer besseren Gesellschaft beitragen. Individuen sollen sich fragen, wie sie die Welt aus ihrer »bescheidenen Position als normale Bürger oder Jugendliche« verändern könnten (Regard 2010l: 201; Übers. E.K.). Ein Unterschied (making a difference) werde erreicht, indem Interesse und Neugierde für andere Teile der Welt geweckt werden, indem die Vergangenheit mit der gegenwärtigen Realität verbunden wird und indem Gleichgültigkeit verweigert und alle in ihrer jeweiligen Rolle akzeptiert werden (ebd.: 204). Die Erinnerungspädagogik im Europarat setzt sich intensiv mit den Opfern und ihren Lebenswelten auseinander, insbesondere vor der nationalsozialistischen Massenvernichtung. Unausgesprochen bleibt, dass der Konsens die Leitlinie der Holocausterinnerungspolitik im Europarat bildet. Obwohl der Europarat die Reflexion und plurale Standpunkte fördert, beziehen sich die untersuchten Texte weder auf die Konflikthaftigkeit von Erinnerungspolitik noch auf den Konflikt als mögliche Lernressource im Bereich der politischen Bildung. Als Dachprinzip fungiert die Anerkennung des Holocaust als Teil der europäischen Geschichte. Die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bilden einerseits einen Bruch mit der Welt davor und leiten wiederum eine Zäsur ein, auf die – so die Quellen – die europäische Integration mit der Europaratsgründung folgt. Andererseits, wenn auch in den Dokumenten quantitativ geringer ausgewiesen, ist der Holocaust ein Teil der menschlichen Erfahrungswelt der Moderne. Daraus folgen die Pflicht und die Kompetenz des Europarates zur Holocausterinnerungspolitik. In Eigendarstellungen betonen (ehemalige) Vertreterinnen und Vertreter des Europarates die Pflicht zur und Bedeutung der Straßburger Organisation für die Holocausterinnerung. Walter Schwimmer bezeichnete die Gründung des Europarates »als Antwort auf die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges, mit dem Blick auf das Erreichen europäischer Einheit« (Schwimmer 2002a: 13; Übers. E.K.). Der Holocaust sei nicht über nationalgeschichtliche Zugänge zu erfassen, »sondern eher als Periode, die zu fast jedem Land in Europa und zu einem großen Teil der Welt gehört« (ebd.: 15). Fabienne Regard, Beraterin von Teaching remembrance, begreift den Nationalsozialismus mit seiner Eroberungs- und Besatzungspolitik als
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gleichsam erstes, wenn auch absolut negatives europäisches Projekt. »Das politische Europa in den Nachkriegsjahren wurde auf den Trümmern dieser Tragödie aufgebaut.« (Regard 2010f: 12; Übers. E.K.) Wenn der Holocaust unauflöslich mit der europäischen Geschichte verbunden ist, so stellt er positive und euphorische Bezugnahmen auf das sogenannte europäische Erbe fundamental in Frage. Laut Gabriele Mazza, Leiter des Bereiches schulische, außerschulische und höhere Bildung in der DG IV, wurden das »Europa der Aufklärung und die Ideale Toleranz, Freiheit und Gleichheit […] ein Leichenhaus. […] Die glänzenden Namen von Wien, Paris, Dresden, Prag oder Sankt Petersburg verschwanden am Horizont; einige wurden sogar physisch von der Landkarte gelöscht. Dieses barbarische Europa hatte seine Hauptstadt: Auschwitz.« (Mazza 2007a: 24; Übers. E.K.) Bereits ältere Publikationen aus dem Bereich Teaching remembrance unterstreichen, wenn auch weniger prominent, »dass der Holocaust ein Produkt der westlichen Kultur war und in unserer Zeit stattfand« (Supple 1998: 39; Übers. E.K.). Auch die pädagogische Handreichung Teaching about the Holocaust in the 21st century warnt davor mit Attributen wie unsagbar, unbegreiflich und unvorstellbar den Holocaust aus der Realität, in der er stattfand, zu verbannen (Lecomte 2001: 50, 51). Die Judenvernichtung sei »ein instruktives Beispiel dafür, wie eine der entwickeltsten Gesellschaften und eines der kultiviertesten Völker, einmal im Besitz totalitärer Macht, auf krude vereinfachten pseudowissenschaftlichen Prinzipien beruhend, wagen konnte das Undenkbare zu tun« (ebd.: 36; Übers. E.K.). Im Online-Auftritt von Teaching remembrance heißt es: »In Reaktion auf den Zusammenbruch der Zivilisation, der durch die Barbarei der Nazis verursacht wurde, hat der Europarat die ›Bewahrung der menschlichen Gesellschaft und Zivilisation‹ ausgerufen.« (Teaching remembrance o.J.a) Die Quelle unterstreicht plakativ die historische und gegenwärtige Rolle des Europarates, um totalitäre Ideologien und – damit einhergehend – Intoleranz, Separierung, Exklusion, Hass und Diskriminierung zu bekämpfen. Jean Petaux, der im Herbst 2009 als externer Autor einen Überblick über sechs Jahrzehnte Democracy and human rights for Europe. The Council of Europe’s contribution im Verlag der Straßburger Institution herausbrachte, hebt hervor, dass es in erster Linie wichtig ist, an die nationalsozialistische Judenvernichtung sowie an den Genozid an Armenierinnen und Armeniern, an den Mord von Srebrenica, an das Bombardement von Guernica und an die ehemaligen sowjetischen Zwangsarbeiterlager von
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Magadan zu erinnern (vgl. Petaux 2009: 317). So bestimmte die 2003 in Bukarest abgehaltene Tagung Remembering the past and preventing crimes against humanity den Holocaust als untrennbaren Teil rumänischer und europäischer Identität (Manea 2003: 6). Dementsprechend soll Erinnerungspädagogik die Konsequenzen des Holocaust für die europäische Geschichte berücksichtigen (ebd.: 9) und in die Bildung junger Menschen, den »künftigen Bürgern des vereinten Europas« (ebd.: 11; Übers. E.K.) investieren. Nur wenige Quellen beschwören dabei pathetisch die europäische Einheit – so geschehen im Abschlusstext zu einem Weiterbildungsseminar in Vilnius 2000, der Formulierungen wie »unserem Ideal«, »unserer Mission«, »unserem Traum«, »wir als echte Agenten der Veränderung« und »wir glauben an uns und an die Zukunft Europas« enthält (CoE 2003: 41; Übers. E.K.). Die besprochenen Textausschnitte zeigen, dass der Holocaust als Teil europäischer Geschichte verstanden und als solcher benannt, also nicht etwa hinter allgemeineren Wendungen wie Zweiter Weltkrieg oder Nationalsozialismus versteckt wird. Problematisch an dieser europäischen Vereinnahmung ist jedoch, dass sie nicht zwischen konkreten Täter-, Mitläufer-, und Kollaborationsgesellschaften sowie vor allem zwischen mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern mit Millionen auch nichtjüdischen Opfern differenziert. Die Rede von Barbarei und Zivilisation ist nur dann sinnvoll, wenn die Barbarei als der Zivilisation inhärent verstanden wird. Das Jahr 1945 und der darauf folgende europäische Integrationsprozess, an dessen Anfang die Gründung des Europarates stand, waren faktisch ein Bruch. Diese Zäsur bedeutet jedoch nicht, dass ein Verbrechen wie die nationalsozialistische Judenvernichtung nicht wieder verübt werden und die barbarische Seite der Zivilisation erneut aufbrechen kann. In seinem eigenen Wirkungsradius begegnet der Europarat dieser Tatsache, indem er sich für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie, die vor allem an die heranwachsende Generation vermittelt werden sollen, einsetzt. Das darf nicht davon ablenken, dass zur Vernichtung aufrufender Antisemitismus und Verbrechen gegen die Menschlichkeit globale Phänomene sind. Zentral für die Holocausterinnerungspolitik im Europarat ist (was auch institutionell bedingt ist), dass sie die Erinnerungsthematik mit schulischer Bildung verknüpft. Dies zeigt sich deutlich an der pädagogischen und nicht kommemorativen Orientierung des Day of Remembrance und daran, dass zahlreiche von Teaching remembrance und der DG IV edier-
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te Veröffentlichungen als Leitfaden dienen. Die Betonung liegt auf dem Attribut schulisch, da die vorgeschlagenen Zugänge darauf setzen, die Holocaust Education in den schulischen Rahmen einzubinden, wobei sie darauf achten, sich vom Regelunterricht abzugrenzen und deshalb bewusst nicht das Schulgebäude nutzen. Die untersuchten Quellen differenzieren dabei nicht die verschiedenen Schultraditionen im Europaratsraum. Andere Formen von Bildung – freiwillig gewählte Angebote außerhalb der Schule oder lebenslanges Lernen – werden nicht erwähnt. Laut Eigendarstellung beinhaltet der methodische Ansatz von Teaching remembrance die drei Dimensionen Kognition (Fakten über den Holocaust), Analyse (Lernen und Nachvollziehen der Ursachen) und Kontext (Krisen, Sündenbocksuche, Gewalt und Gefährdung des Rechtsstaates). Letzterer Zugang soll erreichen, dass die gelernten Muster es erleichtern, künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erkennen und zu verhindern. Dies soll ferner damit einhergehen, dass Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisiert werden, Widerstand gegen Unterdrückung zu leisten. Nach Altersstufen gestaffelt sollen Fünf- bis Zehnjährige einen humanistisch demokratischen Unterricht erfahren. Über Zehnjährige werden mit Oral-History-Zeugnissen und über Fünfzehnjährige mit den historisch-politischen Hintergründen des Nationalsozialismus konfrontiert (Teaching remembrance o.J.c.). Eine zentrale Herausforderung ist es, die am Lernprozess Beteiligten in ihrer jeweiligen Erfahrungswelt abzuholen. Besonderes Augenmerk verdienen die Selbstreflexion der Lehrenden in Bezug auf den persönlichen, nationalen und historischen Kontext sowie auf Antisemitismus (CoE 2003: 14ff.) und die (fehlende) Motivation der Schulpartnerinnen und -partner (Schülerinnen und Schüler, Eltern, Kollegium und Schulleitung) (ebd.: 31). Peter Niedermair konstatiert, dass trotz der Holocaust Education Wissenslücken bestehen blieben, während die Lernenden sich zugleich überfüttert fühlten und sogar Abwehrmechanismen ausbildeten (Niedermair 2005: 69). Die Maxime einer an den Schülerinnen und Schülern ausgerichteten Erinnerungspädagogik berührt die Einzigartigkeit des Holocaust, wobei gleichzeitig andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie gegenwärtiger Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie nicht übersehen werden dürfen (Britz 2004: 6). Bedeutend sei es, das Alltagsleben der Holocaustopfer vor dem Nationalsozialismus mit dem Alltagsleben heutiger Schülerinnen und Schüler zu verbinden, um Empathie zu erzeugen und klare Standpunkte bei den Lernenden zu entwickeln (ebd.: 13).
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Es sei Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer Interesse bei den jungen Menschen zu wecken und Gleichgültigkeit »um jeden Preis zu bekämpfen« (ebd.: 13; Übers. E.K.). In Migrationsgesellschaften kann der Holocaust als Ausgangspunkt dienen, um andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusprechen und das Interesse von Schulkindern außereuropäischer Herkunft zu wecken (Budd Caplan 2005: 17). Anders als die institutionelle Separierung von Holocausterinnerungspolitik und Antisemitismus- wie Rassismusbekämpfung im Europarat vermuten lässt, verbinden mehrere der untersuchten Quellen diese beiden Tätigkeitsfelder. Carrie Supple hält es für ein wichtiges pädagogischen Anliegen, dass stereotype Bilder des Juden oder des Jüdischen revidiert werden. Besonders dort, wo junge Menschen keinen persönlichen Kontakt zu Jüdinnen und Juden hätten, müsse den in der westlich-christlichen Kultur tiefsitzenden Klischees über und Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden gekontert werden, wobei gleiches auch für Lernende aus muslimischen oder außereuropäischen Gesellschaften gelte. Konsequenterweise soll der Unterricht Jüdinnen und Juden als individuelle Menschen und nicht als namenlos-abstrakte Kategorie darstellen und den Gebrauch nazistischer Terminologie (Judenproblem, Endlösung oder im Zusammenhang von NS-Medizinverbrechen lebensunwertes Leben) hinterfragen. Fortbildungsprogramme sind laut Supple verpflichtet, die Lehrenden beim Spagat zu unterstützen, einerseits den Antisemitismus unzweideutig zu verdammen und andererseits offene Debatten im Klassenzimmer zuzulassen. Es wäre daher sinnvoller aufzuzeigen, wie Stereotypen entstehen und tradiert werden, als lediglich simple Sprechverbote zu erlassen (Supple 1998: 20ff.). Einzukalkulieren und zu bearbeiten seien Reaktionen der Lernenden, die von Paralysierung über Gewaltfaszination bis hin zur Leugnung reichen können (ebd.: 35ff.). Andere Opfergruppen des Nationalsozialismus – Supple nennt Romnia und Roma, Homosexuelle und behinderte Menschen – sollen ebenso aufgrund individueller Verfolgungserfahrungen und einer andauernden Diskriminierung nach dem Holocaust im Unterricht behandelt werden (ebd.: 30ff.). Das bedeutet auch, dass die Lehrperson die Klassen sensibel für spontan aufbrechende Gleichsetzungen (wie beispielsweise mit den Kriegserfahrungen am Balkan in den 1990er Jahren) oder Opfer-Täter-Umkehrungen (die Frage, ob im Nahostkonflikt das Opfer nun der Unterdrücker sei) macht (Koren 2004: 16). Die Quellen legen vergleichsweise viel Gewicht auf authentische Zeitzeugenberichte und Orte, wobei diese während der Jahrzehnte nach dem
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Holocaust vielfach ergänzt, unterschlagen oder verfälscht wurden. Auch künstlerische Annäherungen sollen Lernende in einer Form berühren, die diskursive historische und politische Bildung nicht leisten kann. Der Bericht zu einem Weiterbildungsseminar in Vilnius 2000 nennt als Einschränkungen für Holocaust Education in den diversen Europaratsstaaten unter anderem fehlende Originalschauplätze, ein Mangel an Museen sowie ungeeignete Lehrbücher und Übersetzungen, aber auch den Umgang mit Emotionen, insbesondere Schuldgefühlen und begrenzte Unterrichtszeit (CoE 2003: 33-35). Laut Jean-Michel Lecomte sollen beim multidisziplinären Lernen über den Holocaust Augenzeuginnen und Augenzeugen, Gedenkstättenbesuche, Literatur, Filme und Werke bildender Kunst ebenso eingesetzt werden wie bei den Schülerinnen und Schülern der Sinn für Quellenkritik zu schärfen sei (Lecomte 2001: 54ff.). Es sei jedenfalls notwendig, die Informationen über den Holocaust sorgfältig zu dosieren, wobei besonders bei Bildmaterial Vorsicht geboten ist (Budd Caplan 2005: 19-34). In The Shoah on screen. Representing crimes against humanity erörtert Anne-Marie Baron, wie cineastische Werke an Schulen eingesetzt werden können, um gemeinsam über unterschiedliche Fragen nachzudenken: wie werden die Verbrechen repräsentiert? Was sind notwendige und was sind unzugängliche Schlüsselbilder? Was sind die innewohnenden Narrationen und Inszenierungen von Dokumentationen und Spielfilmen? Inwiefern gestalten sich Holocaustkomödien problematisch? Wie unterscheiden sich Farb- von Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Baron geht davon aus, dass man sich mit Holocaustfilmen im Unterricht nicht nur geschichtlich, sondern auch ästhetisch auseinandersetzen muss (Baron 2006: 18). Mit Zeitzeugengesprächen verbindet sich die Erwartung, dass sie die Zuhörerschaft unmittelbar, authentisch und emotional mit dem Holocaust konfrontieren. Erinnerungspädagogische Bemühungen sind davon betroffen, dass die Generation der Überlebenden ablebt. Simone Veil verdeutlicht anhand ihrer eigenen Biografie das Schweigen und Nichtgehörtwerden nach der Rückkehr aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern, während heute Zeitzeugenaussagen als wertvoller Bestandteil der Holocaust Education gelten (Veil 2002: 34). Ein mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen arbeitender erinnerungspädagogischer Ansatz gibt den Opfern ein menschliches Antlitz und dem Lernen über den Holocaust ein vergleichsweise hohes Maß an Authentizität. Teaching remembrance legt Lehrenden nahe, das gesamte Leben der Zeitzeugin oder des Zeitzeugen zu beleuchten, da bei ausschließlicher Fokussierung auf die Holocaust-
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erfahrung unwillentlich die durch die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten versuchte Entmenschlichung der Opfer reproduziert würde (Regard o.J.: 7). Das persönliche Zusammentreffen von Überlebenden und Schülerinnen und Schülern sei als politischer Akt gegen die Leugnung und Verharmlosung des Holocaust zu werten (ebd.: 30). Zudem seien Pädagoginnen und Pädagogen angehalten, das Spannungsfeld zwischen individueller Leidenserfahrung und Forschungsergebnissen zum Holocaust in der Vor- und Nachbereitung anzusprechen (ebd.: 24). Die erinnerungspädagogischen Vorschläge im Europarat zielen darauf, aus der Vergangenheit zukunftsorientiert zu lernen, wobei die hohen Erwartungen an die Holocaust Education als Präventionsinstrumentarium differenziert bewertet und betrachtet werden. In ihren abschließenden Worten zum Ministerseminar in Prag und Theresienstadt 2006 hofft Petra Buzková, die damalige tschechische Bildungsministerin, dass erinnerungspolitische Aktivitäten »moralisches Gewissen und einen Sinn von europäischer Citizenship fördern würden, die für immer gegen eine Wiederholung solchen Verhaltens in welcher Form auch immer absichern würden« (Buzková 2007b: 121; Übers. E.K.). Auch Walter Schwimmer argumentiert, dass eine Hoffnung damit verbunden sei, kommende Generationen zur Erinnerung zu verpflichten, auf historischer Wahrheit zu beharren und im Sinne demokratischer Citizenship wachsam zu bleiben: »Die Hingabe [sacrifice] all dieser Opfer [victims] muss zu einer besseren Welt führen.« (Schwimmer 2004: 6; Übers. E.K.) In einer Rede vor französischen Schülerinnen und Schülern führt er weiter aus: »Als junge Menschen müsst ihr verstehen, dass ihr eines Tages für Frieden in der Welt verantwortlich sein werdet und dass die Hingabe all dieser Opfer von Diskriminierung nicht vergeblich gewesen sein muss.« (DG IV 2004; Übers. E.K.) Teaching remembrance sieht dabei die Schule ohne nähere Begründung als idealen Ort für Demokratiebildung und Präventionsarbeit, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern (Clerc/Reich 2002). Wirksame Holocaust Education muss jedoch die schulische Umwelt selbst reflektieren. Für Carrie Supple beginnt das Unterrichten damit, mit dem Holocaust in einer Lernumgebung zu intervenieren, in der Kinder und Jugendliche von ihren Schulkolleginnen oder Schulkollegen gemobbt oder rassistisch beschimpft werden (Supple 1998: 18). In einer noch kritischeren Perspektive soll nicht das gesamte Gewicht der Verantwortung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzubeugen, auf dem schulischen Bereich lagern. Menschenrechtserziehung beginne demnach in der Familie (Britz
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2004: 7). Fabienne Regard entgegnet Einwänden, denen zufolge der Holocaust als Ausgangspunkt für politische Bildung nichts anderes als eine Instrumentalisierung und Universalisierung der an Jüdinnen und Juden verübten Massenverbrechen bedeute. Das Erkennen struktureller Ähnlichkeiten und Unterschiede und damit verbundenen Aktualisierungen soll gerade in den von Diversität gekennzeichneten Klassenzimmern Interesse, Empathie und Verantwortungsbewusstsein erzeugen (Regard o.J.: 27). Im European pack for visiting Auschwitz-Birkenau Memorial and Museum ließen sich laut Regard Brücken in die Gegenwart schlagen, indem das in Auschwitz Erlernte dazu dient, sich über Werthaltungen, Machtfragen, Anderssein, Einwanderung, Stereotype über andere europäische Nationen und Unterschiede zwischen demokratischen und autoritären Regimen zu verständigen (Regard 2010l). Die Prämisse von Teaching remembrance und den in seinem Umfeld entstandenen Quellen lautet, dass die reflektierte Auseinandersetzung mit dem Holocaust künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern könne. Zur Diskussion steht also nicht das Wozu, sondern ausschließlich das Wie der zu treffenden pädagogischen Maßnahmen. Das Faktenlernen steht in Einklang mit dem aktuellen Forschungsstand altersgerecht vermittelten Wissens über historische Zusammenhänge, Ideologien und Strukturen, das im Unterricht diskursiv bearbeitet wird. Lehrende sollen ihr eigenes Denken, darunter beispielsweise antisemitische Einstellungen, reflektieren, ehe sie die Lernenden in ihren Erfahrungswelten abholen und inakzeptable, weil den Holocaust leugnende Aussagen mit klaren Standpunkten kontern. Weil nicht jede und jeder mit dieser Methode ansprechbar ist, kommen Emotionalität, Authentizität und künstlerische Zugänge als weitere Prinzipien hinzu. Diese erfordern zusätzliche pädagogische Qualifikationen und ein projektorientiertes, nicht in knappe Unterrichtseinheiten gegliedertes Lernen. Auffallend ist die beinahe komplett fehlende Reflexion zum Lernort Schule mit seinen vielen Zwängen (Schulpflicht, Fächerkanon, Anwesenheit, Notengebung, Klassenverband, Lehrer-Schüler-Hierarchie) und daraus resultierenden Gruppendynamiken. Allenfalls erklärt sich die exklusive Fokussierung auf die Schule, weil derart ganze Alterskohorten am besten erreicht werden. Die mit Teaching remembrance verbundene Erziehung zu demokratischer Citizenship wirft die Frage auf, ob dieser Ansatz angesichts heutiger Manifestationen von Antisemitismus, Rassismus, Holocaustleugnung und Neonazismus nicht resigniert und die Verantwortung auf kommende Generationen abschiebt. Auch die Tatsache,
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dass postnazistische Kontinuitäten oder autoritäre Erziehungsmuster von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich wirken, schneiden die erinnerungspädagogischen Materialien im Europarat bestenfalls peripher an, kennzeichnen sie aber nicht als reflexionswürdiges Problem. Die gegenwärtige Bekämpfung der angeführten Phänomene wäre glaubhafter, würde Teaching remembrance stärker Erwachsene ansprechen. Es befremdet schließlich, dass die Hingabe der Opfer, in Wahrheit deren sinnlose Vernichtung, irgendeinen Sinn für heutige Präventionsarbeit haben soll. Alle konsultierten Texte aus dem Umfeld des Europarates unterstreichen, dass es notwendig ist, an die Opfer des Holocaust zu erinnern. Mit den häufigen Verweisen auf die Opfer korrespondieren die zahlreichen Definitionen von Holocaustopfern oder genereller Opfer des Nationalsozialismus. Der einzige gemeinsame Nenner ist, dass Jüdinnen und Juden inkludiert werden. Relativ wenige Staaten reklamieren für sich beziehungsweise für alle ihre Bürgerinnen und Bürger zur Zeit des Nationalsozialismus einen Opferstatus. Dafür sind Ansätze zu erkennen, die die Begrifflichkeiten auf außernationalsozialistische Verbrechen ausweiten. Die weitgespannten Pole an Opferdefinitionen reichen von Hava Baruch bis zu Jean-Michel Lecomte. Es überrascht wenig, dass Baruch, Mitarbeiterin von Yad Vashem, ausschließlich die nationalsozialistische Vernichtung der Jüdinnen und Juden als Holocaust bezeichnet (Baruch 2004: 74ff.). Lecomte dagegen zählt zu den Holocaustopfern Jüdinnen und Juden, Romnia und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung, politische und religiöse Gegnerinnen und Gegner einschließlich der Zeuginnen und Zeugen Jehovas, den Adel und die Intelligenzija Polens, russische und serbische Zivilistinnen und Zivilisten, die Bewohnerinnen und Bewohner diverser Dörfer in verschiedenen Teilen Europas und sowjetische Kriegsgefangene (Lecomte 2001: 12). An anderer Stelle fügt er unter Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer auch spanische Republikanerinnen und Republikaner hinzu (ebd.: 110). In einem später erschienenen Beitrag relativiert Lecomte, dass die jüdischen und die Roma-Opfer niemanden bekämpften, nicht aufgrund ihrer tatsächlichen Handlungen, ihrer politischen Opposition, ihrer Meinungen oder ihrer religiösen Überzeugungen, sondern aufgrund ihrer jüdischen oder Roma-Herkunft zur Gänze getötet werden sollten. Diesen genozidalen Charakter, so Lecomtes Terminologie, hätten auch nationalsozialistische Verbrechen an Behinderten, Homosexuellen, sowjetischen Kriegsgefangenen und polnischen Eliten gehabt (Lecomte 2004: 15ff.). Ähnlich unpräzise und nicht der inter-
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nationalen Rechtssprechung folgend ist die von Teaching remembrance vorgebrachte Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darunter fielen Mord, Vernichtung, Versklavung, Deportation und jeder andere verbrecherische Akt gegen die Zivilbevölkerung sowie Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen (Clerc/Reich 2002). Die unterschiedlichen begrifflichen Eingrenzungen, die oft sehr inklusiv ausfallen, riefen jedoch keine in den Quellen abgebildeten Widerrufe oder Kontroversen hervor. Gleichfalls konflikthaft, zumindest potentiell, ist ein Opferstatus der durch die Europaratsstaaten reklamiert wird. Die bisher abgehaltenen Ministerseminare dienten den Länderdelegierten jedoch in erster Linie dazu, ihre Leistungsbilanz zu nationalen Anstrengungen im Bereich der Holocaust Education zu präsentieren, was zumindest ein oberflächliches Bekenntnis darstellt, verantwortlich mit der Holocausterinnerungspolitik umzugehen. Die Quellen beinhalten nur wenige Beispiele, in denen mitgliedstaatliche Repräsentantinnen und Repräsentanten ihre Länder und Gesellschaften als den Holocaustopfern ebenbürtige Opfer oder als frei von jeglichem Antisemitismus wähnen. Der griechische Beitrag auf dem Straßburger Ministerseminar 2000 beginnt folgendermaßen: »Während seiner langen Geschichte hat das griechische Volk wie viele andere Völker wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bitter gelitten.« (Greece 2002: 98; Übers. E.K.) Bezugnehmend auf die nationalsozialistischen Deportationen heißt es weiter, dass griechische Christinnen und Christen, nachdem sie jahrhundertelang freundschaftlich mit ihren jüdischen Nachbarn zusammen gelebt haben, über die an letzteren verübten Grausamkeiten schockiert waren und sie unter Lebensgefahr zu schützen versuchten (ebd.). Das von der griechischen Delegation prominent artikulierte Leid der eigenen Nation findet sich im ungarischen Beitrag – wenn auch vorsichtiger formuliert – wieder. Der Holocaust »betraf nicht nur eine halbe Million ungarischer Jüdinnen und Juden, die in den Konzentrationslagern umkamen, sondern alle zehn Millionen Menschen des Landes, die genug Glück hatten, um den Holocaust zu überleben« (Hungary 2002: 84; Übers. E.K.). Die Delegation Georgiens, das freilich nicht nationalsozialistisch besetzt war, greift den Topos des friedlichen Miteinanders auf. »Georgien ist stolz darauf das toleranteste oder eines der tolerantesten Länder, speziell gegenüber Juden, zu sein.« (Georgia 2002: 111; Übers. E.K.) Historisch nicht zu Unrecht, aber nationalistisch verbrämt, trägt Polen den Vorwurf vor, dass die polnische Gesellschaft fälschlicherweise als Täter-
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nation wahrgenommen werde, weil man sich auf die auf polnischem Territorium befindlichen Konzentrations- und Vernichtungslager konzentriere. Die polnische Delegation betrauert den »unwiederbringlichen Verlust, den der Holocaust über die polnische Gesellschaft durch das Auslöschen von drei Millionen polnischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischer Herkunft und großer Teile ihres kulturellen Erbes brachte« (Poland 2007: 171; Übers. E.K.), um wenige Absätze später einzufordern, dass man die Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg historisch präzise darlege. »Der gedankenlose oder absichtliche Gebrauch des Begriffes ›polnische Todeslager‹ ist doppelzüngig, beleidigend und schändlich. Er verwischt nicht nur die historische Wahrheit über die Täterinnen und Täter der Verbrechen, sondern verleumdet auch die polnische Nation, die das erste Opfer der verbrecherischen Handlungen Nazideutschlands war.« (Ebd.: 172; Übers. E.K.) In einer Teaching-remembrance-Publikation zu Klassenfahrten in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau verweist Teresa Świebocka auf den hohen Symbolgehalt des Konzentrations- und Vernichtungslagers für das »polnische Nationalbewusstsein« (Świebocka 2010a: 17; Übers. E.K.) und beklagt, dass dies im Westen vielfach als Geschichtsfälschung, Anmaßung der jüdischen Opferrolle, Christianisierung und als Folge kommunistischer Propaganda aufgefasst würde (ebd.). Daran anknüpfend entwirft Mirosław Obstarczyk ein detailliertes Programm für den Besuch der Stadt Krakau, das er mit folgenden Worten schließt: »Ein Aufenthalt dort hilft jungen Menschen über das Land und das tragische Schicksal seiner Bewohner in den letzten 200 Jahren zu lernen und erlaubt ihnen die polnische Nation besser zu verstehen.« (Obstarczyk 2010b: 47; Übers. E.K.) Punktuell führen die untersuchten Texte weg vom Holocaust auf außernationalsozialistische Verbrechen. Möglicherweise werden künftige Publikationen aus dem Umfeld des Europarates diesem allgemeinen erinnerungspolitischen Trend stärker folgen. Walter Schwimmer, der die Einzigartigkeit des Holocaust betont, spricht vom »Jahrhundert der Genozide« (Schwimmer 2004: 5; Übers. E.K.) und erinnert auch an Massenverbrechen vor dem 20. Jahrhundert sowie außerhalb Europas. Auf dem Ministerseminar in Krakau und Auschwitz-Birkenau 2005 fand ein Gespräch zwischen dem Holocaustüberlebenden Elie Wiesel und einem ruandischen Professor über den Genozid in Ruanda statt, wobei im entsprechenden Bericht bemerkenswerterweise der Name von Wiesels Dialogpartner anonym bleibt (Wiesel 2007: 105). Im Kontext dieses Ministerseminars suchte die bosnisch-herzegowinische Abordnung anhand von
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Srebrenica, das in einer streitbaren Definition als Genozid bezeichnet wird, aufzuzeigen, dass die Holocausterinnerung aktuell ist (Bosnia and Herzegovina 2007: 157). In seiner Rede zum Ministerseminar in Prag und Theresienstadt 2006 warnte der ehemalige tschechoslowakische Dissident und tschechische Präsident Václav Havel vor neofaschistischen Tendenzen und davor, den Holocaust aufgrund seiner Einbettung in die Moderne zu verkennen, wobei Havel von holocausts an Jüdinnen und Juden und an Armenierinnen und Armeniern und dem Archipel GULag spricht (Havel 2007: 87, 88). Es bleibt im gesamten Seminarbericht unwidersprochen, dass Havel vom Holocaust im Plural spricht. Die armenische Delegation zeigte sich auf derselben Veranstaltung davon enttäuscht, dass der Gedenktag zum Genozid an den Armenierinnen und Armeniern (24. April), der auf den Termin des Ministerseminars fiel, keine gebührende Aufmerksamkeit erfuhr. Die Erinnerung an das an Armenierinnen und Armeniern verübte Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei keine ausschließlich innerarmenische Angelegenheit, sondern eine internationale Pflicht (Armenia 2007: 173). Auch in diesem Kontext begründet der vielfach zitierte Lecomte die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, plädiert aber dafür, dass »wir uns nicht auf das Unterrichten über die Shoah beschränken« (Lecomte 2003a: 26), sondern die gesamte Periode zwischen 1914 und 1945 mit ihren geschätzten siebzig Millionen Toten und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit behandeln sollen. Lecomtes Liste enthält Verdun, den Genozid an den Armenierinnen und Armeniern, den GULag, Kambodscha, Ruanda, Ex-Jugoslawien, Osttimor und mit der Beifügung »wahrscheinlich« Tschetschenien (ebd.: 27). Dass die im Europarat (großteils) vorgebrachten Opfer-Begriffe inklusiv sind, kann sowohl von einem schwammigen als auch von einem pluralistischen Umgang zeugen. Die Definitionen, die viele Opfergruppen miteinbeziehen, gehen zu Lasten der historischen Genauigkeit. Letztere ist aber für eine informierte und reflektierte, nicht ausschließlich mit Schockbotschaften arbeitende Erinnerungspädagogik notwendig. Umgekehrt könnte der Grund für die – zumindest nach Außen sichtbare – Konfliktlosigkeit darin liegen, dass die Quellen laufend die Einzigartigkeit (korrekt wäre die Erstmaligkeit) der Judenvernichtung bekräftigen und gleichzeitig eine Reihe anderer NS-Opfer berücksichtigen. In diesem erinnerungspolitischen Gefüge stehen selbstkritische neben selbstviktimisierenden Länderstatements. Die Ausdehnung auf nichtnationalsozialistische Verbrechen ist in Ansätzen zu erkennen, was aber mit dem jeweiligen Entstehungszeitraum
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der Quellen zusammenhängt. Die Gefahr, die inklusiven Definitionen innewohnt, ist, dass sie gegen relativierende, aufrechnende oder Schuld umkehrende Ideologeme weniger gut gerüstet sind als sehr klare Eingrenzungen wie jene der ITF. Angesichts der Akteursvielfalt der Holocausterinnerungspolitik im Europarat wäre dies ein konflikthaftes Unterfangen, zumal Eigenpublikationen von Teaching remembrance immer wieder abweichende Definitionen vorbringen. Die NS-Vernichtungsideologie entmenschlichte die – insbesondere jüdischen – Opfer als anonyme Nummern in einer amorphen Masse. Um dieser Täterwahrnehmung entgegenzutreten, fordern die im Umfeld von Teaching remembrance produzierten Quellen sich der Kulturgüter und Lebenswelten der Opfer anzunähern. Die Alltagsbezüge zur Zeit vor und teilweise auch während des Holocaust sollen Opfer als Menschen darstellen, deren Leben durch die NS-Massenvernichtung zwar vollkommen zerstört wurden, deren Lebensrealität aber trotz allem auch für heutige Jugendliche begreifbar bleibt. Aber auch die Kulturgüter selbst sollen nicht vergessen werden. Auf der 2003 von Yad Vashem organisierten Teaching-remembranceTagung raten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der israelischen Holocaustgedenkstätte, dass die Kultur und das Alltagsleben der Vertriebenen und Ermordeten in der Holocaust Education anhand von Tagebüchern, Erinnerungen, Dokumentar- und Spielfilmen präsentiert werden soll (Budd Caplan 2005: 15). Naama Shik ergänzt, dass zu beleuchten sei, wie Jüdinnen und Juden in den meisten europäischen Gesellschaften während der Zwischenkriegszeit verankert waren (Shik 2005). Diese Vorgehensweise erfordert ein breites Wissen über die vielfältigen Lebenswelten von Jüdinnen und Juden vor und während der nationalsozialistischen Verfolgung. Ansonsten passiert, was Jean-Michel Lecomte in Teaching about the Holocaust in the 21st century unfreiwillig aufzeigt9 . Seine Ausführungen zur jüdischen Geschichte und zu jüdischen Identitäten vor dem Holocaust beendet er, indem er an die Kindheit eines Überlebenden im Shtetl erinnert, obwohl dies nur eine unter zahlreichen Lebenswirklichkeiten war (Lecomte 2001: 13-22). Am Beispiel des Warschauer Ghettos demonstriert Lecomte die religiöse, soziale und politische Pluralität der 9 | In der ITF gab es Kritik an Lecomtes Buch aufgrund inhaltlicher Unschärfen, Generalisierungen bei den Opfergruppen und Opfererfahrungen, unsachgemäßer Übersetzungen und Flüchtigkeitsfehlern (Gespräch Sigel 2009).
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dort eingesperrten Jüdinnen und Juden, die Rolle des Judenrates und die damit verbundene Schwierigkeit vor 1943 geschlossenen Widerstand zu organisieren. Lecomte greift den Suizid des Vorsitzenden des Judenrates, Adam Czerniaków, und die Deportation des Kinderarztes Janusz Korczak und der von ihm betreuten Waisenkinder nach Treblinka exemplarisch heraus. Bei Korczaks Kurzbiografie erwähnt er weder das menschenunwürdige Dasein im Ghetto noch die Tatsache, dass er und seine Waisen in Treblinka ermordet wurden. Die Realitäten eines Ghettos werden verstörenderweise völlig verkannt, wenn es in Bezug auf Korczak heißt: »Er war kein drohender Missionar, sondern genoss das Leben und verfügte über eine Dynamik, die aggressiv sein konnte. In jeder Hinsicht war er das Gegenteil von Adam Czerniaków, aber ihre jeweiligen Entscheidungen brachten sie zusammen und die beiden Männer respektierten und mochten sich schließlich.« (Ebd.; Übers. E.K.) Die 1996 von der Parlamentarischen Versammlung herausgegebene Empfehlung 1291(1996) zur Jiddischen Kultur soll im Nationalsozialismus beinahe gänzlich zerstörten immaterialen Kulturgütern und ihren Trägerinnen und Trägern sowie deren Nachkommen Schutz zukommen lassen. Während im Jahre 1939 rund acht Millionen Europäerinnen und Europäer Jiddisch sprachen, sind es sechs Jahrzehnte später weltweit nur mehr zwei Millionen, darunter hauptsächlich ältere Menschen. Das Jiddische »hat kaum den Holocaust des Zweiten Weltkrieges und die Viktimisierung durch den kommunistischen Totalitarismus überlebt« (PACE 1996b; Übers. E.K.). Maßnahmen wie etwa die Förderung jiddisch schreibender Autorinnen und Autoren oder Lehrstühle der Jiddistik sollen der Gefahr begegnen, dass diese Sprache endgültig verschwindet. Dabei sieht die Parlamentarische Versammlung eine besondere Verantwortung bei den deutschsprachigen Europaratsmitgliedern, die laut Empfehlungstext in der sprachlichen Nähe liegt (ebd.). Das Ministerkomitee bekräftigt in seiner Antwort die Pflicht, zu erinnern und während des Holocaust geraubte jüdische Güter zurückzuerstatten (CM 1997). Die Resolution 1205(1999) über geraubte jüdische Kulturgüter verleiht dieser Forderung zusätzlichen Ausdruck und bildete auch die Grundlage für das im Jahre 2000 abgehaltene Vilnius Forum. Aufbauend auf die Erinnerung an die vernichtete jiddische Kultur Osteuropas bringt die pädagogische Handreichung European pack for visiting Auschwitz-Birkenau Memorial and Museum den fragwürdigen Vorschlag, im Rahmen des zweitätigen Gedenkstättenbesuches unter dem Titel kulturelle Dimension »polnisches, jüdisches und nichtjüdisches
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Kochen« sowie »Klezmer und Zigeunermusik (Gypsy music) oder eine Tanzstunde mit Klezmermusik« (Regard 2010k; Übers. E.K.) einzuplanen. Zahlreiche Expertenbeiträge und Länderstatements am zweiten Ministerseminar in Krakau und Auschwitz-Birkenau 2005 widmen sich der Frage, wie mit dem jüdischen kulturellen Erbe als Moment der Holocaust Education umgegangen werden soll. Die rumänische Delegation schlägt beispielsweise vor, universitäre Lehr- und Forschungsinstitute zum Holocaust und zur rumänisch-jüdischen Geschichte einzurichten (Romania 2007b: 164). Ein anderer Aspekt betrifft die nationalsozialistische Pervertierung jüdischer Kulturgüter. Auf dem dritten Ministerseminar in Prag und Terezín 2006, das unter dem Titel Teaching Remembrance: Cultural Heritage Yesterday, Today and Tomorrow stand, strich die damals amtierende Generaldirektorin der DG IV, Gabriella Battaini-Dragoni, in ihrer Eröffnungsansprache hervor, dass Adolf Hitler sein nach der totalen physischen Vernichtung aller Jüdinnen und Juden zu erbauendes Jüdisches Museum in Prag als Gegenpart zur Führerstadt Linz zu errichten gedachte (BattainiDragoni 2007: 12). Es ist eine Gratwanderung, das Alltagsleben und die kulturelle Entfaltung von Jüdinnen und Juden begreifbar zu machen, ohne dabei in Verklärungen von falsch angenommener Shtetl-Romantik zu verfallen. Jüdische Menschen waren orthodox oder lehnten Religion ab, sie arbeiteten als Angestellte, engagierten sich in Gewerkschaften oder leiteten Unternehmen, lebten in kleinen Landgemeinden oder urbanen Arbeiterbezirken etc. Holocaust Education, die sich auf Lebenswelten und Kulturgüter beziehen will, muss diese Diversität vermitteln. Den Opfern wird Würde zurückgegeben, wenn sie als Menschen mit vielfältigen sozialen Lebensbezügen und nicht nur als Leichenberge und Zahlen erinnert werden. Dabei ist aber immer zu betonen, dass diese scheinbare Normalität schon vor dem Holocaust durch massiven Antisemitismus gefährdet war, ehe sie im Zweiten Weltkrieg völlig ausgelöscht wurde. Zudem entstanden jüdische Kulturgüter in Wechselwirkung mit und in Reaktion auf die Umgebungsgesellschaft. Sie sind also integraler Bestandteil derselben und kein von Außen kommender Beitrag. Da alle analysierten Quellen das Hauptgewicht auf die breit gefasste Gruppe der Opfer legen, bleiben Täter- und Mitläuferschaft sowie Kollaboration fast zwingend unterbelichtet. Dies geschieht einerseits, indem Täterinnen und Täter samt ihrer Herkunftsgesellschaften nur ungenau benannt werden. Andererseits mangelt es an einer Auseinandersetzung mit
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den ideologischen und sozialpsychologischen Grundlagen zu Täter- und Mitläufertum. Dies korrespondiert mit der geringen Aufmerksamkeit, die die Holocausterinnerungspolitik im Europarat juristisch relevanten Schuldfragen schenkt. Auf hochrangigem Level ist das Nürnberger Ministerseminar 2008 das einzige, das sich angesichts des Veranstaltungsortes auch mit Täterschaft – konkret mit den Reichsparteitagen, den Nürnberger Gesetzen von 1935 und den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen von 1946 – befasste (DG IV 2009b). Teaching about the Holocaust in the 21st century beschreibt minutiös wie Menschen in Konzentrationslagern lebten und starben, wie sie vergast und verbrannt wurden (Lecomte 2001: 66ff.). Aber auch hier stehen die technischen Details der Taten im Vordergrund, sodass der Bericht die Täter- und Mitläuferschaft sowie die Kollaboration nicht hinreichend behandelt. Namentlich erwähnt Lecomte Täter äußerst unterschiedlicher Ebenen. Er bringt drei ausführliche Zitate aus der Korrespondenz von Hans Heinrich Lammers an Martin Bormann, Adolf Eichmann und Reinhardt Heydrich und dem Protokoll der Wannseekonferenz im deutschen Original mit beigefügter englischer Übersetzung (ebd.: 62, 63). Das Kapitel zu den Einsatzgruppen und mobilen Tötungseinheiten enthält die Aussage eines deutschen Kommissars aus Minsk aus dem Jahr 1941, der sich über den unkontrollierten Charakter der Mordaktionen beklagt (ebd.: 65). Was hingegen fehlt, sind Informationen zu begeisterten oder gleichgültigen Mitläuferinnen und Mitläufern. Dieses in den Europaratspublikationen vernachlässigte Thema wirft lediglich das schwedische Länderstatement zum Prager Ministerseminar 2006 auf. Um zu klären, wie scheinbar normale Menschen zu Täterinnen und Tätern des Holocaust werden konnten, verweist Le témoignage du survivant en classe. 16 fiches pédagogiques auf das – wissenschaftlich überholte – Milgram-Experiment (Regard o.J.: 17). Teilweise relativieren die Quellen den Status von Deutschland und Österreich als Tätergesellschaften. Carrie Supple möchte auch Deutsche nicht pauschal verurteilt wissen, sondern stattdessen am Beispiel der nationalsozialistischen großdeutschen Gesellschaft aufzeigen, dass die Handlungsalternativen Widerstand zu leisten oder Verfolgte zu retten schwierig waren, zumal über NS-Deutschland hinaus eine allgemeine Indifferenz vorherrschte (Supple 1998: 29, 42ff.). Bei Lecomte heißt es knapp: »Die Deutschen und die Österreicher können nicht als ein einziger pronazistischer Block betrachtet werden.« (Lecomte 2001: 79; Übers. E.K.) Der Bericht zum Bukarester Weiterbildungsseminar Remembering the past and
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preventing crimes against humanity vermerkt zu den Herausforderungen der Holocaust Education in Österreich: »Manchmal finden es Lehrer noch schwierig über Hitler, der in Österreich geboren wurde, zu sprechen und später zu erklären, dass Österreich selbst ein Opfer der Nazis war und Jüdinnen und Juden unmittelbar nach dem Anschluss schrecklich verfolgt wurden.« (Manea 2003: 16; Übers. E.K.) Während diese Quelle Österreich – entgegen der vergangenheitspolitischen Debatte in Österreich selbst – als Opfer der Nazis bezeichnet, spricht sie die Kollaboration von Litauerinnen und Litauern im gleichen Absatz an und weist Vorstellungen von der unter dem Nationalsozialismus und der Sowjetunion gleichermaßen leidenden litauischen »Märtyrernation« zurück (ebd.). Dasselbe Dokument fordert auch einen selbstkritischen Umgang mit der rumänischen Antonescu-Diktatur (1940-1944) und ihrer Politik gegenüber rumänischen Jüdinnen und Juden (ebd.: 10). Am Krakauer Ministerseminar 2005 verkündet der österreichische Delegierte, dass »ich ihnen sagen kann, dass ich äußerst stolz bin, dass die drei Hauptideologien, die in Österreich bekämpft werden, erstens der Nationalsozialismus, zweitens der Stalinismus und drittens der Kommunismus sind« (Austria 2007b: 134, 135; Übers. E.K.). Selbstkritischer liest sich das kroatische Statement, das die Kollaboration des im Zweiten Weltkrieg unabhängigen Staates Kroatien bei der Durchführung des Holocaust einräumt (Croatia 2007b: 158). Nur wenige Quellen setzen sich aufgrund der generellen Unterbelichtung vergangenheitspolitischer Aspekte im Europarat mit Holocaustleugnung auseinander. Die Empfehlung 1438(2000) der Parlamentarischen Versammlung fordert, die Leugnung des Holocaust als antisemitisch zu betrachten und bei entsprechender Gesetzgebung zu berücksichtigen (PACE 2000; vgl. auch CM 2001a; PACE 2010). Die Resolution 1495(2006) ruft auf, das Wiedererstarken der nazistischen Ideologie zu bekämpfen. Sie anerkennt die Leistung der alliierten Soldatinnen und Soldaten, verurteilt aber zugleich, dass jüdische und alliierte Gräber geschändet, nazistische Symbole verwendet, NS-Organisationen verherrlicht und der Holocaust geleugnet und verharmlost wurden (PACE 2006c). Aufgrund fehlender Durchsetzungsmöglichkeiten bleibt Simone Veils Kritik an fehlenden internationalen Regulierungen zur Leugnung und Verharmlosung des Holocaust isoliert. Diese Tendenzen seien besonders in Israel hassenden muslimischen Ländern verbreitet (Veil 2002: 36). Einer der wenigen Versuche in einer Teaching-remembrance-Publikation mögliche Ursachen für Antisemitismus aufzuspüren, findet sich im
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European pack for visiting Auschwitz-Birkeneau Memorial and Museum. Eine Parabel soll erklären, wie der Antisemitismus entsteht, funktioniert und reproduziert wird. Darin unterscheiden sich die Außenseiterinnen und Außenseiter, die in ferner Vergangenheit von auswärts eingewandert seien, in ihrem Aussehen und ihren Lebens- wie Essgewohnheiten von der Mehrheitsbevölkerung (Tracz/Białecka 2010b). Dies, die vielen Erfolge und das Vertrauen der Minorität, das ausgewählte Volk Gottes zu sein, wären der Grund für die schwierigen Gewohnheiten gewesen und hätten häufig Unruhen hervorgerufen (ebd.: 65). Dieses Gleichnis, das in einem der Vorurteilsforschung entlehnten Blick auf Antisemitismus wurzelt und zusätzlich fälschlicherweise allen Jüdinnen und Juden gemeinsame Eigenschaften, Verhaltensweisen, ja sogar physiognomische Merkmale zuschreibt, vermag das ideologische Moment des in die nationalsozialistische Vernichtung führenden Antisemitismus nicht zu erkennen. Jüdinnen und Juden wurden völlig unabhängig davon, wie sehr sie assimiliert waren, deportiert und ermordet. Angesichts der Tatsache, dass die entscheidungsbefugten Akteure im Europarat jene Staaten sind, die den Holocaust verübten, dabei mithalfen, gleichgültig wegsahen und nur in Ausnahmefällen kollektiv Hilfe für Verfolgte leisteten, nimmt sich die Beschäftigung mit Täter- und Mitläuferschaft sowie Kollaboration äußerst gering aus. Vielmehr sind einige Quellen darauf bedacht anzumerken, dass Österreicherinnen und Österreicher sowie Deutsche auch Opfer oder bar jeder Handlungsoptionen waren. Individuelles Mitläufertum wird ebenso wenig benannt, wie sich die Auseinandersetzung mit den sozialpsychologischen und ideologischen Grundlagen von Täterschaft auf ein Minimum beschränkt. Ebenso spärlich sind Hinweise auf die postnazistischen Lebensläufe ehemaliger Täterinnen und Täter; auch die postnazistischen Karriereverläufe ehemaliger höherer und mittlerer Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten in den Nachkriegsgesellschaften werden nicht thematisiert. Alle angeführten Kritikpunkte könnten sich (ursächlich) dem unausgesprochenen Teaching-remembrance-Prinzip verdanken, das Konflikte zu vermeiden sucht. Als weitere Personengruppe neben Opfern sowie Täterinnen und Tätern nimmt die Bedeutung der Gerechten unter den Völkern vor allem in den jüngeren Quellen zu. Menschen, die unter hohem persönlichen Einsatz, teilweise sogar unter Gefahr für ihr eigenes und das Leben ihrer Angehörigen Jüdinnen und Juden vor der nationalsozialistischen Vernichtung retteten, seien Beispiele für heutige Heranwachsende, die Handlungsop-
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tionen und Zivilcourage demonstrieren. Alle Bezugnahmen auf Gerechte unter den Völkern folgen der Definition der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, die sich exklusiv mit jüdischen Geretteten befasst. Es finden sich im Umfeld des Europarates keine Beispiele für Menschen, die nichtjüdische NS-Opfer schützten. Bereits der 1998 erschienenen Handreichung The Holocaust in the school curriculum. A European perspective dienen die Gerechten unter den Völkern als Beispiel, das jungen Menschen aufzeigen würde, dass individuelles Handeln einen Unterschied machen kann (Short 1998: 9ff.). Francis Rosenstiel, der sich für eine kollektive Ehrung der europäischen Gerechten unter den Völkern einsetzt, begründet die Verbindung zwischen dem Verdienst dieser Personengruppe und dem Europarat sowie der Europäischen Konvention für Menschenrechte folgendermaßen: »Natürlich in Erinnerung an das, was sie taten, aber auch mit Blick auf die Zukunft: der Widerstandsgeist, einer der Säulen im Aufbau eines vereinten und vor allem demokratischen Europas muss auch in friedlichen Zeiten vorherrschen.« (Rosenstiel 2007; Übers. E.K.) Die spanische Ausstellung Visados para la libertad/Visas for freedom10 und die albanische Schau BESA: Muslims Who Saved Jews in World War II11 (beide 2009 im Europaratshauptgebäude gezeigt) vereint der thematische Schwerpunkt auf Rettungsakte sogenannter Gerechter unter den Völkern, die Jüdinnen und Juden vor dem Holocaust in Sicherheit brachten. Die spanische Ausstellung berücksichtigt wesentlich stärker den historischen Kontext (Ministerio/Casa 2008), während das albanische Gegenstück mehrfach hervorhebt, dass die Retterinnen und Retter »einfache Leute mit einem Herzen aus Gold« und einer »gütigen Natur« gewesen wären beziehungsweise auch Verbindungslinien zu ihrer muslimischen Herkunft gezogen werden (Gershman 2008). Visados para la libertad/Visas for freedom dreht sich um spanische Diplomaten in Deutschland, Frankreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und 10 | Der ehemalige israelische Staatspräsident Yitzhak Navon (1978-1983) hat das Projekt angestoßen. Das spanische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Zusammenarbeit kuratierte die Schau gemeinsam mit dem in Madrid ansässigen Forschungs- und Informationszentrum Casa Sefarad-Israel. 11 | Yad Vashem bietet die Schau zu den albanischen Gerechten unter den Völkern auch in einer hebräisch- und arabischsprachigen Variante als Wanderausstellung an. Sie wurde zudem 2008 bei den Vereinten Nationen in New York gezeigt (vgl. Gespräch Budd Caplan 2009).
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Griechenland, die während des Zweiten Weltkrieges Visa an sephardische Jüdinnen und Juden (spanischer Staatsangehörigkeit) in nationalsozialistisch okkupierten Ländern ausfertigten und ihnen somit das Leben retteten. Die Diplomaten machten sich die guten diplomatischen Beziehungen zwischen der Franko-Diktatur und NS-Deutschland zu Nutze, um Transitvisa nach Spanien auszustellen, Deportationen zu verhindern oder verbesserte Internierungsbedingungen in Konzentrationslagern wie BergenBelsen zu erreichen. Dabei konnten sich die Diplomaten auf spanisches Recht berufen, das sephardischen Jüdinnen und Juden, deren Vorfahren 1492 aus Spanien vertrieben worden waren, in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches entweder die spanische Staatsbürgerschaft oder zumindest einen Schutzstatus gewährte. Die Ausstellung widmet sich dementsprechend politischem und administrativem Handeln. Sie erklärt die Kriegsereignisse und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik wie auch den lokalen Antisemitismus in den Ländern, in denen die sephardischen Jüdinnen und Juden lebten, und auch den spanischen Antisemitismus (Ministerio/Casa 2008: 72). Neben humanistischen Motiven war die Angst, von den Alliierten als Mordkomplize beschuldigt zu werden, handlungsleitend (ebd.: 34). In der Nachkriegszeit versuchte die Franco-Diktatur ihre Reputation in der freien Welt zu heben, indem sie diese Rettungsaktionen betonte (ebd.: 64). Das Vorwort des amtierenden spanischen Außenministers Miguel Ángel Moratinos bezeichnet diese Diplomaten als Vorbild für heutige spanische Außenamtsmitarbeitende (ebd.: 7). Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen des amerikanisch-jüdischen Fotokünstlers Norman H. Gershman im Rahmen der albanischen Schau BESA: Muslims Who Saved Jews in World War II zeigen muslimische Familien (sowie deren Nachkommen) aus Albanien und dem Kosovo, die während des Zweiten Weltkrieges einheimische und aus anderen europäischen Ländern (vor allem aus Mazedonien und Serbien) geflüchtete Jüdinnen und Juden aufnahmen, teilweise Fluchthilfe leisteten und sie so vor dem nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungsapparat auf dem Balkan bewahrten. Da der künstlerische Aspekt gegenüber wissenschaftlicher Genauigkeit klar im Vordergrund steht, sind kaum Informationen zu Ort, Zeitpunkt und Länge der Interviews erhältlich. Der Klappentext macht Besa als einen auch unter liberalen albanischen Musliminnen und Muslimen fest verankerten Ehrenkodex erkenntlich, der vorschreibt, in Not geratene Menschen unter eigener Opferbereitschaft bei sich aufzunehmen. Gershman untermauert den Topos der Einfachheit sogar anhand der gegenwärtig unter-
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entwickelten touristischen Infrastruktur Albaniens und des Kosovo sowie fehlender Englischkenntnisse seiner Gesprächspartnerinnen und -partner. Dabei umfasst der Katalog auch Porträts urbaner Arzt-, Händler- und Gelehrtenfamilien und dem sich selbst als rechtmäßigen Thronfolger begreifenden Sohn von König Zog (1928-1939). Das Metanarrativ, nämlich die Rettung von jüdischen und muslimischen Menschen sowie der damit verbundene Modellcharakter für die Gegenwart, zieht sich durch den gesamten Bildband. Auf besagter Buchrückseite sind unter anderem positive Rezensionsausschnitte von Jehan Sadat, Witwe von Anwar Sadat, Jimmy Carter und Asher Naim, einem ehemaligen Botschafter Israels bei den Vereinten Nationen, abgedruckt, was unausgesprochen Assoziationen mit Friedensbemühungen im Nahen Osten weckt. In den Rettungsaktionen der albanischen Musliminnen und Muslime erkennt Akbar Ahmed, Anthropologe und Inhaber einer Professur für Islamstudien an der American University in Washington, D.C., »die wahre Natur des Islam«, da »die Rettung von Juden eine religiöse Pflicht war.« (Gershman 2008: XV; Übers. E.K.) Darin würde er sich von jenem Islam, der derzeit in den Schlagzeilen stünde, erfreulicherweise klar unterscheiden (ebd.: XVI) und interreligiösen Dialog fördern. Ähnlich den Opfern ehrt die Hervorhebung der Gerechten unter den Völkern das Andenken dieser äußerst mutigen Menschen. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch, ob die Extremsituationen, in denen Gerechte unter den Völkern Entscheidungen treffen mussten und handelten, als Schablone für zivile Interventionen in der Gegenwart dienen können. Es handelte sich zudem um eine äußerst kleine, isoliert agierende Gruppe von Menschen. Diese Tatsache muss viel stärker als dies in den Quellen der Fall ist betont werden, um zu zeigen, wie wenig Menschen sich auf diese Rettungsoption einließen. Nicht minder interessant ist die Fokussierung auf die Motive der Gerechten unter den Völkern, die in den präsentierten Beispielen humanistisch und religiös, nicht jedoch politisch-ideologisch waren. Die Tendenz, Gerechte unter den Völkern als Vorbilder zu postulieren, geht damit einher, dass der vielfach ideologisch klar ausgerichtete und auch gewaltsame Widerstand konsequent ausgeblendet wird. Möglicherweise ist der kommunistische Partisanenkampf für die Adressatinnen und Adressaten der Holocausterinnerungspolitik im Europarat noch weniger nachvollziehbar als der scheinbar unpolitische Akt, einen Menschen im eigenen Haus zu verstecken und zu versorgen. Darin spiegelt sich das Ziel europäischer demokratischer Citizenship, der zufolge Bürgerinnen
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und Bürger in ihrem Nahbereich Zeichen zur Veränderung setzen sollen. Dieser Zugang verzerrt aber historische Fakten und wertet die Rolle des bewaffneten Widerstandes bei der Niederschlagung Nazi-Deutschlands ab. Umgekehrt stößt die Hervorhebung der Gerechten unter den Völkern auf wenig Gegenrede in und zwischen den Mitgliedstaaten. Das muss aber nicht für die nach wie vor nicht konfliktfreie Annäherung an Widerstandskämpferinnen und -kämpfer gelten, die auf klaren ideologischen Grundlagen und/oder mit gewaltsamen Mitteln agierten. Teaching remembrance ist der Kernbereich der Holocausterinnerungspolitik im Europarat. Aufbauend auf der Anerkennung des Holocaust als einzigartigem (richtiger wäre erstmaligem) Ereignis der Menschheitsgeschichte und integralem Bestandteil europäischer Zivilisation, entwickeln die zahlreichen Akteurinnen und Akteure eine auf Prävention anstelle von reinem Gedenken ausgerichtete Pädagogik. Die so konzipierte Holocaust Education fokussiert auf die Opfer des Nationalsozialismus, womit vorrangig, aber keineswegs ausschließlich Jüdinnen und Juden gemeint sind, und ihre unwiederbringlich zerstörten Lebenszusammenhänge. Damit werden heutige Jugendliche in ihren pluralistischen Erfahrungswelten abgeholt und alltagsbezogene Identifikationsmerkmale geschaffen. Aus diesen Gründen, aber auch dank ihrer Vorbildfunktion, erfahren die oft ohne spezifische politische Motivation handelnden Gerechten unter den Völkern immer mehr Aufmerksamkeit in den entsprechenden Quellen. Es ist somit nur konsequent, Täterinnen und Täter sowie Mitläuferinnen und Mitläufer, deren Handeln weder Vorbild war noch empathisches Einfühlen erlaubt, marginal zu behandeln. Die damit kommunizierte Europavorstellung steht bedingungslos zum Holocaust als normative Stunde Null europäischer Einigung. Das Ausblenden von Täterschaft und Mitläufertum sowie die Betonung der zahlenmäßig so wenigen Gerechten unter den Völkern erschwert eine realistische historische Einschätzung. Die Programme weisen eine klare Handlungsorientierung auf, indem sie Heranwachsende dazu ermuntern sollen, künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern und sich eine europäische demokratische Citizenship anzueignen. Ob das Europa der Europaratswerte, basierend auf Menschenrechten, Rechtsstaat und pluralistischer Demokratie, auch in Zukunft bestehen bleibt, hängt mithin vom ständigen enactment dieser Werte durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger – hier vor allem durch Lehrkräfte und Jugendliche – ab. Bildung materialisiert sich in seinem ursprünglichen Wortsinn zu bilden, herzustellen und zu gestalten.
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Dabei ist es der eigene soziale Nahbereich, in dem jede und jeder Einzelne seinen bescheidenen Beitrag leisten und somit an Europa mitbauen soll.
3.2 S CHULISCHE G ESCHICHTSVERMIT TLUNG Die Akteursvielfalt und grundlegende pädagogische Prinzipien von Teaching remembrance finden sich im thematisch und institutionell verwandten Feld der Schulischen Geschichtsvermittlung (History teaching) wieder. Dies belegen rechtliche Grundlagendokumente12 sowie eine Reihe didaktischer Veröffentlichungen aus dem Umfeld des Europarates, die zeitlich parallel zur Holocausterinnerungspolitik im Rahmen der Projekte Learning and teaching the history of the 20th century in Europe (1998-2002), The European dimension in history teaching (2002-2006) und The image of the other (ab 2006) entstanden sind13 . Auch für diese Texte gilt, dass sie nicht
12 | Die Erklärung des ersten Europaratsgipfels in Wien lautet: »Dieses Europa ist Träger einer immensen Hoffnung, die um keinen Preis durch territoriale Ambitionen, das Wiederaufleben aggressiver Nationalismen, das Fortbestehen von Einflusssphären, durch Intoleranz oder durch totalitäre Ideologien zerstört werden darf« (Summit 1993). Die Empfehlung 1238(1996) der Parlamentarischen Versammlung besagt, dass durch Geschichte der Reichtum der Vergangenheit und anderer Kultur erfahren werden könne. Historisches Bewusstsein sei zudem eine wichtige Fähigkeit im Sinne politischer Bildung, da es »zu mehr Verständigung, Toleranz und Vertrauen zwischen Individuen und den Völkern Europas beitragen kann – oder es kann Antrieb für Teilung, Gewalt und Intoleranz werden« (PACE 1996a; Übers. E.K.). 13 | The European Home. Representations of 20 th Century Europe in History Textbooks (Pingel 2000); Teaching 20 th Century European history (u.a. Stradling 2001a); The Misuse of History (u.a. Iggers 2000); The 20 th Century – An Interplay of Views (u.a. Bułak 2002); Multiperspectivity in Teaching and Learning History. Presentations from Seminars and Working Materials, Nicosia (Cyprus) (u.a. Milko 2004); Crossroads of European histories, Multiple outlooks on five key moments in the history of Europe (u.a. Stradling 2006); Crossroads of European histories, Multiple outlooks on five key moments in the history of Europe – CD-ROM (u.a. Rowe 2008a); Manual for History Teachers in Bosnia and Herzegovina (Black 2008a). Über das Projekt Shared histories for a Europe without dividing lines
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zwingend die institutionelle Meinung der DG IV vertreten, jedoch von dieser herausgegeben und nach wie vor beworben werden. Ähnlich wie Teaching remembrance erarbeitet der Europarat mit seinen externen Autorinnen und Autoren didaktische Prinzipien für die schulische Geschichtsvermittlung. Reflektiertes Lernen und moralische Botschaften sind das Gebot der Stunde, um die künftige Gesellschaft zu gestalten. Schulbücher und die Unterrichtssituation sollen den Blick für subalterne Positionen abseits elitenfokussierter Diplomatie- und Politikgeschichte schärfen. Schließlich gilt es in einer Lernumgebung, die zunehmend divers wird, Multiperspektivität zu praktizieren. Obwohl laut Luisa Black nach dem Zweiten Weltkrieg in (West-)Europa patriotische Geschichtsauffassungen diskreditiert wurden, beschränkten sie ihren Bezugsrahmen weiterhin auf nationale Erfahrungen und waren in der Nachkriegszeit auch oft mit moralischen Botschaften verbunden. In den 1970er Jahren begannen Quellen eine größere Rolle zu spielen, was den Übergang von einem rein inhaltsbasierten zu einem stärker methodisch und quellenkritisch ausgerichteten Geschichtsunterricht einläutete. Gegenwärtig sieht Black wieder eine stärker moralische Ausrichtung. »Es gibt eine Kombination aus Geschichte und Citizenship. Schüler lernen nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch die Einstellungen einer demokratischen, toleranten Citizenship.« (Black 2008a: 11; Übers. E.K.) Geschichtsunterricht ist mehr oder hat mehr zu sein als dass nur die Namen von Staatsoberhäuptern und Jahreszahlen von Schlachten memoriert werden. Gemäß den Vorgaben des Europarates, die sich aus der Empfehlung 2001(15) des Ministerkomitees ableiten lassen, sollen Lehrende, Schulbuchverlage und Curricularverantwortliche jungen Menschen helfen, die gegenwärtige Lage zu verstehen und ihren Platz in einer sich verändernden Welt zu finden, indem sie lernen kritisch, unabhängig und offen zu denken und einen eigenen Standpunkt zu vertreten, der zugleich andere Sichtweisen respektiert. Außerdem sollen Heranwachsende an grundlegende Werte wie gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zwischen Menschen herangeführt werden. Die neue Generation aktiver Bürgerinnen und Bürger soll gegen politische oder ideologische Manipulation immun sein (Milko 2004: 17). Geschichtsvermittlung ist also explizit weder Selbst(2010-2012), das die DG IV in Kooperation mit dem European Wergeland Centre durchführt, liegen noch keine abschließenden Publikationen vor.
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zweck noch selbstverständlicher Teil des humanistischen Fächerkanons, sondern sucht einen bestimmten Typus von (europäischer) Bürgerin oder (europäischem) Bürger zu formen14 . Nicht nur die verbreiteten Themen des Geschichtsunterrichtes an europäischen Schulen orientieren sich an traditionellen Lehrplänen, auch die Ansätze bewegen sich meist im Rahmen der Politik- und Diplomatiegeschichte. Während wirtschaftliche Entwicklungen noch eine gewisse Berücksichtigung erfahren, bleiben gesellschaftliche, kulturelle und geistesgeschichtliche Dynamiken weiterhin außen vor (Stradling 2001a: 23). Robert Stradling weist darauf hin, dass Frauen oder auch technologische Entwicklungen nicht als eigene und meist marginalisierte Themen behandelt werden sollen, sondern durchgängig zu berücksichtigen seien (ebd.: 75, 77). Große Bedeutung wird dem methodisch kontrollierten Einsatz von Oral-History-Elementen (vgl. ebd.: 211ff.), visuellen Materialien (besonders Fernsehbildern; vgl. ebd.: 247ff.) und des Internets beigemessen (vgl. ebd.: 171ff.), um die im Geschichtsunterricht behandelten Personengruppen zu pluralisieren und das Subalterne sichtbar zu machen.15 Das von den geschichtspädagogischen Programmen des Europarates gegenwärtig forcierte Unterrichtsprinzip ist Multiperspektivität. Der offizielle Auftrag der Empfehlung (2001)15 lautet Unterschiede zu verstehen, den Wert von Diversität wahrzunehmen, Andere zu respektieren, interkulturellen Dialog zu entwickeln und Beziehungen auf Basis gegenseitigen Verständnisses und Toleranz aufzubauen (Milko 2004: 16). Multiperspektivität impliziert die Kenntnis und Fähigkeit, andere Sichtweisen auf Historisches und Präsentes zu beurteilen. Der Weg in diese Richtung würde durch den Übergang vom klassischen textlastigen Schul14 | Das Wort education in den untersuchten englischsprachigen Quellen beinhaltet die Dimensionen Bildung und Erziehung oder, anders formuliert, Wissensvermittlung und Gestaltung gesellschaftlicher Subjekte. 15 | Die Themen der anderen im Rahmen des Projektes Learning and teaching about the history of Europe in the 20 th century produzierten Publikationen unterstreichen diese Haltung: Quellen und Methoden für pluralistischen Geschichtsunterricht (Ferro/Frendo 1999); Herausforderungen der Informationstechnologie (Tardif 1999); Europabilder in Schulbüchern (Pingel 2000); Frauengeschichte des 20. Jahrhunderts (Tudor 2000); Missbrauch von Geschichte (Wirth 2000); Filme im Geschichtsunterricht (Chansel 2001); Holocaust Education im 21. Jahrhundert (Lecomte 2001); Migration im 20. Jahrhundert (Kaya 2002).
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buch hin zum Arbeitsbuch mit Instruktionen zum angeleitet selbstständigen Erfassen historischer Zusammenhänge geebnet (Stradling 2001a: 13). Hinreichende Voraussetzungen seien die reflektierte Quellenauswahl seitens der Verfasserinnen und Verfasser von Unterrichtsmaterialien und der Lehrenden (vgl. detailliert Valenta 2008) und die Herausbildung der Fähigkeit zum Umgang mit der Informationsflut und zu Quellenkritik bei Schülerinnen und Schülern (vgl. detailliert Rowe 2008b). Interaktion und ein responsiver, also auf die Fragen und Bedürfnisse der jungen Menschen eingehender Unterricht werden als weitere Kriterien angeführt (vgl. Nijemcevic 2008). Multiperspektivität könne schließlich nur eingenommen werden, wenn Lehrpläne mehr inhaltliche Selektion zuließen beziehungsweise klarere Auswahlkriterien vorgäben (Stradling 2001a: 23). Unumstritten ist das Prinzip der Multiperspektivität im Umfeld des Europarates nicht. Beispielsweise werden Verhandlungssimulationen, gerade auch solcher Treffen, die historisch tatsächlich stattfanden, verwendet, um unterschiedliche Akteursperspektiven sichtbar zu machen und gleichzeitig an argumentativer Stärke zu gewinnen (Stradling 2001a: 125ff.). Allerdings birgt das Geschichtespielen auch die Gefahr, dass Lernende ablehnungswürdige Positionen unreflektiert übernehmen. Gegen den allfälligen Vorwurf des Relativismus wehren sich die in den diesbezüglichen Europaratspublikationen maßgeblichen Autorinnen und Autoren. Multiperspektivität würde Lernende dazu anhalten »eine Wahl zu treffen die rational und gut argumentiert, anstatt auf Tendenz und Emotion zu gründen« (Black 2008c: 37; Übers. E.K.). Es ginge zudem darum, mit dem lange kultivierten Missverständnis aufzuräumen, wonach historische Wahrheit unterrichtet werde. Vielmehr sollen der nachvollziehbare Umgang mit unvollständigen historischen Belegen und die Interpretation derselben eingeübt werden (Stradling 2001a: 96; vgl. auch Black 2008b). Vorsichtiger gehen zwei im Tagungsband The misuse of history (2000) abgedruckte Beiträge mit der Gefahr des Relativismus um. Georg Iggers lehnt in seinem historiografietheoretischen Aufsatz postmoderne Ansätze scharf ab, die am neuralgischen Punkt Holocaust scheitern müssen (Iggers 2000: 21). Laurent Wirth beschäftigt sich mit absichtlich verfälschenden Verwendungen von Geschichte – darunter Holocaustleugnung und antisemitische Lügen – und fordert eine intensive Begleitung von Schülerinnen und Schülern, um nicht Geschichtsklitterungen und verzerrten kollektiven Erinnerungen zu erliegen (Wirth 2000: 36). Der Problematik
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von Multiperspektivität in Bezug auf die Vermittlung eines äußerst sensiblen Themas wie der Holocaust ist sich Stradling bewusst. Um die Multiperspektivität in der Thematisierung des Holocaust auch gewährleisten zu können, greift Stradling die ihm aus Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Yad Vashem bekannten Vorschläge auf, Schülerinnen und Schüler über menschliche Dilemmata nachdenken zu lassen. Als Beispiel führt er Jüdinnen und Juden an, die sich als integraler Teil der deutschen und österreichischen Gesellschaft fühlten und vor der Frage standen, ob sie auswandern oder auf den Staat und ihre Mitmenschen vertrauen sollten (vgl. Stradling 2010a: 107). Die auf Diversität abzielenden didaktischen Prinzipien reagieren auf die gesellschaftlichen Realitäten einerseits von Migration und andererseits von medialer Überfütterung, wollen diese aber auch mit ihrer teleologischen Ausrichtung mitbestimmen. Geschichtspolitische Debatten sollen auch in Schulklassen offener geführt werden. Den Heranwachsenden werden quellen- und historiografiekritische Instrumentarien gegeben, um sich reflektiert mit historischen Ereignissen und Entwicklungen auseinanderzusetzen. Das Lernen über die Vergangenheit soll sie aber auch mit normativen Handlungsgrundlagen für die spätere Aufrechterhaltung der Errungenschaften der europäischen Nachkriegs- und Integrationsgeschichte ausstatten. Diesen Anforderungen hält die Charakterisierung des 20. Jahrhunderts in den Dokumenten von History teaching nur partiell stand. Die im Umfeld des Europarates eingebrachten Vorschläge, um linear aufgebaute und inhaltlich überladene Curricula zu überwinden, konzentrieren sich auf ausgewählte Ereignisse und betrachten diese aus politikgeschichtlichen, ideenhistorischen und lebensweltlichen Perspektiven. Multiperspektivität im Sinne unterschiedlicher innereuropäischer geografischer und ideologischer Positionen lässt sich mit den bereitgestellten geschichtspädagogischen Veröffentlichungen realisieren. Der subalterne Blick jenseits von militärischer und revolutionärer Gewalt, hoher Diplomatie und staatsmännisch konnotierten Handlungsräumen gelingt ebenso wenig wie eine genuine Auseinandersetzung mit der Frage, wer ist oder macht Europa. Ein weiterer Ansatzpunkt betrifft das Problem der Lehrpläne. Die Europaratspublikation Teaching 20th century European history (2001) kritisiert, dass herkömmliche schulische Curricula das 20. Jahrhundert vorwiegend entlang politischer und militärischer Krisen, Zäsuren und Insti-
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tutionen aufbereiteten16. Dazu kämen länder- und dekadenübergreifende sozial- und ideengeschichtliche Trends17 (Stradling 2001a: 22, 23). Liegt der Schwerpunkt auf dem sogenannten europäischen Erbe, dann sei ein chronologischer und linearer Unterricht vorgezeichnet. Dadurch aber würde der Zeitgeschichte und dem damit verbundenen Lernen über Demokratie, Menschenrechte und Pluralismus deutlich weniger Platz zur Verfügung stehen, als bei dem Ansatz, der die Diversität Europas und zentrifugale Kräfte in den Mittelpunkt rückt. »Diese Perspektive legt möglicherweise einen größeren Schwerpunkt auf die ›dunkleren Seiten der europäischen Geschichte‹ – Stammeskonflikte, Nationalismus, Xenophobie, Intoleranz, Genozid und ethnische ›Säuberung‹ – als die Perspektive, die auf die einigenden Kräfte in der europäischen Geschichte fokussiert.« (Ebd.: 26ff.; Herv. i.O., Übers. E.K.) Diversität bedeute außerdem, dass es keinen einheitlichen europäischen Lehrplan geben kann, da historischen Ereignissen und Entwicklungen abhängig von den lebensweltlichen Erfahrungen der zu Unterrichtenden variierende Gewichtung zukommen muss (vgl. ebd.: 31). Stradling fordert kein adding Europe zu betreiben, das heißt, europäische Aspekte lediglich zur Illustration der eigenen Nationalgeschichte heranzuziehen, sondern europäische und globale Entwicklungen als eigenständige Bereiche zu unterrichten (ebd.: 11). Eine 2000 im Auftrag des Europarates veröffentlichte Studie des Braunschweiger Georg-Eckert-Institutes für internationale Schulbuchforschung bietet einen Überblick über den Ist-Zustand von Geschichtslehrbüchern in
16 | Erster Weltkrieg, Oktoberrevolution, Wiederaufbau Europas nach 1918, Aufstieg des Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus, Weltwirtschaftskrise, Zusammenbruch internationaler Friedenssicherung, Zweiter Weltkrieg, Wiederaufbau Europas nach 1945, Kalter Krieg, NATO und Warschauer Pakt, Dekolonisierung, politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit nach 1945, europäische Integration, Glasnost und Perestrojka, Zusammenbruch der Sowjetunion und Entstehung unabhängiger Demokratien in Mittel- und Osteuropa. 17 | Technologische Entwicklungen, gesellschaftlicher Wandel bei sogenannten Normalbürgerinnen und -bürgern, verändere Rollen von Frauen in der Gesellschaft, Massen- und Jugendkultur, Kunstrichtungen, postindustrielle Gesellschaften, Urbanisierung, Transport und Kommunikation, Migraton, sich verändernde Situation nationaler und anderer Minderheiten in Europa, Konflikte und peration, nationalistische Bewegungen, Totalitarismus und liberale Demokratie sowie Menschenrechte.
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18 europäischen Ländern18 in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Für die angestrebte europäische Dimension sollen nicht nur das eigene Land und die Rolle der Großmächte, sondern gerade Nachbarstaaten stärker einbezogen werden. Das dürfe aber keinesfalls auf Kosten der ohnedies schon vernachlässigten außereuropäischen Geschichte gehen. Die vage und idealisierende Sprache beim Schreiben über Europa in Schulbüchern ist zu überdenken, das Europakonzept der jeweiligen Autorinnen und Autoren sichtbar zu machen. Die Interaktion zwischen europäischen Organisationen und ihren Mitgliedstaaten sowie die europäischen Einigungsversuche vor 1945 müssen außerdem in die Themensetzung einfließen. Das Abholen der jungen Menschen bei ihren eigenen Europaassoziationen stellt eine weitere Empfehlung dar (Pingel 2000: 108ff.). Der angedeuteten curricularen Starre begegnete der Europarat mit der Publikation Crossroads of European histories. Multiple outlooks on five key moments in the history of Europe (Stradling 2006) und einer dazugehörigen CDROM (u.a. Rowe 2008a). Historikerinnen und Historiker aus verschiedenen Europaratsmitgliedstaaten beleuchten fünf Schlüsselmomente des 20. Jahrhunderts aus mehreren Perspektiven. Die Planungsgruppe legt diese Ereignisse vorab fest: das nicht im 20. Jahrhundert liegende Revolutionsjahr 1848, die Balkankriege von 1912 bis 1913, die Friedensverträge und die Restrukturierung Europas nach dem Ersten Weltkrieg, der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg und der Beginn des Kalten Krieges sowie der Zusammenbruch des Realsozialismus. Die Begleit-CD19 glie18 | Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Kroatien, Litauen, Mazedonien (F YROM), Niederlande, Norwegen, Polen, Russische Föderation, Slowakische Republik, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich (hier: England). 19 | 1848: Lebenswelten (Politische Karte Europas, gesellschaftliche Bedingungen, Industrialisierung, Lebensbedingungen, Bildung und Kulturleben), Ausbruch von Revolutionen (soziale und wirtschaftliche Gründe, politische Gründe, Länder ohne Revolutionen), Ereignisse in Europa (Zeitalter der Revolutionen, Nordeuropa, Südeuropa, Westeuropa, deutsche Länder, Habsburgerreich, Osteuropa), Veränderungen (kurzfristiges Scheitern, langfristige Veränderungen); 1912/1913: Lebenswelten am Balkan (Nordbalkan, Südbalkan, Modernisierung und Veränderung, Tradition und Fortbestand, Konfliktquellen), Gründe für die Krise und Sorgen der Großmächte (langfristige Ursachen, Eingreifen der Großmächte, Bosnienkrise, kurzfristige Ursachen nach den Balkankriegen), Kriegsverlauf
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dert ihr Informationsangebot ebenfalls in die fünf Zäsuren 1848, 1912/1913, 1918/1919, 1945 und 1989 sowie in mehrere Querschnittsthemen.20 Kurze Texte mit entsprechend kommentierten Gemälden und Fotografien sowie Zitate, Statistiken, Landkartenmaterial und eine Zeitleiste bereiten die historischen Informationen für den Unterrichtsgebrauch auf. Nicht nur Ereignisse und Persönlichkeiten der Politik-, Militär- und Diplomatiegeschichte wurden berücksichtigt, sondern auch sozioökonomische, lebensweltliche und kulturelle Entwicklungen. Das Projekt Crossroads of European histories (Erster Balkankrieg und sein Ende, Beginn und Verlauf des Zweiten Balkankrieges), Folgen (Großmächte, Balkanländer, Balkan und Erster Weltkrieg, Menschen in Bewegung, Langzeitfolgen); Lebenswelten (geschädigte Leben, Chaos und Revolution, Zusammenbruch der Reiche, nationale Unabhängigkeitbewegungen), Pariser Friedenskonferenzen und Hoffnungen der Menschen (Hoffnungen und Befürchtungen, Friedensbringer, Sieger, Verlierer, Außenseiter), Friedenverträge (Völkerbund, Deutschland, Österreich, Bulgarien, Türkei, Ungarn), Folgen (Russland und Osteuropa, Nachfolgestaaten, Türkische Frage, Deutsche Frage, Langzeitfolgen); 1945: Lebenswelten (Alltagsleben, Unterbrechung, Befreiung?, Ereignisse außerhalb Europas), Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Alliierten (wachsendes Misstrauen seit 1917, Kriegsbeziehungen, Schicksal Polens, Anfänge des Kalten Krieges), Nachkriegsereignisse in Europa (Deutschland und die vier Mächte, Truman-Doktrin und sowjetische Reaktion, Folgen des Krieges um Jugoslawien), Betroffenheit der Menschen durch beginnenden Kalten Krieg (Einfluss auf soziales und wirtschaftliches Leben, Einfluss auf politisches Geschehen, Propagandakrieg, Nie wieder!); 1989: Lebenswelten (Ende des Kalten Krieges, wirtschaftliche und soziale Trends, Ereignisse außerhalb Europas, politische Entwicklungen und Bewegungen), Gründe für den schnellen Zusammenbruch des Kommunismus (strukturelle Faktoren, örtliche Faktoren, äußere Faktoren, menschliche Faktoren, Dominoeffekt), Wahrnehmungen (Reaktion auf Gorbatschows Reformen, Reaktionen auf Ereignisse in den beiden Deutschlands, Reaktionen auf Ereignisse in der Sowjetunion), Folgen in Europa (wirtschaftlicher Umbruch, politischer Umbruch, Wiederaufbrechen alter Spannungen, Vermächtnis des Kalten Krieges, USA: Neue Rolle in der Welt?). 20 | Menschen in Bewegung (Migranten, Flüchtlinge und Vertriebene, Einwanderer); Endlich Frieden (Konflikthafte Ziele und Interessen, Idealismus und Desillusionierung, Vorbereitungen für den nächsten Krieg); Das Ende der Imperien (Innere Kräfte, Befreiungsbewegungen, Machtvakuum); Jetzt herrschen wir! (Revolutionen und Verfassungen, Völkerfrühling, Demokratie: Ein zartes Pflänzchen).
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demonstriert somit die Möglichkeiten einer multiperspektivischen Herangehensweise, die konträre nationale Narrative nicht lediglich addiert, sondern vielmehr eine transnationale Perspektive anbietet (vgl. Stradling 2006). Diese Skizze des 20. Jahrhunderts geht von einem westeuropäischen Standpunkt aus, von dem aus die Ideologien, Konflikte, Kriege und einschneidenden Veränderungen primär in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie in der Türkei betrachtet werden. Außereuropäische Entwicklungen, die im Zuge des Kolonialismus, der Stellvertreterkriege oder der transatlantischen Beziehungen gleichzeitig immer auch europäisch sind, spielen eine untergeordnete Rolle. Es wird kein Material bereitgestellt zur Skizzierung der außereuropäischen Perspektiven. Die Auswahl der fünf Daten ist klassisch politikgeschichtlich inspiriert. Anstelle von 1848, 1912/1913, 1918/1919, 1945 und 1989 hätte ein sozialgeschichtlicher Ansatz wichtige Erfindungen wie beispielsweise die Automobilität, Penicillin, ziviler Luftverkehr und das Internet heranziehen können. Subalterne Perspektiven reduzieren sich auf ein Minimum. Von den 35 Kapiteln beschäftigt sich eines mit Frauen (Tudor 2006) im und nach dem Ersten Weltkrieg und ein weiteres mit Ereignissen, die mit diesen kulturellen Brüchen verbunden sind (Veryzoglou 2006). Europa wird als vielfältig repräsentiert, aber die Performanz, das making Europe im Alltagshandeln und in politischen Entscheidungen, spielt eine äußerst untergeordnete Rolle. Der Nationalsozialsozialismus und spezifisch der Holocaust sind in die Betrachtung des 20. Jahrhunderts unterschiedlich intensiv eingebunden. Der Holocaust ist nicht automatisch Dreh- und Angelpunkt der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vielmehr lässt sich mit dem Anwachsen von Teaching remembrance feststellen, dass die Bezüge auf die nationalsozialistische Judenvernichtung in den allgemeinen geschichtsdidaktischen Veröffentlichungen abnehmen. Einen klaren Schwerpunkt auf den Zweiten Weltkrieg setzen beispielsweise die Statements der Abschlusskonferenz des Projektes Learning and teaching about history of Europe in the 20th century, die 2001 in Bonn stattfand und deren Beiträge unter dem Titel The 20th Century – An Interplay of Views (2002) publiziert wurden. Das zentrale Ereignis des dort skizzierten 20. Jahrhunderts sind der Nationalsozialismus und der Holocaust, wiewohl die Autorinnen und Autoren auch auf den Stalinismus sowie auf Erinnerungspolitik eingehen21 . 21 | Folgende Themen werden angeschnitten: Barbarei und Aufklärung im 20. Jahrhundert am Beispiel von Holocaust, religiösem Fanatismus und Bioethikde-
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Dahingegen widmet sich der Band Crossroads of European histories bezüglich des Epochenjahres 1945 dem Treffen von Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin. Auffallend ist, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere der Holocaust, in dem sich über knapp 400 Seiten erstreckenden Buch ausgeblendet werden. Ein Beitrag zum Jahr 1919 bespricht die in Deutschland populäre Dolchstoßlegende (Krumeich 2006), ein anderer beschäftigt sich mit dem Scheitern des Völkerbundes angesichts des italienischen Faschismus und des Nationalsozialismus (Sharp 2006). Die nationalsozialistischen und postnazistischen Reaktionen auf die Konferenz von Jalta im Februar 1945 werden erläutert (Benz 2006). Schließlich findet sich im Aufsatz zur deutschen Wiedervereinigung eine versteckte Anspielung auf den Holocaust: »In Erinnerung an 74 Jahre deutscher Einheit [1871-1945; Anm. E.K.], an zwei Weltkriege, Nazismus und 65 Millionen entweder durch Krieg oder in Konzentrationslagern Getötete, wurde gesagt, dass Deutschlands politische, wirtschaftliche und militärische Stärke unvermeidbar die Unabhängigkeit und das Wohlergehen seiner Nachbarn bedrohte.« (Görtemaker 2006: 364; Übers. E.K.) Die Rubrik zu 1945 in der zu Crossroads of European histories gehörenden CD-ROM führt zur Frage nach den Lebensbedingungen der Menschen ein Kapitel Befreiung? an, in dem auf den Nationalsozialismus und Holocaust eingegangen wird. Eine Fotografie zeigt einen Todesmarsch und bezieht sich auf die Befreiung der Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Bergen-Belsen sowie auf Anne Frank. Dass die meisten der Ermordeten, darunter auch Anne Frank, Jüdinnen und Juden waren, bleibt ebenso unerwähnt wie exterminatorischer Antisemitismus und die Schritte der Entrechtung, Deportation und Vernichtung. Auf einer weiteren Aufnahme finden sich ungarische Jüdinnen und Juden auf dem Weg nach Auschwitz, während im nebenstehenden (englischsprachigen) Text der Holocaust mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben batten (Meyer 2002); Umgang mit dem Nationalsozialismus in Schweden (Schön 2002); nationale Erinnerung(en) in Polen (Bułak 2002); stalinistische und poststalinistische Interpretationen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes (Dashichev 2002); slowenische Erinnerungen an den Partisanenkampf (Vodopivec 2002); Erinnerung(en), Geschichtswissenschaften und Öffentlichkeit (Möller 2002); Erinnerung(en) und Gegenerinnerung(en) in Osteuropa und die Verantwortung der Historiker (Potel 2002).
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wird und von SS-Vernichtungseinheiten, Lagern und Medizinverbrechen die Rede ist. Auf den folgenden Bildern sind nationalsozialistische Hauptverbrecher auf der Anklagebank in Nürnberg, Kollaborateurinnen und Kollaborateure aus Frankreich, den Niederlanden, der Slowakei und Kroatien sowie schließlich Partisaninnen und Partisanen in Südosteuropa und Angehörige der sowjetischen Armee zu sehen. Dieser Abschnitt geht auf Vergeltungsakte von Partisaninnen und Partisanen an Kollaborateurinnen und Kollaborateuren und die Tötung von nichtkommunistischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern durch die Rote Armee in Europa ein. Als Teil des aufkommenden Kalten Krieges zählen unter dem Titel Nie wieder! die internationalen und europäischen Nachkriegsbemühungen (Vereinte Nationen, Europarat) zur Verhinderung künftiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In der umfangreichen Materialsammlung für die Zeitspanne zwischen 1848 und 1989 bekommt der Holocaust zwei und dazu unvollständige Kurzeinträge zugewiesen (vgl. Rowe 2008a). Die Quellenausschnitte zeigen, dass ein allgemeiner Zugang zur Geschichte die Spezifika von Teaching remembrance wie die Konzentration auf die Opfer und ihre Erfahrungswelten oder, zumindest ansatzweise, ideologische Grundlagen des Nationalsozialismus und des Holocaust, nicht mit gleicher Intensität behandelt. Das Argument, dass mit Teaching remembrance ohnehin ein spezialisiertes Angebot vorläge, mag gelten. Das Prinzip der Multiperspektivität ist im geografischen Sinne oberflächlich realisiert, jedoch fehlen tiefergehende Behandlungen der einzelnen nationalen und opfer- oder tätergruppenbezogenen Erfahrungsräume. Die jüngeren Überblicksdarstellungen des 20. Jahrhunderts fallen jedenfalls durch die hohe Faktendichte hinter den im Europarat erreichten Diskussionsstand hinsichtlich der Bildung aus Geschichte für die Zukunft – hier besonders im Kontext der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – zurück. In Hinblick auf europäische demokratische Citizenship steuert der Bereich der schulischen Geschichtsvermittlung eine strukturelle Betrachtung von Geschichte (wiewohl die Quellen ungebrochen von Politik- und Diplomatiegeschichte dominiert werden) und die Multiperspektivität bei. Obwohl das Handeln in die Zukunft gerichtet ist, erachtet es die geschichtspolitische Schiene im Europarat für notwendig, dass geklärt wird, wie eine von Widersprüchen geprägte Gegenwart entsteht. Der strukturgeschichtliche Ansatz verdeutlicht, dass Geschichte nicht nur in elitären Führungskreisen, sondern im konflikthaften Zusammenleben von Individuen gemacht wird. Das Konzept europäischer demokratischer Citizenship, das kollekti-
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ves und ideologisches Handeln nicht thematisiert oder gar verpönt, greift diese alltags- und sozialgeschichtliche Perspektive dankbar auf. Die multiperspektivische Herangehensweise soll gewährleisten, europäische Geschichte als Zusammenspiel vielfältiger Nationalgeschichten und subnationaler Historiografien zu verstehen. Dieser Punkt belegt, dass die Geschichtspolitik und mit ihr die Holocausterinnerungspolitik im Europarat nach keinem Masternarrativ europäischer Geschichte trachtet22 . Es wird vorausgesetzt, dass sämtliche historische Erfahrungen anerkannt werden müssen, um das Zusammenleben im Sinne europäischer demokratischer Citizenship fundieren zu können.
3.3 B ILDUNG ZU D EMOKR ATIE , M ENSCHENRECHTEN UND D IVERSITÄT Dass die Geschichte Lehren für die Gegenwart und Zukunft bereitstelle, machten Teaching remembrance und die schulische Geschichtsvermittlung bereits deutlich. Die Europaratsprogramme für Bildung zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität (EDC/HRE) antworten mit ihrem Kernanliegen einer europäischen demokratischen Citizenship auf die Frage, was der Holocaust lehrt. Zusätzlich zu den bislang untersuchten Texten gibt es eine Reihe spezifischer Quellen wie das Abschlussdokument des zweiten Europaratsgipfels in Straßburg 1997 (Summit 1997) und Rechtsakte der Parlamentarischen Versammlung23 und des Ministerkomitees24 zur Bildung von Menschenrechten und demokratischer Citizenship 22 | Ein derartiges Masternarrativ würde darüber hinaus an der fragmentierten Entstehung der entsprechenden Entscheidungen und Veröffentlichungen im Europarat sowie an fehlender Macht und Legitimationsstiftung der Straßburger Organisation scheitern. 23 | Recommendation 1346 (1997) (On human rights education) (PACE 1997); Recommendation 1804 (2007) (State, religion, secularity and human rights) (PACE 2007a); Recommendation 1849(2008) (For the promotion of a culture of democracy and human rights through teacher education) (PACE 2008). 24 | Recommendation (2002) 12 (On education for democratic citizenship) (CM 2002a); CM (2005) 164 (Faro Declaration on the Council of Europe’s Strategy for Developing Intercultural Dialogue) (CM 2005); Council of Europe Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education. Recommen-
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(Council of Europe Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education), zu Staat, Religion, Säkularität und Menschenrechten, zur Förderung einer Demokratie- und Menschenrechtskultur durch Lehrendenausbildung und zur Entwicklung des interkulturellen Dialogs (Faro-Erklärung 2005). Auf dem Warschauer Gipfeltreffen 2005 rückt auch die sogenannte Islamophobie25 auf die Liste der einzudämmenden Diskriminierungsphänomene und Ideologien (Summit 2005). Das White Paper on Intercultural Dialogue – Living Together As Equals in Dignity26 ergänzt das Zweigespann aus Menschenrechten und demokratischer Citizenship mit einer angesichts von Migrationsgesellschaften notwendigen Handlungsgrundlage zur Interkulturalität (Council of Europe Ministers of Foreign Affairs 2008). Auf diese rechtlichen Grundlagen bauen die abgeschlossenen Projekte All Different – All Equal, Learning and living democracy for all sowie das aktuelle Vorhaben Learning democracy and human rights in school and out-of-school throughout life und daraus resultierende Unterrichtsmaterialien27 auf. Die rege Produktion von Unterrichtsmaterialien zu EDC/HRE dation CM/Rec (2010) 7 (CM 2010a); Recommendation (2010) 7 (On Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education). 25 | Der Begriff Antimuslimismus würde die Komponente der Diskriminierung von und des Rassismus gegen Musliminnen und Muslime besser fassen. Islamophobie suggeriert, dass der Islam als Religion nicht kritisiert werden sollte. 26 | Das White Paper on Intercultural Dialogue will Interkulturalität über fünf Strategien erreichen: demokratisches Regieren und kulturelle Diversität, demokratische Citizenship und Teilhabe, Lernen und Lehren interkultureller Kompetenzen, Räume für interkulturellen Dialog sowie interkultureller Dialog in den internationalen Beziehungen. Holocaust Education wird beim Erwerb interkultureller Kompetenzen explizit genannt (Council of Europe Minister of Foreign Affairs 2008: 16). Gleichfalls werden die Bekämpfung von Antisemitismus und Antiziganismus (in Verbindung mit Antirassismusarbeit und Kampagnen gegen Islamophobie) angeführt (ebd.: 41). 27 | Domino. A manual to use peer group education as a means to fight racism, xenophobia, anti-semitism and intolerance (Brander/Gomes/Taylor 2004); The challenge of intercultural education today: religious diversity and dialogue in Europe (CDED 2004); Religious diversity and intercultural education. A reference book for schools (u.a. Jackson 2007); Forum on ›Civic Partnerships for Citizenship and Human Rights Education‹ (Council of Europe/Sweden 2008); Teaching democracy. A collection of models for democratic citizenship and human rights
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durch institutionelle und externe Autorinnen und Autoren in jüngster Vergangenheit zeigt den enormen Bedarf an politischer Aktion und pädagogischer Tätigkeit in diesem Bereich auf. Das Weißbuch Interkulturalität von 2008 und die in weiterer Folge entstandenen Publikationen verzahnen EDC/HRE noch expliziter mit der Holocaust Education. Die Erkenntnis, dass die Holocaust Education im Europarat vor allem ein reflektiertes Lernen für die Zukunft bedeutet, ist bereits etabliert. Die Bildung zu Menschenrechten, Demokratie und Diversität knüpfte somit seit ihrem Bestehen fast logisch an die Forderung nach dem Nie wieder Nationalsozialismus an. Auch im Programmbereich EDC/HRE dominiert ein schulischer Ansatz mit allen damit verbundenen Chancen (ganze Alterskohorten werden erreicht) und Schwierigkeiten (Zwangskorsett Schulpflicht). Erst in den jüngsten Quellen nimmt der Holocaust jedoch eine explizitere Rolle ein. Ob diese Pädagogik gelingt, hängt fast ausschließlich von den jeweiligen Lehrkräften ab, wobei es der heranwachsenden Generation zufällt, die Ziele gesellschaftlich tatsächlich umzusetzen. Bezeichnend ist folgender in Varianten häufig auftauchender Satz: »In Europa wird der Schwerpunkt darauf gelegt, wie Bildung zur Antriebskraft für Veränderung sozialer Praxis sowohl an der Schule als auch anderswo gemacht werden kann.« (Arnesen et al. 2009: 16; Übers. E.K.)
education (Gollob/Krapf 2008); Future Programme of Activities 2010-2014. Project 2-A. Learning democracy and human rights in school and out-of-school throughout life (CDED 2009); Learning and Living Democracy. How all teachers can support citizenship and human rights education – A framework for the development of competences (Brett/Mompoint-Gaillard/Salema 2009); Policies and practices for teaching sociocultural diversity. Concepts, principles and challenges in teacher eduation (Arnesen et al. 2009); Evaluation Report on the Programme ›Learning and living democracy for all‹ 2006-2009 (CDED 2010); Growing up in democracy. Lesson plans for primary level on democratic citizenship and human rights (Gollob/Krapf/Weidinger 2010a); Learning Democracy and Human Rights (Council of Europe/Switzerland 2010); Strategic support for decision makers. Policy tool for education for democratic citizenship and human rights (Kerr et al. 2010); Taking part in democracy. Lesson plans for upper secondary level on democratic citizenship and human rights education (Gollob/Krapf/Weidinger 2010b).
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Die Grundkompetenzen zur Verbesserung von Demokratie und sozialem Zusammenhalt bilden interkulturelle Kompetenz, Mehrsprachigkeit, soziales Engagement, Solidarität und Multiperspektivität (vgl. Brett/ Mompoint-Gaillard/Salema 2009: 9). Lehrende sind also angehalten beziehungsweise sollen dahingehend aus- und weitergebildet werden, Schülerinnen und Schüler politisch zu alphabetisieren28. Politische Bildung wird dabei zum Unterrichtsprinzip, das als Einzelfach, in mehreren Gegenständen oder als Querschnittsmaterie zu behandeln ist. Es wird vorgeschlagen, Demokratie- und Menschenrechtserziehung nicht nur in Geschichte, Geografie, Literatur, Sprachen und Kreativfächern, sondern auch in Naturwissenschaften (Stichwort: Bioethik) und Mathematik (Stichwort: Bevölkerungsstatistik) einfließen zu lassen (ebd.: 38). Partnerschaften mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Non-Profit-Dienstleistenden würden das bürgerschaftliche Engagement der jungen Menschen fördern. Über all dem steht das Ziel, die schulische Lernumgebung zu demokratisieren. Kinder und Jugendliche sollen in sie betreffende Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Durch dieses citizenship by doing würde Demokratie im eigenen Nahbereich erlebbar (vgl. ebd.: 59, 60). Das vom Lenkungsausschuss für Bildung verabschiedete Tätigkeitsprogramm im Bereich des Demokratie- und Menschenrechtslernens in und außerhalb von Schulen für die Jahre 2010 bis 2014 beinhaltet eine Passage zu Holocaust Education als integralen Teil der Europaratswerte, auf denen künftige bildungspolitische Anstrengungen aufbauen sollen. Die Demokratieentwicklung in Europa wird als nicht linear dargestellt. »Sie umfasst unsere besten Errungenschaften und das düsterste Scheitern in unserer Vergangenheit: die Entwicklung des Konzeptes, wonach alle Individuen gleich an Würde und Menschenrechten seien sowie die Verweigerung derselben im Holocaust und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« (CDED 2009; Übers. E.K.)
28 | Folgende Termini werden eingeführt: citizenship literacy, political and legal literacy, social and cultural literacy, economic literacy, European and global literacy.
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Am positivsten ragt aus diesem Maßnahmenrepertoire das Prinzip heraus, die schulische Lernumgebung zu demokratisieren. Damit ist selbstverständlich nicht der ganze Schulbetrieb veränderbar, da weder gewisse Kernfächer noch die Anwesenheitspflicht oder Hierarchien zwischen Lehrern und Schülern abgeschafft werden können. Aber zumindest reflektieren die Quellen die Problematik autoritärer Erziehung und legen Gegenmaßnahmen dar. Inwieweit Maßnahmen tatsächlich implementiert werden, hängt maßgeblich von der jeweiligen Schule und einzelnen Lehrkräften ab. Dass diese in unterschiedlichen Schultypen vor Heranwachsenden aus diversen Herkunftszusammenhängen unterrichten und sich Schultraditionen sowie pädagogisch-didaktische Zugänge im Europaratsraum beträchtlich unterscheiden, ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. Gesellschaften mit langjährigen antiautoritären Schulkonzepten sowie Bildungseinrichtungen mit einem hervorragenden Konfliktmanagement werden die angestrebten Europaratsprinzipien zweifelsfrei schneller erreichen. Über der EDC/HRE nach dem Holocaust steht die Idealisierung Europäischer Demokratischer Citizenship respektive des bürgerschaftlichen Handelns der künftigen Erwachsenen im individuellen Umfeld zur Verhinderung von Demokratie- und Menschenrechtsvergehen und in letzter Konsequenz von Genozid und einem weiteren Holocaust. Dabei wird ausgespart, dass politische Mobilisierung für gesamtgesellschaftliche Veränderungen eines Momentes kollektiver und vielfach ideologischer (wenn auch nicht zwingend parteigebundener) Handlung bedarf. Dem bisher Gesagten zum Trotz ist EDC/HRE von allen Bereichen der Holocausterinnerungspolitik im Europarat derjenige, der seinen Aktionsradius über das schulische Lernen am weitesten hinaus ausspannt. Die längste Geschichte weist ein Peer-education-Ansatz in der Antirassismusarbeit auf. Jüngste Entscheidungen im Europarat forcieren, die Bildung zu Menschenrechten, Demokratie und Diversität in Richtung lebenslanges Lernen auszuweiten, wobei im Umfeld der Straßburger Organisation noch keine entsprechenden Umsetzungskonzepte vorliegen. Bis in das Jahr 1995 zurück reicht die Jugendkampagne All Different – All Equal, die aufbauend auf dem Konzept der Peer Group Education Trainingsmaßnahmen unter Gleichaltrigen zu Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus und Intoleranz anstoßen möchte. Der Europarat legte das Handbuch von All Different – All Equal 2004 in überarbeiteter Fassung wieder auf. Die Kampagne geht davon aus, junge Menschen im Alter von 14 bis 20 Jahren für Aktivitäten zu mobilisieren, die ihnen die »Möglichkeiten
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geben ihre eigenen Bildungs- und Informationsprogramme zu schaffen, wodurch Eigenschaften wie Engagement, Loyalität und Idealismus hervorgerufen werden können« (Brander/Gomes/Taylor 2004: 9; Übers. E.K.). Die vorgeschlagenen Aktivitäten sollen helfen, die in jugendlichen Cliquen vielfach dominanten Wir-Sie-Vorstellungen zu überwinden, da diese auch rassistischen, xenophoben, antisemitischen, antiziganistischen, antimuslimischen, frauenfeindlichen oder homophoben Inhaltes sein können. Wenn die unmittelbare Umgebung verändert wird, ist Diversität positiv besetzt und mittels Schneeballeffekt können weitere Jugendliche und Erwachsene erreicht werden. Die präsentierten Aktivitäten, die darauf zielen, ein Bewusstsein zu schaffen, Reflexionsprozesse auszulösen und Konflikte konstruktiv zu lösen, beinhalten jedoch keine Mechanismen, um die Qualität und Evaluation zu sichern. Genauso wenig gibt das Handbuch den selbst jugendlichen Trainerinnen und Trainern historische und begriffliche Grundlagen zu Rassismus, Antisemitismus und den anderen genannten Phänomenen an die Hand. Die Veröffentlichung ist selbst nicht frei von problematischen Bildern. Die sich mehrmals wiederholenden Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen junge Menschen unterschiedlicher Herkunft. Während die meisten Abgebildeten westlich gekleidet sind, erscheint ein afrikanischer Mann in traditioneller Kleidung und mit Trommel (nicht jedoch beispielsweise eine blonde Europäerin oder ein blonder Europäer in Tracht und auf einem landestypischen Musikinstrument spielend). Das Handbuch von All Different – All Equal enthält schließlich ein pathetisches Gedicht mit dem Titel Une Europe unie pour un monde sans peur, une fraternité des toutes les couleurs (auf Deutsch: Ein vereintes Europa für eine Welt ohne Angst, für Brüderlichkeit aller Farben) (ebd.: 88). Rezenteren Datums sind Bemühungen, EDC/HRE mit lebenslangem Lernen zu koppeln, wobei bis dato konkrete Implementierungsmethoden fehlen. Die Council of Europe Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights (CM 2010a) rechnet beide Komponenten dem lebenslangen Lernen zu. Sie seien beispielsweise in Berufsaus- und Berufsweiterbildungen, in den Hochschulsektor, in Verwaltungshandeln und die Aktivitäten der Mitgliedstaaten in anderen internationalen Organisationen einzubauen, an zivilgesellschaftliche Akteure zu vermitteln und durch einschlägige Forschung zu überprüfen (CM 2010b). Einen Schritt in Richtung Umsetzungswerkzeuge könnte das 2008 von Schweden gemeinsam mit dem Europarat einberufene Forum zu Civic Partnership for Citizenship and
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Human Rights Education leisten, das die Rolle von Nichtregierungsorganisationen und das lebenslange Lernen betont, damit EDC/HRE gelingen kann (Council of Europe/Sweden 2008). Begrüßenswert ist angesichts der oben geäußerten Kritik, dass außerschulische und insbesondere die Erwachsenenwelt betreffende Lernformen ausgeweitet werden. Es wird sich zeigen, welche didaktischen Modifikationen der Europarat vorstellen wird. Fakt ist, dass Erwachsene bereits gegenwärtig über Handlungsmacht verfügen, damit aber deutlicher in eingefahrene Denkmuster verstrickt sind. Die Lernprogramme dürfen auf kein Übermorgen vertrösten, sondern müssen Erwachsene heute fordern und Jugendliche für morgen fördern. Spiegelbildlich zu einem Zugang, in dem Erwachsene andere Erwachsene zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität anleiten, verhält sich All Different – All Equal als Programm von Jugendlichen für Jugendliche. Die angezeigten Probleme fehlender Qualitätssicherung wiegen die erhofften Vorteile auf, die zwischen lehrenden und lernenden Peers eine vertrauensvolle und freundschaftliche Atmosphäre schaffen. Viele Klassenzimmer, Universitäten, Arbeitsplätze, Freizeitorte und insgesamt die Gesellschaften im Europaratsraum sind dadurch geprägt, dass sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Identität und Lebensstile versammeln. Wo Demokratie- und Menschenrechtserziehung gefordert wird, steht auch zur Disposition wie mit Diversität umgegangen wird. Um Interkulturalitäts- und Diversitätskonzepte umzusetzen, während identitäre Grenzen zugleich bewahrt werden, bedarf es klarer Standpunkte bei Grundsatzfragen und konkrete Situationen des Zusammenlebens müssen sorgfältig ausgehandelt werden. Die relevanten Quellen geben allgemeine Leitlinien vor und zeigen anhand zahlreicher didaktischer Methoden, wie diese sich primär im schulischen Kontext umsetzen lassen. Die vom Europarat als wichtig erachteten Diversitätsaspekte entstammen entweder dem Bildungsbereich (Zugänglichkeit von Bildung für alle, politische Bildung, Schulbesuch für Kinder von Romnia und Roma, interkulturelles Training) oder sind allgemeiner gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Art (Mehrsprachigkeit, Respekt vor Minderheiten, Integration von Migrantinnen und Migranten, Chancengleichheit, Bewahrung individueller Charakteristika, religiöse Vielfalt, Geschlechtergleichheit, Berücksichtigung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen) (Arnesen et al. 2009: 14, 25). Die entsprechenden Quellen räumen ein, dass diese ehrgeizige Liste nicht reibungslos umgesetzt werden kann. Es wird konstatiert,
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dass Individuen nicht durch ihre kulturellen Zugehörigkeiten endgültig determiniert werden, Strukturen sich laufend ändern und es innerhalb jeder Gruppe Pluralität sowie zwischen unterschiedlichen Gruppen Gemeinsamkeiten gibt (ebd.: 32, 33). Interkulturalität würde Interdependenz und (eine notwendige) Interaktion beinhalten (ebd.: 51) und könne zu Spannungen zwischen kulturellen Rechten, die gewährt werden, und dem Europäischen Menschenrechtskatalog führen. »Eindeutig ist nicht jeder Aspekt soziokultureller Diversität respektabel, so beispielsweise sexistische, rassistische und homophobe Sichtweisen.« (Ebd.: 42) Ein spezifischer Bereich betrifft religiöse Vielfalt sowohl als real existierendes Phänomen im Klassenzimmer und außerhalb davon als auch als zu vermittelnder Gegenstand an Schulen. Die fast ausnahmslos zunehmend säkularen europäischen Gesellschaften müssten Religion dennoch als öffentlich präsentes Thema wahrnehmen. Dabei sei die Balance zu finden, sowohl unterschiedliche Formen von Religiosität als auch eine staatsbürgerlich-grundrechtliche Ausrichtung zu respektieren, die die Religion ablehnt (Milot 2007: 30). Pluralität ist nicht nur abzubilden und nachvollziehbar zu machen, sondern zu fordern und zu leben (Jackson 2007: 32). In einer Reihe von Handreichungen für Lehrende werden detaillierte Unterrichtspläne entworfen, die darauf zielen, EDC/HRE in Schulklassen der Primär29 - und Sekundarstufe30 altersgerecht erlebbar zu machen. Sie 29 | Die einzelnen Einheiten umfassen Identität (Ich in meiner Gemeinschaft), Diversität und Pluralität (Zu Hause in Europa), Gleichheit (Minderheiten und Mehrheiten), Konflikt (Regeln helfen Konflikte lösen), Regeln und Gesetz (Die Grundlage des Zusammenlebens), Macht und Autorität (Ich bin der Boss. Bin ich das?), Verantwortung (Ich werde öko… meine Schule nimmt daran teil!), Rechte und Freiheit (Meine Rechte – deine Rechte) und Medien (Medien in Verwendung: Ich würde, wenn ich könnte) (Gollob/Krapf/Weidinger 2010a; Übers. E.K.). 30 | Die einzelnen Einheiten umfassen Identität (Auswahl treffen; Wir formen unser Leben und auch das anderer Menschen), Verantwortung (Teilnehmen, Verantwortung übernehmen; Freiheit bedeutet Verantwortung), Diversität und Pluralismus (Konsens durch Dissens? Wie einigen wir uns auf das Gemeinwohl?), Konflikt (Wie lösen wir das Nachhaltigkeitsdilemma?), Regeln und Gesetz (Welche Regeln nützen uns am meisten? Entscheidungsfindungsspiel), Staat und Politik (Das Policy-Cycle-Modell; Wie löst eine demokratische Gemeinschaft ihre Probleme?), Gleichheit (Herrschaft der Mehrheit – faire Herrschaft? Wie können wir Konflikte um Mehrheits- und Minderheitsangelegenheiten in einer Demokratie
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verstehen Schule und besonders das Klassenzimmer als Mikrokosmos der demokratischen Gesellschaft. Allen Vorschlägen ist daher gemein, dass sie ein aktives, aufgabenbasiertes und interaktives Lernen in Teams propagieren, das die Schulklassen anregt, selbstständig und kritisch zu denken. Angestrebt werden Kompetenzen, mit Information, Kommunikation und Medien sowie demokratischer Entscheidungsfindung umzugehen und Politik zu bewerten (Gollob/Krapf/Wiedinger 2010a: 7-11). Das 2008 publizierte Teaching democracy betont, dass der gemeinsame länderübergreifende und europäische Ansatz im Bereich der Demokratie- und Menschenrechtserziehung notwendig ist, um die Vielfalt im Europaratsraum zu verstehen (Gollob/Krapf 2008: 9). Die angeführten Überlegungen zur Diversität und Interkulturalität markieren mit ihrem Anliegen Vielfalt zu gestalten einen entscheidenden Schritt weg von der Multikulturalität, dem soziologischen Modekonzept der Jahrtausendwende, und seinem politischen Bündnispartner Multikulturalismus mit seiner Laisser-faire-Haltung, wenn es um kulturell begründete Unterschiede geht. Der Europarat verfügt mit seiner Wertetrias zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie sowie der Europäischen Konvention für Menschenrechte über stabile normative Grundlagen, um den Rahmen des Zulässigen abzustecken, innerhalb dessen offene und konflikthafte Debatten zu fördern sind. Die korrespondierenden Unterrichtsmaterialien bereiten Schulkinder darauf vor, Diversitäts- und Interkulturalitätsherausforderungen konkret auszuhandeln und heben sich somit von moralisierender Mitleidspädagogik positiv ab. Europäische demokratische Citizenship benötigt Handlungsleitlinien, um der Aufgabe gewachsen zu sein, einen künftigen Holocaust zu vermeiden. Angesichts des Schwerpunktes von EDC/HRE und der Grundwerte des Europarates scheint vorderhand banal, dass es für das making Europe zentral ist, die Menschenrechte einzuhalten und die Demokratie auszubauen. Heranwachsende praktizieren diese Prinzipien im sozialen Nahbereich des Klassenzimmers und können dort ein demokratisches Zusammenleben erproben. Obwohl EDC/HRE den Rahmen schulischen Lernens überschreitet, adressiert es mit seinen Ansätzen aus der Peer education und dem Lebenslangen Lernen wiederum die Erfahrungswelt der beilegen?), Freiheit (Öffentlich debattieren; Wieso funktioniert die (Rede-)Freiheit nicht ohne Regeln?) und Medien (Teilnahme an der Demokratie über Medien) (Gollob/Krapf/Weidinger 2010b; Übers. E.K.).
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oder des Einzelnen, beispielsweise den Arbeitsplatz oder den Freizeitort. Mit seinem rezenten Fokus auf Diversität und Interkulturalität zeigt EDC/ HRE aber auch auf, wo die Grenzen liegen, um den Anderen anzuerkennen. Europa weiter auszubauen und auszugestalten, was nicht unbedingt konfliktfrei verläuft, erfolgt auf einem eingegrenzten Fundament aus Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie, das – so die Maxime des Europarates – nach dem Holocaust unumstößlich bleiben soll.
3.4 A NTISEMITISMUS - UND R ASSISMUSBEK ÄMPFUNG Die Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus findet aufgrund der institutionellen Gegebenheiten des Europarates getrennt von der Holocausterinnerungspolitik statt und liegt insbesondere in der Verantwortung von ECRI. Allerdings nehmen Teaching remembrance und ECRI voneinander Notiz (Gespräch Regard 2009). Weil andere Akteure transnationaler Erinnerungspolitik Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung nicht von der Holocausterinnerung trennen, ist auch die diesbezügliche Tätigkeit des Europarates in der vorliegenden Studie berücksichtigt. Folglich besitzt die Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung auch eigene, durch die Parlamentarische Versammlung beschlossene, rechtliche Grundlagen31 . ECRI, dessen Gründung auf die ersten Europaratsgipfel in Wien 1993 (Summit 1993) und Straßburg 1997 (Summit 1997) zurückgeht,
31 | Recommendation 1275(1995) (On the fight against racism, xenophobia, anti-Semitism and intolerance) (PACE 1995); Recommendation 1438(2000) (Threat posed to democracy by extremist parties and movements in Europe) (PACE 2000); Recommendation 1453(2001) (Racism and xenophobia in cyberspace) (PACE 2001); Resolution 1344(2003) (Threat proposed to democracy by extremist parties and movements in Europe) (PACE 2003a); Resolution 1345(2003) (Racist, xenophobic and intolerant discourse in politics) (PACE 2003b); Resolution 1495(2006) (Combating the resurgence of Nazi ideology) (PACE 2006c); Resolution 1563(2007) (Combating anti-Semitism in Europe) (PACE 2007b). Nicht untersucht wurden die Berichte über die Beobachtung individueller Länder (country monitoring) in Hinblick auf die Erfüllung der Vorgaben von ECRI.
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veröffentlicht regelmäßig themenbezogene Politikempfehlungen32 sowie fallweise Überblicksdokumente (ECRI 2004a; ECRI 2009a; ECRI 2010) zur Frage der Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus33 . Zudem brachte sich der Europarat beim Vorbereitungstreffen Europäische Konferenz gegen Rassismus zur 2001 abgehaltenen Durban-Weltkonferenz gegen Rassismus ein (CM 2000a; CM 2000b). Zahlreiche Quellen postulieren, dass Antisemitismus und Rassismus als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus bekämpft würden; zudem stellt dies ein wichtiges Präventionsinstrument dar. Sie benennen die aus dem Holocaust erwachsende Pflicht im Europaratsraum und darüber hinaus gegen die den Nationalsozialismus ermöglichenden Ideologien zu wirken, als zentralen Existenzgrund der Straßburger Organisation. Derartige Formulierungen sind vergleichsweise neu und darauf zurückzuführen, dass die NS-Judenvernichtung als paradigmatisches Verbrechen gewertet wird. 32 | General Policy Recommendation (GPR) Nr. 1 – Bekämpfung von Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus und Intoleranz (1996); GPR Nr. 2 – Fachorgane zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus und Intoleranz auf nationaler Ebene (1997); GPR Nr. 3 – Bekämpfung von Rassismus und Intoleranz gegen Roma/Sinti (1998); GPR Nr. 4 – Nationale Erhebungen über die Erfahrung und Wahrnehmung von Diskriminierung und Rassismus aus Sicht der potentiellen Opfer (1998); GPR Nr. 5 – Bekämpfung von Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Muslimen (2000); GPR Nr. 6 – Bekämpfung der Verbreitung von rassistischem, fremdenfeindlichem und antisemitischem Gedankengut durch das Internet (2000); GPR Nr. 7 – Nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung (2002); GPR Nr. 8 – Bekämpfung von Rassismus beim Kampf gegen den Terrorismus (2004); GPR Nr. 9 – Bekämpfung des Antisemitismus; GPR Nr. 10 – Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung im und durch Schulunterricht (2006); GPR Nr. 11 – Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung in der Polizeiarbeit (2007); GPR Nr. 12 – Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung im Sport (2009). General Policy Recommendations zu rassistischer Diskriminierung in der Arbeitswelt und zu Antiziganismus sind angekündigt (vgl. ECRI 2010). 33 | Begriffliche Festlegungen erfolgen nur im Rahmen einer dünnen Definition zu rassistischer Diskriminerung (ECRI 2002: 5). ECRI anerkennt zwar die Spezifizität des Antisemitismus, fasst seine Bekämpfung im gleichen Satz jedoch als integralen Bestandteil der Rassismusbekämpfung auf (ECRI 2004c: 4).
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In seiner Ansprache Lessons learned? Holocaust remembrance and combatting anti-Semitism zum 70. Jahrestag des Novemberpogroms klagt der damalige Europaratsgeneralsekretär Terry Davis heutige Diskriminierung und Exklusion aufgrund von von außen festgeschriebener Fremdheit an. Er warnt in Gedenken an die Anfänge der nationalsozialistischen Judenverfolgung davor, erste Anzeichen zu ignorieren oder zu verharmlosen. »Es wäre natürlich völlig falsch zu denken, dass sich die Welt seit 1933 nicht verändert hätte. Es wird keine zweite Kristallnacht und keinen zweiten Holocaust geben. Aber nicht weil die Kristallnacht und der Holocaust nicht wieder passieren könnten, sondern weil wir sie nicht passieren lassen können, dürfen und wollen.« (Davis 2008; ›Kristallnacht‹ im Original, Übers. E.K.) Anlässlich der Gedenkzeremonie am 27. Januar 2011 verwies der amtierende Europaratsgeneralsekretär Thorbjørn Jagland auf die Tatsache, dass die im Holocaust ermordeten Kinder heute in Europa lebende Großeltern sein könnten. Jagland möchte als Teil der Erinnerung jedem Opfer seinen Namen zurückgeben und gleichzeitig gegen Intoleranz, Vorurteile und Hass im gegenwärtigen Europa handeln. Das soll im Rahmen eines von gegenseitigem Respekt geprägten Gesellschaftsmodells für das Europa von Morgen passieren (Jagland 2011). Auf der in Vorbereitung zur World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia und Related Intolerance (Durban 2001) vom Europarat 2000 als Vorbereitungstreffen abgehaltenen European Conference against Racism34 bezog sich Walter Schwimmer in seiner Ansprache unter anderem auf Holocaustrevisionismus, Antisemitismus sowie politischen Extremismus und benennt den Kampf »gegen Nazismus, Faschismus und Totalitarismus« (Schwimmer 2000a; Übers. E.K.) als selbstverständlich für eine nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Organisation. Die von den Ministerinnen und Ministern der Europaratsstaaten angenommene politische Erklärung schreibt fest, dass der Holocaust niemals vergessen werden darf (CM 2000a). Die dazugehörigen Schlussfolgerungen führen weiter aus, dass Holocaustleugnung unter Strafe zu stellen sei und die Er34 | Abgesehen von den damaligen Europaratsmitgliedstaaten und den Organen und Abteilungen des Europarates ergingen Einladungen an die Institutionen der EU, einschlägige Agenturen der UN, die OSZE, relevante NGOs und an Armenien, Aserbaidschan, Australien, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Israel, Kanada, Heiliger Stuhl, Japan, Mexiko, Neuseeland und die Vereinigten Staaten von Amerika.
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forschung und Vermittlung des Holocaust sowie ein jährlicher Holocaustgedenktag gefördert werden sollen (CM 2000b, 7, 16). In beiden Dokumenten wird dazu aufgerufen, den Antisemitismus zu bekämpfen. Im Rahmen der Durban-Konferenzen eröffnen Walter Schwimmer und Terry Davis eine globale Perspektive, die in Europaratsquellen äußerst selten zu finden ist. Aufgrund der antisemitischen Vorfälle auf der folgenden Durban-Konferenz spricht sich Schwimmer nicht nur explizit gegen antisemitische Andeutungen »im politischen Diskurs« (Schwimmer 2001; Übers. E.K.) und darüber aus, dass antisemitischer Hass im Internet verbreitet wird, sondern versichert »verdeckte Arten von Antisemitismus wie Antizionismus« zu bekämpfen, wozu die Angriffe auf europäisch-jüdische Studierende während des Durbaner NGO-Forums und des Jugendgipfels ausreichend Anlass seien. Davis’ Statement zur Durban Review Conference 2009 in Genf, die ebenso wie die erste Veranstaltung in Durban und der Vorbereitungsprozess von offener antisemitischer Agitation dominiert waren, unterstreicht, »dass Europa nicht still bleibt, wenn irgendjemand irgendwo Intoleranz und Hass predigt oder die Lehren zurückweist, die wir aus unserer eigenen schmerzlichen Vergangenheit gelernt haben. Es gibt über den Holocaust nichts Zweideutiges oder Zweifelhaftes. Und wir werden unsere Stimme erheben, wann immer wir hören, dass irgendjemand die Tatsache leugnet, dass Millionen Juden, Roma, Homosexuelle und Menschen mit Behinderungen in den Todeslagern ermordet wurden.« (Davis 2009; Übers. E.K.) Die ECRI-Überblicksdokumente Activities of the Council of Europe with Relevance to Combating Racism and Intolerance und Combating Racism and Intolerance. An introduction to the work of the European Commission against Racism and Intolerance begründen die Arbeit von ECRI gleichfalls mit dem Nationalsozialismus: »Der Europarat wurde 1949 errichtet um sicherzustellen, dass die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges nie mehr wieder geschehen würden. Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus und Intoleranz waren unter den Hauptgründen für diese große Tragödie.« (ECRI 2004a: 6; Übers. E.K.) Die leicht abgewandelte Formulierung lautet: »Der Kampf gegen Rassismus und Intoleranz ist eine der Raisons d’être des Europarates, dessen historische und politische Wurzeln auf den Zweiten Weltkrieg und die Notwendigkeit dem vorzubeugen, dass seine Schrecken nochmals geschähen, zurückgehen.« (ECRI 2009a: 3; Übers. E.K.) Anders als Teaching remembrance sprechen die in diesem Kapitel herangezogenen Texte eine klare Sprache in Bezug auf Antisemitismus und
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als Antizionismus getarnten Judenhass, der in seiner exterminatorischen Form den Holocaust ermöglichte und seither nicht völlig verschwunden ist. Dadurch anerkennen sie auch, dass der Holocaust präzedenzlos (nicht einzigartig), aber grundsätzlich auch wiederholbar sei. Dennoch fehlt eine Analyse postnazistischer Kontinuitäten in den ehemaligen Täter-, Mitläufer- und Kollaborateursgesellschaften. Es ist auch unwahrscheinlich, dass der Europarat auf der globalen Bühne mehr erreichen wird, als gegenwärtige antisemitische Manifestationen oder Holocaustleugnungen verbal zu verurteilen. Der Europarat müsste sich hier auf schlagkräftigere Partner wie die Europäische Union mit einem geschlossenen Standpunkt ihrer Mitgliedstaaten verlassen. ECRI entwirft konkrete Maßnahmen, um Antisemitismus, Rassismus und auch Antiziganismus nach dem Holocaust zu kontern. Darunter fallen Erinnerungsaktivitäten genauso wie strafrechtliches Vorgehen. Diesen Maßnahmen ist gemeinsam, dass sie sich auf die Täterinnen und Täter sowie in der allgemeinen Rassismusbekämpfung auf die Veränderung gesellschaftlicher Umstände konzentrieren. Nur ein Vorschlag seitens des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung zielt auf interreligiösen Dialog zwischen jüdischen und muslimischen Menschen ab. ECRI zählt die Opfer aller genannten Ideologien in einer Einschätzung aus dem Jahr 2009 zu den am meisten gefährdeten Personengruppen in Europa. Die 2004 verabschiedete Allgemeine Politische Empfehlung zur Bekämpfung des Antisemitismus verweist mehrfach auf den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden und auf die Verwendung von NS-Symbolen durch heutige Antisemitinnen und Antisemiten. Eine ausführliche Liste an Maßnahmen gegen Antisemitismus inkludiert die Erforschung des und die Bildung über den Holocaust (vgl. ECRI 2004c). Die Strategien, antiziganistische Diskriminierung einzudämmen, bekräftigen die Pflicht, den nationalsozialistischen Genozid an Romnia und Roma gemeinsam zu erinnern, ehe sich die Empfehlungen auf die Bekämpfung stereotyper Vorstellungen und die Verbesserung der Lebenssituation von Romnia und Roma hinwenden (ECRI 1998a: 3-5). Ähnlich wird die Erinnerung an den Holocaust in die Empfehlungen zur Bekämpfung des Antisemitismus eingeflochten, wobei sich historisch schwammige Formulierungen einschleichen: »[…] in Hommage an die jüdischen Opfer der Tötungen und systematischen Verfolgungen unter den totalitären Regimes, die dem Zweiten Weltkrieg folgten, wie auch an die anderen Opfer dieser Politiken« (ECRI 2004c: 3; Übers. E.K.). Die Gründe, warum der Antise-
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mitismus fortdauert, sucht ECRI im gesellschaftlichen Mainstream und nicht lediglich bei marginalen und radikalen Gruppen (ebd.). Wichtige Abhilfen seien, wenig überraschend, Bildung über Antisemitismus, jüdische Geschichte, den Holocaust und die dem Zweiten Weltkrieg folgenden totalitären Regimes (ebd.: 6). Es kann nur gemutmaßt werden, dass unter den folgenden totalitären Regimes u.a. die stalinistische Sowjetunion zu verstehen ist. Die Empfehlungen für nationalstaatliche Gesetzgebung zur Rassismusbekämpfung und Antidiskriminierung fordern, dass Verhetzung, Leugnung oder Verharmlosung von Genoziden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Verbreitung rassistischen Gedankengutes und die Bildung ebensolcher Gruppen strafrechtlich verboten werden. Zudem soll Genozid als Straftatbestand in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aufgenommen werden (ECRI 2002: 7ff.). Der Maßnahmenkatalog gegen Antisemitismus spezifiziert auch die Trivialisierung oder Leugnung des Holocaust und anderer antisemitischer Verbrechen als strafrechtlich zu ahndendes Vergehen (ECRI 2004c: 5)35 . Eine andere Auffassung von Antisemitismusbekämpfung vertritt Mevlüt Çavuşoğlu, Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Sein Ansatz zielt nicht ausschließlich auf Antisemitinnen und Antisemiten, sondern auf die jüdischen Betroffenen, die er in einen interreligiösen Dialog mit Musliminnen und Muslimen einbinden will. Dieser interreligiöse Dialog sei notwendig, um eine Abkehr von demokratischen Standards und »unseren gemeinsamen Werten und Prinzipien« (Çavuşoğlu 2011; Übers. E.K.) zu verhindern. Ethnische, religiöse und kulturel35 | Als zusätzliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus nennt die ECRI Gesetzgebung inklusive Verbote rassistischer Handlungen und Organisationen (ECRI 2002), Trainings für öffentlich Bedienstete (besonders für Vollzugsbeamtinnen und -beamte), Bewusstseinsschaffung durch Bildung und Medien, Dialogführung und einschlägige Forschung (ECRI 1996), Datensammlung und -veröffentlichung auch bezüglich der Wahrnehmungen potentieller Opfer (ECRI 1998b) sowie die Schaffung von Fachorganen zur Rassismusbekämpfung (ECRI 1997). Maßgeschneiderte Strategien werden für die Felder Internet (ECRI 2000b), Terrorismusbekämpfung (ECRI 2004b), Schule (ECRI 2006), Polizeiarbeit (ECRI 2007) und Sport (ECRI 2009b) angeboten. Dabei werden Internet, Schule und Sport als Orte zum Transport sowohl rassistischer als auch antirassistischer Botschaften erkannt.
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le Unterschiede würden von in mitgliedstaatlichen Parlamenten vertretenen Parteien ausgeschlachtet werden, um von den »wirklichen Problemen und wirklichen Lösungen« (ebd.) abzulenken. Auch die ECRI-Empfehlungen gegen antimuslimische Diskriminierung referieren indirekt darauf, indem sie zwar fordern, dass Religion und Staat getrennt werden, aber gleichzeitig unterstreichen, dass Judentum, Christentum und Islam die sogenannte europäische Zivilisation beeinflussen (ECRI 2000a: 3). Problematisch ist bei einem Dialog zwischen jüdischen und muslimischen Menschen, dass die Rolle der (meist christlich geprägten) Mehrheitsgesellschaften, die Reduktion von Antisemitismus und Antimuslimismus auf religiöse Unterschiede sowie die Zuschreibung religiöser Identitäten an Betroffene ausgeblendet wird. Im größeren Rahmen der Antirassismusarbeit distanziert sich ECRI von der wissenschaftlich längst widerlegten Vorstellung von der Existenz unterschiedlicher menschlicher Rassen, verwendet den Begriff allerdings, um zu gewährleisten, »dass jene Personen, die generell und fälschlicherweise als einer ›anderen Rasse‹ zugehörig wahrgenommen werden, nicht von gesetzlichen Schutzmaßnahmen ausgenommen werden« (ECRI 2002: 5; Herv. i.O., Übers. E.K.). Als Hauptbetroffene aktueller rassistischer Diskriminierung in Europa stuft ECRI Romnia und Roma, Fahrende, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und Asylwerbende, jüdische Gemeinden, schwarze Menschen und muslimische Gemeinschaften ein. Andere Formen der Diskriminierung, beispielsweise aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung und Behinderung, fallen nicht in das Mandat von ECRI (vgl. ECRI 2009a: 11). Die von ECRI erarbeiteten Maßnahmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Fokus auf Täterschaft und gesellschaftliche Reproduktion diskriminierender Handlungen richten. Die Erkenntnis, dass Wissen über die Opfer nicht reicht, um Hassideologien zu begegnen und dadurch Betroffene zu schützen, hat sich bei ECRI durchgesetzt. Die Rassismusbekämpfung des Europarates inkludiert somit auch keine Empowermentprogramme. Ohne derartige Ansätze grundsätzlich abzulehnen, könnten sie wiederum den Eindruck erwecken, dass die Opfer ihr Verhalten ändern müssten, um von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden. Die Antisemitismus- und Rassismusbekämpfungsmaßnahmen sprechen im Rahmen einer ansonsten Ideologien ausblendenden Holocausterinnerungspolitik im Europarat jene Ideologien an, die für die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit relevant waren. Die von
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Spitzenvertretern des Europarates und von ECRI vorgeschlagenen Antworten auf Diskriminierung und Ausgrenzung widersprechen nicht der europäischen demokratischen Citizenship nach dem Holocaust. Das Enacting Europe beinhaltet, dass rechtliche Maßnahmen permanent umgesetzt werden und ein antidiskriminatorisches Bewusstsein gebildet wird. Dies geschieht auf dem normativen Post-Holocaust-Fundament, das Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus klar zurückweist. Die diskutierten Quellen verdeutlichen jedoch, dass die begrenzte Wirkungsmacht des Europarates diesen Bestrebungen – beispielsweise im Fall der DurbanKonferenzen – rasch Grenzen aufzeigt.
3.5 P ROGR AMME FÜR UND IN Z USAMMENARBEIT MIT R OMNIA UND R OMA Die Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma beinhalten erinnerungspolitische, geschichtsdidaktische und Antidiskriminierungskomponenten. Alle bisher diskutierten Themenbereiche spielen in diesem Bereich zusammen. Trotzdem beruhen die Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma auch auf eigenen Rechtsgrundlagen36. Im Umfeld des Europarates sind spezifische Projekte und Publikationen über, für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma angesiedelt. Ein Nicht-Roma-Publikum adressieren die von externen Autorinnen und Autoren vorgelegten Überblickswerke Roma, Gypsies, Travellers37 (Liégeois 1994), Roma in Europe (Liégeois 2007) sowie die Factsheets on Roma History38 (u.a. Wogg/Pawlata/Wiedenhofer 2008a). Die 2006 ge36 | Recommendation 1557 (2002) (The legal situation of Roma in Europe) (PACE 2002); Recommendation (2008) 5 (On policies for Roma and/or Travellers in Europe) (CM 2008a); Recommendation (2009) 4 (On the education of Roma and Travellers in Europe) (CM 2009). 37 | Liégeois rechtfertigt die im Buchtitel angegebenen Begrifflichkeiten Gypsies (zu Deutsch: Zigeunerinnen und Zigeuner) und Travellers (Fahrende), da der Terminus Romnia und Roma nicht alle betroffenen Gruppen abdecken würde (Liégeois 1994: 37, 38). 38 | Die Themen der einzelnen Hefte lauten im englischen Original: From India to Europe; Arrival in Europe; Ottoman Empire; Wallachia and Moldova; Central Europe; Western Europe; Austro-Hungarian Empire; Russian Empire; The Great ›Gyp-
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startete Europaratskampagne Dosta! (Romani: Genug!) stellt gleichfalls Hintergrundinformationen39 über Romnia und Roma bereit, richtet sich mit einem Empowerment-Angebot aber auch an die Betroffenen selbst. Die aktualisierte und nunmehr Roma in Europe betitelte Ausgabe ist in englisch, französisch, albanisch, aserbaidschanisch, rumänisch, türkisch und ungarisch erhältlich. Positiv fallen die Auswahlbibliografie und die institutionellen Verweise am Ende des Bandes auf, der sensiblere Umgang mit Gruppenbezeichnungen (Liégeois 2007: 11), Einschübe zur Haltung des Vatikans gegenüber Romnia und Roma (ebd.: 131ff.), die stärkere Berücksichtigung räumlicher und sozialer Segregation im heutigen Europa (ebd.: 156), die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Interkulturalismus (ebd.: 192ff.) sowie das größere Verständnis für gegenwärtige Migration unter Romnia und Roma, die nicht mit Nomadismus verklärt werden kann (ebd.: 282). Selbstverständlich wurden Angaben zu Roma-Organisationen sowie zu europäischen und internationalen Einrichtungen mit einschlägigen Politiken auf den neuesten Stand gebracht. Dies ändert jedoch nichts an der ausführlichen folkloristischen Darstellung der als typisch betrachteten Lebenswelt von Romnia und Roma. Das Romani Project der Universität Graz betreute die im Rahmen des Europaratsprojektes edierte Sammlung Factsheets on Roma History redaktionell. Zielgruppe der von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Herkunftsländer verfassten Informationsbroschüren ist eine an der Geschichte der Romnia und Roma interessierte Leserschaft. Der historische Bogen spannt sich von der Einwanderung der Romnia und Roma aus Indien nach Europa über die flächendeckenden Razzien in Spanien am 30. Juli 1749, dem sogenannten Schwarzen Mittwoch und gesy‹ Round-up in Spain; Second Migration; Austria and Hungary 1850-1938; Soviet Union Before World War II; Holocaust; Concentration Camps; The Nazi Period in Italy; Internment in France 1940-1946; The Nazi Period in the Baltic States; Deportations from Romania; The Situation of Concentration Camp Survivors; State Policies under Communism; Institutionalisation and Emancipation; Third Migration. 39 | Anti-Gypsyism (Dosta 2006a); Anti-Semitism and Anti-Gypsyism (Dosta 2006b); Anti-Tsiganism, anti-Gypsyism, and Romaphobia essentially mean the same thing (Dosta 2006c); Aspects of anti-Gypsyism (Dosta 2006d); Overcoming anti-Gypsyism (Dosta 2006e); Roma and the Holocaust (Dosta 2006f); Stereotypes and prejudices (Dosta 2006g); What does ›Samudaripen‹ mean? (Dosta 2006h); Why is 8 April the International Roma Day? (Dosta 2006i).
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waltsame Sesshaftmachung und Verbürgerlichung im aufgeklärten Absolutismus der Habsburgischen Herrscher Maria Theresia und Joseph II. bis hin zum Nationalsozialismus und seinen Nachwirkungen. Geopolitisch werden das Osmanische und das Habsburger Reich, das heutige Rumänien und Moldau (dort wurden Romnia und Roma bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklavinnen und Sklaven gehalten), Mittel- und Westeuropa, das Russische Reich und die darauf folgende Sowjetunion sowie Spanien erfasst. Die Herausgeberinnen und Herausgeber versprechen in der endgültigen Sammlung auch Factsheets zu »Ethnokultur, Sprache, Literatur, Musik, Tanz und den Künsten« der Romnia und Roma (Wogg/Pawlata/ Wiedenhofer 2008e: 4; Übers. E.K.). Die genannten Publikationen präsentieren eine Historiografie über Romnia und Roma für wenig informierte Außenstehende. Diesen Quellen ist ein ethnografischer und zuweilen auch exotisierender Blick inhärent. Der Übergang zwischen einerseits umfassender und andererseits stereotypisierender Darstellung ist fließend. So wird in einer Studie über historische Migrationsströme erwähnt, dass ein Teil der Vorfahren der heutigen Romnia und Roma vom indischen Subkontinent nach Europa wanderten. Wenn aber Romnia und Roma die einzige Opfergruppe sind, bei der Publikationen aus dem Europarat auf eine Jahrhunderte zurückliegende außereuropäische Herkunft hinweisen, so schließt dies Romnia und Roma letztlich aus einem imaginierten europäischen Kollektiv aus. Die Exklusion erfolgt in älteren Quellen vor allem darüber, dass sozio-ökonomische Abweichungen hervorgehoben werden, während die neuere Literatur auf Abstammungs- und Verwandtschaftskriterien abzielt. Eine stark verallgemeinernde ethnographische Beschreibung angeblicher Lebensweisen, Familien- und Erwerbsstrukturen bietet Liégeois. Negativ fällt bei Roma, Gypsies, Travellers auf, dass auf dem Einband des Buches eine sehr junge Frau mit einem Säugling im Arm abgebildet ist. Es bleibt Spekulation, ob das Aussehen der Frau an rassistische Vorstellungen der Physiognomie von Romnia und Roma erinnern und Assoziationen mit hoher Fertilität wecken soll. Die Ausgabe von 1994 beginnt – für Publikationen über Romnia und Roma typisch – damit, dass die Bevölkerungsgröße geschätzt und verschiedene Familien- und Gruppenzugehörigkeiten erläutert werden. Um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Englischen einerseits und Romani-Varianten und von Fahrenden auf den britischen Inseln verwendeten Idiomen andererseits zu demonstrieren, nennt Liégeois als Beispiel ausgerechnet The bad man said ›Get out, dog!‹,
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and hit the woman till I saw him and he fled, so als gelte es, Ressentiments noch zu verstärken (Liégeois 1994: 50). Die Skizzierung familialer und sozio-ökonomischer Zusammenhänge geht von einer stereotypen und statischen Romnia und Roma-Musterfamilie aus, die seit Jahrhunderten auf dem ganzen europäischen Kontinent einer uniformen Lebensweise frönt. Das Roma-Kind aus Liégeois’ Vorstellungswelt wächst im Verband der Generationen auf, lernt genügsam sein Handwerk, heiratet jung und wird dazu erzogen, vor der Außenwelt, also auch der Schule, Angst zu haben (ebd.: 87), weil dort das intuitive Lernen von den älteren Geschwistern und unmittelbare und leidenschaftliche Ausdrucksweisen (ebd.: 88) nicht geschätzt würden. Ähnlich verhielte es sich mit Lohnarbeit, die Romnia und Roma vermieden, um den Kontakt zur Umgebungsbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Die Freizeit würde bei Festen, Familienfeiern und Krankenbesuchen verbracht (ebd.: 95). Auf immerhin zehn Seiten wird die Musik der Romnia und Roma behandelt, was schließlich in stereotypen und essentialisierenden Darstellungen der von Liégeois imaginierten Identität und Lebensweise der Romnia und Roma mündet. »Zigeuner und Fahrende wissen wer und was sie sind; sie fühlen es, sie leben es.« (Ebd.: 109) Der Autor schreckt nicht davor zurück, die primitiven Zuschreibungen weiter zu steigern: »Das Wichtige ist der flüchtige Moment, und das ist es, wo Wohlstand angebracht ist (gutes Essen, kurzfristiger Komfort, das Gefühl des Zelebrierens) in einer Ökonomie des Vergänglichen, des Nomaden überbordende Nüchternheit, in der alles auf das Essentielle beschränkt wird.« (Ebd.: 111) Da die Herkunft der Romnia und Roma vom indischen Subkontinent permanent betont wird, wird der Anschein erweckt, dass es abgesehen davon im Laufe der Geschichte keine Wanderungsbewegungen nach, von und in Europa gegeben hätte (Wogg/Pawlata/Wiedenhofer 2008f). Linguistische Beziehungen zwischen Indien und Europa lassen sich beim Großteil der in Europa verbreiteten Sprachen feststellen. Die Migration aus Indien im 14. und 15. Jahrhundert kann nur durch externe Quellen und linguistische Verwandtschaft rekonstruiert werden. Ergänzend soll nun die Populationsgenetik aushelfen. Es ist selbstverständlich jedem Individuum überlassen, mittels genetischer Untersuchungen den Kreis seiner möglichen Vorfahren einzugrenzen. Jedoch ist es mehr als fraglich, ob diese Methode in einer Europaratspublikation zustimmend rezipiert werden muss (ebd.). Wenige Seiten später verurteilen die gleichen Autorinnen und Autoren zu Recht die pseudowissenschaftliche Erbbiologie vor und
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im Nationalsozialismus scharf (Wogg/Pawlata/Wiedenhofer 2008g). Auch Dosta! kommt nicht ohne Verweise auf die nationalsozialistisch aufgeladene arische Herkunft – wenn auch in Anführungszeichen – aus. Romnia und Roma sollten im Nationalsozialismus vernichtet werden, »obwohl sie ›Arier‹ im eigentlichen Sinn des Wortes« seien (Dosta 2006h; Herv. i.O., Übers. E.K.). Keine der diskutierten Quellen ist per se antiziganistisch. Im Gegenteil sind sie entstanden, um den Antiziganismus europaweit zu bekämpfen. Die ethnografischen und exotisierenden Darstellungen von angenommenen, wenn auch längst durch die vielfältige Realität widerlegten Lebensweisen von Romnia und Roma sowie das akribische Erforschen der indischen Herkunft mehrheitlich durch Nichtromnia und Nichtroma reproduzieren jene Ressentiments, die man zu überwinden sucht. Die beständigen Vergleiche zwischen Sanskrit und Romani (nicht jedoch der zahlreichen anderen indo-europäischen Sprachen) lassen zumindest Zweifel bestehen, ob das politisch nicht mehr artikulierbare Erstaunen oder Unbehagen, das die imaginierte stereotype Physiognomie hervorruft, durch die Hintertür sprachlicher Ähnlichkeiten oder genetischer Eingrenzungsverfahren zwischen (Teilen der) Inderinnen und Inder und Romnia und Roma perpetuiert wird. Das historische Ereignis des Samudaripen und besonders die Erinnerung daran nehmen keinen dominanten Platz in den Darstellungen der Roma-Geschichte ein. Sie sind meist in den größeren Rahmen der Verfolgungsgeschichte inkorporiert. Dabei treten Unterschiede zwischen der NSJudenvernichtung und dem NS-Genozid an Romnia und Roma zu Tage, wobei sich gleichzeitig die Frage von Anerkennungsansprüchen stellt. Liégeois erwähnt in beiden Publikationen fast beiläufig, dass die Romnia und Roma unter der nazistischen Verfolgung entrechtet und ermordet wurden (Liégeois 1994; Liégeois 2007). In der älteren Ausgabe sind lediglich fünf Seiten der Verfolgung und Ermordung im Nationalsozialismus gewidmet, wobei in der faktisch dichten Beschreibung kein einziges Mal die Begriffe Holocaust, Porajmos, Samudaripen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufscheinen. Vergangenheits- und erinnerungspolitische Aspekte spart Liégeois gänzlich aus. Die Factsheets setzen in den 1920er Jahren an, als fest verankerte antiziganistische Politik und Stereotype in Deutschland und Österreich dazu führten, dass dort lebende Romnia und Roma polizeilich gefasst wurden. Der nationalsozialistische Genozid wird unter dem Titel Holocaust behan-
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delt (Wogg/Pawlata/Wiedenhofer 2008g). Romnia und Roma wurden von der nationalsozialistischen Rassenhygienischen Forschungsstelle als erblich asozial und kriminell klassifiziert, wobei besonders sogenannte Mischlinge verfolgt wurden. Umgekehrt gab es Romnia und Roma, die aufgrund der ihnen zugeschriebenen arischen Herkunft gleichsam als Exponate für NS-Völkerkundemuseen am Leben gelassen wurden. Aufgrund der partiell nichtsesshaften Lebensform von Romnia und Roma brandmarkte sie das NS-Regime als Komplizen und Spione des jüdischen Bolschewismus und tötete sie gemeinsam mit Jüdinnen und Juden und Partisaninnen und Partisanen in den nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzügen in Ost- und Südosteuropa (vgl. ebd.). Mehrere Factsheets thematisieren die Internierung in Konzentrationslagern, Zwangsarbeit und Medizinverbrechen, die Ghettoisierung in Łódz sowie die Deportation und Vernichtung in Kulmhof/Chełmno und Auschwitz (Baumgartner 2008a) ebenso wie die spezifische Situation der Verfolgung im faschistischen Italien (Boursier 2008) und in den Baltischen Staaten (Zimmermann 2008). Das faschistische Rumänien deportierte die Romnia und Roma nach Transnistrien (Ionescu 2008). Frankreich ließ die in Lager eingesperrten Romnia und Roma erst 1946 frei (Hubert 2008). Wogg, Pawlata und Wiedenhofer halten fest, dass die Verfolgung der Romnia und Roma wesentlich weniger koordiniert war als jene der Jüdinnen und Juden. Roma, die als Wehrmachtssoldaten eingezogen waren, wurden nichtsdestotrotz teilweise direkt von der Front nach Auschwitz verbracht und dort ermordet. Auch das sensible Thema, ob Shoah und Samudaripen zu vergleichen sind, wird nicht ausgespart. Da die genaue Zahl an Roma-Opfern noch nicht abschließend erforscht ist, bleibt diese Diskussion äußerst kontrovers (vgl. Wogg/Pawlata/Wiedenhofer 2008g). Mussten Jüdinnen und Juden bereits massiv dafür kämpfen, dass die an ihnen und ihren ermordeten Angehörigen verübten Verbrechen anerkannt wurden, so stellt(e) sich die Situation für Romnia und Roma noch gravierender dar. Die Factsheets on Roma History beziehen sich darauf, dass die aus der vornazistischen Periode stammende Punzierung von Romnia und Roma als asozial ihnen den Status als aus rassistischen Gründen Verfolgte verwehrte. Zudem ließen sich oft personelle Kontinuitäten bei den für Zigeunerfragen zuständigen Amtsträgerinnen und -trägern, Gutachterinnen und Gutachtern sowie Expertinnen und Experten ausmachen. In der früheren DDR mussten überlebende Romnia und Roma als einzige NS-Opfergruppe ihre antifaschistisch-demokratische Gesinnung nachweisen, um als ehemals Verfolgte anerkannt zu werden (vgl.
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Baumgartner 2008b). Für die realsozialistischen Staaten lässt sich kein eindeutiges Urteil fällen, zumal unterschiedliche Politiken gesellschaftlicher Integration, die teilweise einer Assimilationsstrategie nahe kamen, forciert wurden (Marushiakova/Popov 2008d). Die Entwicklung in Rumänien zeigt exemplarisch, dass Romnia und Roma auch nach dem Sturz des Antonescu-Regimes 1944 eine soziale Kategorie und keine anerkannte ethnische Minderheit blieben. Die dortigen Nachkriegsprozesse behandelten kaum die unter mörderischen Bedingungen stattfindende Deportation der Romnia und Roma wie es auch zu keinen Kompensationsleistungen kam. Die 2003 in Rumänien eingerichtete Holocaustkommission war die erste in einem osteuropäischen Land, die den Genozid an Romnia und Roma als solchen bezeichnete (Ionescu 2008). Im Eintrag zu Samudaripen klagt Dosta!, dass der Genozid durch Historikerinnen und Historiker und durch die Medien beschwiegen wird, was auch darin zum Ausdruck käme, dass Romnia und Roma nichtdeutscher (und nichtösterreichischer) Nationalität keine Entschädigungsleistungen erhalten und in den Beirat des United Holocaust Memorial Museum bis dato nur zwei Romnia und Roma gewählt wurden (Dosta 2006h). In eine ähnliche Richtung geht die von Dosta! wiedergegebene Rede der Romni Miranda Vuolasranta bei der liberalen jüdischen Bewegung in Straßburg am Yom HaShoah (jüdischer Holocaustgedenktag) 2006. Vuolasranta moniert die ausbleibende Anerkennung des Genozides, während antiziganistische Ressentiments in West- und Osteuropa dagegen weiterhin bedenkenlos artikuliert werden könnten. Die Mehrheitsgesellschaft würde Romnia und Roma für den Antiziganismus beschuldigen. Medienberichte, die kriminelle Handlungen einzelner Romnia und Roma als kollektive Eigenschaften darstellen, verstärken diese Tendenz. Derartige »Berichterstattung hätte die diplomatischen Beziehungen mit den USA und Israel ernsthaft beschädigt, wäre sie gegen Afro-Amerikaner oder Juden gerichtet« (Dosta 2006f; Übers. E.K.). Als positiv empfindet Vuolasranta, dass der Samudaripen in die Reden der Präsidenten von Polen und Israel zum 60. Jahrestag der Auschwitzbefreiung miteinbezogen worden sei. Die Teaching remembrance zuzuordnende pädagogische Handreichung Le témoignage du survivant en classe. 16 fiches pédagogiques führt das späte Einsetzen einer Samudaripenerinnerung darauf zurück, dass Romnia und Roma über keine (verschriftlichte) Erinnerungskultur verfügten und das Erzählen familiärer Erfahrungen im öffentlichen Raum tabuisiert sei. Oftmals fehle älteren Romnia und Roma eine Schulbildung, die aber
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Voraussetzung für ein wirksames Zeitzeugengespräch im Klassenzimmer sei (Regard o.J.: 31-33). Ob es nicht an der Mehrheitsgesellschaft läge, überlebenden Romnia und Roma Bedingungen zur Verfügung zu stellen, in denen sie ihre Geschichte selbstbestimmt dokumentieren können (Auftritte in Schulklassen oder Videoaufnahmen sind bekanntlich nicht die einzigen Optionen), wird nicht näher ausgeführt. Abschließend verweist Regard auf die Unterschiede zwischen den an Jüdinnen und Juden begangenen Verbrechen und dem Samudaripen (z.B. in Bezug auf die Totalität der Vernichtung), wobei sie allerdings davor warnt, die Opfererfahrungen zu hierarchisieren (ebd.: 33). Der Samudaripen und die Erinnerung bilden eine zunehmend signifikante, wenn auch nicht beherrschende Komponente der Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma. Der Holocaust an den Jüdinnen und Juden bildet dabei die Vorlage, von der sich einige Quellen zugunsten historischer Genauigkeit abgrenzen, auf Basis derer andere jedoch ihre Ansprüche für eine umfassende Erinnerungspolitik des NS-Genozides an Romnia und Roma formulieren. Dadurch hebt sich der Samudaripen aus der Jahrhunderte andauernden Geschichte des Antiziganismus ab und gewinnt an Bedeutung als präzedenzlose Form der Verfolgung gegen Romnia und Roma. Noch behandeln die relevanten Publikationen aus dem Umfeld des Europarates die Seite konkreter Täterinnen und Täter zu wenig. Zumindest aber wird der Samudaripen immer mit seiner ideologischen Grundlage des Antiziganismus erinnert. Romnia und Roma waren und sind in allen europäischen Staaten Diskriminierungen und struktureller wie physischer Gewalt ausgesetzt. Der Europarat bemüht sich Romnia und Roma mit Empowerment auszustatten, damit sie dem Antiziganismus ein positives, selbstverwirklichtes Leben entgegen setzen können. Die Sozial- und Entwicklungsarbeit für Romnia und Roma in den 1970er und 1980er Jahren war paternalistisch. Sie ist aber weitgehend Ansätzen der Selbstermächtigung gewichen. Diese betonen teilweise weiterhin ein kollektives Selbstverständnis der Romnia und Roma und begreifen Roma-Sein nicht als Bestandteil individueller Identität. Liégeois befürwortete noch 1994 Sonderschulen (im Englischen: special education) für Romnia und Roma, so lange sie besonderen Unterricht (specialised education) anbieten würden (Liégeois 1994: 211). Zustimmend kommentiert er auch den nicht belegten Ausspruch von Fahrenden-Organisationen, wonach »es die Gemeinschaft ist, die zählt, und dass die Dynamik der Gemeinschaft die Dynamik der in ihr enthaltenen Individuen de-
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terminieren würde« (ebd.: 267; Übers. E.K.). Unterstützungsmaßnahmen sollen laut Liégeois vor allem Fahrenden zukommen, da feste Wohnsitze ihre dramatische soziale Situation noch verschlimmern würden (vgl. z.B. ebd.: 177). Wenig überraschend unterstützt Liégeois die zum Publikationszeitpunkt sich verstärkenden Bemühungen der Europäischen Union, des Europarates, der OSZE und der Vereinten Nationen sowie die Herausbildung internationaler Vertretungen und Zusammenschlüsse von Romnia und Roma, um im emanzipatorischen Sinne selbst initiativ zu werden. Obwohl von keiner dieser Organisationen ein souveräner Staat für Romnia und Roma angestrebt wird, freut sich Liégeois, dass »Romanesthan in ihren Herzen erreicht wird« (ebd.: 272; Herv. i.O., Übers. E.K.). Neue Perspektiven in Hinblick auf den Kampf gegen Antiziganismus und Empowerment wirft die Factsheetsammlung auf, die Informationen zum Entstehen nationaler (z.B. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma) und internationaler Vertretungen (z.B. World Romani Congress, European Roma and Traveller Forum) der Romnia und Roma bereitstellt. Ein Factsheet ordnet das als Gypsy Industry bezeichnete Engagement transnationaler Nichtregierungsorganisationen unter der Trägerschaft von Nichtromnia und -roma kritisch ein, weil dadurch wohlwollend paternalistische Politik gegenüber Romnia und Roma nur verlängert würde (Wogg/Pawlata/ Wiedenhofer 2008h). Die Migration von Romnia und Roma von Ost- nach Westeuropa im Zuge der sogenannten Gastarbeiteranwerbung ab den 1960er Jahren und vor allem nach dem Ende des Realsozialismus und während der Balkankriege wirft jedoch eine neue Problematik auf. Da die so migrierten Romnia und Roma nur über ihre Staatsangehörigkeit registriert werden, finden sie keinen Zutritt zu jenen Rechten, die sich die in Westeuropa bereits heimischen Romnia und Roma als nationale und/oder ethnische Minderheiten erkämpfen konnten (Karoly 2008). Wo kollektive Rechte nicht greifen, versucht Dosta! Individuen vermittels positiver Identifizierung zu erreichen. Bekannte Persönlichkeiten, die Romnia und Roma sind, sollen Vorbildwirkung für junge Romnia und Roma entfalten, jedoch auch Fremdzuschreibungen und von dritter Seite verursachte Zurschaustellung kippen. Den Medien würde in der Antiziganismusbekämpfung eine gewichtige Rolle zukommen. So könnten durch Berichte über Anwältinnen und Anwälte, Lehrerinnen und Lehrer, Politikerinnen und Politiker sowie Ärztinnen und Ärzte mit Roma-Herkunft Klischeevorstellungen widerlegt und Romnia und Roma eine Stimme verliehen werden (Dosta 2006e).
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Wiewohl Romnia und Roma sich bis dato nicht zu einer Nationalbewegung mit Anspruch auf Staatlichkeit versammelt haben, setzten Empowermentkampagnen auf die Karte positiver Kollektivität (im Gegensatz zu reinem Minderheitenschutz). Den Topos von Romnia und Roma als europäisches Volk oder europäische Nation führen erst die Publikationen ab den 2000er Jahren ein. Im Eintrag von Dosta! zu Antiziganismus heißt es demgemäß: »Romnia und Roma können als erstes europäisches Volk betrachtet werden, da sie europäische Grenzen ›brachen‹ lange bevor internationale Verträge oder die Konvention [EMRK; Anm. E.K.] existierten. Sie reisten durch ganz Europa und bereicherten ihre Kultur durch die Kultur der besuchten Länder sowie sie das europäische kulturelle Erbe mit ihrem eigenen Beitrag bereicherten.« (Dosta 2006a; Herv. i.O.; Übers. E.K.) Schließlich sucht Dosta! sich mit jüdischen Opfern von Antisemitismus zu solidarisieren. Dosta! begreift Antiziganismus als spezifische Form des Rassismus (vgl. Dosta 2006c) und arbeitet Gemeinsamkeiten von Antiziganismus und Antisemitismus heraus. Demnach seien Romnia und Roma und Jüdinnen und Juden die beiden Minderheiten, die in Europa aufgrund der ihnen zugeschriebenen Minderwertigkeit am stärksten von Diskriminierung betroffen waren und sind. Eine weitere Parallele sieht Dosta! in der Tatsache, dass beide Gruppen eine außereuropäische Abstammung hätten. »[D]ie Juden kommen aus der Gegend, die nun Israel und Palästina ist, und von der Südküste des Schwarzen Meeres und die Roma aus Indien.« (Dosta 2006b; Übers. E.K.) Der Unterschied zwischen Antiziganismus und Antisemitismus läge darin, dass letzterer gegenwärtig gesellschaftlich und politisch diskreditiert sei, während die Existenz von Antiziganismus vielfach abgestritten würde (ebd.). Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass Akteure wie der Europarat Romnia und Roma nicht mehr mit Mitleid und fremdbestimmten Verbesserungsideen bedenken, sondern die Opfer von antiziganistischer Diskriminierung dazu motivieren, in eigenem Interesse politisch zu handeln. Organisierte Vertretungen sind dafür besonders in der Anfangsphase des Empowerment unabdingbar. Ein kollektives Selbstverständnis, in dem selbsternannte Repräsentantinnen und Repräsentanten für eine ganze Gruppe zu sprechen glauben, kann die neu erkämpfte Selbstbestimmung individueller Romnia und Roma wieder unterminieren. Problematisch sind essentialisierende Selbstzuschreibungen wie jene der Kulturbereicherung, da damit Romnia und Roma einmal mehr als Außenstehende aufgefasst werden, die nur etwas beitragen, Europa aber nicht integral angehören. Auch die Vorstellung,
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wonach sozioökonomische Verbesserungen antiziganistische Diskriminierung gleichsam beheben würden, fällt hinter das Reflexionsniveau von ECRI zurück. Antiziganismus parallel zu Antisemitismus zu positionieren erregt im Sinne politischer Kampagnenarbeit Aufmerksamkeit, zeugt allerdings von einem verkürzten Begriff von Antisemitismus. Mitglieder der Mehrheitsgesellschaften hassen und töten Jüdinnen und Juden ob der ihnen angedichteten Superiorität (in der historischen Spannbreite vom Gottesmordvorwurf über Brunnenvergiftungsanschuldigungen bis zu Weltbeherrschungsfantasien), wohingegen Romnia und Roma in ihrer Existenz aufgrund der ihnen unterstellten Minderwertigkeit bedroht sind. In einer vergleichenden Perspektive von Europaratsaktivitäten gegen Antisemitismus und Antiziganismus ist festzuhalten, dass es mittlerweile undenkbar wäre, jüdische Speisegesetze, die partielle lexikalische Verwandtschaft des Jiddischen und Hebräischen mit dem Assyrischen und Ugaritischen oder Statistiken zu von Jüdinnen und Juden ausgeübten Berufen anzuführen. Genau das passiert in Bezug auf Romnia und Roma aber aktuell noch immer in den untersuchten Quellen. Auf den ersten Blick erscheinen die Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma wie ein Lehrbeispiel für die Realisierung europäischer demokratischer Citizenship. Auch wenn die einzelnen Aspekte chronologisch in anderer Reihenfolge entstanden sind, bietet sich gegenwärtig ein Bild von der Samudaripenerinnerung, das die Notwendigkeit der Bekämpfung des Antiziganismus unterstreicht. Die konkreten Lebenssituationen von Romnia und Roma werden verbessert beziehungsweise die marginalisierten Menschen befähigt, um selbstständig ihre Lage an europäische Mindeststandards von Wohlstand heranzuführen. Die oft als europäische Minderheit bezeichneten Romnia und Roma sind nicht mehr länger unmündige Empfängerinnen und Empfänger europäischer Politik, sondern gestalten Europa mit. Die Bruchlinie zum generellen Europaratbild der Holocausterinnerungspolitik verläuft entlang der Vorstellung ihres Andersseins. Das exotisierende Staunen über Romnia und Roma positioniert letztere außerhalb der anerkannten Vielfalt Europas – als Eindringlinge, nicht jedoch als integralen Bestandteil.
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3.6 E UROPÄISCHE DEMOKR ATISCHE C ITIZENSHIP NACH DEM H OLOCAUST Aus der institutionellen Verankerung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat lässt sich rasch ablesen, dass die Straßburger Organisation die Erinnerung an die nationalsozialistischen Massenverbrechen hauptsächlich mit pädagogischen respektive bildungspolitischen Maßnahmen verbindet. Das Studium der erinnerungspolitisch relevanten Quellen erlaubt jedoch verfeinerte Schlüsse in Hinblick einerseits auf das durch die Holocausterinnerungspolitik produzierte und propagierte Europabild sowie andererseits auf die europäische demokratische Citizenship als zentrale Lehre aus dem Holocaust beziehungsweise als Mittel, um künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Die erinnerungspolitischen Texte entwerfen Europa als sich entwickelndes Projekt, das auf den normativen Grundlagen der Wertetrias des Europarates (Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie) und dem Nie wieder Holocaust steht. Der Europarat, der unmittelbar nach dem Nationalsozialismus entstanden ist und Europa im schulgeografischen Sinne als Akteur fast gänzlich umfasst, übernimmt dabei die Rolle, dieses Fundament und damit auch die Holocausterinnerung zu hüten. Der Europarat regt auf dieser Basis Politiken zur schulischen Geschichtsvermittlung, Menschenrechtserziehung, Diversitätsgestaltung, Antisemitismusbekämpfung und zum Empowerment von Romnia und Roma an. Die Programme sind zukunftsorientiert und in diesem Sinne ist die Holocausterinnerungspolitik im Europarat auch teleologisch. Den Zielen, Genoziden vorzubeugen und Menschenrechte zu schützen, wohnt per se ein universalistisches Moment inne, wobei der Europarat, der seine Durchsetzungsmöglichkeiten realistisch einschätzt, seinen Wirkungskreis auf die Mitgliedstaaten und die dort lebenden Menschen ausrichtet. Als markantestes Charakteristikum konzentriert sich die Holocausterinnerungspolitik im Europarat auf Individuen in pluralen Lebenszusammenhängen und adressiert mit den diskutierten Programmen insbesondere Heranwachsende. Mit den erinnerungspolitischen Aktivitäten verbindet sich die Erwartung, eine europäische Bürgerin und einen europäischen Bürger im Sinne europäischer demokratischer Citizenship zu schaffen. Die Verantwortung für pluralistische Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte sowie konkret, künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, wird in Abkehr von den kollektiven Zivilgesellschaftsideen
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zunehmend individualisiert. Jede und jeder soll wissen, dass sie oder er im eigenen Nahbereich nach dem Motto You can make a difference kleine Schritte setzen kann, während den gesamtgesellschaftlichen und den europäischen Konsens in Frage stellende Forderungen ausgeblendet bleiben. Dieser tendenziell entpolitisierte Zugang hat zunächst den pragmatischen Vorteil, dass die Zustimmung fast aller mitgliedstaatlichen Vertreterinnen und Vertreter unabhängig von ihren konkreten (erinnerungs-) politischen Überzeugungen stabil ist. Zudem bietet das Konzept der europäischen demokratischen Citizenship einen probaten Ansatz gegen essentialistische Vorstellungen von Zugehörigkeit und Gemeinschaft auf der subnationalen, nationalen oder europäischen Ebene. Gleichzeitig verkennt dieser Ansatz, wie bedeutsam die – wenn auch diffuse – ideologisch grundierte Mobilisierung und kollektives Handeln für politische Veränderungen sind. Das führt dazu, dass die Austragung politischer Konflikte mit demokratischen Mitteln abgewertet wird, was den ursprünglichen Europaratswerten widerspricht. Außerdem bleibt zweifelhaft, ob und wie sich die im schulischen Kontext präsentierten Handlungsanleitungen ohne konkrete politische Intervention in die spätere Erwachsenenwelt übersetzen lassen. Auf Holocausterinnerungspolitik übertragen bedeutet dies, dass europäische Bürgerinnen und Bürger die Lehre aus dem Nationalsozialismus ziehen sowie Diskriminierung, Exklusion und Krieg ablehnen sollen, die gesellschaftlichen Grundlagen für Antisemitismus und für die präzedenzlosen Verbrechen des Holocaust sowie postnazistische Kontinuitäten aber nicht angetastet werden müssen. Allerdings reicht die Individualisierung wiederum nicht so weit, dass damit zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Familienbiografie oder Sozialisation, sei es in Hinblick auf Täter- und Mitläuferschaft oder in Bezug auf autoritäre Erziehungsmuster, aufgefordert würde. Eine Probe auf das Exempel europäischer demokratischer Citizenship nach dem Holocaust stellt der Umgang mit Romnia und Roma im eigenen sozialen Nahbereich dar. Empirische Befunde für den gesamten Europaratsraum belegen, dass in dieser drängenden Frage die auf humanistischen Motiven aufbauende Bürgerschaftlichkeit bisher völlig versagt hat. Daher sind eine politische Mobilisierung und demokratische Aushandlung unabdingbar, um Antiziganismus zu beseitigen und Chancengleichheit für Romnia und Roma herzustellen.
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4. Fazit: Holocausterinnerungspolitik im kosmopolitischen Projekt Europa
Am Beginn des Buches stand der Anspruch, die Themenstränge Holocausterinnerung und Europa politikwissenschaftlich zu verknüpfen und die Frage zu beantworten, in welchen institutionellen Zusammenhängen (innerhalb des Europarates und in Bezug auf andere erinnerungspolitische Akteure) erinnerungspolitische Maßnahmen ergriffen werden, welche inhaltlichen Schwerpunkte sich dabei herausbilden und welche Vorstellung von Europa damit transportiert wird. Kapitel 1 befasste sich zunächst grundlegend mit der Entwicklung transnationaler und europäischer Holocausterinnerung sowie dem entsprechenden Forschungsstand und grenzte die Begriffe Holocaust, Erinnerungspolitik und Europa ein. Es schloss mit einem Abriss über die Geschichte, Struktur und Arbeitsschwerpunkte der wissenschaftlich und medial unterbelichteten Straßburger Organisation. Kapitel 2 befasste sich mit dem Ort der Holocausterinnerungspolitik innerhalb des institutionellen Gefüges des Europarates sowie auf der Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik. Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat entstand historisch Ende der 1990er Jahre aus der Kultur- und Geschichtspolitik der Straßburger Organisation. Sie ist in der DG IV und somit im Bildungsportfolio des Europarates angesiedelt, was auch die Ausrichtung der Holocausterinnerungspolitik bestimmt. Dementsprechend ergeben sich institutionelle und inhaltliche Verknüpfungen mit der schulischen Geschichtsvermittlung und der Bildung zu Demokratie, Menschenrechten und Diversität (EDC/HRE), nicht jedoch mit der Antisemitismusbekämpfung, die ECRI institutionell getrennt wahrnimmt. Die Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma haben ihren Ursprung in der Antidiskriminierungsarbeit und docken mit der Samudaripenerinnerung erst in jüngster Zeit an Teaching remembrance
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an. Unterbelichtet bleiben vergangenheitspolitische Aspekte wie das Verbot von Holocaustleugnung und die Restitution geraubter Güter, wiewohl das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung entsprechende rechtliche Grundlagen geschaffen haben. Die Gestaltung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat findet in einem Geflecht aus dem Europaratssekretariat, mitgliedstaatlichen Behörden, Politikerinnen und Politikern sowie wissenschaftlichen und pädagogischen Expertinnen und Experten statt. In der Politikvermittlung setzt die Straßburger Organisation vor allem auf Multiplikation in diesem Policy-Netzwerk und auf die Weitergabe im Rahmen des schulischen Unterrichts. Auf der Landkarte transnationaler Erinnerungspolitik ist der Europarat gemeinsam mit der EU, der OSZE und den Vereinten Nationen zu jenen Akteuren zu zählen, die während der erinnerungspolitisch so relevanten Dekade von 1995 bis 2005 die Holocausterinnerung in ihr jeweiliges Aufgabenportfolio integrierten. Das unterscheidet sie von der eigens mit erinnerungspolitischer Absicht gegründeten ITF. Die genannten Akteure sind bestrebt, durch Profilschärfung und lose formalisierte Kooperationsmechanismen Duplizitäten zu vermeiden. Diese Perspektive trübt jedoch den Blick darauf, dass diese Akteure mit einer äußerst unterschiedlichen Durchsetzungsmacht ausgestattet sind. Das Resümee zu Kapitel 2 schlägt daher einen strukturell komplementären Ansatz vor, demzufolge sich der Europarat auf seine Stärke der Politikentwicklung in einem von öffentlichen Kontroversen vergleichsweise unbehelligten Raum und der Politikweitergabe im pädagogischen Rahmen besinnt. Die Aufgabe, erinnerungspolitische Entwürfe einer breiten Debatte zu unterziehen, die mit demokratischen Abstimmungen verbunden sein kann, würde demgemäß der EU zukommen. Die inhaltlichen Schwerpunkte, die in Kapitel 3 auf Grundlage eines umfangreichen Textkorpus’ herausgearbeitet wurden, weisen folgende Merkmale auf. Die primär mit pädagogischer Holocausterinnerung befasste Programmschiene Teaching remembrance identifiziert den Holocaust als integralen Bestandteil europäischer Geschichte und unterstreicht somit die Verpflichtung der Straßburger Organisation, an die nationalsozialistischen Massenverbrechen zu erinnern. Die NS-Opfer, zu denen laut Europaratsdefinition nicht nur Jüdinnen und Juden zählen, und ihre unwiederbringlich zerstörten Lebenswelten stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen, während Täter- und Mitläuferschaft sowie deren sozialpsychologische und ideologische Ursachen konsequent unterbelichtet
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bleiben. Als Vorbilder, wie in Situationen extremer Verfolgung gehandelt werden kann, nennen die Quellen die Gerechten unter den Völkern. Die Ehrung dieser außergewöhnlichen Menschen ist berechtigt, geht aber zu Lasten des ideologisch ausgerichteten, oftmals bewaffneten Widerstandes, dessen Rolle bei der Niederschlagung des Nationalsozialismus zu wenig gewürdigt wird. Die Programme zur schulischen Geschichtsvermittlung und zu EDC/ HRE spannen einen größeren Rahmen, der über die Erinnerung an den Holocaust im engeren Sinne hinausgeht. Die leitenden Prinzipien sind Multiperspektivität in der historischen Betrachtungsweise und die Akzeptanz von Andersartigkeit, ohne damit jemals die Wertetrias des Europarates zu gefährden oder erneuten Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Weg zu bereiten (indem beispielsweise rassistische Ideologien unter dem Etikett der Andersartigkeit toleriert werden). Alle pädagogischen Bemühungen stellen reflektiertes Lernen in den Mittelpunkt, wobei die fast ausnahmslose Fokussierung auf die Schule zwar nachvollziehbar ist, da Heranwachsende nirgendwo sonst leichter zu erreichen sind. Jedoch entlässt dieser Ansatz Erwachsene potentiell aus ihrer Verantwortung für gegenwärtige Diskriminierung, Hassideologien und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. ECRI greift mit seinen Initiativen zur Bekämpfung von Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus genau diesen Einwand auf und bezieht seine Tätigkeit auch deutlich auf den Holocaust. Nicht die Opfer müssten ihre Situation ändern, sondern allein die Täterinnen und Täter sowie die gesellschaftlichen Reproduktionsmechanismen seien zu konfrontieren. Davon weichen wiederum die Programme für und in Zusammenarbeit mit Romnia und Roma ab. Obwohl die Erinnerung an den Samudaripen Einzug hält, dominieren exotisierende Schilderungen der Geschichte und stereotyp dargestellte Lebensweise(n) von Romnia und Roma. Darüber hinaus bemühen sich Ansätze, zu ihrer Selbstermächtigung beizutragen. Die relevanten Quellen stellen Romnia und Roma als inkludierbar, aber in ihrer Herkunft uneuropäisch fremd dar. Den zahlreichen thematischen Schwerpunkten ist gemeinsam, dass sie die heranwachsende Generation mit Handlungsleitlinien zur Verhinderung künftiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszustatten versuchen. Am Konzept europäischer demokratischer Citizenship ist zu kritisieren, dass es tendenziell entpolitisiert ist und lediglich im eigenen sozialen Nahbereich bescheiden wirken will. Dadurch wird vernachlässigt, dass
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die ideologisch unterfütterte Mobilisierung für kollektives Handeln und demokratische Entscheidungsfindung signifikant ist, um in weiterer Folge gesellschaftlich akzeptierte Veränderungen zu erreichen. Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat entwirft ein Europabild, in dessen Zentrum die Förderung europäischer demokratischer Citizenship steht. Diese wird im Sinne einer Lehre aus den nationalsozialistischen Verbrechen verstanden. Ihr Ziel ist es, zukünftige Genozide zu verhindern. Die im Umfeld des Europarates mit Holocausterinnerung beschäftigten Akteurinnen und Akteure schreiben – um Wolfgang Schmales Diktion nochmals aufzugreifen – am Hypertext des europäischen Projektes mit, sie setzen dabei allerdings kein europäisches Masternarrativ durch. Die aufgezeigten thematischen Schwerpunkte und korrespondierenden Textbeispiele verdeutlichten, dass der Europarat sehr bewusst mit seiner gestaltenden Rolle im Prozess des making Europe umgeht. Die Holocausterinnerungspolitik im Europarat bildet – in beiderlei Wortsinn – die künftigen europäischen Bürgerinnnen und Bürger und legt somit auf der individuellen Ebene die Holocausterinnerung als Bestandteil des eigenen Konzepts vom Europäisch-Sein fest. Die Holocausterinnerungspolitik in der Straßburger Organisation lässt sich somit mehrfach in das kosmopolitische Projekt Europa einordnen, indem europäische, mitgliedstaatliche, transnationale und zivilgesellschaftliche Akteure interagieren. Zwar dient der Nationalstaat weder institutionell noch inhaltlich als erster oder sogar ausschließlicher Referenzpunkt für Holocausterinnerung, büßt dadurch aber seine funktionale und sinnstiftende Bedeutung keineswegs völlig ein. Im normativen Sinn suchen die erinnerungspolitischen Programme das Ideal der Akzeptanz von Andersartigkeit zu verwirklichen. Dies passiert auf der normativen Grundlage, dass sich kein weiterer Holocaust ereignen dürfe. Leitbild für die Citizenship-Orientierung der Holocausterinnerungspolitik im Europarat sind einerseits Opfer und andererseits neuerdings die Gerechten unter den Völkern. Diese zu Entkontextualisierung und Entpolitisierung neigende Fokussierung widerspiegelt das von Daniel Levy und Natan Sznaider herausgearbeitete Paradigma, wonach jüdische Opfererfahrung als universelle Schablone für Verfolgung und Leiden sowie die Handlungen von Retterinnen und Rettern als Referenz für Widerstandsgeist und bürgerschaftliches Engagement dienen. Die Erinnerungspolitik der Straßburger Organisation ist politisch im Sinne von Deutungs- und Gestaltungsanspruch, formalen Aushandlungs-
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prozessen und Umsetzungsbestrebungen. Damit erfüllt sie vorgeblich eine integrative Funktion für eine ausnehmend große Anzahl an Individuen, Gruppen und Gesellschaften – gerade auch für solche, deren Verhältnis zueinander ansonsten durch Erinnerungskonflikte geprägt ist. Jedoch fehlen der Holocausterinnerungspolitik im Europarat die Dimension der Konfliktaustragung beispielsweise in festgelegten Parlaments- und Gremienstrukturen, die Dimension einer Länder- und Sprachgrenzen überschreitenden Öffentlichkeit und Relevanzentfaltung sowie schließlich die daraus resultierende Dimension einer politischen Bindekraft, die sich jenseits des nationalstaatlichen Raumes entwickeln kann. Holocausterinnerung stellt eine eigenständige, sich weiterentwickelnde und sich ausdifferenzierende Politik im Europarat dar. In künftigen Studien ist zu klären, ob diese konsensuale, inklusive und konfliktmeidende Politik breite, transnationale Akzeptanz und Wirkung fördert oder hemmt. Es ist vermessen und greift gleichzeitig zu kurz, die vorliegende Studie als abschließende Gesamtschau der Holocausterinnerungspolitik im Europarat zu betrachten. Im Gegenteil öffnet die erstmalige Untersuchung der erinnerungspolitischen Aktivitäten in der Straßburger Organisation viele neue Fragestellungen, denen es in Zukunft nachzugehen lohnt. Die vorliegenden Ergebnisse bieten dafür einen guten Ausgangspunkt. Die gewählte Vorgehensweise macht Politikgestaltung und Aushandlungsmechanismen in einem Umfeld deutlich, das vielfach in expertokratischen Zusammenkünften und hinter verschlossenen Türen Konsenslösungen ausarbeitet. Die Erkenntnisse aus den Quellen im Europarat wurden nicht nur anhand thematischer Schwerpunkte geordnet, sondern auch in Hinblick auf das Leitmotiv europäischer demokratischer Citizenship nach dem Holocaust diskutiert. Nichtsdestotrotz ist der Europarat nur ein Mosaikstein auf der Landkarte transnationaler europäischer Erinnerungspolitik. Besonders die Erinnerungspolitiken der EU und das Zusammen- beziehungsweise Gegeneinanderwirken aller, auch zivilgesellschaftlicher Akteure sind bisher kaum untersucht. Insbesondere die Frage, wie transnationale und europäische Erinnerungspolitik implementiert wird und wirkt, ist weiterhin offen. Obwohl in Hinblick auf ihre Fallauswahl relativ begrenzte Untersuchungen zur Wirkung von Holocaust Education allgemein durchgeführt wurden, steht eine Evaluierung konkreter erinnerungspolitischer Maßnahmen noch aus: einerseits um die Vermittlungspotentiale für eine länder- und sprachenübergreifende Holocausterinnerung einzuschätzen, andererseits
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um beurteilen zu können, ob von der Holocausterinnerung möglicherweise das Potential zur Schaffung transnationaler Öffentlichkeiten ausgehen könnte. Europäische Holocausterinnerungspolitik unterliegt massiven gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Veränderungen, die jeweils nach politischem Handeln rufen. Die Generation der Täterinnen und Täter sowie während des Nationalsozialismus erwachsenen Mitläuferinnen und Mitläufer ist größtenteils abgetreten. Überlebende sind vielfach hochbetagt. Eine Erinnerungspolitik, die künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern will, muss unweigerlich einspringen, wenn es bereits in wenigen Jahrzehnten unmöglich sein wird, Schuldige zu ahnden oder Opfer sowie Retterinnen und Retter zu ehren. Das Ableben jener, die den Nationalsozialismus erlebten beziehungsweise erleiden mussten, bedeutet allerdings nicht, dass die dem Holocaust und anderen NS-Verbrechen zugrunde liegenden Ideologien – Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus – damit geringer würden. Genozidale Verbrechen, massive soziale Exklusion von Romnia und Roma mitten in Europa, ja auch gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Massenvernichtungsdrohungen sind knapp sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg Realität. Holocausterinnerungspolitik kann sich angesichts dieser akuten Tatsachen nicht darauf beschränken, die Vergangenheit zu erinnern oder Forderungen für die Zukunft zu stellen, sondern muss Handlungsperspektiven für die Gegenwart entwickeln. Konkrete politische Maßnahmen gegen antisemitische, antiziganistische und rassistische Gewalt, umgesetzt im Zusammenspiel von nationaler und europäischer Ebene, sind möglicherweise eine wirksamere Erinnerung an den Holocaust als eine Pädagogik, die genau diese Verantwortung erwartungsvoll künftigen Generationen überträgt. Unaufhaltsam scheint indes die Expansion von Erinnerungspolitik auf weitere, nichtjüdische NS-Opfergruppen und außernationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diktaturen. Kollektive Gedächtnisse und aufkeimende Forderungen nach Anerkennung eigener Opfererfahrungen lassen sich nur bedingt steuern. Sehr wohl sind durch proaktive politische Interventionen Rahmenbedingungen herzustellen, in denen erinnerungspolitische Konflikte auf einem normativen Fundament und unter Einhaltung demokratischer Spielregeln ausgetragen werden können. Die Erforschung und Beurteilung historischer Ereignisse soll der Fachgeschichte und gegebenenfalls Gerichten überlassen bleiben, al-
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lerdings ist sehr wohl, in einer breitest möglichen Öffentlichkeit, aber zu debattieren, wie die Vergangenheit erinnert werden soll. Irgendwann, vielleicht nicht in allzu ferner Zukunft, könnte die Frage auftauchen, ob Europa überhaupt eine Holocausterinnerungspolitik brauche. Ein derartiger Einwand ist ernst zu nehmen und nicht als bloßer Geschichtsrevisionismus abzutun. Holocausterinnerungspolitik kann nicht auf moralischen Appellen alleine fußen, sie muss argumentativ begründet werden. Eine Begründung wäre, dass der Moment nach dem Holocaust die normative Stunde Null für das Projekt Europa bildet; eine Zäsur, hinter die nicht gegangen werden kann und darf, um das kosmopolitische Europa nicht zu gefährden.
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5. Abkürzungs-, Quellenund Literaturverzeichnis
5.1 A BKÜRZUNGEN BPB CDCC CDCULT CDED CDEJ CDESR
CDPAT CETS CM CoE DG IV
EACEA DG AIDCO DG EAC
Bundeszentrale für politische Bildung Conseil de la coopération culturelle/Rat für kulturelle Zusammenarbeit Comité directeur de la culture/Steering Committee for Culture/Lenkungsausschuss für Kultur Comité directeur de l’éducation/Steering Committee for Education/Lenkungsausschuss für Bildung Comité directeur européen pour la jeunesse/ Lenkungsausschuss für Jugend Comité directeur de l’enseignement et de la recherche/ Lenkungsausschuss für Höhere Bildung und Forschung Comité directeur du patrimoine culturel/ Lenkungsausschuss für Kulturelles Erbe Council of Europe Treaty Series Committee of Ministers/Ministerkomitee Council of Europe/Europarat Generaldirektorat für Bildung, Kultur und Kulturelles/Natürliches Erbe, Jugend und Sport (Generaldirektorat 4) Education, Audiovisual and Culture Executive Agency European Commission – Directorate General EuropeAid Co-operation Office European Commission – Directorate General Education and Culture
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DG INFSO DG RELEX ECRI
EDC/HRE EG EGMR EJC EMRK ENP EP EU EUMC
FRA FRALEX GR-C
HEAC HEDP ICC INGO ITF KSZE NATO NGO
European Commission – Directorate General Information Society and Media European Commission – Directorate General External Relations European Commission Against Racism and Intolerance/Europäiche Kommission gegen Rassismus und Intoleranz Education for Democratic Citizenship and Human Rights Europäische Gemeinschaft(en) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Jewish Congress Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Nachbarschaftspolitik Europäisches Parlament Europäische Union European Union Monitoring Centre on Racism and Xenophobia/Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit European Union Agency for Fundamental Rights/ Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Fundamental Rights Agency Legal Experts Groupes de rapporteurs Education, Culture, Sport, Jeunesse et Environnement/Berichterstattergruppe für Bildung, Kultur, Sport, Jugend und Umwelt Holocaust Era Assets Conference Holocaust Education Development Programme International Criminal Court/Internationaler Strafgerichtshof International Non-Governmental Organisation(s)/ Internationale Nichtregierungsorganisation(en) Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (seit 1995 OSZE) North Atlantic Treaty Organisation Non-Governmental Organisation(s)/ Nichtregierungsorganisation(en)
5. A BKÜRZUNGS -, Q UELLEN - UND L ITERATURVERZEICHNIS
ODIHR OSCE/OSZE
PACE RAXEN TANDIS UCHS UN UNESCO UNIC UNIS UNRIC USHMM
Office for Democratic Institutions and Human Rights Organization for Security and Co-operation in Europe/ Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Parliamentary Assembly of the Council of Europe/ Parlamentarische Versammlung des Europarates Racism and Xenophobia European Network Tolerance and Non-Discrimination Information System Ukrainian Center for Holocaust Studies United Nations General Assembly/Vollversammlung der Vereinten Nationen United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Information Centres United Nations Information Service United Nations Regional Information Centre United States Holocaust Memorial Museum
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Xin, Xu (o.J.): Holocaust Education in China (= Holocaust and the United Nations Discussion Paper Series, Nr. 2), New York. Zikmund, Renate (2008): Der Europarat im Spiegel der Massenmedien, in: Hummer, Waldemar (Hg.), Österreich im Europarat 1956-2006, Teilband 2, Wien/Köln/Weimar, S. 919-969. Zimmerli, Walther Ch./Landkammer, Joachim (2006): Erinnerungsmanagement und politische Systemwechsel. Kleine Versuche zur Erklärung eines großen Problems, in: Landkammer, Joachim/Noetzel, Thomas/Zimmerli, Walther (Hg.), Erinnerungsmanagement. Systemtransformation und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, München, 265-283.
5.4 H INTERGRUNDGESPR ÄCHE Baumgartner, Gerhard, Historiker in der Arbeitsgruppe zum Roma-Genozid in der ITF, Wien (Wien, 18. Juni 2009). Budd Caplan, Richelle, Leiterin der Abteilung für Internationale Beziehungen, Yad Vashem, Jerusalem (E-Mailkorrespondenz, 30. Juni 2009). Clerc, Claude Alain, Geschichtspädagoge, ehemaliger Vizepräsident von EURO-CLIO und Mitbegründer von Teaching remembrance, Neuchâtel (Telefonat, 3. Juli 2009). Dreyfus, Jean Marc, Dozent am Centre for Jewish Studies, Universität Manchester und Wissenschaftlicher Beauftragter des französischen ITF-Vorsitzes 2002 (Telefonat, 24. April 2009). Fatal-Knaani, Tikva, Direktorin des International Institute for Holocaust Research, Yad Vashem, Jerusalem (E-Mailkorrespondenz, 19. Januar 2008). Fracapane, Karel, Leiter der Abteilung für Internationale Beziehungen, Mémorial de la Shoah, Paris (Telefonat, 3.Juli 2009). Frankel, Simona, Generalkonsulin des Staates Israel in Marseille und zuständig für Europaratsangelegenheiten, Marseille (Telefonat, 11. August 2009). Gerbel, Christian, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-BoltzmannInstitut für europäische Geschichte und Öffentlichkeit, Wien (Wien, 23. September 2009). Gerstenfeld, Manfred, Vorsitzender des Jerusalem Center for Public Affairs, Jerusalem (Jerusalem, 15. Juli 2008).
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Gutman, René S., Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Straßburgs und Ständiger Vertreter des Europäischen Rabbinerkonferenz beim Europarat, Straßburg (Telefonat, 2. Juli 2009). Hinterleitner, Norbert, Beauftragter für Antisemitismusangelegenheiten, ODIHR, Warschau (Telefonat, 27. März 2009). Huber, Annemarie, Pressesprecherin der Vertretung der Europäischen Kommission in Wien (Wien, 5. Dezember 2008). Kennedy, J. Christian, Sondergesandter des U.S. State Department für Holocaustfragen, Washington, D.C. (E-Mailkorrespondenz, 10. August 2009). Konick, Elizabeth J., Beauftragte des U.S. State Department für Europaratsangelegenheiten, Washington D.C. (Telefonat, 11. August 2009). Konitzer, Werner, Stellvertretender Direktor, Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt a.M. (Frankfurt a.M., 3. Februar 2009). Kordik, Egon, Zuständiger Mitarbeiter für Europaratsangelegenheiten, Österreichisches Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Wien und Delegierter im Präsidium (Bureau) des Bildungsausschusses des Europarates (Wien, 22. April 2009). Kovács, András, Professor für Soziologie und Jüdische Studien, Central European University, Budapest (Wien, 11. Juli 2009). Kößler, Gottfried, Stellvertretender Direktor und Mitarbeiter in der Pädagogischen Abteilung, Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt a.M. (Telefonat, 26. März 2009). Kroh, Jens, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kulturwissenschaftliches Institut Essen (Essen, 5. Februar 2009). Mankowitz, Zeev, Gründungsdirektor des Diana Zborowski Center for the Study of the Aftermath of the Holocaust, Yad Vashem, Jerusalem (E-Mailkorrespondenz, 23. Oktober 2008). Maschke, Martina, Leiterin der Abteilung für bilaterale Angelegenheiten, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Wien (Wien, 9. Juni 2009). Meyer, Kathrin, Direktorin des Büros der ITF, Berlin (Telefonat, 27. März 2009). Michman, Dan, Professor und leitender Historiker, Yad Vashem, Jerusalem (E-Mailkorrespondenz, 22. Oktober 2008). Miller, Michael, Assistenzprofessor für Jüdische Studien, Central European University, Budapest (Budapest, 8. Mai 2009).
5. A BKÜRZUNGS -, Q UELLEN - UND L ITERATURVERZEICHNIS
Niedermair, Peter, Leitender Mitarbeiter des Projektes erinnern.at (Bundesministerium für Unterricht und Kunst), Bregenz (Telefonat, 21. April 2009). Oz-Salzberger, Fania, Professorin, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Haifa (Haifa, 16. Juli 2008). Pallade, Yves Patrick, Direktor des Bnai Brith Foreign Affairs Network, Berlin (E-Mailkorrespondenz, 17. Dezember 2008). Pelinka, Anton, Professor für Nationalismusstudien, Central European University, Budapest (Wien, 6.März 2009). Podolskyj, Anatolij, Direktor des Ukrainian Center for Holocaust Studies, Kiew (E-Mailkorrespondenz, 14. April 2009). Polak, Karen, Direktorin der pädagogischen Abteilung, Anne-Frank-Haus, Amsterdam (Wien, 3. März 2009). Pollak, Alexander, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, EU-Grundrechteagentur (FRA), Wien (Wien, 16. Januar 2009). Prud’homme, Melanie, Mitarbeiterin, The United Nations Outreach Programme – Remembrance and Beyond, New York (E-Mailkorrespondenz, 5. Mai 2009). Rathkolb, Oliver, Professor, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien (Wien, 8. Oktober 2008). Regard, Fabienne, Externe wissenschaftliche Mitarbeiterin und Beraterin von Carole Reich, Directorate Education, Europarat, Straßburg (Straßburg, 9. Februar 2009). Reich, Carole, Direktorin der Abteilung ›European Dimension of Education‹ und des Projektes ›Teaching Remembrance‹, Generaldirektorat Bildung, Europarat, Straßburg (Straßburg, 30. April 2009). Riedl, Norbert, Leiter der Abteilung für bi- und multilaterale kulturelle Angelegenheiten, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Wien (Telefonat, 26. Juni 2009). Roos, Gilbert, Konsul des Staates Israel in Straßburg (Telefonat, 10. August 2009). Rosenstiel, Francis, Gründungspräsident des European Democracy Forum und Goodwill Ambassador for Political Research, Europarat, Straßburg (Straßburg, 30. April 2009). Ruehle, Fabian, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Centropa, Wien (Wien, 5. Mai 2009).
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Rupnow, Dirk, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien/Institut für die Wissenschaft vom Menschen, Wien (Wien, 6. August 2008). Schmid, Harald, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg (Hamburg, 2. Februar 2009). Schwimmer, Walter, Ehemaliger Generalsekretär des Europarates (19992004) und Leiter des World Public Forum ›Dialogue of Civilizations‹, Wien (Wien, 1. April 2009). Serotta, Ed, Gründungsdirektor von Centropa, Wien (Wien, 5. Mai 2009). Shulman, William L., Direktor der Association of Holocaust Organizations, New York (Telefonat, 20. Juli 2009). Sigel, Robert, Historiker in der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München und Koordinator der Kultusministerkonferenz für die Bereiche Nationalsozialismus und Holocaust (Telefonat, 23. April 2009). Sobotka, Eva, Zuständige Mitarbeiterin für Außenbeziehungen, EUGrundrechteagentur (FRA), Wien (Wien, 15. Januar 2009). Stokholm Banke, Cecilie Felicia, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung für Holocaust- und Genozidforschung, Danish Institute for International Studies, Kopenhagen (Kopenhagen, 15. Mai 2009). Sznaider, Natan, Professor für Soziologie, Academic College Tel Aviv – Yafo (Wien, 1. April 2009). Titz, Jean-Pierre, Direktor der Abteilung ›History Teaching‹, Generaldirektorat für Bildung, Europarat, Straßburg (Straßburg, 30. April 2009). Uhl, Heidemarie, Historikerin bei der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien (Wien, 23. Juli 2009). Wistrich, Robert S., Neuburger Professor für Europäische und Jüdische Geschichte und Vorstand des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism, Hebräische Universität Jerusalem (Jerusalem, 10. Juli 2008)