Unheimliche Geschichte: Grafeneck, Triest und die Politik der Holocaust-Erinnerung 9783839439944

About the uncanny aspects of history: a comparative study of the culture of memory of Germany and Italy and their repres

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German Pages 390 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung
1. Teil
Kapitel 1 Unheimliche Heimat: Grafeneck als Heterotopie
Kapitel 2 Die Überwindung des Schweigens I: Der weise Narr
Kapitel 3 Die Überwindung des Schweigens II: Der stellvertretende Zeuge
Kapitel 4 Curriculum Mortis: Auf den Spuren der Täter von Grafeneck nach Triest
2. Teil
Kapitel 5 Unheimliche Heimat II: Triest und die Geburt einer „italienischen Tragödie“
Kapitel 6 Die Überwindung des Schweigens III: Die Erinnerung an den Faschismus auf Bühne und Bildschirm
Kapitel 7 Die Überwindung des Schweigens IV: Sprache als Heimat
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
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Unheimliche Geschichte: Grafeneck, Triest und die Politik der Holocaust-Erinnerung
 9783839439944

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Susanne C. Knittel Unheimliche Geschichte

Erinnerungskulturen | Memory Cultures

Band 7

Die Reihe wird herausgegeben von Aleida Assmann und Birgit Schwelling.

Susanne C. Knittel (Dr.) ist Assistant Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht in den Niederlanden. Sie hat in Konstanz, an der Yale University und an der Columbia University studiert und forscht zur kulturellen Erinnerung in Europa mit Schwerpunkt auf marginalisierte und umstrittene Erinnerungen.

Susanne C. Knittel

Unheimliche Geschichte Grafeneck, Triest und die Politik der Holocaust-Erinnerung übersetzt aus dem Amerikanischen von Eva Engels, Elisabeth Heeke und Susanne C. Knittel

Gefördert durch die Nederlands Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (NWO), die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg, und das Instituut voor Cultuurwetenschappelijk Onderzoek (ICON) der Universität Utrecht.

Im Original erschienen als The Historical Uncanny: Disability, Ethnicity, and the Politics of Holocaust Memory (New York: Fordham University Press, 2015).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kári Driscoll Lektorat: Brigitte Mohn Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-3994-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3994-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe | 9 Einleitung | 13 Unheimliche Geschichte | 20 Parallele Geschichten | 27 Die Unterdrückung des Anderen | 34 Das Prinzip der Asymmetrie | 41

1. T eil 1. Unheimliche Heimat: Grafeneck als Heterotopie | 53 Die Geschichte von Grafeneck | 59 Die Marginalisierung der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ | 65 Erinnerungsarbeit in Grafeneck | 74 Ein Besuch in Grafeneck | 81 Grafeneck und seine Umgebung | 85 Erinnerungsträger | 88 Auf der anderen Seite des Spiegels: Grafeneck als Heterotopie | 95

2. Die Überwindung des Schweigens I: Der weise Narr | 101 Die TV-Serie Holocaust und die NS-„Euthanasie“ | 107 Mit-Leiden und Mitleid | 112 Der Opfergang des weisen Narren | 114 Eine unauslotbare Distanz: Andersch und Hein | 122 Der behinderte Text: Die Blechtrommel und ihre Rezeption | 131

3. Die Überwindung des Schweigens II: Der stellvertretende Zeuge | 141 „Ins Blaue“ | 143 Der stellvertretende Zeuge | 147 „Glitzerworte“ | 154 Auf der Suche nach Emma | 155 Lebensansichten eines schwäbischen Eulenspiegel | 159 Da drinnen/hier draußen | 163

I ntermezzo 4. Curriculum Mortis: Auf den Spuren der Täter von Grafeneck nach Triest | 175 Von Grafeneck nach Triest | 183 Das Ende des Kriegs | 188 Täter im Deutschland der Nachkriegszeit | 191 Täter im Italien der Nachkriegszeit | 196 Die beiden Ausstellungen | 204 Gedenkstätte Grafeneck | 205 Die Risiera di San Sabba | 208 Erziehung nach Auschwitz | 210 Coda: Ruhe in Frieden | 214

2. T eil 5. Unheimliche Heimat II: Triest und die Geburt einer „italienischen Tragödie“ | 221 Die Risiera di San Sabba | 232 Die Risiera in der Vergangenheit | 238 Die Risiera nach 1945 | 242 Der Risiera-Prozess | 247 Ein Besuch in der Risiera heute | 249 Die Foiba di Basovizza | 255 Nachsatz: Der Parco della Rimembranza | 265

6. Die Überwindung des Schweigens III: Die Erinnerung an den Faschismus auf Bühne und Bildschirm | 271 Der Holocaust im italienischen Fernsehen | 274 Heilige und Sünder | 277 Vom Nutzen der Geschichte: Dokumentartheater in Triest und anderswo | 293

7. Die Überwindung des Schweigens IV: Sprache als Heimat | 307 Unheimliche Heimat: Boris Pahors Triest | 311 Fulvio Tomizza und die liminale Identität | 321 Literatur und die Risiera | 333 Cergolys Gewissen | 336 „Von der Brücke selbst“ | 340

Schlussbemerkung | 343 Ein Tag im Leben eines Faschisten | 343 Der Baum der Geschichte | 346 Multidirektionalität intern und extern | 348

Literaturverzeichnis | 355

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Meine Erkundung des Unheimlichen in der Geschichte begann 2006. Damals war ich Doktorandin an der Columbia University in New York und hatte angefangen, mich intensiv mit der deutschen Erinnerungskultur zu beschäftigen. Während eines Sommeraufenthalts in meiner schwäbischen Heimat besuchte ich nach langer Zeit einmal wieder die Gedenkstätte Grafeneck. Als Schülerin war ich oft dort gewesen, aber 2006, mit der durch meinen Umzug in die USA gewonnenen Distanz, erschien mir dieser Ort und auch meine Heimat insgesamt zum ersten Mal irgendwie unheimlich. Damals konnte ich nicht ahnen, dass mich das Thema der unheimlichen Heimat noch jahrelang intensiv beschäftigen würde. Was mit einer Seminararbeit über diese einzigartige, damals noch relativ unbekannte Gedenkstätte quasi vor meiner Haustür begann, wuchs sich zu einer umfassenden Studie aus, die sich über zwei Länder und mehr als ein Jahrhundert deutscher und italienischer Geschichte erstreckt. Aus meinen zunächst ausschließlich persönlichen Betrachtungen zur Geschichte und Erinnerungskultur meiner Heimat wurde ein viel umfangreicheres Projekt, das sich oft geradezu wie von selbst weiterentwickelte und immer wieder unerwartete Bezüge zwischen zwei Orten zum Vorschein brachte, die zunächst wenig miteinander gemeinsam zu haben schienen. Als dieses Buch im Dezember 2014 unter dem Titel The Historical Uncanny: Disability, Ethnicity, and the Politics of Holocaust Memory bei Fordham University Press erschien, war es das Ende einer langen Reise, die mich von Grafeneck nach Triest geführt hatte, von der schwierigen Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ in Deutschland zur verdrängten Erinnerung an die Verbrechen des italienischen Faschismus und die Kollaboration während der deutschen Besatzung in Nordost-Italien, vom Holocaust1 zu den Anfängen der Eugenikbewegung im 19. Jahrhundert bis hin zu den aktuellen Debatten über Stammzellen, Pränataldiagnostik, Designerbabys und Sterbehilfe. Von einem Ende kann bei solchen teils kontrovers diskutierten Themen allerdings kaum die Rede sein, und die Diskussionen über die Erinnerungskultur 1 | Ich benutze in diesem Buch bewusst den in der englischsprachigen Forschung eher verbreiteten Begriff ‚Holocaust‘ und nicht ‚Shoah‘, da ‚Holocaust‘ in der neueren Forschungsliteratur auch nicht-jüdische Opfer der NS-Verfolgung mit einbezieht.

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in Deutschland und Italien haben sich selbstverständlich auch weiterentwickelt.2 Auch mich hat diese Thematik nicht losgelassen und in meiner Forschung habe ich mich weiterhin mit der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ und mit der Aufwertung des Faschismus in Italien und anderswo beschäftigt. Als ich 2007 zum ersten Mal nach Triest kam, um dort meine Forschung über die Risiera di San Sabba zu beginnen, war die offizielle Erinnerungspolitik in Italien zutiefst vom ‚Berlusconismo‘ geprägt. Im Erinnerungskampf, der sich zu jener Zeit in Triest zwischen den Gedenkstätten Risiera di San Sabba und Foiba di Basovizza abspielte, kam ein größerer Umbruch auf nationaler Ebene zum Ausdruck, der letztendlich auf das Ende des Kalten Krieges zurückzuführen war und auf die Legitimationskrise der linken Parteien in den 1990er Jahren, die das dominante Erinnerungsnarrativ der Nachkriegszeit infrage stellte und den Weg für die rechtspopulistischen Parteien unter Silvio Berlusconi ebnete. Diese Parteien konstruierten ein alternatives Erinnerungsnarrativ, das den Faschismus zu verharmlosen und die Italiener als Opfer externer (nationalsozialistischer und kommunistischer) Aggression darzustellen suchte. Auch Triest schien mir eine unheimliche Heimat zu sein. Und das war ein weiterer Anknüpfungspunkt zwischen meinen beiden Fallstudien. Damals konnte man allenfalls ahnen, dass rechtspopulistische und revisionistische Strömungen bald auch in Deutschland breite Akzeptanz finden würden. Die Veröffentlichung der Originalausgabe dieses Buches Ende 2014 fiel zufällig zusammen mit dem Beginn der Pegida-Aufmärsche in Dresden und mit den ersten Wahlerfolgen der AfD. Aus heutiger Sicht, Ende 2017, wird deutlich, dass die erinnerungspolitischen Dynamiken, die ich vor zehn Jahren in Italien beobachtete, jetzt auch in jeweils spezifischer Form in Deutschland und in meiner Wahlheimat, den Niederlanden, zu finden sind, ebenso wie in vielen europäischen Ländern und den USA. Das erinnerungspolitische Klima, in dem die deutsche Ausgabe dieses Buches nun erscheint, ist also ein markant anderes als vor drei Jahren, und vor diesem Hintergrund erscheint der Vergleich zwischen Grafeneck und Triest beziehungsweise zwischen Deutschland und Italien möglicherweise gar nicht mehr so asymmetrisch. Die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe meines Buches markiert also eine weitere Etappe auf meiner Reise und bot mir gleichzeitig die Möglichkeit, meine Überlegungen zu diesen Themen auf den neuesten Stand zu bringen. Dies 2 | Wichtige erinnerungspolitische und -kulturelle Ereignisse waren die Eröffnung des Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde in Berlin im September 2014 sowie in Italien die Fertigstellung von gleich drei lange geplanten und heftig diskutierten Gedenkprojekten, die die Geschichte der italienischen Juden und des Holocaust in Italien erzählen: das Memoriale della Shoah di Milano (dessen Kernstück am 27. Januar 2013 eingeweiht wurde und seit Januar 2014 tageweise für Besucher geöffnet ist), das Museo Nazionale dell’Ebraismo Italiano e della Shoah in Ferrara (eröffnet im Dezember 2017) und das Museo della Shoah in Rom (eröffnet 2015).

Vor wor t

ist hauptsächlich in Form von zusätzlichen beziehungsweise erweiterten Anmerkungen geschehen, während der Haupttext weitgehend dem der englischen Erstausgabe entspricht. Ungeachtet der politischen Entwicklungen in Deutschland und Italien bleibt der Kern meiner Forschungen noch immer aktuell. Dieses Buch ist die erste und bisher einzige systematische literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zur kulturellen Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ einerseits und zur vielseitigen Problematik der multidirektionalen Erinnerung in Triest nach 1945 andererseits. Gerade deshalb war es mir wichtig, dieses Buch einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen, vor allem da es einen wichtigen Beitrag zu den aktuellen Diskussionen um eine angemessene Erinnerung an die Opfer der NS-„Euthanasie“ und zu Debatten um eine inklusive Erinnerungsarbeit leistet sowie zur Erforschung der deutschen, italienischen und europäischen Erinnerungskultur im Allgemeinen. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen beiden Übersetzerinnen bedanken, ohne deren Hilfe es mir unmöglich gewesen wäre, die deutsche Ausgabe so zügig fertigzustellen. Der erste Teil des Buches (die Einleitung und Kapitel 1 bis 4) wurde von Eva Engels und mir selbst übersetzt, während Elisabeth Heeke die Übersetzung des zweiten Teils (Kapitel 5 bis 7 und die Schlussbetrachtung) angefertigt hat. Das Manuskript wurde von mir zum Schluss noch einmal durchgesehen, zusammen mit der wunderbaren und adleräugigen Lektorin Brigitte Mohn. Soweit möglich, wurden vorhandene deutsche Übersetzungen von englischen, französischen, italienischen, slowenischen oder kroatischen Texten, die ich bespreche, verwendet. Alle anderen Zitate sind von mir selbst übersetzt worden. Für die großzügige Förderung der Übersetzung des Buches bedanke ich mich bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und beim Instituut voor Cultuurwetenschappelijk Onderzoek (ICON) der Universität Utrecht. Der Druck des Buches wurde von der Nederlands Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (NWO) im Rahmen eines VENI-Forschungsstipendiums für mein Projekt „Faces of Evil“ finanziert. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Franka Rößner und Thomas Stöckle von der Gedenkstätte Grafeneck sowie den Historikern des IRSML in Triest, die für alle meine Fragen ein offenes Ohr hatten. Meine Gespräche mit Horst Hoheisel und Andreas Knitz haben meine Auffassung von Gedenken und Denkmalen grundlegend verändert. Ihre Arbeiten sind eine große Inspiration für mich. Ich danke Rossana Paliaga vom Stalno Slovensko Gledališče in Triest, die das Manuskript des Theaterstückes Rižarna für mich im Archiv gesucht hat, und Melita Silic, die es für mich ins Englische übersetzt hat. Marianne Hirsch, Michael Rothberg, Andreas Huyssen und Ann Rigney danke ich für viele inspirierende Gespräche und wertvolle Hinweise. Aleida Assmann hat mich seit vielen Jahren stets gefördert und ermutigt, und ich danke ihr sehr herzlich für ihre Unterstützung. Ich freue mich sehr, dass mein Buch in der von ihr herausgegebenen Reihe Erinnerungskulturen/Memory Cultures erscheint.

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Besonderer Dank gilt meiner Familie, meinen Eltern Ulrike und Peter Knittel sowie meinen beiden Großmüttern Ingeborg Stroescu und Hildegard Jung, deren unendliche Geduld und liebevolle Unterstützung mir auf dieser intellektuellen und emotionalen Reise Mut und Kraft verliehen haben. Zum Schluss möchte ich meinem Mann Kári Driscoll danken, der seit über zehn Jahren mein Reisegefährte ist und ohne den es dieses Buch nicht geben würde.

Utrecht, im Oktober 2017

Teile von Kapitel 1 sind in einer früheren Version erschienen unter dem Titel „Grafeneck, das ‚Euthanasie‘-Programm der Nationalsozialisten und das Unheimliche in der Geschichte“, in: Thomas Müller/Paul-Otto Schmidt-Michel/Franz Schwarzbauer (Hrsg.): Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit – Das Denkmal der Grauen Busse. Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte 2017, S. 33–50. Teile von Kapitel 3 sind in einer früheren Version erschienen unter dem Titel „Die Textur der Erinnerung. Grafeneck in der Literatur“, in: Peter Steinbach/Thomas Stöckle/Sybille Thelen/Reinhold Weber (Hrsg.): Entrechtet – Verfolgt – Vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten. Stuttgart: Kohlhammer 2016, S. 204–216. Teile der Kapitel 5 und 7 sind erschienen in „Unheimliche Heimat. Triest als Erinnerungsraum“, in: S:I.M.O.N. – Shoah: Intervention. Methods. Documentation 3.1 (2016), S. 114–127.

Einleitung

Die Zerstörung der Vergangenheit, oder vielmehr die jenes sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft, ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomene des späten 20. Jahrhunderts. Die meisten jungen Menschen am Ende dieses Jahrhunderts wachsen in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt. 1 „Papa“, fragte Giannina, „warum sind alte Gräber nicht so traurig wie neue?“ [. . .] „Weißt du“, antwortete er, „die vor kurzem Verstorbenen sind uns noch näher, und darum haben wir sie lieber. Aber die Etrusker sind doch schon so lange tot“ – und wieder erzählte er ein Märchen – „daß es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen.“2

Am 19. Februar 2011 berichtete die New York Times über Pläne, die Gedenkstätte im ehemaligen NS-Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau für das 21. Jahrhundert zu modernisieren. Die Gedenkstätte, die in den 1950er Jahren von Überlebenden des Lagers gestaltet wurde, habe immer auf die auratische Kraft der Originalgebäude und der persönlichen Gegenstände der Opfer gesetzt, die mit einem Minimum an begleitender Information auskamen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand erschließe sich der Ort seinen Besuchern jedoch nicht mehr so unmittelbar, da die Distanz zu den Ereignissen, an die dort erinnert wird, mit jeder Besuchergeneration wächst: Auschwitz werde zunehmend als „uralte Geschichte“ wahrgenommen. Mit der geplanten Modernisierung solle sichergestellt 1 | Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Ivonne Badal. München: dtv 2009, S. 17.

2 | Giorgio Bassani: Die Gärten der Finzi-Contini. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. Berlin: Wagenbach 2001, S. 11–12.

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werden, dass die Gedenkstätte auch für jüngere Besucher relevant bleibt, deren Großeltern oft erst nach dem Krieg geboren wurden. Piotr Cywiński, Direktor des staatlichen Museums von Auschwitz-Birkenau, wird mit der Aussage zitiert, dass „die Ausstellung in Auschwitz ihren Zweck nicht länger in der Weise erfüllt, wie es bisher der Fall war“. Jährlich besuchen ungefähr zwanzig Millionen Menschen Ausstellungen wie diese. Sie weinen, und sie fragen, warum man damals nicht besser reagiert habe, warum so wenige Menschen sich richtig verhielten. Dann gehen sie nach Hause, sehen im Fernsehen Völkermorde, im Hier und Jetzt, und machen keinen Finger krumm. Warum sie selbst sich nicht richtig verhalten, das fragen sie nicht. 3

Um der Tatsache entgegenzuwirken, dass Besucher nicht in der Lage oder nicht willens sind, einen Zusammenhang zwischen dem, was sie in der Gedenkstätte erleben, und ihrem Alltag zu erkennen, wolle Cywiński die Ausstellung und den Ort als Ganzen stärker pädagogisch ausrichten. Diese Umorientierung erfolgt, nachdem die jährlichen Besucherzahlen im Laufe des letzten Jahrzehnts stärker als je zuvor angestiegen sind, von 450.000 im Jahr 2000 auf über 1,43 Millionen im Jahr 2012.4 So paradox es klingen mag: Die hohen Besucherzahlen scheinen in einem direkten Zusammenhang zu stehen mit der Kluft zwischen dem Verständnis von Auschwitz und dessen Rolle als Ort der Erinnerung einerseits und der Wahrnehmung des aktuellen Weltgeschehens andererseits. Auschwitz wird zunehmend zu einem Reiseziel des Massentourismus, was wiederum eine veränderte Auffassung und Erfahrung des Ortes für die Besucher mit sich bringt. Die Gedenkstätte ist im Begriff, in gewisser Hinsicht schlicht eine Touristenattraktion unter vielen zu werden, wenn auch eine sehr makabre – ein Beispiel dessen, was heute ‚schwarzer‘ Tourismus oder Thanatourismus genannt wird.5 Bei den Besuchern kann deshalb der Eindruck entstehen, dass die entsetzlichen Dinge, die dort vor rund 70 Jahren geschahen, nichts mit ihrem heutigen Leben zu tun haben. Mit der Neuausrichtung der Gedenkstätte und der Dauerausstellung versucht Cywiński, auf diese Entwicklung zu reagieren und etwas anzuregen, was er „Verantwortung für die Gegenwart“ nennt, besonders bei den zahlreichen Schülern und anderen jungen Menschen, die jedes Jahr kommen. Seit 2011 hat es schon 3 | Michael Kimmelman: „Auschwitz Shifts from Memorializing to Teaching“, in: New York Times, vom 19.02.2011.

4 | Vgl. Auschwitz Draws Record 1.43 Million Visitors in 2012, in: Haaretz vom 04.01.2013. 5 | Vgl. zum Begriff des Thanatourismus u.a. Britta Timm Knudsen: „Thanatourism. Witnessing Difficult Pasts.“ in: Tourist Studies 11.1 (2011), S. 55–72; Heinz-Dieter Quack/Albrecht Steinecke (Hrsg.): Dark Tourism. Faszination des Schreckens. Paderborn: Selbstverlag des Faches Geographie, Universität Paderborn 2012; sowie Brigitte Sion (Hrsg.): Death Tourism. Disaster Sites as Recreational Landscape. London: Seagull Books 2014.

Einleitung

erste Neuerungen gegeben, vor allem bei der geführten Tour und bei den Nationalausstellungen.6 Zum Beispiel wurde im Januar 2013 eine neue russische Nationalausstellung eröffnet, und im Juni desselben Jahres kam eine von der Gedenkstätte Yad Vashem kuratierte Sonderausstellung mit dem Titel Shoah hinzu. Cywińskis Befürchtungen passen zu einem Trend, der in den letzten Jahren von zahlreichen Historikern und Schriftstellern überall in Europa und in der westlichen Welt im Hinblick auf das Verhältnis jüngerer Generationen zu ihrer Vergangenheit konstatiert wurde. So schreibt der Historiker Eric Hobsbawm in der Einleitung zu seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts: „[d]ie meisten jungen Menschen am Ende dieses Jahrhunderts wachsen in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt“.7 Das Gedächtnis reiche weniger weit in die Vergangenheit zurück und zugleich gehe ein Gefühl der Verbundenheit mit einer gemeinsamen Geschichte verloren, der Kontinuität von gestern und heute – Hobsbawm bezeichnet das als „organische“ Verbindung zur Vergangenheit. Diese düstere Diagnose eines Verlusts der Verbundenheit mit der Vergangenheit klingt auch an in der Feststellung des französischen Historikers Pierre Nora, dass es keine lebende Erinnerung, keine Erinnerungsmilieus („milieux de mémoire“) mehr gibt. An ihre Stelle seien artifizielle, konstruierte Erinnerungsorte („lieux de mémoire“) getreten – Orte, an denen eine kollektive Erinnerung sich verfestigt, wobei hier der Begriff „Ort“ sehr weit gedacht ist.8 Nora betrachtet die Erinnerungen, das Gedächtnis einer Gruppe, als eine Art Landschaft oder als Netz materieller und nicht-materieller Orte, die abhängig von Fluktuationen in der Haltung einer Gemeinschaft zu ihrer eigenen Vergangenheit an Bedeutung verlieren oder gewinnen können. Nora beschreibt „lieux de mémoire“ als „einfach und vieldeutig, natürlich und künstlich, der sinnlichsten Erfahrung unmittelbar gegeben und gleichzeitig Produkt eines höchst abstrakten Gedankenwerks“.9 Ein solcher „lieu“ bestehe zudem stets aus drei Komponenten: einem materiellen, einem symbolischen und einem funktionalen Element. „Lieux“ sind also grundsätzlich hybride Gebilde, notwendigerweise überdeterminiert, selbstreferenziell, und exzessiv. Ein „lieu de mémoire“, so Nora, hat nicht nur eine dreiteilige Struktur, sondern enthält immer auch eine Dopplung: Er ist „ein Ort des Überschusses, der sich abschließt, sich auf seine Identität versammelt und auf seinen Namen gründet, aber beständig offen ist für die ganze Weite seiner Bedeutungen“.10 „Li6 | Die sogenannten Nationalausstellungen wurden von den verschiedenen Ländern kuratiert, die während des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten besetzt waren, und aus denen Menschen in Auschwitz ermordet wurden.

7 | Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, S. 17. 8 | Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französichen von Wolfgang Kaiser. Berlin: Wagenbach 1990.

9 | Ebd., S. 26. 10 | Ebd., S. 32.

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eux de mémoire“ befinden sich also in einem kontinuierlichen Prozess der Transformation und der Resignifikation. In seiner beeindruckenden Studie trägt Nora 130 Orte der Erinnerung zusammen (Statuen, Denkmale, Embleme, Gräber, Bauwerke, Rituale, literarische und andere Texte, Lieder, Namen und vieles mehr), die alle eine instabile symbolische Signifikanz haben, welche sich im Verlauf der Zeit ändern und sogar ganz verschwinden kann. In einer Welt, in der es noch authentische „milieux de mémoire“ gibt, wäre Noras Projekt überflüssig, da wir alle in die Geschichte unserer jeweiligen Gemeinschaften fest eingebunden wären. „Je weniger das Gedächtnis von innen her erlebt wird, desto mehr bedarf es äußerer Stützen und greif barer Anhaltspunkte einer Existenz, die nur dank dieser noch lebt“.11 Zusammen stellen die sieben Bände seines Projekts ein Archiv der nationalen Erinnerung Frankreichs dar. Der Eurozentrismus von Noras Ansatz ist mehrfach kritisch kommentiert worden,12 aber noch problematischer für die Anwendbarkeit seines Begriffs auf andere Beispiele und Zusammenhänge ist die Tatsache, dass ihm der Nationalstaat als Einheit zugrunde liegt. Noras Ansatz lässt offen, wo ethnische und andere Minderheiten in dieser Erinnerungslandschaft zu verorten sind: Seine Vorstellung eines nationalen Gedächtnisses ist vollkommen von der Mehrheit bestimmt. In diesem Zusammenhang haben viele Kritiker auf eklatante Auslassungen und unhinterfragte Vorannahmen hingewiesen; so fehlt etwa ein Eintrag zu Napoleon Bonaparte und jede Erwähnung des Algerienkriegs oder allgemeiner des französischen Kolonialismus. Was „französisch“ bedeutet, wird hier auf das „Hexagon“ des französischen Kernlandes reduziert.13 Trotz dieser blinden Flecke und Limitierungen bleibt Noras Auffassung des kulturellen Gedächtnisses als einer Landschaft oder eines Netzes materieller und immaterieller Orte, die abhängig von Fluktuationen in der Haltung einer Gesellschaft zu ihrer eigenen Vergangenheit an Bedeutung gewinnen oder verlieren, außerordentlich fruchtbar. Neuere Forschungsarbeiten, die die Idee, dass Erinnerung als Netzwerk untereinander zusammenhängender Knotenpunkte verstanden werden sollte, noch stärker betonen, haben Noras Ansatz weiterent11 | Ebd., S. 19. 12 | Vgl. Jay Winter: „Sites of Memory“, in: Susannah Radstone/Bill Schwarz (Hrsg.): Memory. Histories, Theories, Debates. New York: Fordham University Press 2010, S. 312–324, hier S. 315.

13 | Vgl. zu diesen und anderen problematischen und limitierenden Aspekten Michael Rothberg: „Between Memory and Memory. From ‚Lieux de mémoire‘ to ‚Nœuds de mémoire‘“, in: Nœuds de mémoire. Multidirectional Memory in Postwar French and Francophone Culture. Yale French Studies, Sonderaugabe 118–119 (2010), S. 3–12. Vgl. außerdem zum Verhältnis der Mehrheitserinnerung zu der von Minderheiten bei Noras Ansatz Hue-Tam Ho Tai: „Remembered Realms. Pierre Nora and French National Memory“, in: American Historical Review 106.3 (2001), S. 906–922; sowie Richard L. Derderian: „Algeria as a ‚lieu de memoire‘“. Ethnic Minority Memory and National Identity in Contemporary France“, in: Radical History Review 83 (2002), S. 28–43.

Einleitung

wickelt. In einer Sonderausgabe der Yale French Studies zur Erinnerung in der französischsprachigen Nachkriegskultur wurde beispielsweise vorgeschlagen, Noras „lieux de mémoire“ durch den multidirektionalen, rhizomatischen Begriff „nœuds de mémoire“ zu ersetzen, also von Erinnerungsknoten statt von Erinnerungsorten zu sprechen. Während Noras Projekt als Archiv gedacht war und auf einer entropischen Vorstellung des französischen Nationalgedächtnisses beruht, geht es bei den „nœuds de mémoire“ darum, dass Erinnerung nicht in der Vergangenheit angesiedelt ist und archiviert werden muss, sondern vielmehr ein aktiver Vorgang ist, der sich in einem kontinuierlichen Prozess der Erneuerung und Veränderung befindet. Michael Rothberg schreibt, eine solche Vorstellung würde verhindern, dass eine bestimmte Deutung oder ein bestimmter Ort privilegiert werde, oder dass die existierenden Erinnerungsknoten allein auf ihre identitätsbildende Funktion reduziert würden: „Erinnerungsarbeit [performances of memory] kann durchaus territorialisierend oder identitätsformend wirken, aber diese Wirkungen bleiben stets kontingent und offen für Resignifikation.“14 Bei einem „Ort“ oder „Knoten“ der Erinnerung handelt es sich also nicht um eine organisch entstandene, prädeterminierte Substanz oder einen entsprechenden Gegenstand – ein solcher „Ort“ ist nicht an einem fixen und einmaligen Punkt auf der Erdoberfläche angesiedelt –, sondern vielmehr um einen Knotenpunkt innerhalb eines dynamischen Netzwerks der Erinnerung, an dem sich unterschiedlichste Darstellungen und Identitätspositionen überschneiden, von denen letztlich keine auf diesen einen spezifischen „Ort“ reduziert (oder von diesem abgeleitet) werden kann. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass jenes für die „nœuds de mémoire“ charakteristische Prinzip der Kontingenz und der Offenheit für Resignifikation auch schon in Noras „lieux de mémoire“ enthalten ist, die von ihrer „Fähigkeit zur Metamorphose leben, vom unablässigen Wiederaufflackern ihrer Bedeutungen und dem unvorhersehbaren Emporsprießen ihrer Verzweigungen“. 15 Der Begriff Knoten sollte also eigentlich nicht als Alternative zum „lieu“ gesehen werden, sondern vielmehr als stärkere Betonung eines bestimmten Aspekts von Noras Begriff.16 Noras Definition, die so weitgefasst und flexibel ist, dass die bei der Vorstellung eines Knotenpunkts dominierende Multidirektionalität durchaus Platz fände, ist also nicht das Problem, sondern seine Liste konkreter „lieux“, die dem Potenzial des weiten und offenen Begriffs, wie ihn Nora beschreibt, nicht gerecht wird. Ob etwas als „lieu de mémoire“ ausgewählt wurde, hing davon ab, ob es 14 | Rothberg: „Between Memory and Memory“, S. 7. 15 | Nora: „Zwischen Geschichte und Gedächtnis“, S. 27. 16 | In seinem Aufsatz für das Folgeprojekt Deutsche Erinnerungsorte hat Nora selbst das Wort „Knoten“ als mögliche Übersetzung von „lieux“ vorgeschlagen. Vgl. Pim den Boer: „Loci memoriae. Lieux de mémoire“, in: Astrid Erll/ Ansgar Nünning (Hrsg.): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Berlin: De Gruyter 2008, S. 19–25, hier S. 22.

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für eine ganz spezifische Auffassung von ‚französischer‘ Erinnerung von hoher Bedeutung war. Wie diese Auffassung genau beschaffen ist, wurde zudem meist nicht weiter thematisiert. Man kann aber die Bedeutung eines Erinnerungsorts nicht unilateral festlegen, indem man sich nur auf eine einzige Nationalität bezieht, und seine Konturen lassen sich auch nicht problemlos mit denen einer einzelnen politischen oder kulturellen Entität gleichsetzen. Die wichtigste Leerstelle in Noras Projekt ist die der politischen Dimension von Erinnerung. Er beschreibt seine „lieux“ als „jene Muscheln am Strand, wenn das Meer des lebendigen Gedächtnisses sich zurückzieht“17 – ein schönes und poetisches Bild, das aber die Entstehung oder das Auftauchen von Orten der Erinnerung als rein organischen Vorgang darstellt, der von den Gezeiten der Geschichte bestimmt wird, statt als einen letztlich von politischen Interessen und Motiven gelenkten Prozess, wie es de facto oft der Fall ist. Dass Erinnerung eine politische Dimension hat, ist nicht nur im Hinblick auf die lokale und die nationale Ebene wichtig, sondern insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Projekt der europäischen Integration. Die Europäische Union versucht schon seit über einem Jahrzehnt mit beträchtlichem Aufwand, einheitliche und der Einheit zuträgliche europäische Erinnerungen zu fördern, zum Beispiel durch das Haus der Europäischen Geschichte, das im Mai 2017 in Brüssel eröffnet wurde, sowie durch zahllose andere Projekte und Initiativen, die zum Ziel haben, einen paneuropäischen historischen und mnemonischen Referenzrahmen auszuhandeln und zu kodifizieren.18 Zu Projekten, bei denen es nach dem Vorbild von Noras Studie der „lieux de mémoire“ um Orte der Erinnerung bestimmter Nationalitäten geht (etwa von Dänemark, den Niederlanden, Deutschland oder Italien),19 kamen daher in den letzten Jahren zahlreiche Aufsätze und Bücher, sie sich mit europäischen Orten der Erinnerung befassten, darunter Europäische Erinnerungsräume 20 und die dreibändige Sammlung Europäische Erinnerungsorte,21 wobei interessanterweise die genannten Sammlungen ebenso aus Deutschland stammen wie auch ein großer Teil der Forschung zur europäischen Erinnerung insgesamt.22 Angesichts der anhaltenden Krise Europas 17 | Nora: „Zwischen Geschichte und Gedächtnis“, S. 18. 18 | Vgl. u.a. Ann Rigney: „Transforming Memory and the European Project“, in: New Literary History 43.4 (2012), S. 607–628.

19 | Zu verschiedenen „Lieux-de-mémoire“-Projekten siehe Pim den Boer/Heinz Duch-hardt/ Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Bd. 3. München: Oldenbourg 2012.

20 | Hrsg. v. Kirstin Buchinger/Claire Gantet/Jakob Vogel. Frankfurt a.M.: Campus 2009. 21 | Pim den Boer u.a.: Europäische Erinnerungsorte. 22 | Vgl. Etienne François, „Europäische lieux de mémoire“, in: Gunilla-Friederike Bud-de/ Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hrsg.): Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2006, S. 290–303; Wolfgang Stephan Kissel/ Ulrike Liebert (Hrsg.): Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale

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hat v.a. Deutschland eine zunehmend prominente Rolle als De-facto-Mittelpunkt der EU übernommen und dass man diesen europäischen Erinnerungsprojekten in anderen EU-Mitgliedsstaaten, vor allem in Großbritannien, mit Feindseligkeit und Misstrauen begegnet, ist daher nicht überraschend. Bei jeder Diskussion über die Beschaffenheit und den Zweck europäischer Erinnerung ist daher die Unterscheidung wichtig zwischen einerseits zentralistischen, monolithischen Erinnerungsprojekten, die Brüssel von oben zur Förderung eines vereinten Europas anordnet, und andererseits den diffusen, dynamischen, pluralistischen europäischen Erinnerungen, wie sie in kulturellen Werken wie etwa Romanen oder Filmen zum Ausdruck kommen, von denen natürlich viele finanziell von der EU unterstützt werden.23 Mit Maßnahmen zur Förderung der Integration Europas wurde nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen mit dem Ziel, weitere katastrophale Konflikte zu verhindern. Für die europäische Erinnerung sind daher der Zweite Weltkrieg und insbesondere die Ermordung der europäischen Juden so wichtige Bezugspunkte, dass der Holocaust von vielen als Europas „negativer Gründungsmythos“ betrachtet wird.24 Auch wenn der Holocaust tatsächlich mittlerweile eine gewisse universelle Bedeutung erlangt hat und immer mehr europäische Länder versuchen, sich mit ihren widersprüchlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen, kann es letztlich nicht Ziel von Projekten zu europäischen Erinnerungsorten sein, eine Konsensposition im Hinblick auf die Vergangenheit einzunehmen und die Unterschiede zwischen den Erinnerungskulturen der verschiedenen Länder zu nivellieren, was unvermeidlich den Ausschluss bestimmter Erinnerungen zur Folge hätte. Und selbst wenn man zustimmt, dass Projekte dieNarrative und transnationale Dynamiken seit 1989. Berlin: lit 2010; sowie Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München: Beck 2011.

23 | Vgl. Rigney: „Transforming Memory“. Außerdem: Małgorzata Pakier/Bo Stråth (Hrsg.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance. New York: Berghahn Books 2010; Aline Sierp: History, Memory, and Trans-European Identity. Unifying Divisions. New York: Routledge 2014.

24 | Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Dan Diner sprach im Jahr 2000 in einem Artikel als einer der ersten davon, den Holocaust als Gründungsereignis zu begreifen: Dan Diner: „Haider und der Schutzref lex Europas“, in: Die Welt vom 26.02.2000. Außerdem hat sich Aleida Assmann ausführlich zu diesem Gedanken geäußert und sogar Richtlinien für eine Regelung der Verwendung von kollektiver Erinnerung in einem vereinten Europa vorgeschlagen. Transnationale Erinnerungsprojekte, so Assmann, könnten dazu beitragen, unterschiedliche Orte des Holocaust-Gedenkens in eine transnationale Topographie einer gemeinsamen Erinnerung zu integrieren. Vgl.: Aleida Assmann: „Europe. A Community of Memory?“ In: GHI Bulletin 40 (2007), S. 11–25; dies.: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur. Wien: Picus 2012; dies.: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: Beck 2013.

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ser Art grundsätzlich auf ein vereintes Europa hinarbeiten sollten, scheint außerordentlich zweifelhaft, ob dies gelingen kann, solange die Bedeutung einzelner Erinnerungsorte sogar innerhalb der jeweiligen Länder immer noch strittig ist. Sich produktiv mit europäischen Erinnerungsorten zu befassen erfordert daher einen wohlüberlegten Umgang mit lokalen, regionalen und auch nationalen Erinnerungen. Lokale Erinnerungen müssen in einen Kontext und in einen transnationalen Rahmen eingebunden werden, ohne dass ihre regionale Besonderheit übersehen wird. Auf diese Weise kann jeder einzelne Ort mit seiner Geschichte und seiner Erinnerung daran zu einem vielstimmigen und facettenreichen Gedenken an den Holocaust beitragen.

U nheimliche G eschichte Der wichtigste und produktivste Beitrag, den Noras „Lieux-de-mémoire“-Projekt im Hinblick auf die Memory Studies geleistet hat, war, Orte der Erinnerung nicht allein als geographische Punkte zu definieren, sondern auf eine Weise, die es erlaubt, auch kulturelle Artefakte wie literarische Werke, Sportveranstaltungen, Musik und kulinarische Traditionen mit einzubeziehen. Diese Herangehensweise ist von späteren Projekten übernommen worden, etwa von Mario Isnenghis I luoghi della memoria (1997), von Deutsche Erinnerungsorte, 2005 herausgegeben von Étienne François und Hagen Schulze und auch von dem bereits erwähnten Buch Europäische Erinnerungsorte aus dem Jahr 2012.25 Während naturgemäß im 25 | Deutsche Erinnerungsorte (München: Beck 2001) von François und Schulze ist in 18 Themenblöcke unterteilt, die von „Bildung“ bis zu „Zerrissenheit“ reichen, mit jeweils mehreren Aufsätzen, in denen auf die verschiedenen Facetten des jeweiligen Themas eingegangen wird. Dadurch entstehen assoziative Erinnerungs-Cluster. Insgesamt enthält das Buch mehr als 120 Aufsätze von mehr als 100 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen akademischen Bereichen und Nationen, wodurch die Wechselbeziehungen Deutschlands mit anderen Ländern Europas in den Blick kommen: Es werden auch Erinnerungsorte in anderen Ländern thematisiert, die Autoren wechseln zwischen deutschen und internationalen Perspektiven. In I luoghi della memoria (Roma: Laterza 1997) werden 73 Orte vorgestellt und das Buch ist in drei große Teile untergliedert: „Personaggi e date dell’Italia unita“, „Simboli e miti dell’Italia unita“ und „Strutture ed eventi dell’Italia unita“. Neben Aufsätzen über Themen wie italienische Opern und Filme, die Mafia, die Fußball-Weltmeisterschaft und Pinocchio geht es in vielen auch um die Erinnerung an den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg. Anders als in der eben erwähnten deutschen Veröffentlichung sind in Isnenghis Sammelbänden alle Autorinnen und Autoren Italiener, ebenso behandeln die Beiträge ausschließlich italienische Themen. Selbst wenn ein Erinnerungsort über die Grenzen Italiens hinaus verweist, steht letztlich im Mittelpunkt, wie er in der italienischen Imagination auftaucht. So zeichnet etwa der Aufsatz „L’America“ nach, wie Italiener sich die „neue Welt“ vorstellten und untersucht die italienische Nachkriegsgesellschaft bis hin zur Amerikanisierung. In einem Aufsatz über

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Rahmen des europäischen Erinnerungsprojekts der Fokus tendenziell auf Orten liegt, über die bereits weitreichender Konsens besteht und die symbolisch für die Integration der sehr unterschiedlichen EU-Mitgliedsstaaten stehen können, sollte nicht übersehen werden, dass die in den nationalen Studien auftauchenden Erinnerungsorte oftmals sehr kontrovers betrachtet werden und in gewisser Konkurrenz zueinander stehen. Man könnte dies als Zeichen dafür lesen, dass der Nationalstaat als stabilere Einheit besser in der Lage ist, Konflikten und Dissenspositionen Raum zu geben als ein supranationaler Verbund, dessen Legitimität und dessen Zusammenhalt nach wie vor verteidigt werden müssen. Dennoch ist es für Orte der Erinnerung und für die Erinnerungskultur im Allgemeinen charakteristisch, nicht nur Quelle von Kohärenz und Gemeinschaft zu sein, sondern zugleich Gegenstand von Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten. Das ist besonders im Zusammenhang mit Minoritäten und generell bei Gegenerinnerungen wichtig, deren Position kontinuierlich gegen die Unterdrückung und Marginalisierung vonseiten der Erinnerungskultur der dominierenden Gruppe verteidigt werden muss, vor allem wenn letztere stark politisch aufgeladen ist und für die Zwecke der Hegemonie instrumentalisiert wird. Genau dieser Aspekt der Erinnerungskultur ist der primäre Fokus meiner Studie. Ein Grundprinzip bei der Forschung zu Erinnerungsorten ist, dass es stets möglich bleiben muss, den Ansatz zu erweitern, um neue und anders geartete Orte mit einzubeziehen. Zugleich muss diese Forschung aber auch über das vordergründige Ziel eines zunehmend vollständigen Bildes von nationaler Identität hinausgehen können. Bestimmte Orte der Erinnerung herauszugreifen, könnte in diesem Sinne dazu beitragen, existierende Vorstellungen davon, was italienisch, was deutsch oder was europäisch ist, in Frage zu stellen, wenn diese Vorstellungen den Blick auf ‚schwierige‘ oder kontroverse Aspekte der Geschichte bestimmter Gruppen oder Regionen auf nationaler oder zwischenstaatlicher Ebene verstellen. Auf bauend auf der Methodologie Noras und seiner Nachfolger verstehe ich unter einem Ort der Erinnerung nicht einfach den spezifischen geographischen Punkt, an dem ein historisches Ereignis stattfand, sondern darüber hinaus ein sich mit der Zeit um ein bestimmtes Ereignis oder eine Erinnerung herum anlagerndes Konglomerat kultureller Artefakte und Diskurse. Mit dem Begriff Ort bzw. Erinnerungsort ist demnach sowohl ein materieller als auch ein kultureller Raum gemeint, der kontinuierlich neu definiert und überarbeitet wird. Ein so verstandener Erinnerungsort setzt sich also aus heterogenen Elementen zusammen, die sich gegenseitig vervollständigen oder infrage stellen. Mit Deleuze gesprochen kann man einen Erinnerungsort als ein Rhizom beschreiben, das aus mehreren Knotenpunkten zusammengesetzt ist, die sich in einem permanenten Prozess der Deterritorialisierung und der Reterritorialisierung befinden. Er kann „i tedeschi“ werden italienische Haltungen zu Deutschland und zu Österreich beschrieben. Eine 2016 veröffentlichte Neuausgabe wurde abgesehen von einem neu hinzugekommenen Artikel über die Foibe-Massaker nicht überarbeitet.

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neben offiziellen, geographisch verortbaren Komponenten wie Gedenkstätten oder Museen auch nichtoffizielle oder populärkulturelle Elemente beinhalten, etwa Theaterstücke, Romane, Filme oder sonstige Kunstwerke, in denen eine alternative oder abweichende Sicht auf denselben Erinnerungskomplex zum Ausdruck kommt. Literatur spielt in dem so entstehenden dynamischen Prozess eine wichtige Rolle, weil es sich bei ihr um ein auf besondere Weise selbstreflexives Medium der Erinnerung handelt, was dazu führt, dass Fragen der Repräsentation in den Blick kommen.26 Literatur kann außerdem – und das gilt in besonderem Maße für den historischen Roman sowie für das, was Linda Hutcheon „historiographische Metafiktion“ nennt 27 – vergessene und verdrängte Aspekte der Vergangenheit zutage fördern oder historische Fakten auf eine Weise verfremden, dass sie als ‚anders‘ wahrgenommen werden. Wenn wir einen bestimmten Ort der Erinnerung sowohl aus der Perspektive einer offiziellen Gedenkstätte oder eines Mahnmals als auch einer literarischen Repräsentation betrachten, kann das eine parallaxe Sicht auf diesen Ort ermöglichen, wobei die ihm innewohnenden Widersprüche und Diskontinuitäten als solche erhalten bleiben. Man könnte sagen, dass ein Erinnerungsort so sein eigenes Gegenteil enthält und dadurch für die dominante oder anerkannte Geschichtsschreibung potenziell unheimlich ist. Das Erinnerungsorten eigene Potenzial, die Identität und das Selbstbild eines Einzelnen, einer Gruppe oder einer Nation in Frage zu stellen, ist ein entscheidendes Merkmal des Unheimlichen in der Geschichte. Kurz: ein Erinnerungsort in meiner Definition macht Geschichte unheimlich. Die Relevanz des Begriffs unheimlich wird besonders deutlich, wenn wir uns Sigmund Freuds Theorie desselben in seinem berühmten Aufsatz über „Das Unheimliche“ (1919) in Erinnerung rufen. Freud schreibt dort: „Das deutsche Wort ‚unheimlich‘ ist offenbar der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut und der Schluß liegt nahe, es sei etwas eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt und vertraut ist.“28 Ganz so

26 | Hier sollte man außerdem den Unterschied zwischen Repräsentation als Vertretung im politischen Sinne und Repräsentation als Darstellung im diskursiven oder ästhetischen Sinne nicht vergessen, die Gayatri Spivak in ihrem berühmten Aufsatz „Can the Subaltern speak?“ herausgearbeitet hat: Gayatri Chakravorty Spivak: „Can the Subaltern Speak?“, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press 1988, S. 271–313. Wie ich zeigen werde, klingt in der künstlerischen Repräsentation der beiden in dieser Studie untersuchten Orte der Erinnerung immer die politische Repräsentation mit und umgekehrt.

27 | Linda Hutcheon: A Poetics of Postmodernism: History, Theory, Fiction. New York: Routledge 1988, S. 5.

28 | Sigmund Freud: „Das Unheimliche“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hrsg. v. Anna Freud. Bd. 12: Werke aus den Jahren 1917–1920. Frankfurt a.M.: Fischer 1947, S. 229–268, hier S. 231.

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einfach ist es aber nicht, da Freud dann im Rahmen einer ausführlichen etymologischen Analyse zeigt, daß das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Das heimliche wird dann zum unheimlichen […] Wir werden überhaupt daran gemahnt, daß dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgen gehaltenen. 29

Freud kommt zu dem Schluss, dass die semantische Verschiebung zwischen heimlich und unheimlich etwas über die Struktur des Unheimlichen selbst aussagt, und zwar, dass es „wirklich nichts Neues oder Fremdes [ist], sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist“.30 Das Wort heimlich ist selbst unheimlich, weil es sein eigenes Gegenteil enthält. Der so von Freud ausgearbeitete Begriff des Unheimlichen wird in erster Linie im Kontext der Psyche von Individuen angewandt. Die gleiche Struktur ist aber auch bei Gruppen vor allem im Hinblick auf kollektive Erinnerung und Gruppenidentität auszumachen, und genau in diesem Kontext ist die Idee einer unheimlichen Geschichte signifikant.31 Die Idee des Unheimlichen in der Geschichte wird in zwei für diese Studie relevanten Veröffentlichungen aufgegriffen, von denen die erste sich mit Deutschland beschäftigt und die zweite mit Italien. In der ersteren, German Memory Con29 | Freud: „Das Unheimliche“, S. 235. 30 | Ebd., S. 254. 31 | Die Übertragbarkeit individueller psychologischer Prozesse auf Kollektive ist innerhalb der Gedächtnis- und Traumaforschung durchaus umstritten. Dies kritisiert vor allem Wulf Kansteiner als ein allzu leichtfertiges Zusammenwerfen von individueller und kollektiver Erinnerung. Vgl.: Wulf Kansteiner: „Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies“, in: History and Theory 41.2 (2002), S. 179–197, hier S. 187. Jeffrey Alexander vertritt hingegen die Ansicht, dass Traumata kollektiv sein können, vor allem wenn sich Individuen anhand von geteilten traumatischen Erfahrungen und Ereignissen mit einer Gruppe identifizieren. Vgl.: Jeffrey C. Alexander: „Toward a Theory of Cultural Trauma“, in: Ders./Ron Eyerman/Bernhard Giesen/Neil J. Smelser/Piotr Sztompka (Hrsg.): Cultural Trauma and Collective Identity. Berkeley: University of California Press 2004, S. 1–30. Da ich hier den Begriff des Unheimlichen auf kollektive Erinnerungen anwende, gehöre ich natürlich zu denen, die nicht auf einer strengen Trennung von individuellen und kollektiven Erinnerungen oder Traumata beharren. Kansteiner betont zu Recht, dass es oft mehr mit politischen Erwägungen als mit der individuellen Traumaerfahrung selbst zu tun hat, wenn die Debatte über die Bedeutung negativer Ereignisse erst mit einer gewissen Verzögerung einsetzt (Kansteiner: „Finding Meaning in Memory“, S. 187). Wie ich zeigen werde, sind aber auch die psychologischen Aspekte kollektiven Erinnerns eng mit politischen Motiven verknüpft.

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tests. The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990 (2006), bezeichnen die Herausgeber Anne Fuchs, Mary Cosgrove und George Grote mit diesem Begriff „den seltsamen Zufall“, dass bestimmte „historisch miteinander verwobene Ereignisse“ am gleichen Tag stattfanden.32 Als Beispiel führen sie den 9. November an, den sogenannten „Schicksalstag der Deutschen“, an dem es nicht nur 1989 zum Fall der Berliner Mauer kam, sondern zuvor auch 1918 zur Ausrufung der ersten Republik auf deutschem Boden, 1923 zum Hitlerputsch und 1938 zur „Reichspogromnacht“. Ein bestimmtes Datum könne historisch derart aufgeladen sein, dass ein „unheimlicher Wiederholungszwang“ entstehe, der „einen rein rationalen Interpretationsrahmen sprengt“ und daher typischerweise von Historikern weder thematisiert noch analysiert werde. Unheimliche Zufälle dieser Art seien vielmehr gewöhnlich „ein Fall für die Fiktion“.33 Angesichts dessen könnte man zu dem Schluss kommen, dass jener unheimliche Effekt eben genau darauf beruht, dass Zufälle dieser Art symbolisch aufgeladen und signifikant erscheinen, was aber eine unmögliche Verschmelzung von Wirklichkeit und Künstlichkeit suggeriert, von Fiktion und Historie. Beim zweiten handelt es sich um das Buch Das Unheimliche in der Geschichte. Die Foibe von 2007, das die Geschichte und Erinnerung der Foibe-Massaker in Italien und Slowenien zum Thema hat – ein ausgesprochen kontroverses Thema im heutigen Italien, mit dem ich mich in der zweiten Hälfte meines Buchs befasse.34 Die Herausgeberinnen Luisa Accati und Renate Cogoy verwenden den Begriff des Unheimlichen in einem sehr viel strenger psychoanalytischen Sinn als ein Symptom der Verdrängung historischer Ereignisse. Die Foibe-Massaker dienen als ein paradigmatisches Beispiel, weil der entsprechende Diskurs von Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen dieser Grenzregion geprägt ist sowie von den uneingestandenen Spätfolgen der Verfolgung und Unterdrückung durch italienische Faschisten einerseits und jugoslawische Partisanen andererseits. Diese Betonung von Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen kommt meiner eigenen Konzeption der unheimlichen Geschichte näher, nämlich eines schwindelerregenden Hereinbrechens der Vergangenheit in die Gegenwart, welches bewirken kann, dass man etwas bisher Vertrautes plötzlich als völlig fremd erlebt. Dieser unheimliche Effekt ist auf verschiedensten Ebenen zu finden: auf individueller, kollektiver, nationaler und sogar transnationaler Ebene, in der Geschichtsschreibung wie in der Literatur – und dies sind zwei mögliche Komponenten eines Orts der Erinnerung, wie ich den Begriff verstehe. Ein weiterer wichtiger Aspekt der beiden im vorliegenden Buch untersuchten Orte ist, dass sie nicht nur innerhalb 32 | Anne Fuchs/Mary Cosgrove/George Grote (Hrsg.): German Memory Contests. The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990. Rochester, NY: Camden House 2006, S. 8.

33 | Ebd., S. 9. 34 | Luisa Accati/Renate Cogoi (Hrsg.): Das Unheimliche in der Geschichte. Die Foibe. Beiträge zur Psychopathologie historischer Rezeption. Berlin: Trafo 2007.

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des öffentlichen Diskurses, sondern auch in der Forschung eine liminale Position innehaben. Aufgrund dessen haben die Erinnerungskomplexe, die sich an diesen Orten niederschlagen, das Potenzial, vorgefasste Meinungen über eventuelle Grenzen und Schwerpunkte in Disziplinen wie den Memory Studies, der Literaturwissenschaft und der Geschichtsschreibung zu destabilisieren und zu deterritorialisieren. Ein Ort der Erinnerung kann also als unheimlich bezeichnet werden, wenn er unerwartet in die Gegenwart hineinragt, wodurch ein Einzelner oder eine Gruppe gezwungen werden, ein neues Verständnis dessen, wer sie sind und woher sie stammen, zu entwickeln. Die von Cywiński und den anderen Kuratoren der Gedenkstätte in Auschwitz diagnostizierten Probleme hängen im Grunde damit zusammen, dass Auschwitz heute für viele Menschen schlicht nicht mehr unheimlich ist. Der Ort ist nach wie vor ein monumentales und verstörendes Symbol unmenschlichen Leidens. Doch die schockierende Wahrheit, die jenes Symbol repräsentiert, kann heute leichter in eine mittlerweile von breiteren Kreisen akzeptierte historische Vergangenheit integriert werden. Die Tatsache, dass Besucher in Auschwitz dort keine Verbindung zu jenen Gräueltaten herstellen, die sie täglich im Fernsehen sehen, ist eine Folge ihrer historischen Distanz zu den Ereignissen, derer dort gedacht wird. Darüber hinaus trägt die zentrale Bedeutung von Auschwitz im öffentlichen Bewusstsein als Metonymie für den Holocaust als Ganzes (zumindest in Europa und Nordamerika) dazu bei, den Holocaust zu einer „bequem-schrecklichen“ (comfortable horrible) Erinnerung35 zu machen, die es den Gedenkstättenbesuchern ermöglicht, „sich zu vergewissern, dass sie sich mit wichtigen Ereignissen auseinandersetzen“,36 und gleichzeitig zu vermeiden, sich mit anderen vergangenen oder aktuell stattfindenden Ereignissen auseinanderzusetzen, die näher an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit und daher schwerer zu konfrontieren sowie mit dem eigenen Selbstverständnis zu vereinbaren sind. Somit dient der Holocaust als „Deckerinnerung“, was wiederum tiefgreifende Folgen für unser Verständnis der aktuellen Erinnerungskultur in Europa und Nordamerika hat. Diese Funktion des Holocaust als Deckerinnerung hat Michael Rothberg in seinem bahnbrechenden Buch Multidirectional Memory untersucht. In der Freud’schen Psychoanalyse dient eine Deckerinnerung dazu, eine unbequeme oder traumatische Erinnerung durch eine damit nicht zusammenhängende, positivere Erinnerung zu ersetzen. „Trotz ihrer scheinbaren Harmlosigkeit“, so Rothberg, „vertritt oder ersetzt eine Deckerinnerung eine beunruhigendere oder schmerzhaftere Erinnerung, die sie aus dem Bewusstsein verschiebt. Der Mechanismus der Deckerinnerung zeigt daher wie die Erinnerung von einer Art Vergessen begleitet wird. Das Vergessene kann jedoch wieder abgerufen wer35 | Der Begriff stammt von Edward. T. Linenthal, zitiert nach: Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press 2009, S. 9.

36 | Ebd.

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den“.37 Rothberg verwendet Freuds Begriff, um zu zeigen, wie Gedenken und kollektive Erinnerung in ihrer Funktionsweise sinnvoll als multidirektional beschrieben werden können: Sobald man erkennt, dass Erinnerung und Gedenken untrennbar mit Verschiebung und Substitution verbunden sind, muss man einerseits die unterschwelligen Konf likte, die der Erinnerung zugrunde liegen, erkennen und andererseits an einer Reartikulation historischer Zusammenhänge arbeiten, die über Paradigmen der Einzigartigkeit hinausgeht. 38

Rothbergs Auffassung von kollektiver Erinnerung als multidirektional hat weitreichende Konsequenzen für die Memory Studies. Wie das eben angeführte Zitat aber zeigt, greift seine Definition von multidirektionaler Erinnerung in erster Linie bei disparaten Erinnerungen und Geschichtsverläufen. Mit anderen Worten: Die Paradigmen der Einzigartigkeit, die er kritisiert, sind jene, die es verbieten, den Holocaust mit anderen Völkermorden zu vergleichen. Doch wie wirken sich diese Paradigmen auf die Beschaffenheit einzelner Erinnerungen aus? Rothberg vertritt eine äußerst überzeugende Auffassung von Erinnerung als „produktiv, nicht privativ“, als Prozess, der von ständiger „Aushandlung“, „Fremdreferenz“ und „Entleihung“ geprägt ist, und er plädiert dafür, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen historischen Erinnerungen kritisch zu untersuchen.39 Zugleich dürfen wir aber nicht aus den Augen verlieren, dass diese Erinnerungskomplexe selbst nicht stabil oder klar definiert sind, sondern immer wieder neu verhandelt werden. Wie ich im Folgenden zeige, ist dabei entscheidend, nicht nur zu verstehen, inwiefern der Holocaust die Erinnerung an andere Genozide und historische Traumata verdecken kann, sondern auch, wie die verbreitete Vorstellung vom Holocaust als einem monumentalen und isolierten Ereignis selbst dazu verwendet werden kann, Menschen aus der Verpflichtung zu entlassen, sich mit bestimmten marginalisierten oder verdrängten Aspekten dieser Geschichte auseinanderzusetzen. In diesem Buch möchte ich also Rothbergs multidirektionale Herangehensweise auf die Holocaust-Erinnerung selbst anwenden. In der neuesten Holocaust- und Erinnerungsforschung wird zunehmend auf transnationale Perspektiven und andere verfolgte Minoritäten aufmerksam gemacht, und mit meiner ‚intern-multidirektionalen‘ Herangehensweise an die Holocaust-Erinnerung möchte ich zu genau dieser Forschung beitragen.

37 | Ebd., S. 13. 38 | Ebd., S. 14. 39 | Ebd., S. 3.

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Par allele G eschichten In meiner Arbeit Unheimliche Geschichte fungieren die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in Deutschland und Italien als Fokus für eine Untersuchung der kulturellen und politischen Mechanismen, durch die bestimmte Erinnerungen in das Erbe eines Landes oder einer Kultur eingeschrieben werden, während andere gelöscht oder vergessen werden. Die direkte Inspiration für diese Untersuchung war ein Besuch in der Gedenkstätte Grafeneck in Süddeutschland, die den mehr als 10.500 psychisch kranken oder behinderten Menschen gewidmet ist, die dort 1940 im Rahmen des NS-„Euthanasie“-Programms ermordet wurden. Trotz der historisch nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen der NS-„Euthanasie“ und der Ermordung der europäischen Juden wurden diese Menschen bis vor Kurzem nicht zu den Opfern des Holocaust gezählt und die Erinnerung an sie war lange Zeit nicht Teil des öffentlichen Gedenkdiskurses. Ich begann darüber nachzudenken, was im Diskurs über den Holocaust ausgelassen wird, welche Lücken nicht nur in der öffentlichen Erinnerung, sondern auch in der Forschung zu diesem Thema existieren, und welche politischen, kulturellen, psychologischen und institutionellen Motive hinter der Bejahung bestimmter Erinnerungen und der Verdrängung anderer stehen. Die Struktur dieses Buches ist von zwei marginalisierten Aspekten der Holocaust-Erinnerung bestimmt: zum einen geht es um das nationalsozialistische „Euthanasie“-Programm, das sich gegen geistig und körperlich behinderte oder als „erbkrank“ bezeichnete Menschen richtete, und zum anderen um die Verfolgung der Slowenen und Kroaten in und um Triest durch die italienischen Faschisten und später die NS-Besatzungsmacht. Um diese marginalisierten Erinnerungen in den Blick zu bekommen, werde ich eine ortsspezifische Untersuchung zweier Gedenkstätten durchführen: zum einen von Grafeneck, und zum anderen der Risiera di San Sabba in Triest, einem nationalsozialistisch-faschistischen Vernichtungslager, zu dessen Opfern Tausende jugoslawischer Partisanen, Juden und italienischer Antifaschisten gehörten. Historisch gesehen markieren diese beiden Orte Anfangs- und Endpunkt des nationalsozialistischen Projekts der „Rassenreinheit“, aber ihre geschichtliche und kulturelle Signifikanz ist bisher zum großen Teil ignoriert worden, teils weil die jeweils Geschädigten in der Vorstellung der Öffentlichkeit vom Holocaust eine marginale Position innehaben, teils aber auch, weil die Privilegierung von Überlebendenberichten in der Holocaustforschung und den Memory Studies de facto eine Marginalisierung dieser Opfer zur Folge hatte. Besonders im Fall der Opfer der NS-„Euthanasie“ gibt es fast keine entsprechenden Erfahrungsberichte, was aber nicht bedeutet, dass von diesen Geschehnissen und der Erinnerung an sie keine Darstellungen existieren. Um Zugang zu diesen Erinnerungen zu bekommen, muss man daher über die traditionelle Definition eines Orts hinausgehen und Fiktion, Biographie, Poesie, Drama, Film und Fernsehen als legitime Quellen kultureller Erinnerungsproduktion mit einbeziehen.

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Diese Studie ist in zwei Teile gegliedert, ein Teil für jeden „Ort“ sowie ein Zwischenkapitel, das die beiden historisch und begrifflich miteinander verbindet. Beide Fallstudien leisten jeweils einen wichtigen Beitrag zur Forschung über das Gedenken an den Holocaust; indem ich sie aber zueinander in Beziehung setze, können konkrete historische Zusammenhänge offengelegt sowie Parallelen und Unterschiede in der Erinnerungskultur der beiden Länder thematisiert werden. Es waren dieselben Täter, die für die Organisation, Verwaltung und Durchführung des Massenmords an geistig und körperlich behinderten Menschen in Grafeneck verantwortlich waren, und die später die Deportation und die Ermordung von Juden sowie italienischen und jugoslawischen Partisanen in der Risiera di San Sabba in Triest durchführten. Wenn man den Blick auf die Täter lenkt, werden die Gemeinsamkeiten der beiden Orte deutlich. In beiden Ländern ist die jeweilige Erinnerungskultur untrennbar mit der Angst vor Fragen nach Täterschaft, Kollaboration und Mitverantwortung verbunden. Im Rahmen meiner Untersuchung erweist sich das Gedenken letztendlich als das Bemühen einer Gesellschaft, sich schrittweise der eigenen Verstrickung in vergangene Verbrechen bewusst und dieser gerecht zu werden. Aus Grafeneck und der Risiera sind Erinnerungsorte geworden, die einen prägenden Einfluss auf die Erinnerung in der Region, aber auch darüber hinaus ausüben. Als Orte, an denen ein Austausch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart stattfindet und an denen verschiedene Versionen der Vergangenheit aufeinander treffen, sind sie ständig im Wandel begriffen. Zentral für meine Untersuchung dieser zwei Orte ist die Idee, dass Erinnerung ein kontinuierlicher Prozess ist oder sogar eine Art Debatte darstellt, und dass literarische Werke, Filme, Gedenkstätten und Museen an diesem Prozess beteiligt sind, ihn beeinflussen, und formen. Es geht hier also nicht nur um Fragen der Repräsentation oder darum, wie bestimmte Autoren, Künstler oder Kuratoren sich mit Erinnerung befassen, sondern auch um das Thema Rezeption – also darum, wie Menschen mit diesen Orten und diesen Medien interagieren und ob sich ihr Verhältnis zu ihnen im Lauf der Zeit ändert. In diesem allgemeinen Zusammenhang lauten die Leitfragen: Wann und wie hat lokale und regionale Erinnerung Einfluss auf nationale und sogar transnationale Erinnerung? Welche Rolle kommt literarischen Werken und Gedenkstätten beim Zusammenspiel von lokalen, nationalen und transnationalen Erinnerungsdiskursen zu? Und weiter: Wie kann man das Verhältnis der verschiedenen Erinnerungsmedien zueinander als multidirektional begreifen, und wie würde sich das auf die Gedenkpraxis und unser Verständnis der Vergangenheit auswirken? Meine vergleichende Analyse italienischer und deutscher Erinnerungskultur anhand zweier Fallstudien ist nicht nur ein Beitrag zu dem kleinen, aber stetig wachsenden Forschungskorpus zur italienischen Erinnerungskultur, sondern auch zu einem besseren Verständnis dessen, wie es dazu kam, dass sich in diesen zwei Ländern mit ähnlicher Geschichte zwei vollkommen unterschiedliche Erinnerungskulturen entwickelt haben. Im Hinblick auf europäische Erinnerungen

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sind solche Vergleiche zwar problematisch, aber auch unverzichtbar. Vergleichen bedeutet nicht, gleichzusetzen, zu homogenisieren oder zu trivialisieren, sondern vielmehr Parallelen und Unterschiede genau zu evaluieren. Vergleichend zu denken bedeutet nicht, Dinge unüberlegt miteinander in Beziehung zu setzen, sondern vielmehr, Differenzen herauszuarbeiten, Dinge in größere Zusammenhänge einzuordnen und ein Bewusstsein für die Vielfalt der Erinnerung zu schaffen, und so die Polarisierungen zu überwinden, die uns daran hindern, Erinnerungen in einem breiteren historischen oder kulturellen Rahmen anzusiedeln. Auch über ihre gemeinsame Vergangenheit als Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg hinaus gibt es zwischen Deutschland und Italien eine Reihe bedeutsamer Parallelen, die eine vergleichende Untersuchung ihrer Erinnerungskulturen nahelegen. Beide Länder sind erst spät zu Nationalstaaten geworden und haben daher starke regionale Identitäten bewahrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich beide Länder auf den Wiederauf bau und erlebten ein Wirtschaftswunder, was zur Folge hatte, dass die gezielte und gründliche Aufarbeitung der Jahre des Faschismus und des Nationalsozialismus erst mit einer gewissen Verzögerung einsetzte. Beide waren außerdem direkt vom Kalten Krieg betroffen: Während in Deutschland die Trennlinie das gesamte Land durchzog, verlief sie in Italien durch die Gegend um Triest (die endgültigen territorialen Entscheidungen im Hinblick auf Fiume und Triest fielen erst 1954). In den späten 1960er und den 70er Jahren hatten beide Länder mit Generationskonflikten und mit Terrorismus zu kämpfen, aber während die deutschen Achtundsechziger sich mit der Rolle ihrer Elterngeneration während des Nationalsozialismus befassten, standen in Italien institutionelle und politische Themen im Vordergrund, eine direkte persönliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus und der Vergangenheit blieb aus.40 Mit der Wiedervereinigung gerieten in Deutschland nicht nur zwei unterschiedliche Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und an zwei totalitäre Regimes in den Blick; darüber hinaus wurden Debatten über Anerkennung und Entschädigung im Zusammenhang mit deutschen Kriegsgeschädigten, Opfern der Luftangriffe und Vertriebenen angestoßen, und man diskutierte darüber, wie in einem wiedervereinten Deutschland in angemessener Weise der Opfer 40 | Vgl.: C. S. Maier: „Italien und Deutschland nach 1945. Vom schwierigen Geschäft des Vergleichs“, in: Gian Enrico Rusconi/Hans Woller (Hrsg.): Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945–2000. Berlin: Duncker und Humblot 2006, S. 35–53. Weitere unlängst erschienene vergleichende Untersuchungen zu Italien und Deutschland sind z.B. Sven Reichardt/Armin Nolzen (Hrsg.): Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich. Göttingen: Wallstein 2005; Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/ Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Frankfurt a.M.: Fischer 2004; Sierp: History, Memory, and Trans-European Identity; sowie Claudia Müller/Patrick Ostermann/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland. Bielefeld: Transcript 2015.

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der nationalsozialistischen Verbrechen gedacht werden solle.41 Bezeichnenderweise blieben die Opfer des NS-„Euthanasie“-Programms bei diesen öffentlichen Debatten immer noch größtenteils außen vor. Und obwohl sich die historische Forschung seit den späten 1990er Jahren zunehmend diesem Thema gewidmet hat, ist die vorliegende Studie die erste und bisher einzige systematische Auseinandersetzung mit der kulturellen Erinnerung an die NS-„Euthanasie“. Um das Zusammenspiel von Schweigen und Zum-Schweigen-Bringen herausarbeiten zu können, auf das der in zweifacher Weise marginale Status dieser Opfer zurückgeht, werde ich auf kulturelle und soziale Faktoren eingehen, die einer breiteren öffentlichen Debatte über die NS-„Euthanasie“ nach wie vor im Weg stehen. Es gibt so gut wie keine Überlebendenliteratur und kaum Zeitzeugenberichte des Tötungsprogramms, weil es fast keine Überlebenden gab und weil keine generationsübergreifende Erinnerungsgemeinschaft existiert. Außerdem galten die durch Zwangssterilisierung und NS-„Euthanasie“ Geschädigten nicht als Opfer rassischer, religiöser oder politischer Verfolgung und wurden daher nicht in den Geltungsbereich des Entschädigungsgesetzes von 1953 miteinbezogen.42 Der Kampf um Entschädigung für die Opfer der NS-„Euthanasie“ ist beispielhaft dafür, wie gespalten das Gedenken an manche Opfer des Nationalsozialismus bis heute ist: Während die meisten Ärzte und Pfleger, die am Tötungsprogramm beteiligt waren, nur milde Strafen erhielten oder sogar freigesprochen wurden und weiterhin medizinisch tätig waren, wurden ihre Opfer bis vor Kurzem von jeder Form rechtlicher oder gesellschaftlicher Anerkennung und finanzieller Entschädigung ausgeschlossen. In Italien zeigt diese Spaltung der Erinnerung eine andere Form, sie hatte aber dennoch zur Folge, dass seit Kriegsende vergleichbare Debatten geführt wurden.43 In den letzten zwei Jahrzehnten ist das Topos des „guten Italieners“ während des Kriegs zunehmend in Frage gestellt worden, wodurch es zu Diskussionen über italienische Kollaboration und über den Antisemitismus des ita-

41 | Unter den zahlreichen Arbeiten zur deutschen Erinnerungskultur nach 1989 siehe z.B. Anne Fuchs/Mary Cosgrove/Georg Grote (Hrsg.): German Memory Contests. The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990. Rochester, NY: Camden House 2006; sowie Jeffrey Herf: Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys. Cambridge, MA: Harvard University Press 1997; Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2006; und Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München: Beck 2005.

42 | Auf dieses Thema gehe ich im ersten Kapitel ausführlicher ein. 43 | Eine allgemeine Erörterung dieser Spaltungen in der Erinnerungskultur Italiens im Verlauf des 20. Jahrhunderts findet sich bei John Foot: Italy’s Divided Memory. New York: Palgrave Macmillan 2009. Vgl. außerdem Robert S. C. Gordons ausgezeichnete Studie: The Holocaust in Italian Culture. 1944–2010. Stanford: Stanford University Press 2012.

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lienischen Faschismus kam.44 Aktuellere Forschungsarbeiten betonen, dass die Idee der „Rassenreinheit“ auch im faschistischen Italien großes Gewicht hatte. Wie Hitler erließ auch Mussolini eine Reihe sozialer, wissenschaftlicher und kultureller Maßnahmen, die der „Regeneration des Volkskörpers“ dienen sollten. Auch wenn es in Italien nie zu „rassenhygienischen“ Maßnahmen kam, wie sie im nationalsozialistischen Deutschland praktiziert wurden, führte die faschistische Regierung Kampagnen mit dem Ziel landwirtschaftlicher, menschlicher und kultureller „bonifica“ (Reklamation und Aufwertung) durch, v.a. in den Grenzgebieten. In der Praxis lief das auf eine Politik der Zwangs-„Italienisierung“ hinaus und die Ausmerzung aller politischen und kulturellen Andersartigkeit. An der Geschichte von Julisch Venetien zwischen den beiden Weltkriegen zeigt sich besonders deutlich, wie die faschistische Regierung versuchte, diese politischen Maßnahmen durch die Beschwörung einer kommunistischen „slawischen“ Bedrohung aus dem Osten zu rechtfertigen.45 Slowenen und Kroaten, die in der Region wohnten, wurden als „allogeni“ bezeichnet und zunehmend als ein „Problem“ dargestellt, das einer Lösung bedurfte, und zwar der Assimilierung und der Zwangs-„Italienisierung“.46 Nach der offiziellen Machtergreifung der Faschisten im Jahr 1922 begann ein politischer Kurs der „Entnationalisierung“ dieser 44 | Am gründlichsten untersuchen den Mythos des „guten Italieners“ und dessen Auswirkungen auf die Erinnerung an den Faschismus in Italien: David Bidussa: Il mito del bravo italiano. Milano: Il Saggiatore 1994; Filippo Focardi: „‚Bravo Italiano‘ e ‚cattivo tedesco‘. Rif lessioni sulla genesi di due immagini incrociate“, in: Storia e memoria 1 (1996), S. 55–83; Angelo Del Boca: Italiani, brava gente? Un mito duro a morire. Vicenza: Pozza 2005; sowie Claudio Fogu: „Italiani brava gente. The Legacy of Fascist Historical Culture on Italian Politics of Memory“, in: Richard Ned Lebow/Wulf Kansteiner/Claudio Fogu (Hrsg.): The Politics of Memory in Postwar Europe. Durham, NC: Duke University Press 2006, S. 147–176.

45 | Von den Faschisten wurde das Wort „Slawe“ im Grunde synonym mit „Kommunist“ verwendet; der Begriff verweist auf das feindliche „Andere“, gegen das Italien sich verteidigen muss. Außerdem ist in dieser Bezeichnung auch die Konnotation des untergeordneten Status der slawischen Völker im Römischen Kaiserreich enthalten – etymologisch kann das Wort Sklave auf „Slawe“ zurückgeführt werden, damit werden die expansionistischen Ambitionen des faschistischen Italien und der Gedanke, Italien müsse sich erheben und diesen minderwertigen Nachbarn dominieren, erneut bekräftigt. Vgl. auch Glenda Sluga: „Italian National Identity and Fascism. Aliens, Allogenes and Assimilation on Italy’s North-Eastern Border“, in: Gino Bedani/Bruce Haddock (Hrsg.): The Politics of Italian National Identity. Swansea: University of Wales Press 2000, S. 163–190.

46 | Julisch Venezien, das 1918 an Italien überging, hatte große slowenische und kroatische Bevölkerungsanteile. In Istrien lebten zum Beispiel ca. 42 % Italiener und ca. 58 % Slowenen und Kroaten. Vgl. Marina Cattaruzza: „Slovenes and Italians in Trieste, 1850–1914“, in Max Engman (Hrsg.): Ethnic Identity in Urban Europe. New York: New York University Press 1991, S. 189–219; Renate Cogoy: Einleitung zu Luisa Accati/Renate Cogoy (Hrsg.): Das Unheimliche in der Geschichte, S. 14.

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Menschen, dessen letztendliches Ziel die Ausmerzung der „slawischen“ Kultur war, die als minderwertig und barbarisch galt. Alle lokalen kulturellen Veranstaltungen und Einrichtungen der slowenischen und der kroatischen Bevölkerung wurden systematisch zerschlagen; slowenische und kroatische Schulen wurden entweder geschlossen oder italienisiert. Nicht nur war es den Slowenen und den Kroaten verboten, in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden, selbst wer nur dabei ertappt wurde, diese Sprachen in der Öffentlichkeit zu sprechen, wurde schwer bestraft. Alle slawischen Namen mussten italienisiert werden, bis hin zu den Inschriften auf Grabsteinen. Die systematische Ausgrenzung der Slowenen und Kroaten aus dem öffentlichen Leben veranlasste in den 1930er und 40er Jahren zwischen 50.000 und 100.000 Menschen dazu, nach Jugoslawien oder in andere Länder zu emigrieren.47 Die gegen Minderheiten gerichteten Gesetze in Julisch Venetien (und in anderen Grenzregionen wie etwa Südtirol) waren eine wichtige Komponente in der faschistischen Strategie der Staatenbildung. Man ging davon aus, dass die italienische Kultur eine immense und einigende Macht besitze, aufgrund derer die „allogeni“ nach ihrer Assimilierung kein „Problem“ mehr darstellen würden. Wenn diese sich aber der Assimilierung widersetzten, wurden sie verfolgt und als Staatsfeinde behandelt. Zwar trifft es zu, dass die Idee politischer und kultureller Assimilierbarkeit (man hielt die „Slawen“ für hinterwäldlerisch und grobschlächtig, sie galten daher als leicht von der Kultiviertheit Italiens formbar und ‚zivilisierbar‘) besser zu einer „spirituellen“ Vorstellung von „Rasse“ passt (wie sie beispielsweise Julius Evola proklamierte) als zu einer biologischen, aber daraus zu schließen, dass der italienische Rassismus keine biologische Komponente hatte, wäre falsch.48 Der Widerspruch zwischen der „spirituellen“ Vorstellung von „Rasse“, auf der im faschistischen Diskurs immer wieder bestanden wurde, und der de facto auf biologischen Faktoren basierenden tatsächlichen Verfolgung wurde 47 | Lavo Cermelj zufolge wanderten ca. 70.000 von ihnen nach Jugoslawien, ca. 5.000 in andere europäische Länder und 30.000 nach Lateinamerika aus. Vgl. Lavo Cermelj: Sloveni e croati in Italia tra le due guerre. Trieste: Editoriale Stampa Triestina 1974. Diese Zahlen sind seither von Aleksej Kalc und Piero Purini in Frage gestellt worden, vgl. Aleksej Kalc: „L’emigrazione slovena e croata dalla Venezia Giulia tra le due guerre ed il suo ruolo politico“, in: Annales. Annali di studi istriani e mediterranei 6.8 (1996), S. 23–60; Piero Purini: „L’emigrazione non italiana dalla Venezia Giulia dopo la prima guerra mondiale“, in: Qualestoria 28.1 (2000), S. 33–53. Eine ausführlichere Beschreibung der systematischen Verfolgung der Slowenen und Kroaten bei: Albin Bubnič/Galliano Fogar/Giovanni Postogna/Ferdinando Zidar: Dallo squadrismo fascista alle stragi della Risiera (con il resoconto del processo). Trieste: ANED 1978; Marta Verginella: Il confine degli altri. La questione giuliana e la memoria slovena. Roma: Donzelli 2008.

48 | Vgl. Glenda Sluga: Italian National Identity and Fascism; Francesco Cassata: Building the New Man. Eugenics, Racial Science and Genetics in Twentieth-Century Italy. Budapest: Central European University Press 2011, S. 223–272.

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nach der Verabschiedung der „Rassengesetze“ im Jahr 1938 zunehmend schärfer. Mussolini entschied sich dafür, diese Gesetze in Triest zu verkünden, wo zu dieser Zeit zwischen 6.000 und 6.500 jüdische Menschen lebten. Obwohl die italienischen Juden zum großen Teil assimiliert waren, wurden sie zum Fokus der Kampagne, „die Italiener zu einem biologischen Verständnis der italienischen Nationalidentität zu erziehen“.49 Für die Italiener war der Balkan eine wichtige Chance, neuen „spazio vitale“ (Lebensraum) zu erobern. Nach der Besetzung Jugoslawiens durch die Italiener 1941 wurden ganze Dörfer niedergebrannt und alle Bewohner einschließlich Frauen und Kinder erschossen oder in Konzentrationslager gesperrt, um italienische Bauern anzusiedeln. Insgesamt gab es in Italien zwischen 1940 und 1943 mehr als 50 solche Lager, einige von ihnen für bestimmte unerwünschte Minderheiten wie Juden, „Zigeuner“ oder „Slawen“.50 Wie viele Menschen genau während der Besatzung getötet wurden oder an Hunger starben, ist unter Historikern nach wie vor umstritten, aber die niedrigste Schätzung liegt bei etwa 250.000.51 Dass es vor Beginn der deutschen Besetzung Italiens im Jahr 1943 von den italienischen Faschisten errichtete Konzentrationslager gab, ist erst in jüngster Zeit wissenschaftlich erforscht worden,52 genauso wie die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung von Triest nach 1938.53 Triest hatte als einzige Provinz Italiens eine 49 | Sluga: Italian National Identity and Fascism, S. 178. 50 | Aram Mattioli: Viva Mussolini! Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Paderborn: Schöningh 2010, S. 107.

51 | Vgl. Brunello Mantelli: „Die Italiener auf dem Balkan 1941–1943“, in: Christof Dipper/ Lutz Klinkhammer/Alexander Nützenadel (Hrsg.): Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder. Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 57–74, hier S. 58. Vgl. außerdem Davide Rodogno: Il nuovo ordine mediterraneo: Le politiche di occupazione dell’Italia fascista (1940–1943). Torino: Bollati Boringhieri 2003; Del Boca: Italiani, brava gente?

52 | Vgl.: Fabio Galluccio: I lager in Italia. La memoria sepolta nei duecento luoghi di deportazione fascisti. Civezzano: Nonluoghi 2002; Costantino Di Sante: I campi di concentramento in Italia. Dall’internamento alla deportazione, 1940–1945. Milano: Angeli 2001; Matta: Un percorso; Carlo Capogreco: I campi del Duce. L’internamento civile nell’Italia fascista (1940– 1943). Torino: Einaudi 2004; Kersevan: Lager Italiani; Davide Conti: L’occupazione italiana dei Balcani. Crimini di Guerra e mito della „brava gente“ (1940–1943). Roma: Odradek 2008; sowie H. James Burgwyn: Empire on the Adriatic. Mussolini’s Conquest of Yugoslavia, 1941– 1943. New York: Enigma 2005.

53 | Vgl. zu den faschistischen Rassengesetzen und zur Verfolgung der Juden u.a. Enzo Collotti: Il fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia. Roma: Laterza 2003; Michele Sarfatti: La Shoah in Italia. La persecuzione degli ebrei sotto il fascismo. Torino: Einaudi 2005; Joshua D. Zimmerman (Hrsg.): Jews in Italy under Fascist and Nazi rule. 1922–1945. Cambridge: Cambridge University Press 2005; Maura Elise Hametz: „The Ambivalence of Italian Antisemitism, Fascism, Nationalism, and Racism in Trieste“, in: Holocaust and Genocide Studies 16.3 (2002), S. 376–401; dies.: „‚Di razza ebraica‘. Fascist Name Legislation and the Designation

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Geheimpolizei, die mit der Verhaftung von Juden und anderen „allogeni“ betraut war, und zwar lange vor dem Einmarsch der Deutschen 1943. Während der deutschen Besatzung spielten Triest und seine Umgebung in der Territorialpolitik der Nationalsozialisten eine bedeutende Rolle. Die Nationalsozialisten nannten die Gegend Operationszone Adriatisches Küstenland (OZAK), sie war ihr wichtigster Zugang zum Mittelmehr. Ziel dieser Annexion war eine allmähliche Germanisierung der Region. Gauleiter Friedrich Rainer kam zu der Einschätzung, die Bevölkerung der Region sei zum großen Teil nicht italienisch: Er ging davon aus, dass hier ungefähr 250.000 Italiener lebten, im Gegensatz zu etwa 450.000 Slowenen, 250.000 Kroaten und ungefähr 550.000 „Friaulen“, die unterschiedlichen Ethnien angehörten. Im Grunde, so sein Fazit, sei die Region durch italienische Misswirtschaft „rassisch ruiniert“ worden.54 Die Risiera di San Sabba hatte bei der „Säuberung“ der Region eine wichtige Funktion: Sie war nicht nur Sammellager bei Deportationen, sondern zudem das einzige italienische Vernichtungslager, das mit einem Krematorium ausgestattet war. Zwischen 3.000 und 4.000 Juden, Slowenen, Kroaten und kommunistische Partisanen wurden in der Risiera getötet, etwa wurden 20.000 von dort in andere Vernichtungslager deportiert.

D ie U nterdrückung

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A nderen

Insgeheim wird die kollektive Erinnerung an den Holocaust (und geradezu ursächlich auch die Furcht vor der Konfrontation mit dessen historischer Realität) von der Horrorvision und dem nagenden Verdacht überlagert, der Holocaust sei vielleicht gar keine Verirrung vom geraden Weg des Fortschritts, kein Krebsgeschwür am gesunden Organismus der zivilisierten Gesellschaft. Wenn nun der Holocaust gar nicht die Antithese zur modernen Zivilisation (und all dessen, was wir damit verbinden) wäre? 55

In seinem bahnbrechenden Buch Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust argumentiert der Soziologe Zygmunt Bauman, es sei nicht nur irreführend, den Holocaust als historische Aberration zu behandeln, sondern sogar gefährlich, weil man das Geschehene aus seinem soziokulturellen Kontext her-

of Jews in Trieste“, in: Stanislao G. Pugliese (Hrsg.): The Most Ancient of Minorities. The Jews of Italy. Westport, CT: Greenwood 2002, S. 217–229; sowie dies.: Making Trieste Italian. 1918–1954. Woodbridge: Boydell & Brewer 2005.

54 | Vgl. Bubnič/Fogar/Postogna/Zidar: Dallo squadrismo fascista alle stragi della Risiera, S. 90; Galliano Fogar: „L’occupazione nazista del Litorale Adriatico e lo sterminio della Risiera“, in: Scalpelli (Hrsg.): San Sabba. Istruttoria e processo per il Lager della Risiera. Trieste: ANED 1988, S. 3–138, hier S. 5.

55 | Zygmunt Baumann: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002, S. 21.

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auslöse, wenn man es entweder als Kulmination des westlichen Antisemitismus verstehe und daher vor allem als Teil der jüdischen Geschichte oder als extremen Atavismus, also als Ausdruck einer der menschlichen Spezies eigenen urzeitlichen instinktiven Aggression. Ausgehend von der Argumentation, die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Auf klärung anführten, betont Bauman, dass man erkennen müsse, dass der Holocaust untrennbar mit der Moderne als solcher verknüpft ist: man müsse ihn als direktes Ergebnis der modernen Industrialisierung und des Rationalismus verstehen, und nicht als ein diesen Entwicklungen antithetisch entgegengesetztes Phänomen.56 Sich mit diesen Zusammenhängen nicht auseinanderzusetzen erlaube es uns zu vermeiden, bestimmte Grundannahmen der modernen Zivilisation zu hinterfragen wie etwa den Kult der Normalität, der Homogenität und der Effizienz. Anders ausgedrückt: Wenn man den Holocaust allein auf primitive voraufklärerische Impulse zurückführt, ignoriert man (ob beabsichtigt oder nicht) dessen Relevanz für die Gesellschaft, in der wir heute leben. Um zu verstehen, in welchem Verhältnis die Moderne zum Holocaust steht, muss man sich mit der scheinbar rationalen und wissenschaftlichen Grundlage der Massenvernichtung jener Menschen auseinandersetzen, die in „rassischer“ oder biologischer Hinsicht als minderwertig eingestuft wurden. Jenseits der individuellen Lauf bahn der einzelnen Täter, die sie beispielsweise von Grafeneck nach Triest führte, gibt es eine allgemeinere Entwicklung, die von der systematischen Vernichtung sozial unerwünschter Menschen, wie etwa solchen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, hin zur sogenannten „Endlösung“ führt. Der nationalsozialistischen und der faschistischen Vorstellung davon, welche Rolle dem Einzelnen in der Gesellschaft zukommt, lag die Annahme zugrunde, dass der Körper jenes Einzelnen Teil eines kollektiven Körpers ist; in der Terminologie der Nationalsozialisten, Teil des „Volkskörpers“. Um die Gesundheit und die Verfassung des Staats insgesamt zu verbessern, mussten demnach „kranke“ oder „entartete“ Elemente, die eine Gefahr für das Wohlbefinden des „Volkskörpers“ darstellen, entfernt werden. Diese Argumentation gehört zur wissenschaftlichen Theorie der Eugenik, ein Begriff, der 1883 von dem britischen Anthropologen Francis Galton geprägt wurde. Dieser übertrug genetische Prinzipien auf die demographische Ebene, um die Ausbreitung von minderwertigem genetischem Material zu verhindern und auf diese Weise die Entwicklung eines Volkes zu kontrollieren.57 56 | Ebd.; vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Auf klärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer 1988.

57 | Die Forschung zur Eugenikbewegung hat sich bisher hauptsächlich auf deren Rolle und Entwicklung in einzelnen Ländern konzentriert. Unter den wenigen Studien, die sie als internationales, ja globales Phänomen untersuchen, vgl. v.a. Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Campus 2013; Marius Turda: Modernism and Eugenics.

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Die Eugenik wurde als Heilmittel im Kampf gegen die angebliche Degeneration der „weißen Rasse“ gefeiert und dieser Ansatz verbreitete sich rasch in ganz Europa, unter anderem in Deutschland, Italien und den Vereinigten Staaten. Man entwickelte einen internationalen Katalog von angeblichen „Erbkrankheiten“ (darunter Epilepsie, Geistesschwäche, Gehörlosigkeit, Blindheit, Schizophrenie und Alkoholismus) sowie Maßnahmen zur quantitativen Einstufung menschlicher Intelligenz wie etwa den Stanford-Binet-Test (1916) und versuchte, die Fortpflanzungsrate „genetisch ungeeigneter“ Menschen zu senken. Dazu gehörten Heiratsbeschränkungen für bestimmte Personengruppen, die Segregation geistig kranker Menschen, Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen. Im nationalsozialistischen Deutschland erreichte diese Entwicklung mit der Vernichtung all jener, die als „lebensunwert“ betrachtet wurden, ihren Höhepunkt.58 Krankheiten und Behinderungen galten nicht länger als private Schicksalsschläge, sondern wurden nun als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gesehen; Mediziner, Biologen und Psychiater wurden zu Regierungsinformanten, deren Aufgabe es war, all jene, die als „schadhaft“ galten, zu denunzieren, abzusondern oder beiseitezuschaffen. In ihrem Buch Cultural Locations of Disability haben Sharon Snyder und David Mitchell den Begriff des „eugenischen Atlantik“ geprägt als Bezeichnung für „das Projekt der Ausgrenzung von Menschen, das sich im Laufe der Moderne auf Basis wissenschaftlicher Verwaltungssysteme entwickelt hat“ und das sich gegen Menschen richtete, die als von einer Norm abweichend betrachtet wurden (sei es durch Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Intelligenz oder körperliche Leistungsfähigkeit).59 Dieser Begriff lehnt sich explizit an Paul Gilroys Begriff des „schwarzen Atlantik“ an, und indem sie in ihrer Studie die Geschichte der Eugenik mit der Geschichte der Sklaverei und den Forschungen zu postkolonialer Theorie verbinden, präsentieren Snyder und Mitchell eine offenkundig multidirektionale Interpretation all dieser Diskurse. Die Herausarbeitung der zentralen Bedeutung der Eugenikbewegung für kulturelle und politische Debatten über das Thema Behinderung bis zum heutigen Tage macht Snyders und Mitchells Buch zu einem außerordentlich produktiven Ausgangspunkt nicht nur einer Erforschung der kulturellen Verortung von Behinderung, sondern auch einer Untersuchung Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010; sowie ders./Paul Weindling (Hrsg.): Blood and Homeland. Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe, 1900–1940. Budapest: Central European University Press 2007.

58 | Der Begriff „lebensunwertes Leben“ wurde von dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche in ihrer Eugenik-Abhandlung geprägt. Siehe hierzu Karl Binding/ Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form. Leipzig: Meiner 1920. Mit diesem Werk legitimierten die Nationalsozialisten ihr „Euthanasie“-Programms.

59 | Sharon L. Snyder/David T. Mitchell: Cultural Locations of Disability. Chicago: University of Chicago Press 2006, S. 101.

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der Rolle von Behinderung und Eugenik im Diskurs über den Holocaust. Im Zusammenhang mit seinem Begriff des schwarzen Atlantik zog Gilroy bereits Parallelen zwischen dem transatlantischen Sklavenhandel und dem nationalsozialistischen Genozid an den europäischen Juden, wodurch ein Dialog zwischen dem Postkolonialismus, der Holocaustforschung und den Memory Studies angestoßen wurde. Indem Snyder und Mitchell mit dem Begriff des ‚eugenischen Atlantik‘ diese Diskurse in ein neues Verhältnis zueinander setzen, zeigen sie, inwiefern diese selbst Teil einer allgemeineren Diskriminierungs- und Kontrollstruktur sind. Sie stellen fest, dass die transatlantische Eugenikbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wichtigste Grundlage für den wissenschaftlichen und politischen Austausch zu den Themen Behinderung und „Rasse“ war, und dass die Einstufung von sowohl als „rassisch“ anders bezeichneter als auch behinderter Menschen als „Untermenschen“, die im Nationalsozialismus letztlich zu ihrer Vernichtung führte, ihre Wurzeln in der Idee biologischer Anomalie hat. In der Eugenik wurde ethnische Zugehörigkeit nicht als kultureller, sondern als biologischer Faktor verstanden. Das verband die ‚Andersheit‘ afrikanischer oder jüdischer Menschen mit der ‚Andersheit‘ behinderter Menschen. Beide Eigenschaften wurden als erblich bedingt und dadurch als unabänderlich abweichend kategorisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Eugenik als ein ausschließlich die Medizin betreffendes Thema vom Holocaust-Diskurs abgespalten. Weil die internationale Bedeutung und weite Verbreitung der Eugenikbewegung heruntergespielt wurde, war es möglich, die Eugenik als historische Aberration einzustufen.60 Snyder und Mitchell zeigen dies anhand dreier Faktoren auf, die ihres Erachtens entscheidend zur Abspaltung der Eugenikbewegung vom Holocaust-Diskurs beigetragen haben. Erstens stellen sie fest, dass in Deutschland im Berufsfeld Medizin nach dem Krieg ein außerordentlich hoher Grad an Kontinuität gegeben war. Weil Opfer des NS-„Euthanasie“-Programms nicht aus religiösen, politischen oder rassistischen Gründen verfolgt wurden, waren die an ihnen begangenen Verbrechen nicht Teil der Anklage während der Nürnberger Prozesse, wodurch die Auffassung der „Euthanasie“-Morde als rein medizinische Intervention gestärkt wurde.61 Dieser Ausschluss bedeutete im Grunde, dass es sich bei der Vernichtung von Juden, Kommunisten, Sinti und Roma, und ebenso bei den in den Lagern durchgeführten Experimenten, um Kriegsverbrechen und um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte, bei der Zwangssterilisation und der Vernichtung von behinderten Deutschen hingegen nicht.62 Zweitens: Weil Eugenik auf beiden 60 | Vgl. ebd. 61 | Vgl. ebd., S. 102. 62 | Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt a.M.: Fischer 1960; Ebbinghaus/Dörner: Vernichten und Heilen; sowie Robert Jay Lifton: The Nazi Doctors. Medical Killing and the Psychology of Genocide. New York: Basic Books 1986.

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Seiten des Atlantiks weit verbreitet war und alle Regierungen in mehr oder weniger starkem Maße ähnliche Überlegungen zur Volksgesundheit anstellten, fiel es leichter, den Holocaust als Aberration zu verurteilen, als sich mit offensichtlichen Zusammenhängen mit der jeweils eigenen eugenischen Politik und den entsprechenden Praktiken auseinanderzusetzen. Drittens stellen Snyder und Mitchell fest, dass die wenigen vorhandenen Forschungsarbeiten zum NS-„Euthanasie“-Programm in erster Linie an den Tätern und an der nationalsozialistischen Medizin interessiert sind. Diese wurde lange Zeit als eine „beispiellose Verirrung“ dargestellt,63 während der wissenschaftliche und auch der ideologische Hintergrund und Kontext dieser Praktiken ignoriert wurden. Dies hatte wiederum zur Folge, so Snyder und Mitchell, dass Deutschland in der internationalen medizinhistorischen Forschung letztendlich als Sonderfall behandelt wurde. Das ist ein entscheidender Punkt, und es lohnt sich, hier innezuhalten: Die Wahrnehmung, dass das, was in Deutschland geschehen war, in keinerlei Zusammenhang mit den Entwicklungen im übrigen Europa und in Nordamerika stand, war nicht nur in den alliierten Ländern weit verbreitet, sondern auch bei den Achsenmächten, wobei der Fall Italiens besonders signifikant ist. Dort wurde es nämlich nach dem Krieg Usus, Antisemitismus, Rassismus und eugenisches Gedankengut als deutsche „Importe“ zu betrachten, die – wenn überhaupt – nur wenig mit der faschistischen Ideologie zu tun hatten. In Wirklichkeit war jedoch die Eugenik in Italien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ebenso erfolgreich wie in anderen Ländern und spielte lange bevor Hitler an die Macht kam eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Faschismus. Post-darwinistische Theorien der Genetik und der Vererbung waren von großer Bedeutung für die transatlantische Eugenikbewegung, und Cesare Lombrosos 1976 veröffentlichtes Buch L’uomo delinquente hatte in Diskussionen über „degenerierte Elemente“ in der Gesellschaft einen enormen Einfluss. Dennoch konnte die Eugenikbewegung erst nach 1912 in Italien tatsächlich Fuß fassen.64 Die katholische Kirche und die Mehrheit der italienischen Eugeniker lehnten Zwangssterilisierungen und andere interventionistische Praktiken nach dem Vorbild der US-amerikanischen Gesetze zur Sterilisierung, die 1907 in Indiana und 1908 in Washington und Kalifornien erlassen worden waren, entschieden ab. Der Fokus der Eugenikbewegung in Italien lag daher zunächst ausschließlich auf Themen wie der Hygiene, der Heilung endemischer Krankheiten, der Versorgung von Kindern und Schwangeren sowie der richtigen Ernährung.65 Das 63 | Snyder/Mitchell: Cultural Locations, S. 104. 64 | Vgl.: Roberto Maiocchi: Scienza italiana e razzismo fascista. Scandicci: La nuova Italia 1999, S. 7–79; Aaron Gillette: Racial Theories in Fascist Italy. London: Routledge 2002; Claudia Mantovani: Rigenerare la società. L’eugenetica in Italia dalle origini ottocentesche agli anni Trenta. Soveria Mannelli: Rubbettino 2004.

65 | Vgl. Roberto Maiocchi: Scienza e fascismo. Roma: Carocci 2004, S. 140-154; sowie Francesco Cassata: Il fascismo razionale. Corrado Gini fra scienza e politica. Roma: Carocci 2006,

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änderte sich gegen Mitte der 1920er Jahre durch das Eingreifen Mussolinis, der eugenisches Gedankengut mit dem faschistischen Programm der Erneuerung und des Wiederauf baus der kulturellen, politischen und vor allem militärischen Stärke Italiens zusammenbrachte – ein politischer Kurs, den Francesco Cassata als „Qualität durch Quantität“ beschreibt.66 In der berühmten Himmelfahrtsrede von Mai 1927 drängte Mussolini die Italiener nicht nur dazu, sich zu vermehren – „Wenn man, meine Herren, sich vermindert, so schafft man nicht ein Reich sondern wird zur Kolonie“67 –, sondern führte zudem neue eugenische Gesetze ein, um die Nation von den sogenannten Gesellschaftskrankheiten zu heilen, wofür als Beispiele Alkoholismus, industrieller Urbanismus, Gelbfieber und der Bolschewismus genannt wurden.68 Außerdem verkündete er in dieser Rede das Verbot aller antifaschistischen Zeitungen und sonstiger Organisationen, die Etablierung einer polizeilichen Spezialeinheit in allen Regionen Italiens und die Einrichtung besonderer Gerichtshöfe zur Verfolgung von Dissidenten und Revolutionären. Mussolini äußerte zudem Sorge über den Rückgang der „weißen Rasse“ und die Gefahr einer „Überschwemmung“ durch „farbige Rassen“.69 Die Bedeutung dieser Taktik der Verschmelzung rassistischer, eugenischer und totalitärer S. 69–134. In Deutschland ging es bei der Eugenik ebenfalls in erster Linie um eine Stärkung positiver Faktoren und nicht darum, die als negativ oder schädlich eingestuften Menschen loszuwerden, zumindest bis 1918. Zwangssterilisierungen, wie sie in den Vereinigten Staaten durchgeführt wurden, wurden erst 1933 Realität. Dazu kommt die Beobachtung Henry Friedlanders, dass sich auch die deutsche Eugenik vor und während des Ersten Weltkriegs nicht mit dem Thema Rasse beschäftigte. Vgl. Henry Friedlander: The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1995, S. 10.

66 | Vgl. Francesco Cassata: Building the New Man, Kapitel 4, „Quality through quantity: eugenics in fascist Italy“.

67 | Zitiert nach: Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung. Aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum und Loredana Melissari. Berlin: De Gruyter 2014, S. 68.

68 | Vgl.: Benito Mussolini: Scritti e discorsi. 12 Bände. Milano: Ulrico Hoepli Editore 1934. Bd. 6: 1927–28, S. 40–41 und S. 45.

69 | In seinem Vorwort zur italienischen Ausgabe von Richard Korherrs Geburtenrückgang (1928) schrieb Mussolini: „Die gesamte weiße Rasse, die westliche Rasse, könnte von der farbigen Rasse überschwemmt werden, die sich in einem uns unbekannten Rhythmus vermehrt“. Zitiert nach Ruth Ben-Ghiat: Fascist Modernities. Italy, 1922–1945. Berkeley: University of California Press 2001, S. 20. Ben-Ghiat weist darauf hin, dass „die faschistische Moderne nicht nur auf eine Bekämpfung der ‚entarteten‘ Einf lüsse innerhalb Italiens ausgerichtet war, sondern auch auf die Neutralisierung nicht-weißer Rassen, deren uneingeschränktes Wachstum ein Zeitalter der ‚sinnlosen Unordnung und uferlosen Verzweif lung‘ mit sich bringen würde“ (ebd.). Vgl. auch Carl Ipsen: Dictating Demography. The Problem of Population in Fascist Italy. Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 43.

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Ideen kann nicht hoch genug bewertet werden. Die Himmelfahrtsrede muss als Schlüsselmoment der Entwicklung des Faschismus hin zu einer totalitären Diktatur gesehen werden.70 Mussolini säuberte seine Regierung im Anschluss nicht nur von allen Personen, die nicht in vollem Maße ideologisch auf Linie waren,71 sondern stärkte mit der Einführung einer umfassenden Überwachung und Kontrolle subversiver Gruppen zudem die Staatspolizei. Neue Gesetze schränkten die Rechte von autonomen Gruppierungen, Angehörigen ethnischer Minderheiten, „unproduktiven“ Mitgliedern des nationalen Kollektivs (z.B. Homosexuelle, ältere alleinstehende Männer, Kriminelle, Dissidenten) sowie von Menschen, die als Gefahr für die Bevölkerung eingestuft wurden.72 Unzählige Institute, Komitees und Zeitungen wurden gegründet, um führende Eugeniker, Soziologen und Politiker zusammenzubringen.73 Zwischen 1927 und 1943 verdoppelte sich die Zahl der Einweisungen in psychiatrische Einrichtungen.74 Obwohl „Erbkranke“ oder „Delinquenten“ in Italien letztlich nicht zwangssterilisiert oder getötet wurden, bedeutet dies nicht, dass der faschistischen Ideologie eugenische und rassistische Überlegungen zur Volksgesundheit fremd waren. Die Angst vor einer „Verunreinigung des Bluts“ wurde durch Italiens koloniale Bestrebungen in Afrika noch geschürt, was die Einführung von Segregationsund „Rassengesetzen“ zur Folge hatte.75 Das Regime hielt die italienische Bevölkerung zum offenen Rassismus an mit Veröffentlichungen wie dem Manifesto degli scienziati razzisti und in Zeitschriften wie La difesa della razza, Razza e ci70 | Vgl.: R. J. B. Bosworth: Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship, 1915–1945. London: Allen Lane 2005, S. 240.

71 | Vgl. ebd., S. 246. 72 | Vgl. Ben-Ghiat: Fascist Modernities, S. 18f.; Gillette: Racial Theories in Fascist Italy, S. 35–49.

73 | Interesse an Eugenik war unter einf lussreichen Gelehrten und Wissenschaftlern in vielerlei Disziplinen weit verbreitet, von der Biologie, Medizin und Psychiatrie über Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Anthropologie bis hin zur Theologie, und viele von ihnen waren direkt daran beteiligt, die „wissenschaftliche Basis des Faschismus“ bereitzustellen, um den Titel eines Aufsatzes zu zitieren, den der Soziologie Corrado Gini 1937 veröffentlichte. Zu Gini vgl. Cassata: Il fascismo razionale; sowie ders.: Building the New Man, S. 147–192.

74 | Vgl. Dario Padovan: „Biopolitica, razzismo e trattamento degli „anormali“ durante il fascismo“, in: Francesco Cassata/Massimo Moraglio (Hrsg.): Manicomio, società e politica. Storia, memoria e cultura della devianza mentale dal Piemonte all’Italia. Pisa: BFS 2005, S. 59–82; sowie Matteo Petracci: I matti del duce. Manicomi e repressione politica nell’Italia fascista. Roma: Donzelli 2014.

75 | Vgl. Angelo Del Boca: I gas di Mussolini. Il fascismo e la guerra d’Etiopia. Roma: Editori Riuniti 2007; ders.: Italiani, brava gente?; ders. (Hrsg.): Le guerre coloniali del fascismo. 1991. Roma: Laterza 2008. Vgl. außerdem Nicola Labanca: „Colonial Rule, Colonial Repression and War Crimes in the Italian Colonies“, in: Journal of Modern Italian Studies 9.3 (2004), S. 300313; Ben-Ghiat: Fascist Modernities, S. 123–170; sowie Cassata: Building the New Man, S. 35.

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viltà sowie Il diritto razzista.76 Die Radikalisierung des faschistischen Regimes – zunächst im Rahmen des Äthiopien-Kriegs 1935/1936 und dann 1938 mit der Verabschiedung der antijüdischen „Rassengesetze“ – zeigt, dass eugenische Prinzipien von Anfang an vom Faschismus bejaht wurden. Die internationale Eugenikbewegung als Referenzrahmen für meine beiden Fallstudien ermöglicht es mir, zwei unterschiedliche, aber zusammenhängende Ziele zu verfolgen. Erstens kann ich dadurch die historischen Zusammenhänge zwischen Grafeneck und der Risiera di San Sabba herausarbeiten, die bezeichnenderweise weder in den dokumentarischen Ausstellungen der beiden Orte noch in der jeweiligen Forschungsliteratur erwähnt werden. Zweitens möchte ich einen Beitrag leisten zur vergleichenden Forschung über die Geschichte und Erinnerung des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland. Wie bereits erwähnt ist das Ausklammern des NS-„Euthanasie“-Programms aus dem Holocaust-Diskurs ein Symptom dafür, wie zum einen die Eugenik-Bewegung und zum anderen der Holocaust selbst auf einer allgemeineren Ebene als historische Aberrationen isoliert werden, anstatt als ein Teil der Rationalisierung der Moderne gesehen zu werden. Eine multidirektionale und vergleichende Herangehensweise an das Thema der Holocaust-Erinnerung in Deutschland und Italien soll außerdem der Abschottung einzelner Forschungsrichtungen entgegenwirken, die solche Diskussionen tendenziell dominieren.

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Kehren wir nun zur Idee der unheimlichen Geschichte zurück. Sie ist in diesem Buch auf mindestens zwei Ebenen präsent, die jeweils mit unterschiedlichen Mechanismen des Zum-Schweigen-Bringens, der Verdrängung und der Ausschließung verbunden sind, von denen die Erinnerung an den Faschismus und den Nationalsozialismus seit dem Ende des Kriegs bis heute geprägt ist. Zum einen könnte man sagen, dass der Gegenstand meiner Untersuchung bereits an und für sich unheimlich ist, weil eugenisches Denken unsere Vorstellungen von Behinderung bis heute prägt. Dies zeigt sich beispielsweise in der Tendenz, das NS-„Euthanasie“-Programm für „gerechtfertigter“ zu halten als die Verfolgung der Juden. Durch die Entwicklung zunehmend anspruchsvollerer Technologien in der Pränataldiagnostik und bei Gentests verfestigt sich die Grundannahme, dass ein Leben mit einer Behinderung weniger „lebenswert“ sei als ein „normales“.77 Und mehr noch: Eugenisches Gedankengut wirkt sich nicht nur darauf aus, 76 | Vgl.: Ben-Ghiat: Fascist Modernities, S. 149. 77 | Wie die Biologin Ruth Hubbard erklärte: „Eugenische Prinzipien sind Teil unserer größtenteils unhinterfragten und unausgesprochenen Ansichten darüber, wer das Recht hat, zu leben und wer nicht. Und Wissenschaftler und Ärzte stellen uns die Mittel und Wege zur Verfügung, diese Ansichten in die Tat umzusetzen.“ R. Hubbard: „Abortion and Disability. Who

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welche Einstellungen in der Kultur und der Wissenschaft zu Behinderungen verbreitet sind, sondern bildet zudem, wie Lennard J. Davis überzeugend gezeigt hat, den gemeinsamen Nenner eines breiten Spektrums diskriminierender Praktiken und Vorstellungen vom „Anderen“, die auch über den Holocaust selbst hinaus das 20. Jahrhundert geprägt haben, am deutlichen in Diskursen über Ethnizität, Geschlecht und Sexualität: Für die Eugenik war eine potenzielle Verbesserung der Rasse durch die Minimierung problematischer Bevölkerungsgruppen und deren problematischer Verhaltensweisen zu erreichen. Diese unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – Frauen, Schwarze, Homosexuelle, die Arbeiterklasse usw. – wurden alle in der Rubrik Schwachsinn und Entartung eingeordnet. Alle diese Gruppen galten als Kategorien von Behinderung, auch wenn wir diese Gruppen heutzutage nicht mehr auf diese Weise miteinander in Zusammenhang bringen. 78

Wenn man den Holocaust wieder in den Kontext der internationalen Eugenik-Bewegung einbettet, werden dadurch tiefer liegende Zusammenhänge zwischen Strukturen der Diskriminierung und der Verfolgung sichtbar, die sonst übersehen würden. Zugleich kommen Überschneidungspunkte zwischen verschiedenen Disziplinen und Fachbereichen in den Blick, in erster Linie zwischen den Memory Studies und den Disability Studies. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (zu nennen sind hier Lennard J. Davis, Ruth Hubbard, Sharon Snyder und David Mitchell) scheint in den Disability Studies ein bemerkenswertes Desinteresse an der Geschichte der internationalen Eugenik-Bewegung vorzuherrschen, und so gibt es in diesem Bereich bisher kaum Untersuchungen zum nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm. Und in den Memory Studies tendiert man dazu, die Ausklammerung der NS-„Euthanasie“ vom Holocaust zu replizieren statt sie kritisch zu hinterfragen. Insgesamt stellt die NS-„Euthanasie“ für die Memory Studies eine singuläre strukturelle und methodologische Herausforderung dar, weil sie die zentrale Rolle von Überlebendenberichten in Frage stellt. Worin besteht die Rolle der Memory Studies und was ist ihr Gegenstand, wenn es weder Überlebende, noch eine Erinnerungsgemeinschaft noch eine einheitliche Interessengruppe gibt? Da es zu den Grundprinzipien des Bezeugens und der Repräsentation von Erinnerung gehört, dass die Opfer in ihren eigenen Worten über ihre Erfahrungen sprechen, bereitet die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ ein gewisses Unbehagen, denn dazu gehört notwendigerweise auch, für die Opfer zu sprechen, entweder durch Äußerungen von Verwandten oder Historikern, oder gar dadurch, dass die Aussagen der Täter reproduziert werden. Ich versuche Should and Who Should Not Inhabit the World?“, in: Lennard J. Davies (Hrsg.): The Disability Studies Reader. New York: Routledge 2006, S. 93–103, hier S. 102.

78 | Lennard J. Davis: „The End of Identity Politics and the Beginning of Dismodernism. On Disability as an Unstable Category“, in: Ders. (Hrsg.): Disability Studies Reader, S. 231–242, hier S. 233.

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in diesem Buch, Ansätze zum Umgang mit diesem Problem zu entwickeln. Dies geschieht erstens durch einen Dialog mit den Disability Studies und zweitens durch eine erweiterte Konzeptualisierung der Stellvertreterschaft als im Sinne eines Sprechens für jemanden oder anstelle von jemandem ohne eigene Stimme. Stellvertretende Zeugenschaft, wie ich sie hier verstehe, ist eine legitime Art, einen Erinnerungsdiskurs zu gestalten und mit einem selbstreflexiven Ansatz die Geschichten dieser Opfer zurückzugewinnen. Im italienischen Beispiel, um den es im zweiten Teil des Buchs geht, überschneiden sich ebenfalls verschiedene Diskurse und Fachbereiche, vor allem die Memory Studies und die Postcolonial Studies. In den letzten zehn Jahren sind die Geschichte und Erinnerung des Kolonialismus sowie der gewaltsamen Annexionspolitik Italiens zunehmend zum Gegenstand kritischer Untersuchungen geworden. Während die Forschung sich hauptsächlich den Kolonien in Afrika widmet, existieren zu den annektierten Gebieten und den Protektoraten auf dem Balkan in der Forschung bisher kaum Untersuchungen. Begriffe und Methoden, die im Rahmen der Postcolonial Studies entwickelt wurden – zum Beispiel die von Homi K. Bhabha geprägten Begriffe der „Hybridität“ und des „Dritten Raums“79 – sind eine produktive Grundlage für die Analyse der ethnischen und kulturellen Spannungen, von denen die Region um Triest an der nordöstlichen Grenze Italiens nach wie vor geprägt ist. An der Geschichte dieser Region und ihren Erinnerungen zeigt sich, welche zentrale Stellung eugenisches Gedankengut im italienischen Faschismus hatte, wodurch der Mythos, dass der ihm eigene Rassismus „spirituell“ oder aus Deutschland importiert war, als solcher enttarnt wird. Mein Fokus auf die Geschichte und die Kontinuität eugenischen Denkens erlaubt es, Parallelen und Zusammenhänge zwischen scheinbar völlig unterschiedlichen Orten der Erinnerung zu erkennen und sichtbar zu machen. Es geht jedoch nicht darum, die offensichtlich asymmetrischen und heterogenen Erinnerungskomplexe, die jeweils in Grafeneck und der Risiera verankert sind, miteinander gleichzusetzen. Die Opfer der NS-„Euthanasie“ haben wenig mit den Opfern des faschistischen Rassismus gemeinsam. Das bedeutet aber nicht, dass eine vergleichende Interpretation der beiden Orte keine Einsichten in die Mechanismen des Erinnerns, des Vergessens und des Verdrängens über nationale, kulturelle, sprachliche und disziplinäre Grenzen hinweg leisten kann. Meinem Begriff des Unheimlichen in der Geschichte ist mit Rothbergs Multidirektionalität das Vertrauen darauf gemeinsam, dass es möglich und sinnvoll ist, die Koexistenz von zwei miteinander scheinbar unvereinbaren oder widersprüchlichen Phänomenen nicht als Problem zu betrachten, das einer Lösung bedarf, sondern stattdessen als Ort produktiver Spannungen, an dem tiefer liegende Bedeutungsstrukturen freilegt werden, die unter Umständen nicht so einfach in die vorhandenen Wis79 | Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Aus dem Englischen von Michael Schiffmann/Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000.

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sensreferenzrahmen eingefügt werden können. Dies kann ur Folge haben, dass wir die entsprechenden Grenzen und Hierarchien nicht mehr als festgelegt und unabänderlich erleben. Das trifft auf beide Teile dieses Buchs zu, die jeweils auf die Offenlegung dessen ausgerichtet sind, was ich als „interne Multidirektionalität“ der erforschten Erinnerungskomplexe bezeichne. Zugleich existiert diese aber auch zwischen den beiden Teilen des Buches, die als diffraktive Lektüre zweier marginalisierter Aspekte des Holocaust gedacht sind, ohne dass damit auf einer Äquivalenz der beiden bestanden werden soll. Ich baue hier auf dem von Donna Haraway ausgearbeiteten und später von Karen Barad weiterentwickelten Begriff der Diffraktion (Beugung) auf. In den Naturwissenschaften bezog er sich ursprünglich auf ein spezifisches optisches Phänomen, wurde dann aber, zunächst von Haraway, als Alternative zur Metapher der Reflexivität verwendet, die es ermöglicht, Unterschiede nicht als Abweichungen von einer Norm oder einem Original zu verstehen und auch nicht als Teil einer hierarchischen Beziehung zwischen Original und Kopie, sondern vielmehr als ein nicht-hierarchisches oder rhizomatisches dezentralisiertes Netzwerk der wechselseitigen Beeinflussung und Störung. In Haraways Worten: „Diffraktionsmuster zeichnen die Geschichte von Interaktion, Interferenz, Verstärkung und Differenz auf. Diffraktion handelt von heterogener Geschichte, nicht von Originalen“.80 Barads Begriffsverwendung ist durch ihre Arbeit in der Quantenphysik geprägt und sie betont, wie wichtig es ist, die materielle Beschaffenheit der Wissensproduktion zu berücksichtigen. Spezifische Diffraktionsmuster, die in einem bestimmten Gegenstand entstehen, resultieren nicht nur aus der Interaktion dieses Gegenstands mit anderen, sondern auch aus Interferenzen, die auf das Instrumentarium zurückzuführen sind, das ein Beobachten überhaupt erst ermöglicht. Ein Ort der Erinnerung, wie ich ihn verstehe, besteht auf ähnliche Weise aus den Diffraktionsmustern, die von seinen heterogenen Einzelkomponenten erzeugt werden. Die literarischen Texte, in denen eine bestimmte Erinnerung thematisiert wird, sind nicht einfach ein der offiziellen Geschichte angehängter Zusatz, beispielsweise einer in der Historiographie oder an einer Gedenkstätte dargebotenen Geschichte. Ob solche Texte zum gleichen „Ort“ gehören, hängt nicht davon ab, ob sich demonstrieren lässt, dass sie einen prägenden Einfluss auf jene offizielle Erinnerung ausüben, dass eine Wechselbeziehung besteht oder eine Korrelation vorhanden ist. Vielmehr ist das Diffraktionsmuster, das durch ein Zusammenlesen der Gedenkstätte und der entsprechenden Literatur entsteht, selbst der Ort. Er existiert nicht als festes, vorgegebenes Objekt in der Welt, sondern wird erst durch den Prozess des Beobachtens als Forschungsgegenstand 80 | Haraway zitiert nach Karen Barad: „Diffraktionen. Differenzen, Kontingenzen und Verschränkungen von Gewicht“, in: Corinna Bath/Hanna Meißner/Stephan Trinkaus/Susanne Völker (Hrsg.): Geschlechter Interferenzen. Wissensformen – Subjektivierungsweisen – Materialisierungen. Berlin: lit 2013, S. 27–67, hier S. 27.

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sichtbar. Genau deshalb ist es nicht nur möglich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes produktiv, zwei asymmetrische, heterogene Orte zusammen zu lesen: weil dadurch neue Diffraktionsmuster entstehen, die es sonst nicht geben würde. In der vorliegenden Studie lese ich also Gedenkstätten und Literatur als zwei Facetten desselben Orts. Durch diesen Ansatz kann ich zeigen, wie solche Orte in den größeren Rahmen der kulturellen Produktion und Dissemination von Erinnerung passen. Ebenso werden Muster erkennbar, die zur Ausschließung und Marginalisierung bestimmter Minderheiten führen. Das Buch besteht aus zwei Teilen mit jeweils drei Kapiteln sowie einem Brückenkapitel, das die beiden Teile verbindet. Im ersten Teil bringe ich aufschlussreiche Perspektiven aus den Memory Studies und den Disability Studies zusammen, zeige, inwiefern die NS-„Euthanasie“ im öffentlichen, akademischen und kulturellen Gedenkdiskurs eine traumatische Lücke darstellt, und mache verschiedene Faktoren sichtbar, die dazu beitragen, dass dieses Thema marginalisiert wurde. Selbst Giorgio Agamben, einer der wichtigsten Theoretiker der Biopolitik, der sich ausdrücklich gegen eine Trennung der NS-„Euthanasie“ vom Holocaust ausspricht, bestätigt scheinbar unbewusst bestimmte Grundannahmen, auf die jene Trennung überhaupt erst zurückzuführen ist. Der erste Teil des Buches ist eine ausführliche Studie des Gedenkens an die NS-„Euthanasie“ – die erste und bislang einzige, die sowohl Gedenkstätten als auch literarische Werke, Kunst, Theater und andere Formen der kulturellen Erinnerung berücksichtigt. Gegenstand des ersten Kapitels „Unheimliche Heimat: Grafeneck als Heterotopie“ ist vor allem die Gedenkstätte Grafeneck in Südwestdeutschland sowie verschiedenste mit Grafeneck verbundene Gedenkveranstaltungen und Projekte der letzten Jahre. Grafeneck ist heute nicht nur eine Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“, sondern nach wie vor auch eine Wohn- und Pflegeeinrichtung für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Man ist daher dort mit einer moralischen Frage konfrontiert, die anderen Erinnerungsorten erspart bleibt: Ist es vertretbar, an einem Ort Menschen unterzubringen, die zu einer nur wenige Jahrzehnte zuvor ausgesonderten und zur Vernichtung bestimmten Bevölkerungsgruppe gehören, während dieser Ort zugleich als Gedenkstätte für genau dieses Verbrechen dient? Ich befasse mich bei meiner Lektüre nicht nur mit der Nachkriegsgeschichte von Grafeneck, sondern auch mit seiner heutigen Funktion. Wenn man Grafeneck gewissermaßen durch diese doppelte Linse hindurch untersucht, stellt sich heraus, dass sein ambivalenter Status vorgefertigte Ideen der Besucher darüber, was Gedenken ist oder sein soll, in Frage stellt und sie anregt, genauer darüber nachzudenken, welche Stellung Menschen mit Behinderung in unserer heutigen Kultur haben. Die Schwierigkeit, der Opfer der NS-„Euthanasie“ in angemessener Weise zu gedenken, hängt mit der tiefgehenden und anhaltenden Ambivalenz unserer Gesellschaft gegenüber Behinderungen und psychischen Erkrankungen zusammen. Dass dem so ist wird noch deutlicher erkennbar, wenn wir uns näher mit literarischen Darstellungen der NS-„Euthanasie“ und ihrer Rezeption befassen. In

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der Kritik wurde der Rolle, die die NS-„Euthanasie“ in wichtigen Werken wie etwa der Blechtrommel von Günter Grass oder in der TV-Miniserie Holocaust spielt, bisher kaum Beachtung geschenkt. Ausgehend von einer Analyse der problematischen Darstellung des „Euthanasie“-Programms in der erwähnten Miniserie befasse ich mich im zweiten Kapitel „Die Überwindung des Schweigens, Teil 1: Der weise Narr“ mit den Schwierigkeiten, die mit der Darstellung von geistigen Erkrankungen und Behinderungen im Allgemeinen verbunden sind. Ich gehe dazu auf mehrere literarische Texte aus den ersten vier Nachkriegsjahrzehnten ein, verfasst von Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Alfred Andersch, Christoph Hein und Günter Grass, in denen jeweils die Figur des „weisen Narren“ auftaucht – ein psychisch kranker Mensch, der dem Protagonisten in Krisensituationen mit quasi-prophetischen Einsichten weiterhilft; eine Figur, für die ich im Englischen den Begriff des „disabled enabler“ geprägt habe. Obwohl zunächst der Eindruck entstehen kann, dass es sich bei dieser Figur um eine Repräsentation handelt, die eine Ermächtigung bewirkt, ist sie tatsächlich ausgesprochen begrenzt in ihren Möglichkeiten und bewirkt letztlich nur, dass stereotype Vorstellungen von Behinderung und Krankheit bestätigt werden – strukturell ist sie mit der Figur des „magischen Negers“ (magic negro) identisch, wie sie aus den African American Studies bekannt ist. Die Blechtrommel von Günter Grass erweist sich gleichermaßen als Lackmustest für Einstellungen zu geistigen Krankheiten und Behinderungen in Westdeutschland fünfzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg: Ein genauer Blick auf zeitgenössische Rezensionen des Romans zeigt ein Wiedererstarken der nationalsozialistischen Rhetorik der Pathologie und der Abartigkeit. In einigen Fällen wurde Die Blechtrommel sogar als „entarteter“ Text eingestuft, der eine Gefahr für das Wohlergehen der Gesellschaft darstelle. Bei den im dritten Kapitel „Die Überwindung des Schweigens, Teil 2: Der stellvertretende Zeuge“ untersuchten Texten stehen konkrete historisch belegte Opfer des NS-„Euthanasie“-Programms im Mittelpunkt. Hans Ulrich Dapp, Helga Schubert und Hellmut Haasis versuchen mit ihren Werken die Lebensgeschichten dieser Menschen wieder ans Licht zu bringen. Zu diesem Zweck integrieren sie dokumentarische, (auto-)biographische und fiktionale Elemente in ihre Werke und übernehmen eine Rolle, die ich hier als die des „stellvertretenden Zeugen“ bezeichne, um so diesen schweigenden und zum Schweigen gebrachten Opfern wieder zu einer Stimme zu verhelfen. Diese stellvertretenden Zeugnisse stellen eine Alternative zu den stereotypen und entmenschlichenden Darstellungen von Behinderungen dar, die dem echten oder angemessenen Gedenken an diese Opfer so oft im Weg stehen. Das Bezeugen eines Traumas ist in der Fachliteratur vielfach als Paradoxon dargestellt worden, zum Beispiel von Shoshana Felman und Dori Laub. Für Felman und Laub ist die Unaussprechlichkeit eines Traumas zentral: Zeugenschaft wird nonverbal weitergegeben, und zwar in erster

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Linie durch Schweigen, Leerstellen, Unterbrechungen und Auslassungen.81 Das Schweigen oder die Leerstelle als ästhetisch einzig mögliche oder angemessene Repräsentation eines Traumas aufzufassen ist jedoch im Hinblick auf die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ letztlich kontraproduktiv, da wir zunächst das anhaltende Schweigen und Zum-Schweigen-bringen, das uns von diesen Opfern trennt, überwinden müssen. Im vierten Kapitel „Curriculum Mortis: Auf den Spuren der Täter von Grafeneck nach Triest“ gehe ich auf die Karrieren der Täter ein, die sowohl in Grafeneck als auch in der Risiera di San Sabba Verbrechen verübten, um historische Zusammenhänge zwischen den beiden Orten herauszuarbeiten und die Täterforschung in Deutschland und in Italien vergleichend zu untersuchen. Christian Wirth, Josef Oberhauser, Kurt Franz und viele andere Akteure der „Aktion T4“, deren Laufbahn in Grafeneck begann, richteten sich 1943 unter der Aufsicht des aus Triest stammenden SS-Obergruppenführers Odilo Globocnik in der Risiera di San Sabba ein. Diese Besetzung mit hochgradig spezialisierten „Experten der Vernichtung“82 zeigt, wie wichtig Triest für den Verlauf der nationalsozialistischen Unterdrückung und Verfolgung war, und verdeutlicht, in welcher Beziehung das „Euthanasie“-Programm zum Holocaust stand. Neben einer Beschreibung der in Deutschland und Italien feststellbaren Tendenzen im Bereich der Täterforschung untersuche ich, welche Rolle Darstellungen dieser Täter in den Dokumentarausstellungen der betreffenden Gedenkstätten spielen, und frage, was über sie gesagt wird und wie man sich dort an sie erinnert. Auf der Grundlage einer Analyse der Rolle dieser Täter in der Konzeption der beiden Gedenkstätten und in den dokumentarischen Ausstellungen kann man allgemeinere Schlussfolgerungen zu den Tabus, Ängsten und Verdrängungen ziehen, die im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Täterschaft sowohl in Deutschland als auch in Italien nach wie vor existieren. In der zweiten Hälfte dieses Buchs befasse ich mich mit dem Erbe des Faschismus in Italien und mit der umstrittenen Rolle Italiens im Holocaust. Zentral ist hier die Frage, inwiefern der Umgang mit der italienisch-faschistischen Politik der „Rassenreinheit“ und Zwangs-„Italienisierung“ in der Grenzregion um Triest auf analogen Mechanismen des Zum-Schweigen-Bringens und der Verdrängung beruht. Triest ist für die Spannungen und Widersprüchlichkeiten, die die italienische Erinnerungskultur insgesamt prägen, exemplarisch. In der Geschichtswissenschaft sind die faschistische Rassenpolitik, die Zwangs-„Italienisierung“ und die Kollaboration mit der NS-Besatzungsmacht Gegenstand heftiger Debatten, in deren Zentrum letztlich die Frage steht, inwiefern Italien Täter oder Mit-Täter ist 81 | Vgl.: Shoshana Felman/Dori Laub: Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History. New York: Routledge 1992.

82 | Vgl. Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg: Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung 2013.

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und inwiefern Opfer. In Triest gibt es zwei konkurrierende Narrative, von denen das eine die von den nationalsozialistischen Besatzern begangenen Verbrechen betont und das andere die der jugoslawischen Partisanen. In beiden Narrativen sind also die Italiener Opfer externer Aggressoren, während die Verbrechen des Faschismus heruntergespielt werden. Im fünften Kapitel „Unheimliche Heimat II: Triest und die Geburt einer ‚italienischen Tragödie‘“ befasse ich mich näher mit solchen exkulpatorischen Mechanismen und zeige zunächst, wie die Erinnerung an die Risiera di San Sabba konsequent gegen die Erinnerung an die Foibe, an die von jugoslawischen Partisanen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verübten Gewalttaten, ausgespielt wird. Weiter arbeite ich heraus, wie diese konkurrierenden Erinnerungen im politischen und im öffentlichen Diskurs für bestimmte Zwecke instrumentalisiert werden und inwiefern Debatten über die italienische Identität und den Nationalcharakter nach wie vor von anti-slawischen Positionen geprägt sind. Letzten Endes trägt dieser ‚Kampf um die Erinnerung‘ zur Erhaltung des Status quo bei und wird selbst zu einer Deckerinnerung, die eine Auseinandersetzung mit italienischer Schuld und Kollaboration verhindert. Die Fronten dieses Kampfs bilden zwei konkurrierende Gedenktage: der Giorno della memoria, der jedes Jahr am 27. Januar in der Risiera di San Sabba (und anderswo in Italien) zeitgleich mit dem internationalen Holocaust-Gedenktag begangen wird, sowie der Giorno del ricordo, der den Opfern der Foibe-Massaker und des istrischen Exodus gewidmet ist. Dieser Gedenktag kam erst später zum italienischen Erinnerungskalender hinzu – zum ersten Mal wurde er am 10. Februar 2005 begangen, also zwei Wochen nach dem Giorno della memoria. Im Mitte-Rechts-Lager des politischen Spektrums stieß dieser neu etabilerte Gedenktag auf breite Unterstützung; das in den Veranstaltungen zum Giorno del ricordo die Foibe-Massaker als die „wahre“ „italienische Tragödie“ des 20. Jahrhunderts dargestellt werden, wird dort sehr begrüßt. Angesichts der politischen Aufladung des öffentlichen Gedenkens in Triest kann ein nuanciertes und umfassendes Bild von der Stellung, die dieser Erinnerungsort in der italienischen Nachkriegsgesellschaft einnimmt, nur dann entstehen, wenn wir auch andere als nur diese offiziellen Narrative betrachten. Im sechsten Kapitel „Die Überwindung des Schweigens, Teil 3: Der Faschismus auf der Bühne und dem Bildschirm“ untersuche ich mehrere Fernsehproduktionen, insbesondere Perlasca – un eroe italiano (2001) und Il cuore nel pozzo (2005), bei denen jeweils Alberto Negrin Regie führte. Der erste Film wurde am Giorno della memoria ausgestrahlt, der zweite am Giorno del ricordo. Im Mittelpunkt der beiden überaus erfolgreichen Fernsehdramen (13 Millionen bzw. 16 Millionen Zuschauer) stehen jeweils „gute“, heroische Italiener, die darum kämpfen, die Leben Unschuldiger vor den gnadenlosen und barbarischen Truppen der nationalsozialistischen Besatzungsmacht und den jugoslawischen Partisanen an Italiens nordöstlicher Grenze zu retten. In dem Kapitel wird erörtert, wie ein in diesen Filmen propagiertes und konsolidiertes Narrativ des Heroismus, der Unschuld und des Opfertums der Italiener während des Zweiten Weltkriegs zur Rehabili-

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tierung des Faschismus in Italien beiträgt. Diesem dominanten revisionistischen Trend, für den Alberto Negrins Fernsehdramen beispielhaft sind, stellt sich das Dokumentartheater entgegen. Im zweiten Teil dieses sechsten Kapitels konzentriere ich mich daher auf zwei Theaterstücke, die sich mit der Erinnerung an die Risiera di San Sabba auseinandersetzen. Das erste ist das slowenische Theaterstück Rižarna von Filibert Benedetič und Miroslav Košuta, das 1975 am slowenischen Theater in Triest uraufgeführt wurde. Das zweite ist I me ciamava per nome: 44.787, ein Stück des Triestiner Dramatikers Renato Sarti, uraufgeführt 1995 in der Risiera. Meiner Lektüre der beiden Stücke stelle ich außerdem eine Erörterung ihrer Rezeption an die Seite und ich zeige, inwiefern sie ein Gegennarrativ zu den Opfernarrativen der Fernsehdramen präsentieren. Im siebten Kapitel „Die Überwindung des Schweigens, Teil 4: Sprache als Heimat“ geht es vor allem um Werke von Boris Pahor, Fulvio Tomizza und Carolus Cergoly, die jeweils die Rolle des stellvertretenden Zeugen übernehmen. Während Darstellungen der Zeit des italienischen Faschismus oft simplifizierend und homogenisierend sind, setzen sich diese Autoren für die Etablierung einer „authentischen“ Verbindung zur Vergangenheit ein und vor allem für die Erhaltung der Vielfalt von Erinnerungen verschiedenster Opfergruppen, die zum Schweigen gebracht wurden – insbesondere der Slowenen und der Kroaten. Wie die stellvertretenden Zeugen, auf die ich im dritten Kapitel eingehe, rücken diese Autoren den historiographischen Prozess, durch den diese Geschichten zutage befördert werden, in den Vordergrund und betonen Kontinuitäten zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Außerdem spielt Sprache eine wichtige Rolle bei der Wiederentdeckung dieser Minderheitenerinnerungen. Pahors Entscheidung, ausschließlich auf Slowenisch zu schreiben, ist ein politisches Statement, mit dem er sich dem dominierenden italienischen Paradigma entgegenstellt. Das gleiche gilt für Cergolys Dialektgedichte und in geringerem Maße auch für Tomizzas hybrides Italienisch. Das sechste und das siebte Kapitel lassen gemeinsam ein vielstimmiges Narrativ der italienischen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen entstehen. Hier wird sichtbar, inwiefern Triest und seine Erinnerungskultur als wichtiger Schauplatz für die Konstruktion der italienischen Nationalidentität gedient haben und immer noch dienen. In der Einleitung zur aktuellsten Ausgabe (2001) seines Theaterstücks I me ciamava per nome: 44.787, das 1995 in der Risiera di San Sabba uraufgeführt wurde, schreibt Renato Sarti, die Jugend von heute sei von ihrer eigenen Geschichte abgeschnitten wie ein Ast, der vom Baum abgetrennt wurde, und er erklärt, sein Theaterstück sei ein Versuch, sie wieder mit der Vergangenheit in Verbindung zu bringen.83 Das steht im Einklang mit Eric Hobsbawms Eindruck, dass die heutige Jugend „in einer Art permanenter Gegenwart auf[wächst], der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt“.84 Ähnlicher 83 | Renato Sarti: I me ciamava per nome: 44.787. Milano: Baldini & Castoldi 2001. 84 | Hobsbawm: Zeitalter der Extreme, S. 17.

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Ansicht sind viele der Autorinnen und Autoren, mit denen ich mich in diesem Buch beschäftige – darunter Boris Pahor, Helga Schubert, Theodor W. Adorno und Claudio Magris. Letztlich geht es auch in diesem Buch um mehr als um eine Betrachtung konkreter Gedenkstätten, Romane, Theaterstücke, Filme und Gedichte, in denen die Erinnerung an bestimmte Verbrechen zum Ausdruck kommt: dieses Buch ist zugleich ein Plädoyer dafür, ein tieferes Bewusstsein für die Komplexität der Vergangenheit zu entwickeln, um ihren Einfluss auf die Gegenwart besser zu verstehen.

1. Teil

Kapitel 1

Unheimliche Heimat: Grafeneck als Heterotopie

Lieber Brack! Wie ich höre, ist auf der Alb wegen der Anstalt Grafeneck eine große Erregung. Die Bevölkerung kennt das graue Auto der SS und glaubt zu wissen, was sich in dem dauernd rauchenden Krematorium abspielt. Was dort geschieht, ist ein Geheimnis und ist es doch nicht mehr. Somit ist dort die schlimmste Stimmung ausgebrochen, und es bleibt meines Erachtens nur übrig, an dieser Stelle die Verwendung der Anstalt einzustellen und allenfalls in einer klugen und vernünftigen Weise aufklärend zu wirken, indem man gerade in der dortigen Gegend Filme über Erbund Geisteskranke laufen läßt. Ich darf Sie um Mitteilung bitten, wie dieses schwierige Problem gelöst wird. H eil H itler ! H.H.1

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal von Schloss Grafeneck gehört habe und davon, was dort geschehen war. Es ist fast so, als ob es immer schon da gewesen wäre: ein wohlvertrauter Ort und ein fester Bestandteil meiner Heimat. Ich kann mich an Schulausflüge dorthin erinnern, und an Referate von Mitschülern über das Schloss und seine Geschichte. Ich erinnere mich an Schlosskonzerte, bei denen draußen auf der Terrasse Jazz oder klassische Musik gespielt wurde. Und ich erinnere mich an ein für die Pflegeheimbewohner ausgerichtetes Som1 | Heinrich Himmler, Brief an Viktor Brack, 19. Dezember 1940; zit. n. Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland. Tübingen: Silberburg 2002, S. 170.

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merfest. Diese fröhlichen Erinnerungen an das Grafeneck meiner Jugend sind aber auch begleitet von dem Wissen darum, was für ein Ort es einmal war und welche grauenvollen Dinge dort vor etwas über einem halben Jahrhundert geschahen. Auf dem Schlossgelände ist schon lange ein Wohn- und Pflegeheim für geistig kranke und behinderte Menschen untergebracht, aber mittlerweile dient Grafeneck zugleich als Gedenkstätte für die 1940 dort an genau dieser Bevölkerungsgruppe verübten Verbrechen, als Grafeneck von den Nationalsozialisten als Massentötungsanstalt verwendet wurde. Dieses direkte Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart habe ich immer schon als verwirrend erlebt, und viele Jahre später kehrte ich dorthin zurück, um herauszufinden, wie dieser Ort und seine Geschichte die Gegend geprägt haben, in der ich aufgewachsen bin und die ich immer noch in vielerlei Hinsicht als meine Heimat betrachte. Von Stuttgart aus ist das Barockschloss Grafeneck mit dem Auto in ungefähr einer Stunde zu erreichen, es liegt versteckt auf einem üppig bewaldeten Hügel im Herzen einer der malerischsten Gegenden Süddeutschlands, der Schwäbischen Alb (Abb. 1). Die Strecke, die ich nahm, war sehr schön. Es war Anfang Juni und das leuchtende Gelb der Rapsfelder wurde von bunten Wildblumen ergänzt, mit denen die Hügellandschaft übersät war. Es schien abwegig, dass dies dieselbe Strecke sein sollte, auf der vor über 75 Jahren Menschen in grauen Bussen aus ganz Süddeutschland in den Tod transportiert wurden. Wenn man heute das Gelände besichtigt, ist es fast unmöglich, einen Eindruck davon zu bekommen, wie es 1940 ausgesehen hat. Von den Bauten, die zu der Mordanstalt gehörten, ist außer dem Schloss selbst nichts erhalten geblieben. Stattdessen gibt es viele neue Gebäude, die zu der Pflege- und Wohneinrichtung gehören: kleine Häuser für diejenigen Bewohner, die in Wohngemeinschaften eigenständig leben können, ein Verwaltungsgebäude und eine Turnhalle; außerdem Scheunen und Ställe. Die Geschichte von Schloss Grafeneck reicht fast tausend Jahre zurück.1 Im Mittelalter stand an dieser Stelle eine Festung, die um 1560 durch ein Renaissance-­ Jagdschloss ersetzt wurde. Mehrere Jahrhunderte lang diente dieses Schloss als Sommerresidenz der Herzöge von Württemberg und im 18. Jahrhundert erweiterte Herzog Carl Eugen es zu einer luxuriösen barocken Sommerresidenz mit zahlreichen Anbauten wie zum Beispiel einer Kapelle und sogar einer Opernbühne. Im 19. Jahrhundert wurde das Schloss aufgegeben, Teile der Anlage wurden abgerissen und das Schloss als Forstamt genutzt. 1929 erwarb es die evangelische Samariterstiftung und gründete dort ein Heim für behinderte Menschen. 1939 nahmen die Nationalsozialisten das Schloss in Besitz, um dort das erste von sechs Zentren des Tötungsprogramms „Aktion T4“ zu etablieren, die im Namen 1 | Diese Zusammenfassung von Grafenecks Geschichte basiert auf Stöckle: Grafeneck 1940; ders.: „Grafeneck 1940: Die Verbrechen von Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ in Baden und Württemberg 1933–1945“, in: Peter Steinbach/Thomas Stöckle/ Sibylle Thelen/Reinhold Weber (Hrsg.): Entrechtet – verfolgt – vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten. Stuttgart: Kohlhammer 2016, S. 143–195.

Kapitel 1

Abbildung 1: Schloss Grafeneck

Foto: Susanne C. Knittel

der sogenannten „Rassenreinheit“ das Ziel hatte, Menschen mit angeblich erblich bedingten Krankheiten zu vernichten. Grafeneck war der erste Ort, der mit einer Gaskammer und einem Krematorium ausgestattet wurde, und somit der Ausgangspunkt der systematischen Zerstörung menschlichen Lebens, die letztlich im Holocaust gipfelte. In den elf Monaten, in denen Grafeneck als Tötungsanstalt verwendet wurde (18. Januar bis 13. Dezember 1940), wurden dort 10.654 Menschen vergast und eingeäschert. Nach der Schließung der Tötungsanstalt im Dezember 1940 wurde Grafeneck im Rahmen der sogenannten Kinderlandverschickung als Heim für Kinder aus von Bombenangriffen bedrohten Städten genutzt, und nach Kriegsende, weil es in der französischen Besatzungszone lag, als Ferienheim für Kinder aus Frankreich. 1947 wurde das Schloss an die Samariterstiftung zurückgegeben. Heute ist Grafeneck eine lebendige Gemeinschaft, die mit ihrer Umgebung eng verbunden ist: Ungefähr 90 Menschen mit Behinderungen und geistigen Erkrankungen leben dort und viele von ihnen haben einen Arbeitsplatz in einer der umliegenden Kleinstädte. Zugleich ist Grafeneck eine Gedenkstätte, die inzwischen mehr als 30.000 Besucher pro Jahr empfängt. Grafeneck ist ein Ort, an dem die Vergangenheit immer gegenwärtig ist. Während für das Pflegeheim naturgemäß das Wohlergehen der dort wohnenden Menschen oberstes Ziel ist, ist die Gedenkstätte eine ständige Erinnerung an die im Jahr 1940 dort verübten Verbrechen. Diese beiden Identitäten sind nicht von-

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einander zu trennen: Sie sind füreinander und damit auch für den Ort als Ganzes zugleich prägend und eine Herausforderung. Der Gesamteindruck ist nicht der eines Vexierbildes, auf dem man beim Betrachten entweder eine Vase oder zwei Gesichter im Profil wahrnimmt, aber niemals beides –, sondern eher der eines Palimpsests, bei dem Spuren des einen im anderen sichtbar bleiben. Und genau das macht Grafeneck zutiefst unheimlich: Die omnipräsenten Zeichen seiner Vergangenheit haben eine destabilisierende Wirkung darauf, wie wir die Gegenwart wahrnehmen und verstehen. Dadurch werden Besucher in Grafeneck mit einer unauflösbaren Ambiguität konfrontiert, die eine intensive psychische Reaktion auslösen kann. In den Begriffen „heimlich“ und „unheimlich“ ist das Wort „Heim“ verborgen, das Zuhause bedeutet und die Wurzel von „Heimat“ bildet, was wiederum auf bestimmte raum-zeitliche Verbindungen verweist, die zwischen einem Subjekt und seiner Umgebung bestehen. Die Heimat ist ein Ort, an dem man sich „daheim“ fühlt und der mit einem Gefühl der Zugehörigkeit und der Verwurzelung aufgeladen ist. Sie ist somit ein Referenzpunkt für unsere Identität und unser Selbstverständnis. Bestimmte Orte können unsere Vorstellung von Heimat als einem kohärenten und uns wohl vertrauten Orientierungspunkt in Frage stellen oder sie durchbrechen, was ein intensives Gefühl von Unheimlichkeit auslöst. An einem Ort des kollektiven Gedächtnisses wie Grafeneck übt das aus der Rückkehr verdrängter oder vergessener Vergangenheit resultierende Oszillieren zwischen Vertrautem und Fremdem eine besonders intensive emotionale Wirkung auf uns aus. Mehr noch: es nötigt uns, unsere Haltung zur Vergangenheit und zu unserer eigenen Umgebung genauer in den Blick zu nehmen und in Frage zu stellen. Dass ein Besuch in Grafeneck tendenziell besonders leicht als unheimlich empfunden werden kann, liegt daran, dass von den grauenvollen Dingen, die dort geschehen sind, keine materiellen Spuren mehr zu sehen sind. Im Unterschied zu zahlreichen anderen Holocaustgedenkstätten sind die Originalbauten der Vernichtungsanlage hier nicht erhalten geblieben – weder die Gaskammer, noch das Krematorium. Stattdessen wurde der Ort vollständig an die Bedürfnisse der derzeitigen Bewohner angepasst. Eine kleine Gedenktafel und ein Eckstein markieren die Stelle, an der die Gaskammer einmal stand. Wenn sich die Besucher die Gaskammer vor Augen führen wollen, müssen sie sie in ihrer Vorstellung rekonstruieren und dieses mentale Bild auf die gegenwärtige Struktur des Orts projizieren, was zu irritierenden Kontrasten und Überlappungen führen kann. Im Grunde ist Grafeneck also von zwei kaum miteinander in Einklang zu bringenden Tendenzen geprägt: Einerseits führte der bald nach Kriegsende erfolgte Beschluss, das Gelände wieder zur Unterbringung behinderter Menschen zu nutzen, zum Abriss der Vernichtungsanlage – vermutlich, um den Bewohnern die ständige Konfrontation mit der Vergangenheit zu ersparen. Als andererseits Ende der 1980er Jahre entschieden wurde, einen Teil des Orts als Gedenkstätte für die dort verübten nationalsozialistischen Gräueltaten zu verwenden, geschah das natürlich mit der Absicht, eben dieses Geschichtsbewusstsein, das zunehmend

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schwächer zu werden schien, wieder zu stärken. Das Hin und Her jener gegensätzlichen Impulse ist bei einem Besuch im heutigen Grafeneck unverkennbar. Aufgrund der Doppelfunktion des Ortes muss zwischen der Verpflichtung, die Vergangenheit in Erinnerung zu behalten, und der, das Wohlergehen der heutigen Bewohner zu fördern, eine Balance gefunden und immer wieder neu ausgehandelt werden. Der Verein Gedenkstätte Grafeneck 2 verwaltet die Gedenkstätte und das Dokumentationszentrum in enger Zusammenarbeit mit der Samariterstiftung, von der die Wohn- und Pflegeeinrichtung betrieben wird. Im Katalog der dokumentarischen Ausstellung wird betont, dass die Gedenkstätte verschiedene Funktionen hat: Zum einen soll sie Verwandten und Angehörigen der dort ermordeten Opfer Auskunft geben und das Schicksal der vielen anonymen Opfer erforschen und dokumentieren. Außerdem unterhält sie als Forschungs- und Bildungszentrum ein Archiv, eine Bibliothek und eine Dauerausstellung und bietet Führungen und Seminare zur historisch-politischen Bildung an.3 Aus der Perspektive der Samariterstiftung wiederum stellt sich Grafeneck als ein dem Leben zugewandter Ort dar: Als Begegnungsstätte, an der die Erinnerung an die Vergangenheit mit der Verantwortung für die Zukunft Hand in Hand geht, und die sich für die gesellschaftliche Integration behinderter Menschen einsetzt. Obwohl bereits zahlreiche Untersuchungen zu Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes existieren, befassen sich bisher nur sehr wenige Arbeiten mit Orten, an denen der NS-„Euthanasie“ gedacht wird.4 Eine genaue Erörterung je2 | Der Verein Gedenkstätte Grafeneck wurde offiziell 1994 in das Vereinsregister eingetragen und ging aus dem 1979 gegründeten Arbeitskreis Gedenkstätte Grafeneck hervor. Ursprünglich bestand der Arbeitskreis aus Mitarbeitern des Samariterstifts Grafeneck und Mitgliedern regionaler Kirchengemeinden. Mitglieder des Vereins sind heute Privatpersonen, Kirchengemeinden und Kommunen sowie Einrichtungen der Diakonie, Caritas, der staatlichen und privaten Behindertenhilfe, Zentren für Psychiatrie, vor allem aus Baden-Württemberg und Bayern. Vorstandsvorsitzender ist Münsingens Bürgermeister Mike Münzing. Der Verein finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen, freiwilligen Zuschüssen von Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie, und nicht zuletzt durch die Unterstützung der Samariterstiftung und der Gedenkstättenförderung des Landes Baden-Württemberg sowie des Bundes. (Auskunft von Franka Rößner am 23. August 2017).

3  |  Vgl.

Gedenkstätte

Grafeneck.

Dokumentationszentrum.

Ausstellungskatalog.

„Euthanasie“-­Verbrechen in Südwestdeutschland. Grafeneck 1940. Geschichte und Erinnerung. Gomadingen: Gedenkstätte Grafeneck 2007, S. 68.

4 | Unter den Ausnahmen sind vor allem die Einzeldarstellungen der „Euthanasie“-Gedenkstätten zu nennen. Hartheim: Brigitte Kepplinger/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hrsg.): Tötungsanstalt Hartheim. Oberösterrich in der Zeit des Nationalsozialismus. Linz: Oberösterreichisches Landesarchiv 2008; Sonnenstein: Thomas Schilter: Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41. Leipzig: Kiepenheuer 1999; Bernburg: Dietmar Schulze: „Euthanasie“ in Bernburg. Die Landes-Heil- und Pf legeanstalt/Anhaltische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozi-

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ner Fragen, die sich gerade in Grafeneck stellen, existiert bisher nicht.5 Vergangenheit und Gegenwart fließen dort auf eine unter Gedächtnisorten einmalige Weise ineinander und genau deshalb ist Grafeneck emblematisch für das Unheimliche in der Geschichte. Im Rahmen meiner Studie dieses Orts befasse ich mich auch mit den historischen Ursachen der Marginalisierung der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ innerhalb des Holocaustdiskurses und mit Versuchen, diese Marginalisierung zu überwinden. Beginnen werde ich mit einem kurzen Abriss zur Rolle Grafenecks im NS-„Euthanasie“-Programm, um dann näher auf seine Nachkriegsgeschichte und den langen Weg bis zur Einrichtung der Gedenkstätte einzugehen. Dem folgt eine Beschreibung der gegenwärtigen Nutzung als Wohn- und Pflegeheim für Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten einerseits und als Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ andererseits. Hier interessiert mich besonders, wie mit den aus dieser Doppelrolle resultierenden Widersprüchen umgegangen wird. Weiter werde ich darstellen, wie Grafeneck in aktuelle Debatten über das Holocaust-Gedenken eingebunden ist und in welchem Verhältnis es zu anderen Orten der Erinnerung spezifisch an die „Euthanasie“-Verbrechen steht. Dazu untersuche ich, wie Grafeneck innerhalb lokaler, regionaler und nationaler Gedenkzyklen und -netzwerke als Teil der allgemeineren Erinnerungslandschaft positioniert ist und beschreibe, inwiefern der Ort für unsere Vorstellung davon, wie Gedenken stattfinden kann und sollte, eine Herausforderung darstellt. Zum Schluss interpretiere ich Grafeneck als ein Beispiel einer Heterotopie. Foucaults Begriff der Heterotopie als eines zwischen Realität und Unwirklichkeit, oder zwischen Gegenwart und Verganalismus. Essen: Die blaue Eule 1999; Hadamar: Christina Vanja/Dirk Blasius (Bearb.): Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Kassel: Landeswohlfahrtsverband Hessen 1991 und Brandenburg: Astrid Ley/Annette Hinz-Wessels (Hrsg.): Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel. Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus. Berlin: Metropol 2012. Nennenswert ist außerdem Annette Hinz-Wessels Buch Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde (Berlin: Ch. Links 2015).

5 | Thomas Stöckle beschreibt die Entwicklung der Gedenkstätte Grafeneck in seiner Gesamtdarstellung der Geschichte Grafenecks (vgl. Stöckle, Grafeneck 1940, S. 176–184). Peter Reichel widmet der Erinnerung an die „Euthanasie“-Opfer eine Seite in seinem Buch Politik mit der Erinnerung und gibt eine kurze Beschreibung Grafenecks, geht aber nicht weiter auf die hier erörterten Fragen ein (vgl. Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 82–83). Bei der Soziologin Stefanie Endlich findet sich eine vergleichende Beschreibung der Bauten an einigen NS-„Euthanasie“-Gedenkstätten, darunter Grafeneck. Die Gedenkpraktiken im Allgemeinen untersucht sie allerdings nicht. Stefanie Endlich: „Denkmal in Bewegung. Menschen in Aktion“, in: Hoheisel/Knitz: Denkmal, S. 22–29; sowie dies.: „‚Graue Busse‘ in Ravensburg und unterwegs. Denkmal für die ‚Euthanasie‘-Opfer der ehemaligen Heilanstalt Ravensburg-Weißenau“, in: Gedenkstättenrundbrief 137 (2007), S. 14–18.

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genheit liegenden Grenzbereichs kann uns helfen zu begreifen, was diesen Ort so unheimlich macht. Meine Überlegungen in diesem Kapitel basieren auf dem Gedanken, dass das Unheimliche der primäre Modus des Erlebens von Grafeneck ist. Wichtig ist dabei, dass die unheimliche Dimension Grafenecks auf verschiedenen Ebenen angesiedelt ist und eine multidirektionale Dynamik hat. Zum einen ist die Wirkung, die der Ort auf Besucher ausübt, dem Eindruck geschuldet, dass hier die Vergangenheit auf die Gegenwart übergreift. Zum anderen stört die lebendige, bunte Gegenwart der Behinderteneinrichtung die gewöhnlich mit Gedenkstätten assoziierte ruhige und ernste Kontemplation der Vergangenheit. Besucher, die damit rechnen, die Aura eines historischen Orts „aufzusaugen“, sehen sich stattdessen mit den Realitäten eines geschäftigen Pflege- und Wohnheims konfrontiert, das keineswegs in der Vergangenheit erstarrt ist. In dieser Hinsicht geht also die Dynamik, die den Ort für die Besucher unheimlich macht, von der Gegenwart aus. Und obwohl bei meiner Untersuchung die Perspektive der Besucher im Mittelpunkt steht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Grafeneck außerdem sicher auch von den dort lebenden Menschen als unheimlich empfunden wird.

D ie G eschichte

von

G r afeneck

Wie in der Einleitung erwähnt, wurde bereits vor 1900 in medizinischen und anthropologischen Texten im Namen der „Rassenreinheit“ die Ausgrenzung oder sogar Vernichtung von Menschen diskutiert, die als „schwach“ oder „unproduktiv“ angesehen wurden.6 Mit dem Aufkommen der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese Debatten zunehmend konkreter geführt. Ein Beispiel hierfür ist eine 1920 von dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche veröffentlichte Abhandlung, in der die beiden Autoren sich für die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ aussprachen.7 Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, gab es bereits eine Vielzahl entsprechender Studien und Forschungsarbeiten; außerdem plädierten zahlreiche Institutionen dafür, Menschen, die an tödlichen oder unheilbaren Krankheiten litten, zu töten. Die Frage, wie man „unnütze Esser“ loswerden könne, rückte unter den Nationalsozialisten in den Mittelpunkt der Gesundheits-, Sozial- und „Rassen“-Politik. Die verschiedenen Stadien der von den Nationalsozialisten angestrebten „Heilung“ des „Volkskörpers“ und der „Säuberung“ des Landes durch die Vernichtung von „ent6 | Die Geschichte der „Euthanasie“ in der Medizin von der Antike bis zur Moderne wird kurz zusammengefasst in: Gerhard Baader: „Heilen und Vernichten. Die Mentalität der NS-Ärzte“, in: Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen. Berlin: Auf bau 2001.

7 | Karl Binding/Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form. Leipzig: Meiner 1920.

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artetem“ Leben sind in zahlreichen Forschungsarbeiten beschrieben worden: von der Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ von Kindern bis hin zum penibel verwalteten Massenmord in sechs Tötungszentren unter dem Codenamen „Aktion T4“.8 Juden und angeblich Kriminelle wurden automatisch deportiert. Bei allen anderen Patienten war die Arbeitsfähigkeit der entscheidende Faktor: wer keine körperliche Arbeit verrichten konnte, dessen Name wurde auf eine Deportationsliste gesetzt. Während der relativ kurzen „aktiven“ Phase des „Euthanasie“-Programms von Herbst 1939 bis Herbst 1941 wurden etwa 5.000 Kinder und mehr als 70.000 Erwachsene in den sechs Tötungszentren durch Vergasen ermordet. In der darauf folgenden „stillen“ oder „wilden“ Phase wurden weitere 200.000 Menschen in mehr als 100 Einrichtungen in Deutschland und Österreich durch tödliche Injektionen oder durch Verhungernlassen getötet. Die systematische Ermordung von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen wurde auch auf die besetzten Gebiete in Polen, Russland und Frankreich ausgeweitet.9 Insgesamt wurden zwischen 1939 und 1945 etwa 300.000 Menschen ermordet.10 Auch nach Kriegsende starben unzählige Patienten an chronischer Unterernährung, und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil das medizinische Personal in den Kliniken und Anstalten zum großen Teil dasselbe blieb. Die alliierte Besatzungsmacht schien sich für das Schicksal dieser Patienten ebenso wenig zu interes-

8 | Eine sehr hilfreiche Zusammenfassung der „Aktion T4“, ihrer Vorbereitung, Organisation und Durchführung findet sich bei Annette Hinz-Wessels: Tiergartenstraße 4, S. 60–104. Vgl. außerdem die Standardwerke von Thomas Foth: Caring and Killing. Nursing and Psychiatric Practice in Germany. 1931–1943. Göttingen: Universitätsverlag Osnabrück bei V&R Unipress 2013; Friedlander: The Origins of Nazi Genocide; Michael Burleigh: Death and Deliverance. „Euthanasia“ in Germany. 1900–1945. Cambridge: Cambridge University Press 1994; Götz Aly: „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt a.M.: Fischer 1995; ders. (Hrsg.): Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin: Hentrich 1989; Lifton: The Nazi Doctors; sowie Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt a.M.: Fischer 1985.

9 | Vgl. u. a. Hans-Walter Schmuhl: Die Patientenmorde. In: Ebbinghaus/Dörner: Vernichten und Heilen, S. 295–328, hier S. 297; Gerrit Hohendorf: „Krieg und Krankenmord 1939–1945“, in: PSYCH up2date 9 (2015), S. 49–64; Angelika Ebbinghaus/Gerd Preissler: „Die Ermordung psychisch kranker Menschen in der Sowjetunion. Dokumentation“, in: Götz Aly/Angelika Ebbinghaus/Matthias Hamman/ Friedemann Pfäff lin/Gerd Preissler (Hrsg.): Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren. Berlin: Rotbuch 1985, S. 75–107 und Friedrich Leidinger: „Das Schicksal der polnischen Psychiatrie unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg“, in: Psychiat Prax (2014), S. 69–75.

10 | Vgl. Margret Hamm (Hrsg.): Lebensunwert. Zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie“. Frankfurt a.M.: VAS Verlag für akademische Schriften 2005, S. 7.

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sieren. Schätzungen zufolge kamen noch nach Kriegsende weitere rund 20.000 Patienten in Wohn- und Pflegeeinrichtungen zu Tode.11 Bei der Umwidmung Grafenecks zum ersten „Euthanasie“-Tötungszentrum verließ man sich bei der „Aktion T4“ stark auf die Kooperation der Regierungen der Länder Baden, Württemberg und Bayern. Gemeinsam mit Herbert Linden vom Reichsministerium des Inneren wählte Eugen Stähle, der Ministerialdirektor der Abteilung Gesundheitswesen im württembergischen Innenministerium in Stuttgart, das abgelegene Schloss im Oktober 1939 als idealen Ort für ein solches Zentrum aus. Innerhalb weniger Wochen wurde Grafeneck beschlagnahmt, alle Patienten wurden in andere Heime in der Region verlegt. In den darauffolgenden Monaten wurde dann einige 100 Meter von dem für die Verwaltung und anderes Personal reservierten Schloss entfernt die Tötungsanlage gebaut. Sie bestand aus einer Baracke mit Dutzenden von Patientenbetten (die nie verwendet werden sollten), einer Garage für die Busse, dem Gebäude, in dem sich die als Duschraum getarnte Gaskammer befand, und einem Krematorium mit zwei Öfen. Die ganze Anlage war nicht nur durch den umliegenden Wald vor Blicken geschützt, sondern zudem durch einen hohen Lattenzaun, an dem SS-Männer mit Hunden patrouillierten. Zur Abschreckung von Unbefugten gab es außerdem Schilder mit der Aufschrift „Betreten wegen Seuchengefahr verboten“. Trotz dieser Versuche, den Massenmord geheim zu halten, blieb der Bevölkerung nicht verborgen, was in Grafeneck geschah. Familienangehörige von Opfern schickten Briefe, in denen sie weitere Auskünfte einforderten, Geistliche hielten Protestpredigen (allen voran Theophil Wurm, der evangelische Landesbischof von Württemberg) und es gab sogar Mitglieder der NSDAP, die das „Euthanasie“-Programm öffentlich kritisierten – etwa die nationalsozialistische Frauenschaftsführerin Else von Löwis.12 Bis vor nicht allzu langer Zeit ging man davon aus, dass diese Proteste direkt für die Schließung der sechs Tötungsanstalten im Jahr 1941 verantwortlich gewesen waren. In der aktuelleren Forschung hat sich aber gezeigt, dass das Ende jener zentralisierten Phase wahrscheinlich eher darauf zurückzuführen ist, dass man die anvisierte Quote an getöteten Patienten erreicht hatte.13

11 | Vgl. Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie. Freiburg: Lambertus 1998, S. 712–717; Schmuhl: Die Patientenmorde, S. 316.

12 | Zu den Protesten von Kirche und Öffentlichkeit vgl. Kurt Nowak: „Widerstand, Zustimmung, Hinnahme. Das Verhalten der Bevölkerung zur ‚Euthanasie‘“, in: Norbert Frei (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. München: Oldenbourg 1991, S. 235–251; sowie Annette Hinz-Wessels: „Die Haltung der Kirchen zur ‚Euthanasie‘ im NS-Staat“, in: Hamm: Lebensunwert, S. 168–182. Zur Haltung der Samariterstiftung im Hinblick auf Proteste und Widerstand vgl. Franka Rößner: „Im Dienste der Schwachen“. Die Samariterstiftung zwischen Zustimmung, Kompromiss und Protest 1930–1950. Nürtingen: Senner 2011.

13 | Vgl. Stöckle: Grafeneck 1940, S. 170–172.

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Die direkten Zusammenhänge zwischen der NS-„Euthanasie“ als einer systematischen Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ und der „Endlösung“ sind mittlerweile gut belegt. So wurde zum Beispiel nach 1941 ein großer Teil des Personals der „Euthanasie“-Tötungsanstalten in die Vernichtungslager im Osten versetzt, wo sie in der Verwaltung tätig waren oder medizinische Experimente beaufsichtigten.14 Horst Schumann etwa war Direktor von Grafeneck, bevor er Leiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein wurde, und kam schließlich 1941 zum Einsatz nach Auschwitz. 1942 wurde eine erhebliche Zahl von Mitgliedern der „Aktion T4“ nach Lublin geschickt, wo sie im Rahmen der „Aktion Reinhard“ SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik unterstellt waren. Besonders auffällig ist hier die Karriere des wahrscheinlich berüchtigtsten von ihnen, Christian Wirth: Er arbeitete zunächst als Polizist in Stuttgart, leitete dann sowohl den Verwaltungsbereich als auch die Vergasungen in Grafeneck und in Hartheim, und wurde später Kommandant von Belzec und Generalinspektor aller Lager der „Aktion Reinhard“.15 Nach dem Ende der „Aktion Reinhard“ im Jahr 1943 wurden Wirth, andere ehemalige Mitarbeiter der „Aktion T4“ und Globocnik von Lublin nach Triest versetzt, um dort Partisanen zu bekämpfen, die Deportation der Juden aus der Region zu koordinieren und in der Risiera di San Sabba, einer ehemaligen Reismühle am Rande der Stadt, ein Konzentrationslager und ein Tötungszentrum einzurichten.16 Die Zusammenhänge zwischen Grafeneck und dem Holocaust gehen weit über Gemeinsamkeiten der dort jeweils verwendeten Techniken und Praktiken hinaus. In Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben betont Giorgio Agamben die direkten Verbindungslinien zwischen dem „Euthanasie“-Programm und dem Holocaust. Man könne die „Rassengesetze“ von Nürnberg nicht von den Eugenik-Gesetzen trennen: Die Opfer der Konzentrationslager waren genau wie die der „Euthanasie“-Tötungsanstalten zu dem gemacht worden, was Agamben „nacktes Leben“ nennt, also zu Lebewesen, die keinen juristischen Status mehr hatten und daher der Ausübung souveräner Macht vollkommen ausgeliefert waren.17 Die Politisierung der Eugenik, in deren Zuge das Regime sich das souveräne Recht aneignete, zu entscheiden, ob ein bestimmter Mensch „lebenswertes“ Leben ist oder nicht, führte zusammen mit einer biologistischen Definition von „Rasse“ zu einer Politik der Ausgrenzung und der Vernichtung, unter der im Grunde jeder potenziell als „unerwünscht“ eingestuft werden konnte.18 14 | Vgl. Berger: Experten der Vernichtung. 15 | Vgl. Stöckle: Grafeneck 1940, S. 174; Schmuhl: Die Patientenmorde, S. 316–328. 16 | Im vierten Kapitel gehe ich näher auf die Lauf bahn dieser Täter ein und auch auf Zusammenhänge zwischen der Geschichte von Grafeneck und der von Triest.

17 | Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt a.M., Suhrkamp 2002.

18 | Hans-Walter Schmuhl weist darauf hin, dass das „rassenhygienische Paradigma [...] ‚Erbkrankheit‘ und ‚Erbgesundheit‘ als dynamische Begriffe [auffasste], was die Ausgrenzung

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Einerseits gelingt es Agamben, wichtige Zusammenhänge zwischen den Opfern der NS-„Euthanasie“ und denen des Holocaust herauszuarbeiten, andererseits schwingt in seinen Aussagen ein Zögern mit, beiden Opfergruppen denselben Status zuzusprechen. In seinem Kapitel über „lebensunwertes Leben“ situiert er das „Euthanasie“-Programm am Übergang der nationalsozialistischen Biopolitik zur „Thanatopolitik“.19 Agamben zufolge war das Programm von einem eugenischen wie auch von einem ökonomischen Standpunkt her überflüssig, da es sich angeblich hauptsächlich gegen „Kinder und Alte, die ohnehin nicht in der Lage gewesen waren, sich fortzupflanzen“ gerichtet habe.20 „Darüber hinaus“, so fährt er fort, „gibt es keinerlei Hinweise, daß das Programm an wirtschaftliche Erwägungen geknüpft war; im Gegenteil, es erforderte einen nicht unerheblichen organisatorischen Aufwand zu einem Zeitpunkt, da die staatliche Maschinerie voll vom kriegerischen Kraftakt beansprucht wurde“.21 Das „Euthanasie“-Programm sei mit anderen Worten aus institutioneller Perspektive einfach nicht zweckmäßig gewesen und im Hinblick auf Hitlers Beharren, es dennoch um jeden Preis umzusetzen, könne man darin einen direkten Vorläufer der sinnlosen Gewalt des Holocaust sehen. Dabei ignoriert Agamben aber, dass unter den Opfern der NS-„Euthanasie“ auch Juden, politische Dissidenten und Verbrecher waren – und dass es letztlich jeden treffen konnte, dessen Verhalten als abnormal eingestuft wurde oder der den Normen der Gesellschaft nicht entsprach. Er schreibt weiter: Es gibt keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die ‚humanitären‘ Erwägungen, die Hitler und Himmler dazu brachten, sofort nach der Machtergreifung ein Euthanasie-Programm auszuarbeiten, in gutem Glauben angestellt wurden, wie ja auch Binding und Hoche von ihrem Gesichtspunkt aus den Begriff des ‚lebensunwerten Lebens‘ bestimmt in gutem Glauben vortrugen. 22 immer breiterer Schichten der Bevölkerung aus dem Kreis der ‚Erbgesunden‘ nach sich zog. Es bot daher den Nationalsozialisten die Handhabe, die Verfolgungsmaßnahmen gegen ‚Erbkranke‘ nahezu beliebig auszuweiten.“ H.-W. Schmuhl: „Sterilisation, ‚Euthanasie‘, ‚Endlösung‘. Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft“, in: Frei: Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, S. 300–301. Roberto Esposito beschreibt dieselbe Dynamik, die laut ihm aller Biopolitik zugrunde liegt. Vgl. R. Esposito: Bíos. Biopolitics and Philosophy. Minneapolis: University of Minnesota Press 2008, S. 119–120.

19 | Agamben: Homo Sacer, S. 151. Zur Thanatopolitik und ihrer Beziehung zur Eugenik sowie zum NS-„Euthanasie“-Programm vgl. ebenfalls Esposito: Bíos, S. 110–145.

20 | Agamben: Homo Sacer, S. 150. Bei seiner Behauptung, das „Euthanasie“-Programm habe sich unter ökomischem Gesichtspunkt nicht gelohnt, irrt Agamben. Zum Beispiel war eine der Tarnorganisationen der „Aktion T4“, die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pf legeanstalten“, mit der Abrechnung der Pf legegelder betraut und „erwirtschaftete“ durch falsche Angaben der Sterbedaten Millionenbeträge (vgl. Hinz-Wessels: Tiergartenstraße 4, S. 65).

21 | Ebd. 22 | Ebd., S. 149.

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Dass Agamben einem von ihm selbst als unzweckmäßig und als reine „Ausübung souveräner Macht unter dem Deckmantel eines humanitären Problems“ charakterisierten Programm zugesteht, es sei „in gutem Glauben“23 geschehen, mutet seltsam an. Wie kann man angesichts der evidenten Zusammenhänge zwischen den beiden zu dem Schluss kommen, dass die „humanitären“ Erwägungen, die dem „Euthanasie“-Programm zugrunde lagen, ehrlicher gemeint waren als die Zielsetzung der „Rassenreinheit“, die im Holocaust resultierte? Wenn Agamben mit „in gutem Glauben“ meint, dass Hitler und Himmler wirklich davon überzeugt waren, im Interesse des Volks zu handeln, dann stellt sich die Frage, inwiefern sich dieses Motiv vom Holocaust unterscheidet. Zur Rechtfertigung wurden zwar in beiden Fällen pseudowissenschaftliche Argumente angeführt, aber die Überlegenheit eines dieser Argumente über die anderen zu behaupten, scheint mir zumindest fragwürdig. „Der Name Grafeneck [...] ist mit dieser tristen Sache verbunden geblieben“,24 schreibt Agamben. Mit „Sache“ bezeichnet er die Transformation des „Euthanasie“-Programms in „eine Operation der Massenvernichtung“, die er zurückführt auf die Umsetzung des Programms „unter Bedingungen – wie der Kriegswirtschaft und der Vervielfachung der Konzentrationslager für Juden und andere Unerwünschte –, die Irrtümer und Mißbräuche begünstigen konnten“.25 Er räumt zwar ein, dass diese Transformation „keineswegs nur von den Umständen“ abhängig gewesen sei,26 aber sein seltsames Beharren auf einer impliziten Legitimität des Programms, so verhalten es auch zum Ausdruck kommt, ist konsternierend und letztlich fehlgeleitet. Die Marginalisierung der Erinnerung an das „Euthanasie“-Programm im öffentlichen Gedenken und in der Forschung zu den NS-Verbrechen ist auf genau solche Überlegungen zurückzuführen. Besonders unverständlich erscheint sie angesichts dessen, dass manche der „Euthanasie“-Tötungsanstalten nach 1941 im Rahmen der „Aktion 14f13“ zur Ermordung von tausenden jüdischen Gefangenen und Kriegsgefangenen aus nahegelegenen Konzentrationslagern verwendet wurden – ein Umstand, der in der Forschung bisher wenig Beachtung gefunden hat.27

23 | Ebd., S. 151. 24 | Ebd., S. 149. 25 | Ebd. 26 | Vgl. ebd. 27 | Zu den wenigen umfassenden Untersuchungen zu diesem Thema gehört Stanislaw Klodzinski: „Die ‚Aktion 14f13‘. Der Transport von 575 Häftlingen von Auschwitz in das ‚Sanatorium Dresden‘“, in: Aly: Aktion T4, S. 136–146; sowie Walter Grode: Die „Sonderbehandlung 14f13“ in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Ein Beitrag zur Dynamik faschistischer Vernichtungspolitik. Frankfurt a.M.: Lang 1987. Kurz erwähnt wird es außerdem bei Schmuhl: Die Patientenmorde, S. 321–324; Friedlander: The Origins of Nazi Genocide, S. 142–150; sowie Burleigh: Death and Deliverance, S. 215–220.

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D ie M arginalisierung der E rinnerung an die NS-„E uthanasie “ Das lange Schweigen zur NS-„Euthanasie“ hatte juristische, wissenschaftliche und kulturelle Gründe. Erstens ist eine angemessene juristische Aufarbeitung fast vollständig gescheitert. Eigentlich sind die Bestrafung von Tätern sowie die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern integrale Komponenten des Wegs hin zur öffentlichen Akzeptanz und Bewältigung von NS-Verbrechen. In den „Euthanasie“-Prozessen fielen die Urteile aber ungleich milde aus und man gestattete es Ärzten ebenso wie dem Pflegepersonal, ihren Beruf weiter auszuüben – selbst verurteilte Täter durften weiterhin im medizinischen Bereich tätig sein.28 Das hat viel mit der (scheinbar von Agamben geteilten) weitverbreiteten Meinung zu tun, es sei sehr viel komplizierter, in diesem Zusammenhang von Schuld zu sprechen, weil die NS-„Euthanasie“ kein Genozid, sondern eine medizinische Maßnahme gewesen sei. Der Eindruck, dass das Vorgehen gegen behinderte Menschen während des Nationalsozialismus gerechtfertigt war (oder zumindest rechtfertigbar), ja, dass hier vielleicht sogar Barmherzigkeit am Werk gewesen sei, hat letztlich dazu beigetragen, dass die von den Nationalsozialisten selbst für ihre Verbrechen angeführten Rationalisierungen so lange Bestand hatten.29 Bei den Grafeneck-Prozessen in Tübingen 1948 und 1949 konnten die drei für den Massenmord verantwortlichen Ärzte nicht belangt werden, weil zwei von ihnen im Krieg getötet worden waren und der dritte, Horst Schumann, sich auf der Flucht befand. 1966 wurde Schumann schließlich gefunden – er war jahrelang im Sudan und in Ghana als Arzt tätig gewesen – und 1970 in Frankfurt verurteilt. 1972 wurde er aufgrund von kardiologischen Beschwerden und seiner schlechten allgemeinen Verfassung wieder aus dem Gefängnis entlassen und lebte dann

28 | Eine Übersicht über die Gerichtsverfahren findet sich bei Hinz-Wessels, Tiergartenstraße 4, S. 131–135. Vgl. außerdem Dick de Mildt: In the Name of the People. Perpetrators of Genocide in the Ref lection of Their Post-War Prosecution in West Germany. The „Euthanasia“ and „Aktion Reinhard“ Trial Cases. Den Haag: Nijhoff 1996; ders. (Hrsg.): Tatkomplex NS-Euthanasie. Die ost- und westdeutschen Strafurteile seit 1945. Amsterdam: Amsterdam University Press 2009; Jürgen Schreiber: „Ärzte vor Gericht. Zur Mentalitätsgeschichte der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ im Spiegel westdeutscher Strafverfolgung“, in: Stefanie Westermann/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hrsg.): NS-„Euthanasie“ und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven. Münster: lit 2011, S. 77–93; sowie Hanno Loewy/Bettina Winter (Hrsg.): NS-„Euthanasie“ vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung. Frankfurt a.M.: Campus 1996.

29 | Vgl. Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des nationalsozialistischen Behinderten- und Krankenmordes in Hadamar. Eine erinnerungssoziologische Studie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008, S. 32.

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bis zu seinem Tod noch fast ein Jahrzehnt in Westdeutschland.30 Beim zweiten Grafeneck-Prozess von 1949 konnten insgesamt nur acht Personen vor Gericht gestellt werden, die mit der Tötungsanstalt in Grafeneck zu tun gehabt hatten: Pflege- und Verwaltungspersonal sowie Polizisten. Die längste verhängte Gefängnisstrafe betrug fünf Jahre; in allen anderen Fällen wurden die Täter zu höchstens zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt oder ganz freigesprochen.31 Bereits in den 1960er Jahren waren alle Angeklagten der Grafeneck-Prozesse wieder auf freiem Fuß. Die meisten von ihnen zeigten keine Reue und rechtfertigten ihre Taten weiterhin.32 Das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit der Beteiligung der Ärzte an der NS-„Euthanasie“ stand einer angemessenen Entschädigung der Opfer im Weg. Hinzu kamen Kontinuitäten im medizinischen Denken nach 1945 und einer Auffassung von Behinderung als einem medizinischen Problem, das es zu „lösen“ gilt. Statt Entschädigungen für die Opfer geschah daher das genaue Gegenteil: Während die Täter freigesprochen wurden und weiterhin einen hohen sozialen Status genossen, wurde ihren Opfern jede Form juristischer oder gesellschaftlicher Anerkennung und auch jede finanzielle Wiedergutmachung vorenthalten. Zudem wurden Mediziner und Pflegekräfte, die selbst am „Euthanasie“-Programm beteiligt gewesen waren und die weiter ihren Beruf ausüben durften, bei Prozessen, in denen es um die Entschädigung ihrer ehemaligen Opfer ging, als Experten hinzugezogen.33 Die mehr als 350.000 zwangssterilisierten Menschen und etwa 300.000 Opfer der NS-„Euthanasie“ wurden aus dem Geltungsbereich des Entschädigungs30 | Vgl. Lifton: The Nazi Doctors, S. 283–284. 31 | Vgl. zu diesem Prozess Jörg Kinzig/Thomas Stöckle (Hrsg.): 60 Jahre Tübinger Grafeneck-Prozess. Betrachtungen aus historischer, juristischer, medizinischer und publizistischer Perspektive. Zwiefalten: Psychiatrie und Geschichte 2011; Henning Tümmers: „Justitia und die Krankenmorde. Der ‚Grafeneck-Prozess‘ in Tübingen“, in: Westermann/Kühl/Ohnhäuser: NS-„Euthanasie“ und Erinnerung, S. 95–119; sowie Dorothee Breucker: „Dr. Martha Fauser. Eine Ärztin im Nationalsozialismus“, in: Hermann Josef Pretsch (Hrsg.): „Euthanasie“. Krankenmorde in Südwestdeutschland. Die nationalsozialistische Aktion T4 in Württemberg 1940 bis 1945. Zwiefalten: Psychiatrie und Geschichte 1996, S. 115–127.

32 | Vgl. z.B. Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat; Mitscherlich/Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit; sowie Thomas Schilter: Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41. Leipzig: Kiepenheuer 1999.

33 | Vgl. C. Dorothee Roer: „Erinnern, Erzählen, Gehörtwerden. Zeugenschaft und ‚historische Wahrheit‘“, in: Hamm: Lebensunwert, S. 183–197, hier S. 192; Rolf Surmann: „Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und ‚Euthanasie‘-Geschädigte“, in: ebd., S. 198–211; sowie Margret Hamm: „Zwangssterilisierte und ‚Euthanasie‘-Geschädigte und ihre (Nicht-)Würdigung als Opfer und Verfolgte“, in: Andreas Nachama/Uwe Neumärker (Hrsg.): Gedenken und Datenschutz. Die öffentliche Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken. Berlin: Hentrich & Hentrich 2017, S. 83–91.

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gesetzes von 1953 ausgeschlossen mit der Begründung, dass es sich in ihrem Fall nicht um ethnische, religiöse oder politische Verfolgung gehandelt habe. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 wurde zwar 1974 außer Kraft gesetzt, und 2007 offiziell geächtet, aber juristisch aufgehoben wurde es nicht.34 Die Ächtung des Gesetzes hatte nicht zur Folge, dass die „Euthanasie“-Opfer entsprechend Anspruch auf Entschädigung erhielten, da ihre Verfolgung und Ermordung nach wie vor nicht als ethnisch oder politisch motiviert galt. Das änderte sich erst 2011, als der Deutsche Bundestag beschloss, den Opfern der NS-„Euthanasie“ den gleichen Status wie Geschädigten anderer nationalsozialistischer Verbrechen zuzuerkennen.35 Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) bekannte sich erst im Jahr 2010 zur Verantwortung für die im Rahmen der NS-Medizin begangenen Verbrechen.36 Im Mai 2012 folgte die Bundesärztekammer diesem Beispiel und baten offiziell um Verzeihung für ihre Rolle bei den in der NS-Zeit an Juden und vielen anderen Gruppen verübten Massenmorden, Zwangssterilisierungen und medizinischen Experimenten.37 Bis vor Kurzem stand eine gründliche Auseinandersetzung mit der Rolle des medizinischen und des psychiatrischen Berufsstands im Nationalsozialismus noch aus. In der deutschen Geschichtswissenschaft schien man sich lange Zeit unsicher gewesen zu sein, unter wessen „Verantwortung“ die Geschichtsschreibung zu den NS-Verbrechen an psychisch kranken und behinderten Menschen fällt. Bis in die 1970er Jahre fielen Medizinhistoriker auf etwas zurück, das Heiner Fangerau und Matthis Krischel als Politik des „systematischen Vergessens“ beschrieben: Man ließ die medizinische Rechtfertigung der Sterilisierung geistig kranker Menschen gelten, wodurch die verantwortlichen Psychiater und Neurologen letztlich von ihrer Schuld freigesprochen wurden. Oft wurde es Ärzten, die 34 | Vgl. Hamm, „Zwangssterilisierte und ‚Euthanasie‘-Geschädigte“, S. 87. 35 | Vgl. Andreas Frewer/Clemens Eickhoff (Hrsg.): „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik. Frankfurt a.M.: Campus 2000; Surmann: Was ist typisches NS-Unrecht?; Andreas Scheulen: „Zur Rechtslage und Rechtsentwicklung des Erbgesundheitsgesetzes 1934“, in: Hamm: Lebensunwert, S. 212–219; sowie Westermann/Kühl/Ohnhäuser: NS-„Euthanasie“ und Erinnerung. Informationen zu aktuellen Entwicklungen zu diesem Thema sind auf der Webseite der AG Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten zu finden: www.euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de (letzter Zugriff: 23. August 2017).

36 | Dies geschah auf einer Gedenkkonferenz des DGPPN. Vgl. Frank Schneider (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus. Erinnerung und Verantwortung. Berlin: Springer 2011, S. 3–37.

37 | Vgl. die sogenannte Nürnberger Erklärung des Deutschen Ärztetages 2012: http://www. bundesaerztekammer.de/aerztetag/aerztetage-ab -2006/115-deutscher-aerztetag-2012/beschlussprotokoll/top-i-gesundheits-sozial-und-aerztliche-berufspolitik/nuernberger-erklaerung/ (letzter Zugriff: 23. August 2017).

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selbst am „Euthanasie“-Programm beteiligt gewesen waren, überlassen, die Geschichte dieser Verbrechen zu dokumentieren, was zur Folge hatte, dass die Zustimmung und die Kooperationsbereitschaft unter Medizinern heruntergespielt und die Tötungen stattdessen als Ausnahmen dargestellt wurden, die von einigen wenigen Einzelverbrechern begangen worden waren.38 In den 1990er Jahren wurde diese exkulpierende Darstellung von einer ganzen Reihe lokalhistorischer Veröffentlichungen konterkariert: In Kliniken und Pflegeheimen, die in der einen oder anderen Weise an der NS-„Euthanasie“ beteiligt gewesen waren, begannen Ärzte, Heimleiter, Sozialarbeiter und auf Lokalgeschichte spezialisierte Medizinhistoriker damit, die Vergangenheit ihrer jeweiligen Institution selbst zu dokumentieren. Obwohl mittlerweile also eine signifikante Menge von orts- und zunehmend auch landesgeschichtlichen Forschungsarbeiten existiert, wird das Thema trotzdem nur sehr langsam in der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Gründe für die Marginalisierung dieser Erinnerung sind aber nicht nur in der Rechtsprechung und in der Forschung zu suchen, sondern auch in der Kultur. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Herrschaft der Nationalsozialisten änderte nur wenig an der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen in Deutschland. Ein Personalwechsel im medizinischen und im Verwaltungsbereich blieb größtenteils aus, Diagnosen aus der NS-Zeit wurden nicht hinterfragt und auch die Haltung der allgemeinen Öffentlichkeit zu Behinderungen blieb dieselbe. Der Hauptgrund, warum diese Opfer und die Erinnerung an sie in der Öffentlichkeit nicht stärker wahrgenommen werden ist aber, dass nach wie vor keine effektive gemeinsame Interessenvertretung existiert. Wie der Kulturhistoriker Wulf Kansteiner erklärt, können marginalisierte Gruppen nur dann Teil des nationalen Gedächtnisses werden, „wenn sie über die notwendigen Mittel verfügen, ihre Interessen zur Sprache zu bringen, und diese Interessen in der Gesellschaft und der Politik auf mit ihr kompatible Zielsetzungen und Tendenzen treffen“.39 Im Fall der Opfer der „Aktion T4“ ist dies in mehrfacher Hinsicht schwierig. Erstens: Während bei bestimmten Opfern nationalsozialistischer Verfolgung von einer „Gruppenidentität“ gesprochen werden kann, z.B. bei Homosexuellen oder bei den Sinti und Roma, ist der Versuch, die vielfältigen von der NS-„Euthanasie“ betroffenen Menschen als homogene Gruppe zu beschreiben, höchst problematisch. Zweitens gibt es kaum Überlebende des „Euthanasie“-Programms.40 Pati38 | Vgl. Heiner Fangerau/Matthis Krischel: „Der Wert des Lebens und das Schweigen der Opfer. Zum Umgang mit den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung in der Medizinhistoriographie“, in: Westermann/Kühl/Ohnhäuser: NS-„Euthanasie“ und Erinnerung, S. 19–28, hier S. 22.

39 | Wulf Kansteiner: In Pursuit of German Memory. History, Television, and Politics after Auschwitz. Athens: Ohio University Press 2006, S. 18.

40 | Mit „Überlebenden“ meine ich hier Personen, die zwar in eine „Euthanasie“-Tötungsanstalt deportiert wurden, dort aber bei der Untersuchung „zurückgestellt“ wurden, d.h. wieder

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enten, die zwangssterilisiert wurden oder der Deportation entgingen, wurden als potenzielle Zeugen disqualifiziert und erst gar nicht gehört oder gefragt, weil sie als geisteskrank oder als behindert galten bzw. als Außenseiter abgestempelt waren.41 Ein dritter und entscheidender Punkt ist, dass Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten nicht als Träger von Erinnerungen galten – und das ist in hohem Maße bis heute der Fall.42 Zudem sind mit dem Thema NS-„Euthanasie“ unvermeidlich bestimmte Stereotypen und Tabus verknüpft, die Familienangehörige der Opfer davon abgehalten haben, für ihre Anerkennung zu kämpfen. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema innerhalb von Familien ist überschattet von Schuldgefühlen, Scham und Verunsicherung: Die Angehörigen fühlen sich schuldig, weil sie die Opfer nicht retten konnten und weil so lange geschwiegen wurde; manchen bereitet auch der Gedanke, es gäbe Erbkrankheit oder Geisteskrankheit in der eigenen Familie, Unbehagen oder Angst vor Stigmatisierung. Sich die Wahrheit über die Krankheit des betreffenden Opfers eingestehen zu müssen, wird als verunsichernd erlebt, weil damit auch die Frage verbunden ist, ob es sich vielleicht tatsächlich um eine Erbkrankheit gehandelt hat, die somit – bei einem selbst oder bei einem anderen Angehörigen – wieder auftreten könnte. Damit ist wiederum die Frage verbunden, welche Rolle psychische Erkrankungen in der eigenen Lebensgeschichte spielen könnten. Der prekäre Status, den psychisch kranke Menschen in unserer Gesellschaft haben, ist zudem auch ein Grund dafür, warum viele nach wie vor dafür plädieren, die Namen von „Euthanasie“-Opfern geheim in ihre (oder eine andere) Anstalt oder Klinik zurückgeschickt wurden. Diese Rückstellungen waren extrem selten. Vgl. Klee: Euthanasie im NS-Staat, S. 140–146; Ley/Hinz-Wessels: Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel, S. 111–113; sowie Bodo Rüdenburg: „Die ‚Rückkehrer‘ aus Grafeneck in der Heil- und Pf legeanstalt Zwiefalten“, in: Thomas Müller/Bernd Reichelt/Uta Kanis-Seyfried (Hrsg.): Nach dem Tollhaus. Zur Geschichte der ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten. Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft in historischer Perspektive. Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte 2012, S. 150–153.

41 | Vgl. Ute Hoffmann: „Aspekte der gesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-‚Euthanasie‘“, in: Westermann/Kühl/Ohnhäuser: NS-„Euthanasie“ und Erinnerung. S.67–75, hier S. 69.

42 | Erst im letzten Jahrzehnt sind mehrere Sammlungen mit Erfahrungsberichten von Menschen, die Zeuge des „Euthanasie“-Programms geworden sind oder Opfer von Zwangssterilisierung waren, erschienen, unter ihnen Götz Aly: Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt a.M.: Fischer 2013; Petra Fuchs/Maike Rotzoll/Ulrich Müller/Paul Richter/Gerrit Hohendorf (Hrsg.): „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“. Göttingen: Wallstein 2007; Hamm: Lebensunwert; sowie Klara Nowak: „Verweigerte Anerkennung als NS-Verfolgte. Zwangssterilisierte und ‚Euthanasie‘-Geschädigte“, in: Stephan Kolb/Horst Seithe/International Physicians for the Prevention of Nuclear War (Hrsg.): Medizin und Gewissen. 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess. Kongressdokumentation. Frankfurt a.M.: Mabuse 1998, S. 163–168.

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zu halten. Die Veröffentlichung der Namen bedeute eine Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht, so wird unter anderem argumentiert, und könne dazu führen, dass den Angehörigen aufgrund ihrer medizinischen Familiengeschichte Nachteile entstünden.43

43 | Im Oktober 2013 veröffentlichte die bekannte „Euthanasie“-Gedenkaktivistin Sigrid Falkenstein auf der Webseite www.gedenkort-t4.eu ein leidenschaftliches Plädoyer, in dem sie hervorhob, wie wichtig es sei, diese Namen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und wie heuchlerisch es sei, das nicht zu tun. Sie schrieb: „Unbegreif lich – im Jahr 2013 wird mit Bezug auf die Datenschutzrichtlinien unter anderem argumentiert, dass man auf die heute lebenden Verwandten Rücksicht nehmen sollte. Rücksicht worauf? Auf eine mögliche psychische – gar erbliche – Erkrankung in der Familie? Eine solche Argumentation knüpft direkt an das eugenische Denken an, das zur Vernichtung der sogenannten Erbkranken führte“ (Sigrid Falkenstein: Ein Plädoyer für die Freigabe der Namen von Opfern der NS-„Euthanasie“ http:// blog.gedenkort-t4.eu/2013/11/07/sigrid-falkenstein-ein-plaedoyer-fuer-die-freigabe-der-namen-von-opfern-der-ns-euthanasie/ (Letzter Zugriff: 23. August 2017). Im gleichen Jahr veröffentlichte Götz Aly seine Sozialgeschichte des „Euthanasie“-Programms, in der er ebenfalls die Praxis der Geheimhaltung der Namen von „Euthanasie“-Opfern scharf kritisierte: Aly: Die Belasteten, S. 9–20. Seither ist die Debatte um die Namensnennung weiter fortgeschritten, es gab z. B. im Juni 2016 eine Konferenz zum Thema Gedenken und Datenschutz, bei der Juristen, Historiker, Datenschutzexperten, Psychiater, und Vertreter von Verfolgtenorganisationen und Gedenkstätten das Thema diskutierten. Die Beiträge sind inzwischen veröffentlicht worden: Andreas Nachama/Uwe Neumärker (Hrsg.): Gedenken und Datenschutz. Die öffentliche Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken. Berlin: Hentrich & Hentrich 2017. Es scheint mittlerweile einen breiteren Konsens hinsichtlich des Umgangs mit den Namen der Opfer der NS-„Euthanasie“ zu geben: „Die Nennung der Namen, sowie ihrer Lebensdaten sowie der letzten Anstalt vor der Deportation sind (archiv-)rechtlich unbedenklich. Eine generelle Veröffentlichung von Krankenakten bleibt hingegen ausgeschlossen.“ (Andreas Nachama/Uwe Neumärker: „Vorwort“, in: dies.: Gedenken und Datenschutz, S.13–18, hier, S. 16). Überzeugende Gegenargumente wurden jedoch von Margret Hamm im Namen des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten vorgebracht. Aus ihrer Sicht „führt die Fokussierung auf die Namen dazu, die Opfer zu individualisieren: die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse sind dann nur noch im Hintergrund oder am Rande wahrnehmbar. Die Opfer werden durch diese Individualisierung der Gesellschaft quasi – ich benutze den Begriff bewusst so allgemein – gegenübergestellt. Sie selbst, die Opfer, und nicht die Ursachen und Folgen des rassistischen GzVeN [Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses], stehen im Vordergrund dieser Betrachtungsweise. Demgegenüber wäre es aus meiner Sicht wichtiger, die Kontinuitäten vor dem Nationalsozialismus, während des Nationalsozialismus sowie nach der NS-Zeit herauszuarbeiten und zu bewerten“ (Hamm, „Zwangssterilisierte und Euthanasie-Geschädigte“, S. 86). Außerdem, so Hamm, hätten sich viele der noch lebenden Opfer ausdrücklich gegen eine öffentliche Namensnennung (außer an Gedenkstätten) ausgesprochen (ebd., S.91).

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Der 1987 gegründete Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (seit 2010 Arbeitsgemeinschaft BEZ), der Geschädigte und ihre Angehörigen in juristischen und Verwaltungsfragen unterstützt, ist das einzige bundesweite spezifisch mit der Vertretung der Interessen dieser Gruppe befasste Netzwerk bzw. die einzige entsprechende Organisation. Der BEZ war aktiv an der Einführung neuer Gesetzesregelungen beteiligt, in denen den Opfern Entschädigungen zugesprochen wurden, aber sein Einfluss auf die Erinnerung an diese Verbrechen ist schwieriger zu bewerten. Dieses Gedenken ist bisher zum großen Teil von lokalen oder regionalen Initiativen kleinerer Gruppen und von Einzelpersonen bestritten worden. Die unbewältigte Geschichte der NS-„Euthanasie“ überschattet in Deutschland zudem Debatten über Sterbehilfe und „Gnadentod“, über Eugenik und über psychische Erkrankungen. Während in vielen Ländern im medizinischen Kontext für assistierten Suizid eine Variation des Begriffs „Euthanasie“ gebräuchlich ist, wird es im Deutschen aufgrund seiner historischen Konnotationen ausschließlich für die NS-Verbrechen verwendet, und steht immer in Anführungszeichen. In Debatten über den assistierten Suizid wird stattdessen von aktiver bzw. passiver Sterbehilfe gesprochen.44 Die Diskussionen um die Legalisierung der Sterbehilfe bewegen sich also zwischen dem Schreckgespenst der NS-„Euthanasie“ einerseits und aktuellen medizinethischen Erwägungen andererseits. Gegner betonen, dass es gefährlich wäre, den historischen Präzedenzfall zu ignorieren und eine in ihren Augen nicht von nationalsozialistischem Gedankengut zu lösende Debatte wieder aufzunehmen. Im Gegenzug werfen ihnen Befürworter vor, diese Erinnerung zu instrumentalisieren, um einen rationalen Meinungsaustausch zu verhindern. Aktuell deutet nichts darauf hin, dass eine Lösung dieses Grundkonflikts in Aussicht steht. Solange die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ in Deutschland und Österreich unbewältigt bleibt, ist damit zu rechnen, dass Debatten über aktive und passive Sterbehilfe in diesen Ländern in Tabus und beiderseitiger Verbitterung erstarrt bleiben.45 Für eine Lösung dieses Konflikts müsste man das „Euthanasie“-Programm auch im Kontext der Sterbehilfe-Debatten vor Beginn der NS-Zeit betrachten, um so die Frage des Rechts auf den eigenen Tod von der massenmörderischen Politik der Nationalsozialisten zu entkoppeln und in einen breiteren historischen Kontext einzuordnen. Umgekehrt könnte man auch sagen, dass die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ von der Gegenwart überschattet wird – genauer gesagt davon, dass Men44 | Vgl. Frewer/Eickhoff: „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte; Freddy Zülicke: Sterbehilfe in der Diskussion. Eine vergleichende Analyse der Debatten in den USA und Deutschland. Münster: lit 2005.

45 | Vgl. Gerrit Hohendorf: „Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument – Was lässt sich aus der Geschichte der NS-Euthanasie für die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe lernen?“, in: Westermann/Kühl/Ohnhäuser, NS-„Euthanasie“ und Erinnerung, S. 211–229, hier S. 213.

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schen mit Behinderungen (und besonders mit psychischen Krankheiten) bis heute mit allgegenwärtigen Vorurteilen und Stigmatisierung zu kämpfen haben. Die Tendenz, den Wert eines Menschenlebens allein auf Basis seiner „sozioökonomischen Nützlichkeit“ einzustufen und psychische Krankheiten als Normabweichungen oder sogar als solche Normen gefährdend zu sehen, sind nicht erst von den Nationalsozialisten erfunden worden und blieb nach Kriegsende – zumeist stillschweigend – erhalten. Die weit verbreitete und sich hartnäckig haltende Überzeugung, dass diese Menschen nur der „Heilung“ statt unseres Entgegenkommens bedürften ist eine stillschweigende Zustimmung zu der eugenischen Annahme, dass ein Leben mit Behinderung „lebensunwert“ sei. All dies hat teilweise zu dem verqueren Ergebnis geführt, dass den Tätern der NS-„Euthanasie“ ein höheres Maß an Verständnis und Sympathie entgegengebracht wurde als den Opfern.46 Die Geschichte der NS-„Euthanasie“ und die Erinnerungen daran regen dazu an, über die Stellung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in unserer heutigen Gesellschaft nachzudenken. Umso bemerkenswerter ist es, dass nur wenige Wissenschaftler im wachsenden Feld der Disability Studies dieses Thema bisher überhaupt angesprochen haben.47 Dieses Desinteresse hat zwei Gründe. Als Forschungsdisziplin sind die Disability Studies aus der internationalen Behindertenbewegung hervorgegangen, die vor allem mit aktuellen Problemstellungen und mit gesetzlichen Regelungen befasst ist. Wie Bradley Lewis sowie Peter Beresford und Anne Wilson hervorgehoben haben, grenzt diese Bewegung sich außerdem teils implizit, teils explizit von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung ab (im Englischen wird die Bezeichnung „psychiatric system survivors“ verwendet, also Überlebende des psychiatrischen Systems). Damit war bereits in den Ursprüngen der Disability Studies ein Schwerpunkt auf die Beschäftigung mit körperlichen Behinderungen gelegt.48 Beresford schreibt, dass 46 | Vgl. Hoffmann: Aspekte der gesellschaftlichen Aufarbeitung, S. 71. 47 | Neben Sharon Snyders und David T. Mitchells Auseinandersetzung mit dem Thema in Cultural Locations of Disability (Chicago: University of Chicago Press 2006) sowie Ruth Hubbards Arbeit zu Abtreibung und Behinderungen geht auch Lennard J. Davis auf die Eugenik-Bewegung und die nationalsozialistische Gesetzgebung ein in Enforcing Normalcy. Disability, Deafness, and the Body (New York: Verso 1995). Noch aktueller ist Carol Poores bahnbrechender Überblick von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart in Disability in Twentieth-Century German Culture (Ann Arbor: University of Michigan Press 2007). Sie gibt einen Überblick über die Geschichte der Eugenik und des NS-„Euthanasie“-Programms und erörtert einige literarische Darstellungen aus der Nachkriegszeit, besonders Franz Xaver Kroetz’ Roman Der Mondscheinknecht (1981). Obwohl Carol Poore eingangs erklärt, dass sie die breitestmögliche Definition von Behinderung verwenden wird, konzentriert sie sich fast ausschließlich auf körperliche Beeinträchtigungen und Behinderungen.

48 | Vgl. Anne Wilson/Peter Beresford: „Madness, Distress and Postmodernity. Putting the Record Straight“, in: Mairian Corker/Tom Shakespeare (Hrsg.): Disability/Postmodernity.

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„im Diskurs der Behindertenbewegung keinerlei Einigkeit darüber zu bestehen scheint, ob Geisteskrankheit, seelische Verstörtheit und Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung mit eingebunden werden sollten“.49 Vertreter der Behindertenbewegung unterscheiden sich von denen der Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung nicht nur im Hinblick darauf, wie sich ihre Bewegung entwickelt hat, wie ihre Netzwerke und ihre Organisationen beschaffen sind sowie in ihren kulturellen Besonderheiten und ihrer Zielsetzung; dazu kommt „auf beiden Seiten die Angst, mit den negativen Aspekten in Verbindung gebracht zu werden, die oft der jeweils anderen Seite angelastet werden“.50 Von der Behindertenbewegung werden Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung häufig nicht als behindert eingestuft; zum einen, weil die entsprechenden Beeinträchtigungen oft weder sichtbar noch permanent sind, und zum anderen, weil sie nicht unbedingt mit anti-Psychiatrie-Aktivismus assoziiert oder ‚befleckt‘ werden wollen.51 Und Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung wiederum tendieren dazu, das, was sie von andern unterscheidet, ebenfalls nicht als Behinderung einzustufen, sondern als eine Form der Befähigung, die etwas Besonderes oder sogar von Vorteil ist. Es gibt also auf beiden Seiten erhebliche Widerstände dagegen, mit der jeweils anderen Seite in Zusammenhang gebracht zu werden, auch wenn es wichtige Prinzipien gibt, die beiden Bewegungen gemeinsam sind: Ihr primäres Ziel ist es, Diskriminierung und Unterdrückung zu bekämpfen und Stereotypen aufzubrechen, und von beiden Bewegungen wird die in modernen Gesellschaften weit verbreitete Tendenz zur Pathologisierung und Medikalisierung von Behinderungen und psychischen Krankheiten sowie der unkritischen Privilegierung von Normalität infrage gestellt. Es ist vollkommen nachvollziehbar, dass Vertreter dieser beiden sehr heterogenen Bewegungen und Gruppen großen Wert darauf legen, diese Vielfalt und ihre jeweils charakteristischen Eigenschaften zu betonen. Das kann aber zur Folge haben, dass die erheblichen Überschneidungen und die Tatsache, dass sie von der Politik, der Rechtssprechung und in Verwaltungsfragen aufgrund eines medizinisch definierten Modells von Behinderung ohnehin oft zusammengeworfen werden, aus dem Blick geraten.52 Embodying Disability Theory. New York: Continuum 2002, S. 143–158. Siehe auch Bradley Lewis: „A Mad Fight: Psychiatry and Disability Activism“, in: Davis: Disability Studies Reader, S. 339–352.

49 | Peter Beresford: „What Have Madness and Psychiatric System Survivors Got to Do with Disability and Disability Studies?“, in: Disability & Society 15.1 (2000), S. 167–172, hier S. 168. Ähnliches gilt für Menschen mit Lernschwierigkeiten (vgl. Kirsten Stalker: „Theorizing the Position of People with Learning Difficulties within Disability Studies. Progress and Pitfalls.“, in: Nick Watson/Alan Roulstone/Carol Thomas (Hrsg.), The Routledge Handbook of Disability Studies. Abingdon: Routledge 2012, S. 122–135).

50 | Beresford: What Have Madness, S. 169. 51 | Vgl. Lewis: A Mad Fight, S. 340. 52 | Vgl. Beresford: What Have Madness, S. 169.

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Dass die Disability Studies sich bis heute weder konsequent mit dem Eugenik-Diskurs noch mit der Geschichte und der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ auseinandergesetzt haben, hängt zudem mit einer nicht in ausreichendem Maße theoretisch reflektierten Trennlinie zwischen körperlichen Behinderungen und der gewöhnlich getrennt behandelten Kategorie „Geisteskrankheit“ zusammen, die beharrlich beibehalten wird. Diese enge Fokussierung hat zur Folge, dass ein Großteil der von den Nationalsozialisten als erbbedingt eingestuften Formen von Behinderung und Krankheit in den Disability Studies nicht untersucht wird. Die Probleme, die damit verbunden sind, einer so heterogenen Gruppe wie den NS-„Euthanasie“-Geschädigten eine gemeinsame Identität zuzuschreiben, tragen also dazu bei, dass diese Erinnerung in der Forschung marginalisiert bleibt. Wie in den Disability Studies gern betont wird, kann man die Welt nicht einfach in einerseits ‚normale‘ und andererseits behinderte Menschen unterteilen. Statt kategorischer, binärer Gegensätze wird von einem breiten Spektrum ausgegangen und darauf verwiesen, dass es in unser aller Leben Phasen des körperlichen oder psychischen Leidens mit entsprechenden Beeinträchtigungen gibt. Angesichts dieser Bereitwilligkeit, sich kritisch mit dem kontingenten und sozial konstruierten Begriff der ‚Normalität‘ auseinanderzusetzen, scheint es umso problematischer, dass das Forschungsfeld der Disability Studies sich durch eine so unreflektierte Unterscheidung wie der zwischen geistigen und körperlichen Differenzkonfigurationen explizit oder implizit einschränkt. Besonders, wenn das zur Folge hat, dass bestimmte Menschen in Diskursen marginalisiert werden, die überhaupt nur entstanden sind, um die Marginalisierung genau dieser Menschen zu verhindern und in Frage zu stellen.

E rinnerungsarbeit

in

G r afeneck

Weil also das Thema NS-„Euthanasie“ und Erinnerung zwischen verschiedenen Forschungsfeldern angesiedelt ist, blieb die Aufgabe, die Opfer gedenkend und mahnend im Gedächtnis zu behalten, bis vor Kurzem vollkommen den jeweiligen Gedenkstätten überlassen. Zugleich hatte die Marginalisierung zur Folge, dass diese Gedenkstätten um finanzielle Unterstützung und ihre Position im öffentlichen Raum kämpfen mussten. In Grafeneck war die Erinnerungsarbeit mit besonderen Komplikationen verbunden, weil der Standort mit der bereits dort befindlichen Wohn- und Pflegeeinrichtung geteilt werden musste. Die Gedenkstätte und ihr Dokumentationszentrum liegen inmitten der Gebäude der Pflegeeinrichtung und der Wohnhäuser der Bewohner. Begegnungen zwischen ihnen und den Besuchern sind daher vorprogrammiert und tatsächlich gehen die Bewohner auf die Besucher zu, beginnen Gespräche mit ihnen oder nehmen an den Führungen teil. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen den Orten der Vergangenheit und denen der Gegenwart. Besucher müssen nicht nur verarbeiten, was sie über die Gräueltaten der Vergangenheit lernen, sondern sich zugleich eventuellen ei-

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genen Unsicherheiten angesichts von Behinderungen stellen: sie müssen damit zurechtkommen, sich der Fragilität ihrer eigenen Gesundheit und ihres Wohlbefindens bewusst zu werden und mit der Tatsache, dass sie de facto in das Zuhause und das Privatleben der Bewohner eindringen. Dieser Umstand ist ein wichtiger Unterschied zwischen Grafeneck und anderen Holocaustgedenkstätten wie etwa in Auschwitz oder Dachau. Grafeneck ist zwar wie diese anderen Orte auch ein authentischer Erinnerungsort, erzeugt aber nicht mithilfe erhalten gebliebener Bauwerke wie etwa einer Gaskammer oder eines Krematoriums eine Aura nicht-rekonstruierter historischer Wirklichkeit – das wäre auch gar nicht möglich. Von dem Besuch eines authentischen traumatischen Orts verspricht man sich gewöhnlich, die historische Signifikanz dessen, was dort geschah, sozusagen in den räumlichen Gegebenheiten widerhallend verstärkt zu erleben. Die Besucher erhoffen sich davon eine unmittelbare Geschichtserfahrung, die weit über die bloßen historischen Fakten hinausgeht, die eine dokumentarische Ausstellung bieten kann. Aleida Assmann beschreibt diese Erwartung in Anlehnung an den Kulturwissenschaftler Aby Warburg als Suche nach einer ortsimmanenten Gedächtniskraft oder sogar als Glauben an das, was sie „antäische Magie“ nennt: eine Art magische Kraft, die sich im direkten Kontakt mit bestimmten Orten entfaltet und in deren Authentizität gründet, benannt nach dem mythischen Riesen Antäus, dessen ungeheure Stärke vom direkten Kontakt mit dem Erdboden abhängig war. Die Erwartung der Besucher, dort Geschichte in sinnlicher Anschauung zu erleben, vergleicht Assmann mit „einer uralten inneren Bereitschaft von Wallfahrern“, sich in einer persönlichen Beziehung auf ein vergangenes Ereignis einzulassen.53 Diese Sehnsucht, sich Geschichte und insbesondere gewaltsame oder traumatische historische Ereignisse in direkter Anschauung anzueignen, ist die treibende Kraft hinter dem stetig wachsenden Geschäft des „Schwarzen Tourismus“ oder „Thanatourismus“. Die heute für den Erinnerungstourismus typische voyeuristische Fixierung auf authentische Orte, ja ihre Fetischisierung wird in Grafeneck zum einen dadurch blockiert, dass es dort keine authentischen Reste der Tötungsanstalt mehr gibt, zum anderen und hauptsächlich aber dadurch, dass es unmöglich ist, die aktuelle Funktion des Geländes zu ignorieren. In der Gedenkstätte Grafeneck werden Führungen angeboten, aber Besucher können den Ort auch selbst erkunden, ohne dabei einer vorgegebenen Route zu folgen. Obwohl sie bei der Führung und im Dokumentationszentrum etwas über die Vergangenheit lernen, sind sie immer fest in der Gegenwart verankert: Das Erleben der Gedenkstätte bleibt stets von der direkten Konfrontation mit dem Alltag der Pflege- und Wohneinrichtung geprägt. In Hartheim und anderen „Euthanasie“-Gedenkstätten stehen den Besuchern zwar die erhaltenen baulichen Überreste der Tötungsanstalten zur Verfügung, aber mit aktuellen Fragen zum 53 | Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2006, S. 223.

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Thema Behinderung werden sie nur indirekt im Rahmen dokumentarischer Ausstellungen konfrontiert. Man begegnet sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart in Grafeneck unter ganz anderen Bedingungen und selbst Besucher, die nicht an einer Führung teilnehmen oder das Dokumentationszentrum besuchen, können durch die heutige Nutzung des Orts dazu veranlasst werden, die Verbrechen der Vergangenheit mit den Realitäten der Gegenwart in Verbindung zu bringen. Gedenken ist in Grafeneck ein dynamischer Prozess, der die dort lebenden und arbeitenden Menschen mit einbezieht und von ihnen vorangetrieben wird. Mit diesem Prozess gehen aber immer wieder Herausforderungen einher, vor allem, weil das Wohlergehen der Bewohner ein wichtiger Faktor ist, den es stets zu berücksichtigen gilt. Ich werde nun kurz auf einige Momente in der Geschichte des Gedenkens in Grafeneck eingehen, die zeigen, inwieweit diese Geschichte von einem Kampf um Anerkennung geprägt war, an dem sich nicht nur die Gedenkstätte selbst, sondern auch die Menschen in der Region beteiligten.54 Nachdem das Schloss 1947 an die Samariterstiftung zurückgegeben wurde, kehrten die ehemaligen Patienten, die dem „Euthanasie“-Programm wie durch ein Wunder entgangen waren, zurück in ihr altes Zuhause. Sie waren der „Aktion T4“ wahrscheinlich deshalb entgangen, weil sie mehrmals in neue Wohnheime verlegt worden waren. Vonseiten der Samariterstiftung betrachtete man Grafeneck anscheinend trotz allem, was dort geschehen war, immer noch als das Zuhause dieser Bewohner und als einen ihrer Gesundheit zuträglichen Ort. Um diese Zeit begann die Samariterstiftung außerdem, es sich als eigenes Verdienst anzurechnen, dass alle Patienten von Grafeneck der Ermordung entgangen waren. Demnach war wundersame Rettung der Bewohner einzig auf den heldenhaften Widerstand der Stiftung gegen das NS-„Euthanasie“-Programm zurückzuführen. Die Tatsache allerdings, dass die Stiftung vor dem Krieg die Zwangssterilisierungsmaßnahmen des NS-Regimes aktiv unterstützt hatte, wurde geflissentlich verschwiegen. Zudem stellte sich vor nicht allzu langer Zeit heraus, dass die Stiftung mit 25.000 Reichsmark dafür entschädigt worden war, Grafeneck dem NS-Regime zu überlassen.55 Die Gedenkarbeit nahm in den frühen 1960er Jahren ihren Anfang, als die Samariterstiftung auf dem Friedhof ein großes Steinkruzifix anbrachte, das zwei Massengräber markiert, in denen sich 250 Urnen mit der Asche von Opfern befinden, die auf dem Gelände gefunden worden waren. Dietrich Sachs, Leiter der Pflege- und Wohneinrichtung in Grafeneck von 1971 bis 2007, erklärte, dass es zwischen dem, was der Samariterstiftung zufolge im Interesse der Bewohner war, und dem Versuch von Seiten des Arbeitskreises Gedenkstätte Grafeneck eines an54 | Vgl. Stöckle: Grafeneck 1940, S. 56–58. 55 | Vgl. Rößner: Im Dienste der Schwachen, S. 70–87, sowie S. 99. Rößner stellt die Position der Samariterstiftung und der Inneren Mission während des Nationalsozialismus zum ersten Mal ausführlich dar.

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gemessenen Gedenkens an die Opfer immer wieder zu Spannungen und zu neu ausgehandelten Kompromissen kam. 1965 wurde das Gebäude mit der ehemaligen Gaskammer abgerissen, um Raum für Nutztiere und Agrargeräte zu schaffen. Dieser Abriss wurde damals in der Öffentlichkeit einhellig begrüßt; heute hätte eine solche Entscheidung dagegen eine intensive Debatte zur Folge.56 Die Stelle, an der sich die Gaskammer befand, ist seit Anfang der 2000er Jahre mit einem Eckstein und einem Schild markiert, auf dem steht: „Hier stand einst das Gebäude, in dem im Jahre 1940 10.654 Menschen durch Gas ermordet wurden“. Im Jahr 1982 wurde dann an einem der beiden Urnengräber eine kleine Gedenktafel angebracht, auf der zu lesen ist: „Zum Gedenken an die Opfer der Unmenschlichkeit – Grafeneck 1940“. Zu dieser eher vage formulierten Inschrift kam 1985 eine Beschreibung der historischen Ereignisse auf einer weiteren Tafel hinzu. Beide Texte sind typisch für jene Formen der Ausblendung und der Behutsamkeit, die für das Gedenken an NS-Verbrechen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren charakteristisch waren. Während die erste Inschrift vollkommen abstrakt bleibt und weder das Geschehen noch die dafür Verantwortlichen genau benennt, wird in der späteren Beschreibung zwar explizit erwähnt, was geschehen ist, aber die Verantwortung und die Schuld dafür wird ausschließlich Hitler und den Nationalsozialisten zugesprochen, als ob es sich dabei um eine fremde Besatzungsmacht gehandelt habe – eine Einstellung, die in den Nachkriegsjahren weit verbreitet war und auch heute noch zu finden ist.57 Diese beiden Tafeln markieren gemeinsam mit ersten Publikationen zu den „Euthanasie“-Morden in Grafeneck den Anfang eines langsamen Prozesses der Anerkennung dieser Geschehnisse in der Öffentlichkeit.58 Ende der 1980er Jahre kam es zu einem entscheidenden Durchbruch im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Grafeneck als Ort des Gedenkens: der Arbeitskreis Gedenkstätte Grafeneck begann mit der Planung der heutigen Gedenkstätte. Baubeginn war im Sommer 1989.59 Beim Anstaltsfriedhof im Norden des Geländes, etwas abseits der Wohnhäuser wurde eine von dem Nürtinger Architekten Eberhard Weinbrenner entworfene Gedenkkapelle errichtet. Dieser gespenstische, skelettartige Bau setzt sich scharf von der umliegenden Landschaft ab: Fünf Metallbeine stützen ein pentagonales Dach, das über einem großen Granitaltar zu schweben scheint, in den ein Kruzifix eingraviert wurde. Eingerahmt wird die ganze Konstruktion durch Steinmauern, in die eine zerborstene Platte eingelassen ist. Vor der Kapelle steht ein Marmorkasten mit einem Glasdeckel, 56 | So kommt in einem Artikel, der im November 1966 in den Stuttgarter Nachrichten veröffentlicht wurde, enorme Erleichterung darüber zum Ausdruck, dass das Gebäude endlich weg ist: „‚Nachts kamen die grauen Omnibusse‘“, in: Stuttgarter Nachrichten vom 12.11.1966.

57 | Ich komme im vierten Kapitel auf die Gedenktafeln zurück. 58 | Vgl. Karl Morlok: Wo bringt ihr uns hin? „Geheime Reichssache“ Grafeneck. Stuttgart: Quell 1985.

59 | Stöckle: Grafeneck 1940, S. 176.

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Abbildung 2: Die Gedenkkapelle und das Namensbuch

Foto: Susanne C. Knittel

in dem sich ein Buch mit den Namen der Opfer befindet (Abb. 2). Mithilfe einer Schublade können Besucher das Buch herausziehen, darin blättern und nach bestimmten Namen suchen.60 Die Konstruktion mit Altar und eingraviertem Kreuz und die im Fünfeck des Daches angedeutete Zahlensymbolik, die an das fünfte Gebot („Du sollst nicht töten“) erinnert, zeugen von der christlichen Prägung der ersten Phase der Erinnerung in Grafeneck. Inzwischen sind auf dem Gelände verschiedene säkulare und auch überkonfessionelle Installationen hinzugekommen. Eine dieser Installationen ist ein Alphabetgarten, der 1998 von der jüdisch-amerikanischen Künstlerin Diane Samuels geschaffen wurde und zum Ausdruck bringen soll, dass die Identifizierung und Benennung der 10.654 Opfer nie definitiv zum Abschluss kommen kann. Dieses Werk besteht aus 26 Steinwürfeln, 60 | Bauträger der Gedenkstätte war die Samariterstiftung. Zur Finanzierung der Gedenkstätte haben unter anderem das Land Baden-Württemberg, die Württembergische Landeskirche, das Diakonische Werk in Württemberg, die Kommunen Gomadingen und Münsingen, der Landkreis Reutlingen, der Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern, die Samariterstiftung und der Kirchenbezirk Münsingen beigetragen. Außerdem waren kirchliche Gemeinden und Jugendwerke in Württemberg, sowie private Spender und Firmen aus der Region beteiligt.

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in die jeweils ein Buchstabe des römischen Alphabets eingraviert ist und die in einem Feld neben der Kapelle halb in der Erde vergraben sind, sowie aus einem größeren Stein mit der Inschrift: „Bitte, nimm meine Buchstaben und forme daraus Gebete“. Der Alphabetgarten soll zum Nachdenken anregen: Besucher können im Buch vor der Gedenkkapelle einen Namen nachschlagen und dann im Garten die Buchstaben finden, aus denen dieser Name zusammengesetzt wird, wie auch alle Namen der namentlich noch unbekannten Opfer. Mit dem Alphabetgarten wurde eine auf der jüdischen Tradition und auf Gegendenkmal-Diskursen beruhende Praxis des Gedenkens aufgegriffen.61 Im Jahr 2003 kam das lokale Kunstprojekt „10.654 –Kunst für Grafeneck – Wo Wort und Schrift ans Ende kommen“ hinzu, zu dem auch nichtreligiöse künstlerische und kreative Beiträge gehörten, darunter visuelle Kunstwerke, Musikstücke und Bühnenkunst. An diesem Projekt waren lokale Künstler, Bewohner der Pflegeeinrichtung Grafeneck sowie Schülergruppen beteiligt. Mit ihm setzte eine offenere Herangehensweise an das Gedenken ein, in deren Rahmen die Öffentlichkeit stärker einbezogen wurde. Wie beim Alphabetgarten zeichnet sich auch in den Beiträgen zu diesem Projekt ein breiterer Trend hin zu vergänglichen und interaktiven Werken ab – James Young spricht hier von einem „Gegendenkmal“.62 Werke dieser Art werden aus Materialien gefertigt, die im Verlauf der Zeit Veränderungen durchlaufen oder sogar ganz verschwinden, und es geht eher darum, Fragen aufzuwerfen als diese zu beantworten. Ein Beispiel für ein solches Werk ist Jorunn Hamers Skulptur Ad Acta, die einige Jahre neben der Gedenkkapelle stand: Ein dicker Stapel Papier, der von einem langen Spieß durchbohrt wurde, symbolisiert den bürokratischen Aspekt des Massenmords. Im Verlauf einiger Jahre zerfiel das Papier vollständig und zum Schluss war nur noch der Spieß zu sehen. In den Jahren 2004 bis 2006 konzipierte der Verein Gedenkstätte Grafeneck unter der wissenschaftlichen Leitung des 1996 angestellten Historikers Thomas Stöckle ein Dokumentationszentrum, um Besucher über den historischen Kontext der „Euthanasie“-Verbrechen zu informieren und die Geschichte des Gedenkens in Grafeneck zu dokumentieren. Es wurde 2005 eröffnet. Die Dauerausstellung ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil ist ein kurzer Überblick über Grafenecks Geschichte vom 13. bis ins 20. Jahrhundert zu sehen. Im zweiten und umfangreichsten Teil werden mithilfe von Abbildungen von Originaldokumenten, Fotos und Zitaten von Augenzeugen die Entwicklungen dargestellt, die zu den Massenmorden führten. Die Benennung der Täter, das Nachzeichnen ihrer weiteren Lauf bahn während des Nationalsozialismus und das Aufzeigen von Zusammenhängen zwischen dem NS-„Euthanasie“-Programm und dem Holocaust

61 | Vgl. James Young: The Texture of Memory: Holocaust Memorials and Meaning. New Haven: Yale University Press 1993.

62 | Ebd., S. 27–48.

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sind entscheidende Komponenten dieses Ausstellungsteils.63 Ein weiterer Bereich ist dem Widerstand gegen sie Krankenmorde vonseiten der Kirche, der Angehörigen von Opfern und auch Mitgliedern der NSDAP gewidmet. Darüber hinaus wird jedoch die Position der katholischen und evangelischen Kirchen oder der Samariterstiftung zur NS-Politik der Zwangssterilisierung oder des „Euthanasie“-Programms nicht thematisiert. Diese Leerstelle hat einerseits damit zu tun, dass ein großer Teil der Untersuchungen zu diesem Thema erst nach der Einrichtung der Dauerausstellung entstanden ist, könnte aber andererseits auch eine negative Konsequenz des Doppelstatus‘ von Grafeneck sein, da davon auszugehen ist, dass die Samariterstiftung als wichtiger Geldgeber direkt oder indirekt Einfluss auf die Gestaltung und die dargestellten Inhalte der Gedenkstätte hat. Im dritten Teil der Ausstellung geht es um das Schweigen und die Verdrängung des Themas nach dem Zweiten Weltkrieg und um die unzulängliche bzw. unterbliebene Bestrafung der Täter. Außerdem wird erklärt, wie die Gedenkstätte in ihrer aktuellen Form konzipiert ist und es wird gezeigt, inwiefern Grafeneck mittlerweile in ein größeres regionales Netzwerk von Orten des Gedenkens an NS-„Euthanasie“-Opfer eingebunden ist. Die Ausstellung ist insgesamt ausschließlich auf historische Fakten ausgerichtet, es gibt nur die Geschichte eines einzelnen Opfers, Theodor K., die in wenigen knappen Worten einen etwas persönlicheren Zugang zum Thema ermöglicht. Theodor K. war ein 36-jähriger Patient mit einer Schizophrenie-Diagnose, der in der Anstalt Christophsbad lebte.64 Am 25. November 1940 wurde er von dort nach Grafeneck gebracht und getötet. Auf einem Foto ist ein gutaussehender junger Mann mit traurigen Augen zu sehen. Über sein Leben erfahren wir nichts, nur über seinen Tod. Obwohl es in den meisten Fällen außerordentlich schwierig ist, Details zur Biographie der Opfer herauszufinden, konnten Wissenschaftler und Familienangehörige in den letzten Jahren zunehmend Opferbiographien mithilfe persönlicher Briefe und anderer Dokumente rekonstruieren.65 Warum steht also in der Grafeneck-Ausstellung die individuelle Lebensgeschichte der Opfer nicht im Fokus? Beispielsweise gibt es in der Gedenkstätte in Pirna-Sonnenstein einen Gedenkraum mit den Biographien und Fotos von 22 Opfern,66 und auch die dokumentarische Ausstellung in Hadamar zeigt mehrere biographische Abrisse. Obwohl es sicher nicht schwer wäre, in Grafeneck mehr biographische Informationen dieser Art zu integrieren, 63 | Im vierten Kapitel wird näher auf diesen Aspekt eingegangen. 64 | In der Ausstellung wird der Nachname noch anonymisiert, aber im kürzlich erschienenen Ausstellungskatalog in Leichter Sprache wird der volle Name angegeben: Theodor Kynast (Sebastian Priwitzer/Gedenkstätte Grafeneck: Gedenkstätte Grafeneck Dokumentationszentrum. Leichte Sprache. Grafeneck 2016, S. 36–39).

65 | Im dritten Kapitel werde ich auf einige Beispiele näher eingehen. 66 | Vgl. zu diesem Gedenkraum Boris Böhm: „‚Euthanasie‘-Verbrechen ausstellen. Das Beispiel der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein“, in: Westermann/Kühl/Ohnhäuser: NS-„Euthanasie“ und Erinnerung, S. 123–132.

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könnte ein Grund dafür, warum das nicht geschieht, jene Doppelstruktur einer „lebenden Gedenkstätte“ sein, bei der die Funktion eines Denkmals mit der eines Mahnmals kombiniert wird. Auf dem Friedhof und in der Kapelle können die Besucher der Opfer gedenken, auch mithilfe des Gedenkbuchs und des Alphabetgartens, und im Dokumentationszentrum erfahren sie mehr über die Verbrechen der Täter. Zum Auf bau einer persönlichen Beziehung zur Geschichte Grafenecks kommt es jedoch durch die direkte Begegnung mit den heute dort lebenden Menschen – die dort 1940 wohl alle den Tod gefunden hätten. Infolge dieser Begegnungen tragen die Bewohner (ob sie wollen oder nicht) zur performativen Dimension der Gedenkstätte bei, die Besucher dazu veranlassen kann, darüber nachzudenken, was ein Leben lebenswert macht und wer aus welchem Grund das Recht hat, darüber zu entscheiden. Im Dialog mit der Vergangenheit und der Gegenwart von Grafeneck sehen sie sich mit der Frage konfrontiert, wie es um ihre eigene Toleranz gegenüber Menschen mit Behinderungen bestellt ist und was all das mit ihrer eigenen Gesundheit zu tun hat. So vereint Grafeneck die beiden Imperative einer Gedenkstätte: „Nie vergessen!“ (der Denkmalaspekt) und „Nie wieder!“ (der Mahnmalaspekt).

E in B esuch

in

G r afeneck

Als gemeinnützige Organisation erhält die Gedenkstätte Grafeneck finanzielle Unterstützung vom Land Baden-Württemberg, von allen psychiatrischen Einrichtungen, aus denen 1940 Patienten dorthin deportiert wurden, von der katholischen und evangelischen Kirche sowie der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Der Eintritt ist frei, die einzigen anderen Einnahmequellen sind Spenden und Mitgliedsbeiträge.67 2013 stellte das Land für alle 85 Gedenkstätten insgesamt 300.000 Euro zur Verfügung, womit nur ein Bruchteil der tatsächlichen Betriebskosten abgedeckt war. So konnte sich die Gedenkstätte lange Zeit nur einen in Vollzeit angestellten Historiker leisten, und das obwohl Grafeneck die Gedenkstätte mit den meisten Besuchern in Baden-Württemberg ist. Seit 2015 hat sich die finanzielle Situation stetig gebessert: 2016 gab es vom Land 100.000 Euro und 2017 120.000 Euro für Grafeneck. So konnte mit Franka Rößner eine zweite Historikerin in Vollzeit angestellt werden, sowie eine Verwaltungskraft auf Stundenbasis. Darüber hinaus muss auf ehrenamtliche Mitarbeiter und Praktikanten zurückgegriffen werden, um die jährlich ca. 400 Besuchergruppen zu empfangen und entsprechende Führungen anzubieten.68 Seit der Eröffnung des Dokumentationszentrums hat die Zahl der Besucher geradezu 67 | Vgl. Gedenkstätte Grafeneck: 8. Grafenecker Brief. Gedenkstätte Grafeneck. Dokumentationszentrum. Fünf Jahre 2005 bis 2010. Rückblick und Bilanz. Gomadingen: Gedenkstätte Grafeneck 2010, S. 13.

68 | Auskunft von Franka Rößner am 24. August 2017.

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explosionsartig zugenommen von ungefähr 5.000 im Jahr 2005 auf ca. 30.000 im Jahr 2015.69 Diese enorme Steigerung zeugt von einem lokal, national und sogar international zunehmenden Bewusstsein für und Interesse an der NS-„Euthanasie“-Erinnerung, diese Steigerung beginnt aber inzwischen auch, zu einer gewissen Belastung für die Gedenkstätte und insbesondere für das Heim zu werden. Sollte die Zahl der jährlichen Besucher weiter steigen, würde sich das irgendwann auf den Alltagsbetrieb des Wohn- und Pflegeheims auswirken. Auch wenn die Gedenkstätte und die Einrichtung aktuell noch recht harmonisch koexistieren, ist leicht vorauszusehen, dass irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem die Präsenz so vieler Besucher dem Wohlergehen der Bewohner abträglich wird. 2011 bis 2012 kam es beispielsweise zu einem sprunghaften Anstieg der Besucherzahlen, der darauf zurückzuführen war, dass der Kriminalroman Grafeneck von Rainer Gross (2007) in den landesweiten Realschulabschlussprüfungen im Fach Deutsch als Pflichttext vorgegeben war.70 Zwischen Januar und April 2012 besuchten 164 Schülergruppen Grafeneck, verglichen mit 46 im selben Zeitraum im Vorjahr.71 Mit einer durchschnittlichen Gruppengröße von 25 bis 30 Personen mussten also die Bewohner von Grafeneck ihr Zuhause während dieser kurzen Phase auf einmal mit weiteren 3.000 bis 4.000 Menschen teilen. Zudem gab es vereinzelte unangenehme Zwischenfälle, die deutlich machten, wie prekär die Koexistenz von Gedenkstätte und Pflegeeinrichtung ist: kleinere Fälle von Vandalismus, etwa die Verschandelung des Gästebuchs, aber auch Schwerwiegenderes, als ein Bewohner verbal belästigt wurde. Grafenecks größte Stärke ist letztlich zugleich seine größte Schwäche. Dass hier eine offene Gedenkstätte mit einer aktiv betriebenen Pflegeeinrichtung kombiniert ist, ermöglicht den Besuchern eine einzigartige und dynamische Form des Gedenkens und der politischen Bildung. Zugleich schränkt dieser Umstand aber auch auf signifikante Weise ein, wie groß und umfangreich die Gedenkstätte werden darf, weil die Anwesenheit von Hunderten von Besuchern täglich für den Wohnbereich der Patienten unweigerlich eine Störung darstellen würde, und die Bewohner gewissermaßen – gewollt oder ungewollt – zu lebenden „Ausstellungsobjekten“ würden. Zwei Drittel aller Besucher von Grafeneck sind Schüler im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Hinzu kommen Besuchergruppen aus dem medizinischen Bereich, Sozialarbeiter, andere an dem Thema interessierte Einzelpersonen und

69 | Im Jahr 2011 waren es 22.000 und 2013 ca. 25.000 Besucher. Vgl. Landeszentrale für politische Bildung, Besucherstatistik der Gedenk- und Erinnerungsstätten in Baden-Württemberg. Verfügbar unter http://www. gedenkstaetten-bw.de/ausgedenkstaette_besucher_2015. html (zuletzt abgerufen am 19.6.2017).

70 | Vgl. zu diesem Roman auch: Susanne C. Knittel: „Case Histories. The Legacy of Nazi Euthanasia in Recent German Heimatkrimis“, in: Todd Herzog/Lynn Kutch (Hrsg.): German Crime Fiction. Established Traditions and New Voices. Rochester, NY: Camden House 2014.

71 | Aus einer persönlichen Korrespondenz mit Franka Rößner im Mai 2012.

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religiöse Gruppen.72 Besucher können an einer zweistündigen Führung teilnehmen oder an Halbtags- oder Ganztags-Workshops und Seminaren zu vielfältigen Themen. Sie arbeiten dabei mit historischen Quellen und Filmen und erfahren Näheres über die Biographien der Opfer sowie über Zusammenhänge zwischen der NS-„Euthanasie“ und dem Holocaust. Die Führungen haben ebenfalls eher den Charakter von Seminaren, abhängig vom Alter der Teilnehmer und der Größe der Gruppe ähneln sie eher Dialogen als reinen Vorträgen. Ausgangspunkt ist immer das heutige Grafeneck und die Frage, welche Stellung Menschen mit Behinderungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft haben. Man bemüht sich also nach Kräften, zwischen den Ereignissen, an die erinnert werden soll, und der Lebenswirklichkeit der Besucher Verbindungen herzustellen. Angesichts dessen, an welche Verbrechen erinnert wird und wer die Opfer waren, ist frappierend, dass – abgesehen von bereits vorhandenen Strukturen, die auf die Nutzung Grafenecks als Pflegeeinrichtung zurückgehen – aktuell wenig spezifische Vorkehrungen vorhanden sind, um Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten den Besuch zu erleichtern. Ungefähr in 10 % aller Besuchergruppen gibt es mindestens eine Person mit Behinderung, und von 400 Gruppen setzen sich durchschnittlich 20 bis 30 ausschließlich aus Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten zusammen. Das Dokumentationszentrum ist zwar barrierefrei zugänglich. Die Ausstellung und das pädagogische Angebot waren jedoch bis vor Kurzem fast ausschließlich auf Besucher ohne Behinderungen oder Lernschwierigkeiten ausgerichtet, während jene, für die der Ort und seine Geschichte ja von besonderem Interesse sein könnte, faktisch außen vor gelassen wurden. Wie problematisch das ist, wird besonders augenfällig, wenn man sich vorstellt, wie wir im Fall einer Holocaust-Gedenkstätte auf exkludierende Regelungen reagieren würden, die beispielsweise Juden oder anderen Minderheiten den Besuch oder die Auseinandersetzung mit dem Ort erschweren oder unmöglich machen würden. Zwischen 2014 und 2016 wurden im Rahmen des Projektes „Barrierefreie Gedenkstätte“ ein Konzept für Führungen und Studientage in leichter Sprache erarbeitet. Begleitend dazu entstanden ein Katalog und Flyer sowie eine Hörversion in leichter Sprache. Der Katalog gibt nicht nur den Inhalt der Ausstellung wieder, sondern enthält auch zusätzliche Materialien wie z.B. die Biographien dreier Menschen, die in Grafeneck ermordet wurden, denen die Biographien von drei Tätern gegenübergestellt werden. Außerdem gibt es einen Appendix mit Hintergrundinformationen zur Geschichte und Ideologie des Nationalsozialismus und zur Demokratie.73 Das Projekt wurde von Franka Rößner in Zusammenarbeit mit dem Sonderpädagogen und Sonderschullehrer Sebastian Priwitzer und Mitgliedern des Reutlinger Arbeitskreises Selbstbestimmung ausgeführt und ist daher ein Beispiel für inklusive Erinnerungs- und Bildungsarbeit. Dass an der Gedenkstätte Grafeneck erst kürzlich damit begonnen wurde, Besu72 | Vgl. Gedenkstätte Grafeneck: 8. Grafenecker Brief, S. 15. 73 | Vgl. Priwitzer/Gedenkstätte Grafeneck: Dokumentationszentrum. Leichte Sprache.

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chern mit geistigen Behinderungen und Lernschwierigkeiten entgegenzukommen, hat damit zu tun, dass es weder Finanzen noch Personal in ausreichendem Maße gab, aber zugleich kommt darin auch die weit verbreitete grundsätzliche Annahme zum Ausdruck, dass Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten sich entweder überhaupt nicht für historische und politische Bildung interessieren oder nicht in der Lage sind, an dieser teilzuhaben. Dies ändert sich mittlerweile.74 Uta Georges Untersuchung zu den Bildungsangeboten für Menschen mit Lernschwierigkeiten in der finanziell deutlich besser ausgestatteten Gedenkstätte Hadamar zeigt, dass behinderte Menschen durchaus mehr über diese historischen Ereignisse erfahren wollen und auch in der Lage sind, das Gelernte mit dem Thema Menschenrechte und mit ihrer eigenen Position in der heutigen Gesellschaft in Verbindung bringen.75 Weil Grafeneck nicht nur eine Gedenkstätte, sondern zugleich auch der Wohnort von Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten ist, sollte man denken, dass der Ort im Hinblick auf Zugänglichkeit und Inklusion eine Vorreiterrolle spielt. Die Realität ist zwar teilweise dadurch zu erklären, dass es der Gedenkstätte an Fördermitteln mangelt, lässt aber gleichzeitig auch den Eindruck entstehen, dass vonseiten der Samariterstiftung kein großes Interesse daran besteht, die Gedenkstätte stärker in den Alltag der Bewohner einzubinden. Eine systematische Erhebung dazu, wie sich das Leben auf dem Gelände der Gedenkstätte auf die Bewohner auswirkt, gibt es nicht. Bisher existiert lediglich eine Arbeit zu diesem Thema, eine 2009 von Oliver Wacker, einem Studenten der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg eingereichte Hausarbeit.76 Wacker befragte Bewohner des Wohn- und Pflegeheims in Grafeneck, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie diese den Ort und seine Geschichte wahrnehmen. Dazu bat er zunächst das Personal, ihm Gesprächspartner vorzuschlagen, die sich in irgendeiner Weise mit der Geschichte der NS-„Euthanasie“ auseinandergesetzt hatten und die Fragen zu ihren diesbezüglichen Gedanken und Meinungen beantworten wollten und konnten. Er wählte dann von den zwölf vorgeschlagenen Personen zwei aus. Zentralen Fragen in den Interviews waren erstens, welche Gebäude sie mit der NS-„Euthanasie“ in Verbindung brachten, zweitens, ob und wie sich diese Gebäude und allgemeiner die Gedenkstätte auf ihr tägliches Leben auswirkten und drittens, ob Bewohner des Wohn- und Pflegeheims von dem 74 | Der 2014 eröffnete Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde in Berlin richtet sich zum Beispiel gezielt auch an Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten: Die Dokumentationsausstellung enthält Texte in leichter Sprache sowie Angebote für Menschen mit Seh- und Hörbeeinträchtigungen in Form von Brailleschrift und Videos mit Gebärdensprache.

75 | Vgl. Uta George: Kollektive Erinnerung, S. 12. 76 | Vgl. Oliver Wacker: Die Euthanasie in Grafeneck und das Erleben dieses Ortes von Menschen mit Behinderung heute. Wissenschaftliche Hausarbeit. Pädagogische Hochschule Ludwigsburg 2009.

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Informationsmaterial Gebrauch machten, das vom Dokumentationszentrum zur Verfügung gestellt wird, und wenn ja, wie. Eine der beiden befragten Personen, Frau S., erklärte, sie habe die vorhandenen Texte gelesen und sei sehr daran interessiert, sich mit den anderen Bewohnern und mit Besuchern der Gedenkstätte über diese Themen zu unterhalten. Der zweite Befragte, Herr R., erklärte, er halte sich generell vom Dokumentationszentrum fern, weil ihm die Bilder Angst machen würden. Frau S. sagte zudem, es fiele ihr schwer, zwischen dem Privatbereich und dem öffentlichen Raum der Gedenkstätte zu unterscheiden, was für sie tendenziell beängstigend sei. Beide Interviewpartner erklärten, sich dessen bewusst zu sein, dass sie selbst damals unter den Opfern des „Euthanasie“-Programms gewesen wären und lokalisierten die Vergangenheit Grafenecks im Dokumentationszentrum, vor allem aufgrund der dort ausgestellten Fotografien. Wackers Untersuchung lassen allerdings keine weitreichenden Rückschlüsse darauf zu, wie Bewohner des Wohn- und Pflegeheims ihr Leben in Grafeneck wahrnehmen, weil lediglich zwei Menschen befragt wurden, und weil der Interviewer zunehmend suggestive Fragen stellt, die dann größtenteils nur mit Ja oder Nein beantwortet wurden. Dieses wichtige Thema verdient eine genauere Untersuchung, die aber außerhalb der Möglichkeiten dieser Arbeit liegt.

G r afeneck

und seine

U mgebung

Als ich 2006 begann, zum Gedenken in und an Grafeneck zu forschen, war dieser Ort außerhalb des unmittelbaren lokalen und akademischen Umfelds kaum bekannt. Wie die steigenden Besucherzahlen und die Vielzahl neuer Gedenkinitiativen zeigen, ist das aber nicht länger der Fall. In den letzten Jahren ist das Interesse an Grafeneck und seiner Erinnerungsarbeit weit über den lokalen Kontext hinausgewachsen. Auf die Einbeziehung der Öffentlichkeit wird bei dieser Erinnerungsarbeit besonderer Wert gelegt. Das Jahr 2009 bildet ein entscheidendes Datum in dieser Entwicklung – 70 Jahre nach der Enteignung des Schlosses durch das nationalsozialistische Regime. Im Lauf des Jahres fanden zahlreiche Veranstaltungen, Konferenzen und andere Projekte statt. Der regionale Fernsehsender SWR strahlte im Oktober 2009 eine Dokumentation des Regisseurs Knut Weinrich über Grafeneck und die NS-„Euthanasie“ aus. Im Mittelpunkt standen die Biographien dreier Opfer – Martin Bader, Emma Zeller und Dieter Neumeier –, die von Angehörigen vorgestellt wurden. Mit dieser Herangehensweise setzte man sich klar von jener distanzierenden Unpersönlichkeit ab, die für den NS-„Euthanasie“-Diskurs lange Zeit charakteristisch war. In der nuancierten und einfühlsamen Dokumentation werden die Opfer als Menschen gezeigt, deren Recht auf Leben außer Frage steht.77 Im Februar 2012 wurde 77 | Unter den Opfern von Grafeneck ist Martin Bader ein Einzelfall, weil er nicht nur eine größere Zahl von Briefen hinterlassen hat, die er seiner Frau aus verschiedenen psychiatri-

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in Freiburg das dokumentarische Theaterstück Spurensuche Grafeneck uraufgeführt, das ebenfalls auf den Lebensgeschichten von Emma Zeller und Martin Bader basierte. Die Aufführung bestand aus zwei Teilen. Im ersten Teil wurde das Publikum durch eine Reihe von Videoinstallationen geführt, in denen kurze, von Studierenden geschriebene Texte vorgestellt wurden, und zudem Ausschnitte aus Interviews mit Einwohnern aus der Region, teils Angehörigen von Opfern Grafenecks, teils Menschen, die eigene Erfahrungen mit psychischen Krankheiten gemacht hatten. Die Zuschauer wurden aufgefordert, über Kontinuitäten zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart nachzudenken. Der zweite Teil des Stücks bestand aus einem fiktiven Gerichtsprozess, bei dem wichtige Figuren der Eugenikbewegung für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen wurden. Als „Ankläger“ tritt die Figur Heisel Rein (Reinhold Häußler) auf; historisch gehörte er zu den bekanntesten Opfern von Grafeneck und Hellmut G. Haasis hat sein Leben und auch seinen Tod dokumentiert.78 Der Prozess wechselt zwischen informativen und absurden Szenen mit gelegentlichen Slap-Stick-Einlagen, doch gegen Ende des Stücks wird die Stimmung sehr ernst: Heisel Rein wird von Ärzten des NS-Regimes in Gewahrsam genommen und in eine Zwangsjacke gesteckt. Zwei dieser Ärzte führen ihn, Emma Zeller und Martin Bader ab, während ein dritter Arzt Reins amtliche Dokumente hörbar und demonstrativ mit einem Stempel beglaubigt und ihn damit zum Tode verurteilt. Geschrieben wurde das Stück von Paul Brodowsky und Ruth Feindel, von Stefan Nolte wurde es inszeniert, und die Aufführung wurde ermöglicht durch die Zusammenarbeit von Schülern der Realschule in Bad Krotzingen bei Freiburg, des Theaters Freiburg und des Arbeitskreises Euthanasie und Ausgrenzung Heute, der zum Verein Freiburger Hilfsgemeinschaft gehört, dessen Ziel eine bessere Integration von Menschen mit geistigen Erkrankungen und Behinderungen ist. Gedacht war das Stück, so ist im Programmheft zu lesen, als eine Form „produktiver Erinneschen Einrichtungen geschrieben hat, sondern auch einen autobiographischen Abriss seines Lebens. Sein Sohn Helmut hat eine Biographie verfasst, in der lange Auszüge aus diesen Dokumenten enthalten sind: Helmut Bader: „Martin Bader. ‚Mein Name ist in Giengen und Umgebung gut bekannt‘“, in: Petra Fuchs/Maike Rotzoll/Ulrich Müller/Paul Richter/Gerrit Hohendorf (Hrsg.): Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. Göttingen: Wallstein 2007, S. 105–122. Außerdem gibt es eine Biographie von Emma Zeller, auf die ich im dritten Kapitel näher eingehe und die von ihrem Enkel Hans-Ulrich Dapp geschrieben wurde. Der siebenjährige Dieter Neumeier war eines der letzten Opfer von Grafeneck. Er wurde am 12. Dezember 1940 ermordet. Sein älterer Bruder Wolfgang Neumeier erinnert sich gut an ihn und erzählt seine Geschichte im Film. Die ganze Dokumentation kann online auf Planet Schule (eine online Bildungsinitiative des SWR und WDR) angesehen werden: Grafeneck 1940. Die Mordfabrik auf der Schwäbischen Alb. Regie: Knut Weinrich. SWR Fernsehen, 1. October 2009. https://www.planet-schule.de/sf/filme-online.php?reihe=319&film=8305 (Letzter Zugriff: 24. August 2017).

78 | Mehr hierzu im dritten Kapitel.

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rung“, bei der es nicht nur um die Vermittlung historischer Fakten geht, sondern zudem um ein Herausarbeiten eventueller Bezüge zur Gegenwart, wodurch die Geschichte einem jüngeren Publikum zugänglich gemacht werden soll. Die Realschüler beteiligten sich im Rahmen eines Workshops zum Kreativen Schreiben an den Videoinstallationen: Sie unternahmen einen Tagesausflug nach Grafeneck, wo sie kurze Texte verfassten, in denen sie sich die Verbrechen aus der Opfer- oder der Täterperspektive vergegenwärtigen sollten. Das Theaterstück wurde insgesamt 14-mal aufgeführt, sämtliche Vorstellungen waren ausverkauft. In Spurensuche Grafeneck werden typische Elemente des dokumentarischen Theaters mit einer Multimediainstallation kombiniert.79 Das Stück lebt von der direkten Beteiligung des Publikums: Die Zuschauer bewegen sich im Raum, und während dieser Bewegung sehen sie sich verschiedenen historischen Konfigurationen gegenüber. Sie sind genau wie die Besucher Grafenecks mit einem Oszillieren zwischen Gegenwart und Vergangenheit konfrontiert, zwischen aktuellen Problemstellungen und historischen Fakten. Der Veranstaltungsort trug zudem dazu bei, den Eindruck eines Palimpsests entstehen zu lassen, weil die Aufführung nicht in einem Theater stattfand, sondern im ungenutzten Teil einer Brauerei. Die bedrückende Atmosphäre des stillgelegten Industriekomplexes ließ an die Maschinerie der nationalsozialistischen Massenmorde denken. Der Weg durch die Videoinstallationen endete am ehemaligen Filterkeller – und in den Köpfen nicht weniger Zuschauer verwandelte sich dieses harmlose Wort auf dem Türschild in den sehr viel unheilvolleren Begriff „Folterkeller“. Das dokumentarische Theaterstück Spurensuche Grafeneck ist ein Beispiel für eine dynamische und interaktive Herangehensweise an Gedenken, eine „produktive Erinnerung“, in der die Zuschauer angeregt werden, Geschichte wieder lebendig werden zu lassen. Dieser basispartizipatorische Ansatz war bei einer anderen mit Grafeneck assoziierten Gedenkveranstaltung noch deutlicher, der Spur der Erinnerung: Die Öffentlichkeit beteiligte sich zu Tausenden, als Geschichte sozusagen mitten in die Landschaft hineingeschrieben wurde. Das vergängliche Denkmal Spur der Erinnerung verband Grafeneck mit dem Innenministerium in Stuttgart, wo der Massenmord geplant worden war. 7.000 Freiwillige zogen vom 13. bis zum 16. Oktober 2009 auf Straßen, Gehwegen und Plätzen eine knapp 80 Kilometer lange violette Spur, wobei über 700 Liter Farbe verbraucht wurden.80 Die Spur der Erinnerung war Ergebnis eines Projekts des zur Initiative Stuttgarter Stolpersteine gehörenden Arbeitskreises Euthanasie 81 und der „interculturellen“ Bür79 | Ich komme im sechsten Kapitel auf die Rolle des dokumentarischen Theaters beim Gedenken und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zurück.

80 | Vgl. Benjamin Dürr/Andreas Fink: Nach der Spur. Der Blick nach vorn, in: Reutlinger General-Anzeiger vom 15.10.2009.

81 | Diese Initiative wurde gegründet, um Gunter Demnigs Stolpersteine-Projekt nach Stuttgart zu bringen. Einige der Stolpersteine in Stuttgart erinnern an Opfer der NS-„Euthanasie“, die in Grafeneck ermordet wurden.

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gerrechtsgruppe AnStifter, bei dem man sich auf die aktive Unterstützung zahlreicher Gruppen und Einzelpersonen verließ. Dutzende Ortsgruppen, Kirchenchöre, Gemeinden und Schulen nahmen an der Aktion teil, darunter auch Förderschulen und Bewohner der Pflegeeinrichtung in Grafeneck. Sie alle erklärten sich für einen Abschnitt der Spur verantwortlich, der zum Beispiel entlang einer Straße in ihrem jeweiligen Wohnort verlief. Außerdem gab es ein vielfältiges viertägiges Begleitprogramm mit künstlerischen, kulturellen und pädagogischen Veranstaltungen, unter anderem eine zweitägige gesponserte Wanderung mit behinderten und nicht-behinderten Teilnehmern entlang der Spur von Grafeneck nach Stuttgart, wodurch die einst von den grauen Bussen zurückgelegte Strecke symbolisch umgekehrt wurde.82 Als ein Projekt, das vollständig von verschiedenen Vertretern der Öffentlichkeit geplant, organisiert und umgesetzt wurde (die Initiatoren steuerten nur die Idee und ein grobes Organisationsgerüst bei), ist die Spur der Erinnerung ein anspruchsvoller Gegenentwurf den üblicheren rigider strukturierten Gedenkritualen wie etwa Gottesdienste oder Schweigeminuten. Nicht nur war die Öffentlichkeit aktiv an der Gestaltung dieses Mahnmals und damit der Erinnerung beteiligt; dazu kommt, dass die Teilnehmer sich in Gesprächen darüber austauschten, was sie jeweils persönlich mit dem Projekt verbinden. Das Ganze war auch ein Anstoß, allgemeiner darüber nachzudenken, wie man Dinge, die vor über 70 Jahren geschahen, gedenkend in Erinnerung behalten kann. Die Spur ist inzwischen schon lange verblasst und hat keine materiellen Reste zurückgelassen; ein vergängliches Mahnmal ist vielleicht das eindrücklichste Symbol dessen, wie Erinnerungen sich mit der Zeit verlieren. Es unterstreicht, dass Erinnern immer wieder neue Anstrengungen erfordert. Es kann kein letztes Wort geben; immer wieder müssen neue Initiativen und Projekte nachrücken.

E rinnerungstr äger Der Geschichte Grafenecks wurde in den letzten zehn Jahren lokal und regional zunehmend Aufmerksamkeit zuteil, aber den wichtigsten Beitrag dazu, diese Erinnerung auch der nationalen und sogar der internationalen Öffentlichkeit zu Bewusstsein zu bringen, leisteten Künstler, die sich mit dieser Erinnerung auseinandersetzten und die Grenze zwischen der NS-„Euthanasie“ und dem Holocaust in ihren Werken infrage stellten. Besonders prominente Beispiele sind das Denkmal der grauen Busse und die Stolpersteine. Beide Kunstprojekte legen Erinnerungen frei, die in unseren Städten und Dörfern verdrängt worden waren, wodurch den Menschen die Vergangenheit ihrer unmittelbaren Umgebung wieder ins Gedächtnis gerufen wird. Das Denkmal der grauen Busse bringt beispielsweise die Transportmittel zurück, die damals zur Deportation der Opfer verwendet 82 | Vgl. Ralf Ott: 80 Kilometer langer lila Farbstrich. Aktion vom 13. bis 16. Oktober erinnert an Beschlagnahmung von Grafeneck vor 70 Jahren, in: Alb Bote vom 19.09.2009.

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Abbildung 3: Der Denkmal-Bus in Weißenau

Foto: Susanne C. Knittel

wurden: die grauen Busse, mit denen man die Patienten aus psychiatrischen Einrichtungen in die „Euthanasie“-Tötungsanstalten transportierte. Entworfen wurden die zwei Betonrepliken dieser Busse 2005 von dem Künstler Horst Hoheisel und dem Architekten Andreas Knitz für einen von der der Stadt Ravensburg und dem Zentrum für Psychiatrie Weißenau ausgelobten Wettbewerb, um an die Deportation von mehr als 550 Patienten aus dieser Einrichtung nach Grafeneck zu erinnern. Die Busse sind in der Mitte gespalten, so dass Besucher durch einen engen Gang gehen und dort die folgende Inschrift lesen können: „Wohin bringt ihr uns? 1940/41“. Diese Frage stellte Berichten zufolge ein Patient in Weißenau, kurz bevor er nach Grafeneck gebracht wurde (Abb. 3). Die Betonbusse haben die gleiche Größe und dieselbe Form wie jene, die 1940 ein vertrauter Anblick auf den Straßen der Gegend waren, weswegen sie durchaus Unbehagen auslösen können, vor allem bei Menschen der älteren Generation. Die mimetische Übereinstimmung wird dadurch gebrochen, dass diese neuen Versionen aus Beton gegossen und in der Mitte gespalten sind: Die wuchtigen Kolosse erscheinen opak und durchlässig zugleich, denn obwohl man mitten durch sie hindurchgehen kann, bleiben die beiden Hälften selbst unzugänglich. Es ist unmöglich, durch die Fenster zu schauen oder die Türen zu öffnen, und wenn man durch den Mittelgang ins Innere tritt, findet man dort keine Antworten, sondern wird mit der erschütternd direkten Frage konfrontiert: „Wohin bringt ihr uns?“ Die Busse sind also zugleich offen und geschlossen, vertraut und fremd, und genau das macht sie unheimlich.83 83 | Vgl. auch Susanne C. Knittel: „Grafeneck, das ‚Euthanasie‘-Programm der Nationalsozialisten und das Unheimliche in der Geschichte“, in: Thomas Müller/Paul-Otto Schmidt-Michel/Franz Schwarzbauer (Hrsg.): Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit – Das Denkmal der Grauen Busse. Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte 2017, S. 33–50.

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Das erste Exemplar des zweiteiligen Denkmals steht am ehemaligen Eingang der Klinik Weißenau, wobei der hintere Teil sich auf dem Grundstück der Klinik befindet, die vordere Hälfte auf städtischem Gelände außerhalb der Klinik, was die öffentliche Dimension der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ unterstreicht: Der Bus ist für immer im Moment des Auf bruchs erstarrt und erinnert so daran, dass die Bevölkerung der Umgebung, schweigend zusah, während Menschen mitten unter ihnen ausgegrenzt und deportiert wurden. „Für uns waren [die grauen Busse] das stärkste Zeichen,“ erklären Knitz und Hoheisel: Sie waren in den Dörfern und Städten bekannt gewesen. Keiner hielt sie auf, obwohl bald viele von den Todesfahrten wussten oder davon ahnten, wenn die Busse mitten durch ihre Dörfer und Städte in Richtung Grafeneck fuhren. Wir haben bewusst dieses Werkzeug der Täter als Erinnerungszeichen gewählt, weil wir denken, dass im Land der Täter vor allem auch die Tat und die Täter des fabrikmäßig durchgeführten Massenmordes erinnert werden müssen, anstatt nur die Opfer in Trauer-Denkmalen zu ehren. 84

Mit dem Denkmal der grauen Busse verwenden Horst Hoheisel und Andreas Knitz das Täterfahrzeug als Träger der Erinnerung an die Opfer – und genau das macht dieses Mahnmal so eindrücklich. Dass es jene Erinnerung sozusagen „transportiert“, wird an dem zweiten Bus noch deutlicher, der nicht dauerhaft an einem bestimmten Ort installiert wurde, sondern immer weiter von einer Stadt in die nächste gebracht wird. Für Knitz und Hoheisel ist das Gedenken ein Prozess mit offenem Ende und genau das soll dieser zweite Bus verkörpern. Die beiden Busse, von denen der eine fest verankert und der andere in Bewegung ist, verknüpfen nicht nur verschiedene NS-„Euthanasie“-Gedächtnisorte miteinander, sondern sorgen auch dafür, dass die Bevölkerung mit in diesen Prozess einbezogen wird. Große und kleine Städte können sich darum bewerben, dass der mobile Bus eine gewisse Zeit lang bei ihnen aufgestellt wird. Der jeweilige Stadtrat ist dafür verantwortlich, die Transport- und Installationskosten aufzubringen. Das bedeutet, dass die Bürger sich aktiv dafür entscheiden müssen, diese Erinnerung sozusagen in ihre Stadt einzuladen, wo sie dann bleibt, bis von einer anderen Kommune 84 | Horst Hoheisel/Andreas Knitz: Das Denkmal der grauen Busse. In: Andreas Schmauder/ Paul-Otto Schmidt-Michel/Franz Schwarzbauer (Hrsg.): Erinnern und Gedenken. Das Mahnmal Weißenau und die Erinnerungskultur in Ravensburg. Konstanz: UVK 2007, S. 69–74, hier S. 69. Vgl. außerdem Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat; Nowak: Widerstand, Zustimmung, Hinnahme; und Peter Eitel (Hrsg.): Ravensburg im Dritten Reich. Beiträge zur Geschichte der Stadt. Ravensburg: Oberschwäbische Verlagsanstalt 1997. Klee und Nowak zeigen, dass bereits im Februar 1940, einen Monat nachdem man in Grafeneck mit den Massentötungen begonnen hatte, erste Gerüchte in der Bevölkerung kursierten. Klee erwähnt außerdem, dass Straßenarbeiter – wie bei einem Trauerzug – ihre Hüte abnahmen, wenn die grauen Busse vorbeifuhren, und dass die Familien der Opfer in manchen Fällen zwei Urnen statt einer erhielten.

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die zur Fortsetzung der Reise nötigen finanziellen Mittel aufgebracht wurden. Das kann viele Monate in Anspruch nehmen, und ein Ende der Reise ist nicht abzusehen. Ursprünglich war geplant, den zweiten Bus als Träger der regionalen Erinnerung in Baden-Württemberg zu behalten und mit ihm all jene Orte aufzusuchen, von denen aus Patienten nach Grafeneck deportiert wurden. Doch schon im ersten Jahr wurde die Initiative Gedenkort T4 in Berlin auf das bewegliche Denkmal aufmerksam und schlug vor, den Bus in der Tiergartenstraße aufzustellen. Er „parkte“ dann dort ein Jahr lang, vom Januar 2008 bis zum Januar 2009 vor dem Gebäude der Berliner Philharmonie, dessen Grundriss sich mit dem jener Villa überlappt, in der die zentrale Verwaltung des „Euthanasie“-Programms untergebracht war.85 Hoheisel und Knitz wurden im Anschluss an diese Aktion von Anfragen geradezu überflutet. Orte aus ganz Deutschland, Österreich und Polen wollten das mobile Denkmal in Innenstädte, zu Museen und an andere mit der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ verbundene Plätze holen.86 Wenn der Bus in die nächste Stadt gebracht wird, bleiben manchmal ein Betonsockel und eine kleine Informationstafel zurück (Abb. 4). Mit dem leeren Sockel konfrontierte Passanten müssen das Denkmal aus ihrer Erinnerung heraus selbst rekonstruieren. Das Denkmal der grauen Busse hat einen Schneeballeffekt: Nicht nur müssen lokale Initiativen, Organisationen und Interessengruppen zusammenarbeiten, um den Besuch des Denkmals zu organisieren und basispartizipatorisch zu finanzieren, oft gibt das Ganze zudem den Anstoß zu weitere Formen der Erinnerungsarbeit, etwa Konferenzen, Filme, Schulprojekte, Gottesdienste und Forschungsarbeiten zu einzelnen Opfern oder Tätern. So erneuert sich der Prozess des Gedenkens 85 | Gedenkort T4 ist eine Organisation, die 2010 gegründet wurde, mit dem Ziel, in der Tiergartenstraße 4, der ehemaligen Zentrale des NS-„Euthanasie“-Programms, einen Lern- und Gedenkort zu errichten. Die Errichtung dieser Gedenkstätte begann im Sommer 2013 und wurde im Herbst 2014 abgeschlossen. Seit 2011 gibt es außerdem eine virtuelle Gedenkstätte unter www.gedenkort-t4.eu, die historische Hintergrundinformationen zur „Aktion T4“ zugänglich macht sowie Biographien der Opfer in vier Sprachen. Der Bau des Gedenkorts T4 mitten in Berlin ist ein wichtiger Schritt hin zur Integration der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ in die deutsche Gedenklandschaft. Vgl. Stefanie Endlich: Erinnerung im Stadtraum, http://www.gedenkort-t4.eu/de/zukunft/erinnerungsformen-t4 (letzter Zugriff: 24. August 2017); Annette Hinz-Wessels: Tiergartenstraße 4.

86 | Unter den weiteren Stationen der noch nicht beendeten Reise des Busses waren bisher Brandenburg an der Havel, Stuttgart, Neuendettelsau, Pirna-Sonnenstein, Köln, Zwiefalten, Grafeneck, München, Poznań (Polen), Reichenau, Braunschweig und Winnenden. Vgl. hier auch Horst Hoheisel/Andreas Knitz: „Das Denkmal der Grauen Busse. Ein offener Prozess“, in: dies.: Das Denkmal der Grauen Busse, S. 8–21, hier S. 20. Siehe außerdem Thomas Müller/Paul-Otto Schmidt-Michel/Franz Schwarzbauer (Hrsg.): Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit – Das Denkmal der Grauen Busse. Zwiefalten: Psychiatrie und Geschichte 2017.

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Abbildung 4: Horst Hoheisel (links) und Andreas Knitz (rechts) beim Aufstellen des zweiten Denkmalbusses auf dem Schlossplatz in Stuttgart, 2009

Foto: Peter M. Knittel

immer wieder und aus den lokalen Initiativen entsteht ein breites Netzwerk, das sich letztlich über ganz Deutschland und darüber hinaus erstreckt.87 Das Denkmal der grauen Busse ist somit nicht nur außerordentlich eindrücklich, sondern auch ein äußerst erfolgreiches Modell der aktiven Erinnerungsarbeit, und so ist es mittlerweile ein Schlüsselsymbol der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ geworden. Ganz ähnlich ist Gunter Demnigs Stolpersteine-Projekt darauf angewiesen, dass Einzelpersonen und Gruppen beschließen, die Erinnerung an individuelle Opfer der NS-Verfolgung zu bewahren und einen der mit Messing beschlagenen Pflastersteine in Auftrag zu geben, auf denen der Name und der Todestag des jeweiligen Opfers eingraviert werden. Diese Steine werden direkt vor dem Haus, in dem die betreffende Person gelebt hat, in den Asphalt eingelassen. Während Passanten nur im Vorübergehen über diese Steine ‚stolpern‘, werden die heutigen Bewohner des betreffenden Gebäudes kontinuierlich und auf unheimliche Weise an die Geschichte dieses Gebäudes erinnert. Die Stolpersteine waren ursprünglich als ein auf Köln und Berlin beschränktes Kunstprojekt geplant, haben aber mittlerweile einen so hohen Bekanntheitsgrad erreicht, dass Demnig (von dem sie nach wie vor graviert und eingesetzt werden), die vielen Nachfragen kaum bewäl87 | Vgl. Hoheisel/Knitz: Ein offener Prozess, S. 8–20; Endlich: Denkmal in Bewegung; sowie dies.: „Graue Busse“ in Ravensburg und unterwegs.

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tigen kann. Bis April 2017 platzierte er mehr als 61.000 Steine in über 1.100 Städten in Deutschland und 20 weiteren Ländern in Europa. Die Wartezeit beträgt fast ein Jahr.88 Das Gedenkprojekt umfasst alle Gruppen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden: Juden, Antifaschisten, Jehovas Zeugen, homosexuelle Menschen, Sinti und Roma sowie Opfer der NS-„Euthanasie“. Da die Steine von Angehörigen und Interessengruppen in Auftrag gegeben werden, wird die Entscheidung, an wen erinnert werden soll, weder von Demnig noch von einer anderen zentralen Institution getroffen. Bis auf kleinere Variationen in den Gravuren sehen alle Steine gleich aus.89 Da die Kosten pro Stein 120 Euro betragen, sind sie selbst für kleine Gruppen oder Einzelpersonen erschwinglich. Wenn der Erfolg eines Mahnmals sich an den Debatten und Dialogen, den Gedenk- und Bildungsprojekten bemisst, die es hervorbringt, dann haben sich das bewegliche Denkmal der grauen Busse und die Stolpersteine als außerordentlich effektiv erwiesen: Sie rufen den Menschen die vergessene und verdrängte Geschichte ihrer unmittelbaren Umgebung – wieder – ins Bewusstsein. Ganz entscheidend ist hier, dass in beiden Fällen die Bevölkerung mit dem Erinnern beauftragt wird. Beim Denkmal der grauen Busse ist dies buchstäblich der Fall: Wenn nur ein leerer Betonsockel übrig ist, weil der Bus an den nächsten Ort gebracht wurde, ist es an den Passanten, das Mahnmal mithilfe der eigenen Vorstellungskraft zu rekonstruieren. Aber auch das Stolpersteine-Projekt hat vielfältige Formen sozialen Engagements zur Folge, da es Gedenk- und Dokumentationsprojekte anstößt, die noch länger Bestand haben. Die Stolpersteine sind wie das Denkmal der grauen Busse ein dezentrales und gleichzeitig lokales Mahnmal, verweisen aber zugleich immer auch auf die nationale und transnationale Signifikanz der Erinnerung an den Holocaust.90 Beide sind Teil eines größeren Mosaiks der NS-„Euthanasie“-Erinnerung, zu dem auch Grafeneck und verschiedenste Gedenkprojekte und -veranstaltungen gehören, von denen ich einige in diesem Kapitel beschrieben habe. Ein wichtiges Charakteristikum dieses Erinnerungskomplexes ist daher, dass er nicht hegemonial, sondern rhizomatisch ist: Neben Orten wie der Gedenkstätte 88 | Seit Januar 2015 wird das Stolpersteine-Projekt organisatorisch von der Stiftung – Spuren – Gunter Demnig geleitet; vgl. stolpersteine.eu. (Letzter Zugriff: 24. August 2017).

89 | Vgl. stolpersteine.eu. Mittlerweile gibt es auch sogenannte Stolperschwellen, die an Orten verlegt werden, wo hunderte oder gar tausende Stolpersteine verlegt werden müssten, zum Beispiel an Orten der Zwangsarbeit oder der Zwangssterilisation.

90 | Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Demnigs Projekt findet sich bei Michael Imort: „Stumbling over the Past. The Dialectics of Using Engraved Paving Stones to Memorialise Individual Victims of the Holocaust“, in: Bill Niven/Chloe Paver: Memorialization in Germany Since 1945. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 233–242. Außerdem wurden in diesem Zusammenhang mehrere Bücher veröffentlicht, in denen die zuvor unbekannten Lebensgeschichten von Opfern erzählt werden, darunter auch Marlies Meckel: Den Opfern ihre Namen zurückgeben. Stolpersteine in Freiburg. Freiburg: Rombach 2006. 2008 kam der Dokumentarfilm Stolperstein hinzu (Regie: Dörte Franke).

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Grafeneck, die den 10.654 dort ermordeten Opfern gewidmet ist, sind vor allem auch die Beiträge einzelner Privatpersonen wichtig, mit denen versucht wird, die Geschichte und Identität individueller Opfer zu dokumentieren, und genau das macht diese Erinnerung so dynamisch und vielstimmig. Ein Paradebeispiel für die Vielfalt und Intermedialität dieses Erinnerungskomplexes ist der Fall der in Grafeneck ermordeten Anna Lehnkering, deren Nichte Sigrid Falkenstein ihre Geschichte mit großem persönlichem Einsatz rekonstruiert hat. 2004 veröffentlichte Falkenstein eine dem Gedenken an ihre Tante gewidmete Website. Daraufhin wurde eine von Annas Geschichte inspirierte Kunstinstallation in der Klinik, aus der sie deportiert wurde, in eine Dauerausstellung aufgenommen. Annas Geschichte wird außerdem im Geschichtslehrbuch erwähnt, das in ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen in Gymnasien verwendet wird, und vor ihrem ehemaligen Haus in Mülheim an der Ruhr wurde ein Stolperstein verlegt (Abb. 5). Im Jahr Abbildung 5: Der Stolperstein zum Gedenken an Anna Lehnkering am Tag seiner Verlegung in Mülheim an der Ruhr im April 2009

Foto: Arbeitskreis Stolpersteine Mülheim an der Ruhr

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2012 veröffentlichte Sigrid Falkenstein die Biographie Annas Spuren. Ein Opfer der NS-„Euthanasie“. Durch ihren unermüdlichen Einsatz ist Sigrid Falkenstein zu einer der prominentesten Repräsentanten der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ in Deutschland geworden und ihr bemerkenswert erfolgreiches Buch wird an Schulen im ganzen Land im Unterricht verwendet. All das ist ein Indiz dafür, dass diese Erinnerung langsam von den Rändern ins Zentrum der deutschen Erinnerungskultur eindringt.91 Außerdem wird hier deutlich, wie stark Literatur an Entstehen und Entwicklung dessen beteiligt sein kann, was ich hier einen Erinnerungsort nenne. Ich werde im zweiten und dritten Kapitel genauer auf diesen Punkt eingehen, will nun aber ein weiteres Mal auf die Gedenkstätte Grafeneck zurückkommen und darauf, warum sie für das Unheimliche in der Geschichte emblematisch ist.

A uf der anderen S eite des S piegels : G r afeneck als H e terotopie Wir haben nun gesehen, wie die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ historisch und in der Forschung marginalisiert wurde und inwiefern die Auseinandersetzung mit diesem Thema uns zwingt, neu darüber nachzudenken, welche Bedeutung der Holocaust in der heutigen Gesellschaft hat und wie es um das Holocaust-Gedenken steht. Die Beschäftigung mit der Erinnerung an das „Euthanasie“-Programm macht deutlich, dass der Holocaust in sich auch multidirektional ist und sich aus einer Vielzahl heterogener, untereinander verknüpfter Elemente zusammensetzt. Ausgehend von Rothbergs theoretischer Ausarbeitung des Begriffs bedeutet Multidirektionalität im Wesentlichen, dass selbst historisch oder geographisch disparate Erinnerungskomplexe sich wechselseitig befruchten und verstärken können. Mit wachsender Akzeptanz der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ wird die strenge Trennlinie zwischen ihr und dem Holocaust in der deutschen Gedenklandschaft, die über viele Jahre zur Marginalisierung dieser Erinnerung beigetragen hat, zunehmend unhaltbar. Es kommt zu einer Annäherung der beiden Diskurse, in deren Rahmen vorhandene Gedenkformen und -muster entlehnt und umgestaltet werden und auch neue entstehen, die dann wiederum in den dominanten Diskurs eingespeist werden können. Ein besonders wichtiger Aspekt der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ ist, dass sie stets auch den Blick darauf lenkt, welche Stellung behinderte und psychisch kranke Menschen in unserer heutigen Gesellschaft haben. Und genau das macht Grafeneck zu einem besonders interessanten Fall: Die Auseinandersetzung mit der Erinnerung an das „Euthanasie“-Programm und die Zielsetzung ihrer Integration in den Holocaust-Gedenkdiskurs kann nicht vom Umgang mit den Bewohnern 91 | Vgl. zu Falkenstein auch Susanne C. Knittel: „Beyond Testimony. Nazi Euthanasia and the Field of Memory Studies“, in: Holocaust in History and Memory 5 (2012), S. 85–101.

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des Pflegeheims und der Frage ihrer gesellschaftlichen Integration abgekoppelt werden. Das beste Beispiel dafür, was Grafeneck als Mahnmal leisten kann – mit anderen Worten, der Aspekt des Imperativs „Nie Wieder!“ –, ist die Integrationsarbeit der Samariterstiftung. Mit dem Schlosscafé und einer Konzertreihe ist Grafeneck für lokale Künstler ein attraktiver Veranstaltungsort und Treffpunkt für die Menschen in der Region; freiwillige Helfer organisieren Ausflüge und Veranstaltungen mit örtlichen Sportvereinen mit den Bewohnern. Besonders wichtig sind auch die in der näheren Umgebung gelegenen integrativen Einrichtungen, in denen die Bewohner von Grafeneck arbeiten. Grafeneck trägt als Teil eines größeren Netzwerks dazu bei, künftigen Generationen etwas über die Ursprünge der „Endlösung“, über Toleranz und über soziales Engagement nahezubringen. Es hat wenig mit jenen konservierten traumatischen Orten gemein, die in Aleida Assmanns Worten „zwischen Authentizität und Inszenierung, zwischen Retention und Rekonstruktion“ existieren.92 Grafeneck ist ein dynamischer, lebendiger Gedenkort die uns anregt, bestehende Ansichten dazu, wie Gedenken stattfinden sollte, neu zu überdenken. Während wir es bei stärker monolithischen Gedenkstätten mit der künstlerischen Vision eines einzelnen Architekten oder Gestalters zu tun haben (etwa in der von Herbert Friedl vollständig neu gestalteten Gedenkstätte Hartheim), ist Grafeneck eher flickwerkartig aus heterogenen Komponenten zusammengestückelt, die von vielen Parteien zusammengetragen wurden. Das Fehlen eines einheitlichen Narrativs könnte man als Problem kritisieren, aber andererseits spiegelt dies die Auseinandersetzung der Umgebung mit der Gedenkstätte authentisch wider. Zudem könnte eine Anlage, die wie Grafeneck als Heim für Menschen mit Behinderungen genutzt wird, die mit einer umfassenden künstlerischen Umgestaltung einhergehenden unzähligen Störungen ohnehin wohl kaum verkraften. Und letztlich ermöglicht es gerade dieser Flickwerkeffekt den Besuchern, Einblick in jene komplexen Prozesse zu gewinnen, die mit Erinnerungsarbeit verbunden sind: Neue Bauelemente ersetzen ältere nicht, sondern ergänzen diese und fungieren so im Grunde als Gegendenkmal (zum Beispiel wird die Tafel, die 1982 auf dem Friedhof angebracht wurde, von der aus dem Jahr 1985 ergänzt). Weil also die für verschiedene Phasen des Gedenkens typischen Verzerrungen und Auslassungen sich in Grafeneck auf diese Weise niedergeschlagen haben, verkörpert die Gedenkstätte im wahrsten Sinne des Wortes die Geschichte ihrer eigenen Erinnerungsarbeit. Ganz wesentlich ist aber, dass die ernste Kontemplation der Vergangenheit, um die es den Besuchern vielleicht zu tun war, dort von einer lebendigen, geschäftigen Gegenwart unterbrochen wird. Durch die Konfrontation mit dem Alltag der Bewohner werden die Besucher gezwungen, sich mit dem Unbehagen auseinanderzusetzen, das Begegnungen mit behinderten Menschen – möglicherweise – bei vielen auslösen, nicht zuletzt, wenn die eigenen Eltern oder Großeltern die 92 | Assmann: Der lange Schatten, S. 224.

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hier verübten Verbrechen schweigend zuließen (oder sogar selbst Täter waren). Zudem ist in Grafeneck Vergangenheit auf eine andere und unmittelbarere Weise gegenwärtig als in anderen Gedenkstätten. Die Präsenz der Pflegeheimbewohner veranlasst dazu, darüber nachzudenken, was es bedeutet, an einem Ort zu leben, der seine eigene grausame Geschichte kontinuierlich in Erinnerung ruft. Grafeneck ist mit anderen Worten ein recht ungewöhnliches Beispiel dafür, was Michel Foucault eine Heterotopie nennt: ein Alternativ- oder Gegenraum.93 Die abgeschiedene Lage Grafenecks und die Tatsache, dass der Ort zugleich eine psychiatrische Einrichtung und eine Gedenkstätte ist, sind die offensichtlichsten Gründe, warum der Begriff der Heterotopie hier passt. Bei der Gründung des Pflegeheims 1929 ging die Samariterstiftung davon aus, dass diese Abgeschiedenheit der Gesundheit der Bewohner förderlich sei. Diese Lage kommt aber zweifelsohne zugleich einer allgemeinen Tendenz entgegen, Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen von der allgemeinen Öffentlichkeit abzusondern und sie zu isolieren – ein Thema, mit dem sich Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft befasst, in dem er auch erklärt, inwiefern psychiatrische Einrichtungen Heterotopien sind.94 Daneben gibt es weitere, weniger offensichtliche Gründe, die dafür sprechen, Grafeneck als Heterotopie zu begreifen. Aufgrund der doppelten Nutzung überlagern sich in Grafeneck „an einem einzigen Ort mehrere Räume, [...] die an sich unvereinbar sind“:95 die Vergangenheit und die Gegenwart, das Authentische und das Konstrukt, das Historische und das Soziale, die Öffentlichkeit und die Privatsphäre. Doch das eindrücklichste Beispiel einer für die Analyse von Grafeneck relevanten Heterotopie ist zugleich das alltäglichste: der Spiegel. Foucault schreibt: Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne, meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.96

93 | Michel Foucault: „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/Heide Paris (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1992, S. 34–46.

94 | Im dritten Kapitel gehe ich näher auf Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft ein. 95 | Foucault: Andere Räume, S. 42. 96 | Ebd., S. 39.

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Natürlich fällt generell jede Gedenkstätte und jede psychiatrische Einrichtung unter Foucaults Begriff der Heterotopie,97 ich möchte aber an dieser Stelle die Analogie des Spiegels ein wenig weiter verfolgen, um zu verdeutlichen, inwiefern Grafeneck auf besondere Weise unheimlich ist. Ein entscheidender Punkt hierbei ist die Fähigkeit eines Spiegelbilds, die sich betrachtende Person „mit dem ganzen Umraum“ zu verbinden, wobei dieser Raum real und irreal zugleich wird. Das ist zweifellos eine gute Beschreibung von Gedenkstätten, in denen Besucher vermittels authentischer Strukturen und Artefakte – mithilfe „antäischer Magie“, könnte man auch sagen – in eine nicht länger existierende Erinnerungslandschaft versetzt werden. Aber in Grafeneck hat das Fehlen solcher Strukturen, kombiniert mit der aktuellen Nutzung als Wohn- und Pflegeheim zur Folge, dass die Art und Weise, wie Besucher sich mit ihrer Umgebung verbunden fühlen, letztlich eine sehr viel komplexere Dynamik hat. Einerseits sehen sie sich im Kontext der schrecklichen Dinge, die dort in der Vergangenheit geschehen sind, andererseits inmitten der Realität des heutigen Grafeneck und seiner Bewohner. In diesem „Spiegelbild“ überlagern sich also Vergangenheit und Gegenwart dieses Orts, und genau mittendrin stehen die Besucher, die über ihre eigene Identität im Kontext dieser unheimlichen Umgebung reflektieren müssen. Was verbindet sie mit dem, was 1940 in Grafeneck geschah, und in welchem Verhältnis stehen sie zu dem, was dort heute geschieht? Zurückgespiegelt werden eine Vielfalt von Gegenbildern zum vertrauten Alltag, einige aus der Vergangenheit, andere aus der Gegenwart. Wenn Grafeneck als unbequem oder irritierend erlebt wird, dann hängt dies damit zusammen, dass man sich einen Augenblick lang mit diesen Bildern identifiziert oder sich sogar in sie hineinversetzt wähnt. Vielleicht kann man Grafeneck sogar als Spiegelsaal verstehen, in dem die Besucher mit verschiedenen Versionen ihrer selbst konfrontiert werden und in dem sich Gegenräume auftun, die sie für einen kurzen Moment „dorthin“ versetzen, auf die andere Seite des Spiegels, und sie so dazu zwingen, die eigene Identität und den Raum, in dem ihr normales Alltagsleben stattfindet, zu hinterfragen, wodurch er unheimlich wird, und sei es nur für einen kurzen Moment. Für die Samariterstiftung war die Abgeschiedenheit Grafenecks ein Faktor, der sich positiv auf das Wohlbefinden der Bewohner auswirken sollte. Aus der Perspektive der Nationalsozialisten war der Ort aus demselben Grund ideal geeignet, ihr Tun vor der Bevölkerung zu verbergen. Heute hat die Abgeschiedenheit zur Folge, dass es den Menschen in der Umgebung allen Integrationsversuchen zum Trotz allzu leicht fällt, Grafeneck zu ignorieren oder zu vermeiden – die Gedenkstätte, die damit verbundenen Erinnerungen und auch die aktuelle soziale Funktion des Orts. Auch wenn die Anwohner in den letzten Jahren über zahlrei97 | Vgl. zum Beispiel Susanne Buckley-Zistels hervorragende Diskussion der Gedenkstätte Hohenschönhausen als Heterotopie in „Detained in the Memorial Hohenschönhausen: Heterotopias, Narratives, and Transitions from the Stasi Past in Germany“, in: dies./Stefanie Schäfer (Hrsg.): Memorials in Times of Transition. Cambridge: Intersentia 2014, S. 97–124.

Kapitel 1

che Projekte und Veranstaltungen in die Erinnerungsarbeit eingebunden wurden, könnte man an Grafeneck als Gedenkstätte diese Abgeschiedenheit leicht kritisieren. Gehört es nicht zu den Aufgaben einer Gedenkstätte, ins Auge zu fallen, sichtbar zu sein, ein Vermeiden unmöglich zu machen? Andererseits muss aber berücksichtigt werden, dass Grafeneck eben nicht nur eine Gedenkstätte ist, und dass die abgelegene und idyllische Lage nach wie vor für die Bewohner von Vorteil ist. Direktor Markus Mörike zufolge hat die Wohn- und Pflegeeinrichtung eine lange Warteliste und die Lage ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender Faktor. Während Grafeneck also bleiben muss, wo es ist, hat es im Denkmal der grauen Busse eine Art mobiles Gegenstück gefunden, das ebenfalls mit der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit spielt. Das Mahnmal taucht als Störelement in der vertrauten Umgebung von Straßen und Plätzen verschiedenster Städte auf. Und jedes Mal, wenn dieser Erinnerungsträger dann wieder in Bewegung versetzt wird, kommt es zu einer weiteren Unterbrechung: Die großen schweren Tieflader, auf denen die Einzelteile des Buses transportiert werden, und die sich langsam zum nächsten Ziel bewegen, behindern den Verkehr auf den Straßen und Autobahnen des Landes.98 Das Denkmal der grauen Busse kehrt die Eckpunkte der Gedenkerfahrung in Grafeneck gewissermaßen um, und genau das macht es zu einer perfekten Ergänzung. Ein Betonkoloss drängt sich unübersehbar in unseren Alltag hinein: Hier nimmt die Vergangenheit in der Gegenwart Gestalt an und steht massiv im Weg. Wenn wir uns hingegen zu einem Besuch in Grafeneck entschließen, sind wir selbst die Eindringlinge und stoßen bei unserer Suche nach der Vergangenheit auf eine potenziell verunsichernde Gegenwart. Ich habe in diesem Kapitel die Geschichte des Gedenkens in Grafeneck in den Blick genommen und damit die kontinuierlich im Wandel begriffene Position der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ innerhalb der deutschen Gedenklandschaft sichtbar gemacht. Aufgrund seiner heterotopischen Beschaffenheit ist Grafeneck ein Musterbeispiel des Gegendenkmals. Der Ort setzt sich aus einem bunten und dynamischen Spektrum nicht-hegemonialer Erinnerungselemente zusammen und ist damit in unterschiedlicher Hinsicht ein Spiegel der vielstimmigen und demokratischen Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ insgesamt, die es uns als Gegenerinnerung zum vorherrschenden Holocaust-Diskurs ermöglicht, uns kritisch mit eben jenem Diskurs auseinanderzusetzen. Für die aktuellen Paradigmen der Memory Studies stellt diese Erinnerung eine besondere Herausforderung dar, was dazu beigetragen hat, sie bis heute in diesem Forschungsbereich zu marginalisieren. Um uns angemessen mit ihr auseinandersetzen zu können, 98 | Vgl. Horst Hoheisel/Andreas Knitz: „Das Denkmal der grauen Busse“, in: Andreas Schmauder/Paul-Otto Schmidt-Michel/Franz Schwarzbauer (Hrsg.): Erinnern und Gedenken. Das Mahnmal Weißenau und die Erinnerungskultur in Ravensburg. Konstanz: UVK 2007, S. 69–74, hier S. 71.

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müssen daher die Begriffe und Methoden der Memory Studies neu kalibriert werden und das Forschungsfeld muss sich weiteren, anders gearteten Quellen öffnen. Weil die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ im Holocaust-Diskurs randständig geblieben ist, kann nicht von einer eigenen, einheitlichen Erinnerung daran gesprochen werden. Der Erinnerungsort an die NS-„Euthanasie“ im weiteren Sinne besteht ebenso wie die Gedenkstätte Grafeneck aus vielen disparaten und zunächst zusammenhanglos erscheinenden Elementen. Um ihn zu erforschen, muss man zunächst gewissermaßen die Vorkommnisse dieser Erinnerung kartographieren. Ein wichtiges Reservoir ist hier die Literatur: Genau wie das Denkmal der grauen Busse können literarische Werke Träger ortsspezifischer oder sogar persönlicher Erinnerungen sein und diese in einen allgemeineren Zusammenhang stellen. Darum werde ich in den nächsten beiden Kapiteln einige Beispiele dafür, wie die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ in der deutschen Literatur dargestellt und bewahrt worden ist, genauer untersuchen.

Kapitel 2

Die Überwindung des Schweigens I: Der weise Narr Die Konstituierung des Wahnsinns als einer Geisteskrankheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und läßt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, die ein wenig an Gestammel erinnern und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, in Vergessen versinken. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können.1

Im Januar 1979 wurde die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss zum ersten Mal im westdeutschen Fernsehen gezeigt. Heute gilt dieses Datum als Schlüsselmoment im langen Ringen um die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit des Landes. Bereits in den USA, wo ein knappes Jahr zuvor 120 Millionen Zuschauer den Vierteiler verfolgt hatten, war eine leidenschaftliche Debatte darüber entbrannt, ob man mit der Serie dem heiklen Thema gerecht geworden sei. Auch in Deutschland wurde die Serie bereits vor der Ausstrahlung wegen ihrer angeblichen Trivialisierung und Kommerzialisierung des Schicksals der Juden während des Nationalsozialismus kritisiert. Eine sentimentale, melodramatische Popularisierung komplexer historischer Ereignisse, so waren sich Intellektuelle und Journalisten einig, könne den Deutschen unmöglich dabei helfen, ein angemessenes Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte zu entwickeln.2 Zu ihrer vollkommenen Überraschung war 1 | Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 8. [Hervorh. im Original]

2 | Vgl. zu Diskussionen in der Kritik vor und nach der Ausstrahlung von Holocaust: Peter Märthesheimer/Ivo Frenzel (Hrsg.): Im Kreuzfeuer. Der Fernsehfilm „Holocaust“. Eine Nati-

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die Ausstrahlung von Holocaust allerdings ein überwältigender Erfolg und löste eine Vielzahl hochemotionaler Reaktionen aus, mit der niemand gerechnet hatte. Die Bedeutung dieses Fernsehereignisses kann kaum hoch genug bewertet werden – zumindest im Hinblick auf die Presselandschaft, in der die zuvor als „amerikanischer Kitsch“ verspottete Serie nun als Wendepunkt der Nachkriegsgeschichte gefeiert wurde. Der österreichische Philosoph und Dichter Günther Anders sprach von einer „Stunde der Wahrheit“ und meinte, dass die Serie „wohl das psychisch am tiefsten einschneidende Ereignis der Nach-Hitler-Geschichte Deutschlands“ gewesen sei.3 Ob diese Feststellung nun zu weit geht oder nicht, sicher ist, dass die von der Serie ausgelöste Katharsis als Kulmination einer seit 1968 zunehmenden tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Transformation in Westdeutschland gesehen werden muss, in deren Rahmen sich die Öffentlichkeit mit der finsteren Vergangenheit Deutschlands auseinandersetzte.4 Mehr als 20 Millionen Zuschauer verfolgten die Serie, und mehr als 25.000 Zuschauer nahmen an den jeweils im Anschluss an die Sendung geschalteten Diskussionsrunden teil oder schrieben Briefe an den Fernsehsender WDR. Zwar sprachen einige Zuschauer von „Nestbeschmutzung“ und plädierten dafür, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen, aber die überwältigende Mehrheit gab ihrer großen Erschütterung, Hilflosigkeit und Scham angesichts der von den Deutschen begangenen Verbrechen Ausdruck. Dabei fällt auf, dass es gerade die mit Pathos aufgeladene Rhetorik der Serie war, die bei den Zuschauern starke emotionale Reaktionen hervorrief, wie zum Beispiel bei einer Zuschauerin, die schrieb: Bei den ersten drei Folgen war ich noch bewegt und erschüttert. Bei der vierten Folge jedoch überkamen mich Verzweif lung und Trauer so sehr, daß ich dem hemmungslosen Weinen nur schwer widerstehen konnte. Plötzlich identifizierte ich mich mit jener jüdischen Mutter. [...] In diesem Augenblick wußte ich, dass die grausamen Verbrechen [...] nicht verjähren dürfen. 5

on ist betroffen. Frankfurt a.M.: Fischer 1979; Heiner Lichtenstein/Michael Schmid-Ospach (Hrsg.): Holocaust. Briefe an den WDR. Wuppertal: Hammer 1982; Peter Reichel: Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater. München: Hanser 2004; sowie Jens Müller-Bauseneik: „Die US-Fernsehserie ‚Holocaust‘ im Spiegel der deutschen Presse (Januar–März 1979). Eine Dokumentation“, in: Historical Social Research 30.4 (2005), S. 128–140.

3 | Günther Anders: „Nach ‚Holocaust‘ 1979“, in: Besuch im Hades. München: Beck 1996, S. 179–216, hier S. 199.

4 | Harald Schmid: „Die ‚Stunde der Wahrheit‘ und ihre Voraussetzungen. Zum geschichtskulturellen Wirkungskontext von ‚Holocaust‘“, in: Die Fernsehserie „Holocaust“. Rückblicke auf eine „betroffene Nation“. In: Sonderausgabe Zeitgeschichte-online (2004). http://www. zeitgeschichte-online.de/thema/die-fernsehserie-holocaust (Letzter Zugriff: 25. August 2017).

5 | Lichtenstein/Schmid-Ospach: Holocaust. Briefe an den WDR, S. 42.

Kapitel 2

Der Serie Holocaust war gelungen, woran frühere Versuche, die nationalsozialistischen Verbrechen darzustellen, gescheitert waren, zum Beispiel Andorra von Max Frisch (1961), Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth (1963) oder Die Ermittlung von Peter Weiss (1965), und zwar, eine landesweite Debatte über dieses Kapitel der deutschen Geschichte in Gang zu setzen. Die in Brecht’scher Tradition verfremdende und sehr formalisierte Bewältigungsdramatik jener Stücke war jedoch viel zu abstrakt, um ein breiteres Publikum zu erreichen und derartig emotionale Reaktionen hervorzurufen, was ja das erklärte Ziel der manipulativeren und melodramatischen Serie war.6 Zugleich muss man die enorme Resonanz aber auch mit der veränderten Einstellung zur deutschen Vergangenheit in Zusammenhang bringen, die damals in der Bevölkerung insgesamt zu beobachten war. Als jene Theaterstücke in den 1960er Jahren auf die Bühne kamen, geschah das in einer von Leugnung und Verdrängung geprägten Gesellschaft. Ein für den Erfolg der TV-Serie sicher entscheidender Punkt war, dass unterschiedliche Aspekte des Holocaust durch das Schicksal einzelner Mitglieder der Familie Weiss dargestellt wurden, was eine emotionale Identifikation erleichterte. Während in Theaterstücken und Dokumentarfilmen Juden meist nur als Abstraktum vorkamen, wurden sie in der Serie Holocaust von einer gut integrierten Familie repräsentiert. Weil also die jüdischen „Anderen“ als im Grunde gleich, als „normalisiert“ dargestellt wurden, konnten sie von einem breiten deutschen Publikum endlich als Opfer wahrgenommen und dadurch betrauert werden. Das Schicksal jedes Mitglieds der Familie Weiss ist mit einer bestimmten Phase der „Endlösung“ assoziiert: Die Eltern werden ins Warschauer Ghetto deportiert und sterben schließlich in Auschwitz. Ihr ältester Sohn Karl ist vor seinem Tod zunächst in Buchenwald und dann in Theresienstadt inhaftiert, und ihre Tochter Anna, die nach einer Vergewaltigung durch SS-Männer traumatisiert ist, wird ins „Sanatorium Hadamar“ abtransportiert und dort im Rahmen des „Euthanasie“-Programms vergast. Nur der jüngste Sohn Rudi überlebt: es gelingt ihm, unterzutauchen und sich dem jüdischen Widerstand anzuschließen. Das Erfolgsrezept von Holocaust beruht auf der emotionalen Identifikation der Zuschauer mit dem individualisierten Schicksal der Familie Weiss. Diese Identifikation bleibt aber ausschließlich auf diese individualisierten Opfer beschränkt, was im Zusammenhang mit Annas Tod im Rahmen des „Euthanasie“-Programms besonders deutlich wird. Hier wird suggeriert, dass Annas tragisches Schicksal Mitgefühl verdient, weil ihr Gemütszustand nicht Folge einer erblich bedingten Geisteskrankheit oder einer irgendwie gearteten Behinderung ist, sondern Folge eines Traumas ist, das von den Nationalsozialisten direkt verschuldet wurde. Die anderen Opfer Hadamars werden dagegen als nicht näher ausdifferenzierte Masse von Figuren dargestellt, die alle von unübersehbaren Anzeichen einer 6 | Vgl. zum Umgang westdeutscher Theaterautoren mit dem Holocaust Andreas Huyssen: „The Politics of Identification. ‚Holocaust‘ and West German Drama“, in: New German Critique 19 (1980), S. 117–136.

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Behinderung oder Krankheit gezeichnet sind und die weder über Subjektivität noch eigene Handlungsfähigkeit zu verfügen scheinen. Die Szenen, in denen Annas Tod in Hadamar zu sehen ist, wurden damals in der öffentlichen Debatte vollkommen ignoriert. Zwar erwähnen einige Rezensenten die Tatsache, dass ein Mitglied der Familie Weiss im Zuge des „Euthanasie“-Programms ermordet wird, jedoch werden weder die erheblichen historischen Ungenauigkeiten gerade dieser Szenen kommentiert noch wird deren Bildsprache eingehend analysiert. Im ersten Teil dieses Kapitels will ich mich darum genauer mit diesen gewissermaßen vergessenen Szenen befassen. Am Beispiel der Figur der Anna Weiss lassen sich bestimmte Probleme, Ambivalenzen und Fragen, die mit der Darstellungen der NS-„Euthanasie“ verbunden sind, gut verdeutlichen. Außerdem will ich zeigen, dass diese Szenen allgemeinere Fragen zur Darstellung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten aufwerfen: Fragen der Marginalisierung, Stereotypisierung und Stigmatisierung sowie des Zusammenspiels von ästhetischen und ethischen Gesichtspunkten. Im zweiten Teil des Kapitels werde ich dann auf einige Beispiele aus der Literatur vor allem aus den 1950er Jahren eingehen, in denen die NS-„Euthanasie“ als ein Aspekt unter vielen der Erinnerung an den Nationalsozialismus thematisiert wird. Typisch für Werke dieser Zeit ist das Auftauchen einer geistig kranken oder behinderten Figur, die dazu dient, Kontinuitäten zwischen der NS-Herrschaft und der Nachkriegsgesellschaft aufzuzeigen. Als paradigmatische Beispiele werde ich zwei Kurzgeschichten von Heinrich Böll bzw. von Wolfdietrich Schnurre vorstellen sowie die Romane Sansibar oder der letzte Grund (1957) von Alfred Andersch und Horns Ende (1985) von Christoph Hein. In diesen Werken tauchen Figuren auf, die wegen einer Behinderung oder einer psychischen Krankheit ausgegrenzt oder verfolgt werden, deren Anderssein ihnen aber zugleich besondere Gaben verleiht, durch die sie in der Lage sind, die Machenschaften anderer zu durchschauen, Gefahren vorauszuahnen und die Handlung kritisch zu kommentieren. In diesen auf den ersten Blick positiven und ermächtigenden Erzählungen spielen die behinderten Figuren die Rolle eines weisen Narren – eines Helfers, der dem nicht körperlich oder kognitiv behinderten Protagonisten zu mehr menschlicher Reife und Einsicht verhilft. Im Englischen habe ich für diese Figur den Begriff „disabled enabler“ eingeführt. Obwohl diesen behinderten und psychisch kranken Nebenfiguren also eine besondere Macht oder Kraft zugeschrieben wird, bleibt die Art, wie sie dargestellt werden, letzten Endes limitierend und stereotyp, sie trägt kaum dazu bei, die Marginalisierung von Themen wie Geisteskrankheit und NS-„Euthanasie“ zu überwinden. Am Ende dieses Kapitels gehe ich dann näher auf Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959) ein, dessen kleinwüchsiger Erzähler und Protagonist nur knapp dem Tod durch das „Euthanasie“-Programm entgeht, eine Tatsache, die offensichtlich den meisten Kritikern entgangen zu sein scheint. Ein Blick in zeitgenössische Kritiken zeigt frappierende Kontinuitäten zwischen Vor- und Nachkriegsdeutschland: besonders auffällig ist die Rhetorik der Entartung und der Volksgesundheit, die einige Kritiker des Romans herauf-

Kapitel 2

beschwören. Die Blechtrommel ist das wohl berühmteste Werk der frühen deutschen Nachkriegsliteratur. Es ist daher gut geeignet, um die Diskrepanz sichtbar zu machen zwischen der Präsenz der NS-„Euthanasie“ in der Literatur und dem fast völligen Ignorieren derselben in Rezensionen und der Literaturwissenschaft. Im ersten Kapitel habe ich einen Dialog zwischen den Memory Studies und den Disability Studies angeregt, und diesen Dialog will ich hier und im nächsten Kapitel fortsetzen. Das Schweigen, das ich in diesem und dem folgenden Kapitel überwinden möchte, bezieht sich einerseits darauf, dass diese beiden Forschungsbereiche das Thema NS-„Euthanasie“ bisher übersehen oder vermieden haben; andererseits bezieht es sich auf das Schweigen der Opfer, das teilweise auf Straf- und Machtstrukturen zurückgeführt werden kann, teilweise aber auch Folge der jeweiligen Behinderung oder psychischen Krankheit ist. In Wahnsinn und Gesellschaft schreibt Michel Foucault, dass die sozialen Mechanismen, die dazu dienen, schwache, kranke oder andersartige Menschen vom Rest der Bevölkerung z abzugrenzen, zur Folge hätten, dass diese Menschen zum Schweigen gebracht werden und dass man sich weigere, ihnen eine eigene Stimme zuzugestehen. Da davon ausgegangen werde, dass psychisch kranke Menschen nicht in der Lage sind, Herr ihrer eigenen Geschichte zu sein, würden sie stattdessen zum Gegenstand von „Meistererzählungen“ wie etwa dem Psychiatriediskurs gemacht, bei denen es in hohem Maße darum ginge, eben jene Abgrenzung aufrechtzuerhalten: „Konstitutiv ist lediglich die Geste, die den Wahnsinn abtrennt, und nicht die Wissenschaft, die in der nach der einmal vollzogenen Trennung wiedereingetretenen Ruhe entsteht.“7 Vor dem Hintergrund dieses institutionalisierten Zum-Schweigen-Bringens könne vielleicht die Kunst dem Wahnsinn eine Stimme geben, schlug Foucault vor, um die Welt auf ihre Schuld aufmerksam zu machen – ihre Schuld ist, diese Anderen zum Schweigen gebracht zu haben.8 Wenn in einer Gesellschaft Lücken gelassen und Dinge verschwiegen würden, seien Künstler die ersten, die dies bemerken und thematisieren. Foucaults Geschichte des Wahnsinns als Geschichte des Zum-Schweigen-Bringens kann uns bei der Frage helfen, welche Gründe mit dafür verantwortlich sind, dass zum Thema NS-„Euthanasie“ in der Erinnerungskultur geschwiegen wird. Foucault zufolge ist die „Geste, die den Wahnsinn abtrennt“, von Ängsten motiviert: Wir distanzieren uns von behinderten oder psychisch kranken Menschen, weil wir in ihnen etwas verkörpert sehen, das jeden von uns treffen kann, etwa durch einen Unfall oder eine Erkrankung. Mit Foucault gesprochen, brechen wir den Dialog ab, der in früheren Zeiten mit dem Wahnsinn geführt wurde. Um die Verdrängungsmechanismen sichtbar zu machen, die hier am Werk sind, stellt er den uns zugänglichen rationalen Strukturen der Marginalisierung ihre vergessenen irrationalen Ursprünge gegenüber. Vor diesem Hintergrund ist im Hinblick auf die NS-„Euthanasie“ zu vermuten, dass einer Auseinandersetzung mit ihr ein 7 | Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 7. 8 | Ebd.

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doppeltes Tabu im Weg steht: Zum einen verdrängen wir beunruhigende oder ‚wahnsinnige‘ Aspekte unseres eigenen Denkens, was zur Folge haben kann, dass wir vermeiden, uns überhaupt mit dem Thema Geisteskrankheit zu befassen. Zum anderen befürchten wir, uns bei Gedankengängen zu ertappen, die denen der NS-Täter allzu ähnlich sind. Und die Angst davor, etwas Vertrautes wiederzuerkennen, macht letztlich die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ unheimlich. Obwohl mit der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Behinderungen also oft einhergeht, dass der betroffenen Person das Recht abgesprochen wird, ihrer eigenen Subjektivität Ausdruck zu verleihen und ihre eigene Geschichte zu erzählen, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass bestimmte Behinderungen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen einhergehen, die ein eigenes Erzählen unmöglich machen. Ohne dies explizit zu thematisieren, privilegiert Foucault „sprachliche“ Formen des Wahnsinns, bei denen anzunehmen ist, dass sie durch disziplinarische Strukturen zum Schweigen gebracht werden, deren Zweck es ist, die von der Gesellschaft als „Andere“ eingestuften Menschen unter Kontrolle zu halten. Dieser Fokus führt aber dazu, dass „nicht sprachliche“ Arten geistiger Behinderung, deren Schweigen nicht in demselben Maße gesellschaftlich konstruiert ist, unberücksichtigt bleiben. Michael Bérubé schreibt hierzu: „Die Dynamiken der Behinderung zwingen uns zu der Einsicht, dass es unter uns Menschen immer einige geben wird, die sich nicht selbst darstellen können, und daher dargestellt werden müssen“.9 Dass behinderte Charaktere in der Literatur so oft auf eine symbolische Funktion reduziert sind, darauf, für etwas anderes als sich selbst einzustehen, hat sicher viel mit der Wahrnehmung zu tun, dass Menschen mit bestimmten kognitiven Einschränkungen und anderen psychischen Beeinträchtigungen nicht in der Lage sind, ihre eigene Geschichte zu erzählen und daher stets nur Objekt einer Darstellung sein können.10 Doch wenn wir genauer hinschauen, so Bérubé, zeigt sich, dass kognitive Behinderungen die Frage der Erzählbarkeit und Darstellbarkeit an sich an ihre Grenzen führt: Es ist so offensichtlich, dass Bewusstsein eine notwendige Bedingung der Selbstdarstellung und der Selbstnarration ist, dass es nicht überraschen sollte, dass es verschiedene Darstellungen des beschädigten Bewusstseins gibt, die weder darauf abzielen, Moral oder Unmoral aufzuzeigen, noch Mitleid oder Horror zu erzeugen, sondern die schlicht die Möglichkeiten narrativer Repräsentation erforschen. 11

9 | Michael Bérubé: „Disability and Narrative“, in: Publications of the Modern Language Association of America (PMLA) 120.2 (2005), S. 568–576, hier S. 572.

10 | Zur symbolischen Funktion von Behinderungen in der Literatur vgl. v.a. Sharon Snyder/ David T. Mitchell: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse. Ann Arbor: University of Michigan Press 2000.

11 | Bérubé: Disability and Narrative, S. 572.

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In der Holocaustforschung und in den Memory Studies sind Fragen nach den Grenzen der Darstellbarkeit lange schon ein zentrales Thema; ebenso fest verankert ist die Privilegierung des Bedürfnisses und des Anspruchs darauf, auf entmenschlichende Erfahrungen damit zu reagieren, die eigene Geschichte zu erzählen und so den eigenen Subjektstatus zurückzugewinnen. Ein bedauerlicher Nebeneffekt dieses zutiefst humanistischen Impulses ist aber die Ausgrenzung derer, denen die zum Erzählen der eigenen Geschichte notwendigen kognitiven Fähigkeiten fehlen – und die aus genau diesem Grund zum Opfer gemacht wurden. Im dritten Kapitel gehe ich auf neuere narrative Herangehensweisen an die NS-„Euthanasie“-Erinnerung ein, die versuchen, dieser Marginalisierung mithilfe einer Art des „stellvertretenden Bezeugens“ abzuhelfen, eine Technik, für die ich im Englischen den Begriff „vicarious witnessing“ geprägt habe. Das bedeutet nicht, für einen anderen zu sprechen und sich so dessen Geschichte anzueignen, es ist vielmehr ein Versuch, ein Schweigen mit narrativen Mitteln zu überwinden. All diese Überlegungen sind untrennbar mit dem Problem der Identifikation und der Empathie verbunden. Zu Beginn dieses Kapitels habe ich die erschütternde Wirkung, die die TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss auf das westdeutsche Publikum hatte, darauf zurückgeführt, dass die Zuschauer sich mit dieser Familie identifizieren konnten. Um in dieser holistisch angelegten Darstellung auch die NS-„Euthanasie“ nicht auszublenden, fügte man den Handlungsstrang mit Annas Vergewaltigung und anschließender Einweisung in die Anstalt hinzu, anstatt von Anfang an ein Familienmitglied mit einer Behinderung oder Krankheit zu konzipieren. Diese Entscheidung erleichterte den Zuschauern offensichtlich die Identifikation; nicht zuletzt deshalb, weil Annas Schicksal allein von den Nationalsozialisten verschuldet wurde und nicht auf eine genetische Ursache zurückgeführt werden kann. Im Folgenden werde ich zwei Szenen, in denen das „Euthanasie“-Programm Thema ist, genauer untersuchen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen Mit-Leiden und Mitleid, wie sie Hannah Arendt beschrieben hat,12 von entscheidender Bedeutung für meine Interpretation.

D ie T V-S erie H olocaust

und die

NS-„E uthanasie “

Anna Weiss, dargestellt von Blanche Baker, wird zunächst als lebhafte und freimütige junge Frau gezeigt. Frustriert von den diskriminierenden Gesetzen und den Demütigungen, denen ihre Familie ausgesetzt ist, geht sie eines Abends allein aus dem Haus, ohne den sie als Jüdin kennzeichnenden Gelben Stern, den sie in einer Trotzgeste von ihrer Kleidung abgerissen hat. Auf einem abgelegenen Platz wird sie von einer Gruppe von SS-Männern bedrängt und vergewaltigt. Nach dieser traumatischen Erfahrung verschließt Anna sich gegen ihre Umwelt und wirkt 12 | Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1965.

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Abbildung 6: Anna auf dem Bus nach Hadamar. Standbild aus dem Film Holocaust

Abbildung mit Genehmigung von polyband Medien GmbH München/CBS Paramount

fast katatonisch. Ihren Kopf stets zur Seite geneigt, starrt sie stumm ins Leere, scheint niemanden mehr zu erkennen und bedeckt ihren Körper schutzsuchend mit ihren Armen. Ihre Schwägerin Inga (Meryl Streep) bringt sie zu einem Arzt, der einen Aufenthalt in Hadamar empfiehlt, das er Inga als „psychiatrische Klinik“ beschreibt. Kurz bevor eine Pflegerin Anna mitnimmt, zögert Inga ein letztes Mal und fragt den Arzt: „Tue ich auch das richtige für sie?“ Seine Antwort ist ebenso knapp wie irreführend: „Für eine erfolgversprechende Behandlung sind die Spezialisten da“.13 Nach einem Schnitt sehen wir Anna in Nahaufnahme im Bus nach Hadamar; sie schaut mit leerem Blick aus dem Fenster. Ihr Gesicht ist im durch die Seitenfenster einfallenden Licht gut zu erkennen, während die anderen Passagiere nur als unscharfe und leicht entstellte Silhouetten im Hintergrund zu sehen sind (Abb. 6). Der Bus hält vor einem weißen Gebäude inmitten eines Wäldchens; auf 13 | Die Aussage des Arztes kann in zwei Richtungen interpretiert werden, entweder als beruhigende Information für Inga, dass Anna von den besten Spezialisten behandelt werden wird, was eher unwahrscheinlich ist, weil es bedeuten würde, dass er nicht weiß, was in Hadamar geschieht, oder als heuchlerische Aussage, in der die Mörder von Hadamar als Experten bezeichnet werden. Hier klingt auch der NS-Euphemismus „Sonderbehandlung“ mit, eine verschleiernde Bezeichnung für die Vernichtung von unerwünschten Menschen.

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einem Schild steht „Sanatorium Hadamar“, und die Passagiere steigen aus: sie alle weisen deutliche Anzeichen geistiger oder körperlicher Behinderungen auf, einige mit Down-Syndrom, andere mit verschiedenen Lähmungen und Gehbehinderungen. Die Szene wird untermalt von Stöhnen und anderen unartikulierten Lauten. Alle Passagiere haben ein rechteckiges Stück Papier an ihren Jacken angeheftet, vermutlich mit ihren Personalien und einer Identifikationsnummer. Als nächstes sehen wir, wie die Patienten in einem angrenzenden Waldstück in einen Holzschuppen geführt werden. Beim Hineingehen werden ihnen die Nummern abgenommen, die Tür wird verriegelt, und schließlich wird an der Rückseite des Schuppens ein Dieselmotor angestellt. Die Kamera folgt einem Rohr, das die Abgase vom Motor in den Schuppen leitet. Einer der Ärzte blickt auf seine Uhr. Gleich anschließend wird in Großaufnahme ein Brief aus Hadamar eingeblendet, den Annas Mutter Berta (Rosemary Harris) laut vorliest: Mit großem Bedauern müssen wir Sie von dem Tod Ihrer Tochter, Fräulein Anna Weiss, in Kenntnis setzen. [...] Obwohl wir alles in unserer Macht stehende getan haben, [...] verweigerte sie die Nahrungsaufnahme und sprach auf kein Medikament an. Sie starb am 3. Juni an Lungenentzündung und Unterernährung. Im Hinblick auf die ungeklärte Lage, die im Augenblick herrscht, haben wir uns die Freiheit genommen, ihre sterblichen Überreste feuerzubestatten.

Inga sitzt neben Berta und sagt: „Vielleicht ist es besser so. Wir wissen ja nicht, ob Anna je wieder gesund geworden wäre.“ Berta antwortet: „In ihr war so viel Liebe.“ Inga beginnt zu Schluchzen. Ich habe diese Filmsequenz so ausführlich beschrieben, weil sie die Ambivalenz der pathosbeladenen Ikonographie der Serie aufzeigt und gleichzeitig die Problematik einer unreflektierten Darstellung der NS-„Euthanasie“ verdeutlicht. Anna wird inmitten einer Gruppe von Personen gezeigt, die vom Zuschauer sofort als behindert oder geistig krank identifiziert werden. Nachdem Anna zunächst von den Nationalsozialisten durch den gelben Judenstern stigmatisiert worden war, diesen dann in einem Akt der Rebellion abriss und daraufhin mit der Vergewaltigung gewissermaßen bestraft wurde, ist sie nun ein zweites Mal gekennzeichnet: durch das ihr angeheftete weiße Stück Papier mit ihren Personalien gilt sie nun als „lebensunwert“. Jedoch ist sie nur scheinbar Teil dieser Gruppe von Kranken und Behinderten, die ebenfalls durch das weiße Papierstück gebrandmarkt sind. Anna ist ein unschuldiges Opfer des wie aus dem Nichts über sie hereingebrochenen Bösen, das erste Opfer der Familie Weiss, ein Vorbote des kommenden Holocausts. Im Gegensatz zu dieser symbolhaften Figur scheinen die übrigen Deportierten zuallererst Opfer ihrer Behinderung zu sein und nur sekundär auch Opfer der Säuberungspolitik der Nationalsozialisten. Die Andersartigkeit der Kranken und Behinderten erscheint noch radikaler als Annas jüdische Identität. Sie sind durch ein sichtbares Stigma gekennzeichnet, das sie als dauerhaft behindert und somit als „unheilbar“ ausweist. Weil sie „unrettbar

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Abbildung 7: Das „BLÖD“-Abzeichen. Standbild aus dem Film Holocaust

Abbildung mit Genehmigung von polyband Medien GmbH München/CBS Paramount

verloren“ sind, erscheint ihr Tod in der Gaskammer als unvermeidlich und darüber hinaus als – vorgeblich – medizinisch begründet. Annas Tod dagegen ist ein tragischer Fall und es bleibt offen, ob sie hätte geheilt werden können. Die sichtbare Andersartigkeit der Kranken und Behinderten ruft eine gewisse Unsicherheit und Distanzierung hervor, die es dem Zuschauer erschwert, sich mit ihnen zu identifizieren. Annas Mutter und ihre Schwägerin Inga versuchen vergeblich, in ihrem Tod einen Sinn zu sehen, und sie nehmen schließlich in derselben Logik Zuflucht, der die Kranken um Anna herum zum Opfer gefallen sind: Inga gibt dieser Hilflosigkeit Ausdruck, indem sie feststellt, dass es vielleicht das Beste sei, denn „Wir wissen ja nicht, ob Anna je wieder gesund geworden wäre“. Damit akzeptiert Inga die angeblich humanitäre Absicht, mit der die Nationalsozialisten das Töten von Menschen mit angeblich unheilbaren Krankheiten rechtfertigten. Dass die TV-Serie Holocaust das „Euthanasie“-Programm überhaupt zum Thema macht, ist ohne jeden Zweifel lobenswert. Dennoch vermittelt die der Bildsprache zugrunde liegende Dissonanz zwischen Anna und den übrigen „Euthanasie“-Opfern den Zuschauern den Eindruck einer gedanklichen Abtrennung des „Euthanasie“-Programms vom Holocaust. Die Ikonographie dieser Szenen macht es dem Zuschauer unmöglich, Anna als Teil der Gruppe deportierter behinderter Menschen wahrzunehmen, weil sie die Diskrepanz zwischen Anna mit ihrer

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nachvollziehbaren, identifikationsfähigen Geschichte und den anonymen, verstörend andersartigen Behinderten beibehält. Diese Trennung von Anna und den anderen Behinderten wird bereits in einer früheren Sequenz vorbereitet, die als Vorgriff auf Annas Schicksal fungiert. Auch diese Szene ist als Versuch der Einbeziehung der „Euthanasie“-Opfer konzipiert, doch ist sie auf ganz ähnliche Weise problematisch. Wir sehen, wie Annas Bruder Karl (James Woods) direkt nach seiner Ankunft im KZ Buchenwald von seinem Mitgefangenen Weinberg (Cyril Shaps) mit der Lagerhierarchie vertraut gemacht wird. Weinberg erklärt ihm, wie man die verschiedenfarbigen Abzeichen an den Häftlingsuniformen festnäht und was sie bedeuten: ein rotes Dreieck für politische Gefangene, rosafarben für Homosexuelle, braun für die sogenannten Zigeuner, zwei gelbe Dreiecke in Sternform für die Juden usw. Nachdem Weinberg mit ihm alle farbigen Abzeichen durchgegangen ist, greift Karl nach einem weißen rechteckigen Abzeichen, auf dem in fetten Großbuchstaben das Wort „BLÖD“ steht (Abb. 7). Auf Karls Frage, für wen diese Abzeichen vorgesehen sind, antwortet Weinberg: W einberg: Idioten, Schwachsinnige, Geisteskranke.

K arl : Was haben die verbrochen?

W einberg: Sie sind unnütz. Du solltest die Wachen sehen, wenn sie sich die vornehmen, sie triezen und prügeln.

K arl : Weinberg, ich kann das alles nicht glauben!

W einberg: So, nicht? Da ist ein extra Gebäude für die Irren, Idioten, Blöden und Krüppel. Sie vergasen sie.

K arl : Gas?!

A ufseher: [unterbricht sie] Nicht reden, arbeiten!

Karls fassungsloses „Was haben die verbrochen?“ ist eine Schlüsselfrage, denn sie stellt einen Zusammenhang zwischen den unschuldig verfolgten Behinderten und den unschuldig verfolgten Juden her. In dieser Szene wird außerdem zum ersten Mal das Wort „vergasen“ erwähnt. Annas Tod ist die Umsetzung von Weinbergs Aussage und dient als Vorwegnahme der bevorstehenden Ermordung der Juden. Doch wieder ist es die Ikonographie der TV-Serie, die Rätsel aufgibt. Vor dem Hintergrund der entmenschlichenden Logik des Lagers dienten die Abzeichen an den Uniformen zum einen dazu, alle Gefangenen als abweichend vom gesunden Volkskörper zu markieren, während die verschiedenen Farben zugleich eine Hierarchie der Gefangenen untereinander symbolisierten. Weil aber die institutionellen Strukturen des „Euthanasie“-Programms nicht Teil des Lagersystems waren, gab es zwar durchaus Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen, die nach Buchenwald oder in andere Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden, aber sie bildeten keine eigene Gruppe innerhalb der Lagerhierarchie und darum gab es keine Abzeichen mit der Aufschrift „BLÖD“. Was also ist die Funktion dieser erfundenen Kennzeich-

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nung? Faktisch etabliert sie einen weiteren (sichtbaren) Unterschied zwischen den geistig kranken und behinderten Menschen in Buchenwald und den anderen Häftlingen. Aus der Perspektive des NS-Regimes waren sie zwar alle „entartet“, aber auf die „Blöden“ und „Krüppel“ traf dies in erhöhtem Maße zu. Sie wurden als nutzlos eingestuft und sofort vergast (eine Kennzeichnung wäre also ohnehin unnötig gewesen). Natürlich wäre es übertrieben, von einem fiktionalen Melodrama wie der TV-Serie Holocaust historische Genauigkeit bis in kleinste Details zu erwarten, aber die Erfindung einer völlig neuen Kategorie von Abzeichen für die Lagerinsassen ist nicht nur irreführend, sondern beeinflusst zudem die Art, wie Annas Tod von den Zuschauern wahrgenommen wird. Obwohl die Figur Anna es ihnen ermöglicht, körperlich und geistig behinderte Menschen als unschuldig verfolgte Opfer zu sehen, erreichen diese nie den Status eines individuellen Subjekts. Sie haben keine Stimme und sind lediglich dazu da, Annas tragischen Tod zu kontextualisieren. So bleibt der Holocaust eine ausdrücklich jüdische Katastrophe und die mitfühlende Identifikation der Zuschauer beginnt und endet mit den jüdischen Opfern.

Mit-Leiden und Mitleid Die problematischen Szenen in Holocaust sowie das Schweigen zum Thema „Euthanasie“ in den wissenschaftlichen Debatten über die Serie werfen Fragen sowohl bezüglich der Darstellung als auch der Rezeption auf. Wie kann man diese weitgehend stereotypen oder stigmatisierenden Darstellungen behinderter und psychisch kranker Menschen vermeiden? Wie kann ein bestimmtes Maß an Identifikation mit den Opfern der NS-„Euthanasie“ ermöglicht werden, ohne auf eine reduktive Form des Mitleids zurückzugreifen? Es geht hier in erster Linie um den durch die Darstellung der Behinderten in Holocaust hervorgerufenen „mitleidigen Blick“ des Zuschauers. Dieser historisch, kulturell und emotional geprägte Blick kann Geringschätzung enthalten: Eine auf diese Weise angeschaute Person büßt dadurch ihre Individualität ein, weil ihre Behinderung zu einer sie vorrangig definierenden Eigenschaft wird. In ihrer umfangreichen Studie zum Blick in der westlichen Kultur beschreibt Rosemary Garland-Thomson den „mitleidigen Blick“ als Ausdruck „einer fehlenden Identifikation zwischen dem Schauenden und dem, der angeschaut wird“, die zu „Gleichgültigkeit und Selbstgefälligkeit“ führe, zu einer „unethischen ‚Passivität‘“. Der mitleidige Blick „scheitert an dem Wechsel aus einem Zustand des Unbehagens, des Schocks oder der Angst in eine mitfühlende Identifikation. Anders gesagt bedeutet dieser unethische Blick zu sehen ohne zu erkennen, ein distanziertes Schauen, das eine Annäherung an den Mitmenschen verweigert“.14 Damit ist der mitleidige Blick das genaue Gegenteil eines empathischen oder mitfühlenden Blicks, der „Kontakt sucht“ und „in 14 | Rosemarie Garland-Thomson: Staring. How We Look. Oxford: Oxford University Press 2001, S. 186.

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eine ethische Beziehung transformiert werden kann, wenn er in eine politische Handlung transformiert wird“.15 Garland-Thomson bezieht sich auf Susan Sontags Überlegungen zum Mitleid in Das Leiden anderer Betrachten,16 doch obwohl Hannah Arendts Ausarbeitung der Kategorien Mitleid und Mit-Leiden in Über die Revolution hier nicht direkt erwähnt wird,17 ist diese Unterscheidung ein wichtiger Referenzpunkt sowohl für Sontag als auch für Garland-Thomson. Arendt definiert Mit-Leiden („sympathia“) als „leidenschaftliche Betroffenheit von dem Leiden anderer, als sei es ansteckend“, also als identifizierendes oder sogar stellvertretendes Empfinden des Leidens eines anderen Menschen.18 Basierend auf der Einsicht, dass dieses Leiden auch uns selbst treffen könnte, ist Mit-Leiden untrennbar mit dem Wunsch verbunden, das Leiden des anderen zu lindern. Im Gegensatz dazu ist Mitleid („eleos“) „nicht eigentliches Leiden“, sondern ein generalisierendes Bedauern, hervorgerufen durch die „leidenden Massen“, zu denen der Einzelne in Distanz bleibt. Ein in diesem Sinne kollektives Mitleid lässt keine Identifikation zu, denn es ist unwahrscheinlich, dass der Einzelne sich selbst einmal in einer vergleichbaren Situation wiederfinden wird. Dieses Abstrahieren führt zu einer gewissen Asymmetrie und Distanz zwischen dem Einzelnen und denen, die bemitleidet werden. Während also Mit-Leiden Gemeinsamkeit schafft, erzeugt Mitleid Differenz. Im Hinblick auf Behinderung müssen wir allerdings von einer zusätzlichen Ebene der Differenz sprechen, die durch Mitleid hergestellt wird. Diese hängt mit psychologischen Tabus zusammen, mit denen Behinderung konnotiert ist: Der Gedanke, dass wir selbst irgendwann etwa aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit von einer Behinderung betroffen sein könnten macht uns Angst und wird verdrängt. Weil Behinderungen mit Endgültigkeit assoziiert sind bzw. als unheilbar und dauerhaft verstanden werden, führt die Erkenntnis, „das könnte mir auch passieren“, zu einem Gefühl des Unbehagens. Mitleid führt also letztlich dazu, dass wir zwischen uns und behinderten Menschen eine Barriere errichten. Dieser Distanzierungseffekt des Mitleids ist im Zusammenhang mit der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ besonders klar zu erkennen. Die Miniserie Holocaust ist ein gutes Beispiel dafür, dass „Euthanasie“-Opfer anders wahrgenommen werden als andere Opfergruppen, weil sie von Anfang an schon als Opfer ihrer eigenen Behinderung codiert sind: Sie scheinen keine eigene Lebensgeschichte zu haben und sind nur durch ihr Anderssein bestimmt.

15 | Ebd.. Vgl. auch Bill Hughes: „Fear, Pity and Disgust. Emotions and the Non-disabled Imaginary“, in: Nick Watson/Alan Roulstone/Carol Thomas (Hrsg.): The Routledge Handbook of Disability Studies, London: Routledge 2012, S. 67–77.

16 | Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M.: Fischer 2005.

17 | Vgl. ebd. 18 | Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 108.

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Arendt schreibt, dass Mit-Leiden nicht unbedingt ausreichend sei, um eine ethische Beziehung entstehen zu lassen, die zu politischem Handeln veranlasst: „Weil nun aber das Mit-Leiden die Distanz zwischen Menschen auslöscht und mit ihr den weltlichen Zwischenraum, in dem sich politische Angelegenheiten [...] abspielen, ist es, politisch gesprochen, ohne Bedeutung und ohne Folgen.“19 Trotzdem gehört zum Mit-Leiden die Fähigkeit, das Leiden eines anderen wirklich zu verstehen und dementsprechend zu einer persönlichen Einsicht über Recht und Unrecht zu kommen. So kann es dem Mit-Leidenden laut Arendt „gelingen, darauf zu bestehen, daß es stets besser ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, [...] daß es besser ist zu leiden als andere leiden zu sehen“.20 Arendt verweist aber gleichzeitig auch auf eine dritte Kategorie, die es erlauben soll, den Bereich des Privaten zu verlassen und in den der Politik und der Gesellschaft überzuwechseln: die Solidarität. Wie könnte vor diesem Hintergrund die NS-„Euthanasie“ auf eine Weise dargestellt werden, die uns unsere verdrängten Ängste und Vorurteile bewusst macht? Auch wenn nicht erwartet werden kann, dass alle literarischen Darstellungen von Behinderungen und NS-„Euthanasie“-Opfern einer politischen Agenda verpflichtet sind, müsste es möglich sein, zumindest über reduktive, rein auf Mitleid abzielende Darstellungen hinauszugehen und Darstellungsweisen zu entwickeln, die von echtem Mit-Leiden geprägt sind und eine mitfühlende Identifikation mit diesen Menschen erleichtern. Vor diesem Hintergrund müssten Darstellungen der NS-„Euthanasie“ also drei Themen zugleich bewältigen, wenn sie zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit diesem Thema anregen sollen: Erstens müssten die Opfer als Menschen dargestellt statt stereotypisiert werden, zweitens müssten sie als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung mit anderen Opfergruppen gleichgestellt werden und außerdem müsste drittens – ohne diesen Aspekt willkürlich auszunutzen – berücksichtigt werden, dass diese Menschen nicht immer in der Lage sind, ihre eigene Geschichte zu erzählen.

D er O pfergang

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Zu den ersten literarischen Werken, in denen die NS-„Euthanasie“ thematisiert wurde, gehören die zwei Kurzgeschichten „Daniel, der Gerechte“ (1955) von Heinrich Böll und „Freundschaft mit Adam“ (1953) von Wolfdietrich Schnurre. Als Gattung ist die Kurzgeschichte besonders geeignet, über die unmittelbare Vergangenheit zu schreiben und so in knapper Form einen größeren historischen Zusammenhang exemplarisch darzustellen und gleichzeitig die Gegenwart gesellschaftskritisch zu kommentieren. Die Handlungen der beiden Kurzgeschichten folgen demselben Muster: Im Zentrum steht die tragische Freundschaft zwischen dem jeweiligen Protagonisten und einem Patienten in einer psychia19 | Ebd., S. 109–110. 20 | Ebd.

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trischen Einrichtung. Aufgrund dieser Freundschaft macht der Protagonist im Verlauf der Erzählung eine moralische Weiterentwicklung durch, während das Schicksal des Freundes letztlich durch das „Euthanasie“-Programm besiegelt ist. In beiden Geschichten fungieren die geisteskranken Charaktere als Auslöser der Wandlung, gewissermaßen als Initiationshelfer, die aus den kindlich-gedankenlosen Protagonisten tolerante, kritische und gereifte Menschen machen. Bölls Protagonist Daniel, ein Schuldirektor mittleren Alters, fühlt sich sozial entfremdet und ist nicht in der Lage ist, die Diskrepanz zwischen den von ihm hochgehaltenen Werten einerseits und der Ungerechtigkeit der Welt andererseits zu bewältigen. Seine Frau bittet ihn, Uli, dem Sohn einer Verwandten, bei der Aufnahmeprüfung für seine Schule zu helfen. Das erinnert Daniel an eine Aufnahmeprüfung vor 30 Jahren, die er nicht bestand, weil er keinen Aufsatz zu dem gestellten Thema „Ein merkwürdiges Erlebnis“ schreiben konnte. Dieses „merkwürdige Erlebnis“ stellt ein metafiktionales Element dar, weil in dieser Formulierung das „seltsame, unerhörte Ereignis“ anklingt, das seit Goethe als ein zentraler Bestandteil des Genres der Kurzgeschichte gilt. Man könnte die Tatsache, dass Daniel nicht in der Lage war, diesen Aufsatz zu schreiben, als Verweis auf die Probleme lesen, die damit verbunden sind, Wahnsinn oder psychische Krankheiten in traditionellen literarischen Formen darzustellen. Daniel hatte nämlich vorgehabt, über einen Besuch bei seinem Onkel Thomas zu schreiben, der in einer psychiatrischen Anstalt lebt und nur durch einen einzigen, ständig wiederholten Satz mit seiner Umgebung kommuniziert: „Wenn es nur Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe“. Thomas und der von ihm ständig wiederholte Satz beeindrucken Daniel derart, dass er ihn zum Thema seines Aufsatzes machen will. In der Prüfung erleidet Daniel jedoch eine Schreibblockade: Thomas war plötzlich sehr nahe, zu nahe, als daß er einen Aufsatz über ihn hätte schreiben können; er schrieb die Überschrift hin: „Ein merkwürdiges Erlebnis“, darunter schrieb er: „Wenn es nur Gerächtigkeit auf der Welt gäbe!“– und er schrieb in Gerechtigkeit statt des zweiten e ein ä, weil er sich dumpf daran erinnerte, daß alle Worte einen Stamm haben, und es schien ihm, als sei der Stamm von Gerechtigkeit Rache. 21

Dieser Moment ist der Beginn von Daniels Entfremdung von der Welt, die ihn umgibt. Indem er Thomas falsch zitiert, setzt Daniel Gerechtigkeit mit Rache gleich; oder genauer gesagt, er versteht Rache als Grundlage der Gerechtigkeit. In dieser falschen etymologischen Herleitung zeigt sich die von ihm beklagte Heuchelei: Welche Kraft hat der Begriff Gerechtigkeit, wenn Ungerechtigkeit un-

21 | Heinrich Böll: „Daniel, der Gerechte“, in: Jochen Schubert (Hrsg.): Werke. Kölner Ausgabe. Band 9. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 368–379, hier S. 378. Diese Erzählung wurde erstmals 1955 in der Mai-Ausgabe der Illustrierten des Deutschen Gewerkschaftsbundes veröffentlicht.

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gerächt bleibt? Daniels Schreibfehler ist eine sprachliche Manifestation der von Thomas ausgesprochenen universellen Wahrheit. Während der NS-Zeit kommt Daniel zu der Einsicht, dass „Gerechtigkeit“ nur eine leere Phrase ist. Er flüchtet vor der Realität, indem er Thomas in der Anstalt besucht und ihm zuhört: Lauschend saß Thomas da – aber er lauschte nicht auf das, was die Besucher ihm erzählten – er lauschte dem Klagegesang eines verborgenen Chores, der in den Kulissen dieser Welt versteckt eine Litanei herunterbetete, auf die es nur eine Antwort gab, Thomas’ Antwort: „Wenn es nur Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe!“ 22

Der als geisteskrank abgestempelte und weggesperrte Thomas ist ein Spiegelbild des entfremdeten Daniel. Der von Thomas gebetsmühlenartig wiederholte Satz erweist sich als prophetisch nicht nur in Bezug auf sein eigenes Schicksal – er fällt dem „Euthanasie“-Programm zum Opfer –, sondern auch im Hinblick auf die Missstände in der Nachkriegsgesellschaft. Durch Daniels Fehler wird Thomas’ prophetischer Satz zusätzlich zu einer Regime- und Gesellschaftskritik. Zusammen bilden die nicht bestandene Prüfung und der Tod seines Onkels die beiden Pole dessen, was Daniel als ein tragisches Schicksal empfindet – was aber auch als moralisches Versagen beschrieben werden könnte. Daniel ist Protagonist einer Tragödie, die von Thomas und dem in den Kulissen verborgenen (griechischen) Chor kommentiert wird. Jedoch kann der Leser dem Text entnehmen, dass sich Daniel als typisch Böll’scher Kleinbürger während des Regimes der Nationalsozialisten mit seiner Kritik sehr bedeckt gehalten und vor Ungerechtigkeiten die Augen verschlossen hat. Sein Leben wird von etwas überschattet, das sein bester Freund Alfred sehr hellsichtig als Ressentiment identifiziert, als Hassgefühlen die letztlich eine Folge jenes persönlichen, ungerächt gebliebenen Versagens sind. Und so bleibt Daniel in einem lähmenden, repetitiven Kreislauf gefangen: Je häufiger er von Gerechtigkeit spricht, desto weniger ernst wird er genommen – er wird ironisch „der Gerechte“ genannt –, und desto weniger ist er faktisch in der Lage, Gerechtigkeit praktisch durchzusetzen. Der Psychiatriepatient Thomas spielt also die Rolle eines Propheten, der das Ende der Gerechtigkeit in der Welt verkündet und dessen Tod unvermeidlich scheint. Wer in seinem Namen den des Titelhelden aus Harriet Beecher Stowes Roman Onkel Toms Hütte (1852) anklingen hört, liegt damit sicher nicht falsch. Beecher Stowes Onkel Tom ist eine tragische Erlöserfigur, in deren Opfertod die Ungerechtigkeit der Sklaverei zum Ausdruck kommt. Er dient dazu, andere zu retten (andere Sklaven, und auch ein weißes Mädchens namens Eva, das er vor dem Ertrinken rettet), und für mehrere weiße Charaktere ist er eine Inspiration. Dennoch ist es Toms – wie auch das von Bölls Onkel Thomas – Schicksal, aus der Gesellschaft, um deren Fortschritt er sich bemüht, ausgegrenzt zu bleiben und 22 | Ebd., S. 373.

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letztlich einen Märtyrertod zu sterben. Beide sind Nebenfiguren, die zwar eine gewisse emblematische oder symbolische Macht besitzen, die ihre Ausgrenzung aber nicht selbst überwinden können und daher in entscheidender Hinsicht eingeschränkt bleiben. Die auffälligen Parallelen zwischen den beiden Protagonisten von Böll und Beecher Stowe machen allgemeinere Parallelen zwischen der Darstellung behinderter Menschen und der ethnischer Minderheiten erkennbar. Becher Stowes Onkel Tom ist wahrscheinlich der Prototyp dessen, was im Hinblick auf US-amerikanische Bücher und Filme als „magischer Neger“ („magic negro“) bezeichnet wird. Dieser Begriff wird vor allem von afro-amerikanischen Kulturwissenschaftlern und Künstlern dazu verwendet, zur demographischen Mehrheit gehörende Autoren für ihre eindimensionalen und stereotypen Versuche zu kritisieren, Minderheiten „positiv“ darzustellen.23 Gemeint sind schwarze Nebenfiguren, die über besondere Einsichten oder Kräfte verfügen und unvermittelt in der Handlung auftauchen, um dem weißen Protagonisten dabei zu helfen, eigene Schwächen zu erkennen und zu überwinden. Diese magische oder mystische Figur ist außerdem oft „in irgendeiner Weise äußerlich oder innerlich eingeschränkt, sei es aufgrund von Diskriminierung, Behinderung oder sozialer Barrieren“.24 Obwohl der „magische Neger“ also über besondere Kräfte verfügt, bleibt er dennoch in fast allen Fällen bloß eine stereotype Helferfigur ohne individuelle Züge, die ihre soziale Ausgrenzung nicht überwinden kann und die den Interessen des weißen Protagonisten gänzlich untergeordnet bleibt.25 Onkel Tom wird in Beecher Stowes 23 | Dieser Begriff hat in der jüngeren Vergangenheit in den akademischen und den öffentlichen Diskurs Eingang gefunden, vgl. z.B. Rita Kempley: „Too Too Divine. Movies’ ‚Magic Negro‘ Saves the Day – but at the Cost of His Soul“, in: Washington Post vom 07.06.2003; Heather J. Hicks: „Hoodoo Economics. White Men’s Work and Black Men’s Magic in Contemporary American Film“, in: Camera Obscura 18.2 (2003), S. 27–55; sowie aktueller Cerise L. Glenn/Landra J. Cunningham: „The Power of Black Magic“, in: Journal of Black Studies 40.2 (2009), S. 135–152. Nach dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 wurde der Begriff oft in Bezug auf Barack Obama verwendet, z.B. von Jabari Asim: What Obama Means – for Our Culture, Our Politics, Our Future. New York: Morrow 2009.

24 | Gayle R. Baldwin demonstriert, wie der „magische“ Status in der zeitgenössischen Populärkultur oft auch Angehörigen anderer Minderheiten zugeschrieben wird, besonders homosexuellen Charakteren: „‚What a Difference a Gay Makes‘. Queering the Magic Negro“, in: Journal of Religion and Popular Culture 5.1 (2003), online: DOI: 10.3138/jrpc.5.1.003.

25 | Andere literarische Beispiele für die Figur des „magischen Negers“ finden sich in Mark Twains Huckleberry Finn und in Frederick Douglass’ The Heroic Slave sowie in vielen Romanen, Kurzgeschichten und Filmadaptionen von Stephen King (z.B. The Shining, The Shawshank Redemption, The Green Mile). Oft wurde diese Rolle von Morgan Freeman und zuvor von Sidney Poitier übernommen; vgl. hierzu Thomas Cripps: Making Movies Black. The Hollywood Message Movie from World War II to the Civil Rights Era. New York: Oxford University Press 1993.

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Roman als außergewöhnlicher Mensch dargestellt, als jemand, der den weißen Romanfiguren die Angst vor angeblicher „schwarzer“ Gewaltbereitschaft nimmt. Es geht hier selbstverständlich nicht um eine Gleichsetzung von Schwarzsein und Behinderung; vielmehr geht es um ein bestimmtes Muster ansprechen, das zu beobachten ist, wenn Autoren der Mehrheitsgesellschaft Menschen darstellen, die gesellschaftlich ausgegrenzt sind. Gerade diese Darstellungen, die auf den ersten Blick positiv und bestärkend wirken, beruhen oft auf Vorurteilen und Stereotypen und setzen diese unbewusst fort. Ein weiteres Beispiel für einen weisen Narren findet sich in Wolfdietrich Schnurres „Freundschaft mit Adam“.26 In dieser Kurzgeschichte geht es um eine Freundschaft zwischen einem Jungen namens Bruno und Adam, einem jüdischen Psychiatriepatienten in den 1930er Jahren. Wie bei allen Texten, die ich hier untersuche, bleibt gänzlich unklar, was genau mit Adam „nicht stimmt“. Wir erfahren nur, dass er weder spricht noch mit anderen interagiert und dass sein Vater ihn in die psychiatrische Anstalt gebracht hat, um ihn vor der SA zu retten – im irrigen Glauben, er sei dort sicher. Zu Beginn der Erzählung wird geschildert, wie Bruno und einige Jungen aus der Nachbarschaft den Patienten in der Anstalt Freundschaft vorgaukeln, um sie dazu zu bringen, die von Besuchern mitgebrachten Geschenke an sie abzugeben. Die Jungen warten vor dem Gebäude unter den Fenstern, aus denen die Patienten die Geschenke zu ihnen hinunterwerfen. Das ändert sich, als per Gesetz jeder Kontakt zwischen Patienten und Anwohnern verboten wird. Nur Bruno lässt sich davon nicht abhalten und lungert weiterhin bei der Anstalt herum, obwohl sein Vater, ein NSDAP-Mitglied, es ihm untersagt hat. Einer der Patienten, der geheimnisvolle Adam, übt eine besondere Faszination auf Bruno aus, und Bruno wiederum scheint der einzige zu sein, der Adam aus seiner Apathie herauslocken kann. Adam wirft einen Baukasten und verschiedene Uhren und Wecker für Bruno aus dem Fenster – Geschenke von Adams Vater, einem Uhrmacher, und mit diesen Geschenken bei seinem Sohn Interesse für diesen Beruf zu wecken versucht. Bruno wird klar, dass diese Geschenke Adam nicht gefallen und er nichts mit ihnen anzufangen weiß: „[Das] sah doch jeder, daß Adam für so einen Beruf nicht gemacht war. Er war auch sonst nicht für diese Welt gemacht“.27 Obwohl Adam ein erwachsener Mann ist, wird er von allen wie ein Kind behandelt, auch von Bruno.28 Die beiden sind durch die unüberwindlichen Mauern der psychiatrischen Anstalt (und die metaphorischen Mauern der nationalsozia26 | Wolfdietrich Schnurre: „Freundschaft mit Adam“, in: ders.: Funke im Reisig. Berlin: BV Berlin 2010, S. 145–160.

27 | Ebd., S. 148. 28 | Aus diesem Grund nahm Ian Roberts, der zu den wenigen Kritikern gehört, die sich mit dieser Kurzgeschichte befasst haben, irrtümlich an, dass Adam wie Bruno ein Kind ist. Ders.: „Eine Rechnung, die nicht aufgeht“. Identity and Ideology in the Fiction of Wolfdietrich Schnurre. Frankfurt a.M.: Lang 1997, S. 58.

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listischen Gesetze) voneinander getrennt, Adams Zimmerfenster ist der einzige Ort, an dem ein Austausch möglich ist. Als Adams Vater bemerkt, dass Bruno seine Geschenke „stiehlt“ und ihn auffordert, sie seinem Sohn zurückzugeben, kommt es zum ersten Mal zu einer direkten Begegnung der beiden. Bruno fühlt sich Adam auf seltsame Weise verbunden, ein Gefühl, das sich bei dem Treffen noch verstärkt: [Ihm] war, als wäre er in ein uralt vertrautes, nur lang vergessenes Zuhause zurückgekehrt. Adam war ihm nicht fremd, er war sein Bruder. Bruno hatte ihn verlassen, ja; aber Adam hatte auf ihn gewartet; dort stand er. [...] Von diesem Tag an fand Bruno sich zu Hause und in der Schule nicht mehr zurecht; Adams Zimmer war die Mitte der Welt, Bruno sah nicht ein, warum er sich da noch an ihren Rändern auf halten sollte. 29

Schon diese erste Begegnung mit Adam bewirkt bei Bruno eine tiefe Veränderung: Ihm wird klar, dass er nicht länger in einer Welt leben kann, die tatenlos zusieht, wie Juden, Behinderte und Kranke verfolgt werden. Er fühlt sich von seiner eigenen Familie entfremdet, besonders weil sein Vater in die SA eintreten will. An dieser Stelle ist die im Namen anklingende Assoziation mit dem biblischen Adam und dem Garten Eden überdeutlich zu spüren: Adams Zimmer wird zu einem Ort der Unschuld vor dem Sündenfall und die Mauern, die Bruno von Adam trennen, stehen nun zugleich für die Mauer zwischen der bedrohlichen Außenwelt und dem irdischen Paradies. Etymologisch kommt das Wort Paradies aus dem Persischen und bedeutet „ummauerter Garten“.30 Bruno sehnt sich nach der Rückkehr an einen Ort ohne Unterschiede, in dem Differenzierungen wie christlich, jüdisch, behindert oder nicht behindert aufgehoben sind. Doch die Vertreibung aus dem Paradies erfolgt schon bei Brunos zweitem Besuch bei Adam – der Besuch fätt nämlich genau auf jenen Moment, in dem die SS die Anstalt räumt und alle Insassen abtransportiert. Diese Schlüsselszene ist wie eine Filmmontage geschrieben: Das lärmende Eintreffen der SS (ein Mosaik synekdotischer Bilder: heulende Motoren, kreischende Bremsen, trampelnde Stiefel und das Splittern von Glas) wird mit der Stille kontrastiert, die Bruno umgibt, der so tief in seinen Austausch mit Adam versunken ist, dass er die drohende Gefahr überhaupt nicht wahrnimmt. Als die Nationalsozialisten die Tür auf brechen, um Adam mitzunehmen, klammern die beiden sich aneinander und landen dadurch beide im Lastwagen. Auf dem Weg durch die Stadt wird die Fahrzeugkolonne von Polizisten gestoppt, Bruno wird gewaltsam von Adam getrennt und vom Lastwagen gezerrt. Das letzte Zeichen, dass er von Adam sieht, ist der in der Ferne ver-

29 | Ebd., S. 152–153. 30 | Vgl. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 25. durchgesehene und erweiterte Auf lage, Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin: De Gruyter 2011, sv. „Paradies“.

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schwindende Wagen, „über einer schwarz qualmenden Auspuffgaswolke“31 – ein düsterer Vorbote des Schicksals, das Adam am Ziel der Fahrt bevorsteht. Mit diesem dramatischen Ende ihrer Freundschaft wird Bruno buchstäblich in die Welt zurückgeworfen – seine Wandlung vom gleichgültigen Kind zum Gegner der Nationalsozialisten ist vollzogen –, während Adam, dem er diesen Entwicklungsschritt schuldet, weggeschafft und geopfert wird. Adam ist wie Thomas in Heinrich Bölls Erzählung eine mystische Figur, ein weiser Narr, dessen besonderes Talent nur Bruno erkennt, dem er hilft, sich selbst besser zu verstehen. Die literarische und filmische Instrumentalisierung von Figuren mit „Savant-Syndrom“ als Retter- oder Helferfiguren, ist in den Disability Studies ausführlich erforscht worden, vor allem im Hinblick auf filmische Darstellungen von Autismus – umgangssprachlich hat sich hier die Bezeichnung „Rain-ManEffekt“ eingebürgert. Stuart Murray und andere haben gezeigt, dass Figuren mit Autismus in Filmen typischerweise nicht als Protagonisten auftreten, sondern als Nebenfiguren, als „Andere“, mit denen der Protagonist sein eigenes Selbstbild kontrastieren kann, und zu denen Zuschauer meist eine distanziert-beobachtende Haltung beibehalten, statt sich mit ihnen zu identifizieren.32 Meist sind diese Figuren entweder Kinder oder besonders kindlich, harmlos und unschuldig dargestellte Erwachsene, die auf Betreuung angewiesen sind, was ihre Position prekär macht. Wie bereits erwähnt haben sie typischerweise eine außergewöhnliche Begabung oder ganz besondere Kräfte: sie sind zum Beispiel zu außergewöhnlichen Rechenleistungen in der Lage oder verfügen über magische Heilkräfte. In manchen Darstellungen geraten diese hilflosen Charaktere irgendwie in Gefahr, was es dem Protagonisten erlaubt, als Retter aufzutreten oder eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, die ihm wichtige Einsichten über Liebe, Toleranz oder Akzeptanz vermittelt. In reduktiven Darstellungen dieser Art ist die Handlungsfunktion der autistischen Charaktere vollkommen von ihren Begabungen oder besonderen Kräften abhängig; darüber hinaus scheint ihnen jede Autonomie, jedes Entwicklungspotenzial und jede echte soziale Rolle abzugehen. Bei der aktuellen kritischen Auseinandersetzung mit stereotypisierten literarischen und filmischen Repräsentationen von Behinderung in den Disability Studies steht bislang meist im Vordergrund, wie diese Darstellungen sich von der Realität des Lebens mit einer Behinderung unterscheiden. Deswegen wurde im Rahmen dieser Neuinterpretationen meist argumentiert, als ob Charaktere in literarischen Werken einfach 31 | Ebd., S. 60. 32 | Stuart Murray, „Hollywood and the Fascination of Autism“, in: Mark Osteen (Hrsg.): Autism and Representation. New York: Routledge 2008, S. 244–255; Anthony Baker: „Recognizing Jake. Contending with Formulaic and Spectacularized Representations of Autism in Film“, in: Osteen: Autism and Representation, S. 229–243; Merope Pavlides: „My Brother as Other. The Construct of Identity: Rain Man, What’s Eating Gilbert Grape, and The Other Sister“, in: Dan Goodley/Geert Van Hove (Hrsg.): Another Disability Studies Reader? People with Learning Difficulties and a Disabling World. Antwerpen: Garant 2005, S. 119–132.

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als Repräsentationen realer Personen gelesen werden könnten,33 was zur Folge hatte, dass den für diese Darstellungen typischen ästhetischen oder poetischen Elementen bislang wenig Beachtung geschenkt wurde. Wie Bérubé zu recht feststellt, steht diese Tendenz zum Literalismus in direktem Widerspruch zu einer Grundannahme der Literaturwissenschaft: dass man Dinge auch metaphorisch „als auf andere Dinge bezogen“ lesen kann und soll.34 Damit ist nicht gemeint, dass „reale“ politische oder ethische Konsequenzen literarischer und filmischer Darstellungen ignoriert werden können, sondern nur, dass mit der Darstellung behinderter Menschen besondere Herausforderungen verbunden sind, die auch ein Nachdenken über die genaue Beschaffenheit von Narration und Fiktionalität anstoßen können. Wenn wir uns nun wieder Bölls und Schnurres Kurzgeschichten zuwenden, fällt auf, wie vage und stereotyp die beiden Figuren bleiben. Weder Thomas noch Adam werden genauer beschrieben und es ist offensichtlich, dass sie nur Requisiten der Bildungsgeschichte des jeweiligen Protagonisten sind. Die Kombination dieser vorgeblich positiven Darstellung von geisteskranken Charakteren mit dem historischen Kontext des „Euthanasie“-Programms ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Nicht nur reduziert es die Figuren zu bloßen Instrumenten der Handlung ohne eigene Persönlichkeit, die NS-„Euthanasie“ wird (vor allem bei Schnurre) außerdem zum beinahe biblischen Opfertod stilisiert, zu einer tragischen Fügung des Schicksals, das vorbestimmt ist von höheren Mächten. Widerstand scheint in jeder Hinsicht zwecklos. Zwar wird, im Gegensatz zu vielen anderen Texten der Nachkriegsliteratur, das „Euthanasie“-Programm als wesentlicher Teil der Verbrechen des NS-Regimes anerkannt und die Leser werden zum Nachdenken über Toleranz und Menschlichkeit angehalten, aber es wird keine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem bis heute schwierigen Thema Geisteskrankheit angestoßen. Zudem zeugt die Unbestimmtheit des Schicksals dieser Figuren von einer generellen Tendenz, im Hinblick auf die NS-Verbrechen Fakten nicht direkt benennen zu wollen. Wie von vielen ihrer Zeitgenossen wurden die Nationalsozialisten von diesen Autoren als bedrohliche externe Macht dargestellt, die scheinbar aus heiterem Himmel über ihre unschuldigen Opfer hereinbricht. Weder Konzentrationslager noch Tötungsanstalten werden explizit erwähnt. Beide Kurzgeschichten enden auf eine Weise, die Sharon Snyder und David Mitchell als „cure or kill ending“ beschrieben haben, ein Ende, bei dem Heilung oder Tod die einzigen Alternativen sind.35 So ein Ausgang ist typisch für literarische und filmische Darstellungen von Behinderung und entspricht einer in der Gesellschaft weit verbreiteten Vorstellung von Behinderung und Geisteskrankheit als einem zu lösenden Problem und nicht als einer – durchaus lebenswerten – alternativen Daseinsweise. Nach dieser Vorstellung müssen die betroffenen 33 | Vgl. Bérubé: Disability and Narrative, S. 570. 34 | Vgl. Ebd. 35 | Snyder/Mitchell: Narrative Prosthesis, S. 169.

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Menschen erlöst werden, entweder durch Heilung oder durch Tod. In diesem Schema erkennt man die von Foucault beschriebenen Disziplinarstrukturen wieder, die zum Ziel haben, durch die Überwindung oder Verdrängung des Anderen die Ordnung wiederherzustellen. Gleichzeitig betont Foucault aber wiederum das Potenzial der Kunst, diese Logik zu durchbrechen und ihr entgegenzuwirken, indem, wie er schreibt, das Kunstwerk einen Raum eröffnet – „eine Leerstelle, einen Augenblick der Stille, eine Frage ohne Antwort“ –, und dadurch „einen Bruch ohne Versöhnung“ provoziert, der „die Welt dazu zwingt, sich zu hinterfragen“.36 Durch die Kategorisierung von Geisteskrankheiten und Behinderungen als temporären Störungen, die behoben werden können, ja müssen, wird im Diskurs der Vernunft versucht, diese Leerstellen zu schließen und kein die Hegemonie der Vernunft bedrohendes Schweigen zuzulassen. Dieser Drang zur Aufhebung steht letztlich einer echten ethischen Auseinandersetzung mit dem Anderen im Weg. Das ist ein Problem, mit dem man in den Memory Studies ebenso konfrontiert ist wie in den Disability Studies. Angesichts der Vorliebe für Erlösungs- oder Aufopferungsnarrative bei Darstellungen des Holocausts verweist beispielsweise Dominick LaCapra auf etwas, das er als „empathisches Unbehagen“ (empathic unsettlement) bezeichnet: Das empathische Unbehagen verhindert eine Auf hebung [closure] im Diskurs und fordert harmonieträchtige und erbauliche Darstellungen extremer Ereignisse heraus, aus denen eine Bestätigung oder ein anderer Vorteil gewonnen werden soll (zum Beispiel ein unverdientes Vertrauen auf die Fähigkeit des menschlichen Gemüts, jede Widrigkeit mit Würde und Anstand auszuhalten). 37

Es geht hier also um eine strikte Selbstverpflichtung, angesichts historischer Schreckenstaten ein Gefühl der Verunsicherung und der Prekarität zu bewahren, statt dem Drang nachzugeben, das „Andere“ in ein vertrautes, als sicher empfundenes Narrativ hineinzupressen. Kurz gesagt: das empathische Unbehagen ist ein vom Unheimlichen in der Geschichte ausgelöstes Gefühl.

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Wir wenden uns nun geisteskranken und behinderten Romanfiguren zu, die aufgrund ihres Außenseiterstatus in der Lage sind, die Heuchelei und die Falschheit der Gesellschaft zu durchschauen. Neben der Blechtrommel von Günter Grass 36 | „un vide, un temps de silence, une question sans réponse“, „un déchirement sans réconciliation, où le monde est bien contraint de s’interroger“. Michel Foucault: Histoire de la folie à l’âge classique. Paris: Édition Gallimard 1972, S. 556.

37 | Dominick LaCapra: Writing History, Writing Trauma. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001, S. 41–42.

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ist Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund (1957) einer der bekanntesten Romane der unmittelbaren Nachkriegszeit und wird bis heute regelmäßig im Deutschunterricht gelesen. In Rezensionen und in der Literaturwissenschaft wurde kaum beachtet, wie zentral Behinderungen und psychische Erkrankungen in diesem Text sind – ähnlich wie bei vielen klassischen Romanen, die in der Schule gelesen werden.38 Sansibar ist im Grunde ein Bildungsroman, in dem fünf Menschen, die der Widerstand gegen die hier durchgehend als die „Anderen“ bezeichneten Nationalsozialisten zusammengebracht hat, einen Erkenntnisprozess durchlaufen. Dass die Nationalsozialisten als gesichtslos und der deutschen Bevölkerung fremd gegenüberstehend dargestellt werden, deckt sich mit der in den Jahrzehnten direkt nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschenden Haltung. Zu dieser simplifizierenden, manichäischen Aufteilung in Gut und Böse, in „wir“ und „die Anderen“, kommen weitere Binaritäten hinzu, auf denen die Erzählung auf baut; das deutlichste Beispiel hierfür ist die Gegenüberstellung von Männern und Frauen. Vier der fünf Protagonisten sind männlich: erstens Gregor, ein desillusionierter Kommunist, zweitens der Fischer Knudsen, ebenfalls Kommunist, drittens Pfarrer Helander und viertens ein namenlos bleibender Junge. Gregor wird von der kommunistischen Partei beauftragt, den Lesenden Klosterschüler, eine Holzskulptur von Ernst Barlach, vor den Nationalsozialisten zu retten, die das Kunstwerk als „entartete Kunst“ konfiszieren wollen. Gregor nimmt diesen Befehl zum Vorwand, um die drei anderen dafür zu gewinnen, neben der Skulptur auch Judith Levin zu retten, eine ebenfalls von den Nationalsozialisten verfolgte junge Jüdin. Die meisten Interpretationen des Romans stellen die inneren 38 | In dieser Hinsicht gehört Anderschs Roman (und ebenso Die Blechtrommel von Grass) zum Kanon der Behinderten-Texte, wozu, wie Mitchell und Snyder anmerken, die Mehrheit der Pf lichttexte in US-amerikanischen High Schools gehören; etwa William Faulkners Schall und Wahn (The Sound and the Fury), J.D. Salingers Der Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye), und Harper Lees Wer die Nachtigall stört (To Kill a Mockingbird) (Snyder/Mitchell: Narrative Prosthesis, S. 167). Außerdem, so Mitchell und Snyder, enthalten diese Texte eine Kritik an der Allgegenwärtigkeit von eugenischem Gedankengut selbst nach dem Krieg. Es wäre allerdings problematisch zu behaupten, dass Anderschs Roman auch eine Kritik der Kontinuitäten zwischen der Haltung in Deutschland vor und nach dem Krieg enthält. Der Roman wurde zu Recht wegen der etwas ungeschickten Darstellung von Judith kritisiert, deren Aussehen und Anziehungskraft unkritisch deutsche Stereotypen über die exotischen jüdischen Anderen aufgreift. Außerdem wurde von der Kritik darauf hingewiesen, dass Judiths Rettung durch Gregor als semi-autobiographische Wunscherfüllung gelesen werden kann (z.B. W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München: Hanser 1999, S. 113–147; Walter Hinderer: Arbeit an der Gegenwart. Zur deutschen Literatur nach 1945. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994, S. 141–164; Ruth Klüger: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen: Wallstein 1994, S. 9–38; sowie Judith Ryan: The Uncompleted Past. Postwar German Novels and the Third Reich. Detroit: Wayne State University Press 1983, S. 70–80).

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Kämpfe der Protagonisten in den Mittelpunkt oder die Rolle der Holzstatue als Handlungskatalysator. Von einigen wird außerdem Pfarrer Helanders Behinderung erwähnt, der in der Schlacht um Verdun ein Bein verloren hat. Ich möchte hier aber den Blick auf die beiden anderen, meist übersehenen behinderten Charaktere richten: Judiths gelähmte Mutter und Knudsens angeblich schwachsinnige Frau Bertha. Zwischen Judiths Mutter, Frau Levin (ihr Vorname bleibt unerwähnt) und Bertha gibt es wichtige Parallelen: Die Nationalsozialisten sehen beide als „lebensunwertes Leben“ an und verfolgen sie daher, die jeweilige Behinderung oder Krankheit steht ihrer Flucht im Weg, und beide verfügen über besondere Fähigkeiten, die den anderen fehlen. Frau Levin drängt Judith dazu, Deutschland zu verlassen, solange das noch möglich ist, aber diese weigert sich, ihre Mutter zurückzulassen. Frau Levins Lähmung kann hier als Metapher für die Passivität und Hilflosigkeit der von den „Anderen“ verfolgten Juden gelesen werden – dieser Vorwurf war in zeitgenössischen literarischen Darstellungen jüdischer Holocaust-Opfer sehr verbreitet. Frau Levin begeht letztlich Suizid, gewinnt damit zumindest ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit zurück und ermöglicht so ihrer Tochter die Flucht. Judith versteht den Selbstmord als Ausdruck des letzten Willens ihrer Mutter und tritt in der Folge die Flucht aus Deutschland an: sie reist nach Rerik, eine Kleinstadt an der baltischen Küste, die ihrer Mutter als idyllischer Urlaubsort in Erinnerung geblieben war, um von dort nach Schweden zu fliehen. Frau Levin sieht vor ihrem Tod die kommende Katastrophe voraus und warnt Judith: „Sie werden ihren Krieg machen, Kind, glaub mir! Er ist ganz nah, ich kann ihn schon fühlen. Und sie werden uns alle sterben lassen in diesem Krieg.“39 Der Holocaust wird im gesamten Roman nur in diesem Gespräch zwischen der gelähmten Frau und ihrer Tochter sowie in einer einzigen weiteren Passage erwähnt. Die zweite Erwähnung der NS-Massenmorde steht im Zusammenhang mit Knudsens Frau Bertha, die in Gefahr ist, der NS-„Euthanasie“ zum Opfer zu fallen. Bertha wird als kindlich und harmlos beschrieben – „sie war blond und sanft, eine hübsche junge Frau von vierzig Jahren“; „freundlich und sanft, eine gute Frau“.40 Ihre psychische Krankheit kommt nur in einem „kleinen Tick“ zum Ausdruck, wie ihr Mann es nennt: Sie wiederholt zwanghaft immer wieder den gleichen Witz: Ein Mann sah zu, wie die Irren mitten im Winter vom Sprungbrett in das Becken des Schwimmbads sprangen. Er sagte zu ihnen: aber es ist doch gar kein Wasser drin. Da riefen sie zurück: wir üben doch nur für den Sommer, während sie sich die blauen Flecken rieben. 41

39 | Alfred Andersch: „Sansibar oder der letzte Grund“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Band 1. Zürich: Diogenes 2004, S.7–183, hier S. 25.

40 | Ebd., S. 20. 41 | Ebd.

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Bertha erzählt diesen Witz überall und zu jedem Anlass. Alle Stadtbewohner haben sich bereits daran gewöhnt. Trotzdem hat Knudsen Angst, dass die „Anderen“ sie abholen werden, falls er sie zu lang allein lässt: Wenn ich nicht aufpasse, dachte er, werden sie auch dich zu den Irren bringen, obwohl du gar nicht irre bist [...] Er wußte, was sie mit den Geisteskranken machten, wenn sie sie erst einmal in den Anstalten hatten, und er hing an Bertha. Wenn er mit dem Kutter draußen auf See war, hatte er immer Angst, bei der Rückkehr Bertha nicht mehr vorzufinden. Übrigens hatte er auch den Eindruck gehabt, daß sie ihn mit der Drohung, Bertha in eine Anstalt zu bringen, erpressen wollten. Sie wollten, daß er sich ruhig verhielte. Sie gebrauchten die arme Bertha als Waffe gegen die Partei. 42

Weil Knudsen überzeugt ist, dass Berthas Leben in Gefahr ist, will er die kommunistische Partei verlassen und kann sich zunächst nicht überwinden, sich an der Rettung der Holzskulptur zu beteiligen. Er ist sich sicher, dass die „Anderen“ ihn verhaften und Bertha deportieren würden, wenn er die Skulptur nach Schweden bringen würde. Berthas Rolle ist jedoch komplexer als es zunächst den Anschein hat. Sie ist ein integraler Teil des utopischen Bilds heroischer Solidarität dieses Romans. Bertha wird als harmlos und hilflos dargestellt, genau wie die anderen beiden weiblichen Charaktere, die gelähmte Frau Levin und die naive Judith. Sie gehört zu der den „Anderen“ gegenübergestellten Gruppierung der „guten“ Deutschen. Nur die „Anderen“ halten Bertha für geisteskrank und glauben, sie müsse eingesperrt werden. Wir erfahren zudem, dass Bertha ihren „Tick“ noch nicht lange hat: „Es lag ein paar Jahre zurück, daß sie begonnen hatte, diesen Witz von den Irren, die ins leere Schwimmbad sprangen, zu erzählen“.43 Das bedeutet, dass ihr angeblicher Wahnsinn ungefähr zeitgleich mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten einsetzte. Aus diesem Grund kann der Witz allegorisch als Kritik an den Kleinstädtern gelesen werden, die darauf warten, von der Herrschaft der Nationalsozialisten befreit zu werden. Wasser ist im Roman zugleich eine wichtige Metapher für Erlösung und außerdem der Fluchtweg in die Freiheit – sei es nach Schweden oder nach Sansibar. Berthas Witz impliziert, dass die Deutschen auf das Ende des nationalsozialistischen Winters warten müssen, auf die Rückkehr des Wassers: Weil sie den Status quo – dass die Nationalsozialisten das Wasser aus dem Schwimmbecken abgelassen haben – nicht als solchen akzeptieren wollen, müssen sie Schürfwunden und blaue Flecken erleiden und darauf hoffen, dass der zwangsläufig wiederkehrende Sommer Wasser und Freiheit bringt. Bertha wiederholt ihren Witz wie einen Refrain und besteht darauf, dass man ihr zuhört: Sie übernimmt damit die Rolle des Chors in der griechischen Tragödie, kommentiert das Geschehen, rät zu einer bestimmten Handlung und bringt ihre 42 | Ebd., S. 20–21. 43 | Ebd., S. 20.

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Einsichten ein. Wie Thomas in Bölls Kurzgeschichte scheinbar als Antwort auf einen unsichtbaren griechischen Chor immer wieder Gerechtigkeit einklagt, so ermahnt auch Bertha ihre Mitmenschen, nicht aufzugeben, selbst wenn damit blaue Flecken einhergehen. Christoph Heins Roman Horns Ende aus dem Jahr 1985 kann in verschiedener Hinsicht als eine Neu-Version von Anderschs Roman gelesen werden, wenn auch mit anderer Gewichtung und mit einer komplexeren Zeitstruktur. Die Themen bleiben dieselben: Verantwortung, Widerstand, Empathiefähigkeit – vor allem aber geht es darum, aufzuzeigen, dass genau diese Eigenschaften im nationalsozialistischen Deutschland und in der kommunistischen DDR fehlten. Außerdem setzt Hein sich mit dem Erinnern und dem Vergessen sowie mit der Narration und der Historie auseinander.44 Der Roman hat drei Zeitebenen und fünf verschiedene Erzählperspektiven. Schauplatz ist die fiktive ostdeutsche Stadt Bad Guldenberg, Erzählgegenwart sind die 1980er Jahre. Verschiedene Erzähler versuchen zu rekonstruieren, was dort im Sommer 1957 geschah; dieser Sommer ist die zweite Zeitebene, die einen Großteil des Romans einnimmt. Aus den fünf Erzählstimmen entsteht eine synoptische, oft widersprüchliche Darstellung der Vorgeschichte des Selbstmords des Historikers Horn, einem Mann mittleren Alters, der Direktor des Museums Guldenburg war und wegen angeblich subversiver Äußerungen von der kommunistischen Regierung verfolgt wurde. Die dritte Zeitebene liegt 20 Jahre vor der zweiten in der NS-Zeit. Zwischen der NS-Verfolgung „unerwünschter“ Menschen und den „politischen Säuberungen“ der Kommunisten, von denen Dissidenten in den 1950er Jahren betroffen waren, wird ein direkter Zusammenhang hergestellt. Wie Anderschs Roman ist also auch dieses Buch multiperspektivisch – es setzt sich zusammen aus Zeitzeugenberichten von Stadtbewohnern, darunter Marlene Gohl, einer als psychisch krank geltenden Frau, die 1940 knapp dem „Euthanasie“-Programm entging. Marlenes Erzählweise steht in starkem Kontrast zu den unehrlichen und nur auf den eigenen Vorteil bedachten Stimmen der vier anderen Erzähler. Ihre Rolle ist es, mit klarem Blick die Stadt und ihre Bewohner zu kommentieren, eben weil sie selbst nicht richtig dazu gehört, ähnlich wie Bertha in Anderschs Roman. Durch die fünf unterschiedlichen Zeitzeugenberichte wird nicht nur deutlich, dass Erinnerung subjektiv ist und die Vergangenheit nie eindeutig dokumentiert werden kann; darüber hinaus werden die Stadtbewohner als Denunzianten entlarvt, die nach wie vor Menschen, die sie als „anders“ wahrnehmen, ausgrenzen und diskriminieren. An den Charakteren Horn und Marlene werden Zusammenhänge zwischen der NS-Vergangenheit und der kommunistischen Gegenwart sichtbar: Horns Ausgrenzung durch die Stadtbewohner und deren Stillschweigen über seinen 44 | Vgl. zu Heins Auffassung von Geschichte außerdem David W. Robinson: Deconstructing East Germany. Christoph Hein’s Literature of Dissent. Rochester, NY: Camden House 1999; sowie Phillip S. McKnight: Understanding Christoph Hein. Columbia: University of South Carolina Press 1995, S. 40–87.

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Suizid spiegelt sich in Marlenes Ausgrenzung in den 1940er Jahren und ihrer Denunziation als „schwachsinnig“. Wir erfahren, dass Marlenes Eltern versucht hatten, sie vor den Behörden zu verstecken, und dass es ihrer Mutter gelang, sich an ihrer statt deportieren zu lassen, nachdem Marlene von einem Nachbarn denunziert worden war. Die Mutter wurde letztendlich im Zuge des „Euthanasie“-Programms ermordet. Als die Nachbarn bemerkten, dass Marlene noch am Leben ist, reagierten sie schockiert: Wie ein Hagelschlag, eisig und alles vernichtend, traf diese Nachricht unsere kleine Stadt. Die Erleichterung, die nach der Denunziation und dem vermeintlichen Transport der Kranken in die Anstalt zu bemerken war, schlug nun um in stummes Entsetzen [...] Obgleich viele in der Stadt die Wahrheit wußten, wagte es keiner, sie laut auszusprechen. [...] Die schlechten Kriegsnachrichten, die vorrückenden Russen und die nächtlichen Bombardements deutscher Städte durch englische Flugzeuge ließen es denen, die etwas gehört oder gesehen hatten, wohl ratsam erscheinen, keine zweie Denunziation zu wagen. 45

Die Stadtbewohner hätten Marlene also ein zweites Mal denunziert, wenn das Kriegsende nicht unmittelbar bevorgestanden hätte und damit auch das absehbare Ende der „Säuberungen“. Nach dem Krieg wird der Name von Marlenes Mutter auf dem Grabstein eines leeren Grabes angebracht, eine mahnende Erinnerung an die verdrängte Schuld der Stadtbewohner. Nicht nur verbleibt Marlene in ihrer Außenseiterrolle, sie wird außerdem zu einer Art Wiedergänger und damit unheimlich. Marlene und ihr Vater halten nach Kriegsende an ihrem Einsiedlerdasein fest: „Es war, als habe sich [...] seit dem Ende des Kriegs nichts geändert.“46 Ihre einzigen Freunde sind die ebenfalls ausgegrenzten „Zigeuner“, die jeden Sommer in die Stadt kommen. Sie sind mit Marlene verbunden, weil sie als Bevölkerungsgruppe ebenfalls vom NS-Regime verfolgt und später weiter als Außenseiter behandelt werden. Im Charakter des Historikers Horn zeigt sich außerdem, dass die Mechanismen, mit denen Menschen zu „Anderen“ gemacht werden, sich nicht nur gegen die traditionell betroffenen Bevölkerungsgruppen richteten, sondern zur Ausgrenzung und Verfolgung jedes beliebigen Mitglieds der Gemeinschaft eingesetzt werden können. Auch Horn wird in eine Außenseiterrolle gedrängt und somit implizit mit Marlene und den „Zigeunern“ assoziiert, als Verkörperung der „Anderen“, die als Gefahr für die Homogenität und den Zusammenhalt der Stadt wahrgenommen werden. Marlene und die „Zigeuner“ stellen allein durch ihre Präsenz die Ordnung und ‚heile Welt‘ der Stadt und ihrer Bewohner infrage und die alljährliche Rückkehr der „Zigeuner“ ist, wie Dr. Spodeck, einer der anderen Erzähler, es ausdrückt, ein „wiederkehrendes Schauspiel“:

45 | Christoph Hein: Horns Ende. Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 182–183. 46 | Ebd., S. 185.

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Unheimliche Geschichte Und so sehr der Anblick der dunkelhäutigen Sippe mit ihren bunten Lumpen und ihrem grauen Kraushaar oder den schwarzen Strähnen die Stadt mit in ihrer mürben Rechtschaffenheit und dem unveränderbaren, wohlbehüteten Ablauf der Zeit verstörte, sie erlag doch immer erneut der Faszination und Verärgerung, die dieses weitgereiste Elend ihr an unbegreif licher Ferne, Fremdheit und unverständlichen, gutturalen Schreien darbot. 47

Obwohl Spodeck also behauptet, dass die „Zigeuner“ die Ordnung der Stadt stören, ist offensichtlich, dass ihre alljährliche Wiederkehr eine gewisse Kontinuität und zyklische Temporalität sicherstellt. Dazu passt, dass Dr. Spodeck seinen Bericht – mit dem auch der Roman einsetzt – mit der Feststellung beginnt: „In jenem Jahr waren die Zigeuner spät gekommen“.48 Gemeint ist hier 1957, das Jahr, in dem der Historiker Horn Selbstmord beging. Hier zeigt sich, dass die regelmäßige Rückkehr der Außenseiter von der Stadtbevölkerung genutzt wird, ihren eigenen inneren Zusammenhalt zu stabilisieren, und zwar in so hohem Maße, dass ihre verspätete Ankunft eine Störung in der ewigen Wiederkehr des Gleichen darstellt, auf die sich die Gemeinschaft stützt. Die Stadtbewohner begegnen Marlenes Vater mit Misstrauen. Er wirkt auf sie nicht wie „einer von uns“, sondern stets „wie ein Besucher, fremd und zurückhaltend, verwunderlich und unberührbar, ein ständiger Gast, aber kein Mitbürger“.49 Sie sehen diesen Außenseiterstatus als selbst gewählt an und die Tatsache, dass er die „Zigeuner“ nicht als Schauspiel, sondern als Gleichgestellte wahrnimmt, scheint diese Einschätzung noch zu bestätigen. Die Stadtbewohner empfinden dies als Verrat und beginnen, ihm seine „rätselhafte Beziehung zu den Zigeunern“ übelzunehmen.50 Auf die „Zigeuner“ hingegen scheinen Marlene und ihr Vater eine gewisse Anziehungskraft auszuüben, was wiederum bei den Stadtbewohnern auf Unverständnis stößt; einer von ihnen mutmaßt: „vielleicht sind die Verrückten für die Zigeuner heilige Leute“.51 Die „Zigeuner“ scheinen Marlene tatsächlich für eine Art Seherin oder Prophetin zu halten. Marlene wird, ähnlich wie auch Bertha in Sansibar, als kindliches, unschuldiges und harmloses Opfer dargestellt. Während aber die anderen behinderten Figuren, die ich bisher untersucht habe, darauf beschränkt sind, einen einzelnen Satz oder Witz kontinuierlich zu wiederholen, hat Marlene eine eigenständige Erzählstimme: Ihre Kapitel haben die Form eines Bewusstseinsstroms; es sind Monologe, die sie an ihre tote Mutter richtet. Auch wenn sie keine direkten Informationen zu den Umständen von Horns Tod zur Verfügung stellt, trägt ihre Sicht auf die Stadtbewohner mit ihren Vorurteilen und ihrer Heuchelei dazu bei, ein genaueres Bild entstehen zu lassen. Die Funktion ihrer Erzählstimme ist es, das 47 | Ebd., S. 10. 48 | Ebd., S. 7. 49 | Ebd., S. 185. 50 | Ebd., S. 184. 51 | Ebd., S. 180.

Kapitel 2

Urteil der anderen darüber, was und wer „normal“ ist und was wirklich geschieht und geschehen ist, infrage zu stellen. Marlene scheint keine Vorstellung davon zu haben, was Erinnern und Vergessen heißt, weil sie in einer ewigen Gegenwart lebt. Ihr Empfinden von Gleichzeitigkeit geht mit einer mystischen Beziehung zur Natur und zur Sprache einher. Marlene steht für verlorene Unschuld und für Menschlichkeit. Ihre prophetischen Träume machen sie zu einer modernen Version der mythologischen Seherin Kassandra: „Meine Träume sind die Schatten, die im voraus auf die Erde fallen und mir die Dinge ankünden. Die guten und die schlechten.“52 Und wie Kassandra wird ihr kein Glauben geschenkt; ihre Mitmenschen halten sie für eine Wahnsinnige. Ihrer quasi-mythischen Sprechweise fehlen die rationalen und abstrakten Begriffe, die die „normalen“ Charaktere in diesem Roman verwenden, und genau dies scheint zur Folge zu haben, dass Marlenes Geschichte der Wahrheit näherkommt als die Geschichten der anderen. Die Leute sagen, ich sei verrückt. Das ist lustig, Mama. Meine Träume haben mir gesagt, daß sie verrückt sind und nicht ich. Sie haben mir gesagt, daß ich sehe und weiß, was die anderen nicht sehen können und nicht wissen. Darum sind sie wütend und lachen über mich und sagen, daß ich verrückt sei. Einmal, so sagen meine Träume, werden diese Leute sehen, was ich sehe. 53

Auch wenn diese Passage eine Erlöser- oder Helferfunktion nahezulegen scheint, gelingt es Marlene letztlich nicht einmal, sich selbst zu retten, weil ihre Welt für die von Unterdrückung geprägte Wirklichkeit weder Alternative noch Ausweg ist. Sie träumt davon, den gutaussehenden „Zigeuner“ Carlos zu heiraten. Als sie gegen Ende des Romans von einem ortsansässigen Säufer vergewaltigt wird, zerbricht dieser Traum aber. Sie beschreibt die Vergewaltigung selbst als „Hochzeit“, die sie mit dem Geschlechtsakt gleichzusetzen scheint. Ihre zugleich verspielte und den Wortsinn betonende Beziehung zur Sprache zerfällt unter der brutalen Realität dieser Erfahrung: Ich kann [Carlos] nicht heiraten, Mama, denn ich bin schon verheiratet. [...] Ach, Mama, warum hast du mich belogen? [...] Warum hast du mir erzählt, es sei schön? Es war nicht schön, Mama. Ich habe geglaubt, ich sterbe. [...] Warum darf man nicht die Wahrheit sagen, sondern soll lügen und behaupten, daß es schön sei? Oder heißt schön bei euch Verrückten, daß es fürchterlich ist? Habt ihr denn auch die Worte verrückt gemacht? 54

Marlene verwendet immer wieder das Wort verrückt, um die irrationalen und willkürlich scheinenden Dinge zu beschreiben, die Menschen in ihrer Umgebung tun und sagen. Vor der Vergewaltigung gibt ihr die Überzeugung, dass 52 | Ebd., S. 45. 53 | Ebd., S. 47. 54 | Ebd., S. 234.

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Begriffe genau das bedeuten, was sie aussagen, ein Gefühl der Sicherheit. Doch dann lernt sie, dass selbst die Sprache verlogen ist. Mit der Figur der Marlene wirft Hein die Frage auf, was genau sich seit der NS-Herrschaft geändert hat angesichts dessen, dass Menschen wie Horn oder Marlene nach wie vor ausgegrenzt werden, zwar nicht länger von einem totalitären Staat, aber von den Bewohnern der Stadt. Im rationalistischen und entfremdeten Alltag der Bewohner von Bad Guldenberg gibt es keinen Platz für das karnevaleske Verhalten der „Zigeuner“ und für Marlenes märchenhafte Welt. So gesehen lebt Marlene tatsächlich in einer ahistorischen Gleichzeitigkeit des Diachronen: Sie ist nach wie vor die bedrohliche „Andere“.55 Während also Andersch eine idealisierte Version der Geschichte schreibt, in der die Deutschen mutige Dissidenten und die Nationalsozialisten die „Anderen“ sind, konfrontiert Hein die angeblich antifaschistische Ideologie der DDR und die Illusion der „Stunde Null“, des Neubeginns im Jahr 1945, mit einem düsteren Gegennarrativ. Marlene wird in der Literaturkritik als problematische Figur wahrgenommen – nicht aufgrund ihrer symbolischen oder allegorischen Funktion im Roman, sondern, weil sie angeblich eine unrealistische Darstellung von geistiger Behinderung sei. Vor allem der Kritiker Heinz-Peter Preußer hält Marlenes Fähigkeit, sich „in komplexen, grammatikalisch stimmigen Sätzen“ auszudrücken, für bestenfalls unplausibel. Besonders unglaubwürdig findet er, wie leicht ihr die Verwendung des Konjunktivs fällt, was ihm mit ihrem „eingeschränkte[n] Bewußtsein“ unvereinbar scheint.56 Ihre Sprechweise passt in seinen Augen nicht zu seinen vorgefassten Vorstellungen von Behinderung. Geistig behinderten oder kranken Menschen auf diese Weise generell jede sprachliche Fertigkeit abzusprechen, unabhängig davon, wie schwerwiegend ihre gesundheitlichen Probleme sind, zeugt von einer sehr beschränkten Auffassung von solchen Behinderungen und Krankheiten. Außerdem bleibt dabei völlig unberücksichtigt, dass der Marlene zugeschriebene „Wahnsinn“ im Roman zumindest teilweise in Frage gestellt wird – genau wie in Anderschs Roman sind es die Stadtbewohner, die „Anderen“, die Marlene für wahnsinnig oder behindert halten, doch Marlenes Krankheit wird nicht genau benannt. Man könnte sogar sagen, dass Marlenes – und auch Berthas – „Wahnsinn“ genau dem entspricht, was der Diskurs der Normalität als erzählerische Prothese („narrative prosthesis“) benötigt, um sich selbst als vollständig und makellos darzustellen. Indem Hein in diesem Roman die jener Ausgrenzungsgeste zugrunde liegende, auf den eigenen Vorteil bedachte und heuchlerische Logik herausarbeitet – von der Marlene ebenso wie die exotischen „Zigeuner“ betroffen sind – zielt er darauf ab, Kontinuitäten zwischen dem euge55 | Vgl. Bernd Fischer: Christoph Hein. Drama und Prosa im letzten Jahrzehnt der DDR. Heidelberg: Winter 1990, hier S. 108–109.

56 | Heinz-Peter Preußer: „Hoffnung im Zerfall. Das Negative und das Andere in Horns Ende“, in: Klaus Hammer (Hrsg.): Chronist ohne Botschaft, Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Materialien, Auskünfte, Bibliographie. Berlin: Auf bau 1992, S. 134–146, hier S. 138.

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nischen Gedankengut der NS-Herrschaft und der DDR der 1980er Jahre offenzulegen. Wenn Kritiker wie Heinz-Peter Preußer es nicht für realistisch halten, dass eine geistig behinderte Person den Konjunktiv verwendet, ignorieren sie nicht nur, dass Behinderungen auf einem breiten Spektrum angesiedelt sind; sie signalisieren zugleich genau jenes Weiterbestehen stereotyper Vorstellungen vom „Anderen“, um deren Kritik es in dem Roman gerade geht.

D er behinderte Te x t : D ie B lechtrommel und

ihre

R ezeption

Die bisher untersuchten psychisch kranken und behinderten Figuren waren zum großen Teil unschuldige Opfer, die zwar über besondere Gaben oder Erkenntnisfähigkeiten verfügten, sie blieben aber dennoch letztlich hilflos und ohne jede Handlungsfähigkeit und spielten letztlich eine marginale Rolle. Ihre Krankheiten und Behinderungen blieben vage und rätselhaft, letztlich erschöpfte sich ihre Rolle darin, die moralische Botschaft des jeweiligen Texts zum Ausdruck zu bringen. Und wie die kritische Auseinandersetzung mit Marlene als Charakter und Erzählstimme gezeigt hat, ist die Wahl einer angemessenen Darstellungsweise nur der halbe Weg: Oft bleibt die Rezeption der Werke hinter den von den Autoren gewählten Darstellungsstrategien zurück. Das bedeutet wiederum, dass wir nicht nur die Autoren und ihre Werke, sondern auch die Reaktion von Lesern und Kritikern berücksichtigen müssen, um uns ein Bild davon zu machen, wie es in der deutschen Nachkriegskultur um die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ stand. Grob gesprochen wurde die gespenstische Präsenz der Opfer der NS-„Euthanasie“ in der zeitgenössischen Literatur entweder vollkommen ignoriert oder – wie eben gezeigt – zum Anlass von Debatten, in deren Mittelpunkt die Frage stand, ob die Kritiker sich durch die behinderten Charaktere in ihren Vorurteilen bestätigt sahen oder nicht. Wenden wir uns nun vor diesem Hintergrund dem wohl wichtigsten deutschen Nachkriegsroman zu, in dem die Erinnerung an die NS-Herrschaft und an das „Euthanasie“-Programm thematisiert wird: Die Blechtrommel von Günter Grass ist ein Paradebeispiel für die Problematik der zeitgenössischen Rezeption solcher Texte. Von der zeitgenössischen Kritik wurde die Rolle der NS-„Euthanasie“ in diesem Roman bis auf wenige Ausnahmen ignoriert oder als unbedeutend abgetan. Noch problematischer ist die Art, wie der Roman vor allem in zeitgenössischen Rezensionen beschrieben wird, nämlich als gewissermaßen entartete Kunst. In der zeitgenössischen Rezeption der Blechtrommel kommen also genau jene Kontinuitäten zwischen der Zeit der NS-Herrschaft und Nachkriegs-Deutschland zum Ausdruck, deren Aufdeckung und Kritik ein wichtiges Ziel des Buchs sind – was den Mythos der „Stunde Null“ von 1945 Lügen straft. Bevor ich mich mit der kritischen Rezeption befasse, möchte ich kurz darauf eingehen, wie im Roman die Themen Behinderung und Ausgrenzung während

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der NS-Herrschaft und in der Bundesrepublik explizit angesprochen werden. Der berühmte Anfang des Romans zeigt bereits dessen radikal neue Herangehensweise. Schon im ersten Satz „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“57 wird deutlich, dass wir im Begriff sind, die Geschichte, ja, sogar die Autobiographie eines vermeintlich Wahnsinnigen zu lesen. Die Blechtrommel ist von allen bis hierhin untersuchten Darstellungen der innovativste Beitrag, weil die Handlung ausschließlich aus der Sicht eines potenziellen Opfers der NS-„Euthanasie“ erzählt wird: Wir sehen das Geschehen nur aus der Perspektive des kleinwüchsigen, verkrüppelten und vermeintlich wahnsinnigen Oskar Matzerath. In seiner Selbstbeschreibung legt Oskar von Anfang an nahe, dass er eine Art Seher ist oder genauer ein „Hörer“ mit magischen Kräften: „Ich gehörte zu den hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur noch bestätigen muss“.58 Mit der Adverbialbestimmung „zugegeben“ wird schon im ersten Satz des Romans eine Dichotomie zwischen Oskars Selbstwahrnehmung und dem, wie andere ihn sehen, suggeriert. Indem er den Lesern schrittweise den Wahnsinn der „normalen“ Menschen aufzeigt – seiner Eltern und Nachbarn, die das den Roman bevölkernde Kleinbürgertum repräsentieren –, lässt Oskar Zweifel an seinem eigenen Wahnsinn aufkommen. Bereits der erste Satz suggeriert, dass alles, was im Roman erzählt wird, „verdächtig“ ist.59 Auf beiden Zeitebenen des Romans ist im Hinblick auf Oskars Gemütszustand und seine Schuld durchgängig eine gewisse Ambiguität zu spüren – war er ein Opfer oder war er an dem, was während der Herrschaft der Nationalsozialisten geschah, beteiligt? In der NS-Zeit läuft Oskar ständig Gefahr, dem „Euthanasie“-Programm zum Opfer zu fallen. Als vermeintlich geistig zurückgebliebener, kleinwüchsiger „Krüppel“ mit unstetem Wanderdasein, dubiosem Familienhintergrund und einer kriminellen Vorgeschichte gehört er allen Opfergruppen der Nationalsozialisten zugleich an. Er begeht zudem noch weitere kleinere Verbrechen und profitiert als Unterhaltungskünstler an der Westfront selbst von den Nationalsozialisten. Welche Rolle er beim Tod seiner Mutter und seiner beiden Väter spielt, bleibt ebenfalls ungeklärt. Nach dem Krieg versucht Oskar vergeblich, sich anzupassen, indem er sich ein weiteres Mal einer Gesellschaft, die ihn nach wie vor als Ausgestoßenen behandelt, als Unterhaltungskünstler anbietet und wird letzten Endes als Mörder eingesperrt. Auch wenn Oskar erklärt, er sei froh, in der psychiatrischen Klinik einen Zufluchtsort gefunden zu haben, kann seine Einweisung nur als bitter-ironischer Kommentar zur fortdauernden Marginalisierung behinderter Menschen in den Nachkriegsjahren gelesen werden: Was den Nationalsozialisten nie gelang – nämlich den unberechenbaren Oskar einzusperren – gelang schließlich der Bundesrepublik Deutschland. 57 | Günter Grass: Die Blechtrommel. München: Luchterhand 1959, S. 9. 58 | Ebd., S. 35. 59 | Vgl. Patrick O’Neill: Günter Grass Revisited. New York: Twayne 1999, S. 29.

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Diese Ambiguität zwischen Opfer und Täter wird sprachlich dadurch verdeutlicht, dass Oskar als Erzähler zwischen der ersten und der dritten Person hin und her wechselt, oft innerhalb eines einzigen Satzes, als ob er einen schizophrenen Geisteszustand darstellen wolle – oder einen solchen vortäuscht –; er erlebt das, was er erzählt, und zugleich widerfährt es ihm. Zudem brechen immer wieder scheinbar wahnsinnige, mäandernde Reden in die Erzählung ein, wenn Oskars narrative Gewalt ihn selbst in einen prophetischen Rederausch zu versetzen scheint, etwa im Kapitel „Glaube Hoffnung Liebe“, das mit einer Vision des Weihnachtsmanns als „Gasmann“ endet, und dem unheilschwangeren, immer wieder auftauchenden Bild der „Schwarzen Köchin“. Dass Oskar tatsächlich Gefahr läuft, der „Sonderbehandlung“ der NS-„Euthanasie“ zum Opfer zu fallen, wird bei seiner ersten Begegnung mit dem kleinwüchsigen Bebra angedeutet, der ihn warnt: „Unsereins muß vorspielen und die Handlung bestimmen, sonst wird unsereins von jenen da behandelt. Und jene da spielen uns allzu gerne übel mit“.60 Diese Passage ist eine von vielen, in denen Grass’ behinderte Figuren NS-Euphemismen durchschauen, untergraben oder verspotten. In welcher Gefahr Oskar schwebt wird noch deutlicher, als ein Beamter des Gesundheitsministeriums seinen Vater Alfred auffordert, Oskar in eine Anstalt einweisen zu lassen. Seine Stiefmutter Maria ist dem Gedanken, Oskar loszuwerden, ganz und gar nicht abgeneigt. Sie sagt zu Alfred: „[Er] weiß nich zu leben und weiß nich zu sterben!“,61 und stellt ihn so als hilfloses „lebensunwertes Leben“ dar. Hier klingen Argumente an, die die Nationalsozialisten zur Rechtfertigung des „Euthanasie“-Programms anführten. Alfred sträubt sich dagegen, weil er an einem Versprechen festhält, dass er Oskars Mutter Agnes auf ihrem Sterbebett gab: „Das geht doch nich. Man kann doch den eigenen Sohn nich. Selbst wenn er zehnmal und alle Ärzte dasselbe sagen. Die schreiben das einfach so hin. Die haben wohl keine Kinder.“62 Hier zeigt Maria ihr wahres Gesicht, das einer kleinbürgerlichen Opportunistin, und Oskar sieht vor seinem geistigen Auge bereits, wie sie ihn in einer „Euthanasie“-Anstalt zurücklässt. Wirklich gefährlich wird es aber erst, als sein riskantes Unternehmen mit der berüchtigten Stäuber-Bande sogar Alfred davon überzeugt, dass es besser wäre, Oskar in eine Anstalt einzuliefern. Alfred unterschreibt einen entsprechenden Brief, der aber nie zugestellt wird, weil Danzig von der russischen Armee eingeschlossen wird und der Krieg damit zu Ende ist. Von den zahllosen literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Blechtrommel geht nur eine näher darauf ein, wie der Roman sich kritisch mit der nationalsozialistischen Biopolitik und Verfolgung nicht-jüdischer Minderheiten und 60 | Grass: Die Blechtrommel, S. 53. Außerdem klingt in dem Verb „behandeln“ der NS-Euphemismus „Sonderbehandlung“ an, der für die Vernichtung von „Unerwünschten“ verwendet wurde, wie wir schon bei Anna in der Miniserie Holocaust gesehen haben.

61 | Ebd., S. 171. 62 | Ebd.

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den diesbezüglichen Kontinuitäten nach 1945 auseinandersetzt, und zwar Peter Arnds’ Representation, Subversion, and Eugenics in Günter Grass’s The Tin Drum.63 Arnds interessiert sich hauptsächlich für Oskar als Konglomerat literarischer und volkstümlicher Traditionen und er zeigt, wie Grass karnevaleske, groteske und märchenhafte Elemente zu einer subversiven Darstellung der Verfolgung von „Asozialen“, Behinderten, Kriminellen und Dissidenten durch die Nationalsozialisten zusammenfügt. Ausgehend von Michail Bachtins bahnbrechendem Buch Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur64 identifiziert Arnds drei Die Blechtrommel prägende Darstellungsweisen, die alle in der Figur des Oskar aufeinandertreffen: Für die Darstellung der Verfolgung körperlich behinderter Menschen wird die Tradition der Zwergenmärchen herangezogen, Figuren aus der Karnevalstradition wie etwa der Gauner, der Narr und der Harlekin für die der Verfolgung geistig behinderter Menschen, und für die Darstellung von Dieben, Landstreichern und anderen Menschen am Rande der Gesellschaft stehen Elemente des Schelmenromans Pate. Arnds schreibt, dass die Dichotomie des klassischen und des grotesken modus vivendi, angewendet auf Deutschland in der NS-Zeit, die Konfrontation der nationalsozialistischen Eugenik mit unterschiedlichsten sogenannten Asozialen entspricht: körperlich und geistig Behinderten, Landstreichern, Kriminellen und für ‚arbeitsscheu‘ gehaltene Menschen. 65

63 | Vgl. Peter O. Arnds: Representation, Subversion, and Eugenics in Günter Grass’s The Tin Drum. Rochester, NY: Camden House 2004. Auf vergleichbare Weise hält Elizabeth C. Hamilton Die Blechtrommel für einen Wendepunkt in Prosadarstellungen behinderter Außenseiterfiguren; siehe „From Social Welfare to Civil Rights. The Representation of Disability in Twentieth-Century German Literature“, in: David T. Mitchell/Sharon L. Snyder (Hrsg.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability. Ann Arbor: University of Michigan Press 1997, S. 223–239. Hamilton konzentriert sich aber ausschließlich auf körperliche Behinderungen. Zu anderen Interpretationen des Romans, die auf das Thema Behinderung eingehen, nationalsozialistische Eugenik aber nicht explizit ansprechen, gehören z.B. Ryan: The Uncompleted Past, S. 56–69; Volker Neuhaus: Günter Grass. „Die Blechtrommel“. Interpretation. München: Oldenbourg 1982; Franz Josef Görtz: „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Ein Kapitel deutscher Literaturkritik. Darmstadt: Luchterhand 1984; Bernard McElroy: „Lunatic, Child, Artist, Hero. Grass’s Oskar as a Way of Seeing“, in: Forum for Modern Language Studies 22.4 (1986), S. 308–322; Rainer Scherf: Das Herz der Blechtrommel und andere Aufsätze zum Werk von Günter Grass. Marburg: Tectum 2000; sowie Elizabeth Krimmer: „‚Ein Volk von Opfern?‘ Germans as Victims in Günter Grass’s Die Blechtrommel and Im Krebsgang“, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 44.2 (2008), S. 272–290.

64 | Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

65 | Arnds: Representation, S. 6.

Kapitel 2

Arnds erklärt außerdem, dass Grass nicht nur die NS-Ideologie von Gesundheit, Disziplin und Unterwerfung mit einer grotesken Gegenkultur kontrastiere, sondern zugleich auch die Nachkriegskultur mit ihrem Glauben an Rationalität und Wiederauf bau, indem er den „unkonventionellen Körper, den unkonventionellen Geist, den Wahnsinn des Individuums, aber auch der Familie, und außerdem eine nicht-sesshafte Lebensweise als dynamisches Gegenstück zur geschlossenen, statischen Lebensweise des Bildungsbürgertums“66 feiert. Bei seiner Interpretation geht Arnds neben Oskar vor allem auf die anderen beiden kleinwüchsigen Figuren ein: Bebra und Signora Roswitha Raguna. Beide können als Varianten der magischen Helferfigur gesehen werden, die wir bereits in den Kurzgeschichten von Böll und Schnurre kennengelernt haben. Statt Arnds’ sorgfältige Analyse einfach wiederzugeben, werde ich eine dritte Außenseiter-Figur näher beleuchten, die bisher nicht in ausreichendem Maße untersucht worden ist: Schugger Leo. Weil er obdachlos ist und als wahnsinnig gilt, ist Schugger Leo ebenfalls ein potenzielles Opfer der NS-„Euthanasie“.67 Wie Bertha in Anderschs Roman ist auch er mit entscheidenden Handlungsmomenten assoziiert, die er zudem kommentiert. Schugger Leo, „eine stadtbekannte Person“,68 wird als ein brabbelnder und sabbernder Irrer eingeführt, der in einem schmutzigen und verknitterten schwarzen Anzug, einen Zylinder auf dem Kopf– also in der typischen Kleidung von Kapitalisten und Leichenbestattern – auf Beerdigungen auftaucht, die Trauernden begrüßt und für seine Beileidsbezeugungen ein wenig Kleingeld erhält. Er taucht im Text das erste Mal bei der Beerdigung von Oskars Mutter Agnes auf und sagt dort: „Nun ist sie schon dort, wo alles so billig ist. Habt ihr den Herrn gesehen? Habemus ad Dominum. Er ging vorbei und hatte es eilig. Amen“.69 Der Satz „Habt ihr den Herrn gesehen?“, den Schugger Leo bei jeder Gelegenheit wiederholt, wird sein Markenzeichen und wird im Verlauf der Handlung immer wichtiger. Das nächste Mal taucht Leo dann im Kapitel „Glaube Hoffnung Liebe“ bei der Beerdigung von Oskars Stiefonkel Herbert Truczinski als Prophet des Untergangs auf und identifiziert den SA-Mann Meyn als Bedrohung nicht nur für Markus, der Jude ist, sondern auch für Menschen wie ihn selbst: „Nur der SA-Mann durfte den weißen Handschuh nicht fassen, weil Leo den SA-Mann erkannte, fürchtete und ihm laut schreiend den Handschuh und das Beileid entzog“.70 „Glaube Hoffnung Liebe“ ist ein zentrales Kapitel, in dem nicht nur die Heuchelei der Nationalsozialisten satirisch entlarvt wird, sondern zudem gezeigt wird, inwiefern es „nicht trotz, sondern gerade wegen der Normalbürger“ zum Holocaust kommen konnte, und zwar mit „nur einer geringfügigen 66 | Ebd. 67 | Der Begriff „Schugger“ kommt von dem jiddischen Wort meschugge, das verrückt bedeutet.

68 | Grass: Die Blechtrommel, S. 79. 69 | Ebd., S. 79. 70 | Ebd., S. 93.

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oder sogar ohne Störung des vorhandenen Wertesystems“.71 Vor dem, was Juden und anderen „Unerwünschten“ widerfährt, scheinen Oskars Nachbarn die Augen zu verschließen; als sie aber erfahren, dass der SA-Mann Meyn seine vier Katzen misshandelt und getötet hat, verurteilen sie ihn dafür in aller Schärfe. An anderer Stelle denkt Oskar über Menschen nach, die an den Nikolaus glauben – und kommt durch eine assoziative Gedankenkette zu dem Schluss, dass dieser in Wirklichkeit der „Gasmann“ ist. Er ist tief beunruhigt darüber, welche Gefahr die neue „Staatsreligion“, wie er es ausdrückt, für ihn, einen „zwergenhaften Trommler“, bereithalten könnte. Auch nach dem Ende der NS-Herrschaft sieht er in dem Eifer, jeden auszugrenzen der anders ist, letzte Überreste der NSZeit in der Bundesrepublik: „Und als dann Schluss war, machten sie schnell einen hoffnungsvollen Anfang daraus“.72 Der Mythos der sogenannten Stunde Null erweist sich auch hier als Illusion, die praktischerweise verdeckt, dass Menschen wie Oskar nach wie vor Verfolgung droht: „Ich aber, ich weiß nicht. Ich weiß zum Beispiel nicht, wer sich heute unter den Bärten der Weihnachtsmänner versteckt, weiß nicht, was Knecht Ruprecht im Sack hat, weiß nicht, wie man die Gashähne zudreht und abdrosselt“.73 Dass Schugger Leo auf mystische Weise mit Oskar verbunden ist, wird noch deutlicher, als er herausfindet, wo Oskars Onkel Jan und einige andere, die in Gefangenschaft geraten waren, als sie während der Eroberung von Danzig das Postamt verteidigten, von den Nationalsozialisten erschossen und vergraben wurden. Leo führt Oskar zu der Stelle, an der er eine leere Patronenhülse und eine Skatkarte gefunden hatte, die Jan bei sich trug, als er von den Nationalsozialisten gefangen genommen wurde. Leos Hilfe ermöglicht es Oskar also, seiner Großmutter zu sagen, wo Jan begraben liegt, so dass die Familie um ihn trauern kann. Er gibt ihr die Skatkarte und die Patronenhülse als Beweis. Zu Leos letztem und spektakulärstem Auftritt kommt es dann am Ende des Kriegs bei Alfred Matzeraths Begräbnis. Es stellt sich heraus, dass die Frage „Habt ihr den Herrn gesehen?“ keineswegs rhetorisch gemeint ist, sondern sich auf Oskar bezieht. Leo betrachtet Oskar, der sich gern mit Jesus vergleicht, schon sehr lange als seinen „Herrn“ und darum ist es nicht überraschend, dass nur er es bemerkt, als Oskar zu wachsen beginnt. Leo ruft voller Freude: „Der Herr, der Herr! [...] Nu seht den Herrn, wie er wächst, nu seht, wie er wächst!“.74 Seine Rolle, die Handlung wie in einer Tragödie zu kommentieren, scheint damit abgeschlossen zu sein und er rennt davon, verfolgt von den Gewehrschüssen der Russischen Soldaten. Oskars Erzählung ist an diesem Punkt absichtlich vage; es bleibt offen, ob die Schüsse Schugger Leo töten. Er taucht nämlich wie ein Gespenst nach dem Krieg in Düsseldorf wieder auf, wo ihn Oskar, der nun bei einem Steinmetz in die 71 | O’Neill: Günter Grass Revisited, S. 24. 72 | Grass: Blechtrommel, S. 95. 73 | Ebd., S. 96. 74 | Ebd., S. 193.

Kapitel 2

Lehre geht, auf einem Friedhof zu sehen glaubt. Der wiedergeborene Schugger Leo, nun Sabber Willem genannt, schweigt bis zum Ende des Romans geheimnisvoll. Für Menschen wie Schugger Leo scheint in der Bundesrepublik kein Platz zu sein, und auch Oskar zieht sich mehr und mehr aus der Gesellschaft zurück. Schugger Leo ist, wie auch Bebra und Roswitha, ein weiteres Beispiel für einen weisen Narren: Er unterstützt Oskar mit seiner besonderen Erkenntnisfähigkeit. Weil dieser als Protagonist und Erzähler hier aber ebenfalls marginalisiert und behindert ist, steht er in einem anderen Verhältnis zu der Helferfigur als die Protagonisten in den bisher untersuchten Texten. Oskar fühlt eine echte Verbundenheit mit Bebra, Roswitha und Schugger Leo, weil er ihre Außenseiterperspektive auf die Welt teilt, selbst wenn er nicht gleichermaßen marginalisiert ist wie diese. An der ambivalenten Haltung der Gesellschaft zu Figuren wie Leo und Oskar hat sich mit dem Ende des Kriegs nichts geändert, was deutlicher wird, je stärker Oskar versucht, sich an die konsumbesessene, auf Erfolg und Leistung ausgerichtete Nachkriegsgesellschaft anzupassen: Niemand nimmt ihn ernst; sein Anderssein wird entweder noch betont oder er wird ganz ignoriert. Als Oskar die Krankenschwester Gertrud zum Tanzen ausführt, lässt sie ihn an der Bar stehen, weil es ihr zu peinlich ist, mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Ein anderes Beispiel ist Oskars Tätigkeit als Modell an der Kunstakademie. Zu Oskars Entsetzen heben die Studenten die grotesken Aspekte seines Körpers noch hervor, lassen seinen Buckel größer erscheinen und stellen ihn als einen „strähnigen Zigeuner“ dar. Wieder einmal ist er ein Außenseiter, eine groteske Figur, in der dem Kunstprofessor Kuchen zufolge der „Wahnsinn unseres Jahrhunderts“ zum Ausdruck komme.75 Am Ende des Romans scheint Oskars Zukunft eher trübe: Es ist keineswegs sicher, dass er je als gesund aus der Anstalt entlassen wird. Und selbst wenn es dazu käme, stünden ihm nur wenige Optionen offen. Ob Oskar sich letztendlich doch aufgibt oder ob er eine letzte, große Show des vorgetäuschten Wahnsinns liefert: der Roman endet in einem assoziativen Wirbel panischer Erinnerungen und Bilder; als eindrücklichste und am meisten furchteinflößende Gestalt kristallisiert sich die „Schwarze Köchin“ heraus. Sie stammt geht auf ein beliebtes Kinderlied zurück und taucht im ganzen Roman immer wieder auf als ein Emblem dafür, wie die Gesellschaft Menschen zum „Anderen“ macht und ausgrenzt.76 In der Kritik wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei der Schwarzen Köchin um ein strukturierendes Element des Buchs handelt. Wichtig ist aber auch, dass sie eine Figur aus einem Kinderspiel ist, wodurch betont wird, dass Kinder bereits in einer sehr frühen Phase zur Ausgrenzung von „Anderen“ erzogen werden. Ein Thema, das diesen Roman auf allen Ebenen durchzieht, ist die Art, wie alle Ge-

75 | Ebd., S. 219 und S. 442. 76 | Vgl. Walter Jahnke/Klaus Lindemann: Günter Grass. Die Blechtrommel. Acht Kapitel zur Erschließung des Romans. Paderborn: Schöningh 1993.

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sellschaften ihren Zusammenhalt und ihren Fortbestand auf Kosten derjenigen sicherstellen, die als „Andere“ kategorisiert werden. Die Veröffentlichung der Blechtrommel löste in der literarischen Szene (West-) Deutschlands einen Skandal aus. In einem von Franz Josef Görtz herausgegebenen Sammelband sind mehr als 40 zeitgenössische Rezensionen zu finden, in den meisten wurde dem Buch vorgeworfen, provokative Blasphemie und pornographische Darstellungen zu enthalten. Interessant ist, dass viele der Kritiker dabei auf einen medizinischen Fachjargon zurückgriffen – eine Ausdrucksweise, die auf unheimliche Weise die „Hygiene“-Terminologie der Nationalsozialisten anklingen ließ. In der Deutschen Tagespost beschrieb Peter Hornung den Roman als eine „epileptische Kapriole“ und „Rebellion des Schwachsinns“.77 Günter Blöker von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisierte den von Grass „vollbewußt herbeigeführten Kretinismus“, da dieser die NS-Zeit darstelle, „ohne auch nur einmal jene Höhe eines erhabenen Schreckens zu erreichen, wo das Geschehen, bei aller schändlichen Komik, ins Tragische umschlüge und damit sinnvoll würde“.78 Das aus meiner Sicht empörendste Echo der nationalsozialistischen „Hygiene“-Politik findet sich in der Besprechung eines Dr. med. H. Müller-Eckhard, in der Kölnischen Rundschau. Müller-Eckhard liest den Roman als Abfolge von psychiatrischen Therapienotizen und warnt davor, „Menschen mit unverdorbenem Geschmack“ diesem gefährlichen Buch auszusetzen, denn es „verherrlicht das Weltbild eines an Leib und Seele verkrüppelten Gnoms“.79 Sein Fazit: „Nach dem Lesen der Blechtrommel überkommt einen das Verlangen nach sehr viel heißem Wasser und nach guter Seife“.80 Nur wenige Rezensenten scheinen bemerkt zu haben, dass Oskar ein potenzielles Opfer der NS-„Euthanasie“ ist. Einer von ihnen ist Jost Nolte, der in einer Besprechung für Die Welt schreibt: „[Oskar] entgeht der Spritze, die Hitlers Ärzte für ihn, den Gnom, bereithalten“.81 Hans Magnus Enzensberger sagt im Süddeutschen Rundfunk, Oskar solle „abgespritzt werden als unnützer Fresser“.82 Enzensberger gehört zudem zu den wenigen Kritikern, von denen Günter Grass’ bewusste Entscheidung gelobt wurde, die Nationalsozialisten nicht als grundlegend fremd und von einer fast grandiosen Bösartigkeit darzustellen: „Seine Blindheit gegen alles Ideologische feit ihn vor einer Versuchung, der so viele Schriftsteller erliegen, der nämlich, die Nazis zu dämonisieren. Grass stellt sie in ihrer wahren Aura dar, die nichts Luziferisches hat: in der Aura des

77 | Peter Hornung: „Oskar Matzerath. Trommler und Gotteslästerer“, in: Görtz: Die Blechtrommel. Attraktion und Ärgernis. Ein Kapitel deutscher Literaturkritik. Darmstadt: Luchterhand 1984, S. 50–52.

78 | Günter Blöker: „Rückkehr zur Nabelschnur“, in: Görtz: Die Blechtrommel, S. 71–76. 79 | H. Müller-Eckhardt: „Die Brechtrommel“, in: Ebd.Görtz, S. 95–99, hier S. 98. 80 | Ebd., S. 99. 81 | Jost Nolte: „Oskar, der Trommler, kennt kein Tabu“, in: Ebd., S. 48. 82 | Hans Magnus Enzensberger: „Wilhelm Meister auf der Blechtrommel“, in: Ebd., S. 64.

Kapitel 2

Miefs“.83 Die negativen Reaktionen auf Die Blechtrommel in der Literarturkritik spiegeln in erstaunlichem Maße die in der allgemeineren Nachkriegsgesellschaft vorherrschenden Mechanismen von Marginalisierung und Ausschließung wider. Behinderte Menschen wurden in der leistungs- und erfolgsbesessenen Bundesrepublik nach wie vor durch Begriffe wie Abweichung oder Mangel bewertet und eingestuft. Elizabeth Hamilton spricht in diesem Zusammenhang von Parallelen zwischen den Zielen des Wiederauf baus in der Nachkriegszeit und den Idealen der Nationalsozialisten: „die Unterdrückung abweichender Verhaltensweisen, eine Erziehung zur Ordnung, Sauberkeit und Disziplin und das Messen einer Person an Kriterien ihrer angeblichen Nützlichkeit für die Gesamtgesellschaft“84 – all diese Kriterien würden nach wie vor aufrechterhalten. Wenn der Roman daher von Kritikern ausgerechnet dafür angegriffen wird, dass er „anders“ sei, dann können diese negativen Rezensionen als eine Art Ausgrenzung verstanden werden, durch die der Roman zu einem ‚behinderten Text‘ gemacht wird. Es wird impliziert, dass er, wie auch der Protagonist, besser weggesperrt werden sollte, um eine „Kontamination“ der ‚gesunden Leser‘ zu verhindern. Die Blechtrommel ist das genaue Gegenteil der „tragischen und somit bedeutungsvollen Erlösungsgeschichten“, die von vielen Autoren und Kritikern bei Darstellungen des Holocaust und der NS-Herrschaft bevorzugt wird. Genau aus diesem Grund wurde der Roman zunächst als skandalös wahrgenommen und löst noch heute bei Lesern Unbehagen aus: der Roman versagt dem Leser konsequent jegliche „unverdiente und unpassende moralische Erbauung“.85 Im Gegenteil: Indem Die Blechtrommel immer wieder auf verschwiegene Kontinuitäten zwischen dem NS-Regime und der Bundesrepublik hinweist und darauf beharrt, dass bestimmte Aspekte der Vergangenheit nach wie vor Bestand haben, erleben Leser durch diesen Roman Geschichte als unheimlich.

83 | Ebd., S. 66. 84 | Hamilton: From Social Welfare to Civil Rights, S. 228–229. 85 | LaCapra: Writing History, Writing Trauma, S. 42.

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Die Überwindung des Schweigens II: Der stellvertretende Zeuge Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. [...] Wir, die das Los verschont hat, haben mit größerer oder geringerer Weisheit versucht, nicht nur von unserem Schicksal, sondern auch von dem der anderen zu berichten, eben derer, die untergegangen sind. Aber es handelte sich dabei um ein Unternehmen ‚für fremde Rechnung‘, um einen Bericht über Dinge, die aus der Nähe beobachtet, doch nicht am eigenen Leib erfahren wurden. Über die zu Ende geführte Vernichtung, über das abgeschlossene Werk, hat niemand jemals berichtet, so wie noch nie jemand zurückgekommen ist, um über seinen Tod zu berichten. [...] Wochen und Monate vor ihrem Ableben hatten sie bereits die Fähigkeit der Beobachtung, der Erinnerung, des Abwägens und des Ausdrucks verloren. Jetzt sprechen wir, als Bevollmächtigte, an ihrer Stelle.1

Mit diesem Kapitel wechseln wir von rein fiktiven Erzählungen zu eher hybriden Texten, größtenteils aus den letzten 20 Jahren, die historiographische oder dokumentarische Elemente enthalten. Diese Texte markieren einen bedeutenden Wandel in der kulturellen Erinnerung und literarischen Darstellung der NS-„Euthanasie“. Dabei geht es nicht nur um die Lebensgeschichten einzelner Opfer, sondern auch darum, einen Beitrag zur allgemeineren Debatte über angemessene Formen des Gedenkens an NS-Verfolgungsopfer zu leisten und darum, die Relevanz dieses Themas für aktuelle Diskussionen zur Sterbehilfe, zur Genforschung oder zur Stellung behinderter und geistig kranker Menschen in der Gesellschaft deutlich zu machen. Obwohl die meisten dieser Texte lokalhistorischen 1 | Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. Aus dem Italienischen von Mosche Kahn. München: Hanser 1990, S. 83–84.

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Ursprungs sind, gelingt es manchen dennoch, eine überregionale Leserschaft zu erreichen und, ähnlich Demnigs Stolpersteinen, weitere pädagogische und Gedenkarbeit anzustoßen.2 Sie können außerdem als Alternative zur traditionellen Holocaust-Literatur verstanden werden und als Hinterfragung dieser Tradition. Aufgrund ihrer Hybridität ist es generell schwierig, diese Texte einer bestimmten der konventionellen Literaturformen zuzuordnen – das haben sie mit vielen Werken der Holocaust-Literatur der zweiten und dritten Generation gemeinsam. Im Unterschied zu diesen ist bei Texten über die NS-„Euthanasie“ aber unweigerlich die von den Tätern angelegte Patientenakte das wichtigste der verwendeten Dokumente. Die in der Sprache der Täter verfasste Krankengeschichte wird, wenn weder private Briefe noch andere Familiendokumente erhalten sind, zur zentralen Informationsquelle. Viele dieser Texte sind daher eine Kombination aus einer Mehrgenerationen-Holocaust-Biographie und einer literarischen Fallgeschichte (oder Psychopathographie), wobei letzteres eine Textform ist, die insbesondere in der deutschen Literatur eine lange Tradition hat.3 Bevor wir uns nun diesen Texten zuwenden, möchte ich auf einen wichtigen Vorläufer dieser literarischen Form eingehen: Alfred Döblins Kurzgeschichte „Die Fahrt ins Blaue“, geschrieben 1946, unmittelbar nach Kriegsende. Döblin (1878–1957) ist vor allem für seinen Roman Berlin Alexanderplatz aus dem Jahr 1929 bekannt. Er war aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch Mediziner. Bevor er in den frühen 1930er Jahren aus dem nationalsozialistischen Deutschland ins Exil floh, arbeitete er als Nervenarzt. Nach seinem Studium in Freiburg unter Alfred Hoche hatte er 1905 über Gedächtnisstörungen bei Patienten mit Korsakow-Syndrom promoviert. Hoche sollte später gemeinsam mit Karl Binding die berüchtigte Abhandlung Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens verfassen, die nach ihrer Veröffentlichung 1920 bei der wissenschaftlichen Legitimierung des NS-„Euthanasie“-Programms eine entscheidende Rolle spielte.

2 | Beispiele hierfür wurden bereits im ersten Kapitel erwähnt: Spurensuche Grafeneck, ein dokumentarisches Theaterprojekt, das auf der Biographie von Emma Z. fußt und das ich später in diesem Kapitel bespreche, sowie die verschiedenen Gedenk- und Bildungsprojekte um Sigrid Falkensteins Annas Spuren.

3 | Bekannte Beispiele sind unter anderem Goethes Die Leiden des jungen Werther, Georg Büchners Woyzeck und die Figur des Moosbrugger in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Vgl. Michaela Ralser: Der Fall und seine Geschichte. Die klinisch-psychiatrische Fallgeschichte als Narration an der Schwelle. In: Arne Höcker/Jeannie Moser/Philippe Weber (Hrsg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2006, S. 115–126; sowie Alexander Kosenina: Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion. Vorwort. In: Zeitschrift für Germanistik 19.2 (2009), S. 282–287.

Kapitel 3

„I ns B l aue “ Warum die meisten der in diesem Kapitel untersuchten Texte sich nur schwer einer bestimmten literarischen Kategorie zuordnen lassen, lässt sich an der Kurzgeschichte „Die Fahrt ins Blaue“ gut zeigen, die eine Mischung aus Erfahrungsbericht und Fiktion ist. Döblin verfasste diese Kurzgeschichte als einen auf historischen Fakten beruhenden Zeitzeugenbericht, ein dem ein Berliner Arzt die Deportationen aus seiner Heil- und Pflegeanstalt im Rahmen des „Euthanasie“-Programms beschreibt. Obwohl dem Text durchaus eine tatsächliche Begegnung in der unmittelbaren Nachkriegszeit zugrunde liegen könnte zwischen Döblin, der ja selbst Arzt war und einem ehemaligen Kollegen, ist er auf eine betont literarische Weise geschrieben, und einige der Szenen sind eindeutig fiktiv. Der auf den ersten Blick harmlos wirkende Titel ist eine ironische Anspielung auf einen NS-Euphemismus: Den Patienten psychiatrischer Anstalten wurde am Tag ihrer Deportation eine Überraschungsfahrt „ins Blaue“ in Aussicht gestellt. In Anspielung auf die Goethe’sche Definition der klassischen Novelle verspricht der Erzähler den Lesern, von einer tatsächlich geschehenen unerhörten Begebenheit zu berichten, deren Einzelheiten er bei einer Unterhaltung erfahren hat: „Vor einigen Wochen [...] habe ich eine Geschichte gehört, die ich im großen Ganzen schon kannte, aber die durch ihre Einzelheiten mich berührte, als wäre sie neu“.4 Zugleich muss dieser Anfang aber auch im Kontext der Zeugenschaft als der Beginn einer Zeugenaussage gelesen werden; in diesem Fall ist es sogar ein Schuldbekenntnis, mit dem der Erzähler betraut wird. Der Erzähler wird von einem ihm bekannten Arzt angesprochen, der ihm eröffnet, er und die medizinische Einrichtung, in der er gearbeitet habe, seien in das „Euthanasie“-Programm verwickelt gewesen. Der Erzähler fasst nun für den Leser mit wenigen Sätzen den verwaltungstechnischen Ablauf von Deportation und Tötung zusammen, wie er von diesem Arzt erlebt und berichtet wurde. Das Geschehen wird also aus der Perspektive des Arztes und des Pflegepersonals dargestellt: Fragebögen und Listen müssen ausgefüllt werden, und anfangs kennt das Personal den Zweck dieser Dokumentation nicht. Als klar wird, wofür die Listen erstellt werden, bewahren die eingeweihten dennoch Stillschweigen aus Angst vor eventuellen Konsequenzen. In der ganzen Einrichtung scheint nur der Direktor ein überzeugter Nationalsozialist zu sein. Im gesamten Text kommen die Nationalsozialisten nur als ominöse Bedrohung vor, die in Gestalt des Busfahrers, der Wachen und hochrangiger NS-Ärzte von außen in die Anstalt eindringt. Der Eindruck einer unpersönlichen bürokratischen Gewalt wird durch den wiederholten Gebrauch des unbestimmten Personalpronomens „man“ unterstrichen: „Man verlangte etwas Furchtbares von dem Pflegepersonal. Man wünschte, daß alle zum Abtransport bestimmten 4 | Alfred Döblin: „Die Fahrt ins Blaue“, in: ders.: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen. Hg. v. Christina Althen. Düsseldorf: Artemis und Winkler 2006, S. 193–189, hier S. 193.

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Kranken ihren Namen auf der Haut trügen“.5 Dann wechselt die Perspektive plötzlich, als sich der Erzähler den Patienten zuwendet, die zu jener tödlichen „Fahrt ins Blaue“ auf brechen: Sehen Sie die Frau, die man aus der Tür auf das Trottoir schiebt. Sie hält den Kopf schief und macht einen spitzen Mund, einen zerdrückten uralten Hut trägt sie auf den grauen wirren Haaren. Die Positur, die sie sofort eingenommen hat, einen Arm fest am Leib, den anderen horizontal gekrümmt vor sich in Augenhöhe, gefällt ihr. Man muß sie Schritt für Schritt vorwärtsschieben, die Stufen zum Auto herauf heben. [...] Man hat sie aufgesammelt, welche seit Jahren durch die Korridore der Häuser gehen oder auf dem Boden sitzen und da vor sich stieren und die manchmal singen, manchmal grell schreien, weinen, greinen – und manchmal im Zorn die Scheiben zerschlagen. So ist das Menschengesicht entstellt – und noch immer ein Menschengesicht. Wir fassen uns an die Brust. 6

Diese Passage ist nicht Teil des Gesprächs zwischen Erzähler und Arzt. Es ist, als ob die unschuldigen Opfer in ihrem Menschsein den Erzähler so bewegen, dass er anstelle des Arztes den Bericht fortführt und die Leerstellen in diesem Bericht füllt. „Sehen Sie die Frau“ ist eine an den Leser gerichtete deiktische Geste, die diesen zwingt, selbst Zeuge der Ereignisse zu werden, die nun detailliert beschrieben werden und die sich auf ähnliche Art und Weise während des Nationalsozialismus überall in Deutschland abspielten. Für die an der Frau verübte Gewalt wird wieder das Personalpronomen „man“ verwendet. Während am Anfang der Passage mit diesem Wort die als externe Bedrohung dargestellte NS-Regierung gemeint war, bezieht es sich nun auf das medizinische Personal, von dem die Frau in den Bus gedrängt wird. Weil die Mitarbeiter den furchtbaren Befehlen der nationalsozialistischen Machthaber ohne Widerrede Folge leisten, werden sie an der anonymen und anonymisierenden Massentötungsmaschinerie mitschuldig. Dem unbestimmten Pronomen „man“ steht kontrastierend das „wir“ gegenüber, mit dem diese Passage endet. Mit dem Satz „Wir fassen uns an die Brust“ wird dem Leser eine emotionale Reaktion gewissermaßen vorgegeben. Das Wort „wir“ taucht dabei zum ersten und einzigen Mal in dieser Kurzgeschichte auf. Zum einen werden die Leser dadurch mit ins Geschehen einbezogen, zum anderen wird die Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“ aufrechterhalten, wobei zugleich deutlich wird, wie prekär und gefährlich die Position eines schockierten Zuschauers ist. Der Gesprächspartner des Erzählers ist von den grausamen Aufgaben, die das Anstaltspersonal erledigen muss, ganz offensichtlich entsetzt, aber indem er den Befehlen trotzdem nachkommt, wird er selbst Teil derer, die mit „man“ bezeichnet werden. Damit wird nahegelegt, dass Leser es sich vielleicht zu einfach machen, wenn sie sich selbst in einer vergleichbaren Situation auf der Seite des „wir“ und nicht des „man“ wähnen. 5 | Ebd., S. 196. 6 | Ebd., S. 194–195.

Kapitel 3

Dieser Gedanke ist bereits in der Ermahnung zu spüren, zuzusehen, wie die Frau in den Bus gezwungen wird: Wende dich nicht ab; oder anders gesagt, bezeuge dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Erzähler geht aber noch weiter in seiner Zeugenschaft, indem er nämlich den Patienten in die Tötungsanstalt folgt und sich gedanklich ihre letzten Momente in der Gaskammer ausmalt: Die Kranken sind allein. Eine steht auf, fängt ihren stereotypen Kreisgang an. Eine f lüstert und schimpft auf etwas Unsichtbares. Da rauscht es. Es scheint, die Duschen gehen. Eine auf der Bank läßt den Kopf sinken und plumpst, ihrem Kopf nach, dumpf auf die Steinplatten. Die im Kreis gegangen war, blickt auf und sackt in den Knien zusammen. Auf der Bank lehnen sie eine neben der andern, rutschen, zwei zusammen und einzeln, herunter, fallen übereinander. Die „Duschen“ rauschen. 7

Mit dem imaginierten Rauschen der „Duschen“ wechselt die Erzählung zurück zum distanzierten Modus des Berichts des Arztes. Wohl um das eigene Handeln zu rechtfertigen erzählt dieser, er habe einmal das Vorgehen eines NS-Mediziners infrage gestellt und ihm sei daraufhin mitgeteilt worden, all dies geschehe auf direkten Befehl des Führers. Er fügt hinzu: „Da konnte ich nichts sagen; ich war auf ihn vereidigt“.8 Am Ende, als sich der Erzähler am Bahnhof von seinem Bekannten verabschiedet, nimmt die Geschichte eine weitere Wendung: Vielleicht um die eigene Menschlichkeit unter Beweis zu stellen, gesteht der Arzt, selbst einen geistig behinderten Sohn zu haben, den er vor den Nationalsozialisten versteckt habe. Doch das macht die Tatsache, dass er trotzdem Listen erstellte und tatenlos zusah, wie Menschen deportiert wurden, nur noch schockierender. Die Kurzgeschichte endet also mit einer Selbstbelastung des Arztes, auf die der Erzähler weder mit Trost noch mit Vergebung reagiert, sondern mit Schweigen: „Seine Lippen bebten. Ich vermochte nichts zu sagen. Er griff nach meiner Hand“.9 Mit der Darstellung der Nationalsozialisten als einer anonymen, beinahe fremden Macht, und der Selbstrechtfertigung des Arztes, aufgrund seines Eids dem Führer zum Gehorsam verpflichtet gewesen zu sein, spiegelt Döblins Kurzgeschichte nicht nur die Tendenzen der unmittelbaren Nachkriegszeit wider, die einige wenige für die Taten vieler verantwortlich machen wollten, sondern kommentiert diese auch kritisch. Denn obwohl Döblin die Dichotomie von „uns“ und „ihnen“ aufrechterhält (auf eine Weise, die an jene „Anderen“ in Anderschs Sansibar oder der letzte Grund denken lässt), macht er sie auch kompliziert, indem er im unbestimmten Personalpronomen „man“ bewusst auch die stillschweigende Schuld von Mitläufern wie dem Arzt und dem Pflegepersonal der Klinik mitschwingen lässt. In dieser Hinsicht kann Döblins Kurzgeschichte als Auseinandersetzung mit dem, was Hannah Arendt später als die Banalität des Bösen be7 | Ebd., S. 196–197. 8 | Ebd., S. 197. 9 | Ebd., S. 198.

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zeichnen sollte, gelesen werden. Die Geschichte veranschaulicht außerdem, wie man sich in der Ärzteschaft nach dem Krieg dagegen sträubte, die eigene Schuld einzugestehen und für die verübten Verbrechen Verantwortung zu übernehmen. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung, dass Döblin zugleich Arzt, Psychiater und Schriftsteller war. Es scheint, als reflektiere er in dieser Geschichte darüber, dass er sich durchaus in einer ähnlichen Situation hätte wiederfinden können, wenn er in Deutschland geblieben wäre und man ihm erlaubt hätte, weiter zu praktizieren. Döblin floh 1933 vor den Nationalsozialisten zunächst nach Paris und dann nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich weiter nach Los Angeles. Trotzdem waren ihm, als er „Die Fahrt ins Blaue“ schrieb, die Verbrechen des NS-Regimes in allen Einzelheiten bekannt, weil er die Nürnberger Prozesse als Berichterstatter für die französische Besatzungsmacht begleitet hatte. Vieles von dem, was Döblin in dieser Zeit schrieb, hatte zum Ziel, die deutsche Bevölkerung darüber aufzuklären, welche Verbrechen in ihrem Namen begangen worden waren. 1946 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Hans Fiedeler Der Nürnberger Lehrprozeß, einen Bericht über diese Gerichtsverfahren. Seine Hoffnung, die deutsche Bevölkerung damit aufklären zu können, wurde aber enttäuscht. Verbittert über die restaurativen Tendenzen der deutschen Nachkriegsgesellschaft kehrte er in den frühen 1950er Jahren nach Paris zurück, hielt sich aber trotz dieser Rückkehr ins Exil zeitweise länger in Deutschland auf. So verbrachte er mehrere Monate in einem Freiburger Krankenhaus und wurde kurz vor seinem Tod 1957 in die psychiatrische Klinik Emmendingen verlegt, aus der während des Nationalsozialismus Hunderte von Patienten zum nahe gelegenen Tötungszentrum Grafeneck deportiert worden waren. Er starb dort allein und von der Welt vergessen. Erst als Günter Grass sein Werk wiederentdeckte, kam Döblin ein weiteres Mal zu literarischem Ansehen.10 Döblins Kurzgeschichte vermeidet überflüssige Beschreibungen und Ausschmückungen. In einem fast journalistischen oder dokumentarischen Stil gewährt er seinen Lesern Einblick in die komplexen Mechanismen der Verfolgung. Auch wenn die eigentlichen Täter abstrakt bleiben und die Angehörigen des Pflegepersonals in der Anstalt als bloße Werkzeuge des Vernichtungsprogramms dargestellt werden, ist Döblins Porträt des Arztes nuanciert und kritisch. Weil er ihn als typischen Mitläufer wider Willen darstellt, wirft Döblins Kurzgeschichte Fragen zu jener Rolle auf, die Mitläufer bei den NS-Verbrechen spielten und darüber, was nötig gewesen wäre, um Widerstand zu leisten oder Menschenleben zu retten. Döblin setzt da an, wo die Texte, die ich im ersten Kapitel untersucht habe, aufhören: bei der Deportation. Er nimmt seine Leser mit ins Tötungszentrum, sogar in die Gaskammer hinein. Den Tod der Opfer beschreibt er bewusst unsentimental und bemüht sich stattdessen um einen distanzierten Realismus. 10 | Vgl. hierzu auch: Gabriel Richter: Die Fahrt ins Graue(n): Die Heil- und Pf legeanstalt Emmendingen 1933–1945 und danach. Emmendingen: Zentrum für Psychiatrie 2005, S. 260–317.

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Der Eindruck eines passiven Beobachtens überwiegt, aber es gibt auch Momente, in denen der Erzähler, berührt von der Menschlichkeit der Opfer, vom rein objektiven Berichten ablässt. Die Passage mit der Beschreibung der Ermordung der Patienten macht die grausame Unmenschlichkeit des „Euthanasie“-Programms deutlich: Der euphemistischen Bezeichnung des Programms zum Trotz war der Tod in der Gaskammer keineswegs friedlich und die meisten Opfer waren sich dessen, was geschah, durchaus bewusst. Weil der Moment des Todes in den historischen Quellen nicht im Einzelnen beschrieben wird bzw. werden kann, muss Döblin ihn sich vorstellen. Der bemerkenswerte Schritt hin zur Darstellung dieses Todes in der Gaskammer ist der Moment, in dem Dokumentation, Erinnerung und Fiktion aufeinandertreffen und verschmelzen. Zugleich ist es auch der Moment, in dem die Autoren die Rolle eines stellvertretenden Zeugen übernehmen, der bei den Lesern für die Opfer Zeugnis ablegt, die nicht mehr für sich selbst zeugen können.

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stellvertre tende

Z euge

Die für die Holocaust-Forschung und die Memory Studies zentrale Figur des Zeugen ist unauflöslich mit einem Paradox verbunden: Die eigentlichen Zeugen des Holocausts sind nur jene, die in der Gaskammer starben. Primo Levi war der erste, der auf diesen Widerspruch aufmerksam machte; er unterschied zwischen zwei Kategorien: den tatsächlichen Zeugen, die jedoch selbst nichts mehr über sich aussagen können, weil sie das Konzentrationslager nicht überlebt haben, und den Überlebenden, die jenen, die nicht mehr sprechen können, eine Stimme geben können. Es gibt aber noch eine dritte Kategorie, und zwar Zeugen, die selbst dann nicht für sich selbst hätten sprechen können, wenn sie überlebt hätten. In Die Atempause erzählt Levi von einen behinderten Jungen, der in den Tagen unmittelbar nach der Befreiung des KZs Auschwitz in seiner Baracke untergebracht wird. Der Junge ist gelähmt und kann nicht sprechen. Die anderen Häftlinge nennen ihn Hurbinek, wohl in Anlehnung an die unartikulierten Laute, die er von sich gibt. Levi fühlt sich verpflichtet, dem Erleben des Kindes eine Stimme zu geben: Hurbinek, drei Jahre alt und vielleicht in Auschwitz geboren; Hurbinek, der nie einen Baum gesehen hatte und der bis zum letzten Atemzug gekämpft hatte, um Zutritt in die Welt der Menschen, aus der ihn eine bestialische Macht verbannt hatte, zu erhalten; Hurbinek, der Namenlose, dessen winziges Ärmchen doch mit der Tätowierung von Auschwitz gezeichnet war – Hurbinek starb in den ersten Tagen des März 1945, frei, aber unerlöst. Nichts bleibt von ihm: Er legt Zeugnis ab durch diese meine Worte. 11

11 | Primo Levi: Die Atempause. Aus dem Italienischen von Barbara und Robert Picht. München: Hanser 1994, S. 21.

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Levi legt Zeugnis ab für jene, die in der Gaskammer zum Schweigen gebracht wurden und auch für diejenigen, die wie Hurbinek niemals eine Stimme hatten. Man könnte sagen, dass Levi sich zwischen zwei Extrembereichen des Schweigens befindet: der eine vorlinguistisch (verkörpert von Hurbinek), der andere sozusagen postlinguistisch (verkörpert von den „wirklichen“ Zeugen, die in der Gaskammer ums Leben kamen). Weil in beiden Fällen das unmittelbare Zeugnis außerhalb des Sagbaren liegt, kann nur der mittelbare Bericht ihm eine Stimme verleihen.12 Mit anderen Worten: Levi überwindet das Schweigen, das sowohl auf der einen als auch der anderen Seite der Sprache liegt, und lässt diejenigen, die keine eigene Stimme haben, durch seine Vermittlung zu Wort kommen. So verstanden wird Hurbinek zum Emblem einer für die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ charakteristischen Stimmlosigkeit. Ihre Opfer hatten aber im Unterschied zu Hurbinek niemanden, der wie Levi unmittelbar nach dem Krieg für sie eintretend seine Stimme erhob. Levis stellvertretendes Bezeugen entspricht Hannah Arendts Definition von Mit-Leiden, weil es mit einer Identifikation mit den Opfern verbunden ist und nicht mit der Wahrung von Distanz. Entscheidend ist, dass es sich hierbei nicht um ein hegemoniales oder bevormundendes „Sprechen für“ Menschen handelt, die nicht für sich selbst sprechen können, sondern um den von Mit-Leiden und Demut geprägten Versuch zuzulassen, dass diese Menschen durch uns zu Wort kommen. Weil ihm die Fähigkeit zur Kommunikation fehlt, kann Hurbinek weder seine Geschichte noch seinen Namen mitteilen. Aufgrund seines Alters hält Levi es für möglich, dass er in Auschwitz geboren wurde, aber das wirklich zu belegen ist unmöglich. Im übertragenen Sinne ist er auf jeden Fall „ein Kind von Auschwitz“13 – die Fleischwerdung der entmenschlichenden und mundtot machenden Gewalt der Lager. Auch wenn es in unterschiedlicher Hinsicht problematisch sein mag, auf diese Weise für Hurbinek und 12 | In seinem Buch Was von Auschwitz bleibt versteht Giorgio Agamben diese Passage, in der es um einen unverständliches Wort geht („mass-klo“ oder „matisklo“), das Hurbinek immer wieder auszusprechen scheint, etwas anders und nimmt sie zum Ausgangpunkt einer Theorie des Zeugnisses als eines Punktes, an dem sich „zwei Unmöglichkeiten, Zeugnis abzulegen“, begegnen. Das bedeute, so Agamben weiter, „daß die Sprache, um Zeugnis abzulegen, einer Nichtsprache weichen und die Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen, zeigen muss. Die Sprache des Zeugnisses ist eine Sprache, die nicht mehr bedeutet, die aber in ihrem Nicht-Bedeuten eindringt in das, was ohne Sprache ist – bis sie ein anderes Nicht-Bedeuten aufnimmt, das des vollständigen Zeugen: desjenigen, der per def initionem nicht Zeugnis ablegen kann“. Auf diese Weise wird die Hurbinek-Passage ein Schlüssel zu einem generellen Verständnis der Metaphysik des Zeugnisses. Wie ich jedoch zu belegen versuche, bietet die besondere stellvertretende Natur von Primo Levis Zeugnis für Hurbinek einen Weg, um das Schweigen, das die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ umgibt, zu überwinden. Siehe: Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 34.

13 | Levi: Die Atempause, S. 19.

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für andere wie ihn zu sprechen, war er buchstäblich außerstande, sich selbst zu äußern. Wenn Levi es nicht auf sich genommen hätte, ihm eine Stimme zu verleihen, wäre keine Spur von ihm geblieben. Diesen Versuch von Schriftstellern, für andere Zeugnis abzulegen, ein Phänomen, das ich stellvertretendes Bezeugen („vicarious witnessing“) nenne, haben bereits etliche Forscher untersucht. Froma Zeitlin zum Beispiel verwendet dieselbe Formulierung, allerdings bezieht sie sich damit hauptsächlich auf die verschiedenen Generationen innerhalb einer Familie. Die Autoren, die Zeitlin bespricht, seien zwar bemüht, eine Verbindung mit der Vergangenheit herzustellen, gleichzeitig aber seien sie sich immer dessen bewusst, im Hinblick auf die entsprechenden Ereignisse in gewisser Hinsicht zu spät gekommen zu sein. Folglich sind ihre Texte zutiefst selbstreflexiv und betonen die von den Autoren eingenommene Rolle „eines Vermittlers, der die Erinnerungsarbeit dramatisiert und dadurch die Betonung auf den Prozess des Rekonstruierens der Vergangenheit legt, der durch das Bewusstsein und die Mitwisserschaft des stellvertretenden Zeugen gefiltert wird in einer Fusion von damals und heute“.14 Stellvertretendes Bezeugen im Sinne Zeitlins kann als eine Form von „postmemory“ (Nach-Erinnerung) verstanden werden. Dieser von Marianne Hirsch geprägte Begriff bezieht sich auf Erinnern als einen Prozess der Identifikation und Projektion, der als Modell einer „ethischen Beziehung zu einem unterdrückten oder verfolgten Anderen“15 dienen kann. Wie auch Dominick LaCapra bei seinen Ausführungen über das „empathische Unbehagen“ bezieht sich Hirsch hier auf Kaja Silvermans Begriff der „heteropathischen Erinnerung“, einen Prozess der „Identifikation auf Distanz“, der eine vollständige Aneignung des Anderen vermeidet, diesen aber dennoch teilweise mit dem eigenen Selbst in Einklang bringt. Hirsch betont, dass „postmemory“ „keine Position der Identität, sondern eine Struktur der intergenerationalen Übertragung“16 sei. Mit anderen Worten: Mit „postmemory“ ist im Prinzip nicht die Lebenserfahrung des Einzelnen gemeint, sondern eher die Zirkulation von Erinnerung in unserer heutigen Gesellschaft, in welcher sie fortwährend weitergegeben, aufgenommen, neu vermittelt und dargestellt wird.17 14 | Froma I. Zeitlin: „The Vicarious Witness. Belated Memory and Authorial Presence in Recent Holocaust Literature“, in: Julia Epstein/Lori Hope Lef kovitz (Hrsg.): Shaping Losses. Cultural Memory and the Holocaust. Urbana: University of Illinois Press 2001, S. 128–160, hier S. 130.

15 | Marianne Hirsch: „Projected Memory. Holocaust Photographs in Personal and Public Fantasy“, in: Mieke Bal/Jonathan Crewe/Leo Spitzer (Hrsg.): Acts of Memory. Cultural Recall in the Present. Hanover: University Press of New England 1999, S. 3–23, hier S. 9.

16 | Marianne Hirsch: „The Generation of Postmemory“, in: Poetics Today 29.1 (2008), S. 103–128, hier S. 114. Hervorhebungen im Original.

17 | In dieser Hinsicht erinnert „postmemory“ eher an etwas, das Ann Rigney als „vicarious recollection“ (stellvertretende Erinnerung) bezeichnet. Dieser Begriff basiert auf der Beobachtung, dass „kulturelle Erinnerung auf Repräsentationen und nicht auf unmittelbarer Er-

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Hirsch unterscheidet außerdem zwischen „familiärer“ und „affiliativer“ „postmemory“, wobei sich ersteres auf die Identifikation zwischen den Generationen innerhalb einer Familie bezieht und letzteres auf die Identifikationsstrukturen, die sich lateral zwischen Angehörigen einer bestimmten Generation bilden: Somit würde affiliative „postmemory“ dann entstehen, wenn eine Zeitgenossenschaft mit der eigentlichen zweiten Generation auf Vermittlungsstrukturen trifft, die sich aneignen lassen und zur Verfügung stehen und außerdem überzeugend genug sind, eine größere Gemeinschaft in ein organisches Übertragungsnetzwerk zu fassen. 18

Das stellvertretende Bezeugen trägt einerseits zu diesem organischen Übertragungsnetzwerk bei, indem es Menschen, die keinen familiären Bezug zu dieser Geschichte haben, erlaubt, eine Verbindung mit dem Leben von Opfern des Holocaust herzustellen. Andererseits kann es aber nicht auf die vertikalen und horizontalen Übermittlungsstrukturen beschränkt werden, die der affiliativen „postmemory“ zugrunde liegen, weil diese voraussetzen, dass zwischen den „Eigentümern“ der ursprünglichen Erinnerung und jenen, die mit einem gewissen zeitlichen Abstand an ihr teilhaben, entweder eine familiäre Beziehung oder eine Zeitgenossenschaft besteht.19 Auch wenn das stellvertretende Zeugnis in vielen Fällen als eine Art „postmemory“ oder als Aspekt desselben verstanden werden kann, muss im Hinblick auf die spezifische Beziehung zwischen Autor und Opfer, und ganz besonders auch zwischen Erinnern und Bezeugen – Begriffe, die in der „postmemory“-Literatur häufig beinahe synonym verwendet werden – eine wichtige Unterscheidung gemacht werden. Obwohl eine nicht-familiäre Teilhabe fahrung basiert“. Daher gehe es per definitionem immer um stellvertretende Erinnerung. „Die Bedeutung von Texten und anderen Medien, und somit der Grad an Mittelbarkeit, nimmt offensichtlich zu, je weiter die zu erinnernden Ereignisse zurückliegen.“ Daher scheine es angemessener, so Rigney, eine mittelbare oder stellvertretende Konzeption der Erinnerung als Grundlage des kollektiven Gedächtnisses anzunehmen statt einer Idealform der direkten Kommunikation verhaftet zu bleiben, die einen unmittelbaren Austausch von Erfahrungen und Erinnerungen voraussetzt. „Stellvertretend“ in Rigneys Sinn ist im Wesentlichen gleichbedeutend mit „vermittelt“ und bezieht sich daher auf die gesamte Struktur des kulturellen Gedächtnisses, das von „Kommunikation im öffentlichen Raum und [...] der Zirkulation von vermittelten Erinnerungen“ abhängt; Ann Rigney: „Plenitude, Scarcity, and the Circulation of Cultural Memory“, in: Journal of European Studies 35.1 (2005) S.11–28, hier S. 15–16. Das stellvertretende Bezeugen, wie ich es hier verstehe, hat jedoch eine engere Bedeutung. Es bezeichnet einen spezifischen Modus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eines Anderen.

18 | Hirsch: The Generation of Postmemory, S. 114–115. 19 | Dies ist auch der Grund, warum ich mich dagegen entschieden habe, Geoffrey Hartmans Begriff „witnesses by adoption“ (Adoptivzeugen) aufzugreifen, mit dem er eine ähnliche Beziehung beschreibt (vgl. Geoffrey H. Hartman: The Longest Shadow. In the Aftermath of the Holocaust. Bloomington: Indiana University Press 1996, S. 9).

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an oder Auseinandersetzung mit diesen Erinnerungen als „postmemory“ verstanden werden kann, setzt der Begriff stets eine über-generationale Übermittlungsstruktur voraus. Außerdem ist es eine Grundannahme des Begriffes „postmemory“, dass die ursprüngliche Erinnerung (der ersten Generation also) eine affektive Wirkung hat, die so intensiv ist, dass spätere Generationen nicht anders können als ihr gespenstisches Erbe wie eine Art Erinnerung zu erleben.20 Hirsch definiert „postmemory“ als die Beziehung, die die Generation nach derjenigen, die ein kulturelles oder kollektives Trauma miterlebt hat, zu den Erfahrungen dieser ihr vorangehenden Generation hat; sie „erinnert“ sich an diese Erfahrungen nur durch Geschichten, Bilder und Verhaltensweisen, mit denen sie aufgewachsen ist. Die Erfahrungen wurden ihnen aber mit solcher Tiefe und emotionaler Intensität weitergegeben, dass sie eigenständige Erinnerungen zu sein scheinen. 21

Für die Mehrheit der Verwandten von „Euthanasie“-Opfern traf dies jedoch nicht zu; es gab keine entsprechenden Geschichten, Bilder oder Verhaltensweisen. Daher kann man von ihnen nicht sagen, dass sie auf dieselbe Weise im „Schatten des ‚Euthanasie‘-Programms“ aufgewachsen seien wie die Kinder von Überlebenden des Holocaust im „Schatten von Auschwitz“. Das liegt zum einen daran, dass es kaum Überlebende des „Euthanasie“-Programms gab, vor allem aber daran, dass diese Opfer in vielen Familien totgeschwiegen wurden, weil es als stigmatisierend und beschämend wahrgenommen wurde, ein Opfer der „Euthanasie“ in der Familie zu haben. Auch wenn also einigen der Texte, die ich in diesem Kapitel betrachte, eindeutig eine familiäre Beziehung zu den Opfern zugrunde liegt – insbesondere Hans-Ulrich Dapps Biographie seiner Großmutter Emma –, haben die anderen Autoren wie Helga Schubert oder Hellmut G. Haasis keine direkte Verbindung zu den Menschen, über deren Leben sie schreiben. Das so abgelegte stellvertretende Zeugnis beruht also nicht auf einer generationalen Übermittlungsstruktur, sondern stellt einen Akt kreativer (Re-)Konstruktion

20 | Dasselbe gilt für Andreas Huyssens Begriff der „mimetic approximation“ (mimetische Annäherung), den er in seinem Aufsatz über Art Spiegelmans Maus beschreibt. „Die Komplexität der Erzählung,“ so Huyssen, „entspringt dem Wunsch der zweiten Generation, mehr über die Vergangenheit ihrer Eltern zu erfahren, von der sie schon immer ein Teil gewesen sind, ob sie es wollten oder nicht: es handelt sich um ein Projekt der mimetischen Annäherung eines historischen und persönlichen Traumas. [...] Das Leben des Sohnes der Überlebenden stand in einem mimetischen Verwandtschaftsverhältnis zum Trauma seiner Eltern, und zwar lange bevor er die Interviews mit seinem Vater begonnen hatte.“ (Andreas Huyssen: Present Pasts Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Standford: Standford University Press 2003, S. 126–127).

21 | Hirsch: The Generation of Postmemory, S. 106–107. Hervorhebung im Original.

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dar.22 Man könnte den Akt des Stellvertretens somit als eine besondere Art der „Wahlverwandtschaft“ beschreiben. Da unser Wissen über das NS-„Euthanasie“-Programm beinahe ausschließlich auf Dokumenten und Berichten der Täter sowie auf historischen Forschungsarbeiten basiert – und nicht auf Überlebendenberichten und Zeugenaussagen –, ist stellvertretendes Bezeugen auch der Versuch einer Freilegung und einer Wiederherstellung der Identität dieser Opfer, die in der unpersönlichen, bürokratischen und entmenschlichenden Sprache der Täter ausgelöscht wurde. Das stellvertretende Bezeugen kann daher als Antwort auf Shoshana Felmans und Dori Laubs Beschreibung des Holocaust als „Krise der Zeugenschaft“ verstanden werden: wie für Levi auch ist der Holocaust für Felman und Laub ein „Ereignis ohne Zeugen“.23 Grundsätzlich sind Traumata dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht sprachlich erfasst und ausgedrückt werden können. Folglich kann die Sprache ein Trauma nur dadurch zum Ausdruck bringen, indem sie versagt. Mit anderen Worten: es ist das Schweigen im Text, es sind die Auslassungen, Leerstellen und Brüche, die das Trauma bezeugen. Da somit eine realistische Darstellung letztendlich unmöglich ist, ist das Schweigen die einzige adäquate und auch bedeutungsvollste Möglichkeit der Darstellung des Traumas. Im Fall der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ können wir es aber nicht dabei belassen. Die Stellung, die diese Erinnerung im kollektiven Bewusstsein hat, ist nicht so dominierend, als dass ein solches Schweigen einen Eindruck hinterlassen würde und bedeutsam wäre. Das lange Schweigen über die „Euthanasie“, das uns von den Opfern trennt, kann nicht durch Schweigen überwunden werden. In diesem Zusammenhang kann das stellvertretende Zeugnis als Mittel dienen, sich der NS-„Euthanasie“ wieder anzunähern und sie zur Darstellung zu bringen. Dabei kommt künstlerischen und sogar fiktiven Interpretationen dieser Geschehnisse eine besonders wichtige Rolle zu. Dass einige der hier untersuchten Autoren sich entschieden haben, mit dem Tabu der Darstellung des Todesmoments in der Gaskammer zu brechen, ist ebenfalls in diesem Kontext zu sehen. Die stellvertretenden Zeugen, um die es hier geht, waren nicht wie Primo Levi vom Schicksal dazu bestimmt, Zeugen zu werden. Sie haben es sich selbst zur Aufgabe gemacht, die verlorene Erinnerung an diese vergessenen Opfer zurückzugewinnen, deren Lebensgeschichten gewissermaßen zu bergen und die an ihnen verübten Verbre22 | Dass das Generationendenken, das die Holocaustforschung maßgeblich geprägt hat, seinerseits auch ein Ausgrenzungsmechanismus ist, hat Gary Weissman in seinem Beitrag „Against Generational Thinking in Holocaust Studies“ auf den Punkt gebracht. Die NS-„Euthanasie“ wird von ihm zwar nicht erwähnt, aber gerade diese zeigt die Probleme mit dieser generationalen Denkstruktur am deutlichsten auf. Vgl. Gary Weissman: „Against Generational Thinking in Holocaust Studies“, in: Victoria Aarons (Hrsg.): Third-Generation Holocaust Narratives. Memory and Memoir in Fiction. Lanham: Lexington Books 2016, S. 159–184.

23 | Shoshana Felman/Dori Laub: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History New York: Routledge 1992, S. xvii.

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chen aufzudecken. Darüber hinaus werden die Leser in den Prozess des Gedenkens mit einbezogen und mit Fragen zur ethischen Verantwortung gegenüber Behinderten konfrontiert. Gerade der zeitliche (und gegebenenfalls auch biographische) Abstand zu den tatsächlichen Ereignissen erlaubt es den stellvertretenden Zeugen, das Schweigen zu überwinden und einige der Leerstellen mit imaginierten Details und alternativen Geschichten zu füllen. Wer sind diese stellvertretenden Zeugen? Viele von ihnen sind Familienmitglieder der zweiten oder dritten Generation. Aber in vielen Fällen haben auch Einzelpersonen ohne direkten familiären Bezug zu den Opfern ebenfalls eine solche Rolle übernommen. Stellvertretend für die erste Gruppe beschränke ich mich auf Hans-Ulrich Dapps Biographie aus dem Jahr 1990, in der er das Leben und den Tod seiner Großmutter Emma Dapp (geborene Zeller) rekonstruiert, die in Grafeneck ermordet wurde. Andere, neuere Beispiele wären Melitta Brezniks Das Umstellformat (2002),24 Barbara Degens Familienerinnerung und Dokumentation Leuchtende Irrsterne: Das Branitzer Totenbuch (2005), Kerstin Schneiders Maries Akte (2008), Sigrid Falkensteins Annas Spuren (2012)25 und Doris Bornhäusers Oskar B. (2013). Bei der zweiten Gruppe ohne direkten familiären Bezug befasse ich mich mit zwei sehr unterschiedlichen Arbeiten. Die erste ist Heisel Rein der Gscheite Narr des Historikers Hellmut Haasis (2008). Hier wird die Geschichte Reinhold Häußlers (schwäbisch Heisel Rein) erzählt, der 1940 nach Grafeneck deportiert wurde. Haasis tritt hier als Herausgeber auf: Das Buch enthält Schelmengeschichten, die angeblich von Häußler selbst geschrieben wurden. Zweitens untersuche ich Die Welt da drinnen (2003), einen Bericht der Psychologin und Schriftstellerin Helga Schubert, der auf den Akten von 179 Patientinnen und Patienten der Nervenklinik Schwerin basiert. Unter den zahlreichen stellvertretenden Versuchen einer Wiederaneignung der NS-„Euthanasie“-Erinnerung, die in den vergangenen 20 Jahren erschienen sind,26 weist Die Welt da drinnen das 24 | Eine hervorragende Untersuchung dieser Biographie findet sich bei Eva Kuttenberg: „Melitta Breznik’s Narration of Trauma, Absence, and Loss in Das Umstellformat and Nordlicht“, in: Austrian Studies 19 (2011), S. 173–186.

25 | Diese wichtige Biographie bespreche ich ausführlich in: „Beyond Testimony. Nazi Euthanasia and the Field of Memory Studies“, in: Holocaust in History and Memory 5 (2012), S. 85–101.

26 | Weitere Beispiele sind: Tino Hemmann: Der unwerte Schatz (2005); Jürgen Schreiber: Ein Maler aus Deutschland: Gerhard Richter. Das Drama einer Familie (2005); Margret Hamm (Hrsg.): Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie“ (2005); Eberhard Reuß: Erinnerungen an den ‚Blumepeter‘. Ein Mannheimer Schicksal (2007); Petra Fuchs u.a. (Hrsg.): „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“ (2007); und Robert Domes: Nebel im August (2008). Eine ausführliche Besprechung von Reuß’ Buch findet sich in: Susanne C. Knittel: „Die Textur der Erinnerung: Grafeneck in der Literatur“, in: Peter Steinbach/ Thomas Stöckle/Sibylle Thelen/Reinhold Weber (Hrsg.): Entrechtet – Verfolgt – Vernichtet.

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höchste Maß an Selbstreflexion auf und macht die anhaltende Marginalisierung von psychisch kranken und behinderten Menschen am eindrücklichsten sichtbar.

„G litzerworte “ Bevor ich mich Hans-Ulrich Dapps Roman Emma Z. zuwende, möchte ich einen kurzen Blick auf Christa Wolfs fiktive Autobiographie Kindheitsmuster von 1976 werfen. Die Erzählerin beschreibt, wie ihr in ihrer Kindheit während des Nationalsozialismus auffiel, dass beim Klang bestimmter Schlüsselworte, die sie als „Glitzerworte“ bezeichnet, ein eigentümlicher Glanz in die Augen der Erwachsenen trat.27 Für das Kind, Nelly, strahlten diese Kernbegriffe der NS-Ideologie eine unheimliche Faszination aus, weil sie spürte, wie diese in eine Gleichzeitigkeit von Aussprechen und Verschweigen verstrickt und mit einer Mischung aus Schuld und Verheimlichung aufgeladen waren. „Unnormal“,28 „artfremd“, „triebhaft“ und „Anlage“ sind einige dieser Glitzerworte.29 Die Erklärungen, die Nelly von den Erwachsenen erhält, lassen diese Begriffe harmlos und zugleich geheimnisvoll erscheinen. Beispielsweise erklären ihre Eltern, „eugenische Lebensführung“ bedeute, dass es einem gesunden Mädchen wie Nelly nicht erlaubt sein sollte, einen schwerbehinderten Jungen wie den Nachbarssohn Heini zu heiraten.30 Nelly empfindet dieses Verbot zwar als vollkommen logisch, sie fängt aber an, sich davor zu fürchten, selbst „unnormal“ zu sein: „Nicht normal sein ist das Schlimmste überhaupt“.31 Ein anderes Beispiel ist Nellys Begegnung mit ihrer Tante Jette, die in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht ist und eines Tages an einem Familienessen teilnimmt. Jette wird von den anderen Frauen der Familie ausgeschimpft, weil sie für Nelly Butter und Schmalz aufs Brot schmiert. Sie sagen, „da sehe man es wieder, daß es keinen Zweck habe, sie könne sich einfach nicht zusammennehmen“.32 Nur die von ihrer Tante Jette faszinierte Nelly ist solidarisch und erklärt, sie finde das Brot lecker. Dieser Vorfall ist das einzige Mal, dass Nelly die ihr fremde Tante trifft, da diese dann im Rahmen des „Euthanasie“-Programms ermordet wird. Weil niemand darüber sprechen will, weiß Nelly instinktiv: „Mit Tante Jettes Tod stimmt etwas nicht“.33 Aber Nelly fragt NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten. Stuttgart: Kohlhammer/ LpB Baden-Württemberg 2016, S. 204–216.

27 | Christa Wolf: Kindheitsmuster. Darmstadt: Luchterhand 1979 (zuerst: Berlin: Auf bau 1976), S. 58.

28 | Ebd. 29 | Ebd., S. 60–61. 30 | Vgl. ebd., S. 62. 31 | Ebd., S. 58. 32 | Ebd., S. 183–184. 33 | Ebd., S. 185.

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nicht nach. Sie hat offenbar einen Filter entwickelt, der ihr hilft, unangenehme Situationen und Gedanken zu vermeiden. Wolfs Erzählung zeigt, wie die individuelle Wahrnehmung eines Kindes während der NS-Zeit durch erlernte, unkritisch übernommene Verhaltensmuster von außen geformt wird, wobei Gegensätze wie rein vs. unrein oder normal vs. unnormal als sinnstiftend erlebt werden. Doch wichtiger ist noch, dass sie aufzeigt, in welchem Ausmaß die Alltagssprache von NS-„Glitzerworten“ durchdrungen war und wie weit verbreitet und vielschichtig die Akzeptanz und Verinnerlichung dieser Begriffe war.

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Während Christa Wolf veranschaulicht, wie die Mehrheit der Bevölkerung während der NS-Zeit bewusst oder unbewusst mit sprachlicher und sozialer Diskriminierung zur NS-„Säuberungs“-Politik beitrug, demonstriert Hans-Ulrich Dapp, dass der durch die sogenannte „Stunde Null“ im Jahr 1945 markierte moralische Perspektivenwechsel eher oberflächlich blieb und nicht in einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit mündete, sondern in deren Verdrängung. Einige von Wolfs „Glitzerworten“ werden nach wie vor verwendet. Von seiner Großmutter Emma hörte Dapp zum ersten Mal 1967 auf einer Familienwanderung, etwa um die Zeit seines 18. Geburtstags: „wir wanderten von der Weinsberger Burg herab, in Sichtweite der Psychiatrie Weißenhof. Dort drüben habe sie gelebt, eröffnete mir meine Mutter unvermittelt (die ihre Schwiegermutter auch nicht mehr kennengelernt hatte) – sie sei aus Überzüchtung ihrer Familie schizophren gewesen, habe als Pfarrerswitwe noch ein uneheliches Kind bekommen und sei dann von den Nazis vergast worden. Und darum sei es so dankenswert, daß wir alle gesund seien, und so wichtig, daß weiterhin frisches Erbgut in die Familie käme“. 34

Das unkritische Nachplappern der NS-Ideologie mehr als 20 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ist schockierend und verrät die fundamentale Unfähigkeit, die Grundsätze des eugenischen Denkens in Frage zu stellen sowie die Weigerung, jegliche Verantwortung für Emmas Schicksal zu übernehmen. Die Erklärung klingt einstudiert und wie eine Rationalisierung, als ob Emma als Mensch nicht ernst genommen werde. Stattdessen wird dem Opfer die Schuld an seinem eigenen Untergang gegeben. Mehr als 20 Jahre später, anlässlich Emmas 100. Geburts- und 50. Todestag, beginnt Dapp mit Nachforschungen zu den Einzelheiten von Emmas Leben und Tod. Emma Zeller wuchs in Stuttgart als jüngste Tochter einer streng pietistischen, schwäbischen Familie auf, die sehr stolz auf ihre Abstammung war, die bis 34 | Hans-Ulrich Dapp: Emma Z. Ein Opfer der Euthanasie. Stuttgart: Quell 1990, S. 7.

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ins Jahr 1538 zurückverfolgt werden konnte. 1912 heiratete sie Eugen Dapp, einen lutherischen Pfarrer. Nachdem sie in der Grippeepidemie 1918 einen ihrer Söhne und ihren Mann verloren hatte, blieb sie Witwe und versuchte, sich und ihre drei kleinen Kinder in den schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg durchzubringen. Ihre Familie fand ihre Haushaltsführung „schlampig“.35 Ihre außereheliche Schwangerschaft im Jahr 1928, zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes, löste einen Familienskandal aus, ihre Schwester und ihr Vater entschlossen sich daraufhin, die „notwendigen“ Schritte einzuleiten. Emma wurde entmündigt und nacheinander in verschiedene Heime und Anstalten eingewiesen. Ihre Kinder lebten fortan bei Emmas Schwestern, ihren Tanten. Die Familie fand Emmas Verhalten offensichtlich einer Pfarrerswitwe unwürdig und erklärten es mit einer erblichen Geisteskrankheit. Da ihre Eltern Cousins waren und bei ihrem Bruder Karl Schizophrenie diagnostiziert worden war, vermutete man, dass sie mit einer ähnlichen erblichen Geisteskrankheit belastet war. Emma verbrachte den Rest ihres Lebens im Weißenhof (damals: Heilanstalt Weinsberg), von wo aus sie am 4. Juni 1940 deportiert wurde. Sie wurde noch am selben Tag in Grafeneck vergast und eingeäschert. Während es sich als einfach erwies, Details über Emmas Lebensgeschichte zusammenzutragen – Dapp fand viele Informationen in Briefen, Tagebüchern und Fotos der Familie, die er alle in seine eigene Erzählung einbaute – blieb ihr Tod ein Geheimnis. Emmas Sterbeurkunde besagt, dass sie am 21. Juni an Herzversagen starb und dass ihre Habseligkeiten und Papiere vom Tötungszentrum Pirna-Sonnenstein in Sachsen an die Familie zurückgegeben wurden. Was genau zwischen Emmas Deportation vom Weißenhof und dem Eintreffen der offiziellen Sterbeurkunde bei ihren Angehörigen geschah, dazu gibt es keine Dokumente. Dapp rekonstruiert Emmas letzte Reise, die sie tatsächlich in das nahe gelegene Tötungszentrum Grafeneck und nicht nach Pirna führte, auf Basis historischer Quellen. Wo die Dokumente schweigen, füllt er die Lücken mit seiner Vorstellungskraft. So stellt er sich Emmas letzte Stunden in Grafeneck vor: Emma wird dort wie alle andern etwa eine Minute befragt. Nackt, höchstens im Hemd, steht sie vor den Männern. Baumhardt überf liegt ihren Meldebogen und die aus Weinsberg mitgebrachte Krankenakte. Ob sie gearbeitet habe, fragt er, und sie zählt es auf. Ansprechbar ist sie also, stellt er fest. Was sie angibt, reicht aber nicht als Grund, sie nach Weinsberg zurückzuschicken [...] Er muß nur noch eine einigermaßen wahrscheinlich klingende natürliche Todesursache finden. Fällt ihm Emmas Blässe und Erschöpfung auf? „Chronischer Herzklappenfehler mit eintretender Herzmuskelschwäche“ wird hinterher im Beileidsbrief stehen. Abgehört hat der Arzt ihr Herz bestimmt nicht mehr. Aber er macht sich eine entsprechende Notiz.

35 | Ebd., S. 42.

Kapitel 3 [...] Jemand schaut ihr in den Mund: hat sie Goldzähne? Falls ja, bedeutet das ein Kreuz mehr auf dem Rücken, für die Entnahme nach der Kremation. Schließlich wird sie fotografiert[.] Anziehen ist nicht erlaubt, erst soll noch geduscht werden. [...] Hungrig sind die Frauen; hoffentlich bringt man das Duschen schnell hinter sich. 36

Es ist bemerkenswert, wie Dapps Erzählton in diesem Abschnitt vom Familienchronisten zum imaginären Zeugen wechselt. Er spricht aber weder davon, sich etwas vorzustellen, noch verwendet er den Konjunktiv. Stattdessen bietet er uns seine Version der Geschehnisse in der Gaskammer als persönliche Wahrheit an. Draußen dreht Dr. Baumhardt eigenhändig die Kohlenmonoxidf laschen [...] auf [...]. Er kann die Wirkung durch ein Guckfenster beobachten, an das er manchmal auch neugierige Besucher läßt. Drinnen kann nicht unbemerkt bleiben, daß statt des erwarteten Wassers Gas einströmt, auch wenn es nicht stark riecht. Spätestens jetzt bricht Panik aus unter den Frauen. Alle erdenklichen Verhaltensweisen überstürzen sich gleichzeitig: Schreie und Schlagen gegen die Tür – Aneinanderklammern und Kletterversuche – Kotzen und Beten. [...] Nur eines gibt es nicht: das vorausgesagte unmerkliche Hinüberdämmern. Höchstens bei denen, deren Panik schon vorher mit Injektionen sediert wurde. Aber bald werden auch die andern matt und sinken um, und schließlich ist kein Lebenszeichen mehr zu sehen. Auch Emma, meine Großmutter, ist tot. 37

In ihrer sachlichen und nüchternen Erzählweise erinnert die Szene an Döblins Beschreibung, zugleich ist sie aber ungleich dramatischer. Es ist, als ob Dapp selbst durch das Beobachtungsfenster schaut und den Leser dazu zwingt, mit ihm in der Rolle eines Besuchers zuzuschauen. Dieses Ausbuchstabieren der Umstände von Emmas Tod ist eine verspätete Trauerarbeit. Aber es ist noch mehr als das. Emmas Enkel wird Chronist und Schriftsteller, um für Emma Zeugnis abzulegen, um ihr Leben und die Umstände, die zu ihrem Tode führten, zu rekonstruieren, um gegen das Schweigen und die Vorurteile der Familie gegenüber Emma anzuschreiben. Indem er die Geschichte seiner Großmutter rekonstruiert und sich aneignet und indem er sie in seine eigene Lebensgeschichte einschreibt, schafft Dapp letztlich einen Raum für die Nach-Erinnerung der dritten Generation. Das ganze Buch ist in Form eines Gesprächs mit seiner toten Großmutter geschrieben. Wo seine Quellen schweigen, spricht er Emma direkt an und fragt, ob sie wusste, was passiert, und ob sie versucht habe, Widerstand zu leisten oder zu fliehen. Gestützt wird diese einseitige Unterhaltung nur durch die wenigen Fotografien aus dem Familienalbum, die von Emma erhalten geblieben sind. Die Bilder zeigen eine ernste und oft traurig aussehende Frau, die sich im Kreise der 36 | Ebd., S. 93–94. 37 | Ebd., S. 97–98.

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eigenen Familie sichtlich unwohl fühlt. Dapp findet nur ein Foto, auf dem sie ein Lächeln wagt: ein Foto aus den späten 1930er Jahren, als Emma bereits in Weinsberg ist und bei der Weinlese hilft. Das Foto zeigt sie wahrscheinlich während der Mittagspause mit einer Gruppe von Männern und Frauen zwischen den Reben.38 Sie trägt eine Schürze und gegen die Sonne ein Kopftuch und lächelt schüchtern in die Kamera. Es fällt auf, dass Emma hier aussieht, als habe sie Frieden mit sich gefunden und sei glücklich. Dapp untersucht, welche Rolle Emmas Familie bei diesen Ereignissen spielte, indem er nicht nur fragt, wie dies passieren konnte, sondern auch warum und wer dafür verantwortlich war. Wer erklärte Emma für geisteskrank? Welche Symptome wurden bei ihr festgestellt? Dapp gelingt es nicht, konkrete Informationen über ihre Krankheit ausfindig zu machen. In den Briefen, den einzigen Dokumenten von ihrer eigenen Hand, sind keine entsprechenden Anzeichen zu erkennen. Der einzige plausible Grund für Emmas Deportation von Weinsberg, so folgert Dapp, muss die Tatsache gewesen sein, dass sie eine Langzeit-Patientin war, die seit zwölf Jahren in der Anstalt lebte. Die drängendste Frage ist jedoch: Hätte Emma gerettet werden können? Erfüllte sich Emmas Schwester Helene, eine unverheiratete Diakonissin, den Wunsch, selbst Mutter zu sein, indem sie Emmas Kinder aufzog und ihre Schwester für ungeeignet erklärte, diese selbst großzuziehen? Helenes akribisches Tagebuch gibt Einblick in Emmas Welt: eine streng pietistische Familie, in der abweichendes Verhalten als „unnormal“ oder sogar „krank“ galt. Keine von Emmas medizinischen Unterlagen enthält eine eindeutige Diagnose. Manchmal schrieben die Ärzte einfach „Psychopathie“, was keine Erbkrankheit ist, manchmal „erblicher Schwachsinn“. Offenbar waren sich die Ärzte unklar über Emmas Diagnose, während die Familie schon entschieden hatte, dass ihr Verhalten Grund genug sei, um sie auf Dauer in eine Anstalt einzuweisen. Dapp schreibt dazu: Das Familienbewußtsein der Zellers tendiert wohl dazu, Erbfaktoren im Guten wie im Belastenden eine große Bedeutung zuzumessen. Einer traditionsreichen Sippe anzugehören, das wurde zur Norm, zur vielleicht auch bedrückenden Erwartungshaltung an die Kinder. [Und] so ist man bei individuellen Auffälligkeiten schnell mit der Diagnose „Erbkrankheit“ zur Hand. Wieviel Rivalität, wie viel Sexualangst und -neid sich auch hinter solcher Diagnose verstecken kann, das wird an Emmas Leben erschreckend deutlich. Und wenn diese innerfamiliäre Neigung zu Erbangst und Erbstolz dann noch zusammentrifft mit einer Staatsideologie von Rasse, Blut und Boden, Entartung, Eugenik und Euthanasie, dann droht den „Belasteten“ der Tod. 39

Das Buch dokumentiert, wie sich der Autor allmählich bewusst wird, dass seine eigene Familie Emma vielleicht hätte retten können, wenn man sie nach Hause 38 | Vgl. Knittel: Die Textur der Erinnerung, S. 206. 39 | Dapp: Emma Z., S. 21.

Kapitel 3

geholt hätte oder sie in eine andere Einrichtung hätte verlegen lassen. Die Familie rettete Emmas Bruder Karl, indem sie ihn einige Wochen nach Emmas Tod in ein anderes Heim verlegen ließ. Die ambivalente Haltung gegenüber Emma, die der NS-Ideologie entsprach einerseits, und die Unterschätzung der akuten Gefahr andererseits besiegelten ihr Schicksal. Einer von Helenes Briefen belegt diese Zwiespältigkeit gegenüber ihrer Schwester. Obwohl sie über den Mord an Emma bestürzt ist (und sie zweifelte nicht daran, dass es Mord gewesen war), rechtfertigt sie die eigenen Handlungen dadurch, dass Emma „immer ein schwieriger Charakter“ gewesen sei. In Anklang an die NS-Terminologie schreibt sie, Emmas Tod sei „fast eine Erlösung“40 gewesen. Dapps Text ist einer der wenigen, die nicht nur die Ausgrenzung eines Familienmitglieds durch Taten und Entscheidungen, die letztlich fatale Konsequenzen haben sollten, untersucht, sondern der auch die weiterhin bestehenden Vorurteile in der Familie, die ein Gedenken verhindern, enthüllt und zu bekämpfen versucht. Durch die montageartige Einbeziehung verschiedener Medien und Diskurse in Gestalt von Dokumenten, Familienfotografien, Gedichten und Briefen kann Dapps Buch dem Genre des Familienromans, das in Deutschland nach dem Fall der Mauer eine Renaissance erlebte, zugerechnet werden. In diesen Romanen macht sich eine neue Schriftstellergeneration auf die Suche nach ihrer Identität, indem sie jene Punkte erkundet, an denen sich ihre eigene Familiengeschichte mit größeren historischen Ereignissen kreuzte. Ähnlich wie die Werke von Autoren wie Stefan Wackwitz, Monika Maron oder Marcel Beyer verwischt Dapps hybrider Text die Unterscheidung zwischen Dokumentation und Fiktion. Der Erzähler präsentiert sich selbst als Forscher, Chronist und Zeuge jener Ereignisse, die vor seiner Geburt geschahen. Dapps retrospektive Anamnese und Analyse des Verhaltens seiner Familie gegenüber Emma ist der Versuch, die existenziellen Verstrickungen von Individuum, Familie und Nationalgeschichte zu verstehen. Indem Dapp die Rolle, die seine Familie bei Emmas Tod spielte, aufdeckt, formuliert er ein Urteil gegen seine Familie – und gegen eine Gesellschaft, die noch immer jene, die anders und in ihren Augen unzulänglich sind, ausgrenzt.

L ebensansichten

eines schwäbischen

E ulenspiegel

Angehörigen von Opfern geht es in ihren Memoiren vor allem darum, das Schweigen in der eigenen Familie zu durchbrechen. Es gibt aber auch Autorinnen und Autoren, die keinen familiären Bezug zu den Betroffenen haben. Sie nehmen sich individueller Geschichten an, um die Rolle der Gemeinschaft offenzulegen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Hellmut G. Haasis’ Heisel Rein, der Gscheite Narr. Das Buch erzählt die Geschichte von Reinhold Häußler, genannt Heisel Rein (schwäbisch für Häußler, Reinhold), der 1878 in Betzingen bei Reutlingen geboren und 40 | Ebd., S. 107.

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1940 in Grafeneck ermordet wurde. Er war durch seine schelmenhaften Streiche in der ganzen Region bekannt und den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Die Legenden, die sich um den schwäbischen Eulenspiegel Heisel Rein ranken, hat Haasis hier versammelt und in ihren historischen Kontext eingeordnet. Über Häußler als historische Person ist allerdings wenig bekannt. Es gibt keine Hinweise auf eine Behinderung oder Erbkrankheit, vielmehr wurde Häußler als angeblicher Arbeitsscheuer und Asozialer und wahrscheinlich auch wegen seiner durchaus kritischen Streiche und Witze von den Nationalsozialisten in die Heilanstalt Weißenau bei Ravensburg eingewiesen. Haasis präsentiert Häußlers Geschichte ausdrücklich als einen kritisch-satirischen Kommentar zur NS-Zeit, der besonders auch das Mitläufertum der örtlichen Bevölkerung beleuchtet. Die erste Hälfte des zweiteiligen Buches besteht aus überarbeiteten Fassungen von Häußlers Geschichten, die im Stil mittelalterlicher Schwänke und in schwäbischem Dialekt geschrieben sind. Die zweite Hälfte enthält narrative Vignetten zu den historischen Ereignissen, die zu Häußlers Festnahme und Einlieferung in die Heilanstalt Weissenau sowie zu seiner Ermordung in Grafeneck führten. Beide Teile enthalten historische Aufnahmen der Städte Betzingen und Reutlingen sowie der grauen Busse. Das Buch ist als eine moderne Version des Volksbuchs gestaltet, eine Sammlung von Schwänken bzw. Streichen und von Erzählungen beispielhaftem Verhaltens (oder Missverhaltens). Vorlage sind insbesondere die berühmten Geschichten von Till Eulenspiegel. Im Vorwort erklärt Haasis, dass er nicht Autor, sondern der Herausgeber der angeblich von Häußler selbst verfassten Schwänke sei und er berichtet, wie er in den Besitz von Häußlers Aufzeichnungen gekommen sei. Viele Jahre nach Häußlers Tod, als dessen Haus im schwäbischen Betzingen abgerissen wurde, hätten Arbeiter einen Stapel völlig verstaubter Papiere entdeckt, die unter einem Schrank versteckt gewesen seien. Anstatt sie wegzuwerfen, habe sie ein Arbeiter, der sich an Häußler erinnerte, mit nach Hause genommen. Einige Zeit später habe Haasis den Stapel vor seiner Haustür gefunden, zusammen mit einer anonymen Nachricht, in der er gebeten wurde, die Papiere zu publizieren. Im Gegensatz zu den eher harmlosen Geschichten über Heisel Rein, die in Betzingen besonders in der älteren Generation kursierten, seien die Geschichten, die Haasis in den Aufzeichnungen vorfand, jedoch erstaunlich politisch und kritisch gegenüber jeglicher Autorität gewesen, insbesondere gegenüber den Nationalsozialisten. Offensichtlich, so Haasis, zogen es viele Menschen vor, Häußler im Rückblick als einen „gscheiten Narren“, also als letztlich harmlos, zu sehen, und somit sei die politische Dimension seiner Erlebnisse und Streiche in der mündlichen Überlieferung vollends verloren gegangen. Zwar ist es fraglich, ob es solche Aufzeichnungen tatsächlich gegeben hat – Haasis bedient sich hier offensichtlich des Topos der Herausgeberfiktion. Aber es besteht kein Zweifel, dass die historische Person Reinhold Häußler existiert hat und dass Geschichten und Schwänke über ihn erzählt wurden. Haasis’ Buch ist also weder rein dokumentarisch noch frei erfunden, sondern hat als Ziel, die mündlich überlieferten Geschichten und die

Kapitel 3

Figur des Heisel Rein wieder in den historischen Kontext des NS-Regimes und der NS-„Euthanasie“ einzubetten. Das Buch folgt einem ähnlichen Muster wie Eulenspiegels Schelmenabenteuer: Haasis präsentiert Häußler als Außenseiter ohne feste Arbeit, der sich weigerte, sich anzupassen und ein produktives Mitglied der Dorfgemeinschaft zu sein. Es sind vor allem die Dorfoberen wie der Pfarrer, der Polizist und der Bürgermeister, die Heisel Rein in seinen Streichen aufs Korn nimmt, er verschont aber auch den Bäcker, den Gärtner oder die Bauern nicht. Fast alle seiner Streiche basieren auf dem Unterschied zwischen seinem eigenen Sprachgebrauch und dem der anderen. Er besteht darauf, gängige Redewendungen wörtlich zu nehmen, wodurch sich Missverständnisse und komische Situationen ergeben. Häußler entlarvt die scheinbar anständigen und angesehenen Dorf bewohner als Heuchler, indem er ihre irreführende und unehrliche Redeweise ins Lächerliche zieht. Seine Skepsis gegenüber euphemistischer oder täuschender Sprache steht auch im Vordergrund des Theaterstücks Spurensuche Grafeneck, das ich in Kapitel 1 erörtert habe und in dem Heisel Rein eine der Hauptfiguren ist. In dem Stück trägt er eine Trillerpfeife um den Hals, und jedes Mal wenn ein NS-Euphemismus fällt, pfeift er ohrenbetäubend und ruft „Sprachkritik!“. Nicht alle im Dorf finden Häußlers Späße amüsant, besonders nicht diejenigen, die ihnen zum Opfer fallen. Die meisten sehen in ihm einen faulen Idioten und Säufer, seine Streiche verfestigen nur seine Position als Außenseiter der Dorfgemeinschaft. Mit Beginn der NS-Herrschaft weiß Heisel Rein, dass er in Gefahr ist. Von nun an beginnt er, seine Geschichten, die er als sein „Erbe“ bezeichnet, aufzuschreiben. Er schreibt: Als man neulich am Rathäusle die Fahnen wechselte und krumme Kreuze auf knallrote Tücher kamen, pfiff mich der Reutlinger Ortssuppenleiter [sic] an, er werde mich in ein Lager für Arbeitsscheue stecken. Ich sei ein Asozialer, reif für einen Sträf lingskittel. [...] Für den Fall, daß ich mal nicht mehr bin, schreib ich auf, was ich weiß. Das ist mein Erbe für den Flecken. [...] Vielleicht denkt man später an mich mit mehr Nachsicht. Hätt es mehr solche Spaßvögel gegeben wie mich und weniger Marschierer und Soldaten, vieles wär nicht so schlimm gekommen. 41

Danach nutzt er jede Gelegenheit, um die neue Obrigkeit lächerlich zu machen. Wiederholt verspottet er öffentlich den Hitlergruß, indem er auf die doppelte Bedeutung des Wortes „heilen“ anspielt: „Und gleich müssen wir noch einen hEILEN, der’s nötig hat. Wird aus mir noch ein Doktor?“,42 oder: „Reiß-e mein räachta Arm hoch, wie-n-e-s sooscht et iber-s Herz breng. Schrei: ‚So hau schdôht

41 | Hellmut G. Haasis: Heisel Rein, der Gscheite Narr. Schwänke und Ermordung eines schwäbischen Eulenspiegels. Reutlingen-Betzingen: Freiheitsbaum 2008, S. 68.

42 | Ebd., S. 70.

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gau s Wasser en dr Schdadt, wann’s a halbs Jôhr soicht. Was kôô dô helfa?‘“.43 Auch verhöhnt er die Selbstherrlichkeit der Nationalsozialisten – „Der Humor ist ausgewandert, seit man den rechten Arm lupfen muss“ –, und dass Andersdenkende mundtot gemacht werden – „Die Linke will nie was lernen. Wir sind alle eine Volksgemeinschaft. Gemault wird nicht. Erst im Ferienlager Dachau darf gemeckert werden, dort sind alle Ziegen versammelt.“44 Als er den Marktplatz der Nachbarstadt Reutlingen mit Hakenkreuz-Fahnen geschmückt sieht, diagnostiziert er bei dessen Einwohnern eine mysteriöse Krankheit: „Die Gesichter kommen mir verdruckt vor, da bremst was innen. Keiner lacht, keiner winkt mir zu […] I glaub, die ganz Schdadt hôt a Krôôgat. Ogsonde Gsichter. Bloich wia-s Kätzle am Bauch, d-Visasch wia a Narrahaus“.45 Der Dialekt fungiert hier zusätzlich als subversives Element, weil er die eigentümliche, „natürliche“ Lokalsprache der scheinbar rationalen Sprache der Nationalsozialisten gegenüberstellt. Während Häußlers Streiche in der Vergangenheit große Zuschauermengen auf dem Marktplatz angezogen hatten, versuchen die Leute, von denen ihn viele seit Jahren kennen, ihn nun zum Schweigen zu bringen, ihm zu drohen oder wegzuschauen. Schließlich wird er gemeldet und festgenommen. Niemand wehrt sich gegen seine Verhaftung. Mit diesen Geschichten erschafft Haasis stellvertretend für Häußler ein Erbe, einen Erinnerungstext. Gleichzeitig schreibt er Heisel Rein und dessen Geschichten in eine literarische und kulturelle Tradition ein, die weit über die NS-Zeit hinausgeht und vom Mittelalter über Grimmelshausen zu Günter Grass reicht. Hier klingt nämlich auch die Geschichte von Oskar Matzerath deutlich nach. Heisel Rein ist der lebensechte Oskar, eine Gegenfigur nicht nur zur Dorfgesellschaft, die aus Kleinbürgern und Bauern, NS-Mitgliedern und Mitläufern besteht, sondern auch zur zeitgenössischen Gesellschaft, die von Konsumstreben und Leistungsorientierung getrieben wird. Wie Grass lehnt Haasis Pathos ab und arbeitet stattdessen mit der Spannung des Gegensatzes zwischen Heisel Reins lebhaften und subversiven Streichen und dem ideologischen Jargon der Nationalsozialisten. Häußlers Geschichte verbindet die subversiven und karnevalesken Aspekte des Grass’schen Romans mit Elementen eines Erinnerungstextes, der sich auf Dokumente stützt. Der zweite Teil des Buchs, der von der Ermordung Häußlers in Grafeneck handelt, ist im gleichen episodischen Erzählstil geschrieben und enthält auch Dialoge in schwäbischer Mundart, wechselt aber die Erzählperspektive und präsentiert die Ereignisse aus Sicht der Täter. Haasis lässt die NS-Ärzte und Bürokraten ihre 43 | Ebd., S. 84: „Reiß’ ich meinen rechten Arm hoch, wie ich es sonst nicht über’s Herz bringe. Schreie: ‚So hoch steht das Wasser in der Stadt, wenn es ein halbes Jahr lang regnet. Was kann da helfen?‘.“

44 | Ebd., S. 85. 45 | Ebd., S. 83: „[…] Ich glaube die ganze Stadt leidet an einer Krankheit. Ungesunde Gesichter. Bleich wie’s Kätzchen am Bauch, die Visage wie ein Narrenhaus.“

Kapitel 3

eigenen Verfolgungsmechanismen erklären und sich somit selbst belasten, wobei er Sinn für ironische Distanz bewahrt. Er erzählt die Geschichte der Deportation zweimal: einmal aus Sicht des „Engels der Geschichte“ (fraglos eine Anspielung an Walter Benjamin), der die grauen Busse auf ihrem Weg nach Grafeneck begleitet, und einmal aus der Sicht des Busfahrers. Der verwaltungstechnische und ideologische Hintergrund der „Aktion T4“ wird durch einen fiktiven Dialog zwischen Eugen Stähle, dem nationalsozialistischen Ministerialdirektor der Abteilung Gesundheitswesen im Württembergischen Innenministerium, und den Leitern der regionalen Heil- und Pflegeanstalten präsentiert. Die mörderischen Vorgänge in Grafeneck werden aus der Perspektive von Dr. Horst Schumann, dem Leiter des Tötungszentrums, erzählt. Der zweite Teil endet damit, dass Heisel Rein einen Zettel mit einer Nachricht aus dem Fenster des fahrenden Busses auf die Straße wirft. Es scheint beinahe, als wäre diese Nachricht für uns, die Leser, bestimmt, die wir jetzt in die Rolle treten müssen, die Haasis am Anfang innehatte, als er Häußlers Aufzeichnungen vor seiner Tür fand. Sowohl diesen Zettel als auch das Manuskript hat es höchstwahrscheinlich nie gegeben: Heisel Rein spricht nur durch Haasis zu uns. Im Gegensatz zu den Geschichten, die in der Nachkriegszeit über ihn kursierten, stehen diese jedoch in der ersten Person. In seiner fiktiven Herausgeberrolle agiert Haasis als stellvertretender Zeuge für das Leben und Leiden des Reinhold Häußler. Er lässt ihn selbst sprechen, aber seine Stimme dringt zu uns nur durch mehrere Schichten von Übertragung und Vermittlung, durch Zufälle, Verfremdungen und erfundene Identitäten. Es wird dem Leser unmöglich gemacht, zu glauben, er habe unmittelbaren Zugang zur historischen Wahrheit über Reinhold Häußler. Dafür sind die metafiktionalen Verzierungen und ironischen Brechungen zu offensichtlich. Aber unter den Schichten der Fiktion befindet sich ein wahrer Kern: Reinhold Häußler hat es tatsächlich gegeben, und er wurde ermordet. Und das verleiht den unbeschwerten und lustigen Schwänken einen schmerzhaften Ernst. Durch das Schlussbild wird auch der Leser dazu aufgefordert, diese Geschichte in Empfang zu nehmen und weiterzuerzählen.

Da

drinnen /hier dr aussen

Die meisten Autoren, die versuchen, Leben und Tod von Opfern der NS-„Euthanasie“ zu rekonstruieren, haben nicht den Vorteil, auf Geschichten, Anekdoten oder gar Manuskripte oder andere Dokumente zurückgreifen zu können. Meist ist der einzige erhaltene Beleg für die Existenz dieser Menschen die von den Tätern angelegte Akte. Wir sahen bereits, wie Dapp aus den kalten, unpersönlichen Worten der Ärzte im Krankenblatt seiner Großmutter eine Art Erzählung rekonstruiert. An diesen Fallakten zeigt sich der vollkommene Mangel an Empathie dieser Ärzte für ihre Patienten. Die Akten aus der NS-Zeit sind äußerst problematische Dokumente, deren Aussagen nicht ohne Weiteres in die Erzählung integriert werden

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können. Den Autoren ist es deshalb wichtig, die Unvereinbarkeit der Worte der Täter mit jenen der Opfer aufzuzeigen. Mit dem Mittel der Imagination, das Dapp, Haasis und andere stellvertretende Zeugen wählen, versuchen sie eine ethische und empathische Beziehung zu diesen Opfern aufzubauen. Wenn man die Sprache dieser Patientenakten betrachtet, fällt auf, wie sie in unterschiedlicher Hinsicht konsequent bis heute verwendet wird. Die enorme und einseitige Macht der psychiatrischen Krankenakte ist bei Betroffenen und Überlebenden des psychiatrischen Systems Gegenstand heftiger Kritik. Wie Anne Wilson und Peter Beresford schreiben, spielt die Akte eine Schlüsselrolle in der sozialen Konstruktion von Wahnsinn, da sie als wissenschaftlicher „Beleg“ für eine Geisteskrankheit präsentiert wird. Einmal niedergeschrieben, gilt die individuelle Akte als primäre und dauerhafte Darstellung der betreffenden Person.46 Und sobald eine Person in das psychiatrische System gelangt, wird er oder sie für immer mit dem Stigma der „psychischen Krankheitsgeschichte“ gekennzeichnet sein. Aufgrund der Dominanz dieses medizinischen Ansatzes ist es so gut wie unmöglich, das Erleben einer Geisteskrankheit „außerhalb des von ‚Experten‘ zur Verfügung gestellten Referenzrahmens“47 zu verstehen oder in Begriffe zu fassen. Die Krankengeschichte besteht aus „subjektiven Urteilen über das Verhalten und die Symptome des Patienten“, die als „Indikationen der vermuteten Psychopathologie“48 angeführt werden. Alles was der Patient sagt oder tut, wird als Beweis gegen ihn oder sie verwendet, und einzig das negative Verhalten oder dessen Interpretation wird aufgezeichnet, niemals das positive. Diese „unvollständige und negative“ Darstellung dient dann wiederum als Beweis für die Geisteskrankheit des Patienten sowie darüber hinaus dazu, generelle Vorstellungen von Geisteskrankheit zu bekräftigen, insbesondere wenn sie – für gewöhnlich ohne Wissen oder Einwilligung des Patienten – als Beispiel in einem psychiatrischen Lehrbuch verwendet wird.49 Es ist für Patienten außerdem sehr schwierig, sich gestaltend an der Beschreibung ihrer Krankheit zu beteiligen, weil ihre subjektiven Aussagen über ihre Erfahrungen im Allgemeinen nicht als wissenschaftlich brauchbar gelten und sich sogar negativ auf ihre Diagnose auswirken können.50 Aus diesem Grund ist man in der Bewegung der Psychiatrie-Geschädigten („psychiatric survivors’ movement“) der Ansicht, dass dieses System den Zweck hat, die Stimmen von Gesellschaftsmitgliedern, die nicht der strikten und willkürlichen Definition von Normalität entsprechen, zum Schweigen zu bringen. Der erste Schritt von Widerstand gegen eine solche Pathologisierung von Andersartigkeit ist es, das 46 | Anne Wilson/Peter Beresford: „Madness, Distress and Postmodernity – Putting the Record Straight“, in: Mairian Corker/Tom Shakespeare (Hrsg.): Disability/Postmodernity. Embodying Disability Theory. New York: Bloomsbury 2002, S. 143–158, hier S. 144.

47 | Ebd., S. 145. 48 | Ebd., S. 147–148. 49 | Vgl. ebd., S. 150–151. 50 | Vgl. ebd., S. 148–149.

Kapitel 3

Recht wiederzuerlangen, für sich selbst zu sprechen. Dies ist ein Kampf an mehreren Fronten gleichzeitig, nicht nur im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft, sondern auch und besonders im Hinblick auf historische Versuche, Menschen zum Schweigen zu bringen. Indem stellvertretende Zeugen die Worte der nationalsozialistischen Täter dekonstruieren, erfüllen sie eine ähnliche Funktion für jene, die das tödliche psychiatrische System des Nationalsozialismus nicht überlebten und die – bis heute – nicht für sich selbst sprechen konnten. Helga Schuberts Die Welt da drinnen kann in diesem Zusammenhang als wirkungsvolle und provokative Intervention verstanden werden. Das 2003 erschienene Buch basiert auf den Akten von 179 Patientinnen und Patienten der Heilanstalt Schwerin, die 1941 im Tötungszentrum Bernburg ermordet wurden. Diese Akten waren in den Archiven der Staatssicherheit der DDR unter Verschluss, bis sie 1990 ans Bundesarchiv nach Berlin abgegeben und öffentlich zugänglich gemacht wurden. Schubert rekonstruiert die Biographien der Opfer und stellt ihre Geschichten denen der Ärzte und Krankenschwestern gegenüber, die sie zum Teil der Forschungsliteratur entnommen hat. Der Buchtitel bezieht sich also einerseits auf die Welt in der Anstalt und andererseits auf das Innenleben der Patienten und derer, die sich um sie „kümmerten“ und sie in den Tod schickten. Die unterschiedlichen Biographien dienen als Hintergrund für Schuberts Diskussion aktueller Fragen zu Sterbehilfe, Pränataldiagnostik und Gentechnik sowie darüber, wie das Thema NS-„Euthanasie“ unweigerlich die Debatten in Deutschland beeinflusst. In diese komplexe Collage aus rekonstruierten Biographien und Gegenwartsfragen bettet Schubert einen metaliterarischen Erzählstrang über ihre eigene Biographie und eine Reflexion über den Prozess des Recherchierens und Verfassens des Buchs ein. Sie berichtet von den Schwierigkeiten zu entscheiden, welche Geschichten sie erzählen soll, und spricht über ihre Arbeit als Psychotherapeutin in der DDR, bevor sie Schriftstellerin wurde. Die fragmentierte Chronologie des Buchs spiegelt das komplizierte Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, von der Biographie der Autorin selbst und den Biographien der Täter und ihrer Opfer wider. Die einzigen in chronologischer Reihenfolge erzählten Sequenzen sind die Lebensgeschichten der Opfer. Die Gegenüberstellung des grausamen und abwertenden medizinischen und juristischen Diskurses in den Dokumenten einerseits sowie den emotionalen und mitfühlenden Erzählungen der Biographien andererseits schafft beim Lesen ein Gefühl von Unstimmigkeit, die fast unheimlich ist. Durch das Hin und Her zwischen Fragen von Gedenken, Recht, Medizin und Ethik präsentiert Schubert die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ als in einer permanenten Unschlüssigkeit gefangen. Dies wird dann am schmerzlichsten, wenn der unausweichliche Tod jedes Patienten den milden Strafen bzw. Freisprüchen der einzelnen Täter in den Prozessen gegen die Ärzte und Krankenschwestern, die Schubert ebenfalls beschreibt, gegenübergestellt wird. Momentaufnahmen der Prozesse wechseln sich mit metaliterarischen Reflexionen ab. Dieser zögernde und in hohem Maße selbstreflexive Erzählstil vermit-

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telt die Schwierigkeit der Autorin, ein angemessenes Format für die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ zu finden sowie ihr Bewusstsein dafür, dass sie selbst an verschiedenen Diskursen gleichzeitig teilnimmt. Mithilfe der Krankenakten rekonstruiert und imaginiert Schubert einige der Opferbiographien. Dabei konzentriert sie sich auf die Geschichten von vier Frauen, zu denen sie offenbar eine starke persönliche Verbindung spürt. Beispielsweise ist Schubert von der Akte von Alwine, die sich selbst „die Perlkönigin“ nennt, fasziniert. Die Krankenakte beschreibt, wie Alwine eines Tages einen toten Vogel aus dem Garten mitbrachte und ihn zum Abendessen braten wollte. Der Arzt fand diesen Vorfall scheinbar bizarr oder pathologisch genug, um ihn in der Krankenakte zu verzeichnen. Ausgehend von diesem beiläufigen Hinweis in der Akte konstruiert Schubert eine komplizierte Geschichte, die Elemente von Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers Nachtigall“ beinhaltet. Der Kaiser von China fängt eine Nachtigall, weil ihn ihr schöner Gesang zum Weinen bringt. Als er eine mechanische Nachtigall als Geschenk erhält, die auf Befehl und viel länger als die echte singt, verbannt er die echte aus seinem Reich. Auf dem Sterbebett erkennt er jedoch, dass der künstliche Vogel den echten nicht ersetzen kann: die echte Nachtigall kehrt zurück, ihr Gesang vertreibt den Tod und rettet so sein Leben. Die Nachtigall verspricht, von nun an freiwillig zu kommen und für den Kaiser zu singen, wenn er verspricht, sie nicht mehr in einem Käfig einzusperren. Bei der erneuten Lektüre der deutschen Übersetzung des Märchens bemerkt Schubert eine Fußnote, die erläutert, dass sich das dänische Wort für Nachtigall, „Nattergal“, für ein Wortspiel eignet, da es das Wort „gal“ enthalte, das „verrückt“ bedeutet. Für Schubert eröffnet sich nun mit dem Wort „Nachtigall“ eine neue Verbindung zwischen Gesang und Verrücktheit. Sie schreibt: „eine Nachtigall wird sie nur mit dem Verrückten in sich“. Damit meint sie, dass die „Nattergal“ ohne die wichtige Silbe „gal“ einfach nur eine „Natter“ wäre – „Und wer will die schon singen hören?“.51 Andersens Märchen klingt in unterschiedlicher Weise in den Geschichten von Alwine und den anderen Opfern an. Es ist eine Metapher für den Sieg der Natur über die Kultur, für das romantische Ideal des Irrationalen, das durch den lebendigen Vogel und sein Lied verkörpert wird. Dieser ist dem kalten, aufgeklärten Rationalismus, den der mechanische Vogel repräsentiert, vorzuziehen. Es stellt Gnade, Respekt und Menschlichkeit der Kontrolle, Standardisierung und Konformität gegenüber. Und es ist ein Plädoyer für die transformative Macht der Kunst.52

51 | Helga Schubert: Die Welt da drinnen. Eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom ‚unwerten Leben‘ Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 25–26.

52 | Die Verbindung zwischen Musik und Wahnsinn hat eine lange und gut belegte Tradition in der westlichen Literatur und Philosophie, insbesondere in der Romantik. Siehe zu diesem Thema z. B. John T. Hamilton: Music, Madness, and the Unworking of Language. New York: Columbia University Press 2008.

Kapitel 3

In diesen teils dokumentarischen, teils fiktiven Rahmen bettet Schubert Alwines Biographie ein. Sie erzählt, wie Alwine 1917 mit 31 Jahren in die Anstalt kam, weil sie Halluzinationen hatte und glaubte, dass sie eine Prinzessin oder Königin sei und dass die ganze Welt sie verfolge. Zu Beginn liefert die akribisch geführte Krankenakte ausführliche Informationen über Alwines Zustand. Sie gibt ihre rätselhafte Sprechweise und ihr Verhalten während „manischer“ Phasen genau wieder. Indem Schubert die Akte gegen den Strich liest, kann sie ein lebhaftes und buntes Bild Alwines zeichnen. Das Verhalten und die Äußerungen, die die Ärzte als von der Norm abweichend und als Beleg für ihre Geisteskrankheit aufzeichnen, feiert Schubert als Zeichen von Alwines Persönlichkeit. Sie zeichnet ein lebendiges Porträt von Alwine und verleiht ihr eine Stimme, indem sie ihre Unterhaltungen mit den Ärzten rekonstruiert. In den Akten aus den 1930er Jahren kann die Autorin eine Verschlechterung von Alwines Gesundheitszustand sowie eine Veränderung ihres Umfelds ausmachen, wie die immer kälter und kürzer werdenden Aufzeichnungen dokumentieren. Zum Schluss benutzen die NS-Ärzte nicht einmal mehr Alwines Namen, wenn sie ihren Zustand beschreiben: „Sehr laut und erregt, tobt, nicht ansprechbar, untätig, zerfahren.“ „Es gab kein Subjekt mehr“, kommentiert Schubert, in den Sätzen über die Perlkönigin.53 Ein Jahr nachdem sie den toten Vogel aus dem Garten brachte, im August 1941, wird Alwine nach Bernburg deportiert und dort am selben Tag vergast. Schuberts Beschreibung der Deportation mit dem Bus ist wie die bei Döblin und Dapp vollständig erfunden. Sie schreibt aus Sicht der Täter, was den Gegensatz zu den bunten und empathischen Lebensgeschichten der Opfer hervorhebt. „Vielleicht war es so: [...] Heute macht ihr einen Ausflug mit dem Bus. [...] Wohin, wird nicht verraten, eine Fahrt ins Blaue.“54 Anstatt sich den Tod der Patienten in der Gaskammer vorzustellen, beschreibt die Autorin ihren eigenen Besuch in Bernburg, wo sich heute eine Gedenkstätte befindet. Schubert erzählt von den Schwierigkeiten, die sie hatte, an dieser authentischen Stätte der Gräueltaten mit deren Gewöhnlichkeit konfrontiert zu werden: [So] alltäglich und normal kann es einfach nicht gewesen sein. [...] Es muss doch einen Unterschied geben zum Möglichen, einen Schutz. Sonst könnte ja jeder in einen solchen Bus geraten, mitten im Sommer, dann kann ja jeder Begleiterin sein oder Fahrer, Kranke, Ärztin oder Pf leger. 55

Schuberts hybridem und sehr persönlichem Erzählstil gelingt eine komplexe Darstellung des Themas, sie vervielfacht die Schichten und Perspektiven und schafft gleichzeitig eine größere Unmittelbarkeit und Zugänglichkeit. Sie zwingt den Leser, sich mit den fundamentalen ethischen Fragen zur „Euthanasie“ ausei53 | Schubert: Die Welt da drinnen, S. 43. 54 | Ebd., S. 45. 55 | Ebd., S. 80–81.

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nanderzusetzen: Was macht ein Leben „lebenswert“ und was gibt jemanden das Recht, darüber zu entscheiden? Sie zählt diverse aktuelle Fälle von Zwangssterilisation und Sterbehilfe in verschiedenen Ländern auf. In Amsterdam spricht sie mit dem Vorsitzenden einer der Organisationen, die sich für Sterbehilfe und Beihilfe zum Selbstmord in den Niederlanden einsetzt, was dort legal ist. Am eindrucksvollsten sind Schuberts Bemühungen, die Geschichte und Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ mit heutigen Themen zu verbinden, im letzten Kapitel „Einführung in die Gewährung des Gnadentodes“, das den Besuch der Autorin an einem Berliner Gymnasium dokumentiert. Anstatt einfach aus ihrem Buch zu lesen, verteilt sie Kopien von Hitlers berüchtigtem Erlass, der den „Gnadentod“ von „unheilbar Kranken“ autorisiert, an die Schüler und bittet sie, sich vorzustellen, dass sie selbst in der Verwaltung des Gesundheitswesens arbeiten und dann zu diskutieren, wie in diesem Fall vorgegangen werden müsse. Die Schüler sind verblüfft, einige amüsiert, andere verwirrt. Sie zögern zunächst, auch nur den Versuch zu wagen, die komplizierten und bewusst unbestimmt bleibenden Formulierungen des Geheimerlasses zu verstehen: Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. 56

Ein Schüler fragt, ob das bedeute, dass Hitler die Verantwortung an jemand anderen abgab, weil er nichts mehr damit zu tun haben wollte. „Ich würde einfach sagen, dass ich da nicht mitmache“, sagt ein anderer Schüler.57 Schubert weist darauf hin, dass es dafür zu spät sei, da er bereits in der NS-Verwaltung arbeite und nur die Befehle des Führers ausführen solle. Er könne alternativ, so Schubert, als Soldat an die Ostfront gehen. Einige Schüler beginnen, Pläne zu entwickeln. Andere weigern sich weiterhin, gezwungen zu werden, wie die Täter zu denken, sie ziehen es vor, sich mit den Opern zu identifizieren. Sie diskutieren darüber, welche Möglichkeiten für Widerstand es wohl gegeben habe. Offensichtlich empfinden sie es als unangenehm, sich vorzustellen, wie die Täter zu denken: „Wer leben darf, bestimmen wir. Das ist ein gefährliches Gefühl, ich möchte darüber jetzt nicht mehr nachdenken, man gerät in einen richtigen Sog. Das war 1939. Es gibt gar keinen Anlass, heute über Selektionskriterien für Patientenmorde nachzudenken“, sagt eine Schülerin.58 Es scheint ihnen angenehmer zu sein, über die Opfer, über Behinderung und unheilbare Krankheiten im Allgemeinen zu sprechen. Wie entscheidet man, ob eine Person unheilbar krank ist? Wie krank müsste man sein, um sterben zu wollen? Schubert schreibt: 56 | Ebd., S. 218. 57 | Ebd.. 58 | Ebd., S. 227.

Kapitel 3 Da ging es plötzlich auch um den Grad der Behinderung, um die Frage, wie viel Hilf losigkeit man bei sich selbst zum Weiterleben noch akzeptieren würde, also nicht darum, wie viel man beim anderen an Behinderung akzeptieren würde. 59

Dann liest Schubert den Schülern aus einer der Opferbiographien vor: die Geschichte von Henriette, die, nachdem sie mit neun Jahren an Hirnhautentzündung erkrankte, sehr lethargisch war und nicht arbeiten konnte. In der Folge wurde sie dauerhaft in ein Heim eingewiesen und später von den Nationalsozialisten getötet. „Die war ja überhaupt nicht verrückt, die war ja nur krank“,60 sagt eine Schülerin überrascht. Mit den Gesprächen und Überlegungen der Schüler, die Schubert im letzten Kapitel wiedergibt, veranschaulicht sie die verschiedenen psychologischen Faktoren, die einer Erinnerung an die „Euthanasie“ entgegenstehen oder sie zumindest schwierig machen. Zugleich stellt sie aber auch die kulturellen und politischen Faktoren heraus, die dabei eine Rolle spielen, wie die Tatsache, dass Behinderung nach wie vor als Mangel oder Unfähigkeit gesehen wird, oder den Widerstand dagegen, Kontinuitäten und Zusammenhänge zwischen damaligen und heutigen Ausgrenzungsmechanismen einzugestehen. Dazu kommt auch das Zögern, sich persönlich mit dem Thema Behinderung auseinanderzusetzen und die Tendenz, andere abzuwerten, indem man sie für „verrückt“ erklärt. Schubert schreibt: „Das Für-Verrückt-Erklären eines anderen Menschen geschieht aus Angst vor dem eigenen Verwirrenden, Unbekannten, Unkonventionellen, Schöpferischen, Fremden.“61 Die Welt da drinnen ist ein Erinnerungstext, der auf provokative Weise mit den unterschiedlichen Aspekten der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ umgeht, wodurch den Lesern ein Eindruck von der Komplexität und Relevanz dieser Aspekte für die Gegenwart vermittelt wird. Schubert gedenkt einzelner Opfer, indem sie deren Biographien rekonstruiert. Ihre Porträts dieser Menschen sind frei von Pathos und lösen auch kein Mitleid aus, das nur dazu führen würde, die Opfer auf Distanz zu halten und sie nicht als Menschen zu sehen. Schubert lässt, wann immer das möglich ist, diejenigen, die zum Schweigen gebracht wurden, in Briefen, Gesprächen und in ihren Taten selbst für sich sprechen. Obwohl sie es uns so ermöglicht, einige wenige Opfer kennenzulernen, verliert sie nie aus dem Blick, dass es viele unbekannte Opfer gibt, deren Geschichten nicht rekonstruiert werden können. Zur Einbindung des Lesers in einen Identifikations- und Erinnerungsprozess gehört für Schubert auch, unsere eigene Haltung zu Behinderung heute zu hinterfragen. Verantwortung für die Erinnerung an die „Euthanasie“ zu übernehmen geht damit einher, sich selbst in Frage zu stellen und, wie sie in ihrem letzten Kapitel zeigt, damit, sich selbst als Opfer und als Täter zu sehen. 59 | Ebd.. 60 | Ebd., S. 124. 61 | Ebd..

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Weil Schubert zeigt, wie das Thema NS-„Euthanasie“ im Zusammenhang mit aktuellen politischen, kulturellen und persönlichen Fragen auftauchen kann, erzeugt ihr Buch ein ähnlich unheimliches Gefühl für die „Vergangenheit in der Gegenwart“ wie ein Besuch der Gedenkstätte Grafeneck. So wie die Besucher dort sowohl mit der mörderischen Vergangenheit des Ortes als auch mit der möglicherweise beunruhigenden Gegenwart einer Pflegeeinrichtung konfrontiert werden, sehen sich die Leser von Schuberts Buch aufgefordert, sich die täglichen Begegnungen prägenden Voreingenommenheit und Vorurteile bewusst zu machen und diese zu hinterfragen. Schubert lädt Schüler und ihre Leser ein, sich den Tätern auf unbequeme Weise anzunähern. Das erinnert an das „empathische Unbehagen“, das Dominick LaCapra von Wissenschaftlern einfordert, die sich mit dem Holocaust befassen. Bei LaCapra bedeutet dieser Begriff in erster Linie eine Empfänglichkeit oder Offenheit gegenüber „den traumatischen Erfahrungen anderer, vor allem der Opfer“,62 ohne sich diese Erfahrung aber auf unverdiente Weise anzueignen. Ziel ist es, die Andersartigkeit der Anderen und die Einzigartigkeit ihrer Erfahrung zu respektieren und zugleich zuzulassen, dass diese den Schriftsteller oder Wissenschaftler in Unruhe versetzt. Genau das ist der Kern des stellvertretenden Bezeugens. Es ist kein Versuch, sich die Erfahrung oder das Trauma eines anderen anzueignen oder für diesen zu sprechen, sondern öffnet stattdessen einen Raum, in dem der zum Schweigen gebrachte Andere zu Wort kommen kann. Indem sie als stellvertretende Zeugen fungieren und indem sie immer wieder dazu auffordern, hinzusehen, zwingen Autoren wie Döblin, Dapp und Schubert ihre Leser außerdem dazu, selbst Zeugen von Geschehnissen zu werden, die sie andernfalls nicht wahrgenommen hätten, und die sie vielleicht auch nicht wahrnehmen wollten. Hier ist wichtig, dass wir von der uns zum Zeugen berufenden Erzählung nicht zur Gaskammer geführt werden, um dort die Position der Opfer einzunehmen, sondern als von außen hineinschauende Beobachter. Der Standpunkt, der uns angeboten wird, ist dem des Täters näher als dem des Opfers. Das empathische Unbehagen, das dadurch erzeugt wird, hat daher nicht nur mit dem Tod der Opfer zu tun, sondern auch mit der unangenehmen Notwendigkeit, den Vorgang aus der Perspektive des Täters zu sehen. Eine Stärke von Schuberts Buch ist, dass die Täter nicht als „die Anderen“ oder als ein anonymes „die da“ auftauchen. Wie eine Schülerin bemerkt, ist die Vorstellung, selbst Täter zu sein, „ein gefährliches Gefühl“, das man lieber vermeiden würde, weil es „sicherer“ scheint, das Handeln und Denken der Täter einfach als grundsätzlich unverständlich und daher als vollkommen anders als das eigene wahrzunehmen. In den Memory Studies war die kritische Auseinandersetzung mit den Tätern des Holocausts bis vor Kurzem ein signifikanter blinder Fleck. Dafür, den Tätern in diesem Fachbereich nicht zu viel Raum zu geben, sprechen wichtige und gute 62 | Dominick LaCapra: Writing History, Writing Trauma. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001, S. 41.

Kapitel 3

Gründe: Grundlage der Memory Studies sind die Berichte von jenen Menschen, die die Nationalsozialisten zum Schweigen bringen und von der Erde tilgen wollten. Oberstes Ziel ist daher, die Erfahrung der Opfer von Verfolgung als legitime Quelle historischen Wissens zurückzugewinnen und zu bewahren und die Medien und Strategien der Darstellungen und Weitergabe von Erinnerungen theoretisch aufzuarbeiten. Daneben geht es auch darum, sich dem vorherrschenden Narrativ zu widersetzen und die Selbstdarstellung der Täter zu hinterfragen oder zu entkräften. Noch Jahrzehnte nach dem Holocaust wurde jeder Versuch, die Ereignisse aus Sicht der Täter zu verstehen, und jeder allzu ernsthafte Versuch, ihre Motive zu untersuchen, als moralisch suspekt betrachtet, als ob dadurch das Risiko bestünde, die Täter und ihre Taten verständlich zu machen und damit letztlich entschuldbar. Das in der letzten Zeit verstärkt aufkommende Interesse an der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ einfach als einen weiteren Schritt der anhaltenden Expansion des Gedenkens an den Holocaust zu betrachten, wäre allzu einfach. Die Einbeziehung dieser Opfer in den Holocaust-Diskurs ist aus genau jenen Gründen besonders wichtig, die dazu geführt haben, dass sie so beharrlich außen vor gelassen wurden: Sie erfordert, sich kritisch mit Grundannahmen darüber auseinanderzusetzen, was der Holocaust war und in welchem Verhältnis er zu historischen und heutigen Mechanismen der Ausgrenzung, zu alten und neuen Vorurteilen steht, und sie neu zu bewerten. Vor allem im Fall der NS-„Euthanasie“ ist es unerlässlich, dass wir uns die hinter den Handlungen der Täter stehenden Motive und Gründe genau und kritisch ansehen. Nur dann können wir die implizite, auf der Idee einer medizinischen Rechtfertigung beruhende Unterscheidung wirklich verstehen und hinterfragen, die zwischen dem „Euthanasie“-Programm und dem Holocaust gemacht wird. Genau diese Unterscheidung erlaubte es Agamben, der NS-„Euthanasie“ zustimmend „humanitäre“ Erwägungen zuzusprechen,63 und seien diese auch noch so fehlgeleitet. Eine solche Bemerkung über die „Endlösung“ wäre natürlich skandalös, obwohl Hitler und Himmler die Überzeugungen, die sie dazu brachten, den Holocaust zu planen und auszuführen, sicher nicht weniger fest vertreten haben als jene, die dem „Euthanasie“-Programm zugrunde lagen. Trotzdem erscheint uns die vorgeblich medizinische Begründung des letzteren plausibler. Das liegt daran, dass wir es nach wie vor für notwendig halten, zu entscheiden, ob ein Leben „lebenswert“ ist oder nicht. Agambens Aussage sollte eben darum ernst genommen werden. Die NS-Täter rechtfertigten ihr Handeln mit in ihren eigenen Augen stichhaltigen medizinischen und humanitären Argumenten. Die wichtigste Erkenntnis ist aber nicht, dass die Täter Unrecht hatten oder böse waren, sondern dass Fragestellungen wie diese noch heute in juristischen, medizinischen und bioethischen Diskursen von Relevanz sind. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir unseren Blick nun weg vom Gedenken an die Opfer der NS-„Euthanasie“ und hin zum Problem des Umgangs mit den 63 | Agamben: Homo sacer, S. 140.

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Tätern und ihrer Darstellung lenken. Dabei wird sich zeigen, dass die strenge Trennung zwischen „Euthanasie“-Programm und Holocaust noch schwieriger aufrechtzuerhalten ist.

Intermezzo

Kapitel 4

Curriculum Mortis: Auf den Spuren der Täter von Grafeneck nach Triest Es gilt daran zu erinnern, daß diese Anhänger, unter ihnen auch die emsigen Vollstrecker unmenschlicher Befehle, keine geborenen Peiniger und mit wenigen Ausnahmen keine Ungeheuer waren: Es waren gewöhnliche Menschen. Die Ungeheuer existierten, aber es sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu sein; gefährlicher sind die gewöhnlichen Menschen, Beamte, bereit zu glauben und ohne Widerspruch zu gehorchen [...].1 Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. [Diese Normalität war] viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen, denn sie implizierte – wie man zur Genüge aus den Aussagen der Nürnberger Angeklagten und ihrer Verteidiger wußte –, daß dieser neue Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani ist, unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewußt zu werden. 2

Dunkle, etwas starre Augen unter dichten Augenbrauen. Unter einer breiten Nase ein kleiner dunkler Schnurrbart, der an den des Führers erinnert. Das helle 1 | Primo Levi: „Primo Levi antwortet auf Fragen seiner Leser“. Aus dem Italienischen von Joachim Meinert, in: Primo Levi: Ist das ein Mensch? – Die Atempause. München: Hanser 2011. S. 469–507, hier S. 503.

2 | Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow. München: Piper 2011, S. 400–401.

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Abbildung 8: Christian Wirth, ca. 1938

Quelle: Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Kapitel 4

Oval seiner Glatze nimmt ein gutes Drittel des Fotos ein. Er trägt ein weißes Hemd und eine Krawatte mit diagonalen Streifen, an seinem dunklen einreihigen Anzug das Eiserne Kreuz, darunter ein Hakenkreuz. Ein strenges Gesicht, aber sonst nicht weiter auffällig. Die Aufnahme wirkt wie ein offizielles Porträtfoto, für einen Personalausweis oder vielleicht eine Personalakte (Abb. 8). Was sagt es uns über diesen Mann? Er hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, war Mitglied der NSDAP; jenseits seiner Insignien können wir nur darüber spekulieren, wer er war und was er getan hat. Auf einem zweiten Bild, das zu einem anderen Zeitpunkt aufgenommen wurde und an einem anderen Ort, scheint derselbe Mann zu sehen zu sein (Abb. 9). Dieses Bild ist kein Porträt, sondern ein vergrößerter Ausschnitt einer Außenaufnahme. Hier trägt der Mann eine SS-Uniform und eine Feldmütze mit dem Abzeichen der Totenkopf-SS. Das Abzeichen an seinem Kragen zeigt seinen Rang: Sturmbannführer. Er trägt eine Brille und an seinem Hals baumelt ein Fernglas. Während sein Gesichtsausdruck auf dem Porträtfoto eher streng ist, wirkt er nun fast grimmig; aber vielleicht ist es auch nur das Licht auf dieser Aufnahme, oder vielleicht liegt es an der Uniform. An seiner linken Brust prangen ein Eisernes Kreuz und darunter ein Kriegsverdienstkreuz. Beide Fotografien sind Teil einer dokumentarischen Ausstellung an einer Gedenkstätte: Das erste ist in Grafeneck zu sehen, das zweite in der Risiera di San Sabba in Triest – Christian Wirths erster und sein letzter Einsatzort. Sie markieren zwei wichtige Stationen in der Lauf bahn eines nationalsozialistischen Täters: Wirth verwaltete und überwachte NS-Vernichtungslager in Deutschland, Polen und Italien. Wahrscheinlich wurde das erste Bild in den späten 1930er Jahren in Stuttgart aufgenommen, als Wirths NS-Lauf bahn ihren Anfang nahm. Das zweite zeigt ihn in den frühen 1940er Jahren in Belzec auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Obwohl zwischen beiden Aufnahmen nur wenige Jahre liegen, scheinen sie unterschiedliche Menschen zu zeigen. Das erste Bild ist ein recht typisches, wahrscheinlich in einem Studio aufgenommenes Porträtfoto eines ernst, vielleicht etwas selbstgefällig wirkenden Mannes, und das zweite das Bild eines Offiziers bei der Arbeit. Wirths Aussehen hat sich drastisch verändert und radikalisiert; sogar die auf dem ersten Foto recht diskrete Hakenkreuz-Anstecknadel ist der ostentativen Zurschaustellung der SS-Insignien auf seiner Brust gewichen. Darüber hinaus sind die Schlüsselattribute der Überwachung und Kontrolle in Gestalt der Uniform und des Fernglases überdeutlich zu sehen. In beiden Ausstellungen wurden an strategischen Punkten mehrere Fotos von Tätern platziert, die mit denen der Opfer kontrastieren. Bei genauerem Hinschauen lässt sich aber zwischen den Täterbildern der beiden Gedenkstätten ein deutlicher Unterschied feststellen zwischen statischer und dynamischer Darstellung. In der Grafenecker Ausstellung sind fünf Fotos von Haupttätern zu sehen: Philipp Bouhler und Dr. Karl Brandt, von denen die „Aktion T4“ geleitet wurde, Reichsführer SS Heinrich Himmler, Horst Schumann, Grafenecks medizinischer Direktor, und Christian Wirth. Alle Porträts haben dasselbe Format. Die Männer

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sind teils von vorne zu sehen, teils im Profil. Im Fokus stehen die Gesichter; es geht darum, die Züge dieser Männer genau sichtbar zu machen. In der Risiera di San Sabba hingegen sind die meisten Täterbilder Schnappschüsse, Gruppenfotos oder aus anderen Bildern ausgeschnittene und vergrößerte Nahansichten. Wir sehen irgendwo stehende oder umhergehende Männer in Uniform, salutierend oder im Gespräch miteinander. Ihre Gesichter sind teilweise nur schwer zu erkennen, weil einige von ihnen Mützen tragen, deren Schirm die Augen verdeckt. Wenn wir wissen wollen, wer sie sind, müssen wir die Bildlegende hinzuziehen. Nur auf zwei Bildern sind italienische Faschisten zu sehen: Eines zeigt Mussolini, neben Hitler stehend, das zweite ist ein grobkörniges Gruppenfoto, auf dem Galeazzo Ciano und andere Mitglieder der faschistischen Elite zu sehen sind. Welchen Eindruck gewinnen die Besucher der beiden Gedenkstätten von diesen Männern? Die Ausstellung in Grafeneck lädt uns ein, sie aus nächster Nähe zu betrachten: Wir sehen fünf Individuen mit nicht weiter bemerkenswerten, ganz normalen Gesichtszügen, die sich abgesehen von einigen zeittypischen Besonderheiten in nichts von Menschen unterscheiden, die wir tagtäglich auf der Straße sehen. In der Risiera hingegen sehen die Männer in ihren Uniformen und den stereotypen Posen alle gleich aus. Obwohl ihnen im Gesamtkonzept der Ausstellung viel Raum gegeben wurde (ihre Fotos füllen vier der großen Informationstafeln), scheint es hier weniger um sie als Personen zu gehen, sondern mehr um ihre symbolische Funktion als Mitglieder der SS, als Nationalsozialisten, als Täter. Inwieweit lassen sich aus diesem scheinbar nebensächlichen Unterschied in der Darstellung derselben Täter Rückschlüsse darauf ziehen, welche Annahmen den dokumentarischen Ausstellungen an diesen beiden Orten zugrunde liegen? Welche Rolle spielen diese Männer und ihre Bilder nicht nur im jeweiligen Gesamtkonzept der beiden Gedenkstätten, sondern auch im Hinblick auf den dort verfolgten pädagogischen Ansatz? Welche Modelle zum Verstehen, zum Nachvollziehen dieser Rolle stellen die beiden Ausstellungen bereit? Und inwieweit kommen in der Auseinandersetzung mit den Tätern die Tabus und Ängste zum Ausdruck, die die deutsche und die italienische Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt haben? Auf die allgemeine Öffentlichkeit scheinen ‚die Nazis‘ eine grenzenlose Faszination auszuüben, was an der Vielzahl und Popularität von sensationsheischenden Dokumentationen, Spielfilmen oder Biographien deutlich wird. Auch Gedenkstätten müssen die Täter darstellen, und zwar auf eine Art und Weise, die uns zeigt, wer sie waren und warum sie taten, was sie taten. Dabei aber müssen die Kuratoren „einen Drahtseilakt zwischen zwei gleichermaßen unerwünschten Extremen [...] vollführen: auf der einen Seite die Dämonisierung der Täter als Verkörperung des absoluten Bösen und auf der anderen der Hinweis auf den ‚kleinen Nazi‘, der in uns allen stecke“.3 Jegliche Auseinandersetzung 3 | Froma I. Zeitlin: „Teaching about Perpetrators“, in: Marianne Hirsch/Irene Kacandes (Hrsg.): Teaching the Representation of the Holocaust. New York: Modern Language Association 2004, S. 68–85, hier S. 70.

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Abbildung 9: Christian Wirth, ca. 1942

Quelle: Yad Vashem

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mit den Tätern muss zwischen diesen beiden Extremen stattfinden, aber darüber hinaus ist es auch wichtig, das Verstehen dessen, was diese Männer und Frauen taten, von einer Rechtfertigung desselben klar zu trennen. Letztlich müssen wir uns fragen, ob es wirklich wahr ist, dass tout comprendre c’est tout pardonner. Weil die Rolle von Erinnerungsorten schon seit einiger Zeit im Wandel ist, weg von der reinen Gedenkfunktion hin zu einer pädagogischen Aufgabenstellung, hat diese Frage eine besondere Dringlichkeit. Ein deutliches Zeichen dieses Wandels ist die zunehmende Rolle der Gedenkstättenpädagogik. Eine wichtige Aufgabe der Pädagogen an Gedenkstätten (und anderswo) ist es, einen Ansatz zu finden, der diese Gräueltaten veranschaulicht und erklärt, wie sie geschehen konnten, ohne sie aber zu relativieren oder kleinzureden. Die zu vermeidenden Extrempositionen im Hinblick auf diese Aufgabe wären also einerseits der moralische Relativismus und andererseits der monolithische Exzeptionalismus. Beide sind problematisch, weil sie jeden pädagogischen Wert zunichtemachen, den eine Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen zeitigen kann. Nach wie vor ist es eine weit verbreitete Meinung, von den Tätern könne man nichts über den Holocaust lernen. So schreibt etwa Saul Friedländer, dass wir uns zwar eigentlich „dieser Epoche und diesen Ereignissen so nähern [sollten], wie wir uns jeder anderen Epoche und anderen Ereignissen nähern, sie aus jedem nur denkbaren Blickwinkel betrachten und alle denkbaren Hypothesen und Querverbindungen eruieren“.4 Genau das sei aber im Fall des Holocaust nicht möglich: „Niemand, der alle seine Sinne beisammen hat, würde die Ereignisse von Hitlers Standpunkt aus interpretieren wollen“.5 Es könne daher sein, so Friedländer weiter, „dass wir es hier mit einem außerordentlichen Ereignis zu tun haben, dessen historische Analyse eine Verschmelzung von moralischen und kognitiven Kategorien erforderlich macht“.6 Die Historikerin Inga Clendinnen kommentierte das wie folgt: diese Schlussfolgerung verortet uns – wie übrigens Friedländers Gesamtargument auch – im Begriffsfeld von Worten wie ‚das Böse‘, die völlig ungeeignet dafür sind, behutsam herauszuarbeiten, warum Menschen tun, was sie tun, und zudem eine Tendenz haben, in genau jene Sackgasse zu führen, in der Friedländer feststeckt. 7

Clendinnen und Zeitlin vertreten die entgegengesetzte Meinung, die diese „Sackgasse“ als nichts anderes als das Ergebnis einer Herangehensweise betrachtet, die den Holocaust aus der Geschichte ausklammern möchte, und die dadurch jegli4 | Saul Friedländer: „Die ‚Endlösung‘. Über das Unbehagen in der Geschichtsdeutung“, in: ders.: Nachdenken über den Holocaust. München: Beck 2007, S. 125–139, hier S. 135.

5 | Ebd. 6 | Ebd., S. 136. 7 | Inga Clendinnen: Reading the Holocaust. New York: Cambridge University Press 1999, S. 88.

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che historische Erörterung der Tatsachen und der Täter nicht nur sinnlos, sondern sogar moralisch fragwürdig macht. Statt also die Sackgasse als unvermeidlich zu akzeptieren, bestehen die beiden darauf, dass Täterforschung – bei der es um ein besseres Verständnis des Hintergrunds, der Motive und der Weltanschauung der Täter geht – durchaus lohnenswert ist. Die Überzeugung, dass Verstehen nicht mit Identifikation einhergehen muss und auch nicht mit dem Rechtfertigen oder Entschuldigen jener Taten, ist für diesen Ansatz zentral. Um ihrem pädagogischen Auftrag gerecht zu werden, müssen Gedenkstätten sich sowohl mit den Tätern als auch mit den Opfern der Schreckenstaten, an die dort erinnert wird, bewusst und kritisch auseinandersetzen. Das gilt es in diesem Kapitel zu zeigen. Das wohl größte Problem der exzeptionalistischen Sichtweise ist, dass sie jede historische Kontextualisierung und jeden Versuch, die Kontinuitäten genauer zu verstehen, in die der Holocaust eingebettet ist, unmöglich macht: Aus dieser Perspektive wird der Holocaust nur von der nackten und unfassbaren Realität der sechs Millionen ermordeten Juden aus betrachtet, anstatt dass die Hintergründe und Voraussetzungen dieser Katastrophe, wie zum Beispiel die internationale Eugenikbewegung, erforscht werden. Das wiederum trägt zu der anhaltenden Marginalisierung von Verbrechen wie zum Beispiel des NS-„Euthanasie“-Programms bei, die als vom Holocaust getrennt wahrgenommen werden. Im ersten Teil dieses Buches ging es mir darum zu zeigen, dass es aus der Sicht der Täter keinen qualitativen Unterschied zwischen dem „Euthanasie“-Programm und der „Endlösung“ gab; sie sind Teil eines Kontinuums. Dies wird besonders deutlich, wenn man erkennt, dass es dieselben Männer waren, die 1940 den Massenmord an psychisch kranken und behinderten Menschen in Grafeneck und die 1943 Deportation und Ermordung von Juden und Partisanen in Triest organisierten, überwachten und durchführten.8 Die Geschichte von Grafeneck ist also mit der der Risiera di San Sabba durch die an beiden Orten tätigen Männer verbunden; in keiner der beiden Dokumentarausstellungen wird das jedoch explizit erwähnt. Im Folgenden gehe ich genauer auf den Hintergrund dieser Männer ein, auf ihre Karrieren, ihre Taten und ihre Rollen im Gesamtsystem der Verfolgung und des Massenmords, um so strukturelle, organisatorische und ideologische Zusammenhänge zwischen den beiden Orten herauszuarbeiten.9 8 | Persönlich habe ich es als besonders unheimlich empfunden, gleich zu Beginn meiner Recherchearbeit an beiden Orten auf dieselben Täter zu stoßen. Grafeneck und die Risiera scheint auf den ersten Blick nichts zu verbinden; sie scheinen zudem Teil vollkommen unterschiedlicher Diskurse und Kontexte zu sein. Wie sie zusammenhängen wurde erst deutlich, als ich begann, mich mit den Tätern zu beschäftigen. Wenn ich mich lediglich auf die Opfer konzentriert hätte, wie es in der Forschung üblich ist, wäre es viel schwieriger gewesen, zu der Einsicht zu kommen, dass beide Orte Teil einer größeren Entwicklung sind, in deren Zentrum der Holocaust steht.

9 | Bis vor Kurzem hatte sich mit der beruf lichen Lauf bahn dieser Täter, die sie von Deutschland über Polen nach Italien führte, nur ein Historiker befasst, und zwar Henry Friedlander:

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Außerdem gebe ich einen kurzen Überblick über verschiedene historiographische Ansätze, mit deren Hilfe ich den Umgang mit den Tätern in Grafeneck und besonders in der Risiera genauer untersuche: Was leisten diese Ansätze, was lassen sie außen vor, welche blinden Flecke haben sie? Inwieweit sind sie ein Spiegel der Nachkriegsgesellschaft? Neben der Frage, wie Täter in den Ausstellungen der Gedenkorte dargestellt und kontextualisiert werden, interessiert mich auch, inwiefern diese Ausstellungen von verschiedenen Phasen des Umgangs mit Geschichtsschreibung in der Nachkriegszeit geprägt wurden und diese reflektieren. Die Ausstellung in der Risiera wurde erstmals im April 1982 eröffnet, eine überarbeitete Version ist seit April 1998 zu sehen, während die Dokumentationsausstellung in Grafeneck in ihrer aktuellen, bisher ausführlichsten Form seit Oktober 2005 gezeigt wird. Zum Schluss versuche ich zu zeigen, wie wir aus dem Umgang mit den Tätern an den jeweiligen Gedenkstätten allgemeinere Schlussfolgerungen darüber ziehen können, welchen Beitrag eine kritische Auseinandersetzung mit den Tätern insgesamt zur historischen und politischen Bildung leisten kann.10 „The T4 Killers. Berlin, Lublin, San Sabba“, in: Helge Grabitz/Klaus Bästlein/Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Berlin: Hentrich 1994, S. 220–240. Seit 2013 gibt es eine umfassende Studie von Sara Berger: Experten der Vernichtung: Das T4-Reinhardt Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg: Hamburger Edition 2013. Wie aus dem Titel hervorgeht, liegt der Schwerpunkt der Studie auf der Verbindung zwischen der „Aktion T4“ und der „Aktion Reinhard“. Die weitere Lauf bahn dieser Täter im „Adriatischen Küstenland“ wird jedoch leider nur sehr knapp abgehandelt: nur 13 der 400 Seiten befassen sich mit Triest.

10 | Die Frage der Darstellung der Täter an Erinnerungsorten ist nicht nur im Bereich der Gedenkstättenpädagogik, sondern in letzter Zeit auch in der Geschichtsschreibung und in den Memory Studies zum Forschungsgegenstand geworden. Zu den Arbeiten, die sich im Zusammenhang mit einigen ausgewählten Gedenkstätten mit diesem Thema beschäftigen, gehören der Sammelband von Oliver von Wrochem/Christine Eckel: Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Berlin: Metropol 2016; sowie Caroline Pearce: „Visualizing ‚Everyday‘ Evil. The Representation of Nazi Perpetrators in German Memorial Sites“, in: Jenny Adams/Sue Vice (Hrsg.): Representing Perpetrators in Holocaust Literature and Film. Edgware: Valentine Mitchell 2013, S. 207–230. Aus dem Bereich der Gedenkstättenpädagogik vgl. zum Beispiel Matthias Heyl: „Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21. Jahrhundert“, in: Till Hilmar (Hrsg.): Ort, Subjekt, Verbrechen. Wien: Czernin 2010, S. 23–53; Thomas Lutz: Zwischen Vermittlungsanspruch und emotionaler Wahrnehmung. Die Gestaltung neuer Dauerausstellungen in Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland und deren Bildungsanspruch. Dissertation TU Berlin, 2009; Jana Jelitzki/Mirko Wetzel: Über Täterinnen und Täter sprechen. Die Darstellung nationalsozialistischer Täterschaft in der pädagogischen Arbeit von KZ-Gedenkstätten. Berlin: Metropol 2009; Lukas Meissel: „Verbrechen ohne Verbreche-

Kapitel 4

V on G r afeneck

nach

Triest

Wie wurde Christian Wirth zu einem Mann, dessen Foto an zwei Erinnerungsorten ausgestellt wird? In den Dokumentarausstellungen finden sich kaum Informationen über seinen biographischen Hintergrund. Auch in der Forschungsliteratur ist nicht viel zu seinem Leben, seinem Charakter oder seiner Lauf bahn zu finden. Obwohl er im Hinblick auf den Holocaust eine zentrale Rolle spielte, ist wenig über Wirth bekannt. Um zu zeigen, was die beiden Fotos und die Erinnerungsorte, an denen sie ausgestellt sind, miteinander verbindet, zeichne ich exemplarisch Christian Wirths Weg von Süddeutschland nach Nordostitalien nach. Dieser Weg von Grafeneck nach Triest basiert auf Hintergrundinformationen aus historischen Untersuchungen, Prozessunterlagen und veröffentlichten Interviews. Christian Wirth wurde am 24. November 1885 in Oberbalzheim bei Ulm geboren, einem kleinen evangelischen Dorf in Schwaben.11 Nach der Volksschule erlernte er das Sägehandwerk. Zwischen 1905 und 1910 war er Grenadier in der württembergischen Armee, und schloss sich schließlich 1910 der Polizei an. Er zog nach Stuttgart, heiratete und begann, beim Stadtpolizeiamt Karriere zu machen. 1913 hatte er es bei der Kriminalpolizei bereits zum Fahnder gebracht. Auch im Militär hatte er eine erfolgreiche Lauf bahn: Im Ersten Weltkrieg wurde er für Tapferkeit an der Westfront ausgezeichnet, organisierte erfolgreich Materialtransporte und wurde zudem für seine Kenntnisse im Holz- und Baugewerbe geschätzt, was sich beim Bau von Schützengräben als sehr nützlich erwies. Auch für sein Vorgehen gegen Korruption als Mitglied der Militärpolizei erntete er Lob. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte er zur Kriminalpolizei Stuttgart zurück. Viele ließ der Krieg entwurzelt und arbeitslos zurück, Wirth aber hatte eine feste AnrInnen? Thematisierung von NS-TäterInnen in der historisch-politischen Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus“, in: Till Hilmar (Hrsg.): Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 236–251; Herbert Diercks (Hrsg.): Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus. Bremen: Temmen 2002; sowie Thomasz Kranz: „NS-Täter als Thema der Dauerausstellungen am Ort ehemaliger Vernichtungslager. Das Beispiel der Gedenkstätten Majdanek und Belzec“, in: Gedenkstättenrundbrief 141 (2008), S. 31–35.

11 | Vgl. außerdem zum Leben von Christian Wirth: Volker Rieß: „Christian Wirth. Der Inspekteur der Vernichtungslager“, in: Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 239–251. Zu Wirths Rolle bei der „Aktion T4“ vgl. Friedlander: The Origins of Nazi Genocide; Dick de Mildt: In the Name of the People: Perpetrators of Genocide in the Ref lection of their Post-War Prosecution in West-Germany. The „Euthanasia“ and „Aktion Reinhard“ Trial Cases. Den Haag: Nijhoff 1996; Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat; sowie Franka Rößner/Thomas Stöckle: „Christian Wirth und Jakob Wöger. Polizeibeamte und ihr Einsatz beim Massenmord in Grafeneck“, in: Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Stuttgarter NS-Täter: Vom Mitläufer bis zum Massenmörder. Stuttgart: Schmetterling 2009, S. 82–89.

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stellung und seine Karriere nahm einen Aufschwung. Ungefähr in dieser Zeit begann er, sich dem rechtsextremen politischen Spektrum zuzuwenden. Er wurde schon 1922 Mitglied der NSDAP, 1933 trat er in die SA ein. Wirth war maßgeblich an der Gleichschaltung der württembergischen Polizei und ihrer Umwandlung in eine nationalsozialistische Organisation beteiligt. Zudem hatte er neben seinem hohen polizeilichen Rang auch eine führende Position bei der Stuttgarter SS inne. 1939 wurde er zum SS-Obersturmführer befördert und zugleich zum Kriminalkommissar, obwohl er nie eine systematische Polizeiausbildung absolviert hatte. In der nun gleichgeschalteten Stuttgarter Polizei waren formelle Anforderungen anscheinend weniger wichtig als Effizienz, Loyalität und – vor allem – Beziehungen: Eine Evaluation aus dem Jahr 1938 beschreibt ihn als „charakterlich unbedingt einwandfrei“, als „geistig sehr gewandt und beweglich, sehr energisch, sehr ausdauernd“, in besonders schwierigen Fällen man zog ihn sogar außerhalb des Geschäftsbereichs seines Kommissariats hinzu.12 Als das württembergische Innenministerium begann, Grafeneck in eine „Euthanasie“-Tötungsanstalt umzubauen, wurde Wirth mit der Organisation und der Leitung betraut. In Grafeneck stand er sowohl dem Verwaltungs- wie auch dem Tötungsbereich vor; er war für die effiziente Durchführung der Vergasungen verantwortlich und überwachte die Herausgabe der gefälschten Todesurkunden. Historische Quellen geben keinen Aufschluss über seine Entscheidungsfindungen oder darüber, ob sein Wechsel vom Kampf gegen Korruption und Kriminalität in Stuttgart zur Führung eines Vernichtungskomplexes so nahtlos vonstattenging wie die zeitliche Abfolge es suggeriert, aber die Tatsache, dass er nie versuchte, diese Aufgabe abzugeben, und dass er sie stattdessen mit großer Sorgfalt und Effizienz erfüllte, lässt vermuten, dass er nicht nur Befehlen Gehorsam leistete, sondern sich der Sache selbst verpflichtet fühlte. Während seiner Zeit in Grafeneck traf Wirth einige der Männer (alle ebenfalls Mitglieder der SS), mit denen er in den kommenden Jahren eng zusammenarbeiten würde und die ihm nicht nur in die Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ folgen sollten, sondern auch zu seinem letzten Einsatz in Triest. Insgesamt waren das ungefähr 15 Männer, hinzu kamen mehr als 40 aus anderen Tötungsanstalten der „Aktion T4“.13 Wenn man bedenkt, dass die meisten von ihnen ungelernte Arbeiter und einfache Handwerker waren, ist ihr rasanter beruflicher Aufstieg er-

12 | Vgl. Rieß: Christian Wirth, S. 242. 13 | Eine (unvollständige) Liste der Mitglieder des „Einsatz R“ (R steht für Reinhard; „Einsatz R“ war eine Abteilung des SS- und Polizeiapparates, die nach Beendigung der „Aktion Reinhard“ nach Triest versetzt wurde und Odilo Globocnik unterstand) findet sich in Elio Apih (Hrsg.): Risiera di San Sabba. Guida alla mostra storica. Trieste: Comune di Trieste 2000, S. 125. Vgl. außerdem Friedlander: The Origins of Nazi Genocide; sowie de Mildt: In the Name of the People. Berger spricht sogar von ca. 78 Männern des „T4“-Reinhard-Komplexes, die von Polen nach Triest versetzt wurden (vgl. Berger. Experten der Vernichtung, S. 279).

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staunlich.14 Josef Oberhauser, genannt Sepp, hatte eine entscheidende Rolle in der Gruppe; von den anderen wurde er „Wirths Schatten“ genannt. Sein Aufstieg verlief rasanter als der aller anderen „Kollegen“ aus Grafeneck: 1915 in München geboren, war er einer der jüngsten Rekruten der SS-Totenkopfstandarte. 1939 nahm er als Angehöriger der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ am Überfall auf Polen teil und wurde in der Folge zum SS-Oberscharführer befördert.15 Anschließend kam Oberhauser nach Grafeneck, wo er als „Leichenbrenner“ im Krematorium arbeitete; in der Hierarchie des Tötungszentrums die niedrigste Position. Wie wir sehen werden, blieb Oberhausers Karriere eng mit der von Wirth verbunden, denn in Polen wurde Oberhauser Wirths Protegé. Als in Grafeneck alles reibungslos verlief, wurde Wirth zum Inspekteur aller sechs „Euthanasie“-Tötungsanstalten befördert; er war eine Art Krisenmanager. Unter den Mitarbeitern hatte er den Ruf, das Tötungsprogramm und die Regeln besonders erbarmungslos umzusetzen. Während er beruflich immer schneller vorankam, wurde das Bild eines Erzschurken, das seine Kollegen von ihm hatten, zunehmend ausgeprägter. Im Jahr 1962 beschrieb ihn Oberhauser zum Beispiel auf die folgende Weise: Seine hervorstechendsten Merkmale waren eiserne Härte, bedingungsloser Gehorsam, Führerglaube, absolute Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit. Diese Wesenszüge kennzeichneten ihn schon bei der Euthanasie, bei der ich ihn kennenlernte; so ganz richtig in seinem Element war er aber, als es an die Judenvernichtung ging. 16

Franz Stangl bestätigte diese Einschätzung 1971 in Interviews mit Gitta Sereny, als er seine im Vorjahr in Düsseldorf verhängte lebenslange Gefängnisstrafe abbüßte. Stangl, ein Lagerkommandant der „Aktion Reinhard“, traf Wirth zum ersten Mal in der „Euthanasie“-Tötungsanstalt Hartheim in seinem Heimatland 14 | Um ein paar von ihnen namentlich zu nennen: Kurt Franz war Koch in Grafeneck, Hartheim, Sonnenstein und Brandenburg sowie bei der NS-Organisation Kraft durch Freude, später Wachmann in Belzec, dann stellvertretender Kommandeur von Treblinka unter Franz Stangl; Willi Mentz war zuständig für Nutzvieh und Gartenarbeit in Grafeneck und Hadamar, in Treblinka wurde er mit Massenhinrichtungen beauftragt; August Miete war in Grafeneck mit der Landwirtschaft beauftragt, später auch „Brenner“ (d.h. für die Verbrennung der Leichen zuständig) in Grafeneck und Hadamar, in Treblinka überwachte er die Erschießung von alten und kranken Gefangenen im sogenannten „Lazarett“; Karl Frenzel war „Brenner“ in Grafeneck, Bernburg und Hadamar, in Sobibor wurde er Leiter des Lagers 1; Werner Dubois war Busfahrer und „Brenner“ in Grafeneck, Brandenburg, Hadamar und Bernburg, in Belzec und Sobibor hatte er Aufsicht über jüdische Arbeitsgruppen. Sie alle waren von 1943 bis Kriegsende in Triest. Vgl. de Mildt: In the Name of the People, S. 258–262; sowie Friedlander: The Origins of Nazi Genocide, S. 238–242.

15 | Vgl. de Mildt: In the Name of the People, S. 213. 16 | Zit. n. Rieß: Christian Wirth, S. 247.

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Österreich, wo er als Verwaltungsleiter angestellt war, bevor er Wirth nach Polen und schließlich nach Triest begleitete. Stangl kommentierte: Wirth war ein ordinär aussehender Mensch mit einem rot unterlaufenen Gesicht[.] Mein Mut sank, als ich ihn zum ersten Mal sah. Er blieb damals mehrere Tage, und er kam auch später oft. Wann immer er da war, hielt er beim Mittagessen eine Rede. Und da war es wieder: diese ekelhafte, ordinäre Ausdrucksweise. Wenn er über die Notwendigkeit der Euthanasie sprach, dann war das nie im menschlichen Sinn, wie Dr. Werner es getan hatte. Er lachte und sagte: ‚Weg mit den unnützen Fressern‘, und daß ‚Gefühlsduselei wegen solcher Leute‘ ihn ‚zum Kotzen‘ bringe. 17

Bei diesen Beschreibungen gilt es zu bedenken, dass sie nach dem Krieg vor Gericht oder in Interviews gemachten Aussagen entnommen sind, und dass Wirths ehemalige Mittäter daher offenbar darum bemüht waren, sich selbst als gewöhnliche Menschen zu verkaufen, indem sie den schon lange toten Wirth so finster wie möglich darstellten. Stangl scheint in diesem Sinne einen Versuch zu machen, sich klar von deutschen „Rohlingen“ wie Wirth zu distanzieren, indem er betont, wie anders und viel „zivilisierter“ es in Österreich zugegangen sei, bevor die „Piefkes“ ankamen und „es nur noch eine Art Kasernenhofton“18 gegeben habe. Aber letztlich sprechen Wirths Taten für sich. Bis August 1941 waren im Rahmen des „Euthanasie“-Programms 70.000 psychisch kranke und behinderte Menschen ermordet worden, womit die zentralisierte Phase des Programms zu Ende ging. Wirth wurde im Anschluss nach Lublin versetzt, wo er SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik (einem in Triest geborenen österreichischen SS-Offizier, der als Gauleiter in Wien zunächst für die Verfolgung der Juden verantwortlich war, bevor er SS- und Polizeiführer in Lublin wurde) unterstellt war, und den er beim Auf bau und der Verwaltung der Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ in Polen unterstützte. Im Dezember 1941 schloss Oberhauser sich ihm in Belzec an. Wirth scheint große Stücke auf ihn gehalten zu haben und gut mit ihm ausgekommen zu sein, da er ihn als Verbindungsmann zu Globocnik verwendete. Das war eine wichtige Position und bedeutete für Oberhausers Karriere einen signifikanten Schritt. In den folgenden Jahren rekrutierte Wirth viele jener Männer, die in den „Euthanasie“-Tötungsanstalten tätig gewesen waren, für die Vernichtungslager Treblinka, Belzec und Sobibor, dazu Maurermeister Erwin Lambert, der den Einbau der Gaskammern und Krematorien in den meisten der „T4“-Tötungsanstalten geleitet hatte, und der in Treblinka, Sobibor und später

17 | Gitta Sereny: Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka. München: Piper 1995, S. 59.

18 | Ebd., S. 41.

Kapitel 4

Triest dasselbe tat.19 Wirth sorgte nach seiner Ernennung zum Inspekteur aller drei Lager der „Aktion Reinhard“ dafür, dass auch Oberhauser befördert wurde, zum SS-Untersturmführer.20 Im Herbst 1943 endete die „Aktion Reinhard“; zu diesem Zeitpunkt waren bereits ungefähr zwei Millionen Juden ermordet worden. Nach dem Ende der „Aktion Reinhard“ schickte die Kanzlei des Führers Wirth und seine Männer nach Triest in die neu annektierte „Operationszone Adriatisches Küstenland“, wo sie ein weiteres Mal Globocnik unterstellt waren, dem Polizeiführer des Küstenlands und von Dalmatien. Sie wurden von einer großen Gruppe ukrainischer Männer begleitet, die in den Lagern der „Aktion Reinhard“ Häftlinge bewacht und ermordet hatten. Diese „Sonderabteilung Einsatz R“ (für Reinhard) war in drei Divisionen unterteilt, die in Triest, Rijeka und Udine stationiert waren. Ihr Auftrag war die Bekämpfung italienischer und jugoslawischer Partisanen, die Inhaftierung und Deportation der jüdischen Bevölkerung sowie die Konfiszierung all ihrer Habe, die Einrichtung eines Lagers und eines Tötungszentrums in Triest und der Auf bau einer befestigten Verteidigungslinie gegen die Alliierten. In dem Mordauftrag fielen drei Aspekte des „Euthanasie“-Programms und der „Aktion Reinhard“ zusammen: Erstens wurde kein neues Vernichtungslager errichtet, sondern stattdessen das Gelände einer ehemaligen Reisschälfabrik im Triester Viertel San Sabba verwendet – die Risiera di San Sabba. Die Reismühle erwies sich als perfekt geeignet, da die benötigte Infrastruktur bereits vollständig vorhanden war. Unter der Leitung von Erwin Lambert wurden dort Gefängniszellen und ein Krematorium eingebaut und dann im Verlauf von eineinhalb Jahren zwischen 3.000 und 5.000 Menschen getötet und eingeäschert. Zudem wurden ungefähr 20.000 Juden und Partisanen aus der Region und dem besetzen Jugoslawien von der Risiera mit Zügen in Vernichtungslager deportiert.21 Zweitens befanden sich unter den Ermordeten und Deportierten jüdische Patienten aus Pflegeheimen sowie aus allen Krankenhäusern und psychiatrischen

19 | Vgl. Friedlander: The Origins of Nazi Genocide, S. 214–215; de Mildt: In the Name of the People, S. 292.

20 | Vgl. de Mildt: In the Name of the People, S. 277. 21 | Wie viele Menschen genau in der Risiera getötet oder von dort deportiert wurden, lässt sich sehr schwer feststellen. Man fand ungefähr 20.000 Ausweise in den Trümmern der Anlage, was für eine sehr hohe Zahl von Deportationen spricht. Vgl. hierzu außerdem Ferruccio Fölkel/Frediano Sessi: La Risiera di San Sabba. Milano: BUR 2001, S. 44–46; Albin Bubnič/Galliano Fogar/Giovanni Postogna/Ferdinando Zidar: Dallo squadrismo fascista alle stragi della Risiera (con il resoconto del processo). Trieste: ANED 1978; sowie Galliano Fogar: „L’occupazione nazista del Litorale Adriatico e lo sterminio della Risiera“, in: Adolfo Scalpelli (Hrsg.): San Sabba. Istruttoria e processo per il Lager della Risiera. Bd. 1. Milano: ANED 1988, S. 3–138, hier S. 82–85. Ich komme im fünften Kapitel auf diese Frage zurück.

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Einrichtungen in Triest, Rijeka, Görz und Venedig.22 Das heißt, dass sich die Todesopfer der Risiera aus drei der am stärksten von der NS-Verfolgung betroffenen Gruppen zusammensetzten. Und die dritte Gemeinsamkeit: Weil die Risiera im Industriegebiet von Triest und damit in Hörweite der lokalen Bevölkerung lag, wurde zumindest halbherzig zu verbergen versucht, was dort geschah. Dabei wurden zwei Vorgehensweisen kombiniert, von denen eine bereits im Rahmen des „Euthanasie“-Programms und die andere bei der „Aktion Reinhard“ verwendet worden war. Zum einen wurden die Häftlinge in Lastwagen, Autos oder eben jenen grauen Bussen mit blickdicht bemalten Fenstern, in denen zuvor Patienten aus psychiatrischen Einrichtungen zu den „T4“-Tötungsanstalten transportiert worden waren, in die Risiera gebracht.23 Zweitens fanden die Tötungen nachts statt. Zur Tarnung individueller Hinrichtungen wurde laute Musik, Hundegebell und leerlaufende Motoren eingesetzt, um Pistolenschüsse, Schläge und die Schreie der Opfer zu übertönen. Zur Ermordung ganzer Gruppen verwendeten die Täter in einer Garage versteckte Lieferwagen, in denen Dutzende Opfer auf einmal an den Abgasen erstickten, die ins Wageninnere geleitet wurden.24 Dann verbrannte man die Leichen, lud die Asche und die Knochen auf Boote und versenkte sie in der Adria.25

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Während die Deportation der jüdischen Bevölkerung der Region 1944 nach Plan verlief, eskalierte der Kampf gegen die Partisanen zunehmend: Täglich kam es zu neuen Angriffen. In einem Interview sagte Franz Stangl, der Wirth und seine Männer seit ihrer gemeinsamen Arbeit im österreichischen Hartheim begleitet hatte, er und die anderen SS-Offiziere hätten den Verdacht gehabt, dass ihre Vorgesetzten sie loswerden wollten, weil sie Dinge gesehen und getan hätten, die nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen dürften: „Wie die meisten von uns, erkannte ich sehr wohl, daß man uns als lästiges Übel betrachtete. Sie versuchten, Mittel und Wege zu finden, uns zu ‚verbrennen‘, also gaben sie uns die gefährlichsten Aufgaben. Alles, was in diesem Teil der Welt mit Partisanenbekämpfung zu tun hatte, war äußerst riskant“.26 Im Fall von Christian Wirth ging dieser Plan auf. 22 | Vgl. Liliana Picciotto Fargion: Il libro della memoria. Gli Ebrei deportati dall’Italia. 1943– 1945. Mailand: Mursia 1991, S. 55–56; Angelo Lallo/Lorenzo Toresini: Psichiatria e nazismo. La deportazione ebraica dagli ospedali psichiatrici di Venezia nell’ottobre 1944. Portogruaro: Nuova dimensione 2001; sowie Fölkel/Sessi: La Risiera di San Sabba, S. 118–119.

23 | Vgl. Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 57; Fölkel/Sessi: La Risiera di San Sabba, S. 54. 24 | Vgl. Fogar: L’occupazione nazista del Litorale Adriatico e lo sterminio della Risiera, S. 70; Fölkel/Sessi: La Risiera di San Sabba, S. 37.

25 | Vgl. ebd., S. 46–48. 26 | Sereny: Am Abgrund, S. 309.

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Am 26. März 1944 wurde er während einer Autofahrt von jugoslawischen Partisanen aus dem Hinterhalt überfallen und kam bei diesem Angriff zu Tode.27 Nach seinem Tod wurde Oberhauser zum Kommandanten der Risiera befördert. Dietrich Allers wurde Befehlshaber der „Sonderabteilung Einsatz R“.28 Anders als Wirth überlebten seine Mitarbeiter den Krieg. Einige von ihnen waren eine Zeit lang Gefangene der alliierten Streitkräfte, wurden aber nicht als Kriegsverbrecher verfolgt, manche tauchten unter, andere, wie Erwin Lambert, machten sich nicht einmal die Mühe, ihren Namen oder ihren Beruf zu wechseln und führten im Anschluss ihr bisheriges bürgerliches Leben weiter. Mit gründlichen Ermittlungen zur „Aktion Reinhard“ wurde erst 1959 begonnen, als unter der Leitung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen erste Nachforschungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen angestellt wurden. Obwohl im Zuge dessen an die 120 Männer identifiziert wurden, die in den Lagern der „Aktion Reinhard“ gearbeitet hatten, wurden letztlich nur 26 vor Gericht gestellt.29 Der „Ofenbauer“ Lambert, der sich mit seiner Frau (die in Hartheim als Pflegerin gearbeitet hatte) in Stuttgart niedergelassen und dort erfolgreich ein Fliesengeschäft aufgebaut hatte,30 wurde zweimal vor Gericht gestellt, aber insgesamt nur zu sieben Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Das Gericht konnte ihm keine Beteiligung am Design der Gaskammern als solcher nachweisen, sondern nur, dass er sie „gebaut“ habe.31 Weil es bei diesen Gerichtsverfahren ausschließlich um Verbrechen ging, die in den Lagern in Polen verübt worden waren, wurden die meisten Angeklagten letztlich nie für ihre Beteiligung am „Euthanasie“-Programm belangt. Die Verbrechen der NS-„Euthanasie“ wurden schon seit den Nürnberger Prozessen in getrennten Gerichtsverfahren geahndet. Von den später in „Euthanasie“-Prozessen in Ost- und Westdeutschland strafrechtlich verfolgten Angeklagten hatten die meisten eine medizinische Tätigkeit ausgeübt, sie hatten als Ärzte oder Pfleger gearbeitet), und im Großen und Ganzen kam es zu sehr milden Urteilen (drei bis sieben Jahre Haftstrafe) oder sogar zum Freispruch. Die anderen, von denen die Durchführung der Tötungen direkt überwacht worden war, darunter Wirth und seine Männer, wurden meist nicht angeklagt. Eine Ausnahme ist Josef Oberhauser, der 1947/48 im Magdeburger „Euthanasie“-Prozess angeklagt und zu fünfzehn Jahren Zuchthausstrafe verurteilt wurde. 1956 wurde er im Zuge einer Amnestie entlassen, kehrte nach München zurück und arbeitete dort weiter als 27 | Die genauen Umstände von Wirths Tod wurden nie vollständig geklärt. Manche Quellen legen nahe, dass Wirth vielleicht von einem seiner eigenen Männer erschossen wurde, vielleicht sogar auf Befehl aus Berlin, aber das ist reine Spekulation. Vgl. auch Fölkel/Sessi: La Risiera di San Sabba, S. 114–115.

28 | Vgl. Fogar: L’occupazione nazista del Litorale Adriatico e lo sterminio della Risiera, S. 23. 29 | Vgl. de Mildt: In the Name of the People, Kap. 3. 30 | Vgl. Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 16. 31 | Vgl. de Mildt: In the Name of the People, S. 267.

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Kellner, bis er 1964/65 in München erneut vor Gericht gestellt wurde, dieses Mal für seine Beteiligung an der „Aktion Reinhard“. In diesem Prozess war Oberhauser der einzige Angeklagte und wurde für Beihilfe zum Massenmord zu nur viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht hielt eine Strafminderung für „fair“, weil Oberhauser nach seiner Verurteilung in Magdeburg eine Haftstrafe verbüßt habe. Obwohl also zwischen den Verbrechen kein direkter Zusammenhang gesehen wurde, galt dies anscheinend nicht für die Strafen. Nachdem Oberhauser seine Strafe abgebüßt hatte, arbeitete er weiter als Kellner in München, bis er vor einem Triester Gericht 1976 für seine Beteiligung an den Morden in der Risiera di San Sabba angeklagt wurde. Der Sobibor-Prozess im Jahr 1966 vor dem Landgericht Hagen hatte in Triest den Ausschlag gegeben, eigene Ermittlungen durchzuführen. Das Gericht in Hagen hatte Zugang zu Dokumenten und Berichten von Überlebenden beantragt, die im Istituto regionale per la storia del movimento di liberazione nel Friuli e Venezia Giulia (IRSML) und bei der Associazione nazionale ex deportati politici (ANED) lagen, was die beiden Organisationen veranlasste, sich für ein Gerichtsverfahren vor Ort in Triest stark zu machen. Aus Deutschland wurden Anwälte nach Triest geschickt, um dort Dokumente einzusehen und Zeugen zu befragen; einige dieser Zeugen kamen selbst nach Deutschland, um vor Gericht auszusagen.32 Im Gegenzug wurden von deutscher Seite Zeugenaussagen und andere Dokumente für den Prozess in Triest zur Verfügung gestellt. Doch von den sechs Angeklagten nahm keiner den Gerichtstermin wahr. Nur Oberhauser war überhaupt noch am Leben: Christian Wirth war 1944 bei einem Partisanenangriff zu Tode gekommen, Gottlieb Hering starb 1945, Franz Stangl dann 1971 im Gefängnis und Dietrich Allers schließlich im Vorjahr des Triester Prozesses.33 Oberhauser machte sich nicht die Mühe, eine Verteidigung vorzubereiten, und weigerte sich, nach Triest zu kommen. Darum musste das Triester Gericht auf Zeugenaussagen zurückgreifen, die Oberhauser und die anderen Angeklagten im Rahmen des deutschen Gerichtsverfahrens gemacht hatten, also sozusagen auf Material aus zweiter Hand. Oberhauser gab in Deutschland eine Versicherung an Eides statt ab, laut der er damals nichts von den Krematorien in der Risiera gewusst habe, die zur Verbrennung der Leichen von Partisanen und Juden verwendet wurden.34 Obwohl das Triester Gericht Oberhauser in Abwesenheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte, schenkte er bis zu seinem Tod 1979 weiter in München Bier aus. Dreimal war er für seine Rolle bei drei 32 | Vgl. Fölkel/Sessi: La Risiera di San Sabba, S. 185–187; Albin Bubnič/Galliano Fogar/Giovanni Postogna/Ferdinando Zidar: Dallo squadrismo fascista alle stragi della Risiera (con il resoconto del processo). Trieste: ANED 1978, S. 149.

33 | Vgl. Adolfo Scalpelli/Enzo Collotti/Galliano Fogar/Giorgio Marinucci/Gianfranco Maris/ Vojmir Tavcar: San Sabba. Istruttoria e processo per il Lager della Risiera. Bd. 2. Milano: ANED 1988, S. 140.

34 | Vgl. Ferdinando Zidar: „Il processo della Risiera“, in: Bubnič/Fogar/Postogna/Zidar: Dallo squadrismo fascista alle stragi della Risiera, S. 157–180, hier S. 166–173.

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miteinander zusammenhängenden, aber nicht identischen NS-Verbrechen strafrechtlich verfolgt worden – bei der „Aktion T4“ (dem „Euthanasie“-Programm), bei der „Aktion Reinhard“ in Polen und schließlich beim „Einsatz R“ in Italien –, was ihn zum einzigen Täter der „Aktion T4“ macht, der für seine Beteiligung an allen Massenmorden des T4-Reinhard Netzwerks strafrechtlich verfolgt wurde.35 An den Lebenswegen von Wirth und Oberhauser zeigt sich nicht nur, wie diese drei Verfolgungskomplexe miteinander zusammenhingen – sowohl im Hinblick auf die Opfer als auch auf die Täter. Es wird außerdem deutlich, dass die Täter trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und dem unterschiedlichen Alter eine wichtige Gemeinsamkeit hatten: Sie waren Opportunisten. Im Rahmen des „Euthanasie“-Programms konnten sie ihre Effizienz, ihren Einfallsreichtum und ihre Zuverlässigkeit unter Beweis stellen, in den Tötungszentren von Osteuropa und Triest ermöglichte ihnen dies einen geradezu kometenhaften Aufstieg. Besonders mit der „Aktion Reinhard“ erreichten sie eine Position, die ihnen fast unbegrenzte Freiheit gab, ohne jede Aufsicht vorzugehen und mit absoluter Willkür über Leben und Tod zu entscheiden.36 Es fiel Wirth, Oberhauser und den anderen Tätern allem Anschein nach nicht schwer, vom angeblichen „Gnadentod“ zur „Endlösung“ überzuwechseln. Wie die Prozesse gegen Oberhauser in der Nachkriegszeit jedoch zeigen, wird dieser nahtlose Übergang in den Karrieren der Täter bei der strafrechtlichen Verfolgung in keiner Weise berücksichtigt. Dass nach dem Krieg die einzelnen Verbrechensschauplätze und die jeweiligen Opfergruppen in jeweils getrennten Gerichtsverfahren behandelt wurden, hat dazu beigetragen, dass die Verbindungen und Kontinuitäten zwischen diesen Verbrechenskomplexen in der wissenschaftlichen sowie in der öffentlichen Vorstellung übersehen wurden und zum Teil noch immer übersehen werden. Obwohl also in jedem dieser Prozesse bewiesen wurde, dass die Angeklagten zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort waren, blieb der größere Zusammenhang, der Transfer von Experten und Expertise, der diese Verbrechen ermöglichte, offenbar unbeleuchtet.

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Theodor W. Adorno schrieb in seinem Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ So grundlegend und so offensichtlich sei diese Forderung, dass ihm unbegreiflich sei, „daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat.“ Die Weigerung anzuerkennen, wie absolut zentral es ist, zu verhindern, dass es je wieder zum Holocaust komme, sei selbst, so Adorno weiter, „Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung [...] fortbesteht“. Vom „drohenden Rückfall in die 35 | Vgl. de Mildt: In the Name of the People, S. 256, 277–279. 36 | Vgl. Friedlander: The Origins of Nazi Genocide, S. 245.

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Barbarei“ zu sprechen halte er aber für sinnlos, weil dieser Rückfall mit Auschwitz bereits geschehen sei, und er fügt hinzu: „Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigen, wesentlich fortdauern“.37 Adorno weist dann auf eine Erkenntnis Sigmund Freuds hin, wie er sie unter anderem in Das Unbehagen in der Kultur formuliert, und zwar, dass Zivilisation und Barbarei zwei Seiten derselben Medaille seien, dass die Zivilisation mit anderen Worten immer bereits ihr Gegenteil enthalte. Diese Beobachtung ist für das Unheimliche in der Geschichte entscheidend. Wenn die Bedingungen der Möglichkeit des Holocausts schon im Gewebe der Zivilisation selbst eingeschrieben sind, folgt daraus, dass der Versuch, ihn als einzigartige und nicht wiederholbare „Aberration“ zu kategorisieren, die Beschaffenheit dieses Verbrechens vollkommen missversteht und außerstande ist, der Forderung Folge zu leisten, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“. Wenn solche Schreckenstaten also ein Ausdruck des Unbewussten der Gesellschaft sind, wie kann man dann eine Wiederholung des Holocausts verhindern? Dies ist die Frage, mit der sich Adorno in seinem Aufsatz beschäftigt: Ich glaube nicht, daß es viel hülfe, an ewige Werte zu appellieren, über die gerade jene, die für solche Untaten anfällig sind, nur die Achseln zucken würden; glaube auch nicht, Auf klärung darüber, welche positiven Qualitäten die verfolgten Minderheiten besitzen, könnte viel nutzen. Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen. Nötig ist, was ich unter diesem Aspekt einmal die Wendung aufs Subjekt genannt habe. Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein solcher Mechanismen erweckt. 38

Als Adorno den Aufsatz 1967 veröffentlichte, befand sich die Bundesrepublik am Anfang eines Generationenwechsels, für den das Jahr 1968 kennzeichnend war, und der eine kritischere und tiefer greifende Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen mit sich brachte. Die noch während oder direkt nach dem Krieg geborene Generation wurde in diesem Jahrzehnt volljährig, und das Bild der Nationalsozialisten als gesichtsloser, autoritärer „Anderer“, angeführt von einer kleinen Elite und ohne Rückhalt in der deutschen Gesamtbevölkerung, wurde von einer holistischeren Vorstellung vom Nationalsozialismus als der Ideologie der Elterngeneration abgelöst. Wie der Historiker Gerhard Paul in seinem Überblick über die Nachkriegsforschung zu NS-Tätern in Deutschland überzeugend darlegt, war die akademische Auseinandersetzung mit den Tätern trotzdem bis in die 1990er Jahre von Vermeidungs- und Verdrängungsstrategien geprägt 37 | Theodor W. Adorno: „Erziehung nach Auschwitz“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 674–690, hier S. 674.

38 | Ebd., S. 675.

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und so trugen Wissenschaftler letztlich dazu bei, zwischen den NS-Verbrechern und der deutschen Gesamtbevölkerung eine gewisse Distanz aufrechtzuerhalten.39 Paul gliedert die Auseinandersetzung mit den Tätern in der Nachkriegszeit in drei Phasen. Die erste Phase von der direkten Nachkriegszeit bis in die frühen 1960er Jahre bezeichnet er als eine der „Distanzgewinnung durch Exterritorialisierung, Kriminalisierung und Diabolisierung“.40 Als Mitglieder der NS-Elite und der SS wurden die Täter sozusagen abgesondert, was zu einer Selbstentlastung großer Teil der deutschen Gesellschaft führte: Die solchermaßen aus der deutschen Gesellschaft hinausinterpretierte SS wurde [...] als Hort des Abnormalen diabolisiert, der nur über pathologische Kategorien zu erschließen war. Die verbleibenden Täter erschienen als Kriminelle, als Dämonen oder Desperados, mit denen die deutsche Gesellschaft nichts zu tun hatte. Ein bipolares Täterprofil entstand, das die Täter der Shoah [...] aus der deutschen Gesellschaft ausgrenzte. 41

Ein nur scheinbar weniger eindimensionaler Ansatz kennzeichnet die zweite Phase von 1960 bis in die 1990er Jahre. Paul spricht hier von „Entpersonalisierung und Abstrahierung“: die Nationalsozialisten seien nun als ehrgeiz- und interesselose Bürokraten oder als Befehlsempfänger, die dem Willen Hitlers blind Gehorsam leisteten, dargestellt worden. In beiden Fällen bleiben die Täter und ihr Handeln gänzlich abstrakt und deswegen erlaubte auch dieser zweite Ansatz es den Deutschen, sich von den Verbrechen zu distanzieren: „Die Shoah wurde zu einem Automatismus ohne Menschen, vor allem ohne Täter, angetrieben von

39 | Vgl. Gerhard Paul: „Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ‚ganz gewöhnlichen‘ Deutschen“, in: ders. (Hrsg.): Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung. Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 2. Göttingen: Wallstein 2002, S. 13–90. Paul konzentriert sich ausschließlich auf Täterforschung in der Bundesrepublik. Die Situation in der DDR war eine ganz andere, aber darauf geht er nicht ein; und obwohl es zahlreiche akademische Erörterungen zum juristischen Vorgehen gegen Nationalsozialisten in der DDR gibt, liegt aktuell meines Wissens kein vergleichbarer Überblick über die historiographische Auseinandersetzung mit Tätern in Ostdeutschland vor. Vgl. auch Pauls neueren Aufsatz zu diesem Thema: „‚Dämonen‘ – ‚Schreibtischtäter‘ – ‚Pfadfinder‘. Die Wandlungen des Bildes von NS-Tätern in Gesellschaft und Wissenschaft am Beispiel von Adolf Eichmann und Rudolf Höß“, in: Oliver von Wrochem/Christine Eckel (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Berlin: Metropol 2016, S. 56–68; sowie Thomas Kühne: „Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung. Bilder von nationalsozialistischen Gewalttätern in Gesellschaft und Forschung seit 1945“, in: Oliver von Wrochem/Christine Eckel (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Berlin: Metropol 2016, S. 32–55.

40 | Ebd., S. 17. 41 | Ebd.

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abstrakten, gesichtslosen Strukturen und Institutionen“.42 Die Vorstellung vom Verbrecher als einem Schreibtischtäter wurde zum Allgemeinplatz.43 In den 1990er Jahren habe dann, so Paul, im NS-Täterdiskurs ein weiterer fundamentaler Wandel stattgefunden. Mit dem Ende des Kalten Kriegs hätten in vielen Ländern Europas ideologische und nationalpolitische Mythen an Überzeugungskraft verloren, wodurch neue Tätergruppen und -typen in den Blick gekommen seien. In den Archiven der ehemaligen Ostblock-Staaten wurden zuvor unbekannte Quellen zugänglich, und eine neue Historikergeneration, die weniger in Selbstentlastungsmechanismen verstrickt war, ließ sterile, abstrahierende und überkommene Debatten hinter sich und wandte sich einzelnen und lokalen Verbrechen und Tätern zu. Arbeiten wie Christopher Brownings Ganz Normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Daniel Goldhagens kontrovers diskutiertes Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust sowie die Wanderausstellung Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskriegs 1941–1944 (1995–1999, in überarbeiteter Form 2001–2004) wurden ausgiebig öffentlich diskutiert, was Impulse zu einem neuen Täterdiskurs gab, der gewöhnliche Deutsche als Menschen und als (oft in Eigeninitiative handelnde) Vollstrecker von Verfolgungen und Vernichtung in den Fokus stellte.44 Paul bezeichnet diese Veränderung als „Konkretisierung, Differenzierung und Perspektivenwechsel“: Die Nationalsozialisten hätten ihre für die Deutschen bequeme, distanzierende Fremdheit verloren und würden nun als unheimlich nah und vertraut wahrgenommen, als aus der Mitte der Gesellschaft oder gar der eigenen Familie kommend. In den späten 1990er Jahren habe 42 | Ebd., S. 20. 43 | Man muss die Zeit von den späten 1960er bis in die späten 1980er Jahre auch vor dem Hintergrund der Funktionalismus-Intentionalismus-Debatte sehen. Mit „Intentionalismus“ ist gemeint, den Holocaust als Folge eines klar definierten, von Adolf Hitler und andere Haupttätern vorgelegten Plans zu sehen, während Vertreter des Funktionalismus-Ansatzes der Ansicht sind, dass der Holocaust Resultat der generellen Arbeitsweise und internen Dynamik des nationalsozialistischen Staats war. Der eine Ansatz legt zu viel Gewicht auf die Handlungen und Absichten Einzelner, während der andere die individuelle aktive Beteiligung in zu geringem Maße berücksichtigt. Ian Kershaw hat in seinem detaillierten Überblick zur Geschichtsschreibung über den Holocaust und den Nationalsozialismus nach dem Krieg den Hintergrund und die Implikationen dieser Debatte für die Deutung des Holocaust dargestellt (vgl. Ian Kershaw: The Nazi Dictatorship: Problems and Perspectives of Interpretation. London: Arnold 2000). Die Begriffe Intentionalismus und Funktionalismus wurden 1981 von dem Historiker Timothy Mason eingeführt (vgl. Timothy Mason: „Intention and Explanation: A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism“, in: Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hrsg.): Der „Führerstaat“. Mythos und Realität: Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 23–42).

44 | Vgl. Paul: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen, S. 37–42.

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es in der Täterforschung eine Entwicklung hin zu einer differenzierteren und heterogeneren Darstellungsweise gegeben. Man habe begonnen, nicht nur das Handeln der Täter, sondern auch die sie prägenden generations- und umfeldbedingten Umstände, ihre berufliche Lauf bahn und ihr Weltbild differenziert zu betrachten. Sogenannte Direkttäter stünden nun im Fokus des Interesses, das „Fußvolk“ der Nationalsozialisten, jene Männer und Frauen, von denen die Morde tatsächlich durchgeführt worden seien, sowie zudem nicht-deutsche Kollaborateure in den besetzen Gebieten.45 Paul betont, dass diese neue Art der Täterforschung sich nicht damit zufrieden gebe, zur Erklärung der Massenmorde einfach entweder auf Ideologie, Rassismus, autoritäre Charakterzüge, einen entfesselten Todestrieb oder Barbarei zu verweisen. In den jüngeren wissenschaftlichen Arbeiten wird der Zusammenhang von Intention, Disposition, gesellschaftlichen Umständen und situationsspezifischen Gewaltdynamiken näher untersucht, und eine traditionelle, entlastende Interpretation, der zufolge die Täter einfach Befehlen von oben folgten (die sogenannte Nürnberger Verteidigung) wird abgelehnt. Diese Forschungsarbeiten stellen stattdessen heraus, dass die Täter als eigenständige Akteure gesehen werden müssen, die in das System der Massenvernichtung ihre jeweils eigenen Ideen und Initiativen einbrachten.46

45 | Ebd., S. 50–60. 46 | Vgl. z.B. Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt a.M.: Fischer 2005; Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004; Klaus-Michael Mallmann: „Vom Fußvolk der ‚Endlösung‘. Ordnungspolizei, Ostkrieg und Judenmord“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26 (1997), S. 355–391; Bogdan Musial: „The Origins of ‚Operation Reinhard‘. The Decision-Making Process for the Mass Murder of the Jews in the Generalgouvernement“, in: Yad Vashem Studies 28 (2000), S. 113–153; sowie Martin Dean: Collaboration in the Holocaust. Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine. 1941–44. Basingstoke: Macmillan 2000. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Täterforschung rasant weiterentwickelt und es gibt nun eine Vielzahl an Studien, die verschiedene Organisationen, Tätergruppen und Individuen aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten. Vgl. u.a. Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust. Berlin: Suhrkamp 2014; Olaf Jensen/Claus-Christian Szejnmann (Hrsg.): Ordinary People as Mass Murderers. Perpetrators in Comparative Perspectives. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014; Kathrin Kompisch: Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus. Köln: Böhlau 2008; Simone Erpel (Hrsg.): Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück. Berlin: Metropol 2007; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Edition 2002.

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Während die Täterforschung in Deutschland ein fest etablierter und wachsender Bereich der Holocaust-Forschung ist, lässt sich in Italien kein ähnlich spezifischer und klar umrissener Katalog an wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema ausmachen. Natürlich muss in diesem Zusammenhang gesagt werden, dass die Situation in den beiden Ländern keineswegs direkt vergleichbar ist, da man sich in Italien mit mindestens zwei klar unterscheidbaren Tätergruppierungen auseinandersetzen muss: zum einen mit den italienischen Faschisten und den Kollaborateuren und zum anderen mit den deutschen Besatzern. Während der zweiten Gruppe, den Besatzern, vor allem seit den späten 1990er Jahren47 viel Aufmerksamkeit zuteilwurde, blieb eine systematische Auseinandersetzung mit der ersten aus unterschiedlichen historischen und politischen Gründen aus. Man war direkt nach dem Krieg mit einer Flut blutiger politischer Säuberungen und strafrechtlicher Verfolgungen gegen die Faschisten vorgegangen und es scheint fast, als ob die Italiener im Anschluss gemeinsam zu der Ansicht gekommen seien, dass es sich beim Faschismus um eine zwar bedauerliche, nun aber abgeschlossene Phase gehandelt habe.48 In den Blick kam daher nur die Spitze des Eisbergs, die verschiedenen Institutionen wurden nie gründlich von Faschisten befreit, und eine gründliche Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen fand nicht statt. Historiker und Politiker zogen es vor, sich stattdessen auf die „guten Italiener“ der Widerstandsbewegung und auf die „bösen Deutschen“ zu konzentrieren. In der Erinnerung der meisten Italiener wird die Zeit des faschistischen Regimes von der brutalen deutschen Besatzung 1943 bis 1945 vollkommen überschattet, was eine Relativierung der italienischen Diktatur als des „geringeren Übels“ zur Folge hatte und letztlich dazu führte, dass die Gewalt in den letzten Jahren der faschistischen Herrschaft ebenfalls dem „absoluten Bösen“ der Nationalsozialisten angelastet wurde. Militärische Razzien und Vergeltungsschläge trugen mehr als alles andere dazu bei, bei den Italienern die Vorstellung von den 47 | Vgl. z.B. Michele Battini/Paolo Pezzino: Guerra ai civili. Occupazione tedesca e politica del massacro. Toscana 1944. Venedig: Marsilio 1997; Enzo Collotti/Tristano Matta: „Rappresaglie, stragi, eccidi“, in: Dizionario della Resistenza. Bd. 1: Storia e geografia della Liberazione. Turin: Einaudi 2000, S. 254–267; Matta (Hrsg.): Un percorso della memoria; Paolo Pezzino: Anatomia di un massacro. Controversia sopra una strage tedesca. Bologna: Il mulino 1997; sowie Alessandro Portelli: L’ordine è già stato eseguito. Roma, le Fosse Ardeatine, la memoria. Roma: Donzelli 1999.

48 | In seiner Untersuchung zur Strafverfolgung von Faschisten in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg fasst Hans Woller das wie folgt zusammen: Italien habe sich „einer Roßkur unterworfen, danach für geheilt erklärt und jede Form einer Nachbehandlung kategorisch abgelehnt“. Hans Woller: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien. 1943 bis 1948. München: Oldenbourg 1996, S. 405.

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Deutschen als den wahren Tätern nachhaltig zu festigen. In der Nachkriegsgeschichtsschreibung und in populärkulturellen Darstellungen lässt sich eine Tendenz beobachten, zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus sehr breit gefasste Vergleiche anzustellen und Italien als Opfer eines „Nazifaschismus“ zu sehen, wodurch die italienische Bevölkerung nicht nur vom Machtdiskurs unter dem Faschismus distanziert wird, sondern auch von der Verantwortung für die Verbrechen des Regimes. Diese Tradition des negativen Vergleichs, des Betonens, dass die Italiener bestimmte Dinge nicht getan haben, hatte, wie Ruth Ben-Ghiat und andere gezeigt haben, ein Kleinreden der Gewalttaten, Verfolgungen und Massenmorde der Faschisten zur Folge, und ein Vergessen oder Verdrängen der italienischen Täter.49 Das Bild der Deutschen als grausam und herzlos hat zudem eine Geschichte, die noch viel weiter zurückreicht. Enzo Collotti zeigt in seinem Beitrag zu dem sehr breit angelegten Buchprojekt I luoghi della memoria, dass „i tedeschi“, die Deutschen, als Erinnerungskomplex traditionell negativ konnotiert sind. Er charakterisiert das Verhältnis der Italiener zu den Deutschen als ein bis zum Risorgimento des 19. Jahrhunderts zurückreichendes kontinuierliches Oszillieren zwischen Anziehung und Abstoßung. Mit Verweis auf eine Zeile aus der Garibaldi-Hymne „bastone Tedesco, l’Italia non doma“ („der deutsche Knüppel wird Italien nicht zähmen“) und andere patriotische Gedichte aus dem 19. Jahrhundert zeigt er, wie mit dem Wort „tedesco“ auf Österreicher und auf Deutsche als eine ständige Bedrohung aus dem Norden verwiesen wurde.50 Besonders die Erfahrung zweier Weltkriege verfestigte das Bild der „tedeschi“ als der Erzfeinde. Zwei (innerhalb und außerhalb von Italien) weitverbreitete Stereotype über Italiener haben ebenfalls zu dieser Externalisierung des Bösen beigetragen: zum einen, dass Italiener traditionell gute, humanistische und gebildete Menschen sind, und zum anderen, dass Italiener unzuverlässig, feige, ineffizient und korrupt sind. Angesichts dessen, so der Gedankengang, wären sie sicher gar nicht in der Lage

49 | Vgl. Ruth Ben-Ghiat: „A Lesser Evil? Italian Fascism in/and the Totalitarian Equation“, in: Helmut Dubiel/Gabriel Gideon Hillel Motzkin (Hrsg.): The Lesser Evil. Moral Approaches to Genocide Practices. Totalitarian Movements and Political Religions. London: Routledge 2004, S. 137–153; Kriss Ravetto: The Unmaking of Fascist Aesthetics. Minneapolis: University of Minnesota Press 2001; R. J. B. Bosworth: The Italian Dictatorship. Problems and Perspectives in the Interpretation of Mussolini and Fascism. London: Arnold 1998; sowie Focardi: „Bravo italiano“ e „cattivo tedesco“. Vgl. außerdem Michele Sarfatti: „Die Shoah in Italien. Geschichte, Erinnerung, Geschichtsvermittlung, Musealisierung“, in: Claudia Müller/Patrick Ostermann/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland. Bielefeld: Transcript 2015, S. 41–55.

50 | Vgl. Enzo Collotti: „I tedeschi“, in: Mario Isnenghi (Hrsg.): I luoghi della memoria. Bd. 3: Personaggi e date del’Italia unita. Rom: Laterza 1997, S. 65–86.

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gewesen, als Mussolinis willige Vollstrecker zu fungieren.51 In und außerhalb von Italien prägten diese beiden Vorurteile den historiographischen Diskurs über den italienischen Faschismus bis in die späten 1990er Jahre. Exemplarisch hierfür sind die Forschungen zu „il Duce“ selbst, der abwechselnd als „eitler, ungeschickter Angeber ohne Ideale oder Ziele“52 oder als nur von den Nationalsozialisten auf Abwege gebrachter Revolutionär dargestellt wurde.53 Dieser entlastende Diskurs hatte weitreichende Folgen vor allem im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit italienischen Tätern in der Geschichtsschreibung. Erstens kam es nie zu einem „italienischen Nürnberg“: Italiens Regierung weigerte sich nach dem Krieg schlicht, Kriegsverbrecher an Albanien, Griechenland, Jugoslawien oder Libyen auszuliefern und verschleppte die Prozesse immer weiter.54 Viele hochrangige Militäroffiziere, die für brutalste Vergeltungsschläge und Massaker in den besetzten Gebieten und den Kolonien verantwortlich gewesen waren, verbündeten sich 1943 nach dem Sturz Mussolinis mit den Alliierten. So stand zum Beispiel Pietro Badoglio, vormals Marschall von Italien, der 1943 zum Premierminister ernannt wurde, als Kriegsverbrecher auf der offiziellen Liste der United Nations War Crimes Commission (UNWCC), aber nachdem er im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnete, wur51 | Vgl. Del Boca: Italiani, brava gente? S. 13–55. 52 | A. J. P. Taylor: The Origins of the Second World War, zit. n. Ben-Ghiat: A Lesser Evil?, S. 144.

53 | Vgl. Anthony L. Cardoza. Recasting the Duce for the New Century. Recent Scholarship on Mussolini and Italian Fascism. In: Journal of Modern History 77 (2005), S. 722–737; Manuela Consonni. A War of Memories. De Felice and his Intervista sul Fascismo. In: Journal of Modern Jewish Studies 5.1 (2006), S. 43–56; Jens Petersen. Der Ort Mussolinis in der Geschichte Italiens nach 1945. In: Christof Dipper/Lutz Klinkhammer/Alexander Nützenadel (Hrsg.): Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder. Berlin: Duncker & Humblot, 2000, S. 505–224.

54 | In der italienischen Forschung wird die Formulierung „italienisches Nürnberg“ in zwei Bedeutungen verwendet. Wie zum Beispiel Brunello Mantelli, Lutz Klinkhammer oder Filippo Focardi beziehe ich mich damit auf die strafrechtliche Verfolgung italienischer Kriegsverbrecher (oder besser gesagt, auf deren Ausbleiben), aber oft sind auch Prozesse gemeint, in denen Nationalsozialisten für während der deutschen Besatzung Italiens begangene Verbrechen angeklagt werden, die nie im größerem Maßstab oder systematisch durchgeführt wurden (vgl. hierzu z.B. Michele Battini: The Missing Italian Nuremberg: Cultural Amnesia and Postwar Politics. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007). In den unterschiedlichen Antworten auf die Frage, wer genau in einem hypothetischen italienischen Nürnberg vor Gericht gestellt werden würde, kommt die bereits beschriebene Spaltung hinsichtlich der Zuschreibung von Schuld oder Verantwortung dezidiert zum Ausdruck. Die Formulierung wird zudem tendenziell nur in der einen oder der anderen Bedeutung verwendet, ohne dass die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, in einem kombinierten Gerichtsverfahren sowohl gegen Nationalsozialisten als auch gegen Faschisten vorzugehen.

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den alle Vorwürfe gegen ihn fallengelassen und auch später nie wieder aufgegriffen. In den Jahren nach dem Krieg wurde alles dafür getan, italienische Kriegsverbrechen aus dem Blick der internationalen Öffentlichkeit herauszuhalten und sie aus allen offiziellen Darstellungen und der populärkulturellen Erinnerung zu tilgen. Wie der Historiker Lutz Klinkhammer zeigt, zog Italien es sogar vor, die strafrechtliche Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher abzulehnen, um zu verhindern, dass durch einen Bumerang-Effekt eine internationale Debatte über Kriegsverbrechen italienischer Täter angeschoben wird.55 Die italienische Beteiligung an der Deportation der Juden wurde heruntergespielt und die in Italien eingeführten Rassengesetze wurden als bloße Imitation nationalsozialistischer Politik dargestellt.56 Diese selbstentlastende Vorstellung von Italien als einem eigentlich guten Land, das von Kriminellen und den NS-Besatzern auf Abwege gebracht worden war, wurde im politischen Klima des Kalten Kriegs mit noch größerem Nachdruck propagiert.57 Bis in die späten 1990er Jahre wurden Täter in der italienischen Öffentlichkeit fast ausschließlich mit den nationalsozialistischen Besatzern assoziiert, die Geschichte italienischer Kriegsverbrecher blieb ein wohl gehütetes Geheimnis.58 An zwei Beispielen lässt sich zeigen, welches Ausmaß dieses Verschweigen annahm. Nach dem Krieg wurde Giovanni Ravalli, ein Leutnant in der italienischen Armee, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Zeit der italienischen Besatzung Griechenlands angeklagt. Die italienische Regierung drohte, Reparationszahlungen einzubehalten, falls er nicht freikäme, mit dem Ergebnis, dass er nicht vor Gericht gestellt wurde. In Italien brachte er es als Polizeipräfekt und politischer Berater zu beträchtlichem Ansehen. Als der US-amerikanische His55 | Vgl. Lutz Klinkhammer: „Die Ahndung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien nach 1945“, in: Gian Enrico Rusconi/Hans Woller (Hrsg.): Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945–2000. Berlin: Duncker & Humblot 2006, S. 89–106; Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer: „The Question of Fascist Italy’s War Crimes. The Construction of a Self-Acquitting Myth (1943–1948)“, in: Journal of Modern Italian Studies 9.3 (2004), S. 330–348; Enzo Collotti/Lutz Klinkhammer: Il fascismo e l’Italia in guerra. Una conversazione fra storia e storiografia. Rom: Ediesse 1996; sowie Kerstin von Lingen: „Giorni di Gloria. Wiedergeburt der italienischen Nation in der Resistenza“, in: Dies. (Hrsg.): Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Paderborn: Schöningh 2009, S. 389–408.

56 | Vgl. Ben-Ghiat: A Lesser Evil?, S. 141 57 | Vgl. Ruth Nattermanns exzellente Übersicht: „Von der Erinnerung der Überlebenden zur kritischen Forschung. Das Gedenken an die Shoah in Italien“, in: Claudia Müller/Patrick Ostermann/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland. Bielefeld: Transcript 2015, S. 27–40.

58 | Es gibt tatsächlich offenbar auch keinen allgemein akzeptierten Begriff für die Täter. In der Forschung werden Begriffe wie „carnefici“ (Hinrichter, Schlächter), „aguzzini“ (Verfolger) oder weniger dramatisch „colpevoli“ (Schuldige), „responsabili“ (Verantwortliche) und auch „criminali di guerra“ (Kriegsverbrecher) verwendet.

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toriker Michael Palumbo Ravallis erstaunlich positiven Ruf 1992 in einem Buch über italienische Kriegsverbrechen in Frage stellte, drohte ihm Ravalli, gedeckt von einflussreichen Freunden und Unterstützern, mit einer Klage, und das Buch wurde nie veröffentlicht.59 Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Odyssee, die die BBC-Dokumentation Fascist Legacy über italienische Kriegsverbrechen in Äthiopien und Jugoslawien durchmachte. Als sie 1989 in Großbritannien zum ersten und einzigen Mal gezeigt wurde, reagierte der italienische Botschafter mit sofortigem Protest. Der italienische staatliche Fernsehsender RAI kaufte die Rechte an der Dokumentation, und sie ist aus dessen Archiven seitdem nicht wieder aufgetaucht. Nur einzelne Ausschnitte waren 2003 in Altra Storia zu sehen, einem von Sergio Luzzatto moderierten spätabendlichen Geschichtsprogramm auf La7.60 In seinem Überblick zur Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung in Italien nach 1945 unterscheidet Claudio Fogu vier Phasen in der Entwicklung einer „postfaschistischen italienischen Vorstellungswelt“: Zunächst das „zweite Risorgimento“ (1945–1960), gefolgt von der „ausgebliebenen Revolution“ (1960– 1975) und dem „Bürgerkrieg“ (1975–1990) bis hin zum „Tod des Vaterlands“ (1990 bis zur Gegenwart). In der ersten Phase sei die Widerstandsbewegung als „Ausdruck der antifaschistischen Einstellung aller Italiener“61 festgeschrieben worden. Damals habe man begonnen, den 25. April als Tag der Befreiung Italiens und „Tag des zweiten Risorgimento“ zu feiern. Fogu schreibt: Mit dem ahistorischen Verweis auf ein „zweites“ Risorgimento verankerte das neue Italien seine Gründung offiziell einerseits in einer Zurückweisung der Behauptung der Faschisten, sie hätten das Risorgimento zur Vollendung gebracht, und andererseits in der Auslöschung der Nationalgeschichte zwischen dem ersten und jenem zweiten Risorgimento (1860–1945). 62

Im öffentlichen Bewusstsein verfestigte sich in dieser Phase das Bild der italienischen Bevölkerung unter dem Faschismus als eines Volks der Partisanen und der Widerständler. Fogus Bezeichnung der zweiten Phase als „ausgebliebene Revolution“ verweist auf den von der Studentenbewegung der 1960er und frühen 1970er Jahre erhobenen Vorwurf, der Partisanenwiderstand habe nach dem Fall des Faschismus die Chance auf eine echte Revolution „verpasst“. Zu dieser Zeit kamen 59 | Vgl. Costantino Di Sante (Hrsg.): Italiani senza onore. I crimini in Jugoslavia e i processi negati. 1941–1951. Verona: Ombre Corte 2005; Rory Carroll: „Real Lives. Italy’s Bloody Secret“, in: The Guardian vom 25.06.2001.

60 | Vgl. Di Sante (Hrsg.): Italiani senza onore, S. 10. 61 | Claudio Fogu: „Italiani brava gente: The Legacy of Fascist Historical Culture on Italian Politics of Memory“, in: Richard Ned Lebow/Wulf Kansteiner/Claudio Fogu (Hrsg.): The Politics of Memory in Postwar Europe. Durham: Duke University Press 2006, S. 147–176, hier S. 151.

62 | Ebd.

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auch die Partisanen und ihr weit verbreiteter Ruf als Märtyrer unter Beschuss, weil die von ihnen ausgeübte Gewalt und die schrecklichen Vergeltungsschläge der NS-Besatzer gegen die Zivilbevölkerung, die diese Gewalt provoziert hatte, zunehmend öffentlich diskutiert wurden. Diesen beiden Phasen gemeinsam ist eine Monumentalisierung der zwei Jahre der NS-Besatzung (1943–1945) – „biennio“ genannt – die das „ventennio“, die 20 Jahre des faschistischen Regimes, fast vollständig überschatteten. Nach 1975 sah man die Zeit zwischen 1943 und 1945 zunehmend weniger vom Widerstand der Partisanen gegen die NS-Besatzung geprägt, sondern eher als einen Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden italienischen Fraktionen. Außerdem gewann das Fernsehen für die Popularisierung von Geschichte und die Bildung eines Geschichtsbewusstseins zunehmend an Bedeutung. Die im Fernsehen gezeigte Version des faschistischen „ventennio“ war nun für viele die erste Begegnung mit dieser Zeit in der Mainstream-Kultur. Fogu stellt fest: Im Unterschied zu Deutschland standen mit dieser Herangehensweise aber keine Werkzeuge für eine kritische Auseinandersetzung mit Tätern und Zuschauern zur Verfügung. Alltagshistorie wurde von den italienischen Massenmedien dazu verwendet, dem Privaten und Anekdotischen gegenüber der politischen Dimension des Faschismus Vorrang zu geben. Das führte dazu, dass der Faschismus in den Fernsehproduktionen der 1980er Jahre erfolgreich „normalisiert“ wurde. 63

Auch wenn diese Entwicklung dazu beitrug, das „schwarze ‚ventennio‘“ wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, basierte sie auf einem Konsens, wonach der Faschismus „letztlich nicht so schlimm“ gewesen war. Mit Fogus vierter Phase wurde der sogenannten Parenthese-Theorie des faschistischen Regimes, die Benedetto Croce als erster artikuliert hatte und derzufolge das „ventennio“ zwar bedauerlich war, in der Geschichte Italiens aber letztlich als Anomalie verstanden werden müsse, der Todesstoß versetzt. Mit „Tod des Vaterlands“ ist die Erkenntnis gemeint, dass der Zusammenbruch des Faschismus und das ImStich-lassen des Staates durch König und Regierung für Italien ein nationales Trauma darstellte, das verdrängt wurde unter anderem mithilfe des Mythos, die italienische Bevölkerung habe sich nie richtig mit dem Faschismus identifiziert. Angesichts dessen ist natürlich nicht daran zu denken, die von Paul erarbeiteten Phasen der Täterforschung einfach direkt auf die viel komplexere Situation in Italien zu übertragen. Man könnte aber die ersten beiden von Fogu beschriebenen Phasen grob mit Pauls erster Phase der Exterritorialisierung der Täter gleichsetzen. Dazu passt nicht nur der anfängliche ausschließliche Fokus auf die NS-Besatzungsmacht, durch den alle Verantwortung für Gewalttaten und Aggressionen buchstäblich auf die Deutschen abgewälzt wurde, sondern auch Croces Theorie der Parenthese, die Faschismus, wie Fogu feststellt, als eine Art Virenansteckung 63 | Ebd., S. 151.

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darstellte. Dazu kam, dass Forschungsarbeiten zu italienischen Kriegsverbrechenaus dem Ausland weder rezipiert noch ins Italienische übersetzt wurden. Seit der Jahrtausendwende wird nun aber ein breites Spektrum bislang ungenügend erforschter Themen zunehmend zum Gegenstand der historischen Forschung: der italienische Kolonialismus, die in den besetzten Gebieten verübten Verbrechen sowie die Verfolgung und Deportation italienischer Juden. Diese Studien arbeiten auch die Kontinuitäten zwischen dem Umgang mit der slowenischen und kroatischen Bevölkerung und dem kolonialen Rassismus in Afrika einerseits sowie dem wachsenden Antisemitismus in Italien andererseits heraus.64 Der Historiker Angelo Del Boca zeichnet zum Beispiel die verschiedenen Stadien und Verbrechen des italienischen Kolonialismus nach und zeigt, inwiefern Kolonialismus und Rassismus fester Bestandteil des italienischen Nationalbewusstseins waren. In seinem Buch Italiani. Brava gente? zeigt er, wie der Mythos des „guten Italieners“ es den Italienern erlaubte, die im Namen des italienischen Faschismus und Kolonialismus verübten Verbrechen zu verdrängen und deren Signifikanz zu schmälern.65 Mit jener kollektiven Selbstentlastung werde über dunkle Kapitel der jüngeren italienischen Geschichte hinweggetäuscht; besonders treffe dies auf „la guerra al brigantaggio“ zu, den Brigantenkrieg, in dem in den 1860er Jahren die Gegner der Vereinigung Italiens brutal unterdrückt wurden, und auf die fast völlig in Vergessenheit geratene Beteiligung Italiens an der blutigen Niederschlagung des Boxeraufstands in China im Jahr 1900. Die Italiener seien in ihren Kolonien und bei ethnischen Säuberungen brutal und kompromisslos vorgegangen, ebenso wie andere Krieg führende Völker und Kolonialmächte.66 Das belegt Del Boca mit detaillierten, durch Augenzeugenberichte angereicherte Beschreibungen von in Afrika und im ehemaligen Jugoslawien verübten Verbrechen, darunter

64 | Vgl. z.B. Angelo Del Boca: I gas di Mussolini: Il fascismo e la guerra d’Etiopia. Roma: Editori Riuniti 2007; sowie ders. (Hrsg.): Le guerre coloniali del fascismo. Roma: Laterza 2008; Capogreco: I campi del Duce; Davide Rodogno: Il nuovo ordine mediterraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista (1940–1943). Torino: Bollati Boringhieri 2003; Michele Sarfatti: Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione. Torino: Einaudi 2000; sowie Patrizia Dogliani: Il fascismo degli Italiani. Una storia sociale. Milano: Utet 2008.

65 | Mit dem bahnbrechenden Werk Il mito del bravo italiano (1994) war der Historiker David Bidussa einer der ersten, die sich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinandersetzten. Auch Claudio Fogu stellt fest, dass „das anhaltende Bild der Italiener als „brava gente“ Ergebnis eines aktiven Versuchs war, den Faschismus von „Täter“-Eigenschaften zu befreien“ (Fogu: Italiani brava gente, S. 150). Zu nennen ist hier auch Robert S.C. Gordons anspruchsvolle und erhellende Auseinandersetzung mit dem Stereotyp des „guten Italieners“, und damit, wie dieses historisch mit der von Primo Levi in Die Untergegangenen und die Geretteten beschriebenen moralischen „Grauzone“ assoziiert war. Vgl. hierzu Robert S.C. Gordon: The Holocaust in Italian Culture 1944–2010. Stanford: Stanford University Press 2012, S. 139–156.

66 | Vgl. Del Boca: Italiani, brava gente?, S. 294.

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Massaker an der Zivilbevölkerung, Massendeportationen in Konzentrationslager und der Einsatz von Senfgas in Äthiopien.67 Neben der wichtigen Aufgabe der Dokumentation italienischer Kriegsverbrechen haben Historiker damit begonnen, genauer auf Einzelpersonen einzugehen, die unter dem faschistischen Regime in den Bereichen Politik, Wissenschaft, Recht oder Propaganda eine wichtige Rolle gespielt hatten. So wurden in den vergangenen zehn Jahren beispielsweise ausführliche Biographien über den angesehenen Demographie- und Eugeniktheoretiker Corrado Gini, den rassistischen und antisemitischen Philosophen Julius Evola, die Eugeniker Nicola Pende und Sabato Visco, den Politiker Giovanni Preziosi und vielen mehr veröffentlicht. Sie legen gemeinsam den Grundstein zu einer längst überfälligen Täterforschung – was zur zweiten von Paul beschriebenen Phase passt – und zeigen, wie breit die Unterstützung der faschistischen „Rassen“-Politik unter Intellektuellen und Wissenschaftlern war.68 Giorgio Fabre wirft ein neues Licht auf Mussolini und zeigt durch eine genaue Lektüre von dessen Aufzeichnungen, dass „il Duce“ bereits in den 1920er Jahren damit begann, eine „Rassen“-Ideologie auszubilden und zu artikulieren. Historiker wie Mimmo Franzinelli dokumentieren nicht nur die faschistische Geheimpolizei (OVRA), sondern auch die Rolle der fast 20.000 italienischen SS-Mitglieder, der autonomen faschistischen Bataillone, der von Gaetano Collotti, Pietro Koch, Mario Carità und anderen geleiteten Polizeisondereinheiten und nicht zuletzt der „gewöhnlichen“ Zivilbevölkerung, der Polizisten und lokalen Regierungsbeamten.69 67 | Vgl. ebd., S. 229–254. Ein wichtiger Punkt ist hier, dass Del Boca die von italienischen Partisanen zwischen 1943 und 1945 verübten Gewalttaten und Verbrechen nicht ignoriert, sondern vielmehr in seine Argumentation mit einbezieht. (Vgl. hierzu das zwölfte Kapitel, „La resa dei conti“).

68 | Vgl. u.a. Giorgio Israel: „Redeemed Intellectuals and Italian Jews“, in: Telos 139 (2007), S. 85–108; Michele Sarfatti (Hrsg.): La Repubblica sociale italiana a Desenzano. Giovanni Preziosi e l’Ispettorato generale per la razza. Firenze: Giuntina 2008; Francesco Cassata. A destra del fascismo. Profilo politico di Julius Evola. Saggi. Torino: Bollati Boringhieri 2003, sowie ders.: Il fascismo razionale; Francesco Germinario: Razza del sangue, razza dello spirito. Julius Evola, l’antisemitismo e il nazionalsocialismo (1930–43). Torino: Bollati Boringhieri 2001; Monica Fioravanzo: Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich. Roma: Donzelli 2009.

69 | Vgl. z.B. Mimmo Franzinelli: I tentacoli dell’Ovra. Agenti, collaboratori e vittime della polizia politica fascista. Nuova cultura 69. Torino: Bollati Boringhieri 1999; ders: Delatori: Spie e con denti anonimi. L’arma segreta del regime fascista. Milano: Mondadori,2001; sowie Squadristi. Protagonisti e techniche della violenza fascista 1919–1922. Le scie. Milano: Mondadori 2003. Vgl. außerdem Ricciotti G. Lazzero: Le SS italiane. Storia dei 20,000 che giurarono fedeltà a Hitler. Milano: Rizzoli 1982; Massimiliano Griner: La „banda Koch“. Il reparto speciale di polizia, 1943–1945. Torino: Bollati Boringhieri 2000; Susan Zuccotti: The Italians and the Holocaust. Persecution, Rescue, and Survival. New York: Basic Books 1987;

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Eine genauere Untersuchung der Ausstellungen in Grafeneck und in der Risiera kann dabei helfen, diese beiden Forschungstraditionen und den Umgang mit Tätern in Deutschland und Italien besser zu verstehen. Außerdem wird dadurch deutlich, inwiefern die Darstellung von Tätern in Gedenkstätten von verschiedenen Phasen oder Strömungen der Täterforschung des jeweiligen Landes geprägt ist. Dazu müssen wir aber zunächst herausarbeiten, welche Rolle die Darstellung der Täter an Erinnerungsorten im Allgemeinen haben kann. Die Auseinandersetzung mit den Tätern verfolgt im Rahmen des die Gedenkpädagogik prägenden doppelten Imperativs, ein Vergessen und eine Wiederholung zu verhindern, drei zentrale Ziele. Einzelne Täter, ihre Motivation und Gemütsverfassung zu kennen, kann erstens dabei helfen, den historischen Hintergrund und deren Rolle in den größeren historischen Zusammenhängen, die in der jeweiligen Gedenkstätte dargestellt werden, besser zu begreifen. Bei der pädagogischen Arbeit an Schulen und Gedenkstätten müssen, wie Harald Welzer betont, die Möglichkeitsbedingungen jener Verbrechen im Zentrum stehen. Aus erinnerungskulturellen und -pädagogischen Gründen muss das Ziel sein, „das unspektakuläre, alltäglichere Bild einer Gesellschaft, die zunehmend verbrecherisch wird, oder, genauer gesagt, normativ umcodiert, was als erwünscht und verwerflich, gut und schlecht, ordnungsmäßig und kriminell gilt“,70 sichtbar zu machen. Nur ein solcher Ansatz kann jungen Menschen dabei helfen zu verstehen, dass nicht nur „böse“ Menschen sich verwerflich verhalten oder solches Verhalten tolerieren, sondern auch „gute“. Die Darstellung der Normalität jener Männer und Frauen (indem man zum Beispiel Fotos von ihnen ausstellt oder über ihre Karrieren und etwaigen Hintergründe informiert) wirkt zweitens der Annahme entgegen, dass es sich bei den Tätern um Monster oder Wahnsinnige gehandelt habe, die nicht viel mit dem Rest der deutschen oder der italienischen Gesellschaft gemeinsam hatten. Genau das macht es aber unter Umständen problematisch, die Täter in Uniform zu zeigen wie in der Risiera di San Sabba, also mit anderen Worten in einer Machtposition (und damit so, wie sie selbst gesehen werden wollen würden), weil dadurch „nichts auf ihre spätere Niederlage hinweist“.71 Und drittens: Deutlich zu machen, Ellen Ginzburg Migliorino: „L’applicazione delle leggi antiebraiche a Trieste. Aspetti e problemi“, in: Qualestoria 17.1 (1989), S. 99–113; Marco Coslovich: „Il processo della Risiera di S. Sabba. Una fonte per la storia“, in: Qualestoria 27.2 (1999). S. 217–245; sowie Sven Reichardt: Faschistische Kampf bünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA. Köln: Böhlau 2002.

70 | Harald Welzer/Dana Giesecke: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der Deutschen Erinnerungskultur. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2012, S. 39.

71 | Caroline Pearce: „The Role of German Perpetrator Sites in Teaching and Confronting the Nazi Past“, in: Bill Niven/Chloe Paver (Hrsg.): Memorialization in Germany Since 1945.

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welche Entscheidungsprozesse der Karriere eines Täters zugrunde lagen, kann dazu beitragen, den weit verbreiteten und falschen Eindruck, dass die Täter einfach nur Befehlen Folge leisteten und eine Weigerung die Todesstrafe bedeutet hätte, kritisch zu hinterfragen. Eine solche kritische Auseinandersetzung mit den Tätern und ihre Einbettung in lokale Geschichte erlauben es außerdem, zusätzliche Gruppierungen in den Blick zu nehmen; etwa Zuschauer, also Anwohner, die zwar nicht direkt am Geschehen beteiligt waren, die die an den jeweiligen Orten verübten Taten aber passiv hinnahmen oder sogar ermöglichten. Zusammenfassend sagt der Historiker Bert Pampel, dass eine Auseinandersetzung mit den Tätern dabei helfen kann, Fragen nach dem Warum zu beantworten, die aus einer rein an den Opfern orientierten Perspektive nicht in den Blick kommen. Zudem kann es sein, dass mit einer solchen Blickverschiebung Kontinuitäten zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart sichtbar werden: In der Auseinandersetzung mit den Tätern werden strukturelle Bedingungen (Hierarchien, funktionale Arbeitsteilung, das Fehlen institutioneller Sicherungen) und subjektive Dispositionen (Anpassung, ideologische Verblendung) veranschaulicht, die nicht nur in diktatorischen Regimen vorhanden sind. 72

Neben diesen wichtigen historischen, ethischen und pädagogischen Vorteilen hat die Auseinandersetzung mit Tätern außerdem eine meta-historische Dimension: Kaum ein Aspekt sagt mehr über die Geschichte der Erinnerung an den Holocaust aus als die Art und Weise, wie die Täter an Erinnerungsorten dargestellt werden.73

Gedenkstätte Grafeneck Die Gedenkstätte in Grafeneck ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel, weil sich die Geschichte dieser Erinnerung in den materiellen Bauwerken des Ortes niedergeschlagen hat und zudem in der dokumentarischen Ausstellung thematisiert wird – und sie geht stets auf Opfer und Täter ein. Im ersten Kapitel habe ich die verschiedenen Gedenkbauten in Grafeneck detailliert untersucht, wobei ich mich besonders auf das Gedenken an die Opfer konzentriert habe. Kehren wir nun noch einmal kurz zu der Gedenkstätte und der Ausstellung zurück, diesmal mit besonderem Fokus auf die Darstellung der Täter. In der Formulierung auf der ältesten Gedenktafel in Grafeneck, „Zum Gedenken an die Opfer der UnmenschBasingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 168–177, hier S. 170.

72 | Bert Pampel: „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher. Dissertation Technische Universitätö Dresden 2007, S. 57.

73 | Zum Umgang mit Täterschaft an Gedenkstätten und in der Gesellschaft vgl. auch Wrochem/Eckel (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Berlin: Metropol 2016.

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lichkeit – Grafeneck 1940“, kommt jene Vermeidungs- und Verdrängungshaltung der Nachkriegszeit zum Ausdruck, die Paul als Exterritorialisierung bezeichnet. Die zweite, 1985 hinzugefügte Tafel, benennt sehr viel spezifischer, was geschehen ist und wer die Opfer waren, stellt die Täter aber dar als wären sie Fremde gewesen: Grafeneck ist seit 1929 ein Behindertenheim der Samariterstiftung. Dieser Friedhof wurde 1930 für das Heim angelegt. 1939 beschlagnahmten die Nationalsozialisten die Einrichtung. [...] In der Nähe des landwirtschaftlichen Gebäudes wurde dann eine Tötungsanstalt zur Durchführung von Hitlers Euthanasie-Programm eingerichtet. Mehr als 10500 Menschen sind hier von Januar bis Dezember 1940 vergast worden [...].

Nicht nur wird Hitler in diesem Text als der einzige beschrieben, auf den das „Euthanasie“-Programm letztlich zurückging, die Nationalsozialisten werden zudem als eine Art Besatzungsmacht dargestellt, die scheinbar aus dem Nichts kam und sich Grafeneck aneignete. Die Passivform des Verbs trägt dazu bei, die Täter als abstrakte Idee zu fassen statt als gewöhnliche Menschen aus Fleisch und Blut. Die zweite Tafel passt also genau zu Pauls zweiter Phase, die von Entpersonalisierung und Abstrahierung gekennzeichnet ist. Eine Entwicklung hin zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit verschiedensten Tätertypen und zu einem genaueren Blick auf die strukturellen und organisatorischen Prozesse sowie die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Gruppen, aus denen sich jene „Maschinerie“ der Verfolgung und der Vernichtung zusammensetzte, fand erst in den späten 1990er Jahren statt. Seither ist in Grafeneck ein Historiker auf einer Vollzeitstelle mit einer systematischen Erforschung der Geschichte des Ortes und dem Auf bau einer breit angelegten Dokumentationsausstellung beauftragt. Diese Ausstellung ist seit 2005 für Besucher geöffnet und thematisiert nicht nur den Begriff des „lebensunwerten Lebens“ sowie Strukturen und Prozesse der „Aktion T4“, sondern zudem Zusammenhänge zwischen dem NS-„Euthanasie“-Programm und dem Holocaust. In der Grafenecker Dokumentationsausstellung, die als Rundgang durch drei Räume angelegt ist, wird die Geschichte des Ortes jeweils vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Die Fotos der Täter sind an zentralen Stellen angebracht. Der Bereich, in dem es um Grafeneck im Jahr 1940 geht, bildet das Zentrum der Ausstellung und füllt den größten der drei Räume. Hohe vertikale Tafeln in Schwarz-Weiß und Grau entlang der Wände zeigen Fotos, Dokumente und erklärende Texte. Schon auf der ersten Tafel werden die Täter in Nahoptik präsentiert: Wir sehen zwar ihre Gesichter noch nicht, werden aber über ihre Karrieren informiert. Auf der Tafel werden die Zusammenhänge zwischen der NS-„Euthanasie“ und dem Holocaust hervorgehoben und vor allem, dass dieselben Männer zunächst in Grafeneck und später in Belzec, Treblinka und Sobibor tätig waren (die Risiera wird jedoch nicht erwähnt). Auf der nächsten Tafel sind Hintergrundinformationen zu den Begriffen „lebensunwertes Leben“ und

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„Gnadentod“ zu finden, und es wird genau beschrieben, wie das „Euthanasie“-Programm organisiert und geplant wurde. Hier sind Fotos der führenden Köpfe der „Aktion T4“, Philipp Bouhler und Karl Brandt (Porträtfotos in NS-Uniform), zu sehen, dazu eine kurze Beschreibung ihres jeweiligen Aufgabenbereichs sowie ein Faksimile des Geheimerlasses, mit dem Hitler sie zu den Tötungen ermächtigte. Den Fotos der Täter werden Bilder von Opfern, Dissidenten und Widerständlern entgegengesetzt. An der hinteren Wand ist an prominenter Stelle ein überlebensgroßes Porträtfoto von Theodor Kynast angebracht, einem der Opfer von Grafeneck, daneben kleinere Fotos von Else von Löwis und dem evangelischen Bischof Theophil Wurm, die beide Protestbriefe an die nationalsozialistische Regierung geschrieben hatten. Auf den letzten beiden Tafeln geht es wieder um die Täter. Hier wird das Ende des „Euthanasie“-Programms beschrieben, ergänzt um eine genaue Übersicht über die weiteren Lauf bahnen der Täter nach ihrer Zeit in Grafeneck. Zwei weitere Fotos sind zu sehen: Ein Porträt von Horst Schumann, dem Leiter des medizinischen Personals, und von Christian Wirth. Der letzte Satz des dazugehörigen Textes lautet: „Nur ein kleiner Teil der Täter wird nach dem Krieg vor Gericht gestellt und bestraft. Die meisten kehren in die Gesellschaft zurück, aus der sie gekommen sind.“ Diese Information leitet über zur strafrechtlichen Verfolgung und der Gedenkarbeit nach dem Krieg, um die es im nächsten Raum geht, und kann zum einen als kritischer Kommentar zur deutschen Nachkriegszeit gelesen werden (im nächsten Raum erfahren wir, dass von den Grafenecker Tätern nur Brandt angemessen für seine Verbrechen bestraft wurde), und zum anderen auch als Hinweis darauf, dass die NS-Täter aus allen Teilen einer Gesellschaft stammten, die nach 1945 mehr oder weniger unverändert blieb. So gesehen fungiert die Ausstellung als Korrektiv für die beiden älteren Gedenktafeln auf dem Friedhof: Im Mittelpunkt stehen zwar die Strukturen und Verwaltung des „Euthanasie“-Programms, aber dennoch kommen in den reproduzierten Dokumenten oft einzelne Personen in den Blick, von denen diese Einrichtungen und Organisationen getragen wurden. Sie begegnen uns mit ihren Unterschriften, in Zitaten und natürlich Fotografien. Das große Bild von Theodor Kynast ist zwar der klare Mittelpunkt der Ausstellung – nicht nur fällt es den Besuchern beim Betreten des zweiten Raumes direkt ins Auge, Kynast ist auch der einzige, dessen Lebensgeschichte rekonstruiert wird –, aber eingerahmt wird die Ausstellung von den sehr viel kleineren Porträtfotos der Täter. Auf die Rolle, die diese Männer im größeren System der Verfolgung und des Massenmordes spielten, wird zwar eingegangen, aber außer ihren Geburts- und Todesdaten werden keine persönlichen Informationen zur Verfügung gestellt. Wenn wir uns diese „ganz normalen Männer“ ansehen, wird uns der Trost versagt, sie uns als Monster vorzustellen, deren Bösartigkeit in ihrem Gesicht und ihrem Habitus sichtbar ist und mit denen wir nichts gemeinsam haben. Jedoch lässt das Fehlen ausführlicher biographischer Daten die Frage, wer diese Männer waren und warum sie taten, was sie taten, zum großen Teil unbeantwortet. Außerdem bekräftigt die Tatsache, dass – mit Ausnahme von

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Schumann – alle dargestellten Täter (vielleicht unbeabsichtigt) relativ berüchtigte NS-Funktionäre waren, dass es nur eine Handvoll Männer mit großer Macht war, die diese Morde organisiert und ausgeführt hat. Zudem werden durch die Ausstellung auch Gender-Stereotypen über die Nationalsozialisten und ihre Verbrechen bestärkt: die einzige Frau in der Ausstellung ist die NS-Frauenschaftsführerin Else von Löwis, die in einem Brief offen ihre Kritik am „Euthanasie“-Programm zum Ausdruck brachte. Über das weibliche Verwaltungspersonal und die Pflegerinnen, die direkt an den Verbrechen beteiligt waren, gibt es keine Informationen und auch keine Bilder.

Die Risiera di San Sabba Die Dokumentationsausstellung in der Risiera wurde 1982 von dem Historiker Elio Apih konzipiert und 1998 überarbeitet sowie erweitert; in der Gesamtkonzeption spielen die Täter eine wichtige Rolle. Auf 50 Tafeln wird in einem großen Raum die Geschichte Triests und der Risiera dargestellt, mithilfe einer Vielzahl an Archivmaterial, unter anderem sind Landkarten, Briefe, Tabellen, Fotografien, Zeichnungen und verschiedene Listen zu sehen. Dieses Anschauungsmaterial nimmt auf den Tafeln den meisten Raum ein; die erklärenden Texte am linken Rand sind sehr knapp gehalten. Mit Ausnahme einiger Landkarten handelt es sich dabei um Schwarz-Weiß-Reproduktionen von geringer Auflösung, oft aus Geschichtsbüchern zusammengestellt, wie die Bildnachweise zeigen. Die in sechs Sprachen – Italienisch, Slowenisch, Kroatisch, Englisch, Deutsch und Französisch – übersetzten Texte auf den Tafeln bestehen aus einigen Sätzen zum historischen Hintergrund und kurzen Erklärungen zum Anschauungsmaterial. Apihs Beschreibung der Vorgeschichte der Risiera kreist um zwei Themen: einerseits das große strategische Interesse der Deutschen an Triest als Hafenstadt und zweitens das „Problem der Slowenen und Kroaten“.74 Auf den Tafeln 1 bis 10 wird der Aufstieg des Faschismus in der Region beschrieben: die gewaltsamen und repressiven Maßnahmen gegenüber der slawischen Bevölkerung, die Annäherung von Mussolini und Hitler so die Anfänge der beiden regionalen Widerstandsbewegungen, des pro-italienischen antifaschistischen Widerstands (Comitato di Liberazione Nazionale, CLN) und der Befreiungsfront, also dem pro-kommunistischen, pro-jugoslawischen Widerstand. Auf diesen zehn Tafeln sind nur wenige Gruppenfotos zu sehen, darunter eines, dass Mussolini und Hitler zeigt, ein anderes mit Stalin und Joachim von Ribbentrop (ihre Namen werden allerdings nicht erwähnt) und ein drittes von Mitgliedern der italienischen faschistischen Elite. Der italienische Faschismus wird in den Ausstellungstexten generell als unfähig und korrupt dargestellt, besonders hervorgehoben wird die Unfähigkeit der Faschisten, die wirtschaftlich schwierige Lage Triests nach dem Ende der 74 | Elio Apih (Hrsg.): Risiera di San Sabba: Guida alla mostra storica. Trieste: Comune di Trieste 2000, S. 66.

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Habsburger Monarchie zu verbessern. Auf den folgenden Tafeln wechselt der Fokus zum nationalsozialistischen Deutschland und es werden die Entwicklungen nachgezeichnet, die zur Einrichtung von Konzentrationslagern in Deutschland und Vernichtungslagern in Polen führten. Auf den Tafeln 14 bis 17 geht der Blick zurück zur Region um Triest und zwar zur faschistischen Besatzung Jugoslawiens im Jahr 1941. Die Beschreibung der Besatzung und der von den Italienern angewandten repressiven Maßnahmen ist sehr knapp gehalten, auf diesen Tafeln gibt es keine Fotos oder Namen derjenigen, die diese Maßnahmen durchgeführt haben. Die Mehrheit der Tafeln in der Ausstellung (19–35) widmet sich der NS-Besatzung von Triest und seiner Umgebung sowie der Einrichtung eines Vernichtungslagers in der Risiera im Jahr 1943. In diesem Abschnitt sind die meisten Fotos zu sehen, und die meisten von ihnen zeigen die deutschen Besatzer. Auf einer Tafel sind die Anführer von „Einsatz R“ in verschiedenen Posen und Situationen dargestellt, mit Bildunterschriften, in denen ihre Namen mehrfach wiederholt werden: Odilo Globocnik, Franz Stangl, Erwin Lambert, Friedrich Rainer, Dietrich Allers, Josef Oberhauser, Otto Stadie und natürlich Christian Wirth. Hinzu kommen Informationen zu den verschiedenen Widerstandsbewegungen der Region und deren größtenteils konfligierenden politischen Interessen und Ideen hinsichtlich der italienisch-jugoslawischen Grenze. Die Ausstellung endet mit der Befreiung Triests und dem Prozess gegen Allers und Oberhauser. In der Risiera wird also sehr deutlich eine Opferperspektive eingenommen: Die Stadt und die ganze Region werden als Opfer deutscher Aggression dargestellt. Dieses Opfernarrativ bleibt aber sehr abstrakt, da in der Dokumentarausstellung nirgendwo die Namen der Opfer aufgelistet werden, die in der Risiera gestorben sind, oder Informationen dazu vorhanden sind, was genau mit ihnen geschah, nachdem sie hierher gebracht wurden, oder wie viele Opfer es eigentlich gab. Auch die Täter bleiben eine völlig abstrakte und eindimensionale Gruppe. Eine detaillierte Darstellung ihrer beruflichen Lauf bahnen und ihrer Motive wird vermieden. 14 Tafeln (36–49) am Ende der Ausstellung sind der Widerstandsbewegung gewidmet und der zentralen Rolle, die sie bei der Befreiung der Region Julisch Venetien spielte. Die Nachkriegsentwicklung des Gedenkorts wird erst auf der letzten Tafel kurz angesprochen, dabei werden weder die Vorgänge erklärt, die zur Bewahrung des Erinnerungsorts geführt haben noch wie er in eine Gedenkstätte verwandelt wurde. Weil die Ausstellung ausschließlich Anschauungs- und dokumentarisches Material zeigt und nur sehr knappe geschichtliche Informationen zum Hintergrund oder zum politischen Kontext bereitstellt, ist es oft schwer, sie als kohärentes Narrativ nachzuvollziehen. Visuell und thematisch stehen die deutsche Besatzung in den Jahren zwischen 1943 und 1945 im Mittelpunkt sowie die Widerstandsbewegung. Auf die Zusammenhänge zwischen dem Faschismus und dem Nationalsozialismus vor 1943 wird nicht genauer eingegangen und die faschistischen anti-jüdischen Maßnahmen der Zeit vor der deutschen Besatzung werden ganz ausgeblendet. Außerdem bleiben außer Mussolini und

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einigen Ministern seiner Regierung alle gezeigten Italiener und Jugoslawen anonym. Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, suggeriert die Art, wie die Ausstellung gestaltet ist, dass die deutsche Besatzung 1943 die logische Konsequenz eines anhaltenden imperialistischen Interesses Deutschlands an der Region war, das bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückreicht. Dieser Sichtweise zufolge waren es die Deutschen, die Antisemitismus, Ausbeutung, Terror und unsägliche Gewalt über die Region brachten. Und es war das italienische Comitato di Liberazione Nazionale (CLN), das die Nationalsozialisten bekämpfte und die Stadt am Ende befreite, einen Tag vor dem Einmarsch der jugoslawischen Befreiungsarmee. Über die nationalsozialistischen Täter erfahren wir nur, dass sie aus Polen kamen, wo sie Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung organisiert und ausgeführt hatten. Darüber, was ihre Funktion in der Risiera oder in der besetzten Stadt war, gibt es keine Informationen. Die NS-Täter, die in einem historischen Vakuum und oft mit halb verdeckten Gesichtern dargestellt werden, wirken wie Gespenster: fehl am Platz, fremd. Ihre dekontextualisierte Darstellung macht sie zu abstrakten Ikonen des nationalsozialistischen Bösen. Die Tatsache, dass praktisch keine Fotos italienischer Faschisten oder Kriegsverbrecher zu sehen sind, ermöglicht es, Fragen zur Kollaboration, zu faschistischen Verbrechen in der Region und zum Antisemitismus vor und nach 1943 gänzlich auszublenden. Diese selbstentlastenden Tendenzen sind für meine Analyse in den nächsten Kapiteln zentral.

E rziehung

nach

A uschwit z

Konkret verweist die Bezeichnung Erinnerungsort (Gedenkstätte/Ort der Erinnerung, „luogo della memoria“) zugleich auf einen Ort und auf eine Handlung. Es wird damit nicht nur gesagt, dass „hier, an dieser Stelle“ Verbrechen verübt wurden, sondern es wird zugleich betont, dass auch das Erinnern daran, also eine Handlung, hier stattfindet. Orte der Erinnerung haben zudem stets sowohl eine rückblickende wie eine vorwärtsschauende Dimension. Damit verhindert werden kann, dass sich das dort Geschehene wiederholt, ist die historisch-politische Bildung künftiger Generationen eines der zentralen Ziele dieser Orte. Genau aus diesem Grund ist Adornos Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ zum inoffiziellen Manifest der Gedenkstättenpädagogik geworden, zumindest in Deutschland. Obwohl er in diesem Text wiederholt betont, wie wichtig im Hinblick auf die NS-Täter und die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, ein tiefgehendes historisches Bewusstsein, aber auch ein Wissen um soziologische und psychologische Prozesse ist, hat man an vielen Erinnerungsorten bisher nur langsam oder sogar widerstrebend damit begonnen, neuere Erkenntnisse der Täterforschung

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aktiv – und interaktiv – in die Ausstellungen und die pädagogische Arbeit im Allgemeinen einzubinden.75 Das lässt sich an den Dokumentationsausstellungen in Grafeneck und in der Risiera gut zeigen. Die Broschüre der Gedenkstätte Grafeneck nennt drei Hauptkomponenten der Arbeit, die dort geleistet wird: (a) Die Geschichte des Orts und seiner Rolle in einem breiteren historischen und politischen Kontext zu dokumentieren, zu bewahren und die Besucher darüber informieren, (b) der Opfer zu gedenken, ihre Geschichten zu erzählen und ein Bewusstsein für das Unrecht, das ihnen angetan wurde, zu wecken, und (c) für die Zukunft zu lernen, indem man die Besucher dazu anregt, über ihre eigenen Werte und Vorurteile nachzudenken, über Menschenrechte und Zivilcourage. Wie die folgende Passage zeigt, unterscheidet sich dieser Ansatz stark vom Selbstverständnis der Gedenkstätte der Risiera: Die Risiera ist ein geheiligter Ort, die Asche der Opfer ist eine heilige Reliquie, über die das Heilige sichtbar wird [...] So wird die Risiera zu einem gewaltigen Gemeinschaftsgrab und indem es geehrt wird, wird die Trauer über die Zeit hinweg erneuert. 76

Die Risiera ist in erster Linie ein Ort der Trauer: ein symbolisch und religiös aufgeladener Raum, der ausschließlich den Opfern verpflichtet ist. Die transformative Kraft der architektonischen Überreste (darunter die Gefängniszellen und der Umriss des Krematoriums) sowie der Objekte (darunter die persönliche Habe der Opfer, Briefe, Zeichnungen und ein Knüppel, mit dem die Gefangenen regelmäßig geschlagen wurden) wird besonders betont; ich gehe im fünften Kapitel näher hierauf ein. Die dokumentarische Ausstellung dient hier als zusätzliche Verständnishilfe. Weder die eine noch die andere Konzeption lässt viel Raum für die Darstellung der Täter. Natürlich sind die Bereitstellung histo75 | Oft wird in der Diskussion um den Nutzen und Nachteil von Täterausstellungen zwischen sogenannten „Täterorten“ und „Opferorten“ unterschieden. Als „Täterorte“ werden Orte der Planung und Verwaltung des Massenmords bezeichnet, an denen meist keine Tötungen stattfanden (wie zum Beispiel das Haus der Wannsee-Konferenz oder dem Dokumentationszentrum Topographie des Terrors). Solche Orte verstehen sich in erster Linie als Lernorte, und Lernen über die Täter ist ein fester Bestandteil ihres Bildungsauftrages. „Opferorte“, zum Beispiel ehemalige Konzentrationslager, werden hingegen vor allem als Orte der Trauer und des Erinnerns an die dort ermordeten Menschen gesehen, generell werden ausführliche Täterausstellungen an solchen Orten vermieden und der Darstellung der Täter wenig Raum gegeben. In den letzten zehn Jahren hat sich das jedoch geändert, und es gibt jetzt zunehmend auch „Opferorte“, die Täterausstellungen konzipiert haben, zum Beispiel die Gedenkstätten in Neuengamme, Ravensbrück oder Sachsenhausen. Vgl. Simone Erpel: Im Gefolge der SS; sowie Jana Jelitzki/Mirko Wetzel: Über Täter und Täterinnen sprechen.

76 | Massimo Mucci: La Risiera di San Sabba. Un’architettura per la memoria. Gorizia: Libreria Editrice Goriziana 1999, S. 25.

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rischer Hintergrundinformationen und das Gedenken an die Opfer wesentliche Komponenten der Erinnerungsarbeit, die an Erinnerungsorten zu leisten ist, ich bin aber der Ansicht, dass ohne eine nuancierte, kritische Auseinandersetzung mit den Tätern jedes „Lernen für die Zukunft“ bestenfalls oberflächlich bleiben und schlimmstenfalls ganz ausbleiben wird. Die Ausstellung in der Risiera ist ein gutes Beispiel dafür, dass der ausschließliche Fokus auf der Perspektive der Opfer in Verbindung mit einem selektiven Bild von der Vergangenheit eine Art „Auslagerung“ von Verantwortung zur Folge hat und dass so eine Selbstreflexion vermieden wird. In Grafeneck werden die Täter als gewöhnliche Männer gezeigt. Trotzdem bleiben sie in ihren statischen Porträtposen ikonenhaft, was an Hannah Arendts Beschreibung von Adolf Eichmann im Glaskasten im Gerichtssaal in Jerusalem erinnert, ein Paradebeispiel für die „Banalität des Bösen“.77 Genau an diesem Punkt muss Gedenkstättenpädagogik einsetzen, statt dort zu enden. Die Täter als gewöhnliche Menschen darzustellen ist nur der erste Schritt. Auch wenn wir noch so viele Informationen über diese Menschen zusammentragen, werden wir wohl nie in der Lage sein, ihr Handeln zufriedenstellend oder allgemeingültig zu erklären. Ein wesentlicher Aspekt der Frage nach den Tätern ist ihre Unlösbarkeit: die Frage nach dem ‚warum?‘ kann oft nicht endgültig beantwortet werden. Das Eingehen auf Einzelbiographien erlaubt es uns, genauer zu differenzieren: Wir stellen fest, dass die meisten von ihnen nicht in fixe Kategorien wie „Monster“ oder „Psychopath“ passen. Außerdem können individuelle Geschichten uns dazu anregen, über die Verantwortung des einzelnen für jene Verbrechen nachzudenken, die im faschistischen Italien und während des Nationalsozialismus in Deutschland verübt wurden. Und hier lohnt es sich, Adornos Aufsatz genau zu lesen: für Adorno bedeutet Erziehung nach Auschwitz auch, sich mit der Erziehung vor Auschwitz auseinanderzusetzen: wie sah die Erziehung der Täter aus? Was hat sie als Individuen geprägt? Welches System hat sie hervorgebracht? Und inwiefern gibt es Kontinuitäten zwischen damals und heute? Adorno betonte besonders die Kontinuitäten zwischen der Gesellschaft vor dem Krieg und der der 1960er Jahre. Aber die Frage nach den Kontinuitäten muss auch heute wieder, oder immer noch, gestellt werden. Genauso wichtig wie das Lernen über die sozialen, politischen und kulturellen Umstände, die den Holocaust möglich gemacht haben, ist das Lernen über den Umgang mit den Tätern in der Nachkriegszeit. Den Lebensweg der Täter nach dem Krieg nachzuzeichnen kann zum Beispiel Anlass sein, die Nachkriegsgesellschaft und ihre Bereitschaft, einen Mantel des Schweigens über die Täter in ihrer Mitte zu breiten, kritisch zu analysieren. Die 77 | Zur Rolle der „Formel von der Banalität des Bösen“ in der Täterforschung vgl. Gerhard Paul: „‚Dämonen‘ – ‚Schreibtischtäter‘ – ‚Pfadfinder‘. Die Wandlungen des Bildes von NS-Tätern in Gesellschaft und Wissenschaft am Beispiel von Eichmann und Höß“, in: Oliver von Wrochem/Christine Eckel (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Berlin: Metropol 2016, S. 56–68.

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Dringlichkeit der Frage, inwiefern Täter-Opfer Dynamiken noch immer vorhanden sind, wird am Beispiel der Erinnerung an die Opfer der NS-„Euthanasie“ besonders deutlich. „Die einzige wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie“, schreibt Adorno, „die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“.78 Facing History and Ourselves ist ein erfolgreiches Projekt zur Geschichte der USA, das Adorno mit seiner wichtigsten Veröffentlichung Holocaust and Human Behavior beim Wort nimmt.79 In diesem Nachschlagewerk wird eine Vielzahl von Texten und Aktivitäten vorgestellt, mit deren Hilfe Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland genauer in den Blick genommen werden. Eingerahmt werden die Texte von zwei inhaltlich abstrakteren Kapiteln, „Das Individuum und die Gesellschaft“ und „Die Entscheidung, mitzumachen“, in denen es um Identität, Zugehörigkeit, Stereotypisierung und Verantwortung geht und in denen gezeigt wird, wie Geschichte für die Gegenwart Relevanz haben kann. In den Hauptkapiteln wird dann der historische Hintergrund vermittelt, gegliedert nach Themen wie 78 | Adorno: Erziehung nach Auschwitz, S. 265. 79 | Facing History and Ourselves ist ein kontinuierlich wachsendes globales Netzwerk, das pädagogisches Training und Materialien für den Unterricht, Workshops und Seminare zur Förderung von historisch-politischer Bildung, Toleranz und sozialem Engagement bereitstellt. In Deutschland wurde 1996 vom Fritz-Bauer-Institut mit Konfrontationen ein vergleichbares pädagogisches Konzept entwickelt, das zum Teil auf Facing History and Ourselves auf baut. Sechs Hefte der Reihe „Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust“ enthalten historische Quellen und andere Dokumente zu Themen wie beispielsweise dem Alltag im Nationalsozialismus oder den von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppen (Heft 3–5). Zu Berichten der Opfer kommen historische Informationen über die Täter. Ähnlich wie bei Facing History ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fest in der Gegenwart verwurzelt. In den ersten beiden Heften, „Identität“ und „Gruppe“, geht es um aktuelle Themen wie Identität, Entscheidungsfindung, Gruppendynamiken und Toleranz gegenüber anderen Menschen und Sichtweisen. In beiden Konzepten wird die Rolle des Einzelnen bei der Gestaltung der Geschichte betont. In Italien stellt Scuola e Shoah, vom Ministero della Pubblica Istruzione entwickelt, ein Onlineportal mit Links und Veranstaltungen im Zusammenhang mit Gedenkterminen für Lehrer zur Verfügung. Das Ministerium veranstaltet außerdem seit 2003/2004 alljährlich einen landesweiten Wettbewerb für Schulklassen, der I giovani ricordano la Shoah (Die Jugend erinnert sich an die Shoah) heißt, bei dem Schulklassen Kunstwerke einreichen, die sich mit der Geschichte und Erinnerung an den Holocaust auseinandersetzen. Die Schülerinnnen und Schüler werden besonders ermutigt, sich mit der lokalen Geschichte des Faschismus in ihrer jeweiligen Gegend zu befassen, historische Quellen und Zeitzeugenberichte zu sammeln, lokale Archive zu besuchen und literarische Darstellungen der Vergangenheit zu lesen. Wie Michele Sarfatti bemerkt, ist es bedeutsam, dass sich der Wettbewerb „auf die Erinnerung beruft und nicht auf die Bildung“ (Sarfatti: „Die Shoah in Italien“, S. 50).

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Konformität und Gehorsam oder Bevölkerungsgruppen wie Zuschauer und Retter. Im Kapitel über den Holocaust findet sich ein kurzer Ausschnitt aus Gitta Serenys bahnbrechendem Buch Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, das auf ausführlichen Interviews mit Franz Stangl nach seiner Verurteilung im Jahr 1971 basiert. Serenys Buch ist ein frühes und wichtiges Beispiel der Täterforschung, in dem, basierend auf Stangls beruflicher Lauf bahn, die Verbindung zwischen dem „Euthanasie“-Programm und dem Holocaust sehr überzeugend veranschaulicht wird. Das Modul soll es Schülern ermöglichen, sich auf einer ganz anderen, aber wichtigen Ebene mit den Tätern auseinanderzusetzen: Sie werden angeregt darüber nachzudenken, was wir von den Tätern lernen können. Der Gedanke, dass man von Männern wie Eichmann oder Stangl etwas lernen könnte, mag beunruhigend sein, aber vielleicht ist ein wenig innere Unruhe genau das, was nötig ist, um Besucher von Gedenkstätten aus ihrer Distanziertheit oder sogar Selbstzufriedenheit herauszureißen. Wie der Historiker Volkhard Knigge schreibt, sollte das Ziel der pädagogischen Arbeit an Erinnerungsorten eine „willentliche und bedachte Selbstbeunruhigung [sein], die in Verantwortung umschlagen soll“.80 Mit anderen Worten: Wir können nur dann auf jene Geschehnisse in ethisch angemessener Weise reagieren, wenn wir zulassen, dass sie uns beunruhigen und verunsichern. Je weiter wir uns zeitlich vom Holocaust entfernen, desto schwieriger wird es, künftigen Generationen dessen Relevanz zu erklären. Dass es Schülern, die in der Risiera mit dem Schrein unbekannter Opfer und gesichtslosen, undurchschaubaren Tätern konfrontiert werden, nicht gelingt, einen Zusammenhang zwischen der Geschichte, an die dort erinnert wird, und ihrem eigenen Leben herzustellen, ist nicht überraschend. Wenn Besucher aber etwas über die Kräfte und Mechanismen erfahren, von denen die Demokratie in Deutschland und Italien zersetzt wurde, kann es sein, dass sie feststellen, dass viele dieser Faktoren nach wie vor eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen.

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Auch wenn man die Täter noch so tief begräbt, scheinen sie einfach nicht verschwinden zu wollen. So ist Christian Wirth seit seinem Tod wie ein Gespenst mehrfach wieder aufgetaucht. 1944 wurde er mit militärischen Ehren auf dem deutschen Militärfriedhof in Opicina bei Triest beerdigt. Zum ersten Mal tauchte sein Name in den späten 1980er Jahren im Rahmen einer Debatte über den zentralen deutschen Militärfriedhof in der Nähe des Gardasees, in Costermano, wieder auf. Man hatte diesen Friedhof zwischen 1955 und 1967 angelegt, um die 80 | Volkhard Knigge: „Abschied von der Erinnerung. Zum notwendigen Wandel der Arbeit der KZ-Gedenkstätten in Deutschland“, in: Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 136–143, hier S. 143.

Kapitel 4

sterblichen Überreste der fast 22.000 deutschen Kriegsgefallenen dort zu versammeln, deren Gräber über ganz Italien verstreut waren, und so einen gemeinsamen Ort der Trauer und des Gedenkens entstehen zu lassen. Unter den Soldatengräbern sind auch die von drei SS-Offizieren, die alle an der „Aktion T4“, der „Aktion Reinhard“ und dem „Einsatz R“ beteiligt waren: Franz Reichleitner (nach Stangl Kommandant des Vernichtungslagers Sobibor), Gottfried Schwarz (stellvertretender Kommandant des Vernichtungslagers Belzec) und Christian Wirth, dessen sterbliche Überreste 1959 nach Costermano überführt worden waren. Es stellte sich außerdem heraus, dass in Costermano weitere 31 SS-Offiziere und mehrere hundert SS-Männer von niedrigeren Dienstgraden beerdigt sind, darunter auch Mitglieder der Waffen-SS, die für Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung verantwortlich waren. Außerdem befinden sich auf dem Friedhof die Gräber einiger deutscher Deserteure, die versucht hatten, sich den italienischen Partisanen anzuschließen, und in der Folge von den Nationalsozialisten hingerichtet worden waren.81 Wenn also Deutsche zum alljährlichen Gedenktag nach Costermano kommen, um dort gefallene Soldaten zu ehren und ihrer zu gedenken, dann ehren sie, wenn auch vielleicht unwissentlich, zugleich Menschen, die Massenmorde organisiert und durchgeführt haben. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge veranstaltet jeden Sommer „Workcamps“ (sic!) in ganz Deutschland und im Ausland, bei denen deutsche Jugendliche mit der Instandhaltung von Gräbern deutscher Soldaten betraut werden, darunter natürlich auch das Grab von Christian Wirth. Im Jahr 1988 sorgte Manfred Steinkühler, damals deutscher Generalkonsul in Mailand, für Diskussionen, als er sich weigerte, an der alljährlichen Gedenkveranstaltung auf diesem Friedhof teilzunehmen, solange die Überreste von Wirth und seinen beiden Mittätern nicht entfernt und ihre Namen von den Grabsteinen, aus dem Gedenkbuch und aus dem Friedhofsregister gelöscht würden. Der Volksbund weigerte sich, diesen Forderungen nachzukommen, und bestand auf dem international verbürgten „fortdauernden Ruherecht“, das seit dem Ersten Weltkrieg für alle Kriegstoten gilt, auf der Funktion von Soldatengräbern als „Aufruf zu Verständigung und Frieden“ und darauf, dass diese Männer im Dienst für ihr 81 | Vgl. Wolfgang Häberle: „Im Tod vereint? Zur nötigen Debatte über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“, in: Die Demokratische Schule. Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im DGB (2009), S. 13–15. Zur Debatte: Ibio Paolucci: „Tre criminali nazisti della Risiera nel cimitero tedesco di Costermano“, in: Adolfo Scalpelli (Hrsg.): San Sabba. Istruttoria e processo per il lager della Risiera. Trieste: Edizioni Lint 1995, S. 235–241; Hansjakob Stehle: „In ewiger Ruhe das Ungeheuerliche. Der Grabstein des Sturmbannführers Wirth in Costermano bleibt ein Stein des Anstoßes“, in: Die Zeit vom 08.11.1991; ders: „Die Mörder bleiben in Ehren. Auch die neue Gedenktafel auf dem deutschen Soldatenfriedhof von Costermano trennt die Täter nicht deutlich von den Opfern“, in: Die Zeit vom 13.11. 1992; Helmut Lorscheid: „Täter zu Opfern gemacht. Heldengedenken auf ewig“, in: Telepolis (2003). https://heise.de/-3432095 (letzter Zugriff: 7. September 2017)

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Land gestorben seien.82 Trotz Steinkühlers wiederholt beim deutschen Außenministerium eingereichten Petitionen geschah nichts. Die Debatten zogen sich während des ganzen nächstes Jahres hin. Die italienische Regierung bekundete unverzüglich ihre Solidarität mit Steinkühler und forderten ebenfalls, dass die sterblichen Überreste der drei Täter entfernt würden. Im November 1989 wurde die Gedenkveranstaltung abgesagt; 1990 weigerte sich Steinkühler ein weiteres Mal, an der Veranstaltung teilzunehmen und ging 1991 vorzeitig in den Ruhestand – ein letzter, ebenfalls wirkungslos verhallender Protest. Zwischen gefallenen Soldaten, Dissidenten und Massenmördern wurde weiter keine Trennlinie gezogen, und jede Erklärung blieb aus. 1992 gab der Volksbund schließlich dem Druck zahlreicher italienischer und deutscher Initiativen nach, brachte im Eingangsbereich des Friedhofs eine Gedenktafel an und entfernte die Namen der drei Haupttäter aus den Gedenkbüchern. Auf der neu angebrachten Tafel steht: „Wir gedenken in Trauer der Opfer von Krieg, Unrecht und Verfolgung. Sie mahnen uns zu Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern“.83 Da die Inschrift so vage wie nur möglich formuliert ist und nicht deutlich wird, wer dort begraben liegt, leistet diese Tafel keinen Beitrag zur Erklärung der spezifischen Problematik von Costermano. Im Gegenteil könnte sie sogar den falschen Eindruck erwecken, dass unter den Toten auch Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sind. Als deutlich wurde, dass die Überreste von Wirth und seinen Männern in Costermano bleiben würden, schlug die deutsch-italienische Initiative Für die Erinnerung in Costermano vor, eine zusätzliche Gedenktafel anzubringen, die ein differenzierteres Bild von den historischen Tatsachen zeichnen sollte: Auf diesem Friedhof sind einige Verantwortliche der Judenvernichtung in Europa und der Tötung von Schwachen und Kranken beerdigt. Wir gedenken ihrer Opfer. Wir gedenken auch der Männer, Frauen und Kinder, die in Italien von den deutschen Besatzern ermordet wurden, und der Hunterttausende [sic] italienischer Zivilisten und Soldaten, die unter unmenschlichen Bedingungen in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten oder in den Konzentrationslagern starben. Auf diesem Friedhof liegen auch deutsche Soldaten, die den nationalsozialistischen Krieg ablehnten. Sie wurden als Verräter oder Deserteure von der Wehrmacht erschossen. Einige hatten mit den italienischen Partisanen weitergekämpft. Sie alle werden wir dankbar in Erinnerung behalten. 84

Dieser Vorschlag wurde nicht aufgegriffen, und bis heute ist keine entsprechende Tafel oder Inschrift angebracht worden. Es dauerte weitere drei Jahre, bevor der 82 | Vgl. Stehle: „In ewiger Ruhe das Ungeheuerliche“. 83 | Vgl. Hansjakob Stehle: „Die Mörder bleiben in Ehren“, in: Die Zeit vom 13.11.1992. 84 | Vgl. Matthias Brieger: „Wenn Steine reden könnten ...“, in: La Resistenza. Beiträge zu Faschismus, deutscher Besatzung und dem Widerstand in Italien 3 (2006), S. 72–73.

Kapitel 4

Volksbund in Reaktion auf die Debatte und die vorgebrachte Kritik im Eingangsbereich des Friedhofs einen Informationstext anbrachte, in dem der historische Kontext der deutschen Besatzung von Italien beschrieben und genauer darauf eingegangen wird, wer auf diesem Friedhof begraben liegt: Auch wenn seit der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 mehr als sechzig Jahre vergangen sind, hat man die Ereignisse auf dem italienischen Kriegsschauplatz noch nicht umfassend erforscht. Es ist nicht auszuschließen, daß unter den 22.000 hier begrabenen Soldaten auch solche sind, die an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt waren. Gegenwärtig weiß man jedoch, daß einige SS-Funktionäre, die hier begraben liegen, aktiv und verantwortlich an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung im besetzten Polen und Italien mitgewirkt haben – allen voran Christian Wirth als Inspekteur der Vernichtungslager. Diese Männer waren abkommandiert worden, um die Verfolgung von Juden und Partisanen im Nordosten Italiens und in Istrien in die Wege zu leiten. Die hier liegenden Toten mahnen uns zu Frieden und Versöhnung. Auch die Schuldigen, die hier begraben sind, mögen ihre letzte Ruhe finden, obwohl sie unaussprechliches Leid über viele Menschen und ihre Familien gebracht haben. Ihre Verbrechen sind uns jedoch zugleich Aufforderung, aus der Geschichte zu lernen und auch unter schwierigen Umständen stets für die Achtung der Menschenrechte und -würde einzutreten. 85

So sehr man sich hier um eine präzise Formulierung bemüht hat und darum, möglichst offen mit einer untragbaren Situation umzugehen, lässt sich die Ratlosigkeit darüber, wie mit Tätern umgegangen werden sollte, die einfach nicht verschwinden wollen, nur notdürftig übertünchen. Die Worte, die vor dem Eingang des Friedhofs angebracht wurden, können die ewige Ruhe derer, die dort begraben sind, nicht stören. Die Rhetorik der Ehre, die auf dem Friedhof verwendet wird, bleibt davon unberührt. Durch Begriffe wie „Totenehrung“, „Ehrenmal“, „Ehrenhalle“ und „Ehrenbuch“ wird weiter ein selektives Erinnern begünstigt, in dessen Rahmen der historische Kontext und die Unterschiede zwischen den Menschen, die dort begraben sind, verwischt werden. Christian Wirths Grab befindet sich nach wie vor in Castermano, mit der Inschrift: „Christian Wirth 1885–1944“. Jeden Sommer bietet der Volksbund in Costermano sogenannte Workcamps an. Dort sollen junge Menschen zum Folgendem angeregt werden: Kritische Fragen stellen, die Spuren der Geschichte suchen, Eindrücke verarbeiten und zusammen darüber nachdenken: Wie konnte das damals passieren? Welchen Bezug habe ich zu jener Zeit? Was heißt Frieden für mich? Welche Verantwortung können wir heute übernehmen. 86

85 | http://www.volksbund.de/kriegsgraeberstaette/costermano.html (letzter Zugriff: 7. September 2017).

86 | http://www.volksbund.de/jugend-bildung/gs-workcamps.html (letzter Zugriff: 7. September 2017).

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Laut der Website des Volksbunds sind diese Workcamps sehr beliebt und die Fahrten nach Costermano gewöhnlich voll ausgebucht. Auch dies ist natürlich eine Form der Erinnerungsarbeit und der politisch-historischen Bildung, vor allem, wenn es zutrifft, dass die Teilnehmer dazu angeregt werden, sich mit Fragen wie den eben zitierten auseinanderzusetzen. Der Volksbund organisiert in mehr als einem Dutzend europäischer Länder camps dieser Art (überall dort, wo es deutsche Militärfriedhöfe gibt) und setzt sich aktiv für mehr Toleranz und interkulturellen Austausch ein. Es stellt sich aber die Frage, ob die Teilnehmer von den Debatten über die mit Costermano zusammenhängenden Erinnerungen überhaupt erfahren. Wird ihnen erzählt, wer Christian Wirth war? Wird man sie anregen, genauer über das Paradox dieses Erinnerungsortes nachzudenken? Wenn wir uns die Debatten um den Friedhof bei Costermano ansehen, sehen wir eine der größten Herausforderungen für die Erinnerungskultur in Deutschland und Italien: Zu jedem ernsthaften Versuch, das Erbe des Faschismus zu bewältigen, gehört es, eine angemessene Art und Weise dafür zu finden, sich mit den Tätern auseinanderzusetzen.

2. Teil

Kapitel 5

Unheimliche Heimat II: Triest und die Geburt einer „italienischen Tragödie“ Wir befinden uns in einer „Collage“, in der nichts in die Vergangenheit versunken ist und keine Wunden von der Zeit geheilt wurden, in der alles präsent ist, offen und bitter, in der alles nebeneinander existiert: das Habsburgerreich; Faschismus und 1945; Sehnsucht nach einer imperialen Vergangenheit; Nationalismus und Separatismus; italienische Patrioten mit slawischen Familiennamen und umgekehrt; mürrische Slowenen und liberale Nationalisten, die von den sechs Zeitzonen der slawischen Welt besessen sind, die an den Stadttoren beginnt; Erinnerungen an den istrischen Exodus und Intoleranz gegenüber seinen Opfern; die sture Weisheit des jüdischen Mitteleuropas; die widerspenstige Intelligenz der Slowenen und die epische und ruhige Intelligenz der Friauler; der Kult der „italianità“, der Italien vorwirft, nicht das echte Italien zu sein und Triests Liebe zu Italien nicht zu verstehen, was damit endet, dass man nichts mehr mit den Italienern zu tun haben will. 1

Zum ersten Mal habe ich Triest im Sommer 2007 besucht, um die Geschichte der Stadt während des Zweiten Weltkriegs sowie den Umgang mit der Erinnerung daran zu untersuchen. Als ich auf der Autostrada 4 von Venedig nach Triest fuhr, kam ich an Schildern vorbei, die die Besucher auf all die Sehenswürdigkeiten in und um die Stadt hinwiesen: Naturdenkmäler wie die Grotta Gigante, die größte für Besucher zugängliche Tropfsteinhöhle der Welt, das kleine Küstendorf Duino mit seinem Schloss und den Steilklippen, die den Dichter Rainer Maria Rilke zu 1 | Claudio Magris: „I luoghi della scrittura: Trieste“, in: Ders.: Itaca e oltre. Milano: Garzanti 2005 (zuerst 1992), S. 278–284, hier S. 282.

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den Duineser Elegien inspirierten, das romantische Schloss Miramare, das auf eine Felsenklippe direkt im Golf von Triest gebaut ist, und natürlich die vielen Sehenswürdigkeiten, die die Stadt selbst zu bieten hat, von den alten römischen Ruinen und der mittelalterlichen Burg bis hin zur prachtvollen Uferpromenade und der Piazza Unità d’Italia, die majestätische Gebäude der Habsburgerzeit säumen. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich fand keine Wegweiser zur Risiera di San Sabba, dem ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager, das heute eine Gedenkstätte ist.2 Ich wusste, dass es sich im Industriegebiet im Süden der Stadt befindet. Aber als ich die Autostrada verließ, fiel mein Navigationsgerät aus und statt der Straßen zeigte es mir nur unbestimmtes grünes Niemandsland an. Ich fragte ein paar Passanten nach dem Weg, aber es dauerte eine Weile, bis ich jemanden fand, der ihn mir zeigen konnte. Während die meisten Touristen nach Triest kommen, um den bröckelnden Glanz des ehemaligen Seehafens der Habsburger zu besichtigen, suchte ich die Überreste eines ganz anderen Triests, die von Faschismus, der Besatzung durch die Nationalsozialisten und dem Beginn des Kalten Krieges erzählen. Seit dem Zerfall des Habsburgerreiches ist die kulturelle und nationale Identität Triests Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen. Direkt im Osten und Süden von Triest liegt das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Nur über eine schmale Landzunge mit dem italienischen Festland verbunden, ist Triest in vielerlei Hinsicht ein Vorposten Italiens, eine Grenzstadt, in der mehrere Sprachen und Kulturen zusammentreffen. Wegen seiner politischen und räumlichen Randlage wurde die italienische Identität von Triest immer wieder infrage gestellt. Genau deshalb bietet die Untersuchung der Geschichte der Stadt eine einzigartige Perspektive auf die Herausbildung und Verhandlung einer italienischen Nationalidentität. Um Italiens Verhältnis zu seiner Vergangenheit nachvollziehen zu können, muss man jene Orte untersuchen, wo die Vergangenheit am härtesten umkämpft ist. Seit den 1990er Jahren hat sich Triest von einer Art isoliertem und vergessenem Relikt der Habsburgerzeit zu einem Brennpunkt der italienischen Erinnerungspolitik entwickelt. Eingekeilt zwischen den nationalen Narrativen Italiens, Sloweniens und Kroatiens sowie dem Erbe des Habsburgerreiches, des italienischen Faschismus, der Besatzung durch die Nationalsozialisten und der Bedrohung durch den Kommunismus in der Folge des Zweiten Weltkrieges wird die Erinnerung der Region von den Vertretern unterschiedlicher Gruppen als bitterer und unlösbarer Wettstreit zwischen polaren Gegensätzen wahrgenommen. Dabei ist es angemessener, diese Erinnerung als ihrem Wesen nach multidirektional zu sehen. Eine solche Perspektive auf die Geschichte und die Erinnerungskultur dieser Region erhellt zudem die interne Multidirektionalität des italienischen Nationalgedächtnisses, der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. 2 | Bei meinem letzten Besuch in Triest im Sommer 2010 stellte ich fest, dass dieser Mangel behoben worden war. Es gab jetzt im Stadtzentrum Wegweiser zur Risiera.

Kapitel 5

Zwei Orte verkörpern diesen scheinbar bilateralen Kampf um die Erinnerung in der Region besonders: Der erste ist die Risiera di San Sabba, wo zwischen 1943 und 1945 Tausende Slowenen, Kroaten, Juden und italienische Antifaschisten eingesperrt, ermordet oder vor der Deportation festgehalten wurden. Die Risiera wurde 1965 zum Nationaldenkmal erklärt und in ihrer heutigen Form, gestaltet von dem Triester Architekten Romano Boico, 1975 eingeweiht. Als eines der Musei Civici Trieste, der städtischen Museen Triests, empfängt sie etwa 100.000 Besucher pro Jahr, v.a. Italiener und hauptsächlich Schulklassen. Die Einheimischen kommen vor allem am 25. April zur Risiera, dem Jahrestag der Befreiung Italiens, um das Ende des Zweiten Weltkrieges zu feiern, sowie am 27. Januar, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, in Italien Giorno della memoria, um dem Holocaust in Italien sowie der Deportation von politischen Häftlingen und Kriegsgefangenen in Konzentrationslager der Nationalsozialisten zu gedenken.3 Von den Orten zur jüngeren Geschichte Triests war die Risiera lange Zeit der mit den meisten Besuchern.4 Seit Ende der 1990er Jahre und vor allem seit 2007 hat sich dies geändert, denn eine andere Gedenkstätte in der Nähe zieht jetzt jedes Jahr Zehntausende Besucher an. Nur ein paar Kilometer von der Risiera entfernt liegt die Foiba di Basovizza, das Nationaldenkmal für die Opfer der Massentötungen, die zwischen 1943 und 1945 durch jugoslawische Partisanen in der Region verübt wurden. Die Leichen der Opfer, darunter auch italienische Zivilisten, wurden in tiefe, höhlenartige Gruben in den Bergen der Region geworfen, die „foibe“ genannt werden.5 Diese Tötungen sind Gegenstand bis heute laufender hitziger Debatten, und weder die Historiker noch die Öffentlichkeit haben sich auf eine „Wahrheit“ über die Foibe-Massaker geeinigt: Während die historischen Quellen die Opferzah3 | Zu den sehr umstrittenen Gedenkfeierlichkeiten am Tag der Befreiung vgl. Martin Purvis/ David Atkinson: „Performing Wartime Memories: Ceremony as Contest at the Risiera di San Sabba Death Camp, Trieste“, in: Social and Cultural Geography 10.3 (2009), S. 337–356. Eine umfassende Analyse der Ursprünge des Giorno della memoria, des Gesetzes zu dessen Einführung und der Berichterstattung in den Medien zur Gedenkveranstaltung 2001 liefert Robert S.C. Gordon: „The Holocaust in Italian Collective Memory: Il ‚Giorno della memoria‘, 27 January 2001“, in: Modern Italy 11.2 (2006), S. 167–188.

4 | Für das Jahr 2015 wurde eine Rekordzahl von 112.000 Besuchern vermeldet. Vgl.: http:// www.risierasansabba.it/giorno-della-memoria-2016/ (letzter Zugriff: 10. Juli 2017).

5 | „Foiba“ (pl. „foibe“) war ursprünglich ein Begriff aus der Geologie für tiefe, durch Wassererosion entstandene Senklöcher oder Karsttrichter. 1943 wurde der Begriff von der faschistischen Presse übernommen und im Zusammenhang mit den durch die Jugoslawen verübten Massentötungen verbreitet. Seither sind diese Massaker unter dem Sammelbegriff „le foibe“ bekannt (vgl. Marta Verginella: „Geschichte und Gedächtnis. Die Foibe in der Praxis der Aushandlung der Grenzen zwischen Italien und Slowenien“, in: Luisa Accati/Renate Cogoy (Hrsg.): Das Unheimliche in der Geschichte. Die Foibe. Beiträge zur Psychopathologie historischer Rezeption. Berlin: Trafo 2007, S. 25–76, hier S. 56–57).

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len auf 1.500 bis 2.000 schätzen, kursieren in der Bevölkerung Zahlen zwischen 10.000 und 30.000.6 Die Foiba di Basovizza im Karst östlich von Triest wurde 1992 zum Nationaldenkmal erklärt und von 2006 bis 2007 umfassend künstlerisch und architektonisch umgestaltet. Seitdem zieht die Gedenkstätte, deren Träger auch die Stadt Triest ist, jeden Monat Zehntausende von Besuchern an: Im Mai 2011 berichtete die lokale Tageszeitung Il Piccolo dass 254.000 Personen die Foiba di Basovizza besucht haben, seit das Dokumentationszentrum im Februar 2008 eröffnet wurde. Davon kamen über 51.000 Besucher allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2011 – gut doppelt so viele wie 2008.7 Wie bei der Risiera kommen die meisten Besucher der Foiba di Basovizza aus Italien, und meistens fahren Schulklassen, die die Risiera besuchen, auch zur Foiba, oft am selben Tag. Umgekehrt scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein, denn die Foiba di Basovizza hat inzwischen mehr Besucher pro Jahr als die Risiera: Offensichtlich fährt nicht jeder Besucher der Foiba auch zur Risiera. Die komplexe Beziehung zwischen diesen beiden Gedenkstätten tritt noch deutlicher zutage, wenn wir uns die jeweils wichtigste Gedenkveranstaltung an jedem der Orte ansehen. Der Giorno della memoria erinnert nicht nur an die „Judenvernichtung, die Rassengesetze [und] Italiens Verfolgung seiner jüdischen Mitbürger“, sondern auch an jene „Italiener, die deportiert, eingesperrt und getötet wurden“,8 also politische Häftlinge und Kriegsgefangene, die in Konzentrationslager der Nationalsozialisten deportiert wurden. Auch wenn das Gesetz zur Einführung des Giorno della memoria explizit die Opfer des italienischen Antisemitismus zwischen 1938 und 1943 mit einschließt, genauso wie die Kollaboration mit den nationalsozialistischen Besatzern nach 1943, liegt das Hauptaugenmerk während der Gedenkveranstaltungen am 27. Januar ausschließlich auf den Verbrechen der Nationalsozialisten sowie den Deportationen und Verfolgungen während der deutschen Besatzung.9 Darüber hinaus verschleiert die Tatsache, dass im Erinnerungsdiskurs Juden, italienische Zwangsarbeiter, Partisanen und Soldaten unter dem Begriff „Depor-

6 | Vgl. Renate Cogoy: „Einführung“, in: Ebd., S. 9–24, hier S. 17–18. 7 | Vgl. Laura Tonero: „Foiba di Basovizza, 51 mila visite in 4 mesi“, in: Il Piccolo vom 7. Mai 2011, S. 40. Die große Mehrheit der Besucher sind Schulklassen, vgl. Fabio Dorigo: „Boom delle gite scholastiche: Alla Foiba 12mila studenti“, in: Il Piccolo vom 20. April 2012. Im April 2014 berichtete Il Piccolo von mehr als 500.000 Besuchern für den Zeitraum von April 2008 bis März 2014. Vgl. Matteo Unterweger: „Visitatori radoppiati alla Foiba di Basovizza“, in: Il Piccolo vom 23. April 2014.

8 | Parlamento Italiano: „Legge 20 luglio 2000, n. 211: Istituzione del ‚Giorno della Memoria‘ in ricordo dello sterminio e delle persecuzioni del popolo ebraico e die deportati militari e politici italiani nei campi nazisti“, in: Gazzetta Ufficiale Jg. 141, Nr. 177 (2000), S. 3; vgl. Gordon: „Giorno della memoria“.

9 | Vgl. Nattermann: „Von der Erinnerung der Überlebenden zur kritischen Forschung“, S.27–28.

Kapitel 5

tierte“10 zusammengefasst werden, nicht nur die Unterschiede zwischen den Opfern rassistischer und politischer Verfolgung, sie fördert auch die weit verbreitete Tendenz, die Verantwortung für die Verfolgung allein auf die Nationalsozialisten abzuwälzen. Das wird durch italienische Fernsehfilme verstärkt, in denen Juden von „guten“ Italienern versteckt und gerettet werden, zum Beispiel Perlasca – un eroe italiano, der am 28. und 29. Januar 2002 zum zweiten Giorno della memoria vom öffentlich-rechtlichen Sender Rai ausgestrahlt wurde.11 Die Foiba di Basovizza ist die wichtigste Gedenkstätte für den Giorno del ricordo, einen 2004 eingeführten nationalen Gedenktag nur zwei Wochen nach dem Giorno della memoria am 10. Februar, der an die sogenannte italienische Tragödie erinnert: die Foibe-Tötungen und die Massenauswanderung von 200.000 bis 350.000 Italienern aus Istrien und Dalmatien in den Jahren nach 1945, die durch die Einschüchterung durch die jugoslawische Regierung ausgelöst wurde.12 Im Gegensatz zum ersten offiziell begangenen Giorno della memoria 2001 war der erste Giorno del ricordo 2005 ein sorgfältig inszeniertes Medienereignis. An den beiden vorhergehenden Abenden zeigte die nationale Rundfunkanstalt Rai das zweiteilige Melodrama Il cuore nel pozzo, das die Geschichte einer fiktiven italienischen Familie aus Istrien erzählt, die durch jugoslawische Partisanen Gewalt erleidet und vertrieben wird.13 Mehr als 16 Millionen Zuschauer sahen den Zweiteiler, und am nächsten Tag wohnten Tausende den Gedenkfeiern in Triest, Rom, Turin und anderen italienischen Städten bei. In den Folgejahren nahm die Aufmerksamkeit der Medien noch zu, und im Vorfeld des 10. Februar werden 10 | Zur Zusammenfassung all dieser verschiedenen Gruppen unter der Sammelbezeichnung „Deportierte“, die im öffentlichen Diskurs in den Nachkriegsjahrzehnten üblich war, vgl.: Anna Bravo: „Der Umgang mit der Shoa in Italien“, in: Rolf Steininger/Ingrid Böhler (Hrsg.): Der Umgang mit dem Holocaust: Europa – USA – Israel. Wien: Böhlau 1994, S. 347– 369, hier S. 350–355.

11 | Der Film erzählt die Geschichte des Faschisten Giorgio Perlasca, der Tausende ungarische Juden rettete. Fast 13 Millionen Zuschauer sahen den Film und Perlasca wurde zum Inbegriff des guten Faschisten (vgl. Aram Mattioli: Viva Mussolini! Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Paderborn: Schöningh 2010, S. 91–92). Ich gehe in Kapitel 6 genauer auf den Film ein.

12 | Der Giorno del ricordo wurde am 30. März 2004 per Gesetz eingeführt. §1(1) lautet: „Die Republik erklärt den 10. Februar zum ‚Tag des Gedenkens‘, um die Erinnerung an die Tragödie des italienischen Volkes und alle Opfer der ‚foibe‘, den Exodus aus Istrien, Fiume und Dalmatien nach dem Zweiten Weltkrieg und die komplexere Frage der Ostgrenze zu erhalten und erneuern“. Parlamento Italiano: „Legge 30 marzo 2004, n. 92: Istituzione del ‚Giorno del ricordo‘ in memoria delle vittime delle foibe, dell’esodo giuliano-dalmata, delle vicende del confine oreintale e concessione di un riconoscimento ai congiunti degli infoibati“, in: Gazetta Ufficiale Jg. 145, Nr. 86 (2004), S. 4.

13 | In Kapitel 6 bespreche ich den Film und seine Bedeutung für die italienische Erinnerungskultur genauer.

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bis heute zahlreiche Dokumentarfilme, Interviews und Talkrunden auf privaten und öffentlichen Sendern und im Radio gesendet. Zusätzlich finden anlässlich des Giorno del ricordo Ausstellungseröffnungen, Buchveröffentlichungen und Vorträge statt. Die starke Ähnlichkeit der Bezeichnungen und ihre zeitliche Nähe machen es schwer, den Giorno della memoria (27. Januar) und den Giorno del ricordo (10. Februar) genau voneinander zu unterscheiden – und in der Tat gibt es Grund zu der Annahme, dass diese Ähnlichkeit beabsichtigt ist. Tatsächlich ist die geographische und zeitliche Nähe dieser beiden Gedenkprojekte nicht historisch bedingt, sondern eher von politischen Interessen und dem bewussten Versuch geleitet, die Koordinaten der nationalen Erinnerung zugunsten eines besonderen italienischen Narrativs zur Betonung der Unschuld und der Opferrolle zu verschieben. Dem internationalen Giorno della memoria nachempfunden, ist der Giorno del ricordo ein „hausgemachter“, rein italienischer Gedenktag, der die Italiener, die während der Foibe-Massaker starben, als Opfer eines Genozids darstellt, wie auch in dem Slogan „Infoibati, perché italiani“14 deutlich wird. In diesem Zusammenhang wird von den Opfern der Foibe inzwischen auch oft als „Märtyrern“ gesprochen, und in vielen italienischen Städten einschließlich Triest wurden Straßen nach den Martiri delle Foibe benannt. Diese Bezeichnung hebt nicht nur die Unschuld der Opfer hervor, sondern auch die gewollte religiöse Dimension des Erinnerungsdiskurses, in dem die „foibe“ als heilige Schreine für das Opfer der Italiener dargestellt werden. Dieses Narrativ italienischer Unschuld wird durch populäre Darstellungen verstärkt, zum Beispiel die Memoiren istrischer Auswanderer oder Bilder wie das des kleinen Mädchens mit einem Koffer, das alljährlich auf offiziellen Ankündigungsplakaten zum Giorno del ricordo abgebildet wird. Dies ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie diejenigen, die die Erinnerung an die Foibe wachhalten wollen, sich der geläufigen Ikonographie der Judenverfolgung während des Holocaust bedienen, um die Opfer der Foibe mit denen der Nationalsozialisten in Beziehung zu setzen.15 Dieser Vergleich ist nicht 14 | Das Verb „infoibare“ bedeutet wörtlich übersetzt „jmd. in eine Foiba werfen“. Frei übersetzt heißt der Slogan somit etwa „in den ‚foibe‘ getötet, weil sie Italiener waren“. Eine solche essenzialisierende Rhetorik ist in Bezug auf die Foibe besonders problematisch, denn in einer multiethnischen Region, die jahrzehntelang einer Zwangs-„Italienisierung“ unterworfen war, ist es keineswegs immer eindeutig, wer Italiener ist und wer nicht. (Vgl. Vanni D’Alessio: „Dynamics of Identity and Remembrance in Trieste: Esodo, Foibe, and the Complex Memory of Italy’s Oriental Border“, in: Davor Pauković/Vjeran Pavlaković/Višeslav Raos (Hrsg.): Confronting the Past: European Experiences. Zagreb: Political Science Research Centre Zagreb 2012, S. 285–315, hier S. 302–303.)

15 | 2008 wurde in Rom ein Denkmal für die Opfer der Foibe eingeweiht und 2010 gab es die Sonderausstellung Gli italiani dell’esodo: testimonianze di immagini e oggetti (Die Italiener des Exodus: Zeugnisse in Bildern und Objekten), sie wurde im Gebäude der Abgeordnetenkammer gezeigt. Großformatige Familienfotos von istrischen Vertriebenen bedeckten die Wände

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Abbildung 10: Plakat zum Giorno del ricordo.

Quelle: Associazione Nazionale Venezia Giulia e Dalmazia (www.anvgd.it).

des Ausstellungssaals. In der Mitte des Raumes, unzugänglich, befand sich eine ungeordnete Auswahl an Gegenständen, die sinnbildhaft für die Flucht dieser Menschen stand: Koffer, Porzellan und Tafelsilber, gerahmte Fotos, ein Fahrrad, mehrere Stühle und ein Teddybär in einem Kinderwagen. Diese auratischen Objekte erinnern an ähnliche Darstellungen der Opfer des Holocaust.

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einmal immer nur implizit. Einige der einflussreichsten Verfechter des Gedenkens an die Foibe-Opfer haben die dortigen Ereignisse explizit als „italienischen Holocaust“ bezeichnet.16 Ein anderes, regelmäßig wiederkehrendes Bild auf diesen Plakaten ist eine Landkarte Italiens, auf der die verlorenen italienischen Territorien Istrien und Dalmatien (die heute zu Slowenien und Kroatien gehören) rot markiert sind und so die Territorialansprüche unterstreichen, die bei diesen Gedenkaktivitäten immer anklingen (Abb. 10). Tatsächlich wurde der Giorno del ricordo auf das Datum des Jahrestags der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit den Alliierten gelegt, mit dem Italien diese Regionen offiziell an Jugoslawien abtreten musste.17 Eine solche Darstellung regionaler Geschichte, die die nationale Opferrolle Italiens betont, blendet die vorangegangenen historischen Ereignisse aus, nämlich die Verfolgung von Slowenen und Kroaten durch die italienischen Faschisten. Darüber hinaus spielt das präsentierte Narrativ die Tatsache herunter, dass auch italienische Partisanen und deutsche Truppen die „foibe“ nutzten, um sich ihrer Feinde zu entledigen, und dass dort auch die sterblichen Überreste deutscher Soldaten gefunden wurden.18 Es unterschlägt ferner die Tatsache, dass mehrere Tausend Slowenen und Kroaten auf gleiche Weise bedroht wurden, weil 16 | Die Begriffe „olocausto italiano“ und „olocausto giuliano“ sind vor allem bei neofaschistischen Politikern beliebt und scheinen von Padre Flaminio Rocchi geprägt worden zu sein (vgl. Flaminio Rocchi: L’esodo dei 350 mila giuliani, fiumani ed dalmati. Roma: Difesa Adriatica 1998). Ähnliche Darstellungen findet man in den Arbeiten von Luigi Papo, Marco Pirina und Giorgio Rustia (vgl. Claudia Cernigoi: Operazione „Foibe“ tra storia e mito. Udine: Kappa 2005). Manche Historiker und Journalisten vertreten weniger polemische, aber doch im Wesentlichen ähnliche Ansichten. Giampaolo Valdevit zum Beispiel sieht die Foibe-Tötungen als Versuch der physischen Vernichtung des Feindes und somit als Akt der Gewalt, der mit Faschismus und Nationalsozialismus vergleichbar ist (vgl. Giampaolo Valdevit (Hrsg.): Foibe: Il peso del passato. Venedig: Marsilio 1997). Raoul Pupo interpretiert die Gewalttaten durch die Jugoslawen als „vorsorgliche Säuberung“, also als einen Teilaspekt des Bürgerkriegs in der Region, die somit der Konsolidierung des kommunistischen Regimes gedient habe (vgl. Raoul Pupo: Il lungo esodo. Istria: Le persecuzioni, le foibe, l’esilio. Mailand: Rizzoli 2005). Die Historiker Jože Pirjevec und Nevenka Troha sowie die Journalistin Claudia Cernigoi verstehen die Tötungen hingegen als Vergeltungsmaßnahmen für die Verfolgung während des nationalsozialistischen Faschismus (vgl. Jože Pirjevec: Foibe: Una storia d’Italia. Turin: Einaudi 2009; Nevenka Troha: „Fra liquidazione del passato e costruzione del futuro“, in: Giampaolo Valdevit (Hrsg.): Foibe. Il peso del passato. Venedig: Marsilio 1997, S. 59–98, hier S. 78–80; Cernigoi: Operazione „Foibe“).

17 | In ihrem Buch History in Exile hat Pamela Ballinger eine gründliche Analyse des historischen Hintergrundes der Massenauswanderung der istrischen Italiener sowie der verschiedenen Arten, wie die Erinnerung an diese Ereignisse seither interpretiert und instrumentalisiert wurde, vorgelegt. Vgl. Pamela Ballinger: History in Exile. Memory and Identity at the Borders of the Balkans. Princeton: Princeton University Press 2003.

18 | Vgl. Pirjevec: Foibe: Una storia d’Italia.

Kapitel 5

sie nicht hinter der neuen jugoslawischen Regierung standen und die daher ebenfalls aus Istrien auswanderten.19 Die Gedenkstätte Basovizza und der Giorno del ricordo sind das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung von Silvio Berlusconis Mitte-Rechts-Regierung, einen neuen nationalen Erinnerungsort zu etablieren.20 Die Erinnerung an die Foibe-Morde und den „Exodus“ aus Istrien, die zuvor hauptsächlich von Rechtsextremen wachgehalten wurde, ist innerhalb weniger Jahre vom Rand ins Zentrum des italienischen kulturellen Gedächtnisses gerückt. Im Folgenden untersuche ich genauer, welche Sicht auf lokale und nationale Geschichte, Erinnerung und Identität diese beiden Orte dem Besucher präsentieren. Die Risiera und die Foibe sind beide Teil desselben historischen Narrativs, das sie untrennbar verbindet. Die Foibe wurden und werden an wichtigen Punkten in der Erinnerungsgeschichte der Risiera sogar als eine Art „Gegenerinnerung“ ins Feld geführt. Dieser Aktions-Reaktions-Mechanismus bedeutet allerdings nicht, dass sie miteinander in Zusammenhang gesetzt werden können, ohne dabei ihre historischen Besonderheiten und Kontexte zu beachten. Die Probleme einer derartigen direkten Verknüpfung will ich anhand eines dritten Gedenkortes in Triest veranschaulichen, dem Parco della rimembranza im Stadtzentrum, wo Bäume und Steine mit Inschriften und Gedenktafeln ohne Unterscheidung an die Opfer beider Weltkriege, die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die Foibe-Tötungen erinnern. Der auf den ersten Blick demokratische Ort enthüllt den Besuchern allerdings seine eigene Geschichte nicht auf Anhieb. Er wurde nämlich 1925 von den Faschisten angelegt. Seither wurden mehr und mehr Gedenksteine hinzugefügt, die ein Narrativ italienischer Opferschaft konstruieren, das nicht nur alle Opfer, sondern auch die Täter gleich behandelt. Hauptziel der Risiera und der Foiba di Basovizza ist die Darstellung einer einheitlichen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und dessen unmittelbare Folgen. Auch wenn sie sich gegenseitig nicht völlig ausschließen, versucht doch jede dieser Erinnerungen, die Relevanz der anderen in der Öffentlichkeit kontinuierlich zu untergraben. Anstatt gemeinsam ein umfassenderes Bild der Regionalgeschichte anzubieten, behandeln diese beiden Orte ihre Version jeweils als endgültig. Die Anthropologin Pamela Ballinger schreibt: „Die rituellen Inszenierungen von Identität in Triest, wie sie an den Gedenkstätten der Risiera und der Foibe stattfinden, beanspruchen einen exklusiven Opferstatus.“21 Am Ende dieses Kapitels werde ich untersuchen, wie 19 | Vgl. zum Beispiel Cristiana Colummi/Liliana Ferrari/Gianna Nassisi/Germano Trani: Storia di un esodo Istria 1945–1956. Trieste: IRSML Friuli Venezia Giulia 1980; Marina Cattaruzza: L’Italia e il confine orientale 1866–2006. Bologna: Il mulino 2007.

20 | Vgl. Pamela Ballinger: „Who Defines and Remembers Genocide after the Cold War? Contested Memories of Partisan Massacre in Venezia Giulia in 1943–1945“, in: Journal of Genocide Research 2.1 (2000), S. 11–30.

21 | Pamela Ballinger: „Exhumed Histories: Trieste and the Politics of (Exclusive) Victimhood“, in: Journal of Balkan and Near Eastern Studies 6.2 (2004), S. 145–159, hier S. 146.

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eine multidirektionale Herangehensweise an diese „Erinnerungskriege“ einen Ausweg aus der gegenwärtigen verfahrenen Situation bieten könnte. Die Notwendigkeit, das Nullsummenspiel der unterschiedlichen Geschichtsversionen dieser Gedenkstätten zu durchschauen, ist umso dringender angesichts der Tatsache, dass beide die größeren Zusammenhänge jener Ereignisse, an die sie erinnern, vernachlässigen: die faschistische Politik der „Italienisierung“ vor und während der deutschen Besatzung Italiens und die Spannungen des Kalten Krieges. Die Konkurrenz zwischen der Risiera und der Basovizza führt so letzten Endes nur dazu, die Aufmerksamkeit von Italiens Rolle im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust abzulenken – und verschleiert so die Tatsache, dass beide Gedenkstätten Versionen der Geschichte präsentieren, die jeweils signifikante strategische Lücken aufweisen. Der Fokus sollte besser, wie ich zeigen werde, von diesen zentralen, prominenten Orten auf andere Gedenkstätten verlagert werden: weniger konstruierte, bislang unprivilegierte alltägliche Räume, die nichtsdestotrotz Spuren der Vergangenheit tragen und deren Geschichten dazu beitragen, das Bild der Geschichte und Erinnerung dieser Region zu vervollständigen.22 Darüber hinaus ist es besonders wichtig, auch Literatur, Film und andere kulturelle Artefakte mit einzubeziehen, um die Nachkriegserinnerung dieser Region als einen „Erinnerungsort“ zu verstehen, wie ich es tue. Das wird in den Kapiteln 6 und 7 geschehen. Durch eine solche diffraktive Lektüre von Medien und Narrativen über die Vergangenheit, die oft heterogen und miteinander unvereinbar erscheinen, spüre ich die Muster der Interferenzen und Interaktionen auf, die durch die zahlreichen disparaten Geschichten und Erinnerungen dieser Regionen entstehen. Daraus ergibt sich ein Bild von diesem „Ort“, das weiter reicht als die vereinfachende, verzerrende und einseitige Betrachtungsweise, die den öffentlichen Erinnerungsdiskurs dort bestimmt. Ich habe diese Vergleichsstudie mit einer Untersuchung der Geschichte und des Gedenkens an das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten und die Gründe für dessen Vernachlässigung im öffentlichen Diskurs sowie die Implikationen unseres Verständnisses des Holocaust und seiner Bedeutung begonnen und bin den Tätern von ihrem ersten Einsatz in Grafeneck über Polen bis zu ihrem letzten Einsatz im nationalsozialistisch besetzten Triest gefolgt. Jetzt verlagern wir den Fokus auf einen anderen Prob22 | Ein Beispiel, das ich am Ende dieses Kapitels diskutieren werde, ist das zweisprachige Buch Un percorso tra le violenze del novecento nella provincia di Trieste einer Gruppe von triestinischen Historikern, das einen Stadtspaziergang beschreibt, der nicht nur die Risiera und die Foiba di Basovizza einbezieht, sondern auch Orte faschistischer und kommunistischer Gewalt. Beim Gang durch die Stadt und dem Besuch dieser verschiedenen Orte, die manchmal nur durch eine Gedenktafel gekennzeichnet sind, entsteht durch einen Prozess der Verhandlung und kritischen Ref lexion ein vollständigeres Bild der Erinnerung an die Geschichte der Region, eine Geschichte, die nicht an einen einzigen Ort und ein einziges Narrativ gebunden ist. (Vgl. Sergio Zucca (Hrsg.): Un percorso tra le violenze del novecento nella provincia di Trieste. Triest: IRSML Friuli Venezia Giulia 2006.

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lemkomplex, nämlich die Geschichte und Erinnerung an den Faschismus und die NS-Besatzung in Italien. Diese beiden Fallstudien sind dem Wesen nach asymmetrisch und scheinbar inkompatibel. Und selbstverständlich ist es nicht das Ziel, die Struktur des deutschen Erinnerungsdiskurses in der Nachkriegszeit mit der des italienischen Diskurses gleichzusetzen, denn die italienische Situation ist deutlich komplexer, da hier der Widerstand und die NS-Besatzung im nationalen Bewusstsein eine dominante Rolle einnehmen, die die Erinnerung an den Faschismus selbst überlagert. Aber im Vergleich verorten beide „Erinnerungsorte“ den Holocaust auf einem Kontinuum der Verfolgung und Vernichtung, das mit der internationalen Eugenikbewegung begann, dann auch den Faschismus prägte und zu den ethnischen Konflikten führte, die die Region um Triest am Ende des Krieges und in der Übergangszeit zum Kalten Krieg bestimmten. Die genaue Form dieses Kontinuums bleibt im Dunkeln, wenn man sie nur von einer Makro-Perspektive aus betrachtet. Deshalb wähle ich eine eklektischere und kleinteiligere Herangehensweise und trage eine Vielzahl an Teilperspektiven und „dichten Beschreibungen“23 zusammen, um ein facettenreiches Bild dieser Erinnerungskomplexe zu erzeugen. Auf den ersten Blick scheint die Orte Grafeneck und Risiera wenig miteinander zu verbinden oder eine gründlichere komparative Untersuchung zu rechtfertigen, wenn man von historischen Gegebenheiten wie Christian Wirth und seinen Mittätern einmal absieht. Der Vorteil der diffraktiven Lektüre, die ich für diese Studie wähle, ist jedoch, dass sie die Muster und Mechanismen der Kanonbildung, Marginalisierung und Verdrängung sichtbar machen kann, die entscheiden, wie bestimmte Erinnerungen sich in den Alltagsdiskurs einschreiben, während andere in Vergessenheit geraten und verschwinden. Jeder der beiden in diesem Buch betrachteten Orte ist ein materiell-semiotischer Erinnerungsknoten („noeud de mémoire“), der die Erinnerung an die nationalsozialistische „Euthanasie“ auf der einen Seite und die Erinnerung an Faschismus, NS-Besatzung und den ethnischen Konflikt an Italiens Nordostgrenze auf der anderen Seite in Beziehung bringt. Beide Orte besitzen eine materielle und eine semiotische Komponente, die untrennbar verbunden, aber nicht identisch sind: Kurz gesagt, beide Orte sind geprägt von einer unauflöslichen Spannung zwischen ihrem materiellen Aspekt (was und wo sie sind) und ihrem semiotischen Aspekt (was sie bedeuten). Beide „Orte“ sind wiederum eingebettet in ein größeres Geflecht europäischer Erinnerungsgeschichte, aber die genaue Natur ihrer Interaktion und Wechselbeziehung wird erst sichtbar, wenn man sie aus der Nähe betrachtet.

23 | Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.

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Abbildung 11: Der Innenhof der Risiera mit einer Touristengruppe an der Stahlskulptur, die die Stelle des Schornsteins markiert.

Foto: Kári Driscoll

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S an S abba

Die Risiera, die, wie der Name verrät, ursprünglich eine Reismühle und von 1913 bis 1929 in Betrieb war, ist ein Komplex aus mehreren Backsteingebäuden inmitten eines verwirrenden Labyrinths von sich kreuzenden Stadtautobahnen, Baustellen und großen Fabrikgebäuden sowie dem Fußballstadion. Die meisten der ursprünglichen Gebäude der Reismühle wurden bereits nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen. Einst im Herzen von Triests florierendem Industriegebiet gelegen, offenbart das Viertel San Sabba heute den fortlaufenden Verfall der Stadt seit dem Ende des Habsburgerreiches, die Vernachlässigung und das Missmanagement in der Zwischenkriegszeit und unter dem Faschismus sowie die Unsicherheit nach Kriegsende 1945, ob die Stadt künftig zu Italien oder zu Jugoslawien gehören werde. Dies alles führte zu seiner langsamen wirtschaftlichen Marginalisierung. Weil ein eigener Parkplatz fehlt, müssen Besucher der Risiera beim nahe gelegenen Lidl-Supermarkt parken, der auf einem Teil des Geländes der ehemaligen Reismühle steht.

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Abbildung 12: Blumenkränze an der Stelle des ehemaligen Krematoriums. Hinter der Steinplatte befindet sich die Asche der Opfer.

Foto: Kári Driscoll

Der Eingang zur Gedenkstätte in der Via Palatucci24 ist ein langer schmaler Gang zwischen hohen Betonmauern. Am Ende dieses eindrucksvollen Ganges tritt der Besucher durch einen Torbogen auf einen großen Hof, der im Norden und Westen von Betonmauern, im Süden und Osten von drei der Originalbauten der Risiera umschlossen ist. Die einzigen Farben sind Grau und Backsteinrot, durchbrochen vom Schwarz der unverglasten Fenster. Am gegenüberliegenden Ende des Innenhofes ragt eine hohe, nadelartige Skulptur aus schwarzen Stahlträgern in den Himmel. Auf dem Boden sieht man eine rechteckige Vertiefung, die mit leicht spiegelnden Metallplatten gepflastert ist, und einen metallgepflasterten langen schmalen Weg der direkt auf die Stahlskulptur zuführt. Dieser Metallweg deutet den ursprünglichen Standort des Krematoriums, des Rauchabzugs und des Schornsteinfundaments an, die die Nationalsozialisten sprengten, bevor sie die Anlage am 29. April 1945 verließen. Symbolisiert durch die Stahlskulptur, steigt der schwarze Rauch am ehemaligen Standort des Schornsteins ewig in den Himmel (Abb. 11). Die seitlichen Umrisse 24 | Diese Adresse entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Giovanni Palatucci wird als ein „italienischer Schindler“ verehrt, der als Polizist in Rijeka Tausenden Juden das Leben gerettet haben soll. In Kapitel 6 werde ich darauf eingehen, das vor Kurzem die Frage auftauchte, ob diese Heldentaten wirklich stattgefunden haben.

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Abbildung 13: Gedenktafeln und Blumenkränze im Durchgang zum kleineren Hof der Risiera

Foto: Kári Driscoll

des Krematoriums sind noch an der Fassade des Hauptgebäudes sichtbar – eine blasse, gespenstische Silhouette, die sich von der Backsteinmauer abhebt. Was zunächst wie eine Tür in der Wand aussieht, erweist sich als weiße Steinplatte mit der Inschrift „Asche der Opfer“ in den vier Sprachen Italienisch, Slowenisch, Kroatisch und Hebräisch (Abb. 12). Hinter der Steinplatte befindet sich eine Urne mit Asche und Knochenstücken, die 1945 im Schutt des gesprengten Krematoriums gefunden wurden. Bis auf die Stahlskulptur, die Metallspuren im Boden und die langsam verwelkenden Blumenkränze der letzten Gedenkveranstaltung ist der Hof leer, was die Nüchternheit des Ortes verstärkt. In der rechten Ecke des Innenhofes führt ein Durchgang zu einem zweiten, viel kleineren Hof. An den Wänden erinnern Gedenktafeln an verschiedene Opfergruppen oder einzelne Opfer (Abb. 13). Auf einer großen schwarzen Marmorplatte mit einem roten Dreieck in der Mitte steht zum Beispiel: „Gegen alle Formen der Diskriminierung. Der Circolo arcobaleno arcigay di Trieste (Triests größte LGBT-Organisation) gedenkt der homosexuellen Opfer des Nazifaschismus. 27. Januar 2004.“ Daneben erinnern mehrere kleine weiße Tafeln auf Italienisch bzw. Slowenisch an die „unvergessenen Märtyrer der Risiera“, die „Söhne von Julisch Venetien, unsterbliche Helden der Ideale Freiheit und Vaterland“, die der „unmenschlichen Grausamkeit der Nationalsozialisten“ zum Opfer fielen. Die „Frauen von Triest“ ehren die Mütter, Ehefrauen und Töchter Triests, die für die

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Abbildung 14: Die Dokumentationsausstellung in der Risiera

Foto: Kári Driscoll

Freiheit anderer ihr Leben ließen. Darunter haben die jüdische Gemeinde und die Associazione Donne Ebree d’Italia (ADEI; Vereinigung der jüdischen Frauen Italiens) jeweils eigene Gedenktafeln angebracht. An der gegenüberliegenden Wand hängt neben weiteren Gedenktafeln eine große weiße Steinplatte mit einem Gedicht der Triester Dichterin Ketty Daneo aus dem Jahr 1955, deren Bruder in der Risiera eingesperrt und getötet worden war. Von den Bauten, die die Nationalsozialisten als Konzentrations-, Arbeits-, Transit- und Tötungslager nutzten, ist nur noch ein kleiner Teil vorhanden: das damalige Hauptgebäude mit der Küche, den Unterkünften und Büros der SS und der Wächter; ein kleines Gebäude mit 17 Gefängniszellen, in denen Partisanen und politische Gefangene festgehalten wurden, die gefoltert oder hingerichtet werden sollten; ein großes Gebäude, in dem Menschen bis zu ihrer Deportation untergebracht waren (über 20.000 Juden sowie italienische und jugoslawische Partisanen auf ihrem Weg in die Lager in Polen oder Deutschland wurden durch die Risiera geschleust); und die ehemalige Garage, in der Gefangene in Gaswagen ermordet wurden. Das Hauptgebäude beherbergt heute das Civico Museo della Risiera, ein kleines Museum mit Zeichnungen, Briefen und Gegenständen, die in den Überresten des Lagers gefunden wurden, sowie andere Relikte, die mit dem Holocaust zu tun haben. In der einstigen Garage befinden sich der Erinnerungsraum (Sala delle commemorazioni) und die Dokumentationsausstellung zur Geschichte der Anlage.

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Diese Dauerausstellung wurde von dem Triester Historiker Elio Apih konzipiert und in ihrer ersten Fassung 1982 eröffnet. 1998 überarbeitete und erweiterte Apih die Ausstellung, und seitdem ist sie in dieser zweiten Ausführung zu sehen.25 Sie besteht aus 50 Tafeln, die einen Überblick über den historischen Kontext der Risiera, den Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus, den Holocaust, die deutsche Besatzung und den Widerstand vermitteln. Diese Geschichte wird mittels einer großen Anzahl an Archivdokumenten (Kopien von Landkarten, Fotos, Zeitungsausschnitten, Briefen, Tabellen, Listen) mit sehr kurzen Erläuterungstexten in sechs Sprachen (Italienisch, Slowenisch, Kroatisch, Englisch, Deutsch und Französisch) dargestellt (Abb. 14). Das faschistische Regime wird als zwar gefährlich, letztendlich aber auch als chaotisch und unbeholfen dargestellt: Es ruinierte Triests Wirtschaft und schaffte es nicht, die „Minoritätenfrage“ in der Region zu lösen. Antisemitismus wurde komplett aus Deutschland importiert.26 Im Gegensatz zum Faschismus, so suggeriert die Ausstellung, war der Nationalsozialismus im Deutschen Reich eine Massenbewegung, die sich auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stützte, der eine effiziente und gnadenlose Tötungsmaschinerie in Gang setzte, die sich über ganz Europa und am Ende auch über Julisch Venetien ausbreitete. Wie im vorangegangenen Kapitel diskutiert, erhalten die Fotos der nationalsozialistischen Täter und ihrer Verbrechen breiten Raum. Genauso viel Platz wird dem Widerstand, der Resistenza, eingeräumt, der in dieser Region gut organisiert war. Die Kollaboration von Triestinern mit den Nationalsozialisten wird allerdings mit keinem Wort erwähnt. Apihs Darstellung betont im Besonderen die Rolle des pro-italienischen, antifaschistischen Widerstands (Comitato di Liberazione Nazionale, CLN), der unabhängig vom kommunistischen, pro-jugoslawischen Widerstand für die Befreiung von Triest kämpfte. In den meisten historischen Darstellungen wird die Befreiung von Triest als Verdienst der jugoslawischen Armee dargestellt,27 doch Apih suggeriert, dass sie eigentlich durch den vom CLN angeführten Aufstand gegen die Nationalsozialisten am 30. April erreicht worden sei, ohne dabei allerdings zu erwähnen, dass die jugoslawische Armee die Außenbereiche der Stadt zu diesem Zeitpunkt bereits erobert hatte. Indem Apih die Bedeutung des CLN für die Befreiung der Stadt hervorhebt, stellt er eine Hierarchie auf, nach der das CLN der „wahre“ Befreier ist, und liefert so implizit eine Begründung dafür, warum Triest

25 | Beide Versionen der Ausstellung wurden von der Stadt Triest finanziert und von einer Kommission der Städtischen Museen begutachtet und genehmigt.

26 | Vgl. Elio Apih (Hrsg.): Risiera di San Sabba. Guida alla mostra storica. Trieste: Comune di Trieste 2000, S. 80.

27 | Vgl. Galliano Fogar: „L’occupazione nazista del Litorale Adriatico e lo sterminio della Risiera“, in: Adolfo Scalpelli (Hrsg.): San Sabba: Istruttoria e processo per il Lager della Risiera. Vol. 1. Milano: ANED 1988, S. 3–138, hier S. 91; und Pupo, Il lungo esodo, S. 87–98.

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rechtmäßig unter italienischer und nicht jugoslawischer Herrschaft steht.28 Darüber hinaus bezieht sich der Begriff „Befreiung“ hier auf den Sieg über die deutschen Besatzer und nicht auf die Überwindung des – italienischen – Faschismus. Die verschiedenen Gedenktafeln im kleinen Hof scheinen dieses Narrativ zu bekräftigen: Die Partisanen und Juden, die in der Risiera ermordet oder von dort aus deportiert wurden, werden ohne Unterschied als Helden der Befreiung, als Märtyrer, die für die Freiheit Italiens starben, dargestellt, ohne Berücksichtigung der verschiedenen Gründe für ihre Verfolgung. Sowohl die Dokumentationsausstellung als auch die Geschichte der Risiera nach Kriegsende machen ein Narrativ italienischer Hoheit nicht nur über die Stadt, sondern auch über die Erinnerung an den Krieg und die deutsche Besatzung erkennbar. Im Folgenden werde ich zeigen, dass dieses Narrativ Teil eines allgemeineren Versuchs seit den 1970-er Jahren ist, die Risiera als rein italienische (und antikommunistische) Gedenkstätte zu beanspruchen. Zuerst möchte ich erläutern, wie die Risiera den Besuchern ihren historischen Hintergrund präsentiert. Für einen uninformierten Besucher liefert die Dokumentationsausstellung praktisch kaum Informationen darüber, was genau in der Risiera in den 18 Monaten vor Kriegsende geschah, in denen sie als Konzentrationslager genutzt wurde, und es gibt auch keine genaue Beschreibung der Opfer und ihrer Herkunft. Vorhanden ist lediglich eine Tafel, die die verschiedenen Funktionen der Risiera erklärt, aber man erfährt an keiner Stelle, wie viele Menschen hier getötet wurden oder wie genau die Tötungen durchgeführt wurden. Die Fotografie eines eisenbeschlagenen Knüppels, der im Schutt gefunden wurde, die Kopie einer Namensliste aus einer slowenischen Zeitung und ein Foto von der Verhaftung eines der Täter der Risiera, des SS-Obersturmführers Franz Stangl, in Brasilien, werden als Beweise für die Ereignisse in San Sabba präsentiert. Das Krematorium, so ist zu erfahren, wurde bei einer namentlich nicht genannten Firma in Triest bestellt, die aber, so wird betont, dessen konkreten Verwendungszweck angeblich nicht kannte. Aber wer unterstützte die Nationalsozialisten dabei, das Lager zu betreiben? Wer half ihnen, die ganze Region zu verwalten? Wer übersetzte für sie? Wer machte Juden und Partisanen für sie ausfindig? Keine dieser Fragen wird überhaupt aufgeworfen, geschweige denn beantwortet. Es gibt auch keine Informationen zur Nachkriegsgeschichte des Ortes: Was wurde unternommen, um die Risiera zu erhalten? Wie und wann wurde sie zur Gedenkstätte umgestaltet? Die Besucher erfahren nichts über den Umgang mit der Erinnerung an die Geschehnisse in der Risiera, oder über den Kampf um ihre Erhaltung und Gestaltung als Gedenkstätte nach dem Krieg.29 Um eine Antwort auf diese und andere Fragen 28 | Vgl. Glenda Sluga: „The Risiera di San Sabba: Fascism, Anti-Fascism, and Italian Nationalism“, in: Journal of Modern Italian Studies 1.3 (1996), S. 401–412, hier S. 404–405.

29 | Im Jahr 2015–16 wurde nach über 40 Jahren das Civico Museo im Hauptgebäude neu gestaltet. Die neue Ausstellung wurde im Januar 2016 eröffnet und enthält neben den Objekten, die in der Risiera gefunden wurden, und Kunstwerken und Objekten, die dem Museum

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zu erhalten, müssen wir die Geschichtsschreibung zur Risiera, Triest und dem Umland näher betrachten.

Die Risiera in der Vergangenheit Die Gedenkstätte Risiera selbst besitzt keine Bibliothek und auch keinen Museumsshop, wo man Materialien finden könnte, um sich weiter zu informieren. Neben den örtlichen Bibliotheken ist der beste Ort, um mehr über die Risiera und ihre Geschichte zu erfahren, das Istituto Regionale per la Storia del Movimento di Liberazione nel Friuli Venezia Giulia (IRSML FVG, Institut für die Geschichte der Freiheitsbewegung der Region Friaul-Julisch Venetien), dessen Zentrale im Stadtzentrum liegt.30 In den aktuelleren historiographischen Veröffentlichungen zur Risiera erfährt man, dass viele Triestiner, darunter „Volksdeutsche“ (ethnisch Deutsche, die außerhalb des Reiches lebten) sowie Italiener, Slowenen und Kroaten für die Nationalsozialisten als Dolmetscher, Fahrer, Informanten, Sekretärinnen, Telefonisten und Verwalter arbeiteten. Das Ispettorato Speciale di Pubblica Sicurezza per la Venezia Giulia, die faschistische Sicherheitspolizei, 1942 gegründet und von Giuseppe Gueli geführt, hatte Listen über Partisanen, Antifaschisten und Juden zusammengetragen. Folterkammern, Gefängniszellen und ein großes Netzwerk an Informanten standen den Nationalsozialisten zur Verfügung. Die von Überlebenden zur Verfügung gestellt wurden, nun auch ausführlichere Informationen über die Zeit nach 1945, den Gerichtsprozess und die Geschichte der Gedenkstätte. Aussagen und Biographien von Überlebenden der Risiera spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Ausstellung wurde von dem Historiker Francesco Fait in Zusammenarbeit mit den Historikern Tullia Catalan, Franco Cecotti, Martina Humar, Maria Masau Dan, Tristano Matta, Dunja Nanut, Cristina Roggi, Michele Sarfatti, und Anna Maria Vinci erarbeitet. Träger ist auch hier die Gemeinde Triest, mit der Unterstützung folgender Institute und Verbände: ANED (Associazione italiana ex deportati Trieste), ANPI (Associazione nazionale partigiani d’Italia Trieste), das Centro di documentazione ebraica contemporanea di Milano, das IRSML FVG (Istituto regionale per la storia del movimento di liberazione nel Friuli Venezia Giulia), die jüdische Gemeinde Triests, das Istituto tecnico statale „G. Deledda – M. Fabiani“ und die Slowenische Nationalbibliothek (Narodna in študijska knjižnica) beteiligt. Diese überfällige Aktualisierung trägt dazu bei, einige der Lücken in der Selbstdarstellung des Ortes zu füllen. Die historische Dokumentationsausstellung von 1998, die sich nach wie vor in der Garage befindet, blieb jedoch unverändert.

30 | Das IRSML FVG ist ein Verband von Historikern, der 1953 von ehemaligen Partisanen des CLN unter dem Namen „Deputazione regionale per la storia del movimento di liberazione italiano nella Venezia Giulia“ gegründet wurde, um die italienische Widerstandsbewegung der Region zu dokumentieren. Inzwischen ist es mit dem Istituto Nazionale per la Storia del Movimento di Liberazione in Italia verbunden und eine internationale Gruppe von Historikern forscht zu allen Aspekten des Faschismus, des Zweiten Weltkrieges und der Erinnerungskultur in der Region.

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industrielle Elite von Triest zögerte nicht, mit den Deutschen zu kollaborieren, um dadurch neue Absatzmärkte für sich zu erschließen. Die Lokalpresse, vor allem Il Piccolo, beeilte sich, Propagandaberichte für die deutschen Besatzer zu publizieren. Für viele der örtlichen Faschisten, die bislang die Verfolgung von Slowenen und Kroaten dominiert hatten, war eine „Lösung der Slawenfrage“ der Hauptgrund, um mit den Nationalsozialisten zu kollaborieren. Neben dieser expliziteren Kollaboration herrschte besonders im Bürgertum, aber auch in der übrigen Bevölkerung der stillschweigende Konsens, dass die Deutschen Sicherheit vor der jugoslawischen Bedrohung gewährleisten würden.31 Im Oktober 1943 richtete das „Einsatzkommando Reinhard“ das „Polizeihaftlager Risiera di San Sabba“ ein. Es sollte als Kaserne für die SS und die ukrainischen Wachmänner, als Gefängnis und Vernichtungslager für Partisanen, politische Gefangene und Juden, als Arbeitslager, als Transitlager für Deportationen nach Polen oder Deutschland sowie als Depot für beschlagnahmte Waren dienen. Die frühere Reismühle verfügte über die gesamte benötigte Infrastruktur: Es gab Gleise von der Risiera zum Hafen und zum Hauptbahnhof, die Reistrocknungsanlage war über einen Rauchkanal mit dem Kamin verbunden. Nur der Ofen für das Krematorium musste speziell angefertigt werden. Die Gefangen kamen aus ganz Friaul-Julisch Venetien, Görz, Fiume, Ljubljana und Dalmatien, aber auch aus dem Veneto und aus Udine. Die Juden wurden aus ihren Wohnungen geholt, entweder weil ihre Namen und Adressen bereits bei der faschistischen Polizei registriert worden waren oder weil sie von pflichtbewussten Nachbarn und Informanten angezeigt wurden. Mauro Grün (auch Grini genannt), ein Triestiner Jude, half beispielsweise, Hunderte Juden in Triest, Venedig und Mailand zu verhaften. Grini erhielt für jede Denunziation 7.000 Lire Belohnung.32 Eine beträchtliche Anzahl von Juden wurde auch aus Krankenhäusern, psychiatrischen Einrichtungen und Seniorenheimen in Triest, Rijeka, Venedig und

31 | Fogar schätzt, dass viele Hundert Italiener in Julisch Venetien für die Nationalsozialisten arbeiteten, um beim Kampf gegen die Partisanen und der Judenverfolgung zu helfen, darunter auch italienische, slowenische und kroatische Partisanen, die zu den Faschisten übergelaufen waren. Genaue Zahlen zu den Kollaborateuren existieren nicht, da dieses Thema nie systematisch erforscht wurde, und der zeitliche Abstand macht es fast unmöglich, das Ausmaß der Kollaboration und die Motivationen dahinter zuverlässig zu bestimmen (Vgl. Fogar: L’occupazione, S. 31–58; Enzo Collotti: L’amministrazione tedesca dell’Italia occupata 1943–45. Mailand: Lerici 1963, S. 21–22; sowie Tristano Matta: Il lager di San Sabba. Dall’occupazione nazista al processo di Trieste. Trieste: Beit 2012).

32 | Vgl. Ferruccio Fölkel/Frediano Sessi: La Risiera di San Sabba. Mailand: BUR 2001, S. 116. Roberto Curcis exzellentes Buch Via San Nicolò 30. Traditori e traditi nella Trieste nazista (Bologna: Il Mulino 2015) beleuchtet die Person Mauro Grini näher und liefert außerdem einen Einblick in die Verstrickungen der Familiengeschichten der Opfer mit denen der Kollaborateure und Denunzianten im Triest der 1940er Jahre.

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anderen Städten in die Risiera gebracht.33 Bereits 1938 hatten die faschistischen Behörden Listen jüdischer Patienten erstellt. Die Nationalsozialisten schickten dann nur noch Briefe an die Klinikdirektoren, um zu erfahren, ob „der aktuelle Gesundheitszustand der oben genannten Person die Inhaftierung erlaubt“, oder ob der körperliche Zustand dieser Patienten „ihren Transport in ein Konzentrationslager verbietet.“34 Offensichtlich wurde auf die euphemistische Sprache, die während der „Aktion T4“ in Deutschland verwendet wurde (wie „verlegt an einen unbekannten Ort“), in diesem Fall komplett verzichtet. Eine SS-Gruppe unter der Leitung von Franz Stangl und dem jüdischen Informanten Grini suchte die Krankenhäuser auf, um die Patienten zu identifizieren und zu verhaften.35 Die Patienten wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe waren Langzeitpatienten, die bereits vor Einführung der Rassengesetze eingewiesen worden waren. Die zweite Gruppe bestand aus Patienten, die nur wenige Monate erst kurz zuvor in die Krankenhäuser aufgenommen worden waren, offensichtlich um sie zu verstecken und vor der Deportation zu retten. Die Krankenakten dieser Patienten, von denen manche erhalten sind, bezeugen die Angst unter den Juden im besetzten Italien, die sich in Symptomen wie Paranoia, Schlaflosigkeit und Depressionen ausdrückte.36 Die Ermordung von Patienten ist ein bisher kaum erforschtes Kapitel in der Geschichte der deutschen Besatzung Italiens und zeigt die Kontinuitäten zwischen dem „Euthanasie“-Programm und dem Holocaust auf. Es ist allerdings anzumerken, dass im Rahmen dieser Aktion ausschließlich jüdische Patienten deportiert wurden. Die Historikerinnen Silva Gherardi Bon und Liliana Picciotto Fargion haben gezeigt, dass die Risiera hauptsächlich als Transitlager für jüdische Gefangene diente, manche von ihnen wurden allerdings auch vor Ort getötet, etwa jene die zu alt oder krank für die Deportation waren, oder um „Leerläufe“ im Krematorium zu vermeiden. Alle Juden in der Risiera wurden zur Arbeit gezwungen: Sie arbeiteten als Schneider, Schuhmacher, Schreiner, Putzkräfte, kümmerten sich um die Pferde und die Autos oder füllten den Holzvorrat für den Ofen auf. Unter den Gefangenen war auch der berühmte Triestiner Schriftsteller Giani Stuparich, der wegen seiner antifaschistischen Einstellung unter Beobachtung gestanden hatte und verhaftet wurde, als bekannt wurde, dass seine Mutter Jüdin war, die zum Katholizismus konvertiert hatte. Stuparich, seine Mutter und seine Frau wurden allerdings wenige Tage nach ihrer Verhaftung wieder freigelassen, nach33 | Vgl. Angelo Lallo/Lorenzo Toresini: Psichiatria e nazismo. La deportazione ebraica dagli ospedali psichiatrici di Venezia nell’ottobre 1944. Portogruaro: Nuova dimensione 2001, S. 33–61.

34 | Ebd., S. 36–37. 35 | Vgl. Curci: Via San Nicolò 30. 36 | Bruno Norcio/Lorenzo Toresini: „Dal manicomio al lager di sterminio. Rif lessioni sulla deportazione di un gruppo di ricoverati ebrei dall’ospedale psichiatrico di Trieste“, in: Qualestoria 21.2–3 (1993), S. 67–77, hier S. 68–69.

Kapitel 5

dem Bischof Antonio Santin protestiert hatte. In den meisten Fällen gab es allerdings kein derartiges Eingreifen. Santin behauptete später in einem Interview, dass er nicht gewusst habe, was in der Risiera passierte.37 Zwischen Oktober 1943 und November 1944 starteten 22 Deportationskonvois von Triest. Fast alle der etwa 1.200 Juden, die noch in Julisch Venetien lebten, wurden nach Auschwitz, Ravensbrück oder Bergen-Belsen deportiert.38 Politische Gefangene kamen nach Auschwitz, Dachau, Buchenwald, Mauthausen, Flossenbürg und Ravensbrück.39 Im Frühjahr 1944 wurde der Ofen für das Krematorium in der Reistrocknungsanlage eingebaut. Es gab Massentötungen durch Vergasung in speziell ausgestatteten Fahrzeugen in der Garage und individuelle Hinrichtungen, bei denen die Opfer entweder erschossen oder mit Knüppeln erschlagen wurden. Die Schreie und Geräusche versuchten die Nationalsozialisten zu übertönen, indem sie die Motoren ihrer Lkws laufen ließen, die Hunde zum Bellen brachten oder laute Musik spielten. Wenn man allerdings die geringe Größe der Risiera berücksichtigt, fanden Hinrichtungen, Folter, Verhöre und Verbrennungen nur auf wenigen Quadratmetern statt, vor allem im Innenhof. Die Gefangenen konnten nichts sehen, weil die Hinrichtungen meistens nachts stattfanden und es ihnen verboten war, sich den Fenstern zu nähern, aber sie konnten sicher alles hören.40 Die Mehrheit der in der Risiera Getöteten waren jugoslawische Partisanen und Zivilisten, die der Kollaboration mit den Partisanen verdächtigt wurden und die man in den slowenischen und kroatischen Dörfern um Triest, in Istrien und Rijeka gefasst hatte. Die Mehrheit der Opfer der Risiera gehörte also in den Augen der Nationalsozialisten den „minderwertigen Rassen“ an. Während der 18 Monate ihrer Nutzung war es unmöglich, die Vorgänge in der Risiera geheim zu halten. Sie lag in einem belebten Industriegebiet mit Fabriken, Raffinerien, Lagerhäusern und Arbeiterwohnungen innerhalb der Stadtgrenzen, und so verbreiteten sich allmählich Nachrichten darüber in der Bevölkerung, was in der Risiera vor sich ging. Vor allem die Bewohner in der unmittelbaren Nachbarschaft sahen und rochen den Rauch, Fabrikarbeiter bekamen mit, wie SS-Leute Säcke mit Asche und Knochen ins Meer entleerten. Und Mitglieder des jugoslawischen Widerstands verbreiteten bereits 1944 einen Artikel, in dem sie

37 | Vgl. Fölkel/Sessi: La Risiera di San Sabba, S. 146. 38 | Vgl. Silva Bon: Gli ebrei a Trieste 1930–1945. Identità, persecuzione, risposte. Görz: Libreria Editrice Goriziana 2000, S. 221; Liliana Picciotto Fargion: Il libro della memoria. Gli Ebrei deportati dall’Italia, 1943–1945. Milano: Mursia 1991, S. 55–60; Cinzia Villani: „The Persecution of Jews in Two Regions of German Occupied Northern Italy, 1943–1945: Operationszone Alpenvorland und Operationszone Adriatisches Küstenland“, in: Joshua D. Zimmerman (Hrsg.): Jews in Italy under Fascist and Nazi Rule, 1922–1945. Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 243–262, hier S. 251.

39 | Vgl. Berger: Experten der Vernichtung, S. 287. 40 | Vgl. Fölkel/Sessi: La Risiera di San Sabba.

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die Grausamkeiten der Nationalsozialisten in der Risiera beschrieben.41 Und auch wenn die Nationalsozialisten das Krematorium in der Nacht auf den 29. April sprengten, konnten sie doch nicht alle Beweise für die dort verübten Massenmorde vernichten.

Die Risiera nach 1945 Die vielleicht bezeichnendste Lücke in der Dokumentationsausstellung der Risiera ist ihr Schweigen zur Geschichte der Anlage nach Kriegsende. Wie ich in meiner Untersuchung der Gedenkstätte Grafeneck gezeigt habe, macht ein gewisses Maß an Selbstreflexion an einer Gedenkstätte dem Besucher nicht nur den konstruierten, dynamischen und oft umstrittenen Charakter des Gedenkprozesses bewusst, sie betont auch die Relevanz der Vergangenheit, an die an diesem Ort erinnert wird, für die Gegenwart. In anderen Worten: es ist äußerst wichtig, den Aspekt des „Nie vergessen“ mit dem „Nie wieder“ zu verbinden. Apihs Dokumentationsausstellung endet mit Fotografien der Ruinen der Risiera, nachdem die Deutschen sie 1945 gesprengt hatten, und wenigen, allesamt unleserlichen Zeitungsausschnitten von den Kriegsverbrecherprozessen in Triest in den frühen 1970er Jahren. Die Besucher erfahren nichts über die lang anhaltenden Auseinandersetzungen um die Erinnerung oder den Risiera-Prozess. Diese beiden Aspekte sind aber wesentlich für ein umfassendes Verständnis der Gedenkstätte und ihrer weiteren Relevanz für die Geschichte der Region.42 Es dauerte über 20 Jahre, bis die zuständigen offiziellen Stellen die Bedeutung der Risiera anerkannten und damit begonnen wurde, die überlieferten Relikte und Bauten zu bergen und zu sichern. Die Militärverwaltung der Alliierten (Governo Militare Alleato; GMA), die Triest von 1945 bis 1954 verwaltete, zeigte kein Interesse daran, die in der Risiera begangenen Verbrechen zu untersuchen und juristisch zu ahnden, sie konzentrierte sich stattdessen darauf, die Ausbreitung des Kommunismus in Italien zu verhindern. Zu diesem Zweck verfolgten die Alliierten eine Politik der Normalisierung, die ehemaligen Nationalsozialisten und Faschisten gegenüber extrem nachsichtig war. Konrad Geng zum Beispiel, Mitglied des „Einsatzkommandos Reinhard“ und der Belegschaft der Risiera, blieb nach Kriegsende in Triest, heiratete seine Verlobte Italia Demarchi, eine Istrierin aus Pisino, die er während der Besatzung kennengelernt hatte, und pflegte eine enge Freundschaft zur Familie Grini. Die Alliierten ließen ihn nicht nur straflos davonkommen – er sagte aus, dass er während der Besatzung lediglich als Fahrer tätig gewesen sei und daher nichts über die Vorgänge in der Risiera gewusst habe – sie stellten ihn sogar als Marketender ein. In den 50ern wurde Geng vom

41 | Vgl. Fogar: L’occupazione, S. 87. 42 | Wie oben erwähnt, werden diese Aspekte seit Januar 2016 zum Teil von der Ausstellung im Civico Museo abgedeckt.

Kapitel 5

Auswärtigen Amt in Bonn angeworben und als Mitarbeiter des Generalkonsuls nach Mailand geschickt. Als seine Mittäterschaft an den Verbrechen der Risiera bekannt wurde, wurde er verhört und zeitweise inhaftiert, aber bald freigelassen und vom Auswärtigen Amt ans deutsche Konsulat in Nancy in Nordostfrankreich versetzt. Nach seiner Pensionierung lebte er bis zu seinem Tod 1980 unbehelligt in Italien.43 Der gut recherchierte Band Nazionalismo e neofascismo nella lotta politica alla confine orientale 1945–1975, 1977 vom IRSML herausgegeben, zeigt, wie während der alliierten Militärverwaltung die faschistischen Verbrechen und die Kollaboration kleingeredet wurden und so die Legitimität des antifaschistischen Widerstands systematisch untergraben wurde. Es gab zwar Prozesse gegen faschistische Kollaborateure, aber die gegen sie verhängten Urteile fielen außerordentlich milde aus und mehr als die Hälfte der Prozesse endete mit Freisprüchen. Keines der Verfahren richtete sich gegen Kollaborateure, die in oder für die Risiera gearbeitet hatten. Sogar so berüchtigte Kollaborateure wie der Triester Präfekt Bruno Coceani und der „podestà“ (Oberbürgermeister) Cesare Pagnini wurden freigesprochen. Diese Kollaborateure verteidigten sich mit dem Argument, dass sie aus Liebe zu ihrem Vaterland gehandelt hätten und um Italien vor dem „slawischen“ Bolschewismus zu schützen. In den Folgejahren wurde Pagnini sowie Gaetano Collotti, dem Leiter der faschistischen Sicherheitspolizei Ispettorato Speciale, sogar die Medaglia al valore per meriti patriottici (Tapferkeitsmedaille für patriotische Verdienste) verliehen.44 Während eine juristische Ahndung der Verbrechen in der Risiera in der unmittelbaren Nachkriegszeit also sehr unwahrscheinlich war, wurde die Erinnerung daran schon sehr bald für politische Zwecke genutzt, wie das folgende Beispiel zeigt: Im Dezember 1945 fanden Arbeiter Asche und menschliche Überreste im Schutt des Krematoriums. Der kommunistische Consiglio di Liberazione di Trieste (Rat für die Befreiung von Triest) erhob Anspruch auf die Asche und verkündete in der kommunistischen Zeitung Il Lavoratore, dass die Asche in einer öffentlichen Zeremonie auf dem Hügel Colle di San Giusto in Triest beigesetzt werden solle. Die alliierte Militärverwaltung verbot die Zeremonie mit dem Argument, dass diese das CLN, die Liberalen, die Christdemokraten und andere Opfergruppen ausschließe. Als der Consiglio die Zeremonie dennoch durchführte, schritt die Polizei ein, und in dem darauffolgenden Gerangel entriss ein wütender Mob die Urne den Polizisten, die diese zwischenzeitlich an sich genommen hatte. Es kam zu einer heftigen Debatte in den Zeitungen Il Lavoratore und La Voce Libera der CLN, in der es darum ging, wer mehr Opfer zu beklagen habe und wer das Recht habe, ihrer zu gedenken. Im Laufe dieser Auseinandersetzung wurde die Risiera di San Sabba zu einem Symbol des kommunistischen Widerstands 43 | Vgl. Curci: Via San Niccolò 30, S. 95–101; sowie Fogar: L’occupazione, S. 100–102. 44 | Vgl. Cesare Vetter: „I processi a carico di fascisti e collaborazionisti“, in: IRSML (Hrsg.): Nazionalismo e neofascismo nella lotta political al confine orientale 1945‐1975. Vol. 1. Triest: Editoriale Libraria 1977, S. 164–222, hier S. 167–181.

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stilisiert, und alle, die nicht hinter diesem kommunistischen Narrativ standen, galten automatisch als Faschisten. Ein Artikel in Il Lavoratore vom 14. Dezember 1945 lässt daran keinen Zweifel: Wir, die wir mit unseren Gefallenen kämpften und litten, sollten sie ehren, und nicht diejenigen, die sich mit unseren Verfolgern einließen. Eure wenigen und unsere vielen gefallenen Kameraden, die wahre Märtyrer der Freiheit sind, gehören dem Volk und jeder sollte ihnen Respekt zollen. 45

Der Versuch des kommunistischen Widerstands, die Erinnerung an die Verbrechen in der Risiera für sich in Anspruch zu nehmen, ist nur das erste Beispiel für den anhaltenden Kampf um die rechtmäßige Hoheit über die Erinnerung an die Risiera in einer gespaltenen Stadt. Wie der Historiker Galliano Fogar schreibt: Mit dem Stolz und dem Mitgefühl für die Gefallenen kamen auch […] verschiedene Forderungen, Polemiken und politische Einf lüsse, die mit den Positionen der verschiedenen Seiten in Hinsicht auf die nationale Zugehörigkeit der Stadt und der Region, die Wahl der jugoslawischen oder italienischen Lösung, verknüpft wurden. […] Wer für die italienische Lösung war, wurde automatisch als Faschist und Kollaborateur abgestempelt […]. Kurz gesagt war jede dialektische Auseinandersetzung und zivilisierte politische Debatte unnachgiebig verweigert worden oder stand zu dieser Zeit, im Jahr 1945, kurz davor. 46

In den Jahren nach diesem Vorfall unternahm die Militärverwaltung nichts, um die Spannungen zu entschärfen oder ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Die Risiera geriet über der drängenderen „Triestfrage“ – ob Triest wieder an Italien gehen sollte oder nicht – mehr oder weniger in Vergessenheit. In den 1950er Jahren dienten die erhaltenen Gebäude der Risiera als Flüchtlingslager für Italiener aus Istrien, die zu Tausenden nach Triest kamen, entweder als erste Station ihrer Auswanderung, oder weil sie sich dort niederlassen wollten. Die Ironie, dass sich jetzt Hunderte von Italienern am selben Ort zusammendrängten, an dem nur wenige Jahre zuvor jüdische Gefangene und Partisanen festgehalten worden waren, veranschaulicht die nonchalante Haltung der Behörden diesem Ort gegenüber sowie ihren Widerwillen oder ihre Unfähigkeit, so große Zahlen an Flüchtlingen unterzubringen. Dass die Risiera durch die Erklärung zum Nationaldenkmal durch den italienischen Präsidenten Giuseppe Saragat im Jahr 1965 unter besonderen öffentlichen Schutz gestellt wurde, kann nicht nur als erster Schritt für die öffentliche Anerkennung der dort verübten Verbrechen verstanden werden, sondern auch als Beginn eines Prozesses, die Risiera als Erinnerungsort für den pro-italienischen, 45 | Zit. n. Marco Coslovich: „Il processo della Risiera di S. Sabba: una fonte per la storia“, in: Qualestoria 27.2 (1999), S. 217–245, hier S. 220.

46 | Fogar: L’occupazione, S. 96.

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antikommunistischen Widerstand zu vereinnahmen. Eine Kopie dieses Präsidialdekrets ist in einer Vitrine in der Ausstellung des Civico Museo zu sehen, Übersetzungen davon sind in der kleinen Ausstellungsbroschüre, die Besucher an der Gedenkstätte erwerben können, abgedruckt. Es lohnt sich, das Dekret in Gänze zu zitieren, weil es die selektive Herangehensweise an die jüngste Vergangenheit aufdeckt, die in vieler Hinsicht noch heute üblich ist: Der Präsident der Republik erklärt im Einklang mit Gesetz Nr. 1089 vom 1. Juni 1939 zum Schutz von Gegenständen von historischem oder künstlerischem Interesse; im Einklang mit dem königlichen Erlass Nr. 363 vom 30. Januar 1913, der die Regeln zur Verabschiedung von Gesetzen über Kunstwerke und Altertümer genehmigt; in Anbetracht der Tatsache, dass die Risiera di San Sabba in Triest – das einzige Beispiel [unico esempio] eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers in Italien – aufgrund ihrer großen historischen und politischen Bedeutung erhalten und dem italienischen Staat anvertraut werden soll; auf den Vorschlag des Staatsministers für Bildung hin die Risiera di San Sabba hiermit per Dekret zum Nationaldenkmal. 47

Zwei Dinge fallen in diesem Dekret besonders auf. Erstens wird als Grund für die Ernennung der Risiera zum Nationaldenkmal angeführt, dass sie „das einzige Beispiel eines nationalsozialistischen Lagers in Italien“ sei. Dabei bleibt außer Acht, dass es in Italien zwischen 1943 und 1945 mehrere Konzentrationslager der Nationalsozialisten gab, zum Beispiel in Bozen-Gries, sowie über 40 andere Konzentrationslager, die schon viel früher von den Faschisten eingerichtet und dann von den Nationalsozialisten übernommen worden waren, zum Beispiel Fossoli in der Nähe von Carpi oder Arbe in Istrien.48 Indem das Dekret fälschlich auf der Einzigartigkeit der Risiera beharrt, bekräftigt das Gesetz stillschweigend die weit verbreitete Vorstellung, dass für die Verfolgung italienischer Juden und Antifaschisten ausschließlich die Nationalsozialisten verantwortlich waren und dass die Risiera daher als Ort der Aufopferung der Italiener bewahrt werden sollte. Das Gesetz scheint zudem anzudeuten, dass Konzentrationslager der Faschisten es nicht wert seien, erhalten zu werden. Und tatsächlich wurde, soweit mir bekannt ist, kein einziges Konzentrationslager der Faschisten zum Nationaldenkmal erklärt. Als die Gedenkstätte Risiera di San Sabba am 24. April 1975, einen Tag vor dem 30. Jahrestag der Befreiung Italiens, offiziell eingeweiht wurde, lud Il Piccolo, die größte Zeitung Triests, die Bevölkerung ein, „zur Risiera zu pilgern und dem

47 | Decreto del presidente della Repubblica 15 aprile 1965, n. 510. Dichiarazione di monumento nazionale della Risiera di San Sabba, in Trieste. In: Gazzetta Ufficiale Nr. 136, 3. Juni 1965.

48 | Vgl. Galluccio: I lager in Italia; Di Sante: I campi; Matta: Un percorso; und Capogreco: I campi del Duce.

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Martyrium der Opfer der Nationalsozialisten Ehre zu erweisen.“49 Und tatsächlich präsentiert Romano Boicos Design die Risiera als eine Art Heiligenschrein. Boico konzipierte den von Mauern umgebenen Hof als eine „säkulare Open-Air-Basilika.“50 Des Weiteren wurde die frühere Garage in eine Kapelle für katholische, orthodoxe und jüdische Gottesdienste umgewandelt. Boico rahmte den Eingang zur Gedenkstätte mit Betonmauern, 11 Meter hoch und 45 Meter lang, die einen engen, nur 3 Meter breiten Gang bilden. Mit seinem beklemmenden, sich langsam verdunkelnden Tunnel wirkt der langgestreckte Eingang wie ein Pfad, der die Besucher „initiiert“, wenn sie von den Straßen des heutigen Industriegebiets in die Räume der Vergangenheit eintreten. Das ist der einzige Ein- und Ausgang zu der Gedenkstätte, und der schwarze Rahmen eines großen, offenen Stahltores an seinem Ende erweckt den Eindruck, dass es, wenn es sich schließt, keinen Weg nach draußen mehr gibt. Der wichtigste Aspekt von Boicos ursprünglichem Design war die vollkommene „Stille“ in der Gedenkstätte: es sollte kein einziges Hinweisschild und keine Erklärungen geben. Der architektonische Raum und die authentischen Strukturen sollten ganz für sich selbst sprechen. Boicos Konzeption für die Risiera als Gedenkstätte beruht also auf zwei Aspekten: der transformativen Kraft der authentischen Strukturen von Gefangenschaft, Folter und Massenmord und das Aufstellen der geborgenen Asche als heilige Reliquie im Zentrum des Raumes. Auch wenn die Asche der Opfer zum größten Teil ins Meer „entsorgt“ worden war, sollte die Risiera als ein Massengrab verstanden werden, als Ort der höchsten Aufopferung und der Trauer. Dieses Opfernarrativ wurde von der Presse und den Rednern bei der Einweihung der Gedenkstätte aufgegriffen. Der Bürgermeister von Triest, Marcello Spaccini, erklärte: „Dieser Ort ist heilig. […] [H]ier brachten Tausende Menschen das höchste Opfer, um die universellen menschlichen Werte zu schützen.“51 Und der italienische Staatspräsident Giovanni Leone betont auf ähnliche Weise, dass die Opfer die Gründerväter der Republik Italien seien, da diese aus deren Opfer geboren worden sei. Diese Reden schließen all jene Opfer der Risiera, die keine Partisanen waren, zugunsten eines Narrativs der nationalen Aufopferung und Erlösung aus. Der Unterschied zwischen politischer und religiöser Verfolgung wurde verwischt, alle Opfer, auch die jüdischen, wurden einer heldenhaften Befreiungsgeschichte zugeschrieben. Die Tatsache, dass unter den Opfern der Risiera auch Frauen und Kinder waren, wird vollkommen ignoriert. Darüber hinaus wurde die Rolle der kommunistischen Partisanen im Befreiungskampf völlig ausgeklammert. Die architektonische Konzeption der Risiera als Heiligenschrein eignet sich für ein Bild der Toten als gefallene Soldaten, deren Glorifizierung als 49 | Vgl. Gaia Viola: Dalla rimozione alla riscoperta: la Risiera di San Sabba nella stampa locale (1965–1995). Tesi di laurea. Università degli Studi di Trieste 1998, S. 37.

50 | Vgl. Massimo Mucci: La Risiera di San Sabba. Un’architettura per la memoria. Gorizia: Libreria Editrice Goriziana 1999, S. 49.

51 | Ebd., S. 23.

Kapitel 5

Kriegshelden an Denkmäler für den Ersten Weltkrieg erinnert, oder als Märtyrer, deren Überreste zu heiligen Reliquien werden. In ihrer Konzeption als entpolitisierter, interreligiöser Ort der Trauer gehörte die Risiera nicht mehr allein den Kommunisten. Aber das Fehlen einer genauen Einordnung in ihren ursprünglichen historischen Kontext machte die Risiera für eine Repolitisierung durch den italienischen Widerstand zugänglich, welcher ihn für ihr Narrativ der antikommunistischen und antifaschistischen Befreiung und Aufopferung zurechtbog.

Der Risiera-Prozess Ein anderes anschauliches Beispiel für die Vereinnahmung der Risiera als antikommunistischer und speziell italienischer Gedenkort ist der Kriegsverbrecherprozess in Triest im Jahr 1976. Der Prozess begann nur wenige Monate nach der Unterzeichnung des umstrittenen Vertrags von Osimo, in dem der Verlust von Istrien für Italien endgültig besiegelt wurde. Der Prozess führte zu hitzigen Debatten in der Öffentlichkeit, vor allem unter den Triestinern, die nicht in einer Vergangenheit graben wollten, die große Teile der Bevölkerung möglicherweise belastet hätte. Die Tatsache, dass Istrien endgültig an Jugoslawien abgetreten worden war, schürte zusätzlich die Angst vor der „kommunistischen Bedrohung“. Il Piccolo veröffentliche Leserbriefe von aufgebrachten Bürgern, die einen Prozess für diejenigen forderten, die die Foibe-Massaker verübt hatten. In diesen Briefen wurden die Foibe benutzt, um die Verbrechen in der Risiera zu relativieren, indem sie den dortigen 5.000 Opfern die übertriebene Zahl von 20.000 bis 30.000 „infoibati“ entgegensetzten. Damit stellten sie den Kommunismus als viel schlimmer dar als den Nationalsozialismus – vom Faschismus ganz zu schweigen.52 Der Risiera-Prozess war eine Farce. Sergio Serbo, der vorsitzende Richter, hielt sich nicht an die Grundsätze zur Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die bei den Nürnberger Prozessen festgelegt worden waren. Stattdessen unterschied er die Verbrechen gegen die Juden und andere „unschuldige Opfer“ von denen gegen jugoslawische Partisanen, die am Kampf gegen die Repubblica Sociale Italiana (RSI) und die deutschen Besatzer, die er als „nicht-unschuldige Opfer“ bezeichnete, beteiligt waren. Nur die Verbrechen gegen Juden sowie individuelle Gewaltakte, die nicht mit militärischen Befehlen in Zusammenhang standen, wurden beim Risiera-Prozess weiter verhandelt. Alle „nicht-unschuldigen“ Opfer wurden vom weiteren Verfahren ausgeschlossen, weil sie an „politischen oder Kriegshandlungen“ beteiligt gewesen waren und daher, so Serbo, „dem Kriegsrecht unterstanden“.53 Darüber hinaus gab es keinerlei Ermittlungen zur Kollaboration von Triester Bürgern. Obwohl eine Vielzahl an dokumentari52 | Vgl. Fogar: L’occupazione, S. 113–114. Neben diesen Polemiken und Diskussionsbeiträgen in der Presse listet Fogar mehrere Bombenanschläge der Faschisten gegen Kommunisten, Slowenen und Arbeiterorganisationen auf.

53 | Fogar: L’occupazione, S. 115.

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schem Material gesammelt wurde, Listen von Opfern, Überlebenden und Tätern zusammengestellt wurden (darunter zum Beispiel eine Liste von 122 italienischen Mitgliedern der SS, die in der Risiera gearbeitet hatten) und 210 Zeugen, darunter viele Überlebende, die Gräueltaten bezeugten, wurden die Italiener, Slowenen und Kroaten, die dabei geholfen hatten, die Risiera am Laufen zu halten, nicht belangt. Laut Richter Serbo hatte die RSI nichts mit den Verfolgungen und Deportationen in Julisch Venetien zu tun. Die wenigen Einzelfälle, bei denen doch einmal Italiener in Gewalttaten verwickelt waren, seien nur auf der untersten Ebene der Polizei oder durch andere Organisationen geschehen. Die Verantwortung der Faschisten und die gewaltsame Unterdrückung der slowenischen und kroatischen Bevölkerungsgruppen während des faschistischen „ventennio“ wurden zu keinem Zeitpunkt erwähnt. Am Ende wurde, wie im vorangegangenen Kapitel erwähnt, der zweite Kommandant der Risiera, Josef Oberhauser, als einziger Täter verurteilt. Der Ausschluss der Mehrheit der Opfer der Risiera vom Verfahren hatte zur Folge, dass die Risiera fortan nur als Transitlager für Juden und nicht als Tötungslager galt. Darüber hinaus war der Prozess von einer deutlich antislawischen und antikommunistischen Haltung geprägt. Richter Serbo selbst behauptete, dass die Gewalt während der deutschen Besatzung durch die Aktionen der jugoslawischen Befreiungsbewegung verstärkt worden sei und unterstellte damit, dass letztlich die Partisanen für die schweren Repressalien und die Ermordung von Zivilisten verantwortlich gewesen seien. Der Richter Domenico Maltese stellte ganz offen eine Verbindung zu den Foibe-Massakern her, als er den „nicht-unschuldigen“ jugoslawischen Partisanen unterstellte, sie seien an den Verbrechen gegen Italiener mit schuldig und hinzufügte, dass die Stadt kurz nach Ende der nationalsozialistischen Besatzung „erneut auf tragische und nicht minder abscheuliche Weise in Blut getränkt“54 worden sei. Der Prozess brachte zwar die Verbrechen in der Risiera ins allgemeine Bewusstsein, aber eine reflektierte Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit und dem größeren Kontext dieser Verbrechen fand nicht statt. Am Ende scheiterten die Richter nicht nur daran, ein vollständiges Bild der Geschichte der Risiera und ihres Kontexts zu zeichnen, sie hatten auch einem „anti-slawischen“ und antikommunistischen Reflex nachgegeben und die Foibe-Massaker mit den in der Risiera verübten Verbrechen auf eine Stufe gestellt. Die höchst problematische Logik des Risiera-Prozesses, der Kampf um den Erinnerungsort und die Jahrzehnte des Schweigens über die dort verübten Verbrechen werden in der aktuellen Dokumentationsausstellung an keinem Punkt thematisiert. Dem Besucher wird ein einheitliches Narrativ präsentiert, das weder zu den Brüchen in der Vergangenheit noch zum Erscheinungsbild der Risiera

54 | Ferdinando Zidar: „Il processo della Risiera.“ Dallo squadrismo fascista alle stragi della Risiera (con il resoconto del processo). Ed. Associazione Nazionale Ex‐Deportati. Trieste: ANED 1978, S. 157–180, hier S. 177; Sluga: Risiera, S. 407.

Kapitel 5

passt. Wie wir sehen werden, erzählen die in der Gedenkstätte ausgestellten Objekte eine vollkommen andere Geschichte.

Ein Besuch in der Risiera heute Nach ihrer Fertigstellung wurde die Gedenkstätte Risiera der städtischen Museumsverwaltung Triest unterstellt, von der sie bis heute getragen wird. Das heißt, dass die Risiera ein Museum unter vielen anderen wurde, die die Stadt zu verwalten und zu finanzieren hatte, und dass sie auch keinen eigenen Kurator bekam.55 Im Jahr 1986 veröffentlichte Galliano Fogar einen polemischen Artikel in der Zeitschrift Qualestoria mit dem Titel „La Risiera-sepolcro: Breve storia di un lungo abbandono“ („Das Risiera-Grab: eine kurze Geschichte einer langen Vernachlässigung“), in dem er hauptsächlich zwei Dinge kritisierte, die beide mit der massiven Unterfinanzierung der Gedenkstätte zusammenhängen. Da die Risiera als Ort der Trauer und als Grabstätte aufgefasst wird, wurde kein Eintritt verlangt. Die Einnahmen waren daher relativ begrenzt und die Risiera war abhängig von der Finanzierung durch die Stadt, die Region und den Staat sowie Spenden. Neben der Kritik an fehlenden Mitteln für die Ausbildung des pädagogischen Personals spricht Fogar strukturelle Probleme der Risiera selbst an: das Fehlen eines ausreichend großen Konferenzraumes für Besucher oder Forschergruppen, das Fehlen einer Heizung für die Risiera, das die Büros und den kleinen Besprechungsraum im Winter unbenutzbar machte, das Fehlen einer Lautsprecheranlage, und die fehlende Möglichkeit, den Ausstellungskatalog und die Broschüre effizient zu vertreiben und nachzudrucken.56 Die Risiera, bemängelt Fogar, führe nicht nur geographisch eine Randexistenz in Triest, sondern auch administrativ und kulturell, was ihren Bildungsauftrag als Gedenkstätte grundlegend behindere. Die Risiera, so fährt er fort, wurde von der örtlichen Bevölkerung mehr oder weniger ignoriert, außer am 25. April, wenn in der Regel eine kleine Menschenmenge zu den Gedenkveranstaltungen und den Feierlichkeiten zum Tag der Befreiung kam. Die Risiera […] ist bis heute ein Ort, der ausschließlich den immer müderen, immer gleichen offiziellen Feierlichkeiten vorbehalten ist, die dort ein- oder zweimal pro Jahr mit der unvermeidlichen Auswahl an Autoritätspersonen stattfinden, deren Reden, mit wenigen

55 | Die Risiera Commissione, die 1968 für den Wettbewerb zum Design der Gedenkstätte gegründet wurde und auch heute noch besteht, setzt sich aus mehreren Historikern und den Vorsitzenden verschiedener Organisationen italienischer Partisanen, Juden und Überlebenden, sowie aus Mitgliedern des Stadtrats zusammen. Die Kommission hat eine rein beratende Funktion.

56 | Vgl. Galliano Fogar: „La Risiera-sepolcro. Breve storia di un lungo abbandono“, in: Qualestoria 14.3 ( 1986), S. 106–112, hier S. 106–107.

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Unheimliche Geschichte Ausnahmen, oft voll von der rhetorischen Verwendung universeller Prinzipien sind (Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden im Himmel und auf Erden usw.), die wie ein trüber Regen auf die Anwesenden fallen, die Überlebenden und die Verwandten der Opfer. Ein weiteres Mal werden die Toten zur Ruhe gebettet, und sobald die obligatorischen Riten erledigt sind, kehrt alles zu seiner üblichen „Verwahrlosung“ zurück. Die Risiera überlässt man lieber den Toten, hält sie lieber von der tatsächlichen Geschichte fern, den komplexen und tragischen Ereignissen, die das Lager hervorbrachten: ein Risiera-Grab. 57

Was hat sich in dem Vierteljahrhundert seit Fogars Kritik geändert? An einigen Stellen in der Gedenkstätte wurden Hinweistafeln in mehreren Sprachen angebracht. Diese erläutern allerdings nicht den Kontext, sondern auf ihnen steht oft nur ein Wort, sodass sie ihre beabsichtigte Funktion nicht erfüllen können. Manche der Tafeln erklären die Funktion der Gebäude während ihrer Nutzung durch die Nationalsozialisten, wie „Todeszelle“ oder „Zellen“. Andere verweisen dagegen auf die heutige Funktion der Gebäude innerhalb der Gedenkstätte, wie „Museum der Risiera“ und „Gedenksaal“. Das Hinweisschild „Kreuzsaal“ erklärt nicht, wofür die Nationalsozialisten das Gebäude verwendeten, und weist auch nicht auf die Gedenkfunktion des Gebäudes hin. Es gibt keinen Hinweis auf den Ursprung dieser Bezeichnung, die sich wahrscheinlich auf Boicos Entwurf bezieht, der alle Innenwände und Decken des Gebäudes entfernen ließ, um die vorhandenen kreuzförmigen Balken freizulegen. Die jüdische Gemeinde von Triest kritisierte dieses Schild massiv, da der offensichtlich christliche Anklang die Juden marginalisiere, die in diesem Gebäude vor der Deportation gefangen gehalten worden waren. Daraufhin erhielt die jüdische Gemeinde einen Bereich in diesem Raum, um persönliche Gegenstände von Triester Juden auszustellen, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden waren. Seit dem Jahr 2000 sind diese Objekte in kleinen Glaskästen in der Nordwand ausgestellt. Seit 2003 ist außerdem ein Glasgefäß mit Erde aus Jerusalem in einem Glaskasten neben diesen Objekten zu sehen. Im Gegenzug erhielt das Museum von Yad Vashem Erde aus der Risiera und einen Stein des Gebäudes, in dem die Juden eingesperrt waren. Gleichzeitig wurde die Ausstellung in der Risiera um Objekte wie eine Urne mit Asche aus Auschwitz sowie Häftlingskleidung aus einem namentlich nicht genannten deutschen Konzentrationslager erweitert. Diese Objekte betonen die Verbindung der Risiera mit der weiteren Geschichte des Holocaust. Aber nichtsdestotrotz verunklären sie den Fokus der Ausstellung und könnten zu Unklarheiten führen, weil sie keinen direkten Bezug zu dem Ort selbst besitzen. Beispielsweise erfahren die Besucher nicht, dass die Gefangenen in der Risiera keine Häftlingskleidung wie die ausgestellte tragen mussten. Während manche Ausstellungsobjekte als Beweise für die Verbrechen in der Risiera dienen wie zum Beispiel der Knüppel, mit dem Gefangene erschlagen wurden, haben diese zusätzlichen Objekte eine Symbolfunktion. 57 | Ebd., S. 107–108.

Kapitel 5

Diese verschiedenen Hinzufügungen und Modifikationen führten zu einer Art Patchwork-Charakter, der sich allerdings völlig von dem unterscheidet, den ich bei der Gedenkstätte Grafeneck beschrieben habe. In Grafeneck resultiert der Patchwork-Effekt aus der Tatsache, dass es keine einheitliche Gestaltung der Gedenkstätte gibt und dass jede neue Hinzufügung für sich selbst steht.58 In der Risiera entsteht dieser Patchwork-Effekt durch die verschiedenen Geschichten, die die Hinzufügungen und Änderungen über den Ort erzählen, und er ist eher politisch als künstlerisch motiviert: Die Erweiterungen der Risiera-Gedenkstätte illustrieren die permanenten Aushandlungsprozesse verschiedener Interessengruppen, die jeweils einen bestimmten Platz für sich beanspruchen. Die verschiedenen Gedenktafeln in dem kleinen Innenhof sind ohne Zweifel das beste Beispiel für diesen Effekt. Sie wirken wie ein Flickenteppich auf der grauen Betonoberfläche und erinnern jeweils an eine andere Opfergruppe – die Frauen von Triest, die jüdischen Opfer, die Partisanen und so weiter – und sie alle kommen zusätzlich zu den vorhandenen Tafeln hinzu, markieren ihren eigenen Platz und grenzen sich ab. Diese vielfältigen Stimmen ergänzen das Narrativ dieses Ortes, wie es sonst präsentiert wird, und sie offenbaren dessen Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit. Aber ohne den nötigen Kontext werden die Besucher wohl mehr verwirrt als dass sie sich ein vollständigeres Bild von der Geschichte des Ortes und seiner Bedeutung machen könnten. Ein paar allgemeine Verbesserungen gab es in den 1990er Jahren, beispielsweise erschien eine mehrsprachige Broschüre zur Ausstellung mit historischen Kontextinformationen sowie ein paar grundlegenden Erklärungen zum Denkmalkomplex. Des Weiteren wurde ein mehrsprachiger Lehrfilm, La Risiera di San Sabba, zusammengestellt, der auf Anfrage vorgeführt werden kann. Erstmals wurde die Gedenkstätte Risiera auch in den Materialien der Touristeninformation von Triest erwähnt. Die Gedenkstätte wurde außerdem verstärkt für kulturelle Veranstaltungen genutzt, die die Triestiner animieren sollten, zur Risiera zu kommen. Es wurden Kunst- und Dokumentationsausstellungen im Civico Museo, und Konzerte oder Theateraufführungen im Innenhof organisiert, darunter die Oper Brundibár des böhmischen Musikers Hans Krása, der in Auschwitz ermordet wurde, und eine Lesung von I me ciamava per nome: 44.787, ein Stück über die Deportation der italienischen Juden, das auf historischem Material und Zeu58 | In Grafeneck sind die meisten Hinzufügungen zur Gedenkstätte unabhängige Kunstwerke ohne die Absicht, Kontextinformationen beizusteuern. Darüber hinaus werden in Grafeneck keine originalen Objekte ausgestellt wie persönliche Gegenstände, Folterinstrumente oder Kleidungsstücke. In Grafeneck wurden keine solchen Objekte gefunden und die Ausstellung es vermeidet bewusst, originale Artefakte, einschließlich Dokumente und Fotografien, auszustellen. Selbst die Kopien von Dokumenten und die Fotografien von Tätern und Opfern werden absichtlich zugeschnitten, vergrößert oder nur in Teilen gezeigt. Dadurch soll jegliche Art von Fetischisierung der Objekte, die mit den Verbrechen zu tun haben, verhindert werden.

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genaussagen basiert und von dem Triestiner Regisseur Renato Sarti produziert wurde.59 Nichtsdestotrotz blieb die Risiera für die einheimische Bevölkerung weiterhin ein Ort, der im Alltagsleben der Stadt letztlich keine Rolle spielt. Im Mai 1994 veröffentlichte die Triestiner Tageszeitung Oggi eine Umfrage zur Gedenkstätte, die sie unter Triestiner Jugendlichen durchgeführt hatte. Nur 5 % hatten die Gedenkstätte schon mal besucht, die meisten wussten nicht einmal, was die Risiera ist.60 Während die meisten Triestiner die Risiera anscheinend am liebsten vergessen, hat sich die Zahl an Besuchern aus ganz Italien im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Über 60 % der Besucher sind Schulklassen, vorwiegend aus Norditalien (Friaul-Julisch Venetien, Lombardei, Venetien, Emilia-Romagna), aber auch aus anderen Regionen. Diese Gruppen kommen normalerweise mit mehreren Lehrern für vier bis fünf Tage nach Triest und besuchen auch andere historische Stätten einschließlich der Foiba di Basovizza. Die meisten Besucher der Risiera sind daher zwischen zwölf und achtzehn Jahre alt. Unter den übrigen 40 % sind Gruppen von Erwachsenen (Senioren, Pfarrgemeindegruppen usw.), Familien und Einzelpersonen, von denen die meisten zu den Gedenkfeiern am 27. Januar und 25. April kommen. Für Führungen und andere pädagogische Aktivitäten steht in der Risiera ein zehnköpfiges Team von Historikern zur Verfügung. Francesco Fait, einer der Historiker der Risiera, erklärt, dass die Risiera in den Monaten April und Mai kostenlose Führungen für Schulklassen anbietet (in den anderen Monaten kostet eine Führung 2,70 € pro Schüler). Daher kommen die meisten Gruppen in dieser Zeit, aber die Kapazitäten der Pädagogen der Risiera reichen nicht für alle Schülergruppen.61 Die Führungen mit den Historikern der Risiera dauern eine Stunde und werden nur auf Italienisch angeboten. Normalerweise reicht eine einstündige Führung nicht aus, um die historischen Hintergründe

59 | Sartis Stück, das zum 50. Jahrestag der Befreiung im Juli 1995 uraufgeführt wurde, war ein großer Erfolg und hatte über 4.000 Zuschauer. Es basiert auf historischem und dokumentarischem Material sowie Zeugenaussagen auf Italienisch, Slowenisch, Kroatisch und Hebräisch. Das Stück liefert nicht nur eine umfassende Einführung zu den Verbrechen der Faschisten und Nationalsozialisten in der Region, sondern erzählt auch die persönlichen Geschichten mehrerer Opfer der Risiera. Ich untersuche das Stück in Kapitel 6 genauer.

60 | Vgl. Viola: Dalla rimozione alla riscoperta, S. 142. 61 | Die Historiker der Risiera, so erzählte mir Francesco Fait, sind nicht die einzigen, die Führungen durch die Gedenkstätte anbieten. Oft führen Lehrer ihre Klassen selbst, außerdem bieten Guides der Stadt Triest einen Besuch der Risiera in ihrem Portfolio an kulturellen und historischen Stätten mit an. Diese Führungen sind laut Fait oft kürzer und weniger ausführlich. Das Problem mit diesen Touristenführern sei, so Fait, dass sie nicht notwendigerweise ein differenziertes Bild der Geschehnisse in der Risiera zeichnen oder detaillierte Fragen oft nicht beantworten können (persönliches Interview, 25. Mai 2010).

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genauer anzusprechen oder die umfangreiche Dokumentationsausstellung, die seit 1998 nicht mehr verändert wurde, näher anzusehen.62 Der mehrsprachige Dokumentarfilm La Risiera di San Sabba wird auf Anfrage vorgeführt, aber viele Schulklassen haben nicht genug Zeit für die 26 Minuten dauernde Vorführung. Der Film wurde 1994 von Gianfranco Rados und Piero Pieri gemacht und gewann einen italienischen Filmpreis. Die lokalen Historiker Elio Apih, Marco Coslovich und Giampaolo Valdevit standen während der Produktion als Berater zur Verfügung. Ähnlich wie die Dokumentationsausstellung konzentriert sich der Film auf die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Er liefert nur sehr knappe Erläuterungen zum historischen Hintergrund des Nationalsozialismus und Antisemitismus und so gut wie keine Informationen zum italienischen Faschismus und zur Geschichte der Region vor 1943. Der Film erklärt ausführlich den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und verlagert dann den Fokus auf Italien und Triest, wo, wie der Erzähler erklärt, „das Umfeld empfänglicher“ für die nationalsozialistischen Ideologien war als in anderen Regionen. Die Zuschauer erhalten eine kurze Beschreibung der faschistischen Rassengesetze („die ihr deutsches Gegenstück nachahmten“), und es werden Fotos von der Zerstörung der Triester Synagoge durch die Triestiner Faschisten im Jahr 1941 gezeigt. Drei Überlebende der Risiera erzählen ihre Geschichte und beschreiben die grausamen Bedingungen während ihrer Gefangenschaft, ein Interview mit Apih liefert den historischen Hintergrund. Eine längere Sequenz zu den nationalsozialistischen Tätern und Originalaufnahmen aus Auschwitz zeigen, was mit den jüdischen Gefangenen nach der Deportation aus Triest geschah. Die Kollaboration der Einheimischen mit den deutschen Besatzern wird im Film in zwei Sätzen erwähnt: Das Lager liegt innerhalb der Stadtgrenze. Und es gibt Gerüchte über das, was da passierte. Man ist also geneigt, daraus abzuleiten, dass die Nazis in Triest über einen großen Anteil an Unterstützung und in gewisser Weise stillschweigendes Komplizentum verfügten. Sie wurden von den Organen des faschistischen Unterdrückungsapparates unterstützt [und einem weiten Netzwerk von Informanten, das den Nazis in Gräueltaten in nichts nachstand], wie zum Beispiel das Sonderinspektorat der Polizei, das in der Erinnerung der Bevölkerung als Villa Triste haften geblieben [ist]. 63

62 | Seit einigen Jahren bietet der Servizio Didattico dei Civici Musei (Pädagogischer Dienst der Stadtmuseen) in Triest mehrere zusätzliche und zum Teil längere Führungen zu unterschiedlichen Themen in der Risiera an, zum Beispiel zu den Themen Grenze, Zeitzeugenberichte, sowie zu Solidarität und Toleranz. Siehe http://www.serviziodidattico.it/musei/museo-della-risiera-di-san-sabba-monumento-nazionale/ (letzter Zugriff: 20. Juli 2017).

63 | La Risiera di San Sabba. Regie: Gianfranco Rados/Piero Pieri. Videoest 1994, [21:59– 22:34]. Die deutsche Fassung ist an dieser Stelle mangelhaft: es fehlt offensichtlich ein halber Satz, der hier aus dem italienischen Original ergänzt wurde.

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Der Film endet mit einer kurzen Erwähnung der Risiera-Prozesse (ohne deren Unzulänglichkeiten anzusprechen), gefolgt von der Mahnung, „wie ungewiss unter immer wiederkehrenden Spannungen der Weg zur Demokratie“ sei. „Das Bewusstsein dieser Tatsache“, schließt der Begleitkommentar, „ist die wahre Grundlage, von der aus wir in eine Zukunft mit einer stärkeren und größeren Demokratie schauen können.“64 Der Film stellt keinen Bezug her zwischen den Verbrechen der Vergangenheit und heutigen gesellschaftlichen Problemen. Es bleibt unklar, was die Ereignisse in der Risiera mit uns heute zu tun haben. Die Nachkriegsgeschichte der Risiera wird vollständig ausgelassen, ebenso unterbleibt eine reflektierte Betrachtung der Auseinandersetzungen um den Umgang mit der Erinnerung an die Geschehnisse in der Risiera. Der Besuch der Gedenkstätte und der Film lösen beim Besucher eine emotionale Reaktion aus, aber ohne einen Guide oder Lehrer, der die Besucher vorbereitet und Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen kann, bleibt die Relevanz der Risiera den Besuchern größtenteils verborgen. Die Probleme, die Fogar in seinem Artikel 1986 angesprochen hat, sind nur zum Teil gelöst. Der Historiker Tristano Matta erklärte 2010, dass dies in hohem Maße mit den politischen Veränderungen der italienischen Mitte-Rechts-Regierung der 1990er und 2000er Jahre in Bezug auf Kulturpolitik im Allgemeinen und Gedenkstätten im Besonderen zu tun habe. In Triest waren die letzten drei für die Betreuung der Museen zuständigen Assessori della Cultura Mitglieder der inzwischen aufgelösten post-faschistischen Partei Movimento Sociale Italiano. Das erklärt natürlich, warum weniger Mittel für die Risiera bereitgestellt wurden und mehr in die Gedenkstätte Foiba di Basovizza flossen.65 Die Risiera war ursprünglich als aktiver Gedenkort gedacht, als Bildungszentrum und Ort für kulturelle Veranstaltungen, Ausstellungen, Tagungen und Forschung. Aber dazu müsste die Risiera ihren Status als Heiligenschrein für die Helden der Befreiungsbewegung aufgeben. Sie müsste Raum für interaktive Bildungsarbeit und pädagogische Aktivitäten schaffen. Kurz gesagt, nicht nur die Inhalte, auch die Infrastruktur sind verbesserungswürdig. Die Dokumentationsausstellung müsste überarbeitet werden, um ein differenzierteres Bild zu präsentieren, das zwischen den verschiedenen Verfolgungsarten in der Region vor, während und nach der deutschen Besatzung unterscheidet. Am stärksten benötigt die Ausstellung jedoch ein gewisses Maß an Selbstreflexion, vielleicht einen Überblick über den anhaltenden Streit um die Erinnerung und das Gedenken nach dem Krieg, vielleicht eine Diskussion der Rolle, die authentische Erinnerungsorte in der heutigen Gesellschaft spielen.

64 | Ebd., [24:23–24:44]. 65 | Interview mit Tristano Matta, 16. Juni 2010. Vgl. auch Atkinson/Purvis: „Performing“.

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Abbildung 15: Der Eingang zur Foiba di Basovizza

Foto: Kári Driscoll

D ie F oiba

di

B asoviz z a

Ein Besuch in der Foiba di Basovizza verläuft völlig anders als ein Besuch in der Risiera di San Sabba, vor allem weil dort keine authentischen Relikte erhalten sind, die helfen könnten, eine Verbindung zur Vergangenheit herzustellen. Die Gedenkstätte liegt inmitten einer malerischen Hügellandschaft mit vielen Büschen und Bäumen, fünf Autominuten von Triest entfernt (Abb. 15). Die meisten „foibe“ sind natürliche, durch Erosion entstandene Schlundlöcher. Die Foiba die Basovizza ist dagegen der mehr als 250 Meter tiefe aufgelassene Schacht eines ehemaligen Kohlebergwerks, in dem zwischen 1901 und 1908 Kohle gefördert wurde. Insofern ist Foiba di Basovizza eigentlich eine Fehlbezeichnung, Historiker bevorzugen den Begriff „pozzo“ (Mine, Brunnen oder Schacht). Die Gedenkstätte liegt auf einem weitläufigen, ummauerten Gelände. In der Nordwestecke befindet sich in einem kleinen Steingebäude mit niedrigem Dach das Dokumentationszentrum. Daneben verteilt sich eine Vielzahl an steinernen und marmornen Gedenktafeln in verschiedenen Formen und Größen, manche mit Namen, andere mit Gebeten, die im Laufe der Jahre von verschiedenen Interessengruppen oder Familien aufgestellt wurden. Im Zentrum der Anlage verdeckt ein großer metallüberzogener Betonblock den eigentlichen Minenschacht. Dahinter steht eine schwarze Eisenskulptur mit einem Kreuz an der Spitze (Abb. 16). Die Eisenskulptur soll an jene Kranauf bauten erinnern, die für die Erforschung der „foibe“ genutzt wurden, sie verleiht der ansonsten wenig beeindruckenden

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Abbildung 16: Die Gedenkskulptur über dem Minenschacht

Foto: Kári Driscoll

Anlage eine gewisse Unheimlichkeit und Bedrohlichkeit. Im Hintergrund steht eine große Steinplatte mit einem Gebet für die Opfer. Wie die Risiera ist auch die Foiba di Basovizza als Heiligenschrein für die Opfer gestaltet, die hier ebenfalls als Märtyrer bezeichnet werden. Während die Risiera eine „säkulare Basilika“ sein sollte, setzen das Kreuz und die Gebete die Foiba di Basovizza explizit in einen christlichen Rahmen. Nichtsdestotrotz ist an diesem Gedenkort bei all seinen Gedenktafeln am bemerkenswertesten, dass er quasi um eine Leerstelle oder Abwesenheit herum errichtet ist: den unsichtbaren Minenschacht. Diese zentrale Abwesenheit liefert

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eine passende Metapher für den Diskurs um die Foibe-Massaker als Ganzes in der italienischen Erinnerungslandschaft. Es ist kein Zufall, dass die Befürworter der Erinnerung an die Foibe-Massaker sich der Sprache der Psychoanalyse bedienen, wenn sie über deren Stellung im nationalen Bewusstsein sprechen.66 Aus dieser Perspektive scheint die Erinnerung an die Foibe-Massaker verdrängt worden zu sein, die Aufarbeitung dieser Erinnerung, die in den letzten beiden Jahrzehnten begonnen hat, stellt eine Art Therapie für die italienische Psyche dar, um die Wunden des 50 Jahre währenden institutionalisierten Vergessens zu heilen, das auf die linke Regierung zurückging. Nach diesem Narrativ würde die Verdrängung, die die italienische Erinnerungskultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte, damit aufgehoben werden. Ein anderes Bild, das auf die Erinnerung an die Foibe-Massaker zutrifft, bedient sich nicht der Sprache der Psychoanalyse, sondern der Astrophysik: das Schwarze Loch.67 Das bestimmende Merkmal eines Schwarzen Loches ist, dass es eine so starke Gravitation erzeugt, dass nicht einmal Licht sie wieder verlassen kann, was es für konventionelle Beobachtungsinstrumente absolut unsichtbar macht. Ein Schwarzes Loch kann man daher nur wahrnehmen, indem man die Wirkung betrachtet, die es auf seine Umgebung ausübt, seine Symptome also. Damit befinden wir uns erneut im Bereich der Psychoanalyse. Die Frage ist jedoch, ob es sich beim Diskurs über die Foibe-Massaker, so wie er sich um diese zentrale Leerstelle und Abwesenheit strukturiert, um die Wiedererlangung einer verdrängten Erinnerung handelt oder eher um eines der Symptome eines Verdrängungsprozesses. Im Folgenden versuche ich eine mögliche Antwort auf diese Frage zu geben, indem ich nicht nur den Diskurs um die Foibe untersuche, sondern auch dessen Wechselwirkungen – und damit die dadurch verursachten diffraktiven Muster – mit den Diskursen um die Risiera, die Besatzung durch die Nationalsozialisten und den Holocaust. Das Dokumentationszentrum der Basovizza besteht aus einer kleinen Dokumentationsausstellung, Lageplänen, ein paar Kunstobjekten und einer kleinen, aber vielseitigen Auswahl an Büchern und anderen Informationsmaterialien, die 66 | Besonders auffällig war das beim Minister für Kommunikation unter Berlusconi, Maurizio Gasparri, der 2002 in einem Interview erklärte, dass die Wiederentdeckung der Foibe die Wiedererlangung einer Erinnerung bedeutet habe, die durch die italienische Linke seit Kriegsende unterdrückt worden sei. Ich komme auf dieses Interview im nächsten Kapitel zurück.

67 | Ich bin nicht die erste, die dieses Bild vorschlägt. Mehrere Kritiker haben die Foibe-Massaker, ihre Geschichte und die Erinnerung daran als „schwarze Löcher“ beschrieben. Sie argumentieren, dass die Foibe nach wie vor eine so starke Anziehungskraft auf die Vorstellung der Menschen ausüben, weil sie diese Leere mit ihren eigenen Bedeutungen und Assoziationen füllen können (vgl. Pamela Ballinger: History in Exile; Accati/Cogoy: Das Unheimliche in der Geschichte; und Katia Pizzi: „‚Silentes loquimur‘: Foibe an Border Anxiety in Post-War Literature from Trieste“, in: Journal of European Studies 28.3 (1998), S. 217–229).

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Abbildung 17: Hypothetischer Querschnitt der „foiba“

Foto: Kári Driscoll

die Besucher vor Ort durchblättern und kaufen können. Wie bei der Risiera wird kein Eintritt verlangt, für einen geringen Betrag können Besucher jedoch an einer Führung teilnehmen. Das Dokumentationszentrum ist das einzige Gebäude vor Ort. Es gibt keine Räumlichkeiten für Forschung oder Workshops, Tagungen, Konferenzen oder ähnliches. Wie in der Risiera besteht die Dokumentationsausstellung hauptsächlich aus Reproduktionen von Fotografien und Archivdokumenten mit Erklärungen auf Italienisch (ausländische Besucher können einen mehrsprachigen Ausstellungskatalog erwerben, in dem jede Schautafel mit Übersetzungen abgebildet ist). Die Ausstellung beginnt im Jahr 1945, in den letzten Tagen des Krieges, als das Dorf Basovizza im Zentrum der Gefechte zwischen der jugoslawischen Befreiungsarmee und den sich zurückziehenden deutschen Truppen stand.68 Am Ende der Schlacht warfen die Bewohner von Basovizza die Leichen von Menschen und Pferden sowie die übriggebliebene Munition in den alten Bergwerksschacht. Auch wenn es in der Ausstellung nicht angesprochen wird, ist aus verschiedenen historischen Aufzeichnungen und Zeugenaussagen bekannt, dass der Minenschacht schon vor den 1940er Jahren von Faschisten und Nationalsozialisten genutzt wurde, um alle Arten von Abfällen und die Leichen politischer Gegner loszuwerden.69 Was sich während der kurzen Besatzung 68 | Vgl. Giuseppe Parlato/Raoul Pupo/Roberto Spazzali: Foiba di Basovizza. Monumento nazionale. Trieste: Stella Arti Grafiche 2008, S. 11.

69 | Vgl. Cernigoi: Operazione „Foibe“, S. 165–166.

Kapitel 5

Triests und seines Umlands durch die Jugoslawen an diesem Schacht ereignete ist bis heute völlig ungeklärt. Die Ausstellung zitiert einige Zeitungsberichte, um die Behauptung zu untermauern, dass an dieser Stelle Anfang Mai 1945 Hunderte von Zivilisten exekutiert und ihre Leichen in den Schacht geworfen wurden. In den Monaten nach Kriegsende unternahmen die Alliierten sowie italienische Informationsdienste mehrere Versuche, die Leichen zu bergen und zu zählen sowie Informationen über die Hinrichtungen zu sammeln, jedoch ohne Erfolg: die Bergung war anscheinend zu gefährlich. In diesem Kontext erwähnt die Ausstellung zwar mehrere angebliche Geheimberichte, Zeitungsartikel und Augenzeugenberichte, aber es werden keine exakten Daten zur Zahl der Opfer genannt. Große Fotografien von Leichen und Särgen illustrieren die Bergung der Leichen, aber laut den Bildunterschriften handelt es sich um Aufnahmen von anderen Sinklöchern in der Region und nicht vom Minenschacht in Basovizza. Anders als in der Risiera ist die Ausstellung in Basovizza sorgfältig darum bemüht, die Nachkriegsgeschichte des Ortes darzustellen, und der Kampf um das Gedenken und die Memorialisierung ist sogar einer der Schwerpunkte. Im Mai 1959 genehmigte die italienische Kriegsgräberfürsorge, Commissariato generale onoranze ai caduti in guerra, dass der Minenschacht mit einer abnehmbaren Betonplatte abgedeckt wurde. Damit sollte verhindert werden, dass er weiterhin zur Müllentsorgungen genutzt wird, ohne spätere Ausgrabungen unmöglich zu machen. Im November desselben Jahres fand ein Gedenkgottesdienst statt, in dem der Bischof von Triest, Antonio Santin, ein Gebet vorlas, das er für die Opfer der Foibe-Massaker geschrieben hatte. In den darauffolgenden Monaten wurde eine Steintafel, in die ein großes Kreuz und ein Ausschnitt aus Santins Gedicht eingraviert war, neben den Schacht gesetzt. In der Nähe wurde ein anderer Gedenkstein aufgestellt, der einen Querschnitt des Schachts mit den hypothetischen Schichten seines Inhalts zeigt: Trümmer und Geschütze aus dem Ersten Weltkrieg am Grunde des Schachtes, dann „ca. 500 Kubikmeter“ Leichen (für einen Zeitraum von 1918 bis 1945), dann eine Schicht mit Munition von den Schlachten 1945 und schließlich eine Schicht mit verschiedenen Gegenständen, die im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg darin entsorgt wurden (Abb. 17).70 Im Laufe der Jahre kamen rund um den Schacht mehr und mehr Gedenksteine hinzu – ein deutlicher Hinweis auf die wachsende Bedeutung der Foiba di Basovizza für die lokale Bevölkerung. Dennoch dauerte es über 40 Jahre, bis der Ort offiziell zu Gedenkstätte erklärt wurde: Nach wiederholten Gesuchen verschiedener Organisationen von Vertriebenen aus Istrien und Dalmatien sowie der populistischen italienischen Lega Nazionale wurde die Foiba di Basovizza 1980 zunächst zum Denkmal öffent70 | Cernigoi ist aufgefallen, dass die Beschriftung des Gedenksteins mehrere Male geändert wurde. Laut der Beschriftung aus dem Jahr 1996 war der Schacht 500 Meter tief, mit „300 m3 di infoibati“. 1997 war der Schacht plötzlich nur noch 256 Meter tief und enthielt „500 m3 di infoibati“. Diese spätere Beschriftung ist noch heute vorhanden (vgl. Cernigoi: Operazione „Foibe“).

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lichen Interesses und schließlich 1992 zum Nationaldenkmal erklärt.71 Danach haben der Architekt Ennio Cervi und der Künstler Livio Schiozzi die Gedenkstätte in ihre heutige Form umgestaltet. Am 10. Februar 2007, dem Giorno del ricordo, wurde sie eröffnet. Der größte Teil der ebenfalls 2007 eröffneten Dokumentationsausstellung (sieben Schautafeln) widmet sich dem historischen Kontext der Ereignisse und beginnt 1943 mit der ersten Reihe von Foibe-Tötungen in Istrien. Während ihres Versuchs, Istrien zu annektieren, tötete die jugoslawische Befreiungsarmee „Regimeanhänger und Mitglieder der Faschistischen Partei, Vertreter des italienischen Staates, Unternehmer und Führungskräfte der italienischen Gemeinschaft im allgemeinen“.72 Die Gewaltakte durch die Jugoslawen werden als eine Art „prämoderne“ (d.i. barbarische) Urgewalt charakterisiert, die sich im Niederbrennen von Dörfern und Gebäuden, Lynchmorden, Vergewaltigungen und „infoibamenti“ Ausdruck verschaffte.73 Die Erzählung fährt fort mit dem Wettlauf zur Befreiung von Triest zwischen der jugoslawischen Armee und den Alliierten im Frühling 1945. Eine Schautafel ist allein dem Aufstand von Triest am 30. April 1945 gewidmet: Isoliert vom übrigen CLN in Norditalien und nicht willens, sich mit den kommunistischen – pro-jugoslawischen – Partisanen zu verbünden, entschied sich das Triestiner CLN, die Stadt ohne Hilfe zu befreien, um sie so für Italien beanspruchen zu können. Mitglieder der CLN besetzten die wichtigsten öffentlichen Gebäude der Stadt einschließlich des Rathauses, mussten aber schon am nächsten Tag den Jugoslawen weichen. Die Betonung der Rolle des CLN ist eine interessante Gemeinsamkeit zwischen den Ausstellungen in Basovizza und der Risiera. Die Narrative an beiden Orten zielen auf eine Delegitimierung der jugoslawischen Befreiungsbewegung: in Basovizza, um die Jugoslawen als grausame Besatzer darzustellen, und in der Risiera, um das Narrativ der heroischen Aufopferung aufrechtzuerhalten, die das neue Italien hervorbrachte. In Basovizza stellt die ausführliche Beschreibung der Deportationen und Exekutionen während der 40 Tage der jugoslawischen Herrschaft in Triest – einer Zeit, die sich als die „vierzig Tage des Terrors“ im kollektiven Gedächtnis der Triestiner eingebrannt hat – die jugoslawische Armee auf eine Stufe mit den Nationalsozialisten: Es begannen gewaltsame „Säuberungsaktionen“, in denen alle „Feinde des Volkes“, Zehntau71 | Das sehr knappe Dekret enthält keine Erklärung, was die Foiba di Basovizza ist und warum sie von nationaler Relevanz ist: „Mit dem Dekret des Präsidenten der Republik, 11. September 1992, auf den Vorschlag des Ministers für Kultur- und Landschaftsgüter hin, wurde die Foiba di Basovizza zum Nationaldenkmal erklärt.“ (Zit. n. Parlato/Pupo/Spazzali: Foiba di Basovizza, S. 25).

72 | Parlato/Pupo/Spazzalo: Foiba di Basovizza, S. 86. 73 | Die Charakterisierung der jugoslawischen Armee als barbarisch und unzivilisiert ist ein zentraler Bestandteil des Foibe-Diskurses. Es ist kein Zufall, dass besonders dieser Aspekt Mitte der 1990er Jahre im Kontext des Jugoslawien-Krieges in den italienischen Medien betont wurde.

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sende Italiener, getötet oder auf „Todesmärschen“ in „Konzentrationslager“ bei Ljubljana „deportiert“ wurden.74 Die vorletzte Schautafel kehrt zu der wichtigen Frage zurück, wie viele Menschen tatsächlich getötet wurden. Nach der Auflösung Jugoslawiens 1991, so heißt es, fand man in Slowenien Belege für mehr als 2.000 „Höhlen oder Massengräber, in denen Zehntausende Opfer von Titos gewaltsamer Machtergreifung 1945 versteckt wurden.“75 Der öffentliche Diskurs um die Foibe dagegen konzentriert sich fast ausschließlich auf die Opferzahlen, denn auf ihnen beruht nicht nur die historische Relevanz der Tötungen (und natürlich die Genozid-Theorie), sondern auch der Grad der Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit. Bis heute gibt es keine offizielle Liste der Opfer und Vermissten.76 Neuere Forschungen von Historikern wie Jože Pirjevec und Nevenka Troha sowie der Journalistin Claudia Cernigoi stellen diese Opferzahlen in Frage und äußern Zweifel darüber, ob in der Foiba di Basovizza überhaupt Massenexekutionen stattfanden. In Operazione „Foibe“ tra storia e mito zeigt Cernigoi unter Einbeziehung zahlreicher Zeitungsartikel und Berichte aus den Jahren zwischen 1945 und 1995, wie sich die dort genannten Opferzahlen im Laufe der Zeit exponentiell vervielfacht haben – von anfangs 18 Opfern auf über 3.000 –, obwohl nie eine vollständige Ausgrabung im Schacht stattgefunden hat.77 Diese Ungewissheiten in Bezug auf die Zahl der Opfer von Basovizza lassen wiederum Zweifel an der Relevanz der Gedenkstätte selbst aufkommen: Warum wurde gerade dieser Ort als zentrales Denkmal für die Foibe-Massaker gewählt, wenn er eigentlich keine „echte“ Foiba ist? Mit den vielen verschiedenen Gedenksteinen, die alle im Grunde derselben Opfergruppe gedenken, den eigens verfassten Gebeten und den Fotos, die andere Orte zeigen, ist die Gedenkstätte Basovizza ein Ort der konstruierten Erinnerung, die um einen Minenschacht herum eingerichtet wurde, der möglicherweise überhaupt keine Leichen enthält. Es scheint, dass die Nähe zu Triest und zur Risiera ein entscheidender Faktor war, denn die Dokumentationsausstellung bezieht sich explizit auf die Risiera. Die 74 | Parlato/Pupo/Spazzali: Foiba di Basovizza, S. 44–51. Diese Ereignisse werden üblicherweise als die „Foibe del ’45“ bezeichnet, obwohl die meisten Getöteten nie in die Schlundlöcher geworfen wurden. Stattdessen wurden sie kurzerhand exekutiert oder starben in Gefangenschaft (vgl. Pupo: Il lungo esodo, S. 99). Über die implizite Holocaust-Terminologie hinaus, mit der diese Ereignisse auf der Schautafel beschrieben werden, ist es wichtig anzumerken, dass der Begriff „infoibamento“ typischerweise für alle Italiener verwendet wurde, die in dieser Zeit „verschwanden“, unabhängig davon, ob sie tatsächlich in eine „foibe“ geworfen wurden oder nicht – eine Unterscheidung, die in jedem Fall unmöglich getroffen werden kann, solange es keine Exhumierungen und Identifikationen der Opfer gibt.

75 | Parlato/Pupo/Spazzali: Foiba di Basovizza, S. 60. 76 | Verginella: Geschichte und Gedächtnis, S. 70. 77 | Cernigoi: Operazione „Foibe“, S. 190; vgl. auch Pirjevec: Foibe: Una storia d’Italia, S. 110–124, 131, 285–291, und 309–315.

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letzte Schautafel der Ausstellung verlässt den engen Rahmen der Jahre von 1943 bis 1945 und wendet sich dem weiteren historischen Kontext zu. Die Geschichte der Vorkriegszeit der Region wird als eine der wiederholten Besatzung und eines ständigen Kampfes zwischen den Italienern und den Slowenen und Kroaten präsentiert, dem dann die gewaltsame Besatzung durch die Nationalsozialisten folgte, für die die Risiera das prominenteste Beispiel ist: „Nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 und den ersten Hinrichtungen von Italienern in Istrien richtete die deutsche Besatzungsmacht in der Region Julien das Konzentrationslager ‚Risiera di San Sabba‘ in einer ehemaligen Reismühle ein [...]“.78 Indem es die Verfolgung der Italiener in Istrien mit der Risiera gleichsetzt, stellt das Narrativ diese beiden verschiedenen Ereignisse als zwei Seiten derselben Medaille dar. In dieser Überblicksausstellung wird die Region zum „Labor“ der traumatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, gekennzeichnet von nationalen Streitigkeiten in Verbindung mit sozialen Konf likten; Massenkriegen; unvorhersehbaren Auswirkungen aufgrund des Untergangs von plurinationalen Mächten; dem Überhandnehmen antidemokratischer Regimes, die ihre totalitären Forderungen einer lokalen, innerlich tief gespaltenen Gesellschaft aufzwingen wollen; vom Aufruf zu Rassenverfolgungen und zur Schaffung eines ‚Universums der Konzentrationslager‘; von Zwangsansiedlungen von Bevölkerungsgruppen, die die nationale Zusammensetzung eines Gebiets unwiderruf lich verändern; von religiösen Verfolgungen im Namen des Staatsatheismus; durch Ost-West-Konf likte an einer der Grenzen des Kalten Krieges. Ein Konzentrat an großen Tragödien des vergangenen Jahrhunderts, die sich auf diesem kleinen Flecken Erde ereignet haben. 79

Auf den ersten Blick erscheinen all diese Aussagen einleuchtend. Aber das dramatische Bild, das hier gezeichnet wird, ist das einer italienischen Bevölkerung, die eine Reihe von fremden Besatzungen ertragen musste – einschließlich der des Faschismus, je nachdem, wie man den Begriff „antidemokratische Regimes“ versteht. Zwei Weltkriege, der Zerfall des Habsburgerreiches, der Aufstieg des Totalitarismus, der Holocaust, die Massenauswanderungen aus Istrien, Kommunismus und der Kalte Krieg – diese Litanei der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die der Region zugestoßen sind, und die nun implizit auch die Foibe-Massaker mit einschließt, stellt alle Opfer auf eine Stufe. Und eben hier erlangt die ständig wachsende Zahl an Opfern, die angeblich in den Foibe ruhen, zentrale Bedeutung. Um Tötungen in den Foibe als „italienische Tragödie“ zu qualifizieren, dürfen die Opferzahlen denen der anderen Tragödien in nichts nachstehen, vor allem natürlich nicht denen der Risiera, des direkten Konkurrenten von Basovizza. Wir werden vielleicht nie erfahren, wie viele Menschen tatsächlich während der Foi78 | Parlato/Pupo/Spazzali: Foiba di Basovizza, S. 96. Zitiert nach der deutschen Übersetzung im Ausstellungskatalog.

79 | Ebd.

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be-Massaker starben. Das scheint für Basovizza aber eigentlich nicht besonders wichtig zu sein. Es scheint, dass es bei den Debatten um die Foibe weder um eine nuanciertere historische Rekonstruktion der Geschehnisse geht noch darum, Gewissheit über die Zahl der Opfer zu erlangen.80 Neben der möglichen Gefahr von Blindgängern in den Trümmern befürchten manche möglicherweise auch, dass die Durchführung archäologischer Ausgrabungen an diesen Orten die niedrigen Schätzungen mancher Historiker bestätigen würde. Bei den Opferahlen von Basovizza geht es viel weniger um die Vergangenheit als um die Gegenwart. Auf einer tieferen Ebene zeichnet der große historische Abriss auf der letzten Schautafel der Ausstellung ein Bild von Triest als Geburtsort der italienischen Nationalidentität, an deren Entstehung die Gedenkstätte selbst beteiligt ist. Triests Rolle im Kalten Krieg ist besonders wichtig, wenn man die Entwicklung seiner Erinnerungsgeschichte verstehen will. Die Militärverwaltung der Alliierten gab sich große Mühe, die Besetzung als eine Befreiung darzustellen, die von innen heraus durch die Partisanenbewegung vorbereitet worden war. Ihr Ziel im beginnenden Kalten Krieg war, Italien, nachdem es vom Faschismus und Nationalsozialismus befreit war, vor dem Kommunismus zu schützen. Die Bedrohung durch den Kommunismus wurde in Triest als besonders groß empfunden, da die nationale Zugehörigkeit der Stadt nach Kriegsende fast ein Jahrzehnt lang in der Schwebe blieb. Die Verwaltung der Alliierten versuchte ein Klima zu schaffen, das für den propagierten Antikommunismus und damit auch den Anti-Jugoslawismus förderlich war. Dies bedeutete auch, dass Kriegsverbrecher und Kollaborateure nicht in vollem Umfang gerichtlich belangt wurden. Nach einer eher halbherzigen De-Faschistisierung wurde jeder, der kein Kommunist war, behandelt als ob er Mitglied der Partisanen gewesen wäre. Eine Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit, ähnlich Ansätzen zu einer gesellschaftlichen Auf80 | In seiner Geschichte von Italiens gespaltener Erinnerung im 20. Jahrhundert beobachtet John Foot, dass die erbitterten Debatten über die exakte Opferzahl der Foibe und in Basovizza im Besonderen den öffentlichen Diskurs zu der Gedenkstätte zu einem Ausmaß bestimmt haben, dass die Historiker auf beiden Seiten den Wert der Gedenkstätte als Symbol für die verschiedenen Verfolgungen, die das italienische Volk erdulden musste, einschließlich des Exodus aus Istrien, aus den Augen verloren haben (vgl. John Foot: Italy’s Divided Memory. New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 131–148). Angesichts dessen, stellt Foot fest, ist die tatsächliche Opferzahl letzten Endes unerheblich geworden. Für einen Historiker ist das eine überraschende Aussage. Er hat natürlich recht mit seiner Beobachtung, dass der Diskurs um die Foibe im kulturellen Gedächtnis Italiens heute unabhängig von den tatsächlichen Opferzahlen in Basovizza und an anderen Orten ist. Aber er unterschätzt völlig die symbolische Bedeutung dieser Zahlen, wenn es darum geht, die Foibe-Massaker als italienische Tragödie darzustellen, die auf einer Stufe mit den anderen großen Verfolgungen des 20. Jahrhunderts steht. Niemand würde behaupten, dass die exakten Zahlen der Opfer des Holocaust, oder des „Euthanasie“-Programms oder irgendeines anderen Genozids für die Legitimität seiner Erinnerung überhaupt keine Rolle spielen würden.

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arbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland, wurde deutlich hinausgezögert und blieb auf einzelne akademische Kreise beschränkt. Das Narrativ eines Landes als Opfer, das sich selbst von seinen Besatzern befreite, wurde zum Gründungsmythos der neuen Republik, und sowohl die Risiera als auch die Foiba di Basovizza sind gute Beispiele für diese Wahrnehmung der Geschichte, da sie die faschistischen Verbrechen und die brutale Politik der Zwangs-„Italienisierung“, mit der sie die jugoslawischen Gebiete als italienischen „spazio vitale“ für sich beanspruchte, leugnen. Ein wesentlicher Aspekt der Foibe-Massaker, den das Dokumentationszentrum in Basovizza völlig ausblendet, ist die Tatsache, dass sie auch als Vergeltungsakte für die Hunderttausenden jugoslawischen Zivilisten gesehen werden können, die zwischen 1941 und 1943 durch die italienischen Besatzungstruppen getötet wurden.81 Aber die Rivalitäten zwischen den beiden offenbaren, wie die italienische Geschichte und Identität noch immer verhandelt werden. Welche dieser Gedenkstätten sollte die italienische Tragödie repräsentieren? Und worin bestand eigentlich die italienische Tragödie? Die beiden Gedenktage, der Giorno della memoria und der Giorno del ricordo, sind auf ihre Weise Versuche, diese Fragen zu beantworten. Der Giorno della memoria ist ein internationaler Gedenktag, der den Opfern der Shoah gewidmet ist, und an dem in Italien der Tragödie der Juden gedacht wird, die von den Nationalsozialisten deportiert wurden, sowie der Italiener, die verhaftet wurden, weil sie den Juden halfen. Der Giorno del ricordo hingegen ist der Gedenktag für die „tragedia degli italiani“, die Tragödie, die den Italienern nur deshalb widerfuhr, weil sie Italiener waren. Der Giorno del ricordo imitiert nicht nur den Namen des zuerst eingeführten Gedenktages, er macht sich in seiner Rhetorik auch dessen Vokabular zu eigen, um die Foibe-Massaker als versuchten Genozid an den Italienern darzustellen. Der Journalist Paolo Rumiz beobachtete 2009 im Zusammenhang mit dem Giorno del ricordo außerdem: Italien ist „das einzige europäische Land, das ganze zwei Tage der Erinnerung hat. Und wir sind auch das einzige Land, das die beiden nicht dazu nutzt, uns zu entschuldigen, sondern vielmehr, um von anderen Entschuldigungen zu verlangen.“82 Triest spielt in diesem Kampf um die rechtmäßige italienische Tragödie eine Schlüsselrolle: An der Risiera waren die Deutschen schuld und an den Foibe-Massakern die Jugoslawen. Indem sie ausschließlich die Schuld der anderen beteuern, laufen die beiden Gedenktage Gefahr, zu leeren Manifestationen der Selbstentlastung zu werden. Etwas allgemeiner gesagt sind die Grenzängste, die dem Faschismus in Julisch Venetien den Weg bereiteten, bis heute existent. Die Welle an Interesse an den Foibe-Tötungen, die von der Mitte-Rechts-Regierung noch gefördert wurde, muss in Relation zur laufenden Rehabilitierung des Faschismus und seiner Erin81 | Vgl. Mantelli: Die Italiener auf dem Balkan 1941–1943; Del Boca: Italiani, brava gente? 82 | Paolo Rumiz: „Foibe e Risiera, la strana ‚simmetria‘ per pacificare la memoria sugli ex confini“, in: Il Piccolo vom 10. Februar 2009.

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nerung in Italien gesehen werden.83 Letzten Endes musste Italien sich nie ernsthaft mit seiner faschistischen Vergangenheit auseinandersetzen, weil es sich immer auf die Widerstandsbewegung, die Resistenza, als Gründungsmythos für die neue Republik berufen konnte. Dieses Bild bestimmt die Darstellung der italienischen Geschichte in der Risiera bis heute. Wie ich im folgenden Kapitel zeigen werde, bezieht das Bild der Italiener als von Grund auf „brava gente“ (guten Menschen), die auf keinen Fall in Verfolgungen und Kriegsverbrechen involviert gewesen sein können, seit Kurzem auch die Faschisten mit ein: im Vergleich mit den Nationalsozialisten und den Jugoslawen waren die Faschisten demnach das geringere Übel. Gleichzeitig nimmt der Erinnerungstourismus – oder eher der historische Bildungstourismus – in Italien zu, vor allem an Orten, die mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben, wie die steigenden Besucherzahlen an den beiden Gedenkstätten belegen. Schulen, Vereine, Gesellschaften und andere Interessengruppen organisieren sogenannte „Viaggi della memoria“, Erinnerungsfahrten, zu verschiedenen Orten wie der Risiera und Basovizza, aber auch der Gedenkstätte Fosse Ardeatine in Rom und dem kleinen Dörfchen Marzabotto bei Bologna, zwei Orten, an denen die Nationalsozialisten Massenexekutionen verübten. Wenn diese Entwicklungen repräsentativ für eine allgemeinere gesellschaftliche Tendenz sind, dann deuten sie darauf hin, dass die Italiener beginnen, sich zunehmend für ihre jüngere Vergangenheit zu interessieren. Wie ich allerdings am Beispiel dieser beiden Gedenkstätten gezeigt habe, ist die Version der italienischen Geschichte, die den Touristen dort präsentiert wird, bestenfalls unvollständig. Beide Gedenkstätten sind weit davon entfernt, die Besucher dazu anzuregen, vorhandene Vorstellungen über ihre Identität und ihr Erbe zu hinterfragen. Stattdessen bestätigen und bestärken diese Orte das selbstentlastende Bild von Italien, das direkt nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Bevor Gedenkstätten wie die Risiera und die Foiba di Basovizza nicht damit beginnen, die italienische Geschichte nuancierter und differenzierter darzustellen, wird es ihnen nicht gelingen, bei den Besuchern eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu fördern.

N achsatz : D er Parco

dell a

R imembr anz a

Hoch auf dem Hügel Colle di San Giusto im historischen Zentrum von Triest bietet sich dem Besucher ein Querschnitt der Stadtgeschichte wie ein offenes Buch dar. Hinter den Ruinen eines römischen Amphitheaters führt ein kleiner Weg den steilen Hügel hinauf zu den Überresten eines römischen Tempels, der mittelalterlichen Kirche von San Giusto und der mittelalterlichen Burg. Der Blick über die Stadt und den Golf von Triest ist atemberaubend. Eine Zeitlang stehe ich 83 | Vgl. Mattioli: Viva Mussolini!

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vor dem überlebensgroßen Monumento ai caduti, dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Die neoklassizistische Bronzeskulptur aus dem Jahr 1934 zeigt vier nackte Soldaten, die einen verwundeten Kameraden tragen. Die schiere Größe der schimmernden Bronzefiguren lässt die daneben liegenden Ruinen des römischen Forums und des Tempels geradezu zwergenhaft erscheinen. Ein kleiner Weg führt vom Monumento ai caduti zum Parco della rimembranza auf der Westseite des Hügels. Dieser Weg ist mit vielen verschiedenen Gedenksteinen aus der Nachkriegszeit gesäumt, die an die Pioniertruppe der Stadt, die Gefallenen der Guardia Civica und viele andere erinnern. Es gibt auch einen Stein der Kriegswaisenvereinigung. Die scheinbar zufällige Sammlung von Gedenksteinen setzt sich im Parco della rimembranza fort: Zahllose Steine, meist grob behauene Kalksteine, auf denen in roten Buchstaben Namen und Daten stehen, stehen auf der Wiese und unter den Bäumen im ganzen Park verstreut und säumen die Wege. Manche der Steine ehren italienische Soldaten, die im Ersten Weltkrieg starben, aber die meisten erinnern an Gefallene des Zweiten Weltkrieges. Bei vielen liegen Plastikblumen oder Lorbeerkränze. Eine beträchtliche Anzahl dieser Steine erinnert an italienische Antifaschisten, die in deutschen Konzentrationslagern wie Dachau oder Mauthausen ermordet wurden, und einige nennen auch die Risiera als Sterbeort. Auf anderen steht schlicht „von den Deutschen erschossen“ oder „auf See geblieben“. Der Park wirkt wie ein Friedhof, ein Ort, an dem die Familien derer, die im Kampf, in Konzentrationslagern oder auf See starben, ihre Lieben betrauern können. Dieser Eindruck wird durch das Fehlen von zusätzlichen Hinweistafeln noch verstärkt: Die Steine sprechen für sich selbst. In der Mitte des Parks liegt eine ovale Lichtung mit einer langen, bogenförmigen Steinbank an einer Seite. Ihr gegenüber steht eine Bronzeskulptur aus drei weiblichen Figuren mit trauernd erhobenen Armen. Hinter der Skulptur befindet sich eine große, rechteckige Steinplatte mit der Inschrift „Den Märtyrern der Foibe“. Mehrere große Lorbeerkränze wurden hier abgelegt, die inzwischen, Mitte Mai, verwelkt und vertrocknet sind. Einer der Kränze trägt eine Schleife mit der Aufschrift „Von der Unione degli Istriani und der Lega Nazionale für die Märtyrer der Foibe und die Opfer ethnischer Säuberungen.“ Der Weg, der von dieser Lichtung zu den Ausgängen des Parks führt, heißt Viale Martiri delle Foibe. Der Parco della rimembranza wurde von den Faschisten angelegt; das Foibe-Denkmal ist eine viel neuere Ergänzung. Der Park wurde am 24. Mai 1925 eingeweiht, um die Gefallenen des Weltkriegs zu ehren, und war Teil der faschistischen Umgestaltung des Stadtzentrums von Triest. Der Park und seine Umgebung liegen auf dem Gebiet des ehemaligen jüdischen Gettos, das in den 1920er Jahren zugunsten der großartigen Pläne für das Stadtzentrum niedergerissen wurde. Beim Abriss des Gettos entdeckte man die Ruinen des römischen Amphitheaters. Sie wurden ausgegraben und als wichtiges Zeugnis des römischen und italienischen Erbes von Triest gefeiert. Etwas weiter oben in der Via del Monte lag der alte jüdische Friedhof aus dem Jahr 1446, der ebenfalls dem Parco della rimembranza weichen musste. Zur Einweihung des Parks zogen Tausende in ei-

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ner Prozession von der Piazza San Giovanni auf den Colle di San Giusto. Jeder Gefallene wurde mit einem Baum und einem Gedenkstein geehrt, und jeder Baum wurde von einem Schulkind gepflanzt. Die Idee der Gedenkbäume wurde von der Öffentlichkeit begeistert aufgenommen. Der erste Baum wurde Guglielmo Oberdan gewidmet, jenem Triestiner Irredentisten, der 1882 nach einem gescheiterten Attentat auf den österreichischen Kaiser Franz Joseph hingerichtet wurde. Die Erinnerung an Oberdan wurde während des Faschismus gepflegt, weil er als Märtyrer für ein vereintes Italien gesehen wurde.84 1938 wurde am anderen Ende des Parks, am oberen Ende der Treppe, die in die Stadt zurückführt, ein großer Marmorbrunnen in Form eines Obelisken zu Ehren von Mussolini erbaut, der bei diesem Besuch in der Stadt auch die faschistischen Rassengesetze ausrief. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Park erweitert und eine Vielzahl weiterer Gedenksteine kam hinzu. Gedenksteine verteilen sich jetzt über die ganze Westseite des Hügels bis hoch zur Burg und zum Monumento ai Caduti. Der Hügel und der Park bieten Touristen einen idealen Aussichtspunkt und die Sehenswürdigkeiten Burg und Kathedrale. Ein Spaziergang durch dieses Stadtviertel ist wie ein Spaziergang durch 2000 Jahre Triestiner Geschichte – besonders, wenn man die mittelalterliche Burg und die römischen Ruinen berücksichtigt. Aber es ist eine konstruierte Geschichte, die eine ununterbrochene Kontinuität der italienischen Identität von den Römern bis heute präsentiert und dabei die jüdischen und slawischen Aspekte der Regionalgeschichte sowie die 500 Jahre österreich-ungarische Herrschaft ausblendet. Darüber hinaus bricht das Denkmal für die Opfer der Foibe, das im Jahr 2000 im Zentrum des Parks aufgestellt wurde, mit der ansonsten einheitlichen Gestaltung der Gedenksteine im Park und erweckt den Eindruck, die Triestiner Geschichte habe in den Ereignissen von 1943 und 1945 kulminiert. In diesem neuen Kontext wird das Fehlen von Hinweistafeln hochgradig problematisch, denn das Verhältnis der Foibe-Tötungen zu den anderen Tragödien, an die hier erinnert wird, lässt sich nicht aus dem Kontext erschließen. Die Verzerrungen durch das Foibe-Denkmal sollten uns nicht blind für die Tatsache machen, dass die Version der Triestiner Geschichte, für die der Colle di San Giusto steht, bereits einseitig und selektiv ist. Geschichte bedarf immer einer Kontextualisierung und Erläuterung. Im Jahr 2006 veröffentliche das IRSML einen schmalen Band mit dem Titel Un percorso tra le violenze del novecento nella provincia di Trieste,85 eine Gemeinschaftsarbeit zahlreicher Historiker, von denen viele bereits erwähnt wurden, darunter auch Raoul Pupo und Roberto Spazzali, die die Dokumentationsausstellung in Basovizza konzipiert hatten. Es handelt sich um einen historischen 84 | Persönliches Gespräch mit Fabio Todero, IRSML, Juni 2010. Vgl. auch IRSML: „Il Colle di San Giusto“, http://www.irsml.eu/percorso_irredentismo/sangiusto.html (letzter Zugriff: 20. Juli 2017).

85 | IRSML: Un percorso tra le violenze del novecento nella provincia di Trieste. Trieste: Adriatica 2006.

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Führer für Schüler (und interessierte Besucher) auf Italienisch und Slowenisch zu den Hauptstätten faschistischer, nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt in Triest und Umgebung. Die ausgewählten Orte stehen für die verschiedenen Arten von Gewalt, die in den letzten 100 Jahren in Julisch Venetien auftraten und nehmen dabei sowohl rassistische als auch politische und kulturelle Verfolgung in den Blick. Beginnend mit dem Ersten Weltkrieg und bis zu den Massenauswanderungen aus Istrien stellt das Buch elf Orte vor: drei Orte faschistischer Gewalt (das Niederbrennen des Narodni dom, des slowenischen Kulturzentrums in Triest, im Jahr 1920, die Exekution von vier slowenischen Partisanen nach einem der Schauprozesse des Tribunale speciale im Jahr 1930 und die Zerstörung der Triestiner Synagoge 1942), drei Orte nationalsozialistisch-faschistischer Gewalt (die Via Ghega, in der 1944 51 Gefangene als Vergeltungsmaßnahme für einen Angriff durch die Partisanen öffentlich erhängt wurden, die Risiera di San Sabba sowie die slowenischen Dörfer Caresana und Malchina, die zuerst von faschistischen Trupps und dann den Nationalsozialisten überfallen und niedergebrannt wurden) und vier Orte jugoslawischer Gewalt (die Foiba di Basovizza, die Via Imbriani, in der vier Triestiner 1945 bei einer Demonstration gegen die jugoslawischen Besatzer getötet wurden, das Flüchtlingslager in Padriciano, das zwischen 1948 und 1976 Tausende Auswanderer aus Istrien beherbergte, und die Piazza Sant’ Antonio Nuovo und die Piazza Unità d’Italia, wo 1953 sechs weitere Personen nach Demonstrationen gegen die Trennung von Istrien von Italien getötet wurden). Jedes Kapitel enthält Fotos, Kartenausschnitte, Wegbeschreibungen für Besucher und Leseempfehlungen sowie eine Beschreibung des Ortes und seiner Geschichte, die ihn sorgfältig in den historischen Kontext einbettet. Das Buch kann als Ergänzung zu den Dokumentationsausstellungen in der Risiera und in Basovizza fungieren und liefert die dringend benötigten Informationen zu jenen Orten, zu denen dokumentarische Informationen vor Ort sonst fehlen, wie dem Narodni dom, an dessen Stelle sich heute die fremdsprachliche Fakultät der Universität Triest befindet und wo nur eine kleine Gedenktafel an der Außenwand an die Ereignisse im Jahr 1920 erinnert. Bemerkenswerterweise beginnt die Einleitung des Buches mit der Litanei der Tragödien des 20. Jahrhunderts, deren Darstellung in der Foiba di Basovizza so problematisch ist. Dort ist sie allerdings problematisch, weil gerade die Differenziertheit, Kontextualisierung und historische Detailgenauigkeit fehlen, die der Percorso bereitstellen möchte. Insofern kann das Buch mit einer gewissen Berechtigung als Ergänzung zu oder Reaktion auf die Dokumentationsausstellungen sowohl in Basovizza, als auch in der Risiera di San Sabba gesehen werden. Aber leider wird das Buch in keiner der Gedenkstätten verkauft. Ich konnte auch nicht herausfinden, ob der Percorso in Schulen verwendet wird, aber 2012 produzierte das IRSML einen einstündigen Dokumentarfilm als Ergänzung zum Percorso, der in voller Länge auf dem YouTube-Kanal des IRSML verfügbar ist. In keinem anderen Führer für Triest und Umgebung werden bisher all diese Gedenkorte vorgestellt. Und auch wenn diese ganz unterschiedlichen Orte im

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selben Buch nebeneinander aufgeführt sind, werden die Unterschiede zwischen ihnen nicht verwischt und auch allgemeine vereinfachende Darstellungen werden vermieden. Ziel des Buches ist es, Verständnis für die Vielschichtigkeit der Geschichte der Region und ein Bewusstsein für den Kontext, in dem diese zu sehen ist, zu fördern: „Die Anerkennung von und der Respekt für unterschiedliche Erinnerungen muss im gesellschaftlichen Leben und demokratischen Wachsen einer Gemeinschaft verankert sein.“86 Die kompetitive Tendenz in der Polarität zwischen Risiera und den Foibe verhindert eine solche respektvolle Anerkennung der Erinnerungsvielfalt, was das ständige Heischen nach öffentlicher Aufmerksamkeit und Legitimierung noch verstärkt. Zusätzlich konkurrieren beide Gedenkstätten um staatliche Gelder, was für ihre Rivalität unvermeidlich weitreichende politische und ideologische Konsequenzen hat. Der Percorso stellt einen wichtigen ersten Schritt dar, die Nullsummenlogik, die die Erinnerungspolitik der Region bestimmt, mit einer differenzierteren bzw. multidirektionaleren Herangehensweise zu ersetzen, die, wie dieses Kapitel gezeigt hat, für ein tieferes Verständnis der kollektiven Erinnerung Triests und seiner Region unbedingt notwendig ist.

86 | Ebd., S. 12.

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Die Überwindung des Schweigens III: Die Erinnerung an den Faschismus auf Bühne und Bildschirm

Schluss jetzt mit den verdrängten Erinnerungen!1 Die Jugend von heute erlebt ihre eigene Geschichte, als säße sie auf einem abgesägten Ast. Sich dieser Art des Vergessens hinzugeben, heißt, die Tür für eine Zukunft, die bestenfalls beunruhigend ist, weit offen zu lassen. Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit liegen immer auf der Lauer. 2 Mehr Geschichte und weniger Erinnerung würde heißen, sich von dem Sturm der Sentimentalität zu distanzieren, der in unseren Institutionen wütet, und ein problematischeres, kritischeres und bewussteres Verhältnis zur Vergangenheit wiederzuerlangen. 3

In Italien hat Erinnerung derzeit Konjunktur. Es wurden zahlreiche neue Gedenktage, einschließlich des Giorno della memoria und des Giorno del ricordo, eingeführt und eine große Zahl an neuen Denkmälern geplant und errichtet. Wie der Historiker Giovanni De Luna in seinem Porträt von Italien als einer „Republik des Schmerzes“ schreibt, wird der Gedenkkalender fast täglich voller. Seit dem Jahr 2000 wurden unzählige Gesetze verabschiedet, die Gedenktage für die Opfer des Holocaust, der Foibe und des Terrorismus, für militärisches und ziviles 1 | Maurizio Gasparri: Interview in La Repubblica vom 24. August 2004. 2 | Renato Sarti: I me ciamava per nome: 44.787. Milano: Baldini & Castoldi 2001, S. 8. 3 | Giovanni De Luna: La repubblica del dolore: Le memorie di un’Italia divisa. Milano: Feltrinelli 2011, S. 18.

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Personal, das auf internationalen Friedensmissionen getötet wurde, oder für Seeleute, die auf See geblieben sind, einführten.4 Und die Liste wird fortgeführt. Daneben wurden zahlreiche Vorschläge für andere Gedenktage abgelehnt, etwa für die Opfer von politischem Hass, Verbrechen, Kommunismus, sowjetischen Gulags, Naturkatastrophen, Industrieunfällen oder Märtyrern für die Religionsfreiheit. Von diesem Katalog leitet De Luna ab, dass der zeitgenössische italienische Erinnerungsdiskurs sich auf eine Rhetorik der Opferschaft und Trauer stützt, die emotionale Betroffenheit über kritische Reflexion stellt.5 Darüber hinaus werden in dieser Kultur des Trauerns die verschiedenen Opfergruppen in einem Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und Raum gegeneinander ausgespielt – einem Kampf, der auf einer Nullsummenlogik basiert, was, wie Rothberg feststellt, für das öffentliche Gedenken überall symptomatisch ist.6 Wie die Konkurrenz zwischen den beiden im letzten Kapitel untersuchten Gedenkstätten zeigt, ist die Erinnerungslandschaft in Italien hochgradig politisiert und polarisiert zwischen der Linken und den Rechtspopulisten, die seit dem Tangentopoli-Korruptionsskandal in den frühen 1990er Jahren eine Vormachtstellung innehaben. Dieser Skandal hatte zum Zusammenbruch der gemäßigten christdemokratischen Partei geführt, die die italienische Politik seit Kriegsende dominiert hatte. Gleichzeitig war die Linke nach dem Ende des Kalten Krieges zersplittert. Das Gefühl, dass die Narrative und Traditionen, die dem Land in den 50 Jahren seit dem Fall des Faschismus zur Orientierung gedient hatten, jetzt in Verruf geraten und wertlos geworden waren, und dass eine neue Tradition benötigt wurde, war weit verbreitet. Wie in Kapitel 4 diskutiert, entstand in den 1990er Jahren im wiedervereinten Deutschland ein neues Gefühl der Offenheit und der Möglichkeiten, die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes bietet. In Italien dagegen verstärkten sich Verdunkelungen und Mythenbildung unter der aufsteigenden Rechten. Die Demontage des Resistenza-Mythos hätte einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Faschismus den Weg bereiten sollen, aber stattdessen wurde der Faschismus zumindest teilweise rehabilitiert.7 Die fehlende Beachtung der faschistischen Verbrechen geht mit einer weit verbreiteten Trivialisierung des Vermächtnisses des italienischen Faschismus einher, die sich hauptsächlich in der Mythisierung heroischer Italiener artikuliert. Während früher die einzigen italienischen Helden des Zweiten Weltkrieges die antifaschistischen Widerstandskämpfer waren, wurden vor Kurzem auch „gute

4 | Vgl. ebd., S. 19–20. 5 | Vgl. ebd., S. 16. 6 | Vgl. Rothberg: Multidirectional Memory, S. 1–29. 7 | Vgl. Mattioli: Viva Mussolini!, sowie Lutz Klinkhammer: „Der neue ‚Antifaschismus’ des Gianfranco Fini“, in: Petra Terhoeven (Hrsg.): Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 257–280.

Kapitel 6

Faschisten“ wie Giovanni Palatucci und Giorgio Perlasca ins Feld geführt um zu zeigen, dass der Faschismus das geringere Übel war. Das Bild des italienischen Volkes, das im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus geeint ist, wurde somit von einem Bild von den Italienern als unschuldigen Opfern von Angriffen von außen (durch die Nationalsozialisten, die Jugoslawen usw.) und „guten Faschisten“, die Befehle missachteten und sich den Nationalsozialisten widersetzten, verdrängt. Beim Aufkommen dieses Narrativs spielten das Fernsehen und die Medien eine entscheidende Rolle, die seit den 1990ern zu einem großen Teil von einer einzigen Person dominiert wurden: Silvio Berlusconi. Wegen Berlusconis langjähriger weitgehender Vormachtstellung nicht nur in der Politik, sondern auch im Fernsehen und in den Printmedien ist es unerlässlich zu untersuchen, welche Funktion diese Erinnerungen im kulturellen Bereich einnehmen. Da die Foibe-Massaker von der Peripherie in den Mittelpunkt des italienischen Erinnerungsdiskurses gerückt sind, wurden Triest und die Region zu einem Zentrum der Auseinandersetzungen um die italienische Erinnerungskultur. Der dominierende Erinnerungsdiskurs versucht, den äußerst komplexen politischen, ethnischen und historischen Hintergrund dieser Ereignisse einzuebnen. Gerade wegen der Diversität der Region und der Multidirektionalität ihrer Geschichte und Erinnerung entstanden hier in den letzten Jahren trotz ihrer Randstellung einige der überzeugendsten Gegennarrative und -erinnerungen. In diesem Kapitel untersuche ich zunächst, wie die beiden Bilder der Italiener als Opfer und als „gute Faschisten“ im italienischen Fernsehen gefördert wurden, indem ich die beiden Miniserien Perlasca – un eroe italiano (2002) und Il cuore nel pozzo (2005) analysiere. Erstere basiert auf der Lebensgeschichte von Giorgio Perlasca, dem „italienischen Schindler“, der während des Zweiten Weltkrieges in Budapest Tausende Juden vor der Deportation und Vernichtung rettete. Il cuore nel pozzo hingegen setzt fiktive Figuren in eine historische Kulisse, ähnlich wie in der amerikanischen Miniserie Holocaust. Wie ich in diesem Kapitel allerdings zeigen werde, beansprucht Il cuore nel pozzo historische Authentizität, weshalb sich die Serie in der finalen Szene einer pseudodokumentarischen Sprache bedient. Diese dokumentarische Gestaltung ist hochgradig problematisch, da sie die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion absichtlich verwischt. Il cuore nel pozzo nimmt in dem im letzten Kapitel beschriebenen gegenwärtigen Kampf um die Erinnerung, der die Geschichte der Foibe gegen die des Faschismus und des Nationalsozialismus ausspielt, eine zentrale Position ein. Während Perlasca emblematisch für den „guten Faschisten“ steht, verkörpern die Figuren in Il cuore nel pozzo das neuerdings populäre Bild von den Italienern als unschuldigen Opfern, was vor allem durch die prominente Rolle von Kindern in der Erzählung unterstrichen wird. In der zweiten Hälfte des Kapitels wende ich mich zwei dokumentarischen Theatertücken zu, die sich explizit mit der Risiera di San Sabba auseinandersetzen, und die wie das Stück Spurensuche Grafeneck, das in Kapitel 1 diskutiert

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wurde, auf historische Dokumente und Augenzeugenberichte zurückgreifen. Eines der Kernprobleme, die in diesem Kapitel zur Sprache kommen, ist, wie man eine emotionale oder persönliche Auseinandersetzung mit diesen historischen Materialien mit einer kritischen Haltung gegenüber der Historiographie und Darstellung in Einklang bringen kann. Wie in Kapitel 2 erwähnt, trug die Miniserie Holocaust, als sie in Westdeutschland gezeigt wurde, zu einem bis heute andauernden Prozess der Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte bei. In Italien stellt sich die Situation anders dar: Die Medien fördern keine selbstkritische Betrachtung der Vergangenheit. Stattdessen wird die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die in Deutschland in den Massenmedien stattgefunden hat, in Italien an die Peripherie verbannt. Das wird in Kapitel 7 noch deutlicher, wenn ich die Werke von Boris Pahor, Fulvio Tomizza und Carolus Cergoly bespreche.

D er H olocaust

im italienischen

F ernsehen

Das Fernsehen hatte lange einen „wesentlichen Einfluss auf die Konsolidierung und Transformation der historischen Vorstellungsbilder der Nachkriegsgenerationen in Italien.“8 In diesem Kontext ist die „fiction“ besonders wichtig. Darunter versteht man in Italien eine Form des Fernseh-Melodramas, das häufig auf historischen Ereignissen basiert. Wie wir bereits gesehen haben, können Fernseh-Miniserien ein wirksamer Weg sein, historische Inhalte einem Massenpublikum zugänglich zu machen. Die Zuschauer werden eingeladen, sich mit bestimmten Figuren zu identifizieren und sich mit den historischen Ereignissen eher auf einer emotionalen als auf einer rationalen Ebene auseinanderzusetzen. Die emotionale Wirkung der Erzählung hat dabei Vorrang vor historischer Genauigkeit. Im April 2002 gab der damalige Minister für Kommunikation, Maurizio Gasparri, ein Mitglied der rechten Alleanza Nazionale, in einem Interview mit der Turiner Tageszeitung La Stampa bekannt, dass eine „fiction“ über die Foibe geplant war. Statt eines Dokumentarfilms schwebte Gasparri aber eine fiktionale Geschichte vor, der das Mitgefühl der Zuschauer sicher wäre: Wenn wir einen Dokumentarfilm machen, der beispielsweise die Exhumierung der Gebeine zeigt, werden wir die Leute nur befremden. Ich denke, es wäre wirksamer, ein TV-Drama zu machen, das die Geschichte einer dieser armen Familien erzählt. Das sind große Tragödien. Wie die vom Holocaust oder von Anne Frank [come quella dell’Olocausto o di Anna Frank].9

8 | Fogu: „Italiani brava gente“, S. 157. 9 | Zit. n. Fabio Martini: „Gasparri: Ora spero di vedere una seria fiction sulle foibe.“, in: La Stampa vom 18. April 2002.

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Diese Äußerung ist aus drei Gründen interessant. Erstens wurde sie nur zwei Monate nach dem überwältigenden Erfolg der Premiere der TV-Miniserie Perlasca – un eroe italiano von Alberto Negrin gemacht, die rekordverdächtige 13 Millionen Zuschauer hatte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass man Negrin auch als Regisseur für Il cuore nel pozzo, die zweiteilige Miniserie über die Foibe, die knapp drei Jahre später ausgestrahlt wurde, auswählte. Zweitens wirft Gasparris Bewertung des Formats Melodrama als „wirksamer“ als ein historischer Dokumentarfilm die Frage auf, welche „Wirkung“ damit denn erreicht werden soll. Diese Bevorzugung der emotionalen Wirkung gegenüber der kritischen Reflexion steht im Einklang mit dem Erinnerungsdiskurs um die Foibe, der die Herzen der Zuschauer und nicht ihren Verstand ansprechen will und die höhere Bedeutung der subjektiven Erinnerung gegenüber historischen Fakten betont. Das bringt uns zum dritten Aspekt von Gasparris Aussage, den ich gerne etwas ausführlicher betrachten möchte, nämlich die Bezugnahme auf die „großen Tragödien des Holocaust und von Anne Frank“. Diese Formulierung wurde bisher meist als Hinweis auf den Holocaust als historisches Ereignis interpretiert,10 aber da Gasparri vom Medium Fernsehen und dessen Rolle beim Erzählen der tragischen Geschichte einer Familie spricht, die in den Strudel weltgeschichtlicher Ereignisse gerät, ist es meines Erachtens wahrscheinlicher, dass er sich eigentlich auf die amerikanische TV-Miniserie Holocaust und die fiktionale Geschichte der Familie Weiss im nationalsozialistischen Deutschland bezieht. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, war das Geheimnis des Erfolgs von Holocaust beim deutschen Publikum dessen Appell an die Herzen und nicht den Verstand der Zuschauer. Gasparri sah offensichtlich Potenzial für ein ähnliches Melodrama, um die Italiener als Opfer einer Tragödie darzustellen, die mit dem Holocaust auf einer Stufe steht. Olocausto, wie die US-amerikanische Miniserie in Italien heißt, wurde im Mai und Juni 1979 als Achtteiler vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RaiUno gezeigt. Im Vergleich zur überwältigenden Resonanz von Holocaust beim deutschen Fernsehpublikum fielen die Reaktionen auf die Serie in Italien deutlich verhaltener aus. Vor dem Hintergrund des dominanten Nachkriegsnarrativs, dass Italien im Zweiten Weltkrieg Opfer gewesen war und mit dem Holocaust nichts zu tun hatte, verstärkte die Serie nur das Stereotyp vom „bösen Deutschen“ im Gegensatz zum „guten Italiener“. Immerhin hatten viele Italiener Juden versteckt, die in Italien eine der höchsten Überlebensraten in Europa hatten. Außerdem waren die etwa 8.000 deportierten italienischen Juden nur ein Bruchteil der Zehntausenden politischen Deportierten und der über 600.000 deportierten italienischen Soldaten. Daher waren die Italiener nur wenig schockiert von dem, was sie in Olocausto sahen: Sie hatten die Gräueltaten der Nationalsozialisten ja am eigenen Leib erfahren. Der Holocaust wurde nur als eines der vielen Verbrechen ge10 | Z.B. Verginella: „Geschichte und Gedächtnis“, S. 44; und Mattioli: Viva Mussolini!, S. 110.

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sehen, die die Nationalsozialisten verübt hatten, und die italienischen jüdischen Opfer waren in das Narrativ der italienischen Opferschaft mit eingegliedert worden. Wegen der prominenten Rolle der antifaschistischen Partisanenbewegung im italienischen Bewusstsein der Nachkriegszeit war es allgemeiner Konsens, dass sich Italien direkt nach dem Krieg seiner Vergangenheit erfolgreich gestellt und sie aufgearbeitet hätte. Entsprechend drehten sich die Debatten um Olocausto fast ausschließlich um die Frage, ob es vertretbar sei, den Holocaust zu „trivialisieren“ und als TV-Melodrama zu „amerikanisieren“. Darüber hinaus interessierten sich viele italienische Intellektuelle mehr dafür, die deutschen Debatten zu der Miniserie zu verfolgen und zu analysieren als ihre Rezeption in Italien zu untersuchen.11 Daher liegt die Bedeutung der Rezeption von Olocausto in Italien, wie der Historiker Emiliano Perra beobachtet, „weniger in den Themen, die tatsächlich angesprochen wurden, als in den heiklen Themen, die in den Debatten sorgfältig vermieden wurden“12 – Fragen nach Mittäterschaft und Kollaboration sowie nach Antisemitismus und Rassismus im faschistischen Italien. Einer der wenigen, die die italienische Kollaboration ansprachen, war Primo Levi. In seiner Einleitung zur Sonderausgabe der Programmzeitschrift Radiocorriere Tv zur Ausstrahlung von Olocausto schrieb Levi: Wir tun gut daran, die, die es nicht wissen, und die, die es lieber vergessen wollen, daran zu erinnern, dass der Holocaust auch in Italien stattfand. […] Die Suchaktionen mögen von den deutschen Besatzern angeordnet worden sein, aber die Durchführung wurde recht oft von der Polizei und den faschistischen Milizen übernommen, und zwar nicht immer widerwillig, da es für jeden gefangenen Juden eine Geldprämie gab. 13

Aber Levis Mahnung wurde überhört, und im Großen und Ganzen machte Olocausto es den italienischen Zuschauern leicht, den Holocaust als etwas zu sehen, das woanders stattgefunden hatte.14 11 | Vgl. z.B. Enzo Collotti: „‚Holocaust‘ – il privato e la storia“, in: Italia contemporanea 31.137 (1979), S. 83–96, in dem er die Unterschiede in der Vorführung und Rezeption der Serie in Deutschland und Italien anspricht, sich aber letzten Endes doch auf den deutschen Fall konzentriert.

12 | Emiliano Perra: Conf licts of Memory: The Reception of Holocaust Films and TV Programmes in Italy, 1945 to the Present. Oxford: Peter Lang 2010, S. 118.

13 | Primo Levi: „Le immagini di ‚Olocausto’ – dalla realtà alla tv“, in: ders.: Opere. Hrsg. von Marco Belpoliti. Bd. 1. Torino: Einaudi 1997, S. 1272–1280, hier S. 1279.

14 | In seiner scharfsinnigen historischen Studie The Holocaust in Italian Culture präsentiert Robert S.C. Gordon eine erhellende Erklärung für die Präferenz für das Wort Shoah in Italien, das den Begriff „Olocausto“ seit den späten 1990er Jahren im öffentlichen Diskus verdrängt hat. Diese Verschiebung sei in mehrerlei Hinsicht bedeutsam, stellt er fest: Erstens „reklamiert und formuliert sie […] das jüdische Wesen des Holocaust.“ Zweitens, und vielleicht

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Offensichtlich wusste Gasparri von der Wirkung, die die Serie Holocaust in Deutschland gehabt hatte, und sah das Potenzial des Genres, die Foibe als „die italienische Tragödie“, als etwas, das den Italienern in Italien zugestoßen war, zu etablieren. Das Filmgenre „fiction“ erlebte in den 1990er Jahren eine Renaissance. In dieser Zeit entstanden einige berühmte filmische Darstellungen des Holocaust, insbesondere Steven Spielbergs Schindlers Liste (1993) und Roberto Benignis La vita è bella (dt. Das Leben ist schön, 1997). Die TV-Miniserien sind eine Möglichkeit, aus dem öffentlichen Interesse an Darstellungen dieser Zeit Kapital zu schlagen, indem man diese Geschichten in die Wohnzimmer bringt. Der überwältigende Erfolg von Fabrizio Costas Senza Confini (2001) mit Publikumsliebling Sebastiano Somma als Giovanni Palatucci, und dann im Folgejahr Perlasca – un eroe italiano mit dem charismatischen Luca Zingaretti in der Hauptrolle, der vor allem für seine Verkörperung von Inspector Montalbano in der bekannten gleichnamigen Fernsehserie berühmt ist, bestätigten die besondere Eignung dieses Genres. Beide Filme handeln von heldenhaften Faschisten und ihren Anstrengungen, die Leben Unschuldiger vor den gnadenlosen und barbarischen nationalsozialistischen Besatzern zu retten. Als solche waren sie auch ein Instrument der laufenden Rehabilitierung des Faschismus in den italienischen Medien und ebneten den Weg für den Film Il cuore nel pozzo, der mit 16 Millionen Zuschauern am erfolgreichsten von allen war.

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S ünder

Giovanni Palatucci und Giorgio Perlasca sind beide als der „italienische Schindler“ bezeichnet worden, weil sie während des Zweiten Weltkrieges heldenhaft versuchten, Juden vor der Deportation zu retten. Palatucci war Polizeichef in Fiume und soll zwischen 1938 und 1944 vermutlich 5.000 Juden gerettet haben. Man schreibt ihm zu, Juden auf dem Land versteckt, falsche Pässe ausgegeben und ein Flüchtlingsschiff nach Palästina organisiert zu haben. Des Weiteren soll er viele Juden gerettet haben, indem er sie in ein Flüchtlingslager in Campagna schickte, wo sein Onkel, ein Bischof, sie dank seines Einflusses vermutlich retten konnte. ist das noch wichtiger, betont die Verwendung des hebräischen Wortes seine „Fremdheit“ und „impliziert, dass der Genozid nicht Teil der italienischen Geschichte ist und beruhigt als Katastrophe hingenommen werden kann, die nicht ‚die unsere‘ war“ (S. 178). Und drittens erleichtert ein so spezifischer Begriff die Gegenüberstellung mit anderen „Genoziden und anderen historischen Katastrophen“ einschließlich der Genozide in Ruanda und an den Armeniern, des Verschwindenlassens von politischen Gegnern in Südamerika und der Gulags in der Sowjetunion (S. 179). Vor diesem Hintergrund kann man auch fragen, inwiefern diese Verschiebung von „Olocausto“ zu „Shoah“ in den späten 1990er Jahren mit dem Aufstieg des Foibe-Narrativs als einer rein „italienischen Tragödie“, die natürlich auch als „Olocausto italiano“ bezeichnet wurde, in Beziehung gesetzt werden kann.

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Palatucci wurde von den Nationalsozialisten verhaftet und nach Dachau deportiert, wo er im Januar 1945 kurz vor der Befreiung des Lagers starb. Als der Film Senza Confini 2001 im Fernsehen ausgestrahlt wurde, gab es bereits mehrere Biographien, Dokumentarfilme und Zeitschriftenartikel über Palatucci. Daneben erhielt er offizielle Ehrungen durch den israelischen Staat, die katholische Kirche, die Union der jüdischen Gemeinden Italiens, und nicht zuletzt von der italienischen Polizei, die entschieden für seine Seligsprechung durch den Papst eintrat, die seit 2000 offiziell geprüft wird. Fast jede italienische Stadt hat inzwischen eine Straße oder Schule, die nach ihm benannt ist. Auch die Risiera di San Sabba liegt in der Via Giovanni Palatucci in Triest. Palatuccis Ruf als Held und sogar Heiliger wurde vor Kurzem Gegenstand einer internationalen Debatte, nachdem das Centro Primo Levi in New York in einem Schreiben an das United States Holocaust Memorial Museum in Washington DC erklärt hatte, dass seine Wissenschaftler bei der Durchsicht der Dokumente keinen einzigen Beweis dafür gefunden hatten, dass Palatucci überhaupt an der Rettung von Juden beteiligt gewesen war, und dass er im Gegenteil ein „bereitwilliger Vollstrecker der Rassengesetze“15 gewesen sei. Daraufhin entfernte das United States Holocaust Memorial Museum die Hinweise auf Palatucci aus seiner Ausstellung, und die Gedenkstätte Yad Vashem erklärte, dass Palatuccis Status als Gerechter unter den Völkern überprüft werde. Das Überraschendste an diesem Vorfall war allerdings die Erkenntnis, wie weit verbreitet der Palatucci-Mythos bereits war.16 In Italien wird Palatuccis Rolle bereits seit über zehn Jahren kritisch untersucht, vor allem durch Marco Coslovich, der behauptet, dass die Wiederentdeckung von Palatucci mehr als 60 Jahre nach Kriegsende einem ganz bestimmten Zweck diente, nämlich den Mythos vom mutigen italienischen Volk zu stützen. Laut Coslovich hat die Mythisierung von Palatucci wenig mit den historischen Fakten zu tun. Sie dient vielmehr dazu, die Ungewissheiten um die historische Person Giovanni Palatucci zu kaschieren. Coslovich argumentiert, dass Palatucci innerhalb der faschistischen Polizei zu wenig Macht besessen habe, um Heldentaten in dem beschriebenen Umfang tatsächlich vollbringen zu können, und außerdem weist er nach, wie sich die Anzahl der Juden, die Palatucci laut der Medien gerettet haben soll, in den letzten Jahrzehnten exponentiell vervielfacht hat.17 Letzten Endes war die Geschichte des faschistischen Polizisten, dessen starke Verwurzelung im katholischen Glau15 | Patricia Cohen: „Italian Praised for Saving Jews Now Seen as Nazi Collaborator“, in: New York Times vom 20. Juni 2013.

16 | Die New York Times berichtete: „Die Anti-Defamation League verlieh Palatucci am 18. Mai 2005 den Courage to Care Award. Bürgermeister Michael R. Bloomberg erklärte den Tag gleichzeitig zum Giovanni Palatucci-Tag für Zivilcourage“ (Cohen: „Italian Praised“, S. A1).

17 | Vgl. Marco Coslovich: „Il caso Palatucci: Il poliziotto che salvo gli ebrei?“, in: Contemporanea: Rivista di storia dell’800 e del ’900 5.1 (2002), S. 59–84; sowie ders.: Giovanni Palatucci: Una giusta memoria. Atripalda: Mephite 2008.

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ben ihn dazu brachte, die Befehle, Juden zu verhaften und zu deportieren, zu missachten, eine nützliche Ablenkung nicht nur von der zentralen Rolle, die die faschistische Polizei bei der Unterstützung der nationalsozialistischen Besatzer spielte, sondern auch von der ambivalenten Haltung von Papst Pius XII. und der katholischen Kirche gegenüber der Verfolgung der Juden. Diese Sichtweise wird von Alexander Stille bestätigt, Professor für Journalismus an der Columbia-Universität, der beobachtet, dass der Palatucci-Mythos von drei einflussreichen Institutionen gefördert wurde: Die italienische Regierung war eifrig bemüht, sich selbst zu rehabilitieren und zu zeigen, dass sie besser und menschlicher war als die nationalsozialistischen Verbündeten. Die katholische Kirche war bef lissen, eine positive Geschichte über die Rolle der Kirche während des Krieges zu erzählen, und der Staat Israel wollte die Idee von gerechten Nichtjuden propagieren und Geschichten von rechtschaffenen gewöhnlichen Menschen erzählen, die halfen, gewöhnliche Juden zu retten. 18

Unabhängig davon, wie viele Juden Palatucci tatsächlich rettete, hat er im öffentlichen Bewusstsein und der zeitgenössischen Medienlandschaft die Rolle eines Erlösers des italienischen Volkes inne. Dass er ein überzeugter Faschist war, wird als für die Geschichte irrelevant abgetan. Dies resultiert aus der Einschätzung, dass der Faschismus im Vergleich zum Nationalsozialismus harmlos und nicht von Natur aus antisemitisch war und verstärkt gleichzeitig diese verharmlosende Wahrnehmung. Dieser Aspekt des Falls Palatucci ist wahrscheinlich der bedeutendste, denn er markiert eine wichtige Abweichung von zuvor verbreiteten Geschichten von Rettern, die im Allgemeinen mit Antifaschismus und der Resistenza in Zusammenhang gebracht wurden. Die Normalisierung des Faschismus in den Medien durch die besondere Art von Erzählungen über Rettungen während des Holocaust spielt eine strategisch wichtige Rolle in derzeitigen Versuchen, eine gemeinsame italienische Identität zu konstruieren, die über die ideologische Teilung von Faschismus versus Antifaschismus hinausgeht und gleichzeitig den selbstentlastenden Mythos vom „guten Italiener“ bewahrt. Die Macht des sogenannten Palatucci-Effekts wird noch deutlicher, wenn man den Erfolg der Miniserie Perlasca – un eroe italiano betrachtet, die ein Jahr nach Senza Confini ausgestrahlt wurde. Wie oben erwähnt, sah mit 13 Millionen eine bis dahin unerreichte Zahl von Zuschauern Perlasca, als der Film im Januar 2002, am zweiten Giorno della memoria, ausgestrahlt wurde. Die Geschichte handelt von den Heldentaten des italienischen Faschisten Giorgio Perlasca (gespielt von Luca Zingaretti), der in den frühen 1940er Jahren als Geschäftsmann in Budapest arbeitete und durch eine Reihe einfallsreicher Täuschungen und Vorwände mehr als 5.000 ungarischen Juden das Leben rettete. Im Gegensatz zu Palatuccis ist Perlascas Geschichte gut 18 | Zit. n. Cohen: „Italian Praised“, S. A1.

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dokumentiert. 1987 machte eine Gruppe ungarischer Überlebender ihn in Padua ausfindig, wo er bis zu seinem Tod 1992 lebte, und sammelte Zeugenaussagen von Überlebenden, um seine Nominierung als Gerechter unter den Völkern in Israel zu unterstützen. Der Film, der teilweise auf Perlascas Memoiren L’impostore (dt. Der Hochstapler, 1997) und teilweise auf Enrico Deaglios Perlasca-Biographie La banalità del bene (dt. Die Banalität des Guten, 1991) basiert, lässt die komplexen historischen Hintergründe völlig außer Acht. Die komplexen Machtdynamiken zwischen den faschistischen ungarischen Pfeilkreuzlern und den Nationalsozialisten sowie die Position von Spanien und Italien gegenüber den anderen faschistischen Mächten werden nicht dargestellt oder erklärt, obwohl die Filmhandlung wesentlich durch diese heikle politische Situation bedingt ist. Die fast vollständige Dekontextualisierung der Ereignisse wird noch dadurch verstärkt, dass die Dialoge, wie in fast allen italienischen Filmen, ausschließlich auf Italienisch geführt werden und nie thematisiert wird, wie die Figuren untereinander kommunizierten. Einerseits verwischt die Synchronisierung die Unterscheidung zwischen den Nationalsozialisten und den Pfeilkreuzlern, andererseits lässt sie die Frage offen, wie Perlasca sich überzeugend als spanischer Botschafter bzw. als ungarischer Aristokrat ausgeben konnte (beide angenommenen Identitäten sind im Film zentral für die Rettung der Juden). Offensichtlich geht es in der Erzählung nicht darum, ein differenziertes Bild des politischen Gerangels und der turbulenten letzten Kriegsmonate zu zeichnen. Die Drehbuchautoren Stefano Rulli und Sandro Petraglia haben sich für eine einfache Rettungs-Geschichte entschieden, die auf die üblichen Klischees, Gattungskonventionen und Topoi zurückgreift. Der Film bedient somit die vorgefassten Meinungen eines breiten Publikums und dessen Vertrautheit mit diesem Genre. Der deutsche SS-Kommandant Bleiber (György Cserhalmi) ist beispielsweise nicht mehr als ein stereotyper Nazi-Bösewicht im schwarzen Leder-Trenchcoat, der sich nach einem Massaker auf offener Straße ein Streichholz für seine Zigarette am Stiefel eines der ermordeten Juden anzündet. Bleiber durchschaut auch Perlascas Täuschungen und droht mehrfach, ihn zu verraten, bleibt aber letztlich eine ferne Bedrohung, da er andere – in diesem Fall die Pfeilkreuzler – die Drecksarbeit für sich erledigen lässt. Wie Olocausto lädt Perlascas Geschichte eher zu emotionaler Identifikation ein als zu kritischer Reflexion. Um die Handlung mit Perlascas immer gewagteren Plänen voranzubringen, führt der Film eine Gruppe jüdischer Figuren ein, die Perlasca rettet und die die Hauptquelle für die mitfühlende Identifikation der Zuschauer darstellen. Die emotionale Wirkung wird durch den Fokus auf der Not der jüdischen Kinder und Perlascas Interaktionen mit ihnen verstärkt. Zahlreiche Szenen zeigen Perlascas einzigartige Fähigkeit, die Kinder zu beruhigen, sie zum Spielen zu animieren und selbst den Traumatisiertesten unter ihnen noch ein Lächeln zu entlocken. Im Allgemeinen wird Perlasca als eine Art Universalgenie dargestellt, das nie die Hoffnung verliert und immer sofort agiert und reagiert. Er ist nicht nur der Einzige, der die verängstigten Kinder zum Lächeln bringt,

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sondern auch der Einzige, der ein Auto reparieren, die Pfeilkreuzler bestechen und Nahrung für die hungernden Juden im geheimen Unterschlupf besorgen kann. Im Gegensatz zu dem äußerst findigen und proaktiven Perlasca erscheinen die jüdischen Männer völlig hilflos, machtlos und durch ihre Religion behindert. Erst durch Perlasca lernen sie, dass sie sich nicht einfach ihrem Schicksal ergeben müssen. Der Film basiert ganz auf dem simplen Gegensatz „Gut gegen Böse“, aber sein durchschlagender Erfolg kann auch der Tatsache zugeschrieben werden, dass das absolut Gute von der Figur eines verschlagenen, sich verstellenden Italieners verkörpert wird (und so dieses negative Stereotyp in ein Beispiel von Menschlichkeit und Güte umdeutet), der zufällig auch ein Faschist ist.19 Der Untertitel, „Ein italienischer Held“, spielt dem idealisierten Bild der Rolle Italiens im Holocaust in die Hände: Die Italiener einschließlich der Faschisten konnten gerade deshalb so viele Juden retten, weil sie von den deutschen Besatzern unterschätzt wurden. Darüber hinaus, stellt Emiliano Perra fest, wurde die Figur Perlasca von der Alleanza Nazionale als eine Art Aushängeschild in Beschlag genommen, als diese versuchte, die rechte Politik vom Antisemitismus zu distanzieren und die italienische Rechte mit dem Staat Israel und den italienischen jüdischen Gemeinden zu versöhnen. Perra schließt seine Analyse des Films mit einem Zitat aus einem Artikel des rechten Intellektuellen Marcello Veneziani zu Perlasca, in dem dieser die Italiener dazu aufruft, sich nicht länger wegen der Juden, die im Holocaust starben, Vorwürfe zu machen, und stattdessen der viel höheren (!) Zahl an Opfern der kommunistischen Foibe-Massaker mehr Beachtung zu schenken.20 Wie Perra zu Recht feststellt, dient eine dermaßen selektive Erinnerung an den Holocaust letzten Endes der Re-Legitimisierung des Faschismus. Der Film stellt Perlascas Begeisterung für den Faschismus einschließlich seiner Beteiligung an der Invasion in Äthiopien und Italiens Einsatz gegen das republikanische Spanien als vollkommen unproblematisch dar. „[W]as wirklich die Unschuld und Schuld der Italiener bestimmt,“ so Perra, „ist ihre Art der Auseinandersetzung mit dem Holocaust“, die „alle Unterschiede zwischen dem Faschismus und dem Antifaschismus automatisch einebnet.“21 Fairerweise muss man sagen, dass es vielleicht zu viel verlangt wäre, von einem TV-Melodram ein Höchstmaß an historischer Genauigkeit zu erwarten. Das Hauptziel des Genres „fiction“ ist schließlich eine eher emotionale Identifikation als die Vermittlung von historischem Wissen.22 Negrin selbst setzt der Kritik an historischen Ungenauigkeiten und Vorwürfen des Revisionismus in seinen Filmen seine künstlerische Freiheit als Geschichtenerzähler entgegen: „Meine Auf19 | Vgl. Perra: Conf licts of Memory, S. 226. 20 | Vgl. ebd. 21 | Ebd., S. 230. 22 | Vgl. Milly Buonanno: Italian TV Drama and Beyond: Stories from the Soil, Stories from the Sea. Bristol: Intellect 2012, S. 213.

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gabe ist es, Geschichten zu erzählen. […] Ich habe nie Filme […] aus politischen Gründen gemacht.“23 Es ist wohl nicht so einfach, eine direkte politische Einflussnahme auf Negrins ästhetische Entscheidungen nachzuweisen, aber es ist nichtsdestotrotz auffällig, dass seine Filme von den etablierten rechten Kreisen in Italien begeistert aufgenommen wurden. Es wäre in jedem Fall naiv anzunehmen, dass ein Film über den Zweiten Weltkrieg jemals absolut unpolitisch sein könnte, vor allem, wenn er unter Berlusconi für das italienische Fernsehen produziert wurde. Wenn es um den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg geht, ist Erinnerung immer politisch. Vielleicht glaubt Negrin tatsächlich, dass seine Filme völlig frei von expliziten politischen Botschaften sind, aber gerade das macht sie für eine Instrumentalisierung anfällig. Was genau meint Gasparri also, wenn er erklärt, dass eine fiktionale Geschichte „wirksamer“ sei als ein Dokumentarfilm? Der Erfolg von Perlasca beweist, dass das italienische Publikum sich in einem bis dahin nie dagewesenen Ausmaß für historische Melodramen begeistern konnte. Dokumentarfilmer können von solchen Zuschauerzahlen nur träumen. Wenn man die Foibe-Massaker demnach in Perlasca-Manier präsentieren würde, könnte man diese Episode der italienischen Geschichte – und, was das Entscheidende ist, vor allem eine bestimmte Version dieser Geschichte – praktisch über Nacht in das Zentrum des öffentlichen Bewusstseins katapultieren, was einem Dokumentarfilm sehr viel unwahrscheinlicher gelingen würde. Vor diesem Hintergrund wende ich meine Aufmerksamkeit Il cuore nel pozzo zu, einem Fernsehfilm zu den Foibe-Massakern, für den sich Gasparri 2002 einsetzte. Hier wird die Problematik der Mystifizierung und höchst selektiven Nutzung der Vergangenheit in solchen populären Darstellungen noch viel stärker deutlich. Der Film wurde an den beiden Abenden vor dem Giorno del ricordo am 10. Februar 2005 auf RaiUno ausgestrahlt. Bereits im Sommer 2004 hatte die Presse begonnen, von dem Film, seiner Handlung und dem historischen Hintergrund zu berichten. Die Foibe-Massaker wurden dabei als verleugnete Tragödie dargestellt, die aus vorwiegend politischen Gründen seit Kriegsende vertuscht worden war. Laut der Wochenzeitung Panorama waren die Foibe beispielsweise eine verdrängte Tragödie, die nicht weniger als 20.000 bis 30.000 Opfer das Leben kostete, die durch die grausame Unterdrückung des Tito-Regimes getötet wurden. Ein Massaker und eine Massenverfolgung mit dem einzigen Ziel, das noch immer relevant ist: ethnische Säuberung. 24

Die Rhetorik dieses Zitats ist charakteristisch für die Art, wie im Diskurs um die Foibe versucht wird, diese Geschehnisse mit den großen Verfolgungen und 23 | Zit. n. Gabriella Gallozzi: „Raiuno gira una fiction sulle foibe“, in: L’Unità vom 13. August 2004, S. 19.

24 | Laura Delli Colli: „Foibe: Un film per capire“, in: Panorama vom 16. Juli 2004.

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Genoziden des 20. Jahrhunderts gleichzusetzen, vom Holocaust über die Verschwundenen („desaparecidos“) in Südamerika bis hin zum Kosovokrieg. Es ist naheliegend, dass das erneute Interesse an den Foibe mit den Grausamkeiten des Jugoslawienkrieges in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zusammenfiel. Diese beiden Akte „slawischer Barbarei“ wurden als zwei Seiten derselben Medaille gesehen. Zweifellos spielt die Autorin des Artikels damit auf die Foibe als Akt der ethnischen Säuberung an, der „noch immer relevant“ sei.25 Diese Anspielung entging den Slowenen und Kroaten keineswegs. Im Sommer 2004 wurde der noch unfertige Film Gegenstand eines kleinen diplomatischen Zwischenfalls zwischen Italien und Slowenien, als der slowenische Außenminister Ivo Vajgl den Film in einer Stellungnahme als „eine Provokation und eine Beleidigung des slowenischen Volkes“ sowie ein „historisches Lügenmärchen, das ein ganzes Volk zu Tätern macht, das eigentlich in seiner gesamten Geschichte der Aggression seiner Nachbarn ausgesetzt war“,26 verurteilte. Maurizio Gasparri reagierte auf diese Vorwürfe in einem Interview mit La Repubblica, in dem er sagte, dass es äußerst übertrieben sei, von einem diplomatischen Zwischenfall zu sprechen, und, was den Vorwurf der Geschichtsklitterung angehe, solle jeder Zuschauer sich selbst ein Urteil bilden. Er fuhr fort, dass er den Film unterstützt habe, weil dieser einen wichtigen Beitrag dazu leiste, ein Stück kollektiver Erinnerung wieder ins Bewusstsein zu rufen, das durch die kulturelle Hegemonie der Linken unterdrückt worden sei.27 Auch wenn Alberto Negrin anderer Ansicht ist, war sein Film schon lange vor seiner Fertigstellung durch und durch politisch instrumentalisiert.28 25 | Mehr zur Darstellung der Foibe als Akt der ethnischen Säuberung bei Pamela Ballinger: „Exhumed Histories“, S. 11–14. In einem anderen Text stellt Ballinger fest, dass „fast jeder Vertriebene, mit dem ich gesprochen habe, mir sagte: ‚Was die Slawen sich jetzt gegenseitig antun, haben sie uns vor fünfzig Jahren angetan.‘ Die konkreten Ereignisse der Foibe wurden als Bestätigung für das weit verbreitete Stereotyp der metzelnden und fanatischen Balkanbewohner gesehen, und wurden so mit weiteren Diskursen über die Massenauswanderung als Akt der ethnischen Säuberung verknüpft. Gleichzeitig lauert die Problematik des Faschismus und der möglichen Mittäterschaft hinter diesen Darstellungen. Indem sie die vollkommene Unschuld der Italiener postulieren, versuchen diese Geschichten angestrengt, denen, die diese Ereignisse als Vergeltungstaten für faschistische Sünden darstellen, ein alternatives Narrativ entgegenzusetzen“ (Ballinger: History in Exile, S. 146).

26 | „Foibe: ‚Il film offende gli sloveni‘“, in: Il Piccolo vom 19. August 2004, Sezione Istria, S. 1.

27 | Vgl. „Non fermeranno la fiction sulle foibe“, in: La Repubblica vom 23. August 2004, Sezione Politica Interna, S. 20.

28 | Die Foibe-Frage führt nach wie vor zu Spannungen zwischen Italien und den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, vor allem 2007, als der italienische Präsident und ehemalige Kommunist Giorgio Napolitano in einer Rede anlässlich des dritten Giorno del ricordo die Opfer der Foibe als Opfer von „Hass und gewalttätiger Raserei und den annexionistischen Absichten

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Il cuore nel pozzo spielt 1945 in Istrien, in der Zeit nach dem Rückzug der Wehrmacht und der Ankunft der jugoslawischen Partisanen, die das Territorium für sich beanspruchen. Die Erzählung handelt von Novak (gespielt von Dragan Bjelogrlić), einem jugoslawischen Partisanenkommandanten, dessen Einheit damit beauftragt ist, das Land von den italienischen Besatzern zurückzufordern. Novak ist auch verzweifelt auf der Suche nach Carlo (Gianluca Grecchi), seinem unehelichen Sohn mit Giulia (Sonia Aquino), einer Italienerin, die er kurz vor Kriegsausbruch vergewaltigt hatte. Giulia versteckt Carlo bei einem wohlhabenden italienischen Paar und deren Sohn Francesco (Adriano Todaro). Walter (Marcello Mazzarella), ein Freund der Familie, drängt Francescos Eltern, aus der Stadt zu fliehen, da die anrückenden Jugoslawen niemanden verschonen würden. Obwohl es im Film nie explizit thematisiert wird, ist Walter offensichtlich Mitglied des italienischen Comitato di Liberazione Nazionale (CLN), des Teils der italienischen Resistenza, der zunächst mit dem jugoslawischen Widerstand im Kampf gegen den Faschismus verbündet war, aber später mit ihnen gebrochen hatte. Wir beobachten, wie die Partisanen alle Italiener, einschließlich Francescos Eltern, systematisch zusammentreiben und in eine Foiba werfen. Francesco und Carlo gelingt es, mithilfe einer bunt zusammengewürfelten Gruppe zu fliehen: Walter, dem italienischen Soldaten Ettore (Beppe Fiorello) und seiner slowenischen Verlobten Anja (Antonia Liskova) sowie Don Bruno (Leo Gulotta), einem italienischen Priester, der ein Waisenhaus am Stadtrand leitet. Novak, dessen Suche nach Carlo zu einer Art Privatfehde geworden ist, macht wieder und wieder Jagd auf die Gruppe. Giulia stürzt sich in eine Foiba, um ihren Sohn zu retten, und Walter und Don Bruno werden beim Versuch, die Kinder zu schützen, getötet. Am Ende bleiben nur Ettore und Anja übrig. In einem dramatischen Showdown tötet Ettore Novak, und die Überlebenden schließen sich dem ungeheuren Strom an Flüchtlingen aus Istrien an.29

der Slawen, die vor allem im Friedensvertrag von 1947 verwirklicht worden sind, und die die finstere Form ethnischer Säuberung annehmen“, bezeichnete („Napolitano: ‚Foibe, ignorate per cecità‘“, in: Corriere della sera vom 11. Februar 2007). Diese Rede trennte also die Foibe-Massaker vom historischen Kontext der Okkupations- und Expansionspolitik des faschistischen Italien in Jugoslawien. Der slowenische Außenminister schickte eine diplomatische Protestnote, in der er die Anschuldigungen in der Rede verurteilt, während der kroatische Präsident Stjepan Mesić Napolitano des offenen Rassismus, historischen Revisionismus und politischen Revanchismus bezichtigte. Der Zwischenfall hatte keine weiteren Konsequenzen und die Presse berichtete kurz darauf, dass man zu einer Einigung gekommen sei. Jenseits der diplomatischen Beziehungen bleibt Napolitanos Rede ein klares Zeichen dafür, wie die Interpretation der Foibe-Tötungen als Akt der einseitigen und vorsätzlichen ethnischen Säuberung jetzt zur offiziellen Linie quer durch das politische Spektrum in Italien geworden ist.

29 | Für eine ausführliche Zusammenfassung der Handlung und eine hervorragende Analyse der Miniserie vgl. Silvia Zetto Cassano: „I cuori e la frontiera: rappresentazione dell’eso-

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Die Serie basiert auf der vereinfachenden Dichotomie von Gut gegen Böse. Sie stellt die „titini“ (Titos Partisanen) als Bande von Schlägertypen und Kriminellen dar, die nur von ihrem Hass auf die Italiener getrieben werden. Die Italiener erscheinen als unschuldige Opfer, die verfolgt und aus ihrer Heimat vertrieben werden, nur weil die „Slawen“ ihr Land wollen. Die ganze Geschichte wird aus Sicht des achtjährigen Francesco geschildert, der die Ereignisse in einem Tagebuch festhält, das seine Mutter ihm vor ihrem Tod geschenkt hat. Das Stilmittel des Tagebuchs erinnert an Anne Frank, und der Fokus auf dem Schicksal der verwaisten Kinder erlaubt den Filmemachern, auf jegliche Reflexion der komplexen politischen Aspekte der Anwesenheit der Italiener in Istrien zu verzichten. Die Unschuld der Kinder steht außer Frage, egal welche Verbrechen die Faschisten in der Region verübt haben mögen.30 Negrin zögert auch nicht, sich der üblichen Ikonographie des Holocaust-Films zu bedienen. Die jugoslawischen Partisanen werden mit den Attributen dargestellt, die üblicherweise mit Nationalsozialisten assoziiert werden: Sie tragen Uniformen und Marschstiefel, sie werden von deutschen Schäferhunden begleitet und sie treiben Männer, Frauen und Kinder zusammen, um sie ihn großen Lkws fortzubringen. Im Gegensatz dazu werden die wenigen italienischen Soldaten, die wir am Ende des Filmes zu sehen bekommen, als versprengte und schlecht gekleidete Truppe gezeigt, die von Ettore, dem „guten Italiener“, angeführt wird, der gegen Gewalt ist und sie nur anwendet, um sich und die Seinen zu verteidigen. Die einzige Figur, die nicht in dieses Schema passt, ist Anja, die Slowenin, die auf Seite der Italiener steht und von einem von Novaks Männern als Strafe für den Verrat an ihren Landsleuten vergewaltigt wird.31 Als Don Brunos Haushälterin repräsentiert Anja faktisch das andere kulturelle Stereotyp „der Slawen“, nämlich das des bescheidenen und ergebenen Dieners.32 Weiblichkeit im Allgemeinen wird als mütterlich und aufopferungsvoll charakterisiert und Anja wird, wie alle anderen Frauen im Film, als gutmütig, unpolitisch, passiv und unschuldig dargestellt. Der Status der Männlichkeit ist weniger eindeutig und fundamental bedrohlich: Auf der einen Seite stehen die barbarischen „titini“, die mit Vergewaltigung als speziell „slawische“ Form der Gewalt assoziiert werden, auf der anderen die Italiener, die allesamt auf die eine oder andere Weise schwach und entmannt sind. Don Bruno, ein zölibatärer Geistlicher, Ettore, der pazifistische Antiheld, der in der Eröffnungsszene sein Gewehr in einer Geste der symbolischen Selbstkastration wegwirft, und schließlich Waldo nel cinema“, in: Qualestoria 33.2 (2005), S. 89–111; sowie Verginella, „Geschichte und Gedächtnis“.

30 | Zur Rolle der Kinder vgl. v.a. Zetto Cassano: „I cuori e la frontiera“, S. 109; Buonanno: Italian TV-Drama, S. 216–221.

31 | Näheres zu Anjas Rolle bei: Zetto Cassano: „I cuori e la frontiera“; Verginella, „Geschichte und Gedächtnis“, S. 51–52.

32 | Vgl. Verginella: „Geschichte und Gedächtnis“, S. 51.

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ter, der verkrüppelte Intellektuelle, dessen Versagen für die Wirkungslosigkeit der italienischen Resistenza steht. Heldenhaftigkeit ist allein dem Kind vorbehalten, Francesco, der lebt, um die Geschichte zu erzählen und diese Erzählung von Aufopferung und Opferschaft zu bewahren, ohne in die politischen Turbulenzen verwickelt zu sein, die zu all dem führten.33 Er, die Zukunft Italiens, hat kein Blut an seinen Händen. Wie in Negrins vorherigem Film wird der historische Kontext – die Verfolgung der Slowenen und Kroaten durch die Faschisten sowie die Besetzung der Region durch die Deutschen – fast völlig ausgeblendet. Nur am Anfang bekommen wir flüchtig ein paar deutsche Soldaten zu sehen, die sich dann schnell zurückziehen. Mit Ausnahme von Ettore und einer Handvoll Soldaten sind alle Italiener Zivilisten. Im ganzen Film kommt kein einziger italienischer Faschist vor. Die Kollaboration der Faschisten mit den Nationalsozialisten zwischen 1943 und 1945 wird ebenso wenig erwähnt. Es gibt im Dorf weder Slowenen noch Kroaten, sodass der Zuschauer den Eindruck gewinnt, dass Istrien ausschließlich von antifaschistischen Italienern bewohnt war. Die dunkelhäutigeren und unrasierten „titini“ werden allgemein als „Slawen“ bezeichnet und nicht als Slowenen und Kroaten (und sie bezeichnen sich gegenseitig auch selbst als Slawen) – und es wird an keiner Stelle erwähnt, dass in den von Tito 1945 angeführten Einheiten auch Italiener und Griechen kämpften.34 Darüber hinaus weist bis auf den roten Stern auf ihren Baretten nichts die jugoslawischen Partisanen als Kommunisten aus, die gegen den Faschismus kämpfen. Tatsächlich wird die politische Dimension des Zweiten Weltkriegs, wie in Perlasca, zugunsten einer dualistischen Erzählung von Gut gegen Böse völlig ausgeblendet. Dieses historische Vakuum rechtfertigt der Film vordergründig damit, dass er eine persönliche Geschichte aus Sicht des achtjährigen Francesco erzählt. Wenige historische Informationen liefert der Film durch Walter, den einzigen italienischen Partisanen im Film, der ein Mitglied des CLN ist, der Organisation, die dem jugoslawischen Widerstand gegenübersteht. Es gibt zwei wesentliche Dialoge zwischen Walter und Novak, die einen Einblick in Novaks Motivationen und den politischen und ethnischen Hintergrund des Konflikts geben. Bei der ersten Begegnung versucht Walter, mit Novak zu reden, um Giulia zu retten, die sich von Novak hat fangen lassen, um Ettore und den Waisenkindern zur Flucht zu verhelfen. Walter: Mit welchem Recht massakrierst du Zivilisten? Was du hier tust, hat mit diesem Krieg nichts zu tun! N ovak : Glaubst du noch immer an diese Geschichten? [Novaks Männer lachen.] Du irrst dich, Walter, du machst dir was vor!

33 | Vgl. Zetto Cassano: „I cuori e la frontiera“, S. 109. 34 | Vgl. Glenda Sluga: „Trieste: Ethnicity and the Cold War, 1945–54“, in: Journal of Contemporary History 29.2 (1994), S. 285–303, hier S. 286.

Kapitel 6 Walter: Du musst auf hören! Und zwar sofort, Novak! N ovak : Verstehst du es denn nicht? Wo immer unsere Armee hinkommt, wird es kein Italien mehr geben. Denn dies ist unser Land, es ist nicht Italien, und das habt ihr schon immer gewusst! Walter: Das ist ein Massaker! Das ist kein Krieg, es ist ein Massaker von unschuldigen Zivilisten! Warum?! N ovak : Warum? Jetzt wird abgerechnet, mein Freund, und ich fürchte, ihr habt noch viel zu bezahlen. Ich habe alle Zeit der Welt. Eure Tage sind gezählt. Walter: Novak, du bist verrückt! N ovak : Meinst du? Vielleicht hast du recht. [Er zerreißt die Liste der Gefangenen.] Also wundere dich nicht über das, was ich noch tun werde. 35

Dieser Wortwechsel offenbart die expansionistischen und genozidalen Ambitionen des „slawischen“ Aggressors, der die italienische Nation bedroht. Das wird im nächsten Dialog noch deutlicher, der am Rand einer Foiba stattfindet, wo eine Gruppe Gefangener gerade exekutiert werden soll. Walter: Halte sie auf, Novak! Das kannst du doch nicht machen, halte sie auf ! Sie sind doch nur Zivilisten, was haben sie denn damit tun? N ovak : Als uns die Faschisten wie Sklaven behandelt haben, was habt ihr, die Zivilisten, für uns getan? Habt ihr jemals einen Finger gerührt, um uns zu helfen? Habt ihr es zu verhindern versucht? Walter: Und deshalb massakrierst du unschuldige Leute? Tu’s nicht, ich f lehe dich an, tu’s nicht! Ihr Blut wird eures nicht abwaschen. N ovak : Du irrst dich. Ich kenne keinen anderen Weg. Walter: Hör mir zu, Novak! Wir müssen versuchen, diesen Rachefeldzügen ein Ende bereiten. Wir müssen lernen, in Frieden miteinander zu leben, dafür haben wir doch gekämpft! Es ist unsere Pf licht. N ovak : Glaubst du wirklich, du kannst den Krieg mit solchem Geschwätz beenden? Wenn wir ihn gewinnen wollen, dürfen wir mit niemandem Mitleid haben! [Novaks Männer erschießen die Gefangenen und werfen sie in die Foiba hinein.] Walter: Nein! Du Mörder! N ovak : Begreifst du es jetzt? Spürst du, wie sehr du mich hasst? Wie sehr du mir den Tod wünschst? Das ist der gleiche Hass, den ich immer spüre. [Maschinengewehrfeuer im Hintergrund]. Wir sind alle gleich! Alle! Walter: Mörder! 36

Walter drängt Novak zu verstehen, dass seine Vergeltungsmaßnahmen unverhältnismäßig und fehlgeleitet sind. Als Mitglied der Resistenza spürt Walter, dass er und Novak nach der Vertreibung der Faschisten auf einer Seite stehen sollten, da 35 | Il cuore nel pozzo (I 2005, R: Alberto Negrin; RAI), 2. Teil [20:37–21:38] 36 | Ebd. [24:41–25:58]

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sie beide Antifaschisten sind. Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, sollten alle in Frieden miteinander leben können. Walter sieht den Konflikt aus einer politischen Perspektive, während es für Novak um eine Frage der ethnischen Zugehörigkeit geht. Während Walter sich an die Unterscheidung zwischen Faschisten und Italienern klammert, betrachtet Novak die Zivilbevölkerung als mitschuldig an den Verbrechen des Faschismus. Alle Italiener sind verantwortlich für die Unterdrückung seines Volkes. Das unterschiedslose Massaker an italienischen Frauen und Kindern ist also für Novak und die „titini“ keine Aberration, wie Walter es sieht, sondern zentral für das, was sie zu erreichen versuchen: die totale Entitalienisierung der Region. Novak sagt: „Es wird kein Italien mehr geben“, wo auch immer seine Armee erscheint. Den Szenen, in denen die jugoslawischen Partisanen italienische Männer, Frauen und Kinder am helllichten Tag zusammentreiben, widersprechen historische Quellen und viele Aussagen von Augenzeugen, nach denen die Verhaftungen stets nachts und mithilfe von Listen stattfanden, auf denen nur selten die Namen von Frauen und keine Kinder vermerkt waren.37 Angesichts von Novaks ethnischer Interpretation des Konflikts versucht der Film offensichtlich, seine Methoden mit den Techniken der Verfolgung und Unterdrückung durch die Faschisten und Nationalsozialisten in Bezug zu setzen. Das führt nicht nur zu einer Umkehrung der Dichotomie von Täter und Opfer. Der Film stellt außerdem die Foibe-Tötungen als Genozid an der gesamten italienischen Bevölkerung dieser Region dar, der seine Ursache im „slawischen“ Hass auf die Italiener habe. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Mutter von Novaks Sohn Giulia heißt: Dass sie von ihm vergewaltigt wurde, symbolisiert somit die „slawische Vergewaltigung“ der ganzen Region Julisch Venetien [Venezia Giulia].38 Die Lage der italienischen Minderheit, so stellt es der Film dar, ist also vergleichbar mit der der Juden im nationalsozialistischen Deutschland, und für die Italiener ist die einzige Alternative zu einem sicheren und grausamen Tod in den Foibe die Flucht. Die Abschlussszene des Films zeigt einen scheinbar endlosen Strom von Flüchtlingen in Lumpen und mit Koffern und Bündeln, der sich den Hügel hinunter zum Hafen wälzt. In dieser Szene gerät das problematische Verhältnis des Filmes zur historischen Genauigkeit deutlich in den Blick. Sobald Ettore Novak getötet und mit dem weinenden Francesco an seiner Seite sein Gewehr tränenüberströmt theatralisch zerstört hat, wechselt der Stil des Films schlagartig. Die eindringliche Filmmusik (von Ennio Morricone), die bis dahin jede Szene untermalt hat, reißt plötzlich ab, und stattdessen sehen wir eine Prozession von Menschen, hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte, in körnigem Schwarz-Weiß, und hören nur noch die Geräusche ihrer Füße auf der Schotterstraße. Im Voice-over hören wir Francescos Stimme: „Manche Menschen sagen, dass es Geschichten 37 | Vgl. Zetto Cassano: „I cuori e la frontiera“, S. 108; Pupo: Il lungo esodo; Pupo/Spazzali: Foibe.

38 | Vgl. Verginella: „Geschichte und Gedächtnis“, S. 53.

Kapitel 6

gibt, die man besser vergessen sollte, und dass es nutzlos ist, über sie zu sprechen, aber ich kann das nicht.“39 Diese Bilder, die an Wochenschauberichte und Dokumentarfilme über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust erinnern, erwecken den Anschein, dass man hier Archivaufnahmen dieses Exodus sieht. Erst nach ein paar Minuten, wenn wir Anja und schließlich Carlo unter den Flüchtlingen entdecken, stellen wir fest, dass die Szene immer noch Teil der fiktionalen Filmhandlung ist. Die Kamera zoomt auf Anjas Gesicht, dann kommen Ettore und Francesco angerannt und rufen Anjas Namen, und alle vier sind wieder vereint. Die Musik setzt zusammen mit Francescos Voice-over wieder ein: Noch etwas, Mama: Wir waren nicht die einzigen, die gezwungen wurden, unsere Heimat zu verlassen. Es sind viele Menschen entkommen, mehr als 300.000, sagen sie. Aber Tausende Menschen wurden da unten zurückgelassen, am Grund der Grube, so wie du. Ich hab dich lieb, Mamma, ich hab dich lieb, Papa. 40

Während Francesco das sagt, wechselt der Film in die Supertotale und zeigt eine scheinbar endlose Karawane von Flüchtlingen, die den gewundenen Pfad den Hügel hinab zu einer Bucht zieht, wo ein großes Dampfschiff sie erwartet, um sie in Sicherheit zu bringen. Trotz des dokumentarischen Duktus in dieser Szene hat die Massenauswanderung nie so stattgefunden, wie sie hier dargestellt wird. Die Auswanderungswelle aus Istrien, die sich tatsächlich über zehn Jahre erstreckte, wird hier in eine einzige Szene gegossen, was suggeriert, dass all diese Menschen ihre Heimat gleichzeitig zu Fuß verließen und fast nichts mitnehmen konnten.41 Als künstlerisches Mittel ist es zwar legitim, ein größeres Ereignis in einem einzigen starken Bild zu kondensieren, aber indem der Film an dieser Stelle in eine Archivästhetik wechselt, scheint der Film zu versuchen, sich als Beweis für die dargestellten Ereignisse und als authentische Quelle historischen Wissens zu präsentieren. Dieser fragwürdige Versuch, historisch authentisch zu wirken, macht Il cuore nel pozzo zu einem deutlich problematischeren kulturellen Artefakt als etwa die Miniserie Holocaust. Auch wenn die Familie Weiss in Holocaust rein fiktiv ist, sind die historische Kulisse und die Chronologie der Ereignisse authentisch, und es ist genau diese Art von Legitimität, auf die Il cuore nel pozzo abzielt. Durch die Einbindung dieser Pseudo-Archivaufnahmen am Schluss überschreitet der Film allerdings eine Grenze und offenbart seine Ambitionen bezüglich einer tatsächlichen historischen Authentizität. Dieses Mittel haben viele Filme gemein, die „auf wahren Begebenheiten beruhen“, die am Ende über die interne Logik der Erzählung hinaus auf ein reales historisches Ereignis verweisen. In Perlasca geht Negrin ähnlich vor, wenn er einen kurzen Ausschnitt aus einem Interview mit 39 | Il cuore nel pozzo, 2. Teil [1:37:49–1:37:56] 40 | Ebd. [1:39:15–1:39:35] 41 | Vgl. Zetto Cassano: „I cuori e la frontiera“, S. 111.

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dem realen Giorgio Perlasca zeigt, aber im Fall von Il cuore nel pozzo ist dieses Mittel falsch und leer. Für Zuschauer, die die historischen Details kennen, hebt diese Abschlussszene die Künstlichkeit des Vorangegangenen hervor, aber für die Mehrheit der Zuschauer, die sich nicht mit der Geschichte der Foibe-Massaker und der Massenauswanderung auskennen, dient sie dazu, der vorangegangenen Fiktion unrechtmäßig ein authentisches Aussehen zu verleihen. Selbst wenn sich Il cuore nel pozzo, wie Negrin behauptet, auf Zeugenaussagen und die Memoiren von istrischen Auswanderern stützt,42 höhlt dieser Wechsel der Darstellungsweise am Ende deren Authentizität aus. Hätte der Film von Anfang an klargemacht, dass er die fiktionalisierte Version der Erinnerungen einzelner Vertriebener an die dargestellten Ereignisse ist, hätte er sich vielleicht mit einer stärkeren Berechtigung als Erinnerungstext präsentiert. Aber dieser Rückgriff auf den dokumentarischen Duktus zeigt, dass ihm der Status als Erinnerung nicht genügt und dass er diese Erinnerungen lieber als historische Fakten einordnen will. Kehren wir zu Gasparris Aussage von April 2002 zurück. Nach dem Erfolg von Perlasca im Januar desselben Jahres erklärt Gasparri, dass ein Fernsehfilm über die Foibe „wirksamer“ wäre als ein Dokumentarfilm zu diesem Thema, der seiner Ansicht nach befremdlich auf die Zuschauer wirken könnte. Wenn es letztlich das Ziel ist, die Foibe-Tötungen als die „italienische Tragödie“ zu etablieren, ist ein Spielfilm natürlich „wirksam“, weil dieses Format den Zuschauer dazu einlädt, sich mit den Figuren zu identifizieren und so Mitleid mit den Opfern der Foibe und den Vertriebenen aus Istrien auslöst. Der Status der „fiction“ als Unterhaltungsgenre, das nicht denselben Standards wie ein Dokumentarfilm genügen muss, ist in dieser Hinsicht von Vorteil, weil hier gewisse historische Ungenauigkeiten mit dem Verweis auf die künstlerische Freiheit gerechtfertigt werden können. Die zwei Wellen der Foibe-Tötungen 1943 und 1945 werden also in ein Bild gegossen, ebenso wie die Massenauswanderungen aus Istrien und Dalmatien. Die Integration dieses dokumentarischen Elements am Ende des Filmes macht allerdings die Beziehung von realer Geschichte und Fiktion schwierig. Sie hebt das Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Dokumentation hervor und versucht gleichzeitig, es zu lösen, indem es die tatsächlichen historischen Ereignisse scheinbar mit dieser fiktionalen Darstellung ersetzt. Das Ziel von Il 42 | Vgl. Dino Messinas Interview mit Negrin: „Foibe, un film per rievocare la tragedia al lungo negata“, in: Il Corriere della sera vom 12. Juli 2004, S. 16. Auf derselben Seite findet sich ein Interview mit dem Historiker Giovanni Sabbatucci, dem historischen Berater für den Film. Sabbatucci distanziert sich von der Darstellung der Ereignisse und sagt, dass sein Einf luss nur begrenzt gewesen sei. Er betont, dass die Foibe-Massaker, so schlimm sie auch waren, keinen „totalen Genozid, der mit dem Holocaust vergleichbar ist“, darstellen. Er fährt fort, dass es wichtig sei, sich an die Grausamkeiten des faschistischen Regimes in der Region zu erinnern und daran zu denken, dass „die Jugoslawen nicht nur schlecht und die Italiener nicht nur gut waren“. Dino Messina: „Sabbatucci: Atroce, ma i torti non furono da una parte sola“, in: Il Corriere della sera vom 12. Juli 2004, S. 16.

Kapitel 6

cuore nel pozzo ist nicht, wie der Film seine Zuschauer glauben machen will, eine „vergessene und unterdrückte“ Erinnerung wieder ins Bewusstsein zu bringen, sondern eher der Versuch, eine einheitliche Erinnerung zu formen, in deren Zentrum das Leiden der Italiener steht, wobei das Leiden der Slowenen und Kroaten völlig ausgeblendet wird.43 Fernsehdramen über die Vergangenheit wie Perlasca und Il cuore nel pozzo verwandeln Lokal- und Regionalgeschichte in ein nationales Spektakel, das einer bestimmten Form der Erinnerung Vorrang vor einer anderen einräumt, und dienen als Mittel dazu, eine gemeinschaftliche Identität zu schaffen, die auf einem geteilten Narrativ von Heldenhaftigkeit und Opferschaft angesichts eines äußeren Aggressors basiert. Mit anderen Worten: Diese Narrative bewirken die Negation von Komplexität. Das ist in einer multiethnischen und historisch vielschichtigen Grenzregion wie Julisch Venetien besonders problematisch. In einem derartigen Klima, in dem die Version der Geschichte, die den Leuten alltäglich präsentiert wird, konstruiert ist und auf Sensation abzielt, wird ein „authentischerer“ Bezug auf die Vergangenheit unmöglich. Darauf spielt Giovanni De Luna an, wenn er betont, dass Italien „mehr Geschichte und weniger Erinnerung“44 benötige: eine selbstkritischere und differenziertere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes, die nicht versucht, die komplexen Feinheiten der italienischen Geschichte und deren Verflechtungen mit der Geschichte der Nachbarländer auf die vereinfachenden Dichotomien Gut versus Böse oder Opfer versus Täter, zu reduzieren. Darüber hinaus scheint der vorherrschende Diskurs um Opferschaft und Trauer Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verdunkeln. Tatsächlich scheint der dominierende Modus der Erinnerungskultur im Italien der Nachkriegszeit einer der radikalen Diskontinuität zu sein, der vollständigen Ausklammerung von bestimmten Aspekten der Vergangenheit, die als irrelevant für die Gegenwart angesehen werden. Das Versagen oder sogar das bewusste Bemühen, solche Verbindungen auszublenden, lässt jeden ernsthaften Versuch, sich kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, überflüssig erscheinen.

43 | Die Historikerin Marta Verginella setzt die konstruierte Erinnerung in Il cuore nel pozzo mit Paul Ricœurs Begriff „Überschuss an Erinnerung“ in Bezug, das den Opfern erlaubt, die Tragödien der jüngsten Vergangenheit dem Zwang oder der Bösartigkeit der anderen zuzuschreiben und so ihre eigene Unschuld zu bestätigen. „Der Mangel an Wissen, den der einzelne kompensieren müsste“, schreibt Verginella, „wird somit vollständig mit dem eigenen nationalen Gedächtnis aufgefüllt, während das Gedächtnis der anderen dem Vergessen anheimfällt. Diese Bedingung erlaubt es, den Bruch zwischen dem ‚Wir’ und den anderen leichter zu vollziehen und der nationalen Gemeinschaft der Unterdrücker eine nationale Gemeinschaft der Unterdrückten gegenüberzustellen.“ (Verginella: „Geschichte und Gedächtnis“, S. 43).

44 | De Luna: Repubblica del dolore, S. 18.

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Beiden Teilen von Il cuore nel pozzo ist ein Zwischentitel vorangestellt, der besagt: „Dieser Film ist den Abertausenden Italienern gewidmet, die in den Foibe getötet wurden, und den 350.000 julischen, istrischen und dalmatinischen Flüchtlingen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen.“ Es fällt zunächst die Diskrepanz zwischen der exakten Anzahl an Flüchtlingen und den „Abertausenden“ [migliaia e migliaia] Opfern der Foibe auf. Aber noch problematischer ist die Bezeichnung dieser Opfer als „Italiener“, was außer Acht lässt, dass nicht alle, die in den Foibe starben, Italiener waren. In gewisser Weise könnte man den populären Slogan „Infoibati perché italiani“ provokativ umkehren und stattdessen sagen, dass diese Opfer „italiani perché infoibati“ sind – Italiener, weil sie während der Foibe-Massaker getötet wurden. Die gesamte Rhetorik im Diskurs um die Foibe in Italien ist darauf ausgerichtet, durch ein Narrativ des gemeinsamen Opfers ein Gefühl der gemeinsamen Nationalidentität zu fördern. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verehrte Italien die Resistenza als wahren Retter und war dankbar für deren Opfer. Aber infolge der Krise der Linken in den frühen 1990er Jahren begann der Stern der antifaschistischen Resistenza zu sinken und die aufstrebenden rechten politischen Kräfte begannen, sich nach neuen Helden umzusehen. In den vergangenen 20 Jahren wurden wir Zeugen des Aufstiegs der „guten Faschisten“ wie Giovanni Palatucci und Giorgio Perlasca, zweier „italienischer Helden“. Gleichzeitig beobachten wir die zunehmende Bedeutung der Foibe nicht nur als einer Reihe von grauenvollen Ereignissen an Italiens Nordostgrenze, sondern als nationale Tragödie – „la tragedia degli italiani“, die Tragödie, die das italienische Volk eint. Immer wieder wird beklagt, dass die Erinnerung an die Foibe lange verdrängt worden war und daher wiedererlangt werden muss. Wie im vorangegangenen Kapitel erwähnt, passt diese psychoanalytische Terminologie sicherlich zu einem Phänomen wie den Foibe, die wie ein Schwarzes Loch eine Abwesenheit markieren, die man nicht direkt wahrnehmen, sondern nur aus ihrer Wirkung auf die Umgebung ableiten kann. Auf die gleiche Art und Weise wird eine verdrängte Erinnerung nur in den Symptomen sichtbar, die durch die Verdrängung der traumatischen Erinnerung verursacht werden. Wenn Maurizio Gasparri 2004 im Interview mit La Repubblica ausruft: „Basta adesso con le rimozioni“ (Schluss jetzt mit den verdrängten Erinnerungen),45 bezieht er sich auf die Verdrängung der Erinnerung an die Foibe-Tötungen durch die italienische Linke in den Jahrzehnten nach dem Krieg. Der Film Il cuore nel pozzo wäre damit ein Akt der Exhumierung dieser Erinnerung, durch welche die Verdrängung, die sie blockierte, aufgehoben wird. Aber wie wir gesehen haben, ist die Version der Erinnerung an die Foibe-Massaker in Negrins Film hochgradig kontrovers und beschränkt. Anstatt die Verdrängung aufzuheben, ist sie eher noch ein weiteres Symptom der tatsächlich verdrängten Erinnerung, nämlich der an den Faschismus. Italiens 45 | „Non fermeranno la fiction sulle foibe“, in: La Repubblica vom 23. August 2004, sec. Politica Interna, S. 20.

Kapitel 6

Schuld und Verantwortung für die Gewalt und Brutalität des faschistischen Regimes wird geleugnet und auf andere abgewälzt, seien es die Nationalsozialisten, die „Slawen“ oder sogar die Faschisten selbst, die sich von den „echten“ Italienern unterscheiden. Die Heftigkeit der Reaktionen auf jede Andeutung, dass Italiener irgendetwas anderes gewesen sein könnten als unschuldige Opfer, zeugt davon, dass die Wunden dieses Traumas noch nicht verheilt sind.

V om N utzen der G eschichte : D okumentarthe ater in Triest

und anderswo

In dieser Studie beschäftige ich mich mit verschiedenen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit, und eine der Leitfragen ist, um wessen Vergangenheit es eigentlich geht. Auf die eine oder andere Weise nutzen viele der literarischen Texte, die ich in diesem Buch untersuche, historische Dokumente oder bauen dokumentarische Elemente ein, um den Geschichten, die sie erzählen, Legitimität zu verleihen und jene Geschichten und Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die zum Schweigen gebracht worden sind. Im nächsten Kapitel beschäftige ich mich mit den Werken einer Reihe von Triestiner Autoren, die alle über einen anderen, lange Zeit vernachlässigten Aspekt der Geschichte der Region schreiben: Boris Pahor erzählt die Geschichte der Slowenen in Triest, Fulvio Tomizza die der Istrier in Istrien und Italien usw. All diese Autoren erheben gewisse Ansprüche auf historische Richtigkeit und im Vergleich miteinander bilden diese Texte ein Mosaik der Geschichte und Erinnerung in der Region. Aber auch wenn sie alle Teile desselben großen Bildes sind, ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit jeweils auf die spezifische Vergangenheit einer bestimmten Gruppe ausgerichtet und fokussiert auf verschiedene Orte und Ereignisse. Ein Konvergenzpunkt mehrerer dieser Gruppenidentitäten ist die Risiera di San Sabba. Wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, diente die Risiera im Laufe der Jahre verschiedenen Gruppen als verbindendes Symbol der kollektiven Opferschaft. Aus genau diesem Grund ist eine Untersuchung der literarischen Darstellungen dieses Ortes besonders aufschlussreich, weil dies Rückschlüsse auf das kollektive Gedächtnis in Triest zulässt. Im Folgenden analysiere ich zwei Theaterstücke: das slowenische Stück Rižarna von Filibert Benedetič und Miroslav Košuta aus dem Jahr 1975 und das italienische I me ciamava per nome: 44.787 von Renato Sarti aus dem Jahr 1995. Beide stützen sich vor allem auf Augenzeugenberichte und dokumentarisches Material zu den 18 Monaten, in denen die Risiera als Konzentrationslager diente. Da beide Stücke sich im Prinzip desselben Materials bedienen, sind die Unterschiede zwischen ihnen recht aufschlussreich. Das betrifft nicht nur das politische Klima, in dem sie entstanden, sondern auch die Art und Weise, wie diese beiden ethnischen Gruppen die Bedeutung der Risiera wahrnehmen. Eine vergleichende Lektüre dieser beiden Stücke verdeutlicht

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somit die Schwierigkeit und Inkommensurabilität der zwei Perspektiven auf die Stadtgeschichte. Rižarna wurde im Mai 1975 unter der Regie von Jože Babič und Marij Uršič im Stalno Slovensko Gledališče (Slowenischen Theater) in Triest anlässlich des 30. Jahrestages der Befreiung uraufgeführt. Der Text wurde aus Dokumenten und Zeugenaussagen adaptiert, die der Journalist Albin Bubnič, der wegen seiner Aktivitäten für den Widerstand selbst in mehreren deutschen Konzentrationslagern inhaftiert war, im Laufe von 30 Jahren gesammelt hatte. Die Aufführung weckte ein hohes Medieninteresse. Sie wurde im örtlichen Fernsehen übertragen und im selben Monat im Theater in Görz sowie im Križanke Open-Air-Theater in Ljubljana aufgeführt. Alle Aufführungen waren schon im Vorfeld ausverkauft. In der Presse wurde Rižarna im Allgemeinen positiv rezensiert, allerdings ausschließlich innerhalb der slowenischen Gemeinde. Nach meinen Informationen wurde Rižarna seither nicht mehr aufgeführt, das Stück wurde weder ins Italienische noch in andere Sprachen übersetzt und es gibt, soweit ich feststellen konnte, bis auf die Rezensionen in slowenischen Zeitungen 1975 auch keine wissenschaftlichen Besprechungen. Rižarna ist, mit anderen Worten, nie in das Bewusstsein der italienischen Öffentlichkeit getreten und inzwischen fast völlig in Vergessenheit geraten. Es ist nur den Mitarbeitern des slowenischen Theaters in Triest zu verdanken, dass ich Informationen zu dem Stück und den Aufführungen einschließlich des Textes selbst erhalten konnte.46 Da dieses Stück nicht in gedruckter Fassung veröffentlicht wurde und somit auch nicht in Bibliotheken vorhanden ist, beginne ich mit einer längeren Beschreibung und Zusammenfassung. Das Stück besteht aus 17 kurzen Szenen und fünf Liedern. Die Handlung wechselt zwischen zwei Zeitebenen, der Vergangenheit zwischen 1943 und 1945, als die Risiera als Konzentrationslager diente und der Gegenwart der frühen 1970er Jahre. Der anonyme Protagonist des Stückes (im Programmheft heißt er „der Ermittler“) versucht, Informationen über seine Frau und seine Kinder zu sammeln, die während des Krieges in verschiedene Konzentrationslager deportiert wurden und nie zurückkehrten. Er selbst war Gefangener in einem deutschen Konzentrationslager, was er offenbart, indem er die eintätowierte Nummer an seinem Arm zeigt. Dieser namenlose Ermittler, von dem anzunehmen ist, dass es sich um Bubničs Alter Ego handelt, dokumentiert und enthüllt die Geschichte der Risiera, indem er Zeugenaussagen von Überlebenden sowie Briefe an Freunde und Familie, die aus der Risiera herausgeschmuggelt wurden, sammelt. Diese auf Italienisch, Slowenisch und Kroatisch verfassten Zeugenaussagen und Briefe werden von den Schauspielern zwischen Szenen rezitiert und markieren den Übergang von der Gegenwart zur Vergangenheit. Die Vergangenheit erwacht in 46 | Ich danke Marta Verginella, dass sie mich auf dieses Stück aufmerksam gemacht hat, und Rossana Paliaga vom Slowenischen Theater, dass sie mir die relevanten Materialien zugänglich gemacht hat. Ich danke zudem Melita Silič für die Hilfe bei der Übersetzung von Rižarna und den Zeitungsartikeln über dessen Uraufführung.

Kapitel 6

kurzen Szenen zum Leben, die in Momentaufnahmen anschaulich das alltägliche Leben in der Risiera und die brutalen und willkürlichen Gewalttaten zeigen, die die Opfer erleiden. Durch das Prisma einer kleinen Gruppe von Gefangenen, ihre Unterhaltungen und Geschichten, erhält das Publikum detaillierte Informationen zu den Vorgängen in der Risiera und in der Stadt: Beschreibungen von Verhaftungen, Foltermethoden, Plünderungen, nächtlichen Exekutionen und Deportationen. Eine Szene spielt in der Latrine der Risiera, wo ein SS-Offizier namens Schulz fünf Juden zwingt, in den Exkrementen nach Goldmünzen zu suchen, die sie dort versteckt haben. Das Bühnenbild für die Risiera ist „düster und unheilverkündend“, besteht aus nackten Mauern und einem großen Eisengitter, das manchmal beleuchtet ist und das Krematorium symbolisiert. Die Szenen in der Gegenwart spielen hingegen an verschiedenen Orten in der Stadt, in der Risiera, im Gerichtsgebäude und in einer Bar. Sie zeigen den Protagonisten bei seinem verzweifelten Versuch, von traumatisierten Überlebenden und widerwilligen Augenzeugen Informationen zu erhalten. Die Überlebenden sehen keinen Sinn darin, ihre Geschichte zu erzählen, und die Augenzeugen behaupten, nichts gesehen zu haben oder vergessen zu haben, was sie sahen. Etwa in der Mitte des Stückes stellt sich heraus, dass der Protagonist die Beweise nicht nur für sich selbst sammelt, sondern auch um Verantwortlichen für die Verbrechen in der Risiera vor Gericht zu bringen. Der Protagonist sucht wiederholt den zuständigen Richter auf, um ihm seine gesammelten Informationen vor allem über die Täter zu bringen, und der Richter schickt ihn immer wieder mit der Begründung fort, dass die vorliegenden Informationen als Beweise nicht stichhaltig genug seien. Die Diskussionen zwischen dem Richter und dem Protagonisten gehören zu den interessantesten Passagen des Stückes, weil sie als Kommentar zu den Gerichtsverfahren gegen einige der Täter der „Aktion Reinhard“ gelesen werden können, die 1975, dem Jahr der Aufführung des Stückes, in Deutschland stattfanden, und die zum Risiera-Prozess in Triest im folgenden Jahr führten. Auf der einen Seite thematisieren diese Szenen das Scheitern der Triestiner (und der italienischen) Legislative der Nachkriegszeit, sowohl deutsche Kriegsverbrecher als auch italienische Kollaborateure gerichtlich zu verfolgen. Auf der anderen Seite sprechen sie die Gründe für dieses Scheitern an, nämlich die Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart und die politischen Folgen des Kalten Krieges. Der folgende Dialog zwischen dem Richter und dem Protagonisten (Er) in Szene 8 soll dafür als Beispiel dienen.

E r: Euer Ehren, wissen Sie was mit Gaetano Collotti geschehen ist?

D er R ichter: Er wurde im April 1945 in Treviso von Partisanen ermordet.

E r: Genau. Aber in Erinnerung an dieses Biest und wegen einer seiner „Heldentaten“ gegen die Partisanen haben ihm die Behörden im Jahre 1954 posthum einen Orden für militärische Tapferkeit verliehen. Ja, al valor militare!

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Unheimliche Geschichte D er r icHter: Selbstverständlich gab es in seiner Akte von den von ihm begangenen Verbrechen keine Spur. So etwas ist immer äußerst heikel. Die Fäden werden immer von denjenigen gezogen, die in unerreichbaren Kreisen verkehren, also ...

E r : Genau! ... Was diese unerreichbaren Kreise angeht, glaube ich, dass sie der Grund sind, warum ein Lager wie die Risiera in Triest überhaupt errichtet werden konnte. Sicherlich waren es nicht die Deutschen, die urplötzlich auf die Idee kamen, ein Krematorium in Triest zu bauen!

D er R ichter: Langsam, langsam! Keine vorschnellen Schlüsse ziehen! Die Risiera war ein Produkt der Vernichtungsprogramme der Nazis. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Deutschen ihre eigene Autorität innerhalb des sogenannten Adriatischen Küstenlandes etablierten, sobald sie in Triest einmarschiert waren.

E r: Und sie haben sich auch sofort wie zu Hause gefühlt. Schwarzhemdenbanden unter Führung von Collotti, Einheimische bei der SS, die örtliche Schutzpolizei, der berüchtigte Corpo Guardie di Finanza, der Präfekt, die Questura, die Difesa Territoriale, der Bürgermeister ... Von den Kaffeekränzchen und Tanzabenden ganz zu schweigen, die in verschiedenen Triestiner Villen organisiert wurden, oder den verschiedenen Zeremonien mit Ansprachen von SS-Größen im vollbesetzten Rossetti-Theater ... Während in einem anderen Stadtteil das Krematorium bereits rauchte!

D er R ichter: Es ist bisher nicht einmal bewiesen worden, wer die Henker waren, die über Leben und Tod entschieden, und dann reden Sie schon von bereitwilliger Kollaboration prominenter Triestiner.

E r: Sie wissen doch, Euer Ehren, dass ich hier nichts erfinde!

D er R ichter: Das habe ich auch nicht behauptet. Ich möchte Sie bloß drauf aufmerksam machen, wie gefährlich und schädlich es sein könnte, allgemeine Anschuldigungen zu machen. 47

Der Ermittler nimmt die unheilvolle Warnung des Richters achselzuckend hin. Er hält es für seine Pflicht, weiter nach Beweisen zu suchen, von deren Existenz er überzeugt ist. Allerdings gelingt es nicht einmal durch die Vernehmung der nationalsozialistischen Täter, von denen manche in Deutschland vor Gericht stehen, die benötigten Beweise zu beschaffen: Sie haben praktischerweise vergessen, was sie sahen und taten. Es folgt eine farceartige Szene vor dem deutschen Gericht. Ein namenloser Angeklagter, vermutlich einer der Täter der Risiera, wird zu seiner Karriere während des Nationalsozialismus verhört. Der Richter ist übermäßig nachsichtig gegenüber dem Angeklagten, er erinnert diesen wiederholt daran, dass er das Recht habe zu schweigen (Szene 13). Der Angeklagte macht zwar von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, aber er liefert auch keine nützlichen Informationen. Ein Voice-Over kommentiert die verlogenen und ausweichenden Ant47 | Filibert Benedetič/Miroslav Košuta: Rižarna. Typoskript. Triest: Stalno Slovensko Gledališče 1975, S. 21–22.

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worten des Angeklagten und stellt diesen eine Liste der tatsächlich begangenen Verbrechen gegenüber. Die Vernehmung endet mit der zynischen Bemerkung: „Manche dieser Gefangenen wurden freigelassen und absolut niemand wurde in der Risiera exekutiert!“ Am Ende wird das Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Die Szene endet mit einem bitter-ironischen Chorlied mit dem Titel „Wir wissen nichts“, das die Befragung der Täter nachzeichnet, und die Antwort lautet jedes Mal: „Wir wissen nichts. Wir wissen nichts.“ Eine dritte Gruppe von Figuren symbolisiert in dem Stück eine weitere Facette der Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Drei dieser Figuren, ein Triestiner Rechtsanwalt, seine Frau sowie ein italienischer Adliger, repräsentieren die High Society von Triest, die mit den deutschen Besatzern, die hier von einem anonymen deutschen SS-Offizier vertreten werden, gemeinsame Sache machte. Auf der Zeitebene der Gegenwart sind diese vier Figuren auf einer Yacht in der Bucht versammelt, wo sie in Erinnerungen an die ‚gute alte Zeit‘ der Operationszone Adriatisches Küstenland schwelgen. Seit Kriegsende lebt der SS-Offizier unbehelligt als Zivilist, genauso wie seine drei Gefährten. Auf der Yacht erzählt der Offizier, dass er immer noch in Kontakt mit seinen Kameraden von der SS stehe, die alle bisher der Verhaftung entgangen seien. Er fragt den Anwalt, ob er jemals vorgeladen wurde, worauf der Anwalt schlagfertig antwortet: „Das hätte natürlich passieren können, aber […] Sie vergessen, dass das hier Italien ist.“ Dann fügt er hinzu, dass derzeit am Gericht in Triest ein Prozess vorbereitet wird (Szene 16). Darauf antwortet der SS-Offizier, dass es Pläne gebe, sich um den lästigen Ermittler „zu kümmern“. In der Schlussszene wird der Ermittler bei der Suche nach Beweisen in einer dunklen Gasse erschossen. Er ist das letzte Opfer der Täter der Risiera. Das Stück endet mit einem Lied gegen das Schweigen über die Verbrechen von Faschismus und Nationalsozialismus: Das Schweigen ist ein Bote der Niederlage Das Schweigen ist nur eine Maske der Angst Das Schweigen ist ein eindeutiges Geständnis Dass der Faschismus lebt, hier und jetzt. 48

Das Lied ist ein Appell, das Schweigen zu brechen, und richtet sich an die Zuschauer: „Steht auf und schreit: Genug!“ Es fleht sie an: „Verteidigt die Freiheit!“, wenn sie das Theater verlassen. Viele der Rezensionen der Uraufführung bemerken, dass das Publikum, darunter mehrere Überlebende der Risiera, von der Aufführung sichtlich bewegt war. Die Kritiker lobten generell, dass das Stück die Aufmerksamkeit auf Verbrechen lenkte, von denen besonders die jüngere Generation bis dahin wenig bis gar nichts wusste, und somit eine „bedeutsame Kultur- und

48 | Ebd., S. 46.

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Bildungsmission“49 erfüllt habe. Gleichzeitig kommentierten mehrere Kritiker das Fehlen einer stärker ausgearbeiteten Handlung oder eines kohärenten Spannungsbogens, der die Vielzahl an Fakten und Lebensgeschichten dramaturgisch in eine stringente Form gebracht hätte.50 Tatsächlich scheint das Stück in vielerlei Hinsicht von der schieren Masse des präsentierten dokumentarischen Materials und seinem strengen Festhalten daran geradezu erschlagen zu werden. Gleichzeitig erinnert diese Kritik an die Rezensionen von Günter Grass’ Blechtrommel, in denen dem Autor vorgeworfen wurde, die Ereignisse des Krieges und seiner Folgen nicht in einer zufriedenstellenden tragischen Form aufgelöst zu haben. Wie bereits angesprochen wirkt der Versuch eines solchen Abschließens oder der Verleihung einer transzendentalen Bedeutung oft einer kritischen Auseinandersetzung mit den dargestellten Ereignissen entgegen. Besonders im Fall von Rižarna, dessen Botschaft ja gerade ist, dass die Geschichte der Risiera nicht vorbei ist, wäre ein derartiges Abschließen allerdings auch fehl am Platz. Nichtsdestotrotz haben ein paar Elemente des Stücks das Potenzial, es über die bloßen Fakten hinauszuheben. Die Lieder beispielsweise bieten eine Art meta-­ dramatische Perspektive auf die historischen Ereignisse, indem sie die Handlung der vorangegangenen Szenen kommentieren. In Szene 10 erscheint zudem ein offen symbolisches Bild, wenn eine Frau und ihre Tochter in einer kleinen Spalte in der Mauer der Risiera einen grünen Sprössling entdecken. Die Mutter bemerkt: „[E]r wuchs zum Andenken an die Opfer.“51 Dann stimmt sie ein Lied über die Hoffnung an, dass der Opfer auch in Zukunft gedacht werden werde. Wie aus den Rezensionen geschlossen werden kann, war die Art der Inszenierung ebenfalls eine äußerst wichtige Ergänzung zur Erzählung: Musik und Soundeffekte wie das Knirschen von Stiefeln, das Murmeln von Gebeten, Hundegebell oder laute Musik evozierten das akustische Erleben der Gefangenen in der Risiera, wie es oft von Überlebenden beschrieben wurde.52 Da es keine Filmaufnahme der Aufführung gibt, basiert meine Beschreibung der Inszenierung ausschließlich auf den wenigen Regieanweisungen im Skript, den Kommentaren und Beschreibungen der Rezensenten sowie einer Handvoll Fotografien von einer der Aufführungen. Rižarna weist mehrere Merkmale des dokumentarischen Theaters auf. Die Einbindung von Soundeffekten und Liedern, die umfangreichen Zitate aus dokumentarischen Quellen und Zeugenaussagen 49 | „Bubnič – Benedetič – Košuta: Rižarna“ (Rezension von Rižarna) in: Primorski Dnevnik vom 30. Mai 1975.

50 | Vgl. „Rižarna v Stalnem Slovenskem Gledališču“ (Rezension von Rižarna), in: Mladika vom 29. Mai 1975; „Krstna uprizoritev Rižarne v Stalnem slovenskem gledališču“ (Rezension von Rižarna) in: Primorski Dnevnik vom 27. Mai 1975.

51 | Benedetič/Košuta: Rižarna, S. 25–26. 52 | Vgl. Bogdan Pogačnik: „Vstani in krikni: dovolj!“ (Rezension von Rižarna), in: Delo vom 28. Mai 1975; und Mara Ovsenik: „Svarilo tržaške Rižarne“ (Rezension von Rižarna), in: Večer vom 31. Mai 1975.

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sowie die direkte Ansprache des Publikums am Ende sind charakteristisch für viele dokumentarische Theaterstücke in Piscators Manier.53 Das Publikum wird eingeladen, mithilfe des namenlosen Protagonisten an der Erforschung einer bis dahin verborgenen Vergangenheit teilzunehmen und zu entdecken, in welcher Form diese Vergangenheit noch immer präsent ist. Darüber hinaus, schreibt der Regisseur Jože Babič im Programmheft, ist das Stück eine Gemeinschaftsarbeit: Die Grundstruktur, die Figuren und der zentrale Konflikt (der Kampf des Ermittlers) wurden bei einer Reihe von Gesprächen zwischen den Autoren, den Regisseuren und Bubnič festgelegt. Das Stück wurde dann während der Proben gemeinsam mit den Schauspielern fertiggestellt. Eine weitere Dimension sind die Lieder von Miroslav Košuta und Filibert Benedetič sowie die Musik von Aleksander Vodopivec.54 Dieses Gemeinschaftsparadigma, die Idee von einem unfertigen, dynamischen Stück im Gegensatz zum fertigen Produkt eines Einzelautors, ist ein hervorstechendes Merkmal vieler dokumentarischer Theaterstücke. In diesem Fall reflektiert es darüber hinaus aber auch das politische Klima, in dem das Stück entstand. Trotz dieser kritischen Ansprüche und der demokratischen Herangehensweise an die künstlerische Produktion weist das Stück signifikante blinde Flecken auf, vor allem was die Frage der Kollaboration der Slowenen und Kroaten mit den Nationalsozialisten angeht. Aus dem Programmheft geht hervor, dass das Stück als Mahnmal für jene Menschen, die in der Risiera ihr Leben verloren, konzipiert ist. Diese Betonung des Narrativs von Opferschaft und Trauer lässt keinen Platz für eine Untersuchung der komplexen und widersprüchlichen Rollen, die die verschiedenen Gruppen innerhalb der slowenischen Gemeinschaft spielten, die stattdessen als durchweg heldenhafte und viktimisierte Gruppe präsentiert wird. Andererseits bleibt, da der zeitliche Rahmen des Stückes ausschließlich Ereignisse nach 1944 umfasst, der größere historische Kontext einschließlich der Verfolgung der Slowenen und Kroaten durch die Faschisten sowie der Auswirkungen der Rassengesetze von 1938 vollkommen ausgespart. Diese Tatsache spricht gegen das Argument, dass das Stück nur daran interessiert sei, die Slowenen als unschuldige Märtyrer der faschistischen Unterdrückung darzustellen, denn wenn dies der Fall wäre, würde es erstklassige Möglichkeiten verschenken, diese 53 | Vgl. Derek Paget: True Stories? Documentary Drama on Radio, Screen and Stage. Manchester: Manchester University Press 1990, S. 61. Paget diskutiert die wichtigsten Elemente des dokumentarischen Theaters. Vgl. auch Attilio Favorini (Hrsg.): Voicings: Ten Plays from the Documentary Theater. Hopewell: Eco 1995; Carol Martin (Hrsg.): Documentary Theatre. Sonderausgabe von TDR: The Drama Review 50.3 (2006); Alison Forsyth/Christopher Megson (Hrsg.): Get Real: Documentary Theatre Past and Present. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009; Gary Fisher Dawson: Documentary Theatre in the United States: An Historical Survey and Analysis of Its Content, Form, and Stagecraft. Westport, CT: Greenwood Press 1999.

54 | Albin Bubnič/Jože Babič/Albina Škabar: Rižarna (Programmheft). Trieste: Stalno Slovensko Gledališče 1975, S. 22–23.

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Sichtweise mit den Verfolgungen vor dem Krieg zu untermauern. Da das Stück diesen historischen Kontext auslässt bzw. stillschweigend voraussetzt, besteht die Gefahr, dass den Zuschauern die dargestellten Ereignisse gewissermaßen ohne ihren Hintergrund präsentiert werden. Bei all der Fülle an historischem Material nimmt das Fehlen eines größeren Bezugsrahmens diesen Ereignissen doch ihre weitreichendere Bedeutung. Im Gegensatz zu der episodischen Struktur von Rižarna bettet das Stück I me ciamava per nome: 44.787 die Ereignisse in der Risiera in eine umfassende historische Erzählung ein, die fast das gesamte 20. Jahrhundert abdeckt und die Verfolgungen unter dem Nationalsozialismus und dem Faschismus als zwei Linien darstellt, die in Triest konvergieren. I me ciamava per nome: 44.787 (dt. Man nannte mich 44.787) wurde 1995 von dem Triestiner Schauspieler, Bühnenautor und Regisseur Renato Sarti geschrieben und basiert auf Zeugenaussagen, die die Historikerin Silva Bon und der Historiker Marco Coslovich für das IRSML gesammelt haben. Es greift auch auf Bildmaterial aus Claude Lanzmanns Film Shoah und Aussagen von Tätern in mehreren Kriegsverbrecherprozessen in Deutschland zurück. Das Stück erlebte seine Uraufführung im Juli 1995 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung Italiens. In seiner Einleitung zur aktuellsten Ausgabe des Stückes aus dem Jahr 2001 schreibt Sarti, dass mehr als 4.000 Menschen der szenischen Lesung seines Stückes in der Risiera beigewohnt hätten.55 Seither wurde eine überarbeitete und gekürzte Version des Stückes in allen größeren Städten Italiens aufgeführt, häufig anlässlich des Giorno della memoria, zum Beispiel 2011 in Rom und 2012 in Mailand. Laut Sarti wurde das Stück in den letzten Jahren hauptsächlich für Schüler aufgeführt, weil die jüngere Generation eine fragmentarische oder falsche Vorstellung von Italiens jüngster Geschichte habe. Er schreibt: Die Jugend von heute erlebt ihre eigene Geschichte, als säße sie auf einem abgesägten Ast. Sich dieser Art des Vergessens hinzugeben, heißt, die Tür für eine Zukunft, die bestenfalls beunruhigend ist, weit offen zu lassen. Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit liegen immer auf der Lauer. 56

Diese Beschreibung der italienischen Jugend, die von ihrer Geschichte abgeschnitten sei, ähnelt den Aussagen anderer Autoren und Kritiker, darunter Giovanni De Luna und Boris Pahor, die beklagen, dass es unmöglich sei, im gegenwärtigen soziopolitischen Klima der Geschichtsblindheit und der Verharmlosung des Faschismus in Italien eine persönliche Beziehung zur Vergangenheit aufzubauen. Aus Sartis Sicht wurde die Verbindung der italienischen Jugend mit der 55 | Dies ist eher zweifelhaft, da diese Menge an Zuschauern nur durch mehrere Aufführungen erreicht worden sein kann: in der Risiera finden nicht mehrere Tausend Zuschauer auf einmal Platz.

56 | Sarti: I me ciamava, S. 8.

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nationalen Vergangenheit rigoros gekappt, was das Aufkommen rassistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen erleichtert.57 Sarti sieht sein Stück als eine Form der Intervention gegen die vorherrschende Kultur der historischen Kurzsichtigkeit und Verdrängung. Das Stück ist in zehn unterschiedlich lange Abschnitte unterteilt, die jeweils einen anderen Aspekt der Geschichte des Faschismus und Nationalsozialismus in Italien und Deutschland sowie der Nachkriegsgeschichte zum Schwerpunkt haben. Beim Betreten des Theatersaals sehen die Zuschauer den Erzähler und vier Schauspieler auf der Bühne, hinter denen die Namen von Opfern auf eine Leinwand projiziert werden. Die Schauspieler lesen die Namen der Opfer vor, während die Zuschauer Platz nehmen. Wenn alle sitzen, wird es im Theater dunkel und der Erzähler beginnt mit einem Monolog, in dem er erklärt, dass Hitler und Goebbels schon lange einen Zugang zum Mittelmeer angestrebt hatten, weshalb sie 1943 die Operationszone Adriatisches Küstenland einrichteten. Auf der Leinwand ist ein Bild der Risiera zu sehen. Während der Erzähler die Namen der nationalsozialistischen Täter aufzählt, die dort arbeiteten, huschen Fotografien von ihnen über die Leinwand und die Schauspieler zitieren aus ihren vor Gericht abgegebenen Zeugenaussagen. Das Publikum erfährt von ihren Karrieren im nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm und später in Polen als Mitglieder der „Aktion Reinhard“. Zwei Filmausschnitte aus Lanzmanns Shoah vermitteln sehr prägnant einen Eindruck davon, was mit den Opfern in den polnischen Vernichtungslagern geschah. Zu jedem Lager nennt der Erzähler die ungefähre Zahl der Opfer. Dieser erste Abschnitt endet mit der Ankunft der Täter in Triest und der Rückkehr des gebürtigen Triestiners Odilo Globocnik. Dieser erste Teil ähnelt stark dem Narrativ, das in der Dokumentationsausstellung in der Risiera di San Sabba präsentiert wird, da es vor allem auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Geschichte des Holocaust im Allgemeineren fokussiert ist. Aber der nächste Abschnitt blickt historisch weiter zurück und untersucht die Ereignisse zwischen 1914, als Globocnik Triest verließ, und 1943, als er zurückkehrte: Die faschistische Verfolgung der Slowenen und Kroaten, die Rassengesetze von 1938 und die Besetzung von Jugoslawien 1941. Momente aus diesen drei Jahrzehnten werden wieder lebendig, wenn die Schauspieler Zeugenberichte auf Italienisch, Slowenisch und Kroatisch rezitieren, die die Verbrechen der italienischen Besatzer und die furchtbaren Zustände in den italienischen Konzentrationslagern genauer beschreiben. Und wieder hören die Zuschauer Angaben zur Zahl der Getöteten und Deportieren. Im nächsten Abschnitt laufen diese beiden Erzählstränge in Triest im Jahr 1943 mit der Bildung der Operationszone Adriatisches Küstenland zusammen. Dass die Nationalsozialisten 57 | Sarti erwähnt mehrere Beispiele, darunter den Aufmarsch mehrerer Bataillone der Decima Flottiglia MAS, der berüchtigten Kampfeinheit der faschistischen Marine, in Görz, die im Anschluss daran vom Bürgermeister empfangen wurden, sowie das anhaltende Problem rassistischer Kommentare und Gesänge gegenüber dunkelhäutigen Fußballspielern (ebd., S. 9).

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ihre Operationsbasis in Triest ohne Probleme einrichten konnten, wird mit der Bereitschaft der Lokalbevölkerung, mit den Besatzern zu kollaborieren, erklärt. Wir sehen Fotos verschiedener prominenter Kollaborateure wie Gaetano Collotti, Leiter des Ispettorato Speciale di Pubblica Sicurezza della Venezia Giulia, und Augusta Reiss, die als Dolmetscherin für die Nationalsozialisten arbeitete und dabei half, Juden in Triest zu verhaften. Wir hören auch detaillierte Beschreibungen der Foltermethoden, die Collotti und seine Mitarbeiter anwendeten. Ein Schauspieler liest aus einem Brief von Globocnik an Himmler vor, in dem er schreibt: „Nie zuvor, an keinem anderen Ort, bin ich auf so viel spontane Kollaboration durch die Zivilbevölkerung gestoßen, was das Anzeigen von Juden, Zigeunern, Slawen und subversiven Italienern angeht, wie in dieser Stadt.“58 Diese Meinung findet man auch beim SS-Offizier Gottlieb Hering, der zu Augusta Reiss sagte: „Nirgendwo, nicht in Polen, nicht in Belgien, nicht in Frankreich, gab es so viele schriftliche und mündliche Denunziationen an die Besatzer durch die Bewohner einer einzigen Stadt wie in Triest, nirgendwo so viele Privatfehden.“59 Offensichtlich spielte die tiefe Spaltung innerhalb der Triestiner Bevölkerung und die Ressentiments der verschiedenen ethnischen Gruppen untereinander den nationalsozialistischen Besatzern in die Hände. Globocnik und andere scheinen über die Bereitschaft der Triestiner, sich gegenseitig zu hintergehen, geradezu erstaunt gewesen zu sein. Darauf folgt die sehr bewegende Zeugenaussage einer Triestinerin, deren Familie durch jene Frau, die ihnen für 10.000 Lire pro Person Unterschlupf gewährt hatte, an die Nationalsozialisten verraten wurde. Als die Zeugin nach Kriegsende als einzige Überlebende ihrer Familie nach Triest zurückkehrt, sieht sie die Frau, die ihre Angehörigen verraten hatte, auf der Straße – in Kleidern, die ihrer Schwester gehört hatten. Die nächste Szene handelt von zwei Prozessen gegen Täter, die 1965 in Frankfurt und 1967 in Münster stattfanden. Durch die Aussagen der Zeugen und der Verteidiger während des Prozesses erfahren wir vom Schicksal derer, die von der Risiera in die Konzentrationslager in Polen und Deutschland deportiert wurden. Aus dieser Szene stammt auch der Titel des Stückes, als sich mehrere Überlebende über die Nummern unterhalten, die ihnen bei der Ankunft im Lager zugeteilt wurden: „I me ciamava per nome vierundvierzigtausendsiebenhundertsiebenundachtzig“ und ein anderer Überlebender ergänzt: „Mi gavevo 74.521. E chi se lo ricorda ’sto nome in tedesco!“ [Ich war 74.521. Und wer kann sich schon erinnern, wie man das auf Deutsch sagt!] 60 – ein bitter-ironischer Kommentar in diesem erschütternden Bericht der Entmenschlichung und des Massenmordes. Wie bei Heisel Rein (der in Kapitel 3 diskutiert wurde) dient die Nutzung des regionalen Dialekts als bewusst eingesetztes Mittel angesichts der nivellierenden Kraft der Verfolgung von Minderheiten durch die Faschisten. Darüber hinaus bildet der Di58 | Ebd., S. 44. 59 | Ebd. 60 | Ebd., S. 55.

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alekt einen scharfen Kontrast gegenüber dem einheitlichen offiziellen Italienisch, das Fernsehfilme wie Perlasca und Il cuore nel pozzo prägt. Die Verwendung von Dialekt ist ein Authentizitätsmarker, der die offenkundige Inauthentizität von Negrins Filmen, in denen die Synchronisierung die Sprache der anderen jeweils wirksam „kolonisiert“, zusätzlich unterstreicht. Einem kurzen Abschnitt über die Befreiung und die jeweiligen Schicksale der Opfer und Täter nach dem Krieg folgt ein Bericht vom Risiera-Prozess 1976. Den Bericht des Erzählers von Oberhausers Weigerung, vor Gericht zu erscheinen oder eine Aussage zu machen, unterlegt ein kurzer Filmausschnitt aus Shoah, in dem Lanzmann Oberhauser im Münchner Hof bräuhaus aufsucht, wo dieser als Schankkellner arbeitete. Gerichtsverfahren und Kreuzverhöre spielen im dokumentarischen Theater allgemein eine wichtige Rolle, vor allem in Stücken wie Rolf Hochhuths Der Stellvertreter (1963), Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965) und Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964). Die Bühne wird hier zu „einem Ort für die Verhandlung der Geschichte, indem sie die politischen Kräfte hinter den historischen Ereignissen herausstellt.“61 Die Zuschauer werden Zeugen der Ermittlung und nehmen an der Suche nach der Wahrheit teil. Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen wie etwa die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt (1963–65) werden in diesen Stücken einer genauen Prüfung unterzogen, wenn die Schauspieler auf der Bühne die historischen und gerichtlichen Prozesse der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit untersuchen. Sowohl Rižarna als auch I me ciamava sind von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Justiz in Deutschland und Italien durchdrungen und versuchen deren Bedeutung für die Politik des Vergessens zu enthüllen. In Rižarna bleiben die Täter anonym, vertreten von einem einzelnen, namenlosen SS-Offizier, und der anonyme Ermittler-Protagonist wird in einer Intrige ehemaliger Nationalsozialisten – die im Programmheft als „graue Eminenzen“ beschrieben werden – erschossen. In I me ciamava werden die Täter und Kollaborateure hingegen als Individuen mit Namen präsentiert, deren Gesichter auf den Fotografien gezeigt werden und deren persönliche Verantwortung die Zuschauer analysieren sollen. Beide Stücke versuchen, ihr Publikum zu politischem und bürgerlichem Engagement anzuregen, aber während in Rižarna der Feind als monumentale und undurchdringliche Verschwörung des Schweigens dargestellt wird, liegt die Betonung in Sartis Stück auf der persönlichen Verantwortung und dem Beitrag des Einzelnen. Die Dolmetscherin Augusta Reiss ist ein typisches Beispiel: Sie ist weit davon entfernt, Mitglied einer sinistren Elite zu sein, die heimlich hinter den Kulissen agiert. Sie bot den Besatzern lediglich ihre Sprachkenntnisse an, aber so half sie dabei, die Deportations- und Todesmaschinerie am Laufen zu halten.

61 | Thomas Irmer: „A Search for New Realities: Documentary Theatre in Germany“, in: Documentary Theatre. Sonderausgabe von TDR: The Drama Review 50.3 (2006), S. 16–28, hier S. 16.

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Der letzte Abschnitt von I me ciamava beginnt mit der Projektion eines Bildes mit dem Titel „Träume, Alpträume und ein paar Gedanken der Überlebenden.“62 Dieser Abschnitt zeichnet ein im Großen und Ganzen pessimistisches Bild des Triests in der Nachkriegszeit. Die Schauspieler schildern die Unzufriedenheit und Resignation der Überlebenden angesichts der Apathie und Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit. Es hat sich nicht viel geändert, viele der alten Institutionen sind noch vorhanden, und, wie ein ehemaliger Partisan es ausdrückt, „unser Kampf war vergebens.“63 Ähnlich wie Rižarna endet das Stück mit einer Mahnung an die Zuschauer auf Italienisch, Slowenisch und Kroatisch: „Ich glaube, dass jeder es wissen sollte und es nicht vergessen, niemals vergessen darf!“ Ein anderer Schauspieler sagt: „Es sind nicht viele von uns übrig, die Generation stirbt aus. Aber unsere Risiera könnte auch ein Referenzpunkt, ein Ort der Begegnung und der Solidarität sein.“64 Diese Idee von der Risiera als einem Ort, an dem Menschen mit verschiedenen Erfahrungen und Schicksalen einander begegnen können ist eine beeindruckende Vision dessen, was ein Erinnerungsort sein kann. Und diese Vision wird von Marco Coslovich in seinem Nachwort zur aktuellen Auflage von I me ciamava fast augenblicklich ins Gegenteil verkehrt, wenn er die Idee der Risiera als einem „säkularen Tempel“65 wieder aufgreift, die eine viel statischere und unproduktivere Auffassung von Erinnerung und Gedenken verkörpert. Anstatt ein Objekt der stillen Betrachtung zu sein, ist die Risiera, wie sie in der Schlussszene dargestellt wird, ein Ort der Begegnung, der zu aktiver Teilnahme an und Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Vergangenheit einlädt. Coslovich erkennt das moralische und pädagogische Potenzial eines Stückes wie I me ciamava, wenn er schreibt: „Es ist das Theater, das die zivilgesellschaftlichen Werte einer Gesellschaft vor ihren Augen zum Leben erweckt.“66 Das Stück wird zu einem kunstvollen Akt der Prosopopöie, wobei die Opfer der Risiera durch die Schauspieler auf der Bühne direkt zu uns sprechen. Coslovich schließt sein Nachwort mit der Feststellung, dass durch dieses Stück und sein Gespräch mit Sarti „der Traum von der Buchseite, die zum Leben erwacht und zu sprechen beginnt, durch die szenische Darstellung wahr wurde.“67 In Bezug auf die schauspielerische Darstellung ist allerdings zu bemerken, dass die Schauspieler im dokumentarischen Theater, im Gegensatz zu anderen Theaterformen wie dem Geschichtsdrama, zwei Rollen zugleich einnehmen, denn sie stellen sowohl sich selbst als Schauspieler auf der Bühne dar als auch die Figur, die sie verkörpern. Carol Martin stellt dazu fest: „Die Abwesenden, Unerreichbaren, Toten und Ver62 | Sarti: I me ciamava, S. 80. 63 | Ebd., S. 83. 64 | Ebd., S. 84. 65 | Ebd., S. 85. 66 | Ebd., S. 88. 67 | Ebd., S. 90.

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schwundenen erscheinen mithilfe von Stellvertretern.“68 Dies lässt sich als eine Form von stellvertretender Zeugenschaft verstehen. Stellvertretende Zeugenschaft, wie ich sie bisher diskutiert habe, war allerdings immer an einen geschriebenen Text gebunden. Das Wechselspiel von Präsenz und Abwesenheit erhält auf der Bühne eine andere, unmittelbarere Dimension. Letzten Endes ist das Grundmotiv allerdings dasselbe, nämlich dass der Autor den schweigenden oder zum Schweigen gebrachten Zeugen der Geschichte seine bzw. ihre Stimme verleihen will. Ähnlich wie das dokumentarische Theater sich – neben der weit verbreiteten Nutzung von Montage und Remediation – durch die bewusste Trennung von Darsteller und Figur vom Historiendrama unterscheiden lässt, betten die Autoren, die das Motiv der stellvertretenden Zeugenschaft verwenden, die Stimmen der Verstorbenen auf ähnliche Weise in einen elaborierten meta-literarischen Rahmen ein, der den Akt der Inszenierung und Vermittlung hervorhebt. Insofern geht es, wie Martin beobachtet, beim dokumentarischen Theater (und, wie ich behaupten würde, der stellvertretenden Zeugenschaft grundsätzlich), ebenso sehr um die dramatische Inszenierung von Geschichtsschreibung wie von Geschichte.69 Indem sie die Prozesse und Mechanismen offenlegen, wie Geschichte geschrieben und vermittelt wird, zielen diese Texte letzten Endes darauf ab, den Lesern und Theaterbesuchern eine kritischere Haltung gegenüber der Geschichte nahezulegen. Derek Paget schreibt: Dokumentarische Modi haben Teil an, oder sind besser gesagt Symptome von zwei unterschiedlichen, aber miteinander verf lochtenen Gefühlstrukturen: die eine drückt sich in einem Glauben an Fakten aus und stützt sich auf positivistische wissenschaftliche Rationalität; die andere drückt sich in einer tiefen politischen Skepsis aus, die die Idee „Fakt = Wahrheit“ bestreitet. 70

Diese Formen literarischer und dramatischer Darstellung nutzen sozusagen Fakten, um bei Lesern bzw. Zuschauern eine gewisse Skepsis gegenüber Fakten zu wecken. Das ist genau das Gegenteil dessen, worauf Produktionen wie Il cuore nel pozzo abzielen, wenn sie behaupten, auf wahren Begebenheiten zu basieren, und (in diesem Fall zweifelhaftes) dokumentarisches Material verwenden. Paget erläutert prägnant, dass die Macher solcher Filme und Stücke, indem sie ihrem Publikum versichern, dass das, was sie sehen werden, „vollkommen faktisch“ sei oder „auf Fakten basiere“, unsere Aufmerksamkeit „‚kaufen‘ in dem Glauben, dass das Publikum sich dann in der folgenden gespielten Aufführung leichter auf die Fiktion einlässt.“71 Dieses Paradox ist auch der Kern von Gasparris Behaup68 | Carol Martin: „Bodies of Evidence“, in: Carol Martin (Hrsg.): Dramaturgy of the Real on the World Stage. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 17–26, hier S. 19.

69 | Vgl. ebd., S. 17. 70 | Paget: True Stories?, S. 17. 71 | Ebd.. S. 3; Hervorhebungen im Original.

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tung, dass ein TV-Drama „wirksamer“ sei als ein reiner Dokumentarfilm. Denn die Zuschauer werden sich das Drama zur Unterhaltung ansehen, aber weil es angeblich auf historischen Tatsachen basiert, werden sie die dargestellten Ereignisse eher unkritisch als authentisch wahrnehmen. Die besondere Situation in Italien, wo Fernsehdramen dieser Art von der Regierung nicht nur unterstützt, sondern sogar komplett finanziert werden, verschärft jenen Verlust der Verbindung mit der Vergangenheit, den Sarti so treffend beschreibt. Gerade deshalb ist es umso notwendiger, dass Schriftsteller, Theaterautoren und Filmemacher ein Gegen-narrativ zur „offiziellen“ Version der Geschichte anbieten, dass sie einen Raum öffnen, in dem solche normativen oder scheinbar unumstößlichen Versionen der Vergangenheit infrage gestellt werden.

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Die Überwindung des Schweigens IV: Sprache als Heimat Triest wird zu einer Stadt der Schriftsteller, der großen, mittelmäßigen oder gescheiterten Schriftsteller, weil die Kontraste, die seine Geschichte aufheben und paralysieren einen dazu verleiten zu glauben, dass man nur durch das Schreiben, indem man diese Ausweglosigkeit zum Ausdruck bringt, seiner eigenen Person Substanz verleihen kann. […] [Triest] ist […] nicht so sehr ein Schmelztiegel als vielmehr eine Gruppe von Inseln, die sich gegenseitig immer mit Argwohn und Hass betrachtet haben und die Kultur der jeweils anderen ignoriert haben, und wo die Grenze immer eher eine Barriere gewesen ist als eine Brücke.1

Die Stadt Triest ist stark durch ihre Grenznähe geprägt. Wie wir gesehen haben, liegen die Stadt und ihre Region nicht nur geographisch, sondern auch sprachlich, kulturell, ethnisch, politisch und nicht zuletzt historisch in einem Grenzund Zwischenraum. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag Triest im Herzen des Habsburgerreiches, dann wurde die Stadt zu einer der Bastionen des faschistischen Italien, bevor sie von den Nationalsozialisten annektiert wurde, bis sie von der jugoslawischen Armee, dann von den Alliierten befreit und schließlich ein Brennpunkt des beginnenden Kalten Krieges wurde. Dadurch waren selbst die Bewohner der Stadt und der Region, die nie wegzogen, im Laufe ihres Lebens Bürger von drei oder sogar vier verschiedenen Staaten. Diese politischen Verschiebungen unterliegen dann der Diffraktion durch die zahlreichen heterogenen sprachlichen und sozialen Identitäten in der Bevölkerung, die selbst durch eine Vielzahl von internen Unterschieden geprägt sind. Jeder Versuch, die Be1 | Claudio Magris: „Un mito al quadrato“, in: Roberto Finzi/Claudio Magris/Giovanni Miccoli (Hrsg.): Storia d’Italia. Le regioni dall’unità a oggi. Il Friuli-Venezia Giulia. 2 Bde. Torino: Einaudi 2002. Bd. 2, S. 1393–1397, hier: S. 1395–1396.

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völkerung dieser Grenzregion in homogene Gruppen einzuteilen – zum Beispiel „Italiener“ und „Slawen“ – würde also ihre Komplexität und Diversität verleugnen. Dies gilt in gleicher Weise für nostalgische Darstellungen von Istrien vor den Massenauswanderungen oder sogar des habsburgischen Triests vor dem Ersten Weltkrieg, die ein Gefühl von Kohärenz, Kontinuität und Zugehörigkeit auf die Vergangenheit projizieren, das in der Gegenwart vermisst wird. Selbst in der Literatur von Autoren, die ihr ganzes Leben in Triest verbracht haben, klingt ein Eindruck an, vertrieben, entwurzelt und „nicht zu Hause“ zu sein. Und dieser letzte Aspekt macht Triest auch zu einem fundamental unheimlichen Ort. Im Grunde ist es diese Unheimlichkeit, die die Sehnsucht nach einer Heimat weckt, was das italienische „nostalgia“ eigentlich bedeutet (eine Rückübersetzung des deutschen Wortes Heimweh). Das semantische Feld des Wortes „heim“ umfasst nicht nur die Begriffe „unheimlich“ und „Heimweh“, sondern auch das Wort „Heimat“. Wie in Kapitel 1 erläutert, ist die Heimat einer Person ein Orientierungspunkt für die individuelle und die Gruppenidentität. Als von Natur aus utopischer Raum fungiert der Begriff Heimat als Leinwand, auf die Bedürfnisse und Sehnsüchte etwa nach Ganzheit, Einheit, Sicherheit und Zugehörigkeit projiziert werden, und die gleichzeitig alles verdeckt, was dieses idealisierte Bild bedrohen könnte. Die Idee von Heimat ist also im Grunde ein Abwehrmechanismus gegen Andersheit, Fragmentierung, Heterogenität und Kontingenz. Daher werden Ideen von Heimat immer dann besonders wichtig, wenn diese Definitionen nicht mehr selbstverständlich sind. Der Germanist Peter Blickle beobachtet: „Heimat […] wird immer dann heraufbeschworen, wenn tiefgreifende sozioökonomische, ontologische, psychologische und politische Verschiebungen, Brüche und Verunsicherungen entstehen. Heimat begräbt Bereiche von unterdrückten Ängsten.“2 Weil sie auf einem Akt der Verdrängung gründet, ist die Idee der Heimat ihrem Wesen nach anfällig dafür, unheimlich zu werden, sobald das Verdrängte wieder an der Oberfläche erscheint. Genauso wie das Wort heimlich, wie Freud feststellte, immer bereits unheimlich ist, weil es seine eigene Negation enthält, trägt auch Heimat ihr eigenes Gegenteil in Form von Diskontinuität und Differenz in sich. Darüber hinaus ist die Position von Heimat paradoxerweise – obwohl sie für einen Raum vollständiger Präsenz und Kontinuität steht – immer in Zeit und Raum verschoben: Heimat liegt für immer an einem anderen Ort oder wird in die Vergangenheit projiziert. Wie bei jedem Symbol wird ihre Bedeutung fortwährend durch Differenz verschoben und konstruiert, und zwar durch genau jene Differenz, die sie explizit zu leugnen versucht. Angesichts der turbulenten Geschichte Triests im 20. Jahrhundert erscheint eine Idee von Stadt und Region als homöostatische und inhärent kohärente Heimat prinzipiell unhaltbar. Triest und seine Region sind von unüberbrückbaren 2 | Peter Blickle: Heimat: A Critical Theory of the German Idea of Homeland. Rochester, NY: Camden House 2002, S.14.

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Brüchen und Diskontinuitäten gekennzeichnet. Genau das macht Triest, wie Claudio Magris bemerkt, zu einem fruchtbaren Boden für Literatur und Poesie, denn „nur die Poesie kann aussprechen, was man nicht explizit bestimmen kann.“3 Literatur eröffnet eine einzigartige Perspektive auf die Beziehungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart in Triest, weil, wie Magris schreibt, nur Literatur „die unüberwindlichen Widersprüche“ der Stadtgeschichte ausdrücken kann, „ohne zu versuchen, sie aufzulösen.“4 Die Stadt selbst formt ihre Schriftsteller und zwingt sie, ihre Geschichte zu erzählen. Weil die Literatur diesen Raum der Mehrdeutigkeit bewohnt, verfügt sie über eine privilegierte Verbindung zum Unheimlichen und weckt umgekehrt ein Gefühl des Unheimlichen, weil sie verhindert, die Spannungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Künstlichkeit, dem Selbst und dem Anderen aufzulösen. Aus genau diesem Grund spielt die Literatur in meiner Auffassung von Erinnerungsorten eine so wichtige Rolle. Die Erinnerungskomplexe, die ich untersuche, sind jeder auf seine Weise irreduzibel liminal und nicht verortbar, sie sind nicht in einem einzelnen Diskurs oder Fachgebiet ‚zu Hause‘. Während die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ von der akademischen Forschung zum großen Teil ausgeblendet wurde, weil sie durchgehend als etwas erachtet wurde, das außerhalb des eng begrenzten Bereiches der Holocaust- und Erinnerungsstudien oder der Disability Studies liegt, haben zahlreiche Autoren in Deutschland dieses Thema seit Kriegsende auf die eine oder andere Weise in Romanen und Erzählungen verarbeitet. In ähnlicher Weise wurden die komplizierten Verstrickungen von Kultur, Geschichte und Politik, die Triest mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust sowie der Erinnerung daran verbinden, meist nur teilweise oder am Rande von der Wissenschaft untersucht, während Triestiner Schriftsteller sich seit Langem bemühen, den inneren Widersprüchen ihrer Heimatstadt sowie deren Verflechtungen in welthistorische Ereignisse eine Stimme zu geben. Dabei ist eines besonders wichtig: Während in beiden Fällen ein tieferes Verständnis makrohistorischer Prozesse – wie der Einflüsse der Eugenikbewegung, des Nationalismus und des Kolonialismus – notwendig ist, um Grafeneck und Triest an den beiden Enden eines Kontinuums der Verfolgung und Vernichtung zu verorten, können diese Prozesse die komplexen Verwicklungen auf mikrohistorischer Ebene der beiden „Orte“ nicht hinreichend erklären – mit anderen Worten, die besondere „Textur“ dieser Erinnerungen. Dabei ist es genau diese Textur, die die Unheimlichkeit dieser „Orte“ bedingt, da sie sich einer vollständigen Assimilation oder Integration in das makrohistorische Narrativ widersetzt. In diesem Kapitel setze ich meine Untersuchung der literarischen Darstellung von Triests Geschichte und Erinnerung fort mit der Analyse von Texten, die die Disparität zwischen beiden mithilfe eines meta-literarischen Rahmens herausstellen, der dokumentarische und historiographische Elemente aufgreift, 3 | Magris: „Un mito al quadrato“, S. 1395. 4 | Ebd.

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um jene Prozesse und Spannungen offenzulegen, die dem Schreiben über die Vergangenheit inhärent sind. Werke von istrischen, slowenischen und italienischen Autoren aus Triest wie Fulvio Tomizza, Boris Pahor und Carolus L. Cergoly stellen die gängigen Stereotypen des „guten“ Italieners versus des „bösen“ Nationalsozialisten bzw. Jugoslawen infrage und bieten stattdessen ein komplexeres und vielschichtigeres Narrativ, das nicht nur den größeren historischen Kontext zeigt, sondern den Lesern auch einen Zugang zu vergessenen und verdrängten Geschichten ermöglicht. Wie wir sehen werden, erkunden diese Schriftsteller trans- oder multinationale Narrative für die Stadt und die Region als Alternativen oder Gegenbilder zu einer rein italienischen Erinnerung und Identität. Für alle drei Autoren ist Sprache mehr als nur ein Ausdrucksmittel: Sie ist ein politisches Statement und ein Vehikel für Gegenerinnerungen. Darüber hinaus positionieren alle drei Autoren sich und ihre Werke explizit an der Schnittstelle von verschiedenen Gemeinschaften, Sprachen und Kulturen. Auf diese Weise arbeiten alle daran, die Kluft, die sie trennt, zu überbrücken und gleichzeitig das Schweigen zu überwinden, das verhindert, dass ihre Geschichten gehört werden. Boris Pahors Entscheidung, auf Slowenisch zu schreiben und nicht auf Italienisch, ist ein Akt des Widerstands gegen die Dominanz des italienischen Narrativs in Bezug auf die Geschichte und Kultur der Region und somit zugleich ein Akt des Bewahrens einer „anderen“ Geschichte der Region. Fulvio Tomizza hingegen schreibt auf Italienisch, aber er streut Worte und Ausdrücke aus seinem istrischen Heimatdialekt ein und schafft so eine hybride Sprache, die genau dafür konstruiert ist, die Kluft zwischen den verschiedenen ethnischen und linguistischen Gruppen zu überbrücken. In seinem Roman Gli sposi di via Rossetti (dt. Das Liebespaar aus der Via Rossetti) erzählt er die vergessene Geschichte von Dani Tomažič und Stanko Vuk, einem jungen slowenischen Paar, das in die antifaschistische Widerstandsbewegung gerät. Ihre Geschichte wird bis heute in der slowenischen Gemeinde in Triest erzählt, aber in italienischen Kreisen geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Indem er diese Geschichte einem italienischen Publikum zugänglich macht, übernimmt Tomizza die Rolle eines stellvertretenden Zeugen für diesen Aspekt der Stadtgeschichte. Der Triestiner Dialekt von Carolus Cergolys Gedichten kann ebenfalls als politisches Statement verstanden werden, da er der Standardisierung des Italienischen entgegenwirkt und stattdessen die kulturelle und ethnische Vielfalt der Region widerspiegelt. Dieser Dialekt, der Elemente aus dem Deutschen, Slowenischen, Kroatischen, Jiddischen sowie Italienischen enthält, dient als Archiv für die turbulente Geschichte der Region und ist als solches das ideale Medium, um vergessene Geschichten und verdrängte Erinnerungen wieder hervorzuholen. In den Werken dieser drei Autoren sowie Magris’ Charakterisierung der Stadt entsteht ein Bild von Triest und der Region als einer „unheimlichen Heimat“ voller unauflöslicher Widersprüche. Aber wie Magris ebenfalls betont, ist das keineswegs negativ, sondern kann vielmehr als äußerst produktiv gesehen werde,

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vor allem in Bezug auf die literarische und künstlerische Produktion.5 Triest beheimatet eine Reihe von sprachlichen, kulturellen und ethnischen Gruppen, die sich alle vermischen und nichtsdestotrotz unterscheidbar bleiben. Für Magris ist Triest eher eine Gruppe von Inseln als ein Schmelztiegel. Die Randposition der Stadt an Italiens Nordostgrenze spiegelt sich in einer Vielzahl sich kreuzender linguistischer und kultureller Grenzen innerhalb der Stadt und der Region selbst. All das trägt zu einer Unsicherheit bei, was Vorstellungen von Heimat, Sprache und Zugehörigkeit angeht. In diesem Kapitel untersuche ich, wie die Idee der unheimlichen Heimat uns helfen kann, den Problemkomplex der linguistischen und kulturellen Zugehörigkeit zu erhellen, wie er in den Werken dieser drei Autoren angelegt ist. Die Stadt selbst kann als unheimlich betrachtet werden, aber es ist ebenfalls wichtig zu untersuchen wie die Autoren Triest unheimlich machen, oder eher wie sie die widersprüchlichen und beunruhigenden Aspekte der Stadt betonen, die das homogenisierte Bild und ihre Geschichte in populäreren Darstellungen infrage stellen. Die Werke von Pahor, Tomizza und Cergoly sind alle mehr oder weniger autobiographisch, die Lebensgeschichten ihrer Autoren sind darin mit der kulturellen und ethnischen Geschichte der Stadt verwoben. Aber ihre persönlichen Geschichten und die Geschichte der Stadt sind so eng miteinander verwoben, dass ihre Werke auch zu einer Autobiographie der Stadt selbst werden. In diesem Licht müssen wir auch Magris’ Behauptung verstehen, dass die Stadt ihre eigenen Schriftsteller formt: In gewissem Sinne schreibt die Stadt ihre eigene Geschichte durch sie. Alle drei Autoren legen großen Wert auf die Hybridität ihrer kulturellen Identität, die sich in der gattungsmäßigen, formalen und sprachlichen Hybridität ihrer Werke spiegelt.

U nheimliche H eimat : B oris Pahors Triest Boris Pahor wurde 1913 in Triest geboren, in dem Jahr, in jenem die Risiera di San Sabba als Reismühle in Betrieb genommen wurde, seine Biographie umfasst somit ein ganzes Jahrhundert Triestiner Geschichte. Piazza Oberdan (orig. Trg Oberdan), eines von Boris Pahors jüngeren Werken, entstand 2005, im Jahr der Einführung des Giorno del ricordo und der Ausstrahlung von Il cuore nel pozzo. Das Buch lässt sich als bewusster Versuch verstehen, der vorherrschenden Kultur 5 | Vgl. hierzu auch Untersuchungen zur Literaturgeschichte Triests, die sich mit früheren Phasen als den hier untersuchten befassen, z.B. Angelo Ara/Claudio Magris: Trieste: un’identita di frontiera. Torino: Einaudi 1982; Ernestina Pellegrini: Le città interiori in scrittori triestini di ieri e di oggi. Bergamo: Moretti & Vitali 1995; dies.: La Trieste di carta: Aspetti della letteratura Triestina del Novecento. Bergamo: Lubrino 1987; Katia Pizzi: A City in Search of an Author: The Literary Identity of Trieste. London: Sheffield Academic Press 2001; sowie Renate Lunzer: Triest: Eine italienisch-österreichische Dialektik. Klagenfurt: Wieser 2002.

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des Schweigens und Vergessens über die Verbrechen des Faschismus entgegenzutreten.6 Piazza Oberdan umfasst eine Reihe von Kurzgeschichten, von denen manche bereits in früheren Sammlungen veröffentlicht wurden, und bettet sie in einen komplexen und vielschichtigen meta-narrativen Rahmen ein, der um die Geschichte eines der berühmt-berüchtigtsten Plätze von Triest kreist. Pahor nimmt seine Leser mit auf einen Spaziergang durch das „andere“ Triest, das man nicht in Reiseführern findet und über das in der italienischen Literatur über Triest bisher praktisch kaum geschrieben wurde. Die Erzählung beginnt 2005 mit dem 92-jährigen Pahor, der durch seine Stadt und über die Piazza Oberdan spaziert und dabei über die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart sinniert. Die meisten Gebäude rund um diesem Platz sind noch dieselben wie in den 1930er Jahren, und die Architektur des Platzes und der Stadt sind der Ausgangspunkt für die Geschichten, Erinnerungen und Beobachtungen, die das Zentrum des Romans bilden. Ausgehend von der Gegenwart bewegt sich der Erzähler in die Vergangenheit zurück und enthüllt nach und nach die vergessene Geschichte der Piazza Oberdan, die zu einem Prisma wird, durch das Pahor die Geschichte der slowenischen Gemeinde der Stadt betrachtet. Die Piazza Oberdan ist nach dem Triestiner Irredentisten Guglielmo Oberdan benannt, der zum nationalen Märtyrer wurde, nachdem er für sein Attentat auf den österreich-ungarischen Kaiser Franz Joseph im Jahr 1882 gehängt worden war. In den 1920er Jahren vereinnahmten die Faschisten das Gedenken an Oberdan und inszenierten ihn als Helden, der versucht hatte, die italienischen Lande von der Fremdherrschaft zu „erlösen“. In Triest errichteten sie auf dem nach Oberdan benannten Platz ihm zu Ehren ein großes Mausoleum. Pahor weist allerdings darauf hin, dass jenes Narrativ, das Oberdan als italienischen Helden darstellt, ein entscheidendes Detail verschweigt: Oberdan hieß ursprünglich Viljem Oberdank und war der uneheliche Sohn einer Slowenin aus Görz (it. Gorizia). Wie so viele junge Slowenen jener Zeit schämte sich Oberdan seiner slowenischen Herkunft und italienisierte daher seinen Namen. Nichtsdestotrotz sieht Pahor Oberdan als Vertreter einer langen Tradition des slowenischen Widerstands gegen die Herrschenden. Pahors eigene Biographie ist durch eine Reihe traumatischer Ereignisse mit der Piazza Oberdan verbunden. So wird er 1920 als Siebenjähriger Zeuge des Brandanschlags faschistischer Aktionskommandos auf das slowenische Volkshaus, den Narodni Dom, ein Ereignis, das Pahor wiederholt als eine Art Ur-Trau6 | Die Verfolgung der slowenischen Minderheit und die Verbrechen, die im Namen des faschistischen Rassismus im besetzten Jugoslawien verübt wurden, wurden außerdem von einer Reihe anderer Autoren in ihren Werken verarbeitet, die hier allerdings nicht untersucht werden. Vgl. z.B. Drago Jančar: Die Erscheinung von Rovenska. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Wien: Folio 2001, hier besonders die Geschichte des Joyce-Schülers; Bruno Steffè: I cavalli di guerra non amano la pace. Trieste: Steffè 1964; und Ismail Kadare: Il generale dell’armata morta. Milano: Longanesi 2009.

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ma beschrieben hat. Das Verbot der slowenischen Sprache und Kultur und die schweren Strafen, wenn man in der Öffentlichkeit Slowenisch sprach, sind Themen, die sich durch viele von Pahors Texten ziehen. In den Jahrzehnten nach 1920 wurde die Piazza Oberdan zu einem Ort faschistischer und später nationalsozialistischer Unterdrückung. In den 1930er und frühen 1940er Jahren verhängte das Tribunale speciale per la difesa dello Stato (Sondergericht zum Schutz des Staates), das im Gerichtsgebäude an der Piazza Oberdan seinen Sitz hatte, lange Haft- und Todesstrafen für viele von Pahors slowenischen Kameraden. Er beschreibt eindringlich die Jahre der faschistischen Verfolgung, in denen ihm seine Heimatstadt, „gefangen zwischen Hügeln und Kriegsschiffen“,7 regelrecht zur Falle wurde. 1940 wurde Pahor in die italienische Armee eingezogen und zuerst nach Libyen geschickt, dann in die Lombardei, wo er als Militärdolmetscher arbeitete. Nach dem Waffenstillstand 1943 kehrte Pahor nach Triest zurück und schloss sich der jugoslawischen Befreiungsfront an. Die pro-nationalsozialistische Slowenische Landwehr verhaftete ihn im Januar 1944 und übergab ihn den Nationalsozialisten, die die faschistische Hauptzentrale und das Gefängnis an der Piazza Oberdan übernommen hatten. Von dort wurde Pahor in mehrere Konzentrationslager geschickt, darunter Dachau, Dora-Mittelbau, Struthof und schließlich Bergen-Belsen, wo er 1945 befreit wurde. Er kehrte 1946 nach Triest zurück.8 Heute befindet sich an der Piazza Oberdan einer der belebtesten Busbahnhöfe Triests. Nur eine kleine Gedenktafel erinnert wissbegierige Passanten an das frühere Hauptquartier der Gestapo und das Gefängnis, dessen unterirdische Zellen sich bis unter die Piazza erstreckten. Der Text auf der Gedenktafel ist ausschließlich auf Italienisch, obwohl, wie Pahor schreibt, „diese höllische Institution vor allem unseren Leuten aus Triest und dem Karst zugedacht war, ebenso wie das aufgelassene Gebäude des Reislagers“.9 Wie die Risiera ist die Piazza Oberdan vor allem für die slowenische Gemeinde ein Gedenkort. Die Tatsache, dass es keine Gedenktafel auf Slowenisch gibt, ist für Pahor eine Quelle ständigen Verdrusses: „[u]nd es beschleicht mich, wenn ich mich am Gehsteig entferne, das Gefühl erniedrigter Würde, ähnlich jenem damals. Als ich unter dem Straßenbelag gefangen war, über den ich jetzt schreite“.10 Die Ungerechtigkeiten gegenüber den Slowenen in Triest und der Region werden offiziell noch immer nicht anerkannt und bleiben ein tabuisiertes Thema. 7 | Boris Pahor: Piazza Oberdan. Aus dem Slowenischen von Reginald Vospernik. Wien: Kitab 2009, S. 34.

8 | In der Erzählung „Una strana accoglienza“ (Boris Pahor: Il rogo nel porto. Rovereto: Zandonai 2008, S. 169–180) beschreibt Pahor seine Rückkehr nach Triest nach dem Krieg und das anhaltende Misstrauen sowie die verbreiteten Vorurteile gegenüber den „deportati“, vor allem jenen gegenüber, die Slowenisch sprechen.

9 | Pahor: Piazza Oberdan, S. 138–139 (Hervorhebung SCK). 10 | Ebd., S. 139.

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In Piazza Oberdan stellt sich eine Vielzahl an Stimmen diesem Schweigen entgegen: Auszüge aus Gedichten, Volksliedern, Zeitungsartikeln, historiographischen Berichten, Augenzeugenberichten, persönlichen Briefen und gerichtlichen Dokumenten, von slowenischen Historikern und Dichtern, den Angehörigen exekutierter Widerstandskämpfer sowie Pahors eigene Kurzgeschichten werden miteinander verbunden. Sie bilden eine palimpsestartige Erzählung, ein Manifest gegen kulturelle Amnesie. Durch diese Mischung aus Memoiren, Historiographie und fiktionaler Erzählung erobert Pahor die Piazza Oberdan als Gedenkort zurück, deren Bedeutung der der Risiera di San Sabba gleichkommt. Historische Genauigkeit ist für Pahor daher zentral. Namen, Daten, Referenzen und unzählige historische Details bilden nicht nur den Rahmen, in den er seine Kurzgeschichten einbettet. Sie dienen auch als Beweis dafür, dass das Geschriebene keine Fiktion ist: „Ich hatte nicht die Absicht nach Texten zu greifen, aber es gibt fast keine andere Möglichkeit, wenn ich mich nicht dem Vorwurf aussetzen soll, dass ich irgendwie den Eindruck des Bösen vergrößern möchte.“11 Pahor erwähnt jene Schwierigkeiten, denen er sich gegenübersah, als er versuchte, Kurzgeschichten zu veröffentlichen, die von der Ausgrenzung und Gewalt der italienischsprachigen Mehrheit gegen die Slowenen handeln, darunter die Erzählung „Der Schmetterling auf dem Kleiderhaken“. Die Geschichte spielt im Herbst 1924 und erzählt von einem kleinen Mädchen, das einen slowenischen Klassenkameraden in ihrer Muttersprache anspricht – ein Verbrechen, für das sie hart bestraft wird. Der Lehrer packt sie an ihren Zöpfen und hängt sie daran an der Garderobe des Klassenzimmers auf. Pahor berichtet, dass ein nicht namentlich genannter US-amerikanischer Verleger es ablehnte, seine Geschichten auf Englisch zu veröffentlichen, weil er glaubte, dass die italo-amerikanische Leserschaft Anstoß an solchen „erfundenen“ Geschichten nehmen würde. Mit einer ähnlichen Begründung lehnte ein französischer Verlag die Kurzgeschichtensammlung ab, die diese und andere Geschichten enthielt, da sie eine „antiitalienische Geisteshaltung“12 zum Ausdruck bringe. Ein deutscher Verleger bezweifelte die Echtheit einer Szene in Pahors KZ-Memoiren Nekropola aus dem Jahr 1967 (dt. Nekropolis), in der ein italienischer Lehrer seine Schüler für das Slowenischsprechen bestraft, indem er ihnen in den Mund spuckt. Das erschien dem Verleger übertrieben. Pahor nannte ihm den Namen des Lehrers und weitere Belege für den Vorfall. Dennoch erschien die deutsche Übersetzung erst 2001.13 In Piazza Oberdan erwähnt Pahor allerdings nicht, dass sein Werk in seiner Heimat Italien lange Zeit kaum wahrgenommen wurde. Während er in den späten 11 | Ebd., S. 39–40. 12 | Ebd., S. 40. 13 | Ebd. Die erste Übersetzung von Nekropola war 1995 die englische, unter dem Titel Pilgrim among the Shadows, dann folgte 1996 die französische, Pèlerin parmi les ombres und 1997 die italienische, Necropoli, in kleiner Auf lage. Im Lauf der letzten 15 Jahre wurde das Buch in über 10 weiteren Sprachen veröffentlicht.

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1990er Jahren bereits eine breite internationale Leserschaft und mehrere renommierte Preise gewonnen hatte sowie für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen worden war, fand Pahor in seinem Heimatland erst 2008 breite Beachtung, als eine überarbeitete italienische Übersetzung von Nekropola anlässlich des Giorno della memoria veröffentlicht wurde. Im August desselben Jahres folgte eine überarbeitete italienische Übersetzung von Pahors Kurzgeschichtensammlung Il rogo nel porto (orig. Kres v pristanu [Das Feuer im Hafen]) aus dem Jahre 1959, in der er seine Erfahrungen der faschistischen Unterdrückung während seiner Kindheit und Jugend in Triest schildert. Beide Werke waren zuvor nur in extrem geringer Auflage bei Kleinverlagen erschienen und in Italien praktisch unbekannt. Seitdem wurden weitere Werke auf Italienisch veröffentlicht, darunter 2010 Piazza Oberdan. Bis heute ist nicht einmal ein Viertel von Pahors Gesamtwerk, das aus etwa 40 Romanen, Memoiren, Kurzgeschichten und Essaysammlungen besteht, in italienischer Übersetzung erschienen. Mit Ausnahme von Nekropola erfuhren Pahors Werke in Italien außerhalb von Triest sehr wenig Aufmerksamkeit.14 Ein Grund dafür ist zweifelsohne, dass Pahors Hauptthema neben seinen KZ-Erfahrungen die Verfolgung des slowenischen Volkes unter dem Faschismus ist. In einer Rezension der Neuübersetzung von Nekropola in La Repubblica schreibt der Triestiner Journalist Paolo Rumiz: Wir haben zu lange bequem die Tatsache ignoriert, dass diese italienischste aller Städte einen großartigen Schriftsteller beherbergt, der in einer anderen Sprache schreibt – der Sprache, die die Faschisten mit ihren Knüppeln, mit Spucke und mit Rizinusöl ausrotten wollten –, dessen Meisterstücke Salz in unsere Wunden streuen. 15

Rumiz stellt hier explizit einen Bezug her zwischen der faschistischen Italienisierungspolitik und aktuellen Einstellungen gegenüber Triests literarischem Erbe, das als ausschließlich italienisch gesehen wird. Diese Missachtung der slowenischen Stimmen lässt sich nicht nur in die faschistische Zeit zurückverfolgen, sondern reicht bis in die Habsburgerzeit zurück, in der die Slowenen als Volk 14 | Auch in der Literaturwissenschaft gibt es kaum Untersuchungen zu Pahor, die meisten Arbeiten über sein Werk stammen außerdem von nicht-italienischen Forschern, vgl.: Antonia Bernard: „Boris Pahor ou l’originalité de la littérature slovène de Trieste“, in: Revue des études slaves 74.2–3 (2002), S. 547–562; Heike Brohm: „Vom totalitären zum anthropologischen Raum des Fremden in der Narrativik Boris Pahors“, in: Vittoria Borsò/Heike Brohm (Hrsg.): Transkulturation: Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt. Bielefeld: Transcript 2007, S. 149–160; Jože Pogačnik: „Boris Pahors literarisches Werk“, in: Litterae slovenicae 30.1 (1992), S. 45–54; Drago Jančar: „Das eigene Gesicht: Über Boris Pahor und die slowenische Frage Europas“, in: Literatur und Kritik 417/418 (2007), S. 19–22; und Thomas Poiss: „Triest, das Meer und das Lager“, in: Literaturen 2 (2001), S. 4–12.

15 | Paolo Rumiz: „Il caso Pahor: Il lager visto dal bosco“, in: La Repubblica vom 30. Januar 2008, Sektion Cultura, S. 33.

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ohne literarische und kulturelle Tradition galten. Darüber hinaus, so der österreichische Literaturwissenschaftler Primus-Heinz Kucher, blendete die italienische Literaturwissenschaft bei der Triestiner Literatur im Großen und Ganzen die slowenischen Schriftsteller und Traditionen der Stadt einfach aus. Triests multikulturelles Erbe wurde ausschließlich unter dem Aspekt der Verbindungen mit der deutsch-österreichischen und der italienischen Kultur betrachtet: Die Ref lexion der Diversità war oft von einem privilegierten Blick nach Norden, in Richtung österreichische Kultur, oder nach Deutschland […] begleitet, mit dem Nebeneffekt, daß der Blick auf das Andere in der unmittelbaren Nähe lange Zeit verstellt blieb: Dieses Andere in der Nähe, ja oft im Eigenen, war die slowenische Realität, ihre Kultur und Literatur. 16

Pahor selbst kommentiert diese Tatsache in der Kurzgeschichte „Una sosta sul Ponte Vecchio“ [Eine Pause auf dem Ponte Vecchio]. Als Lehrer für italienische Literatur an einer slowenischen Schule in Triest liest er Dantes Divina Commedia mit seinen Schülern im Original, aber er lässt sie auch die slowenische Übersetzung ansehen. Wenn slowenische Schüler in Triest Dante lesen, warum lesen dann italienische Schüler nicht auch die Gedichte eines der berühmtesten Slowenen, Srečko Kosovel? Pahor schreibt: Ach könnten die italienischen Schüler in unserer Stadt doch nur Prešeren und Gradnik und Kosovel lesen, dann lebten wir wirklich im Paradies. Ja, Kosovel zum Beispiel: Wenn Seghers ihn in der Reihe „Poètes d’aujourd’hui“ veröffentlicht, warum wird er dann nicht auch in unseren italienischen Gymnasien gelesen? 17

16 | Primus-Heinz Kucher: „‚Hohò Trieste/Del sì, del da, del ja … ‘: Übersetzen aus der Triestiner Literatur. Zu den Texten von Slataper, Cergoly und Fölkel“, in: Johann Strutz/Peter V. Zima (Hrsg.): Literarische Polyphonie: Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Tübingen: Narr 1996, S. 91–109, hier S. 93.

17 | Pahor: „Una sosta sul Ponte Vecchio“, in: ders. Il rogo nel porto, S. 217–224, hier: S. 220. Vanni D’Alessio stellt fest, dass Slowenisch-, Serbisch- und Kroatischkenntnisse in der Stadt trotz der Omnipräsenz slowenischer Kulturinstitutionen in Triest noch immer kaum verbreitet sind. „Seit Generationen“, so schreibt er, „kommen die italienischen Muttersprachler in Triest nicht darauf, Slowenischkenntnisse als Bereicherung zu sehen.“ In den letzten Jahren hat es Anzeichen dafür gegeben, dass der vehemente Widerstand gegen italienisch-slowenische Zweisprachigkeit, der die Stadt nach (und vor) dem Krieg jahrzehntelang charakterisierte, abnimmt, aber trotzdem beobachtet D’Alessio: „[A]uch wenn die Verf lechtungen an der Grenze sich vielleicht verbessert haben, ist es noch immer so, dass nur Slowenen in Italien und Slowenien Kenntnisse beider Sprachen haben, aber nicht die Triestiner Italiener.“ Vgl. Vanni D’Alessio: „Dynamics of Identity and Remembrance in Trieste: Esodo, Foibe, and the Complex Memory of Italy’s Oriental Border“, in: Davor Pauković/Vjeran Pavlaković/Višeslav Raos (Hrsg.): Confronting the Past: European Experiences. Zagreb: Political Science Research Centre Zagreb 2012, S. 285–315, hier S. 291.

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Aber auch in Triest selbst ist Pahors offizielle Anerkennung hauptsächlich auf sein Schreiben über die nationalsozialistischen Konzentrationslager beschränkt. Im Dezember 2009 verkündete Triests (Mitte-Rechts-) Bürgermeister, Roberto Dipiazza, dass die Stadt Pahor den Benemerenza civica-Preis verleihen wolle, um dessen Beitrag zum kulturellen Leben der Stadt und wegen seiner Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu würdigen. Pahor weigerte sich jedoch den Preis anzunehmen mit dem Hinweis, dass Dipiazza die Verfolgung, die er unter dem italienischen Faschismus erlitten hatte, nicht erwähnt habe. „Ich wollte, dass sie ein einziges Wort hinzufügen. Jenes Wort“, sagte Pahor in einem Interview, womit er den Begriff Faschismus meinte. Dipiazza betonte auf Pahors Ablehnung hin, dass der Empfänger einer Auszeichnung der verleihenden Institution nicht einfach seine Begründung vorschreiben könne, und er fügte hinzu: „Wir müssen nach vorne blicken. Überlassen wir die Geschichte den Historikern.“18 Die Kontroverse ging weiter, als die Triestiner Associazione cittadini liberi ed uguali (Vereinigung freier und gleicher Bürger) Pahor ein paar Wochen später einen alternativen Preis anbot: Für seinen Einsatz im Kampf gegen den Faschismus, der unsere Kultur, unsere Würde, unseren Zusammenhalt bereichert. Für Pahor, einen lebenden Zeugen des Widerstandes gegen den Faschismus in Vergangenheit und Gegenwart in Triest, wie es wirklich ist, multiethnisch und multikulturell, unabhängig von jenen Einrichtungen unserer Stadt, die ihr heuchlerisches Schweigen beibehalten. 19

Dipiazza, zu dessen erklärten politischen Zielen auch die Förderung friedlicher italo-slowenischer Beziehungen in der Stadt und der Region gehört, warf der Associazione daraufhin vor, sie wolle alte Konflikte wieder neu anheizen: „Es gibt ein nicht tolerierbares Bestreben, den Hass neu zu entfachen und den Konflikt zwischen rechten und linken Extremisten zu schüren.“20 Anfang Dezember 2010 schienen Pahor und Dipiazza ihre Differenzen beigelegt zu haben, als beide die Aufführung eines slowenischen Stückes des Regisseurs Boris Kobal im Teatro Verdi in Triest besuchten, das auf Nekropola basiert. Es war das erste Mal, dass im Teatro Verdi ein Stück in slowenischer Sprache gezeigt wurde, und die Aufführung, die unter der Schirmherrschaft von Dipiazza und Zoran Janković, dem Bürgermeister von Ljubljana stand, lockte zahlreiche Slowenen aus der ganzen Region an. Für Pahor war die Aufführung ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zur Anerkennung der slowenischen Gemeinde in Triest: 18 | Marisa Fumagalli: „Trieste e la parola fascismo: Pahor in lite con il sindaco“, in: Corriere della Sera vom 27. Dezember 2009, S. 23.

19 | Marisa Fumagalli: „Pahor, un altro premio divide Trieste“, in: Corriere della Sera vom 9. Januar 2010.

20 | Fumagalli: „Un altro premio“.

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Unheimliche Geschichte Ich glaube, dass diese Aufführung endlich vielen Menschen bewusst gemacht hat, dass unsere Minderheit existiert. Und das ist schon mal etwas. Aber darüber hinaus ist es eine Aufführung, die mit einer wirklichen Veränderung in unserer Kultur verbunden ist. Die slowenische Sprache wird beispielsweise überall auf dem [Karst-] Plateau anerkannt und gefördert, und ich bin sicher, dass wir das auch in Triest erreichen werden. 21

In allen Werken Pahors ist der Status der slowenischen Sprache in Triest und der Region eines der zentralen Themen.22 Die Geschichten in der Sammlung Il rogo nel porto überspannen fast das ganze 20. Jahrhundert. Sie beginnen in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges und enden irgendwann in den späten 1990er oder frühen 2000er Jahren. Viele der Erzählungen handeln von dem Schock, den die faschistische Gewalt bei den Slowenen auslöste. Diese Gewalt war allein durch die kulturelle und sprachliche Andersartigkeit der Slowenen motiviert und es resultierte daraus die Sorge um ein Aussterben der slowenischen Kultur und Sprache. Die zeitlich am frühesten angesiedelten Kurzgeschichten sind in der dritten Person erzählt, aus der Perspektive eines Kindes, Branko – Pahors Alter Ego –, sie haben ihren Fokus auf dem Mikrokosmos der Familie, des Zuhauses und der Stadt in den 1920er Jahren. In den späteren Geschichten verschiebt sich die Perspektive. Manche sind in der ersten Person erzählt und machen uns zu unmittelbaren Zeugen von Ereignissen in Pahors Leben. Andere sind eine Art Chorerzählung einer Gruppe von Menschen oder der ganzen Gemeinde. Zusammengenommen können die Geschichten als eine Chronik nicht nur seines persönlichen Leidens gelesen werden, sondern auch der Not seines Volkes. Il rogo nel porto ist in vier Abschnitte unterteilt, denen jeweils ein Gedicht von Srečko Kosovel oder Umberto Saba vorangestellt ist. Der erste und längste Abschnitt widmet sich der faschistischen Unterdrückung in der Zwischenkriegszeit. Der zweite Abschnitt umfasst nur zwei Geschichten und behandelt Pahors Gefangenschaft in Natzweiler-Struthof und seine Zeit in Frankreich gleich nach der Befreiung. Der dritte und der vierte Abschnitt widmen sich den Schwierigkeiten und der anhaltenden Diskriminierung der slowenischen Minderheit im Triest der Nachkriegszeit. Wenn man die Geschichten chronologisch liest, wird deutlich, dass Pahor die nationalsozialistischen Verbrechen in der Region als eine Erweiterung und Fortführung der faschistischen Verfolgung der Slowenen versteht. Die Titelgeschichte der Sammlung, Das Feuer im Hafen, stellt den Brandanschlag auf den Narodni Dom am 13. Juli 1920 als Symbol für die faschistische Verfolgung in Julisch Venetien dar. Der siebenjährige Branko und seine Schwester stehen vor dem 21 | Furio Baldassi: „Necropoli, Cade un’altra frontiera del Novecento“, in: Il Piccolo vom 5. Dezember 2010, Sektion Gorizia, S. 12.

22 | Ein hilfreicher Überblick zum politischen und rechtlichen Status der slowenischen Minderheit in Triest und seiner Region findet sich in Brohm: „Vom totalitären zum anthropologischen Raum“, S. 150–152.

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brennenden Gebäude und sehen Himmel, Mauern und die ganze Umgebung in Rot getaucht. Die Luft ist voller Rauch, und die Faschisten, die schreiend und singend um das Feuer tanzen, ähneln Wilden aus fernen Ländern. Die Kinder sehen, wie sich Männer und Frauen aus den Fenstern des Narodni Dom stürzen, um den Flammen zu entkommen. Die Szene ist für den kleinen Jungen völlig unverständlich – vor allem, weil die schwarzgekleideten Männer die Feuerwehrleute daran hindern, sich dem brennenden Gebäude zu nähern und den Brand zu löschen. Branko kann sich nicht erklären, warum weder die Menge noch die Polizei noch die Soldaten aus der nahen Kaserne einschreiten. Von diesem Tag an hat Branko Alpträume, in denen sich das Ereignis, dessen Zeuge er war, mit den deutschen Märchen vermischt, die Mizzi, eine junge Slowenin, die in der Wohnung über ihnen wohnt, ihm und seiner Schwester immer erzählt hat. Besonders das Märchen von Hänsel und Gretel wird zum Sinnbild für das Schicksal nicht nur von Branko und seiner Schwester, sondern der ganzen slowenischen Gemeinde. Heike Brohm beobachtet: „Im weiteren Zusammenhang erweist sich das Märchen von der verschwundenen Krumenspur und dem drohenden Tod im Ofen als eine Prolepse der ausgelöschten slowenischen Identität und des Brandes des Narodni Dom und letztlich der Krematorien der Konzentrationslager.“23 Dem Brandanschlag auf den Narodni Dom folgt eine Reihe traumatischer Ereignisse, die verschiedene Facetten der Marginalisierung und Verfolgung der slowenischen Minderheit herausstellen und zeigen, wie die faschistische Politik jeden Bereich ihres Lebens beeinträchtigt: Alle kulturellen Einrichtungen werden zerstört, den Slowenen wird verboten, sich in der Öffentlichkeit zu versammeln, um kulturelle Ereignisse zu feiern und die Schulen werden geschlossen oder italienisiert. In den übrigen Geschichten steht das Verbot der slowenischen Sprache im Mittelpunkt. Die Angst und Unsicherheit, die Branko gegenüber der ihm aufgezwungenen italienischen Sprache verspürt, wird zum Symbol eines allgemeinen Gefühls der Entfremdung, des Gefühls, in der eigenen Heimat nicht mehr zu Hause zu sein. Von einem Tag auf den nächsten wird eine ganze Gemeinschaft zum Schweigen gebracht. Heimat wird in Pahors Texten auf unterschiedliche Art und Weise als unheimlich dargestellt. Die verschiedenen Episoden, die in Il rogo nel porto nacherzählt werden, zeigen auf, wie die kulturelle und sprachliche Identität der slowenischen Gemeinde mit der Machtergreifung der Faschisten untrennbar mit ihrer politischen Identität als ethnische Minderheit in dem faschistischen Staat verknüpft wurde. Die Sprache selbst wird politisiert, die bloße Verwendung des Slowenischen gilt als Akt des Widerstands, auch wenn der Sprecher erst sieben Jahre alt ist. Pahor beschreibt, wie die Stadt zum Gefängnis wird, da das Schicksal der politischen Dissidenten, die unter der Piazza Oberdan eingesperrt sind, jedem Mitglied der slowenischen Minderheit droht, das sich weigert, die dominante italienische Identität vollständig anzunehmen. Pahors Entscheidung, ausschließlich auf Slowenisch zu schreiben und zu publizieren, 23 | Brohm: „Vom totalitären zum anthropologischen Raum“, S. 154.

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muss vor diesem Hintergrund also als eine von Grund auf politische Entscheidung gesehen werden, und die Tatsache, dass seine Werke in seiner Heimat Italien immer noch größtenteils unbekannt sind, stützt letztlich seine Behauptung, dass die tiefe Spaltung zwischen Italienern und Slowenen in Triest und an anderen Orten bis heute nicht verschwunden ist. Dies wird explizit thematisiert in der letzten Geschichte der Sammlung, „Eine Pause auf dem Ponte Vecchio“. Die Erzählung spielt im heutigen Italien und zeigt den älteren Pahor mit einer Freundin namens Živka auf einer Reise nach Florenz. Im Zug unterhalten sich die beiden auf Slowenisch, was einen neben ihnen sitzenden Italiener offensichtlich so sehr ärgert, dass er schließlich das Abteil verlässt. Während der Mann weiterhin draußen auf dem Gang steht und die beiden Slowenen anstarrt, „mit einem vorwurfsvollen und zugleich scheinbar in Leiden verhüllten Blick“,24 fragt Pahor sich, was er tun soll. Soll er mit diesem Fremden ein Gespräch anfangen? Vielleicht als Reaktion auf die besondere Mischung aus Vorwurf und Leid, die er im Blick des Mannes entdeckt, beginnt Pahor, sich zu überlegen, was er zu ihm sagen könnte, dessen offensichtliche Abneigung gegen den Klang der slowenischen Sprache untrennbar mit der gemeinsamen Geschichte der slowenischen und italienischen Bevölkerung von Triest zusammenzuhängen scheint. In einem imaginären Monolog erzählt er dem Fremden von der langen Tradition des kulturellen und spirituellen Lebens der Slowenen, von den slowenischen Autoren, die in Triest im Lauf der Jahrhunderte lebten. Er erklärt die Ursprünge des Hasses der Italiener auf die Slowenen in Triest, die er bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgt damit, dass damals ein slowenisch-triestinisches Bürgertum entstand, das von den Italienern wegen ihres wachsenden Wohlstands und Einflusses beneidet wurde.25 Er umreißt knapp die Marginalisierung der Slowenen, nachdem Triest 1918 italienisch geworden war, sowie die darauffolgende faschistische Italienisierungskampagne und Verfolgung jener, die sich dem widersetzten. Schließlich wendet Pahor sich dem zu, was er für die Quelle des verborgenen Leidens in den Augen des Mannes hält: die Foibe-Massaker und den Exodus aus Istrien, die paradoxerweise ein Symbol der gemeinsamen Geschichte und des gemeinsamen Leids sind: Dieses unerhörte Unheil. Ein Blutbad, das uns schmerzt, und das wir noch immer empfinden. Und wir empfinden es umso stärker, weil wir Slowenen auch von jenen revolutionären Exzessen zutiefst betroffen waren. Nein, die slowenische Bevölkerung hat nichts mit dem zu tun, was im Mai 1945 geschah. Dasselbe gilt für eure Flucht [esodo] aus Istrien. Sie hat mit

24 | Pahor: Il rogo nel porto, S. 220. 25 | Für eine detailliertere historischeen Darstellung der Beziehung zwischen den Italienern und Slowenen in Triest und den Gründen für die Spannungen zwischen den beiden Gruppen vgl. u.a. Marina Cattaruzza: „Slovenes and Italians in Trieste, 1850–1914“, in: Max Engman (Hrsg.): Ethnic Identity in Urban Europe. New York: New York University Press 1991, S. 189–219.

Kapitel 7 uns nichts zu tun, aber wir können euch gut verstehen, weil nach 1918 so viele von uns auch haben gehen müssen. Sehen Sie, die Geschichte hat uns alle auf die Probe gestellt, euch, die Mehrheit, und uns, die Minderheit: unsere Aufgabe ist es nun, vernünftig zusammenzuleben [riunirsi in un saggio convivio]. Lévi-Strauss sagt, dass es keine Kinder-Völker gibt, also müssten wir auf Augenhöhe hier miteinander leben können. 26

Pahor stellt die Foibe-Tötungen als traumatisches Ereignis in der Geschichte sowohl der Slowenen als auch der Italiener dar. Denn es ist genauso unsinnig, die gesamte slowenische Bevölkerung für die Taten der kommunistischen Partisanen am Ende des Krieges verantwortlich zu machen wie die heutigen Italiener für die Verbrechen des Faschismus. Aber diese Geste der Versöhnung bleibt aus und der Zug erreicht Florenz, ohne dass Pahor und Živka ein Wort mit dem Fremden gewechselt haben. Als die beiden durch die Straßen von Florenz spazieren, bleiben sie am Ponte Vecchio stehen und Pahor erinnert sich an eine Passage in Dantes Convivio, in dem der Florentiner Dichter jene beschimpft, die ihre eigene Sprache erniedrigen und eine andere annehmen. „Man sollte ihm dieses Dante-Zitat zeigen,“27 sagt er zu Živka. Sich auf den italienischen Nationaldichter zu berufen, um sein Recht zu verteidigen, seine slowenische Muttersprache zu sprechen, mag kühn erscheinen, aber für Pahor ist es offenkundig notwendig, solch engen nationalistischen Auffassungen historischer Identität zu überwinden und stattdessen gemeinsam daran zu arbeiten, ein „Convivio“ zu schaffen, eine Möglichkeit, gleichberechtigt miteinander zu leben. Man muss sich an die Vergangenheit erinnern und sie neu betrachten und sie in eine weisere und reifere Gegenwart verwandeln zu können.

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und die liminale I dentität Du musst dich entscheiden, ob du zu den Slawen oder den Italienern gehören willst. Ich hingegen wollte beides sein. 28

Fulvio Tomizza, ursprünglich Tomica, wurde 1935 in dem kleinen Dörfchen Juricani/Giurizzani in der Nähe von Materada geboren. Der Ort liegt am Nordwestende von Istrien zwischen dem vorwiegend kroatischsprachigen Dorf Buje/Buie und der größtenteils italophonen Küstenstadt Umag/Umago – im Zentrum einer

26 | Pahor: Il rogo nel porto, S. 221. 27 | Ebd., S. 223. 28 | Fulvio Tomizza, zit. n. Antonino Grillo (Hrsg.): Tomizza e la critica più recente: A proposito di C. Aliberti, „Fulvio Tomizza e la frontiera dell’anima“. Atti del convegno di Rodì Milici, 25 Novembre 2001. Foggia: Bastogi 2003, S. 17.

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sprachlich und kulturell hybriden Region, in der ein kroatisch-slowenischer und ein venetischer Dialekt nebeneinander gesprochen und vermischt wurden. Diese hybride Sprache, die als kultureller Mittelweg und sprachliche Manifestation der Symbiose zwischen den lokalen Kulturen fungiert, spielt eine wichtige Rolle in vielen von Tomizzas Werken, in denen sie zum „Symbol eines konfliktfreien, selbstverständlichen Neben- und Miteinanders der verschiedenen Bevölkerungsgruppen“29 wird. Ähnlich wie bei Pahor die kulturelle Position der slowenischen Sprache der Schlüssel zur Wiedererlangung der vergessenen slowenischen Geschichte von Triest und zur Bewahrung der slowenischen kulturellen Identität der Stadt wird, nimmt dieser istrische Dialekt für Tomizza den Charakter einer übernatürlichen Sprache an, in der sich nationale Identität in einer gemeinsamen sprachlichen Identität auflöst. In einem Essay über seine Mehrsprachigkeit schreibt Tomizza: Wenn man diese beiden Strömungen, die sich ständig überkreuzen und ihre armseligen Wasser vermischen, betrachtet, hat man oft den Eindruck, dass sie nicht als eine Art Abf lusskanal zwischen den beiden nationalen Dialekten fungieren, sondern vielmehr einen dritten Weg bildeten, der, wäre er von außen bestärkt worden und hätte er von innen eine gewissen Grad an Selbstbewusstsein entwickelt, so hätte er eine italo-slawische sprachliche Lösung darstellen können. 30

Viele von Tomizzas istrischen Romanen präsentieren eine Welt, deren transnationale Beschaffenheit als Bereicherung wahrgenommen wurde, und in der der Dialekt, ein Hybrid aus beiden Sprachen, dazu hätte beitragen können, einen „dritten Weg“, wie er es nennt, zu finden, eine friedliche Lösung zwischen den beiden Nationalitäten in der Region. Diese Gelegenheit wurde allerdings verpasst und die zwangsweise Durchsetzung einer einzigen nationalen Sprache – zuerst des Italienischen unter dem Faschismus und dann des Kroatischen unter der jugoslawischen Regierung – brachte viele Istrier dazu, die Region zu verlassen (Kroaten während des Faschismus, Italiener nach dem Krieg), und trug zum unwiderruflichen Verlust der Einheit der Region bei. Tomizza versteht sich als Chronist des Schicksals seiner istrischen Landsleute, die unter dem Faschismus leiden mussten, weil sie „Slawisch“ sprachen, und die wegen der italienischen Elemente in ihrem Dialekt unter der jugoslawischen Herrschaft wieder angefeindet wurden. Die Istrier, betont Tomizza, lassen sich nicht einfach in Kroaten und Italiener teilen, und die Geschichte der Region ist komplexer, als eine vereinfachende Darstellung der unschuldigen Italiener versus 29 | Johann Strutz: „Istrische Polyphonie: Regionale Mehrsprachigkeit und Literatur“, in: Ders./Peter V. Zima (Hrsg.): Literarische Polyphonie: Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Tübingen: Narr 1996, S. 207–226, hier S. 223.

30 | Fulvio Tomizza: „Uno scrittore tra due dialetti di matrice linguistica diversa“, in: Ders.: Alle spalle di Trieste: Scritti 1969–1994. Milano: Bompiani 1995, S. 183–194, hier S. 185.

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der bösen „Slawen“ – oder vice versa – uns glauben machen will. Das brachte ihn dazu, die Geschichte seines Dorfes und seiner Bewohner zu erzählen. Als ich begann, diese Geschichte zu erzählen, die sich vor meinen Augen abgespielt hatte […] empfand ich ein brennendes Verlangen, die verlorene Eintracht wiederherzustellen [...], die erlittenen Demütigungen anzuprangern, aber auch, die Welt auf das tragische Paradox einer zum Teil halb-italienischen, aber größtenteils halb-slawischen Gemeinschaft aufmerksam zu machen, die im Kampf ihrer beiden Herkunftsländer ihre endgültige Auf lösung fand. Und ich habe mich für die Sprache entschieden, die ich am besten kannte und die ich mir am ehesten als eine literarische Sprache vorstellen konnte. 31

Obwohl sich Tomizza entschied, auf Italienisch zu schreiben, verwendet er auch kroatische Wörter und dialektale Elemente, er listet vergessene Namen von Dörfern, Straßen und Familien auf und fügt zweisprachige Kataloge von Pflanzenund Tiernamen ein. Für Tomizza ist es eine Möglichkeit, die Wörter und Sprache seiner Kindheit in seinen Texten zu bewahren, und so die verlorene Welt einer geeinten istrisch-italienisch-kroatischen Kultur zu retten. Tomizzas Italienisch und seine Methode, dialektale Ausdrücke einzuarbeiten, führte zu heftigen Reaktionen nicht nur bei seinen italienischen Kritikern, sondern auch von kroatischer Seite. In Italien warf man Tomizza vor, „schlechtes“ Italienisch zu schreiben und die Sprache mit solchen derben Ausdrücken zu „verunreinigen“, während man ihn in Zagreb verdächtigte, sich über die kroatische Sprache lustig zu machen.32 Aber der Grund für dieses konsequente Einstreuen von Ausdrücken aus diesem hybriden Dialekt in seine Texte ist mehr als nur eine nostalgische Sehnsucht nach der Vergangenheit. Tomizza übernimmt vielmehr die Rolle eines Vermittlers zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und eines Zeugen ihrer Geschichten, von denen manche im Wesentlichen ungehört geblieben sind. Die Erkenntnis, dass ich zu beiden ethnischen Gruppen und ihren jeweiligen Kulturen gehöre, verbunden mit der Notwendigkeit, dem am meisten vernachlässigten und in der Literatur

31 | Ebd., S. 192. 32 | Im Titelessay der posthum veröffentlichten Sammlung Le mie estati letterarie vergleicht Tomizza die Kritik an ihm von italienischer Seite mit der Kritik an Italo Svevos Stil, der als unelegant, wenig wohlklingend und sogar falsch bezeichnet wurde. Svevo wird inzwischen natürlich als einer der wichtigsten italienischen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts und als archetypischer Triestiner Autor verehrt. Tomizza zitiert einen seiner Kritiker, Paolo Milano, dessen Beschreibung der Mängel von Tomizzas Sprache die rassistische Einstellung offenlegt, die diesem Ideal linguistischer Reinheit zugrunde liegt: „Es ist eine grobe Sprache, ein Hybrid, von grammatischen Fehlern strotzend, es ist das abnorme beinahe-Italienisch (so meint man), eines istrischen Jungen, oder eines sehr unsicheren Ich-Erzählers, der beim Versuch, seine Geschichte zu erzählen, nur die Fakten mitteilen kann, und auch das nur in konfuser Form“. Fulvio Tomizza: Le mie estati letterarie. Venezia: Marsilio 2009, S. 128.

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Unheimliche Geschichte am wenigsten bekannten Teil dieser ganzen Geschichte mehr Aufmerksamkeit zu schenken, hat meine Wahl des Themas, der Figuren, der Schauplätze bestimmt, so dass ich schließlich in die slowenische Welt der Sposi di via Rossetti gelangte. […] Es war jedenfalls kein Projekt, das ich vorauskalkuliert, noch etwas, was ich mir am Schreibtisch ausgedacht hatte. Nach und nach, als die Dinge sich weiterentwickelten, hat mein Instinkt und mit ihm auch meine Emotionen, Überzeugungen und Ängste, die einer harten Probe unterzogen wurden, auf eine Art reagiert, mit der niemand restlos zufrieden sein konnte, weder die Italiener noch die Slawen, und auch nicht ich selbst, ich mit meiner gemischten, um nicht zu sagen Bastard-Identität, die ich wegen ihrer natürlichen Unparteilichkeit so leidenschaftlich liebte, und die, was mich betrifft, letztendlich zu einem Zustand der Nicht-Zugehörigkeit geführt hat. 33

Dieses Zitat vereint die beiden Aspekte von Tomizzas Werk, die wesentlich für ein Verständnis seiner Beziehung zum Schreiben und seiner Auffassung von Identität sind: zum einen das andauernde Beharren darauf, dass er sowohl italienisch als auch kroatisch ist, was in einem permanenten Zustand der „Nicht-Zugehörigkeit“ resultiert, und zum anderen das Bemühen, ein möglichst vollständiges und umfassendes Bild des multikulturellen Charakters der Region zu zeichnen. Tomizza hält es für seine Pflicht, die Geschichte derer zu erzählen, die ein ähnliches Schicksal wie seine istrischen Landsleute erlitten haben, und deren Geschichten sonst in Vergessenheit geraten würden. Mit anderen Worten: Tomizza übernimmt die Rolle eines stellvertretenden Zeugen für diese vergessenen Geschichten, oder, wie der Literaturwissenschaftler Sergio Campailla schreibt, Tomizza macht es sich zur Pflicht, „der bescheidene Vorsänger der bescheidenen res gestae einer Welt zu sein, die von der Geschichte ausgeschlossen wurde und die trotzdem von jahrhundertelangem anonymem Leiden befreit worden ist.“34 Dieser zweifache Imperativ ist die treibende Kraft hinter Tomizzas Autorschaft: eine utopische Welt zu erschaffen, in der Italiener und Slawen buchstäblich dieselbe Sprache sprechen, ohne sich entscheiden zu müssen, zu welcher Nationalität sie gehören, und gleichzeitig für diejenigen zu sprechen, die nicht gehört worden sind. Gleichzeitig macht die fast unlösbare Aufgabe, Vermittler und Zeuge für beide ethnischen Gruppen zu sein, ihn zum Nomaden. Die gelebte Erfahrung der Grenze ist, wie Tomizza in einem Interview sagt, sein Seinszustand: Ich fühlte mich zwischen zwei Welten, zwei Ideologien zerrissen. Seit Jahren hatte ich unter Priestern gelebt und jetzt plötzlich spürte ich die Verlockung des Kommunismus. Ich habe meinen Vater geliebt, der sich in seinem Herzen immer für die Italiener entschieden hatte, und es schmerzte mich zu sehen, wie er von den Jugoslawen verfolgt wurde. Ich bin nach Triest gezogen, wo ich für einen Slawen gehalten wurde, weil ich aus dem Inneren des Landes

33 | Tomizza: „Uno scrittore“, S. 193–194. 34 | Sergio Campailla: „La Frontiera di Tomizza“, in: Grillo/Andriuoli (Hrsg.): Tomizza e la critica più recente, S. 45–54, hier S. 49.

Kapitel 7 kam; und als ich nach Materada zurückkehrte, hielt man mich für einen Italiener. Es war das Drama der Grenze, das ich am eigenen Leib erlebt habe. 35

Obwohl er und seine Familie Opfer des Konflikts zwischen zwei Kulturen waren – sie verloren ihr Grundstück und ihr Haus, und sein Vater wurde von den Jugoslawen inhaftiert, bevor die Familie sich entschied, nach Triest zu ziehen –, weigert sich Tomizza, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen. Sein Zustand der Nicht-Zugehörigkeit wird bestimmend für seine Beschäftigung mit der Region und ihrer Geschichte. Dieser Zwischen-Zustand, verbunden mit Tomizzas Beharren auf historischer Detailtreue und Komplexität, unterscheidet ihn von anderen Autoren, die über den istrischen Exodus schreiben.36 Die hybride slawo-italienische Kultur seiner Kindheit ist vor allem in Tomizzas Frühwerk sichtbar, etwa in der Trilogia Istriana (veröffentlicht 1967, bestehend aus den Romanen Materada, La ragazza di Petrovia und Il bosco di acacie), dem Roman La quinta stagione (dt. Die fünfte Jahreszeit), aber auch La miglior vita aus dem Jahr 1977 (dt. Eine bessere Welt). Ein Großteil seiner späteren Werke handelt von der Stadt Triest und dem Kampf der verschiedenen Protagonisten um die Frage nach der Zugehörigkeit sowie ihrer Unfähigkeit, sich ganz darauf einzulassen, italienisch zu sein. In dieser späteren Phase bezieht Tomizza in seinen Werken auch andere triestinische Minderheiten mit ein wie die Juden in La città di Miriam oder die Slowenen in L’idealista (dt. Der Idealist), Gli sposi di via Rossetti (dt. Das Liebespaar aus der Via Rossetti) oder Franziska (dt. Franziska. Eine Geschichte aus dem 20. Jahrhundert). Im Gegensatz zu Pahor erfreut sich Tomizza in Italien einer großen Leserschaft. Mehrere seiner Bücher wurden mit Preisen ausgezeichnet. Sein größter Erfolg war La miglior vita, von dem mehrere Hunderttausend Exemplare in Italien verkauft wurden und der mit dem Premio Strega den renommiertesten italienischen Literaturpreis gewann. 1984 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Triest verliehen „für das hohe künstlerische Niveau seines umfangreichen erzählerischen Werkes, in dem er sich zu einem scharfsinnigen, originellen Dol35 | Interview mit Grazia Livin in Epoca (3. August 1969), zit. n. Ante Kadić: „Fulvio Tomizza’s Depiction of the Italo-Yugoslav Frontier“, in: World Literature Today 59.3 (1985), S. 346– 354, hier S. 347.

36 | Vgl. etwa die Werke von Marisa Madieri, Anna Maria Mori, Enzo Bettiza, Delia Biasi und Alessandra Fusco. Eine Ausnahme ist Guido Miglia, dessen spätere Werke, insbesondere L’Istria una quercia, eine ähnliche Beachtung und Wertschätzung der Hybridität der istrischen Kultur und Sprache wie bei Tomizza aufweisen (vgl. Guido Miglia: L’Istria una quercia. Trieste: Circolo di cultura „Istria“ 1994). Diese Berichte vom istrischen Exodus werden ergänzt von einem wesentlich kleineren Textkorpus, geschrieben von den „rimasti“, jenen, die sich entschieden, in der Region zu bleiben, die nach 1954 offiziell zu Jugoslawien gehörte, z.B. Eros Sequis Eravamo in tanti (1979) und Bora, das von Anna Maria Mori (einer „esula“) und Nelida Milani (einer „rimasta“) gemeinsam verfasst wurde (vgl. Eros Sequi: Eravamo in tanti. Rijeka: Edit 1979 und Anna Maria Mori/Nelida Milani: Bora. Bologna: Frassinelli 1999).

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metscher einer Kultur gemacht hat, die auf den Werten eines friedlichen Zusammenlebens von Völkern basiert.“37 Dennoch existieren kaum Untersuchungen zu seinen Werken auf Italienisch, ebenso wenig auf Englisch.38 Tomizzas Romane bilden, wenn man so will, eine kollektive Autobiographie des Istriens seiner Kindheit, in dem die kroatischen bzw. slowenischen und italienischen Kulturen untrennbar miteinander verwoben sind und deren engmaschiges multikulturelles Netz von den historischen Ereignissen gewaltsam zerrissen wurde. Insofern sind seine Bemühungen gleichermaßen literarisch wie historiographisch. Das beste Beispiel für diesen literarisch-dokumentarischen Stil ist wohl der Roman La miglior vita (1977), dessen Erzählung das gesamte Jahrhundert von der Herrschaft der Habsburger bis zu den 1970er Jahren überspannt. Der offizielle Erzähler im Roman ist Martin Crusich, der Mesner in einem kleinen Dorf in Istrien. Der inoffizielle Erzähler ist allerdings das Dorf und seine Bewohner. In dem kleinen abgelegenen Dorf leben verschiedene ethnische Gruppen, die der Versuch eint, den Zusammenhalt und die Identität des Dorfes trotz der makrohistorischen und politischen Ereignisse zu bewahren. Die wechselhafte Dorfgeschichte versinnbildlicht sich in der Abfolge der Priester, die im Laufe des Jahrhunderts ins Dorf kommen: zuerst ein polnischer Priester, der sich „in einer Sprache, die sämtliche slawischen Idiome, die man im Kaiserreich sprach, vereinigte,“39 an seine Gemeinde wendet, dann ein kroatischer Priester, der an einer Dissertation über die slawische Liturgie in Istrien arbeitet, daraufhin ein pro-faschistischer italienischer Priester, der von der faschistischen Regierung Geld erhält, um den Bau des Kirchturms abzuschließen, und schließlich ein kroatischer Priester, der Titos Partisanen angehört hat. Als das Dorf nach dem Zweiten Weltkrieg jugoslawisch wird, bleibt die Stelle des Priesters unbesetzt, nur der Mesner Crusich bleibt zurück, um die Geschichte zu erzählen. Tomizzas Erzähler berichtet von der Zersplitterung und Zerstörung dieser multikulturellen Gemeinde im Laufe seines Lebens: der Erste Weltkrieg, der Faschismus und die Italienisierung des Dorfes, der Zweite Weltkrieg, die deutsche Besatzung und schließlich der Kommunismus sowie die Tatsache, dass das Dorf Teil Jugoslawiens wurde. Die innere Zerrissenheit der Gemeinde erreicht ihren 37 | Alfredo Luzi: „Fulvio Tomizza“, in: Gaetana Marrone (Hrsg.): Encyclopedia of Italian Literary Studies. New York: Routledge 2007, S. 1882.

38 | Ein paar wenige aktuellere Ausnahmen sind Carmelo Aliberti: Fulvio Tomizza e la frontiera dell’anima. Foggia: Bastogi 2001; Nina Celli: „La narrativa di Fulvio Tomizza: uno scorcio di storia istriana“, in: Acta Histriae 14.1 (2006), S. 179–196; Elvio Guagnini: „Kulturelle Komponenten und verschiedene ethnische Gruppen einer Stadt und einer Region: Triest und Friaul-Julisch Venetien“, in: Vittoria Borsò/Heike Brohm: Transkulturation, S. 111–130; Irene Mestrovich (Hrsg.): L’eredità di Tomizza e gli scrittori di frontiera. Fiume: Edit 2001; und Pizzi: A City in Search of an Author.

39 | Fulvio Tomizza: Eine bessere Welt. Deutsch von Ragni Maria Gschwend. München: DTV 1983, S. 29.

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Höhepunkt in den Jahren direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen das Dorf zuerst dem Freien Territorium Triest und später Jugoslawien zugeteilt wird. Die Frage, ob man nun auf der Seite der Italiener oder der Jugoslawen stehen soll, spaltet ganze Familien. Crusich fasst die Absurdität dieser Frage nach der nationalen Zugehörigkeit in einem Satz zusammen: „Wir befanden uns im Krieg, immer wieder im Krieg um die ewige Frage, ob wir Italiener oder Slawen seien, und dabei waren wir in Wirklichkeit doch nur Bastarde.“40 Anders als in den vereinfachenden populären Darstellungen des istrischen Exodus wie Il cuore nel pozzo legt Tomizza Wert auf den historischen Kontext und liefert seinen Lesern einen umfassenden Überblick der komplexen historischen Zusammenhänge und Brüche, die zu den Kämpfen in der Region führten. In diesem Kontext lässt sich der Titel La miglior vita als Verweis auf die Entscheidung lesen, der die Dorf bewohner und damit alle Istrier sich gegenübersahen und die sie doch unmöglich treffen konnten: Wenn man ein besseres Leben haben möchte, heißt das, dass man der einen Nationalität gegenüber der anderen den Vorzug geben muss? Heißt das, dass man sich entscheiden muss, ob man in Istrien bleibt oder geht? Tomizza macht deutlich, dass die Auswanderung eine bewusste Entscheidung erforderte und dass ein großer Teil der italienischen Bevölkerung Istriens sich zum Bleiben entschied: die „rimasti“. Zu diesen gehört auch Crusich, der die Geschichte des Dorfes auch noch unter dem jugoslawischen Regime bis zu seinem Tod erzählt. Indem er die Perspektive eines „rimasto“ einnimmt, kann Tomizza sich vorstellen, wie das Leben jener anderen Istrier verlief, die nicht wie er nach Italien auswanderten. Diese doppelte Perspektive ist selten in der istrischen Exilliteratur. Während die meisten der Exilschriftsteller („esuli“) mit der Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Identität als Italiener und der Entfremdung, die sie nach ihrer Übersiedlung nach Italien empfanden, Schwierigkeiten haben, wird für Tomizza die Identität, die er auf bauen will, weniger von einer Sehnsucht nach einem verlorenen italienischen Istrien geprägt als von der Weigerung, der Dichotomie italienisch vs. nicht-italienisch zu entsprechen. Überdies paart sich Tomizzas Entschlossenheit, alle Facetten dieser liminalen Identität zu erkunden, mit dem Bedürfnis, anderen marginalisierten Menschen eine Stimme zu geben, die ansonsten durch die Maschen der Geschichte fallen würden. Es war dieser Impuls zur stellvertretenden Zeugenschaft, die ihn veranlasste, die vergessene Geschichte des jungen slowenischen Paares in Gli sposi di via Rossetti zu erzählen.41 40 | Tomizza: Eine bessere Welt, S. 254. 41 | In einem anderen seiner Essays, Lo scrittore Mitteleuropeo, thematisiert Tomizza, was er für die Pf licht des Schriftstellers hält, nämlich dessen bürgerschaftliches Engagement. Als Beispiel für diese Pf licht führt er sein Buch Gli sposi di via Rossetti an. Daneben betont er, wie wichtig es für ihn ist, mit anderen Minderheiten in Triest in Dialog zu treten. Daher nimmt er regelmäßig an slowenischen Kulturzirkeln und Konferenzen teil und besucht auch slowenische Schulen, um mit den Schülern über seine Bücher zu sprechen. Er schildert, wie

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Dieser Roman versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren, die 1944 zur Ermordung von Dani Tomažič und Stanko Vuk in ihrer Wohnung in der Via Rossetti führten. Die Mörder wurden nie überführt und das Motiv für dieses Verbrechen bleibt im Dunkeln. Noch 40 Jahre nach dem Mord, schreibt Tomizza zu Beginn des Buches, spaltet die Erinnerung an dieses Verbrechen die slowenische Gemeinde in Triest: Für die katholische beziehungsweise jene in einem allgemeineren Sinn konservative oder „rechtsdenkende“ Partei ist es ein rotes Kommando gewesen, das am 10. März 1944 mit Pistolen bewaffnet in die Wohnung in der via Rossetti eindrang. Für die anderen (Kommunisten, Progressisten, Laizisten, all jene also, die der Ansicht sind, sich im Gleichschritt mit der Geschichte zu befinden) können die drei Mörder in hellem Trenchcoat und blauer Baskenmütze nur „Weiße“ gewesen sein, das heißt Kollaborateure der Deutschen. Sicher ist lediglich, daß es Slowenen waren wie ihre Opfer und wie all jene, die sich immer noch an dem schwerwiegenden Vorfall interessiert zeigen. 42

In der italienischen Gemeinde ist die Geschichte hingegen praktisch unbekannt. Wie der Untertitel der italienischen Originalausgabe Tragedia in una minoranza (Eine Minderheitentragödie) nahelegt, hat Gli sposi ein doppeltes Ziel: Einerseits macht Tomizza die italienische Leserschaft nicht nur mit dieser einzigartigen tragischen Liebesgeschichte bekannt, sondern auch mit dem Leiden der slowenischen Gemeinde in Triest während der Jahre des Faschismus. Durch die Perspektive dieser Familiengeschichte kann Tomizza das ganze Spektrum innerhalb der slowenischen Gemeinde Triests und deren unterschiedliche Haltungen und Reaktionen auf die faschistischen Verfolgungen nachzeichnen. Für die slowenischen Leser hingegen ist das Buch ein Versuch, den rätselhaften Mordfall detailliert zu beschreiben und einen nüchternen Bericht über das Geschehen zu liefern. Da Tomizza selbst kein Slowene ist, kann er die Ereignisse nicht nur unvoreingenommen betrachten, er kann auch deren Auswirkungen auf das heutige Triest darstellen. Wie der Literaturwissenschaftler Carmelo Aliberti erklärt, erlaubt es dieser ständige Wechsel zwischen den Mikro- und Makroebenen der Geschichte Tomizza, „uns verständlich zu machen, wie die geheimen oder offenen Konflikte der Vergangenheit das Zusammenleben in der Gegenwart weiterhin vergiften.“43 Um nicht den Groll einer der beiden Seiten auf sich zu ziehen, nimmt Tomizza die Haltung eines objektiven Chronisten ein, der sich praktisch ausschließlich auf historische Dokumente stützt und die persönlichen und emotionalen Aspekdieses Überschreiten von Trennlinien zwischen Minderheiten und Ethnien in der istrischen Gemeinde in Triest auf Misstrauen oder sogar Ablehnung stieß (vgl. Fulvio Tomizza: Le mie estati letterarie, S. 155).

42 | Fulvio Tomizza: Das Liebespaar aus der Via Rossetti. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. München: Piper 1991, S. 5–6.

43 | Carmelo Aliberti: Fulvio Tomizza e la frontiera dell’anima. Foggia: Bastogi 2001, S. 82.

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te der Protagonisten in den Vordergrund stellt, ohne deren politische Entscheidungen in irgendeiner Weise zu beurteilen. Das Buch basiert auf einer Auswahl aus den mehr als 400 Briefen, die das Liebespaar sich während der vier Jahre, die Stanko Vuk im Gefängnis verbrachte, auf Italienisch schrieb, und die Tomizza von einem namentlich nicht genannten Freund des Paars erhielt. Gleichzeitig verfasste Tomizza das Vorwort für einen Sammelband mit dem Briefwechsel. Beide Bücher erschienen 1986, sie können gemeinsam als verspätetes und – in italienischer Sprache – seltenes Zeugnis des Leidens der slowenischen Gemeinde in Triest gesehen werden.44 Gli sposi di via Rossetti gliedert sich in drei Teile. Im ersten berichtet Tomizza, wie er in den Besitz der Briefe kam und erläutert die familiären Hintergründe von Stanko Vuk und Dani Tomažič sowie die Ereignisse, die zu Stankos Inhaftierung führten. Der zweite und längste Teil ist den Briefen selbst gewidmet, einschließlich Tomizzas Randbemerkungen. Der dritte und letzte Teil handelt von Stankos Befreiung aus dem Gefängnis und den rätselhaften Mord an dem Paar. Gli sposi di via Rossetti ist weder Roman noch Dokumentarbericht. Man könnte den Text eher als umfassendes Porträt dieser zwei jungen Menschen, ihrer Wünsche und Ängste beschreiben und der historischen Zeit, in der sie lebten. Der Autor interessiert sich nicht nur dafür, eine vergessene Geschichte wieder ins Gedächtnis zu rufen, sondern auch für die Poesie in Stankos Briefen, die alle auf Italienisch verfasst sind. Tomizza ist zutiefst beeindruckt von Stankos Fähigkeit, seine Gefühle in einer ihm aufgezwungenen Sprache so schön auszudrücken. Stanko scheint für Tomizza eine Art Seelenverwandter zu sein, da auch er dialektale Ausdrücke in seine Briefe einstreut, um die vertraute heimatliche Welt heraufzubeschwören. Wahr ist, daß er es, mit einer gewissen Unduldsamkeit, hin und wieder fertigbrachte, unter den Augen der uniformierten Zensoren Metaphern und Epitheta der gemeinsamen Muttersprache in seine Briefe zu schmuggeln, und daß – wie um zwischen den beiden nationalen Sprachen, der verbotenen und der obligatorischen, zu vermitteln – Dialektismen zutage treten, denen auch jene Schriftsteller nicht entgehen, die am stolzesten darauf sind, der herrschenden Kultur dieses Grenzgebiets anzugehören. 45

Stankos Verwendung von slowenischen und italienischen dialektalen Begriffen ist für Tomizza ein mutiger Akt des Widerstands gegen die Unterdrücker, auch wenn er im Gefängnis sitzt. Tomizza betont die religiösen und politischen Unterschiede zwischen den beiden Familien: Stanko ist ein katholischer Intellektueller, der den slowenischen Widerstand in der Stadt organisiert, während Danis Familie in der Triestiner Bürgerschaft etabliert ist und ihren Namen aus freien 44 | Vgl. Stanko Vuk: Scritture d’amore. Hrsg. von Vida Maticetov/Milko Maticetov. Triest: Editoriale Stampa Triestina 1986.

45 | Tomizza: Das Liebespaar, S. 8.

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Stücken von Tomažič zu Tomasi italienisiert hat. Ein dritter Protagonist ist Danis Bruder Pino, eine führende Persönlichkeit innerhalb der kommunistischen Widerstandsbewegung der Stadt. Auch wenn er sich aufgrund seiner kommunistischen Überzeugungen von seinen Eltern entfremdet hat, spielt Pino in Danis Leben eine wichtige Rolle: Er ist ihr politischer Mentor, lehnt Stanko und vor allem dessen politische Haltung ab und ist gegen die Heirat der beiden. Indem sie sich für Stanko entscheidet und vom Kommunismus abwendet, löst Dani entschieden die Verbindung mit ihrem Bruder. Auch Boris Pahor, der ebenfalls im katholischen Widerstand in Triest aktiv und ein guter Freund von Stanko ist, tritt in dem Buch auf. Als Stanko im Gefängnis ist, gewinnt Danis Freundschaft mit Pahor für sie an Bedeutung.46 Im Dezember 1941, wenige Monate nach der Heirat, werden Stanko und Pino verhaftet und ihnen wird vor dem Tribunale speciale per la difesa dello Stato der Prozess gemacht. Obwohl noch etwa 60 weitere Mitglieder des slowenischen Widerstands vor Gericht standen, wurde der Prozess als Tomažič-Prozess bekannt, weil Pino der Hauptangeklagte war. Der Prozess löste in der gesamten Gemeinde einen Schock aus und spaltete selbst die ausländische Presse.47 Pino wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet, Stanko wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Jahre von Stankos Gefangenschaft machen den Hauptteil des Buches aus. 46 | Pahor äußert sich in Piazza Oberdan zu seiner Freundschaft mit Dani Tomažič: „Mit Pinos Schicksal war ich dann in besonderer Weise wegen der freundschaftlichen Nähe zu seiner Schwester Dani verbunden, die anlässlich ihrer Heirat mit dem christsozialen Führer Stanko Vuk die Trennung von ihrem Bruder, ihrem politischen Erzieher, erleben musste. Nach der ersten Phase entschiedenen Widerstandes gegen das ablehnende Verhalten des Bruders folgte ein eher ruhiger Zeitraum, wovon Briefe Zeugnis ablegen, die der Bruder im Gefängnis von ihr erhalten hat. […] Drei Jahre nach dem Tod des Bruders ging sie noch immer schwarz gekleidet, in der Stimmung des Volksbefreiungskampfes, von der wir alle erfüllt waren, sie konnte sich jedoch mit keiner Weltanschauung mehr anfreunden, nicht mit der des Bruders und nicht mit der des Gatten“ (Pahor: Piazza Oberdan, S. 84–85). Bezeichnenderweise geht Pahor kaum auf die rätselhaften und ungeklärten Umstände des Todes von Dani und Stanko ein, er erwähnt lediglich, dass Dani bei einem „heimtückischen Attentat ums Leben kam“ (ebd., S. 143). In Gli sposi deutet Tomizza an, dass Pahor seine Beziehung zu Dani Vuk möglicherweise in seinem wenig bekannten Roman Zatemnitev (dt. Die Verdunkelung, 1975) verarbeitet hat, in dem der Protagonist eine „storia d’amore“ mit der jungen bürgerlichen Slowenin Mija hat, deren Ehemann in Sardinien inhaftiert ist. Tomizza räumt der Frage, ob Pahors Roman auf wahren Begebenheiten basiert und ob Dani imstande war, Stanko zu betrügen, mit zehn Buchseiten relativ viel Raum ein. Auch wenn dieser Aspekt natürlich die wachsende Entfremdung zwischen den Liebenden zu erklären hilft, ist es doch etwas merkwürdig, dass Tomizza, der so sehr seine Unvoreingenommenheit als Chronist betont, sich so ausführlich mit der Frage beschäftigt, ob Dani ihren Ehemann betrügt (Tomizza: Das Liebespaar, S. 155–156).

47 | Eine ausführliche Analyse des Tomažič-Prozesses finden sich in: Verginella: Il confine degli altri, S. 7–33.

Kapitel 7

Tomizza zitiert ausführlich aus seinen Briefen, er interpretiert und kommentiert diese und beschreibt so die langsame Entfremdung der beiden Liebenden, deren charakterliche Unterschiede in dieser harten Zeit zusehends hervortreten. Stanko, der seine Frau offenbar sehr liebt, versucht, sie zu seiner perfekten spirituellen und intellektuellen Gefährtin zu machen. Er regt sie dazu an, dieselben Bücher zu lesen wie er und zum Glauben zu finden. Dani hingegen hat kein Interesse daran, sich zu bilden oder sich auf den Katholizismus einzulassen. Stattdessen hadert sie mit dem Tod ihres Bruders, eine Angelegenheit, die bleibend zwischen ihr und Stanko steht. Der gemeinsame Freund Boris Pahor scheint für Dani während dieser Zeit Ablenkung und Trost gewesen zu sein. Sie verbringen so viel Zeit miteinander, dass Stanko beginnt, an Danis Treue zu zweifeln. Die Probleme zwischen den beiden spitzen sich zu, als Stanko im Februar 1944 aus dem Gefängnis entlassen wird und nach Triest zurückkehrt. Das Wiedersehen des Liebespaars, das sich Stanko so oft sehnsüchtig ausgemalt hat, löst bei Dani, der ihr Ehemann fremd geworden ist, Angst aus, und sie weigert sich, das Bett mit ihm zu teilen. Die Unsicherheit und Verwirrung des Paares entspricht der allgemeinen Stimmung in der Stadt, die inzwischen von den Nationalsozialisten besetzt ist. Für Stanko stellt sich vor allem die Frage, ob er sich dem bewaffneten slowenischen Widerstand anschließen soll. Wie in ganz Italien war der Widerstand auch in Triest in unterschiedliche Gruppen zersplittert, die sich untereinander erbittert bekämpften. Zusätzlich gab es die Slovensko domobranstvo (Slowenische Landwehr) – wegen ihrer weißen Trenchcoats die „bianchi“ genannt –, die für die deutschen Besatzer arbeiteten; sie verhafteten etwa im Januar 1944 Boris Pahor. Da Stanko noch immer als der spirituelle Führer der slowenischen Katholiken Triests galt, wurde er von verschiedenen Seiten bedroht, vor allem von den Nazi-Sympathisanten. Daher beschloss das Paar, die Stadt zu verlassen und unterzutauchen, aber bevor die beiden Plan in die Tat umsetzen konnten, wurden sie in ihrer Wohnung erschossen. Tomizza erzählt von dem Mord, als würde er einen Polizeibericht nacherzählen. Er liefert einen genauen Bericht ihres letzten Abends. Stanko hatte sich für halb neun mit einem gewissen Doctor Zajc verabredet, der auf der Flucht vor den Kommunisten war. Warum Stanko dem Treffen zustimmte, ist unklar. Irgendwann zwischen neun und Viertel nach neun erhielten Danis Eltern einen Anruf von der Hausmeisterin des Mehrfamilienhauses in der Via Rossetti: Sie hatte Schüsse in der Wohnung gehört. Sie kamen eilig mit dem Schlüssel und der Polizei in die Wohnung, wo sie Dani, Stanko und Zajc tot auffanden. Von diesem Moment an wird der Roman zu einem Krimi. Tomizza beschreibt die Verletzungen der Toten detailliert und rekonstruiert den zeitlichen Verlauf des Mordes. Er prüft zudem die verschiedenen Zeugenaussagen, zum Beispiel die der Hausmeisterin, die aussagte, dass gegen neun Uhr drei Männer in weißen Trenchcoats mit blauen Baskenmützen die Treppe herunterkamen und „in schlechtem venezianischem Dialekt und mit slawischem Akzent“ mit ihr

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sprachen.48 Tomizza stellt sogar selbst Nachforschungen an: Er spricht mit Zajcs Witwe, von der er zusätzliche Informationen über das geheimnisvolle dritte Opfer erhält. Am Ende führen all die zusammengetragenen Informationen jedoch nur zu weiteren Spekulationen. Das Buch endet mit der Beisetzung des Paars im Familiengrab. In der Traueranzeige der beiden Familien ist vom „crudel destino“, einem grausamen Schicksal die Rede, dem Dani und Stanko zum Opfer fielen.49 In vielen seiner Texte über Istrien, aber vor allem in Gli sposi di via Rossetti versucht Tomizza ähnlich wie Pahor in Piazza Oberdan eine Verbindung zur Vergangenheit aufzubauen. Der hybride Charakter von Gli sposi, der Dokumentarbericht, Biographie und Detektivroman vermischt, spiegelt Tomizzas Auffassung, dass die Aufgabe des Autors in erster Linie ist, auf Basis authentischer Dokumente einen soliden und detaillierten historischen Rahmen zu präsentieren. Im Gegensatz zu Pahor fügt Tomizza keine Zitate aus historiographischen Arbeiten in den Text ein. Eher lässt er eigene Erklärungen in die Erzählung einfließen. Dies sowie die etwas spärliche Nutzung von genauen Daten machen den Text für einen Leser, der mit den historischen Details und den komplexen Beziehungen zwischen den verschiedenen rivalisierenden Gruppen der Widerstandsbewegung in Triest nicht vertraut ist, verwirrend. Um dem entgegenzuwirken, hat Tomizza dem Buch eine Bibliographie hinzugefügt, die mehrere historiographische Arbeiten auf Italienisch und Slowenisch auflistet. Wie Pahor ist Tomizza sich dessen bewusst, dass der dokumentarische Rahmen allein nicht ausreicht, um eine Beziehung zur Vergangenheit herzustellen. Er beschreibt seine Methode als Hineinzoomen auf die persönlichen Details eines Lebens, um einen Blick auf die „Wirklichkeit in ihrer historischen, politischen und menschlichen Dimension […] in Zeitlupe“50 zu erhaschen. Durch die Figuren Dani und Stanko, die authentischsten Verkörperungen der „giulianità“, der Julisch-Venezianischen Lebensweise, wird der größere historische Rahmen zugänglich: „Im Laufe ihrer privaten und öffentlichen Geschichte beginnen wir, die Bräuche, den Zeitgeist, die fragmentarische Chronik und die bedeutendsten Ereignisse in Italien in den 1930er Jahren und dem wichtigsten Teil der 1940er Jahre zu sehen.“51 Daher widmet Tomizza den emotionalen Reaktionen seiner Protagonisten viel Aufmerksamkeit und füllt die Lücken mit seinen eigenen Interpretationen, Beobachtungen und Gedanken. Tomizza stellt seine Version der Geschichte und seine Rekonstruktion des Mordes nicht als endgültig dar: Am Ende von Gli sposi ist nichts geklärt. Der Leser muss für sich selbst die tieferen Implikationen der Geschichte ergründen. Bezeichnenderweise waren die Täter gerade dieses Verbrechens weder Faschisten noch Nationalsozialisten, sondern Slowenen. In der Geschichte, so betont Tomizza, gehe es nicht immer 48 | Tomizza: Das Liebespaar, S. 171. 49 | Ebd., S. 184. 50 | Fulvio Tomizza: „Rif lessioni sui miei ‚sposi‘“, in: Alle spalle di Trieste: Scritti 1969– 1994. Milano: Bompiani 1995, S. 105–109, hier S. 107.

51 | Ebd., S. 106.

Kapitel 7

nur um die Frage nach Gut und Böse, Täter und Opfer. Seine Aufgabe als Schriftsteller sei es, die Grauzonen zurückzuerobern und zwischen den Zeilen zu lesen – oder eine Geschichte davor zu bewahren, ausradiert oder überschrieben zu werden. Tomizza berichtet, wie er die Geschichte von Dani und Stanko Vuk einmal buchstäblich vor dem Verschwinden gerettet hat, als ein paar der Briefe, die am offenen Fenster auf seinem Schreibtisch lagen, bei einem plötzlichen Gewitterregen nass wurden. Mehrere der Briefe waren daraufhin völlig unleserlich, da die Tinte sich im Regen aufgelöst hatte. Tomizza befürchtete das Schlimmste, aber nachdem er die Brief bögen getrocknet und gebügelt hatte, war noch immer der leichten Abdruck erkennbar, den Stankos Stift auf dem Briefpapier hinterlassen hatte52 – ein ergreifendes Bild der materiellen Spuren, die diese Geschichte hinterlässt, nachdem die Worte und Stimmen ihrer Akteure längst verklungen sind.

L iter atur

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Kehren wir noch einmal zu Magris’ Diagnose von Triest als Stadt der Schriftsteller zurück, die alle versuchen, die unüberbrückbaren Unterschiede und Widersprüche in der Geschichte der Stadt und ihren verschiedenen Ethnien und Kulturen darzustellen. Magris beschreibt die Stadt nicht so sehr als einen Schmelztiegel „als vielmehr eine Gruppe von Inseln“53 und meint damit, dass sie aus einer Vielzahl disparater Elemente besteht, die von einem Meer von Unverständnis und gegenseitigem Misstrauen getrennt sind. Bezeichnenderweise sind die durchaus existierenden Berührungspunkte gleichzeitig auch die am stärksten umkämpften: dies sind gerade die traumatischen Ereignisse, derer in der Risiera di San Sabba und in der Foiba di Basovizza gedacht wird. Wir haben bereits gesehen, wie Boris Pahor versucht, die Spaltung zwischen der italienischen und der slowenischen Gemeinde zu überwinden, indem er die Foibe-Tötungen als gemeinsames Trauma darstellt. Aber die Foibe bleiben ein extrem kontroverser und polarisierender Ort in der italienischen Erinnerungslandschaft. Dasselbe gilt auch für die Risiera di San Sabba. Wie ich in Kapitel 5 gezeigt habe, ist die Risiera weder unproblematisch noch hat sie eine einende Funktion in der Region. Aber sie wird von vielen nichtsdestotrotz als Ort einer gemeinsamen Geschichte gesehen, an dem die Schicksale vieler verschiedener Gruppen miteinander verflochten sind. Genau aus diesem Grund zeigt ein Blick auf die verschiedenen Darstellungen der Risiera und der Erinnerung an die dort verübten Verbrechen einen Querschnitt durch die unzähligen Strategien, die Schriftsteller in den letzten 70 Jahren ange-

52 | Vgl. Tomizza: Le mie estati, S. 139–140. 53 | Magris: „Un mito al quadrato“, S. 1393–1397.

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wendet haben, um diese gemeinsame und doch gespaltene Geschichte aufzuarbeiten.54 Bezeichnenderweise gibt es kaum Zeugenaussagen von Überlebenden, die sich eingehender mit der Risiera beschäftigen.55 Von den wenigen Überlebenden, die sich entschieden, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, betrachteten viele die Risiera oft nur als Zwischenstation, das dort Erlebte wurde von den späteren Erfahrungen in Konzentrationslagern wie Auschwitz völlig in den Schatten gestellt. Einer der ersten literarischen Texte zur Risiera waren Bruno Piazzas KZ-Erinnerungen Perché gli altri dimenticano: Un italiano ad Auschwitz [Damit die anderen vergessen: Ein Italiener in Auschwitz], die er kurz vor seinem Tod 1946 schrieb und die 1956 veröffentlicht wurden. Der Hauptteil von Piazzas Memoiren widmet sich den fünf Monaten, die er in Auschwitz verbrachte. Seine Zeit in der Risiera ist in die Rahmenerzählung verbannt. Piazza wurde nach einer anonymen Denunziation am 13. Juli 1944 verhaftet und einige Tage in der Risiera interniert, bis er in ein anderes SS-Gefängnis in der Via Coroneo gebracht wurde, von wo aus er am 30. Juli nach Auschwitz deportiert wurde. Piazzas Schilderungen handeln hauptsächlich von dem Elend und dem Läusebefall, die auftraten, weil man so viele Menschen auf so engem Raum einsperrt hatte, sowie von der harten körperlichen Arbeit, die die Gefangen verrichten mussten, und die Beliebigkeit, mit der Gefangene exekutiert wurden. Jede Nacht wurden politische Gefangene erschossen, und manchmal traf es auch jüdische Gefangene. Trotz allem, schreibt Piazza, hätte er die Gefangenschaft in der Risiera in jedem Fall der Deportation vorgezogen: alle Gefangenen sprachen Italienisch, es gab ausreichend Essen, Decken gegen die Kälte und Möglichkeiten, sich sauber zu halten. Eine ähnliche, sehr kurze Beschreibung von der Risiera als einer Art Vorraum zu Auschwitz findet man in den Memoiren anderer Überlebender, zum Beispiel in Marta Ascolis Auschwitz è di tutti [Auschwitz gehört allen] aus dem Jahr 1998. Diese Texte wurden in Italien von der Kritik kaum beachtet, Übersetzungen in andere Sprachen gibt es nicht.56

54 | In Hinblick auf ein europäisches Erinnerungsprojekt betont der Politikwissenschaftler Claus Leggewie die Zweideutigkeit der deutschen Formulierung „geteilte Erinnerung“. Aus diesem Blickwinkel betrachtet beinhaltet die Idee einer geteilten Erinnerung immer bereits ein anderes, das sie somit unheimlich macht. Vgl. Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung.

55 | Vgl. Matta: Il Lager di San Sabba, S. 42–45. 56 | Die einzige umfassende Analyse von Piazzas Buch ist Risa Sodi: „Bruno Piazza e il destino degli ebrei triestini“, in: Qualestoria 25.1 (1997), S. 105–140; und dies.: Narrative & Imperative: The First Fifty Years of Italian Holocaust Writing (1944–1994). New York: Peter Lang 2007. Sodi fasst die wenigen Rezensionen zu Piazzas Erinnerungen zusammen, die nach der posthumen Veröffentlichung erschienen. Darunter war auch ein revisionistischer Artikel über die Risiera, in dem Piazzas Memoiren als Beleg für die Behauptung herhalten müssen, dass die Risiera kein Vernichtungslager war. Da Piazza ein Krematorium in der Risiera nicht

Kapitel 7

Der Schriftsteller Giani Stuparich war vermutlich der berühmteste Überlebende der Risiera, aber er weigerte sich kategorisch, von seinen Erfahrungen dort zu berichten. Stuparich war in der Risiera zusammen mit seiner Frau und seiner Mutter im August 1944 sechs Tage lang in der Risiera inhaftiert, aber sie wurden nach dem Einschreiten des Bischofs von Triest freigelassen. In seinen Memoiren Trieste nei miei ricordi [Triest in meiner Erinnerung] (1948) erwähnt Stuparich zu seinen Erfahrungen in der Risiera nur das Folgende: Am 8. September, als die Deutschen einmarschierten, hat sich die Lage noch verschlechtert und ich fand mich zusammen mit meiner Mutter und meiner Frau an der Schwelle des Todeslagers wieder. (Unsere Verhaftung und die Woche, die wir in der Risiera verbrachten sind jedoch ein Kapitel, das außerhalb des Rahmens dieser Memoiren liegt und das ich vielleicht eines Tages an anderer Stelle schreiben werde). Hier sei nur so viel gesagt: Triest hat mich verraten, und Triest, und dabei meine ich die anderen Mitbürger, die sich um mich sorgten und die in der Mehrzahl waren, hat rebelliert und mich, wie ich bereits angedeutet habe, aus den Fängen der SS befreit. So nahe waren die Guten den Schlechten. 57

Bemerkenswert an dieser Passage ist Stuparichs Hinweis, dass er diese zweifelsohne traumatischen Erinnerungen nicht zum Teil seiner Memoiren machen oder auch nur zugeben möchte, dass sie Teil jenes Lebens ist, von dem er hier erzählt. Es scheint, als würde er sich dafür schämen oder schuldig fühlen, dass er nur „an der Schwelle des Todeslagers“ war, während so viele Millionen dort tatsächlich umkamen.58 Stuparich starb 1961, ohne jemals über die Risiera geschrieben zu haben. In Anbetracht des Schweigens oder sogar der Weigerung der Überlebenden und der Augenzeugen, von ihren Erfahrungen zu berichten, muss man an anderen Orten und in anderen Genres nach literarischen Berichten zur Risiera suchen, nämlich bei Schriftstellern, die zu den Erfahrungen in der Risiera etwas mehr Distanz haben, aber die sich dafür einsetzen, dass diese Erinnerung in Triests Erinnerungslandschaft bewahrt wird.59 Ich möchte dieses Kapitel mit der Untersuchung einer anderen wichtigen Figur in der Triestiner Literatur schließen, dessen Leben und Werk einen Großteil des 20. Jahrhunderts überspannt: Carolus L. Cergoly, dessen im Triestiner Dialekt verfasste Gedichte Elemente aus all den explizit erwähnte, so folgern die Autoren dieses Artikels, dass es auch keines gab. Folglich sei die Risiera lediglich ein Konzentrationslager gewesen (Sodi: Narrative and Imperative, S. 95).

57 | Giani Stuparich: Trieste nei miei ricordi. Milano: Garzanti 1984, S. 200. 58 | Vgl. Bruno Vasari: Giani Stuparich: Ricordi di un allievo. Trieste: Lint 1999. 59 | Zu diesen gehören auch die hier nicht untersuchten Romane Heldenfriedhof von Thomas Harlan (Berlin: Eichborn 2006), Sonnenschein von Daša Drndić (Hamburg: Hoffmann & Campe 2015), und Verfahren eingestellt von Claudio Magris (München: Hanser 2017), sowie die Graphic Novels Aida al conf ine von Vanna Vinci (Bologna: Kappa Edizioni 2003) und Torri di Fumo. Una storia di Trieste von Eugenio Belgrado (S. Angelo in Formis: Lavieri 2012).

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verschiedenen sprachlichen und kulturellen Bereichen in der Region sowie Spuren verschiedener historischer Epochen enthalten.

C ergolys G e wissen Cergoly, der 1908 in Triest geboren wurde, begann seine literarische Karriere als Mitglied des Triestiner Futuristenzirkels Circolo de Magalà, in dem er unter dem Pseudonym Sempresù schrieb. In den 1930er Jahren begann er, Gedichte in den venetischen und Triestiner Dialekten zu schreiben, und bis Kriegsbeginn hatte er bereits mehrere Sammlungen veröffentlicht. 1940 trat er dem Italienischen Roten Kreuz bei und 1944 der italienischen Partisanen-Brigade Fontanot, die zum IX. Corps von Titos Volksbefreiungsarmee gehörte. In den ersten Nachkriegsjahren gründete Cergoly die unabhängige demokratische Zeitung Il Corriere di Trieste, die für die Unabhängigkeit von Julisch Venetien eintrat und eine umfassende Entfaschistisierung forderte.60 In den 1970er und 80er Jahren veröffentlichte er seine berühmtesten Gedichtsammlungen im Triestiner Dialekt, in denen es um das habsburgische Erbe von Triest und die mitteleuropäische Identität der Stadt (z.B. Il Portolano und Latitudine Nord)61 sowie das Vermächtnis von Faschismus und Nationalsozialismus geht (z.B. Inter Pocula und Ponterosso, die beide den jüdischen, slowenischen und kroatischen Opfern der faschistischen und nationalsozialistischen Verfolgung gewidmet sind). Cergolys Triestiner Dialekt ist durchdrungen von der Sehnsucht nach der untergegangenen und idealisierten Welt des Habsburgerreiches, in dem Italienisch nur eine unter vielen Sprachen war. Dieser Dialekt, der mit deutschen, slawischen und jiddischen Wörtern und Ausdrücken gespickt ist, wird zu einer sprachlichen Manifestation eines mythischen Habsburgerreiches, in dem die vielen verschiedenen Ethnien und Religionen in Triest friedlich zusammenlebten. Cergolys Poesie kann somit gelesen werden als „eine Form des politischen Protests gegen eine als unerträglich empfundene (National) Geschichte, die Zurückweisung der aus allen Fugen geratenen Gegenwart, eine bewußte Regression auf eine idealisierte Übernation.“62 Sieht man sich ein paar der Gedichte aus Inter Pocula und Ponterosso an, vor allem die „Canti Clandestini“, fällt einem sogleich nicht nur der minimale Platz auf, den sie auf der Buchseite einnehmen, sondern auch der fragmentarische Stil:

60 | Vgl. Lunzer: Triest, S. 383. 61 | Kritische Untersuchungen von Il Portolano und Latitudine Nord u.a. in: Primus-Heinz Kucher: „Hohò Trieste“, S. 101–109; Luciana Borsetto: „Trieste segreta. Le poesie mitteleuropee di Carolus L. Cergoly“, in: La Rassegna della letteratura italiana 82.1–2 (1978), S. 191–221; und Lunzer: Triest, S. 378–405.

62 | Lunzer: Triest, S. 387; Hervorhebungen im Original.

Kapitel 7 Arone Pakitz Ebreo coi rizzi Del ghetto de Cracovia Un misirizzi Import Export Morto a Varsavia Suo fio Simon Chirurgo a Vienna Fatto baron Per ordine del Kaiser Morto a Gorizia Paola sua fia Cantante d’operetta Fatta savon Per ordine del Führer Morta a Mauthausen 63 Aaron Pakitz | Jude mit lockigem Haar | Aus dem Krakauer Getto | Ein Stehaufmännchen | Import Export | Gestorben in Warschau || Sein Sohn Simon | Chirurg in Wien | Zum Baron gemacht | Auf Anordnung des Kaisers | Gestorben in Gorizia || Paola seine Tochter | Operettensängerin | Zu Seife gemacht | Auf Anordnung des Führers | Gestorben in Mauthausen

Ein weiteres Gedicht erzählt außerdem die Geschichte von Gino Parin (1876– 1944, geboren als Federico G. Pollack), einem jüdischen Maler aus Triest, der in der Risiera starb: Gino Parin Pittor El se firmava Ma in Sinagoga Sui libri Pollack el se ciamava Fermà una sera Per schiarimenti Portà in Risiera

63 | Carolus L. Cergoly: Ponterosso: Poesie mitteleuropee in lessico triestino. Milano: Guanda 1976, S. 49–50.

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Unheimliche Geschichte Nissun più lo ga visto Al solito Caffè Del Ponterosso Ieri el camin Buttava fumo Tutto de colori Su serrade finestre Disperade Del rion De San Sabba 64 Gino Parin | Maler | Schrieb er seinen Namen | Aber in der Synagoge | In den Büchern | War sein Name Pollack || Eines Nachts festgenommen | Zur Auf klärung | In die Risiera gebracht || Keiner hat ihn je wiedergesehen | Im üblichen Café | beim Ponterosso || Gestern hat der Kamin | Rauch ausgespuckt | In allen Farben | Auf verschlossene Fenster | Verzweifelte Fenster | Im Viertel | San Sabba

Cergoly nennt die Namen der Opfer, ihre Berufe und die Umstände ihres Todes, als würde er diese Details auf ihre Grabsteine oder eine Gedenktafel einmeißeln.65 Die Gedichte haben keine Titel. Sie beginnen manchmal mit einem Namen, manchmal mit einem Bild – „Fuma el camin | mattina e sera“ [Der Kamin raucht | Tag und Nacht]66 –, und sie enden so abrupt, wie sie begonnen haben. Dieser Stil der lyrischen Aufzählung ist von einem Übermaß an Nomen und einem Stakkato-Rhythmus ohne Satzzeichen geprägt, ein Katalog, eine trauervolle Bestandsaufnahme der Verluste. Zusätzlich verwendet Cergoly eine Art Montage-Technik, indem er verschiedene Arten der Verfolgung („lagher torture forni“ [Lager Folterungen Öfen]67), deutsche Begriffe und Zitate (Kapo, Führer, „Ordnung“) oder Textschnipsel, die wie Nachrichten klingen, einfügt, zum Beispiel „Stasera ‚Parsifal‘ | Di Richard Wagner | Toscanini dirige“ [Heute Abend: Parsifal | Von Richard Wagner | Toscanini dirigiert].68 Cergolys Gedichte, die größtenteils auf Pathos verzichten, nehmen eine quasi-dokumentarischen Form an: Er lässt die Fakten, die vielen Toten, für sich selbst sprechen. Das lyrische Ich tritt größtenteils hinter die Menschen zurück, derer in den Gedichten gedacht wird. Wo es sichtbar ist, übernimmt das Ich stets die 64 | Ebd. 65 | Tatsächlich erinnert das Format der ersten vier Stanzen (Name, Beruf, Sterbeort) geradezu unheimlich an die Inschriften auf Gunter Demnigs Stolpersteinen, die ich in Kapitel 1 erwähnt habe.

66 | Cergoly: Ponterosso, S. 53. 67 | Ebd., S. 54. 68 | Ebd., S. 53.

Kapitel 7

Rolle des unbeteiligten Chronisten der Ereignisse. Nur in bestimmten Adjektiven oder Redewendungen tritt eine subjektivere Haltung gegenüber dem Inhalt in Erscheinung. In einem Gedicht schreibt Cergoly zum Beispiel: Lagher torture forni vista no la go più Anaw Regina Bella come sto nuvolo In marina Fermo sul Ponterosso 69 Lager Folterungen Öfen | ich habe sie nie wieder gesehen | Anaw Regina | Schön wie diese Wolke | die sich im Hafen spiegelt | Regungslos auf dem Ponterosso

Über einen toten Kameraden bei den Partisanen schreibt er: „Le sue povere man | Senza ongie pianzeva | Tutto sbregado storto | In cella ributtà“ [Seine armen Hände | Ohne Fingernägel weinte er | Ganz verwüstet zerbrochen | In eine Gefängniszelle geworfen].70 Die Adjektive „bella“ und „povere“ lassen hier eine persönlichere, mitfühlendere Haltung den Opfern gegenüber durchscheinen. Aber so plötzlich wie er erscheint, kann dieser Hauch von Mitleid sich auch in bittere Ironie verwandeln. Unmittelbar nach der Beschreibung der verstümmelten Hände des Partisanen lesen wir: „Nudo e senza cassa | Cussì el e sta interrà | E bella ciao | Viva la Libertà“ [Nackt und ohne Sarg | So wurde er begraben | Und bella ciao | Es lebe die Freiheit].71 Laut der Literaturwissenschaftlerin Luciana Borsetto betont Cergoly, indem er ausschließlich jüdische, slowenische und kroatische Opfer auflistet (die Namen im Gedicht sind alle entweder jüdisch oder slawisch), „den individuellen Preis, den vor allem die jüdische und slawische Minderheit zahlen musste“.72 Da Cergolys Triestiner Dialekt Elemente aller Sprachen, die in der Stadt gesprochen werden, enthält, ist er Borsetto zufolge das ausgleichende Element, das die Kontaktpunkte herausfiltert und die Verschmelzungen sowie deren Hindernisse, die Amalgame und die unauf lösbaren Diversitäten hervorhebt. Geschichtsbewusstsein verwandelt ihn [den Triestiner Dialekt] in eine Sprache des Gewissens, ein Vokabular der Idee der Supranationalität, die sowohl vor dem Italienisch des Regimes als auch vor dem Deutschen f lieht und deren nationalistische Inhalte de-mystifiziert, eine ‚territoriale‘ Sprache der Toleranz, der Höf lichkeit, und der Sinngebung angesichts

69 | Ebd., S. 54. 70 | Ebd., S. 59. 71 | Ebd. 72 | Borsetto: „Trieste segreta“, S. 208.

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Unheimliche Geschichte der vom Staat und seiner tyrannischen Politik ‚de-territorialisierten‘ und formalisierten Sprachen. 73

Wie bei Tomizza dient der istrische Dialekt bei Cergoly als Vermittler zwischen den verschiedenen Landessprachen in der Stadt. Eine „Sprache des Gewissens“, die nicht nur die Erinnerung an die in den Gedichten erwähnten Menschen bewahrt, sondern selbst ein Akt des Bewahrens ist. Primus-Heinz Kucher nennt das „Inventarisierung“ – eine Bestandsaufnahme von Triests verlorener Mehrstimmigkeit. Kucher bezeichnet die Fragmente aus unterschiedlichen Sprachen, die Cergolys Poesie durchziehen, als „Sprachsplitter“. Dies ist eine treffende Beschreibung, denn sie sind, wie Kucher erklärt, ein „Ausdruck einer existenziellen Verstörung.“74 Die Fragmentierung, die der Leser auf sprachlicher Ebene wahrnimmt, spiegelt mit anderen Worten jene Fragmentierung der ganzen Region, die durch die politischen und kulturellen Umbrüche des 20. Jahrhunderts hervorgerufen wurde. Hier wird der Unterschied zu Tomizzas linguistischem Projekt deutlich: Während das Einstreuen dialektaler Elemente in Tomizzas ansonsten in Standarditalienisch geschriebenen Texten einem Konservieren gleichkommt, ähnlich prähistorischen Insekten in Bernstein, verhindert die ironische Distanz gegenüber dem Inhalt, die Cergoly in seinen Werken wahrt, dass sein linguistisches Projekt die utopische Dimension von Tomizzas Arbeiten erhält. Die Sprachsplitter in Cergolys Texten markieren die Zerstörung von etwas, das zuvor dort existiert hat. Das ist die Dialektik des Fragments: um etwas zu bewahren, muss man eingestehen, dass es unwiederbringlich verloren ist.

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Alle drei in diesem Kapitel untersuchten Autoren übernehmen die Rolle stellvertretender Zeugen. Auf unterschiedliche Weise beschäftigen sich Pahor, Tomizza und Cergoly mit dem Problem, in einem Klima von politisch motiviertem historischem Revisionismus eine „authentische“ Verbindung zur Vergangenheit aufzubauen und die Erinnerung an die vergessenen Opfer zu bewahren – vor allem an die Slowenen und Kroaten, aber auch an die Juden. Wie die verschiedenen stellvertretenden Zeugen, die ich in Kapitel 3 untersucht habe, rücken diese Autoren den historiographischen Prozess in den Vordergrund, durch den diese Geschichten ans Tageslicht gebracht werden, und sie betonen die Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Darüber hinaus spielt die Sprache beim Wiedererlangen dieser Erinnerungen der Minderheiten eine entscheidende Rolle. Sprache wird nicht nur zu einem Medium für Erinnerung und Zeugenschaft, sondern ist auch selbst ein Zeugnis sowie ein politisches Statement. Pahors Entscheidung, 73 | Ebd. 74 | Kucher: „Hohò Trieste“, S. 102.

Kapitel 7

ausschließlich auf Slowenisch zu schreiben, ist ein Statement gegen das dominante Paradigma des Italienischen. Dasselbe gilt für Cergolys Dialektpoesie und Tomizzas hybrides Italienisch, die beide eine (re-)konstruierte Sprache darstellen, welche alle ethnischen und kulturellen Wurzeln Triests wiederspiegeln. All diese Autoren bewohnen das, was Homi Bhabha als „dritten Raum“ bezeichnet, die liminale Zone zwischen verschiedenen ethnischen und nationalen Gruppen, wo, so Bhabha, Kultur artikuliert und fortlaufend ausgehandelt wird. Die Grenze fungiert mehr als Kontaktpunkt denn als Trennlinie, ein Medium, durch das kulturelle, nationale und politische Identitäten etabliert und hinterfragt werden. Die Grenze markiert laut Bhabha also nicht den Endpunkt einer Nation oder Identität, sondern eher, wie bei Martin Heidegger, den „Ort, von woher etwas sein Wesen beginnt.“75 Bhabha bezieht sich hier auf den Aufsatz „Bauen Wohnen Denken“, in dem Heidegger über das Wesen der Brücke reflektiert. „Der Ort“, so Heidegger, ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort. 76

Heidegger stellt sich die Brücke als einen Ort vor, der „eine Stätte einräum[t].“77 Diese Vorstellung hilft uns, zu verstehen, warum das Motiv der Brückenbildung für den Begriff eines Erinnerungsraumes, das ich in diesem Buch weiterentwickelt habe, so zentral ist. Die beiden Orte, die ich untersucht habe, setzen sich aus heterogenen Elementen zusammen, die erst durch einen Akt der Brückenbildung gemeinsam einen Ort bilden. Wie ich in der Einleitung anhand des Bildes der Diffraktion erläutert habe, geht die Idee des Ortes als ein dynamischer und nicht-hierarchischer Komplex und weniger als feste und stabile Einheit nicht einem Akt des Bobachtens voraus, sondern er wird aus einer bestimmten Perspektive, die diese disparaten Elemente an einem einzigen Punkt „sammelt“, als Erinnerungsraum erst beobachtbar. Der „Ort“ als solcher existiert nicht unabhängig von einem Beobachter. Daher muss jeder, der diesen Ort beobachtet (d.h. studiert), die Vielzahl anderer Perspektiven, die ihn mit-schaffen, berücksichtigen. Ein „Erinnerungsort“ ist also inhärent multidirektional und damit nicht auf eine einzelne Perspektive oder einen Wesenskern reduzierbar. Die (An-)Erkennung seiner intrinsischen Ungreif barkeit und Instabilität, dass er nicht – oder zumin-

75 | Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 7.

76 |  Martin Heidegger: „Bauen Wohnen Denken“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze. 2. Auflage. Pfullingen: Günter Neske 1959, S. 145–162, hier S. 154; Hervorhebungen im Original.

77 | Ebd., S. 154.

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dest nicht ausschließlich – das ist, was man uns gesagt hat, das er sei, macht diesen Ort unheimlich. Für Bhabha ist der Begriff des Unheimlichen von wesentlicher Bedeutung im Prozess der kulturellen Neuverhandlung, der an der Grenze beginnt, weil es die stabile und essenzialistische Vorstellung von Nationalidentität als etwas, das um ein kohärentes Zentrum herum strukturiert ist, und das nicht fortwährend am Rand konstruiert wird, destabilisiert. Die in diesem Kapitel untersuchten Autoren machen Triest in ihren Texten unheimlich, indem sie die verdrängten Konflikte, die sich unter der Oberfläche verbergen, offenlegen. Das Bild von Triest, das in ihren Erzählungen und Gedichten entsteht, steht oft im krassen Widerspruch zu dem offiziellen, hegemonialen Bild von Triest in populären Darstellungen. Die Bewohner dieses unheimlichen dritten Raums erfahren ein ständiges Ineinanderfließen von Privatem und Öffentlichem, von Persönlichem und Politischem. „Das Unheimliche“, schreibt Bhabha, „ist das verbindende Element zwischen den traumatischen Ambivalenzen einer persönlichen, psychischen Geschichte und den umfassenderen Brüchen der politischen Existenz.“78 Das wurde beispielsweise in Piazza Oberdan besonders deutlich, wenn Pahors eigene Biographie mit der Geschichte der Stadt verschmilzt. Es ist unbestreitbar, dass Triest schon immer von seiner Grenznähe geprägt war, aber die Grenze wurde meistens als eine Trennlinie verstanden, welche die Stadt als Hochburg des Italienischen gegen einen bedrohlichen, „barbarischen“ Osten abschirmt. Aber die Grenze kann auch als Verbindungsstelle von Kulturen und Identitäten aufgefasst werden, die in verschiedene Richtungen hin offen ist. In dieser Perspektive ist die Grenze ein Ort produktiver Spannung und steckt „das Terrain ab, von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen.“79 Rezensionen von Triestiner Literatur und ihrem multikulturellen Charakter bewegten sich meist entlang einer Nord-Süd-Achse und überhöhten Triests habsburgisches Erbe, um dessen „triestinità“ zu definieren. Die gleichfalls sehr präsente, aber stärker spaltende Ost-West-Achse wurde – zumindest auf italienischer Seite – größtenteils verleugnet. Wie die Werke, die hier und in Kapitel 6 untersucht wurden, zeigen, wird die Identität der Stadt und ihrer Bewohner von dieser Beziehung zwischen Italien und den Staaten des ehemaligen Jugoslawien jedoch noch immer geprägt und infrage gestellt.

78 | Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 16. 79 | Ebd., S. 2.

Schlussbemerkung E in Tag

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L eben

eines

F aschisten

Das Oszillieren zwischen Gedenken und bürgerschaftlichem Engagement, das ich in Kapitel 6 in Bezug auf Renato Sartis I me ciamava per nome: 44.787 beschrieben habe, lässt sich auch in seinen neueren Stücken beobachten. Mit seinem Stück La nave fantasma (2004) versucht er beispielsweise, das Schweigen um einen Vorfall im Dezember 1996 zu brechen, als 283 Migranten direkt vor der Küste Siziliens im Mittelmeer ertranken. Dieses Stück ist heute, im Kontext der Flüchtlingskrise, noch relevanter, vor allem wenn man an den Tod Tausender Flüchtlinge im Mittelmeer denkt.1 In Chicago Boys (2009, inspiriert von Naomi Kleins Buch The Shock Doctrine (dt. Die Schock-Strategie), prangert Sarti die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Ländern an, denen zusätzlich Unwetter und andere Naturkatastrophen zu schaffen machen. Sarti versucht also nicht nur, vergessene Geschichten und unbequeme Wahrheiten ans Licht zu holen, sondern er regt auch dazu an, sich kritischer mit dem, was in den Medien über die Vergangenheit oder Gegenwart zu sehen, lesen oder hören ist, auseinanderzusetzen. Mai morti [Nie gestorben] aus dem Jahr 2000 ist sein bisher am heftigsten diskutiertes Stück. Der Titel bezieht sich auf eines der berüchtigtsten Bataillone der Decima Flottiglia MAS, einer Elite-Spezialeinheit der Marine, deren Mitglieder während des Zweiten Weltkriegs mehrere Kriegsschiffe der Alliierten sowie Handelsschiffe versenkten, die aber auch in den Kampf gegen Partisanen involviert waren. Das Stück ist ein etwa 70-minütiger Monolog, in dem der Protagonist, ein begeisterter Faschist und ehemaliges Mitglied jener Einheit der Decima MAS, in Erinnerungen an die Heldentaten während des Faschismus schwelgt. Diese reichen vom Einsatz von Giftgas gegen die Zivilbevölkerung während der italienischen Kolonialkriege in Afrika über die Exekution von Hunderten Zivilisten der 1 | Im Jahr 2016 allein sind nach Schätzungen des Flüchtlingshilfewerks der Vereinten Nationen (UNHCR) ca. 5.000 Flüchtlinge im Mittelmeer umgekommen; vgl. UNHCR: „Mediterranean Sea: 100 people reported dead yesterday, bringing year total to 5,000“, 23. Dezember 2016. Vgl. http://www.unhcr.org/news/briefing/2016/12/585ce804105/mediterranean-sea-100-people-reported-dead-yesterday-bringing-year-total.html (Letzter Zugriff: 7. Oktober 2017).

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koptischen Gemeinde in Debrà Libanos in Äthiopien im Jahr 1937, darunter viele Mönche, bis hin zur Folterung von Partisanen in Mailand, Turin und der Region Triest in den letzten beiden Kriegsjahren. Doch damit endet sein Schwelgen über vergangene Gewalttaten im Namen des Staates noch nicht. Die Erzählung reicht bis in die Gegenwart und deckt Verbindungen auf, die einige Mitglieder der Decima MAS bis heute pflegen, und die Positionen, die sie in der heutigen Republik innehaben. In seinen geradezu wahnhaften Phantasien erinnert sich der Protagonist an aktuellere Fälle, in denen Angehörigen der Decima MAS die öffentliche Ordnung erfolgreich gegen Anarchisten, Zigeuner, Immigranten und „extracomunitari“ sowie Homosexuelle und Drogensüchtige „verteidigten“. So erinnert er sich beispielsweise wehmütig an die Ermittlungen nach dem Bombenanschlag auf der Piazza Fontana in Mailand im Jahr 1969, dem weitere Bombenanschläge durch neofaschistische Extremisten folgten, mit der diese die Bevölkerung gegen linke Anarchisten auf bringen wollten. Der Hauptverdächtige für die Anschläge, der anarchistische Bahnarbeiter Giuseppe Pinelli, kam unter nie geklärten Umständen während eines Verhörs ums Leben, als er aus dem vierten Stock des Polizeipräsidiums fiel. Der Protagonist erwähnt auch den Bombenanschlag auf eine slowenische Schule in Triest im Jahr 1974 sowie die gewalttätigen Polizeiaktionen während Straßenprotesten zum Beispiel während des G8-Gipfels in Genua 2001, als über 400 Demonstranten bei Auseinandersetzungen mit der Polizei oder nächtlichen Razzien schwer verletzt wurden und ein 23-jähriger Student von einem Carabiniere erschossen wurde. All diese Ereignisse vermischen sich in dem weitläufigen Monolog, bei dem der Protagonist, der zunächst mit einer Sonnenbrille und einer Flasche Whiskey in der Hand auf dem Bett liegt und dann in seiner Uniform im Zimmer auf und ab marschiert, schreit, lacht, flüstert, mit einer Pistole aus dem Zweiten Weltkrieg – „das Geschenk eines SS-Offiziers“ – herumfuchtelt und seinen Arm zum faschistischen Gruß hebt, betrunken die Höhepunkte seiner Karriere rekapituliert und den Verlust der guten alten Zeit voller Kameradschaft und Tatkraft betrauert. „Diese Hände“, klagt er, „diese Hände, zu lange schon untätig, sie jucken, oh wie sie jucken und keine Erlösung finden.“2 Er singt die Hymne der Decima MAS und beschreibt detailliert Foltermethoden und die Wirkung von Giftgas auf den menschlichen Körper. Er provoziert etwa mit Aussagen wie: „In Afrika haben wir nie Giftgas eingesetzt! Ha ha ha! Natürlich haben wir in Afrika Giftgas eingesetzt! Und heutzutage regen die Leute sich schon auf, wenn ein schwarzer Mittelfeldspieler im Fußballstadion ein paar Mal ausgepfiffen wird!“3 Zum Ende des Stückes geht er ins Publikum, um den Zuschauern von seiner erfolgreichen 2 | Renato Sarti: Mai morti. Mit Bebo Storti in der Hauptrolle. Videoaufnahme einer Aufführung des Teatro della Cooperativa, Milano, beim Festival Costituzione in S. Daniele del Friuli am 6. Juni 2014, YouTube [13:35–13:52]. (Letzter Zugriff: 7. Oktober 2017).

3 | Ebd. [28:16–28:28].

Schlussbemerkung

Arbeit als Mitglied eines Komitees zu erzählen, das die öffentliche Ordnung fördert, indem es Homosexuelle, Prostituierte, Immigranten und Drogensüchtige, all die unerwünschten „Elemente“ der italienischen Gesellschaft, überwacht und, wenn nötig, einschüchtert und verhaftet. In einer letzten, geradezu manischen Vision sieht er sich selbst als den heldenhaften Verteidiger des Vaterlandes, der bereit wäre, wenn nötig seine eigene Mutter zu ermorden, und beendet das Stück mit einem furchteinflößenden „Sieg Heil!“ Bei seiner Uraufführung im Jahr 2000 anlässlich der Maratona di Milano, eines Theaterfestivals, das eine ganze Nacht dauert, löste das Stück einen kleinen Skandal aus und spaltete Publikum und Kritiker. Seither wird das Stück überall auf der italienischen Halbinsel aufgeführt, in Theatern in allen größeren Städten, aber auch in Schulen, Gemeindezentren und kleineren Dörfern. Als Protagonist treten abwechselnd Renato Sarti selbst oder der Schauspieler Bebo Storti auf, für den das Stück ursprünglich geschrieben worden war.4 2003 veröffentlichte die Verlagsgruppe Mondadori den Text zusammen mit einer Videoaufnahme des Stückes. Anlässlich des zehnten Jahrestags der Uraufführung wurde das Stück 2010 erneut sechs Mal vor ausverkauftem Haus in Mailand aufgeführt.5 Im Januar 2010 wurden Renato Sarti und Bebo Storti nach Neapel eingeladen, um das Stück anlässlich einer Massenkundgebung gegen die Eröffnung einer Casa Pound in der Stadt aufzuführen.6 4 | Mai morti ist ein Beispiel für eine wachsende Strömung im zeitgenössischen italienischen Theater, die als „teatro di narrazione“ (Erzähltheater) bezeichnet wird und historische wie aktuelle politische und soziale Themen aufgreift, häufig in Form eines längeren Monologes. Der einzelne Schauspieler auf der Bühne versucht, beim Publikum ein Gefühl moralischer Empörung über die Korruption und Ungerechtigkeit der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft zu entfachen. Marco Paolinis Il racconto di Vajont zum Beispiel handelt von der „Katastrophe von Longarone“ im Jahr 1963, als ein Erdrutsch einen Staudamm zum Überlaufen brachte und ein halbes Dutzend Dörfer überf lutet wurden. Ausführlicher zu dieser Strömung: Elisabetta Povoledo: „Italian Monologues with a Political Message“, in: International Herald Tribune vom 16. März 2007.

5 | Vg. Claudia Cannella: „‚Mai morti‘ da dieci anni“, in: Corriere della sera vom 5. Juli 2010. 6 | Vgl. Collettivo Autorganizzato Universitario di Napoli: „Mai morti: Perché la parola antifascismo ha ancora un fondamentale e profondo motivo di esistere“, in: Caunapoli.org vom 25. September 2010 (Letzter Zugriff: 7. Oktober 2017). Casa Pound ist eine neofaschistische Organisation (benannt nach dem offen pro-faschistischen Dichter Ezra Pound), die 2003 in Rom gegründet wurde und sich als Sozial- und Kulturzentrum versteht, das italienische Werte durch Lesungen, Konzerte, Wohltätigkeitsveranstaltungen und Sportvereine fördert. Zur Casa gehören eine Buchhandlung, das Webradio Bandiera Nera, ein Internet-Fernsehsender, eine Monatszeitschrift und die Theatergruppe Teatro non conforme F.T. Marinetti. Im Lauf der Jahre ist die Bewegung expandiert. Zu ihr gehören jetzt weitere Gebäude in Rom sowie andere rechte Gruppen und Zirkel. Seit 2008 ist sie in ganz Italien vertreten und betreibt u.a. Zentren in Udine, Parma, Pistoia und Lecce. In vielen dieser Städte führte die Eröffnung

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D er B aum

der

G eschichte

Es wäre zu einfach, Sartis Stück mit dem Argument abzutun, dass es nur auf eine Schockwirkung abziele. Stattdessen muss man Mai morti, wie alle Stücke von Sarti, vor dem Hintergrund seines erklärten Ziels sehen, die Jugend von heute wieder mit der Geschichte ihres Landes in Kontakt zu bringen. Wie am Ende von Kapitel 6 diskutiert, gleicht die Beziehung von Italiens Jugend zu ihrer Vergangenheit nach der Beschreibung des Regisseurs jemandem, der auf einem „abgesägten Ast“ sitzt. Diese Sicht, dass das aktuell herrschende Klima des historischen Revisionismus es unmöglich mache, eine Verbindung zur Vergangenheit aufzubauen, teilen viele zeitgenössische Autoren und Kritiker in Italien, einschließlich Boris Pahor und Giovanni De Luna. Aber während Pahor diesen Zustand fatalistisch zu sehen scheint, versucht Sarti, der Gleichgültigkeit der jüngeren Generationen gegenüber ihrer eigenen Geschichte aktiv entgegenzuwirken. Denn diese öffnet den Mechanismen des Zum-Schweigen-bringens, der Unterdrückung und der Verfälschung in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft Tür und Tor. Sarti hofft bei seinem Publikum, kurz gesagt, eine kritische Einstellung gegenüber der Geschichte zu wecken. Die Metapher des abgesägten Astes ist eine treffende Beschreibung der prekären Lage der italienischen Jugend: abgetrennt vom Baum der eigenen Geschichte, verhält sie sich, als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen der Vergangenheit und ihrer aktuellen Situation, und sie bemerkt nicht, dass sie dennoch von dieser Vergangenheit, dieser Geschichte getragen wird. Sartis Hauptziel – um bei dieser Metapher zu bleiben – ist weniger, den Ast künstlich wieder zu befestigen, als bei denen, die auf ihm sitzen ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass sie selbst daran arbeiten müssen, wieder eine Verbindung herzustellen. Sarti will sein Publikum dazu aufrütteln, sich kritisch nicht nur mit der Geschichte selbst, sondern auch den Medien, durch die sie ihnen präsentiert wird, auseinanderzusetzen. Vor allem versucht Sarti, insbesondere bei seinen jüngeren Zuschauern, die nicht den geringsten Zusammenhang zwischen ihrem Alltagsleben und den historischen Ereignissen erkennen, von denen sie in der Schule hören, ein Gefühl der Unheimlichkeit der Geschichte zu wecken. Einem ähnlichen Problem sehen sich die Kuratoren der Gedenkstätte in Auschwitz und im Prinzip jeder Holocaust-Gedenkstätte gegenüber, nämlich dass diese Ereignisse für die vierte oder fünfte nachgeborene Generation einfach nicht mehr von sich aus verstörend oder unheimlich sind. Harald Welzer beobachtet ein ähnliches Phänomen bei deutschen Schülern, die bei einer Umfrage mit großer Mehrheit angaben, dass es ihnen wichtig sei, etwas über Holocaust und Nationalsozialismus zu erfahren, aber dass sie sich gleichzeitig unter Druck gesetzt fühlten, gegenüber eines Casa-Pound-Zentrums zu massiven, teils gewaltsamen Protesten besonders von linksgerichteten Gruppen und antifaschistischen Vereinen wie der ANPI (Associazione Nazionale Partigiani d’Italia), vgl. Volker Weiß: „Popkulturell anschlussfähig: Neofaschistisch. Die Casa Pound in Rom“, in: Frankfurter Rundschau vom 4. November 2010.

Schlussbemerkung

diesen Ereignissen eine bestimmte „politisch korrekte“ Reaktion zu zeigen. Laut Welzer kann man diesen Ansatz, bei der deutschen Jugend ein Bewusstsein für den Holocaust zu schaffen, einerseits als vollen Erfolg bezeichnen, aber andererseits hat dieser Ansatz auch dazu geführt, dass die Jugendlichen eher widerwillig eine Reihe kodifizierter Verhaltensweisen übernehmen. Offenbar werden kritisches Denken und bürgerschaftliches Engagement dadurch nicht gefördert.7 Das bedeutet in der Praxis, dass der vierten und fünften Nachkriegsgeneration zwar die monumentale Bedeutung des Holocaust als historisches Ereignis gewissermaßen eingetrichtert wurde, dass sie aber im Großen und Ganzen nicht verstehen, was das mit ihrem gegenwärtigen Leben zu tun hat, geschweige denn mit ihrer Zukunft. Es ist diese Diskrepanz zwischen historischem Wissen einerseits und ethischem und bürgerschaftlichem Engagement andererseits, die dazu führt, dass Besucher in Auschwitz, wie Piotr Cywinski scharf beobachtet, fragen, warum niemand den Holocaust verhindert habe, und dann selbst nichts unternehmen, wenn sie über die Medien täglich Zeugen von Ungerechtigkeiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden.8 „Insofern handelt es sich um ein Missverständnis“, betont Welzer, „wenn man die Vergangenheit als den Bezugspunkt der Gegenwart betrachtet. Historische Erfahrung und historisches Wissen haben Gebrauchswert nur, wenn sie sich auf eine Zukunft beziehen können, die jemand in einer jeweiligen Gegenwart erreichen möchte.“9 Genau diese Ausrichtung auf eine mögliche und wünschenswerte Zukunft unterscheidet eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von einer rein nostalgischen oder rückwärtsgewandten Sehnsucht nach ihr. Eric Hobsbawm erklärt in einer Formulierung, die stark an Sartis erinnert, dass die Jugend von heute in einer „permanenten Gegenwart“ lebe, ohne eine „organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit“.10 Diese Aussagen könnte man mit Pierre Noras Nachruf auf die unmittelbaren und natürlichen „milieux de mémoire“ der Vergangenheit in Beziehung setzen, die jetzt durch künstlich geschaffene „lieux de mémoire“ ersetzt wurden. Die Narrative der fortschreitenden Entfremdung und Fragmentierung, die solche Geschichtsauffassungen postulieren und unsere Beziehung dazu tragen wenig dazu bei, an der diagnostizierten Situation etwas zu ändern, sofern sie nicht anerkennen, dass ein kritisches historisches Bewusstsein (das Hobsbawm in Anlehnung an Gramsci „organisch“ nennt) schon immer aktiv ausgebildet werden musste und keine angeborene Eigenschaft ist, die wir lediglich verloren haben. Genau das meint Hobsbawm, wenn er schreibt, dass die „Zerstörung der Vergangenheit“ das Versagen des „sozialen Mechanismus [ist], der die Gegenwartserfahrung mit derjeni-

7 | Vgl. Welzer/Giesecke: Das Menschenmögliche, S. 21–23. 8 | Vgl. Kimmelman: „Auschwitz Shifts from Memorializing to Teaching“. 9 | Welzer/Giesecke: Das Menschenmögliche, S. 15. 10 | Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, S. 17.

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gen früherer Generationen verknüpft.“11 Auf der einen Seite hat das mit den sich wandelnden Familienstrukturen in der westlichen Gesellschaft zu tun, durch die der Austausch zwischen den Generationen seltener stattfindet und als weniger relevant wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite kann man diesen Verfall als einen Faktor einer unvermeidlichen und notwendigen Entwicklung unserer Herangehensweise an und unserem Verständnis von der jüngsten Vergangenheit sehen. Die Auffächerung der Geschichte in ein Mosaik separater Gruppengeschichten stellt frühere vereinheitlichende „große Erzählungen“, die nach nationalen Rahmen strukturiert sind, notwendigerweise infrage oder erklärt sie für obsolet. Wie in der Einleitung diskutiert, ist eine der Schwächen von Noras Ansatz der „lieux de mémoire“ seine Abhängigkeit von einem Modell der Nationalidentität. Gleichzeitig müsste es für einen solchen Ansatz ein verbindendes Prinzip geben, das über die engen Kategorien divergierender Minderheitenidentitäten hinausreicht. Ziel muss es sein, ein Netzwerk aufzubauen, das individuelle Orte und Erinnerungen miteinander verknüpft, ohne sie einer einzigen „Meistererzählung“ unterzuordnen. Es ist möglich, dass die sozialen Mechanismen, die früher den Einzelnen mit einer öffentlichen oder geteilten Vergangenheit verbanden, kurz vor dem Verschwinden stehen, aber das heißt nur, dass neue soziale Mechanismen oder Strukturen gefunden werden müssen, die in dieser neuen Umgebung funktionieren.

M ultidirek tionalität

intern und e x tern

Die Begriffe und Methoden, die ich in diesem Buch ausgearbeitet habe, sind als ein Versuch zu sehen, sich aktiv an dem Prozess zu beteiligen, unsere Beziehung zur Vergangenheit neu zu strukturieren. Vor allem die Auffassung von Erinnerung als multidirektional ist wesentlich für mein Verständnis einer produktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Wie ich in der Einleitung geschrieben habe, übernehme ich Michael Rothbergs Terminologie, modifiziere sie aber und wende sie sozusagen auf sich selbst an, um sie als methodisches Prinzip nutzbar zu machen und auch die interne Multidirektionalität von Geschichte als solche zu untersuchen. Die multidirektionale Erinnerung, wie Rothberg sie beschreibt, ist in erster Linie extern, da sie sich auf die Co-Präsenz von zwei getrennten Erinnerungskomplexen in einem einzigen Diskurs oder Text bezieht, insbesondere die des Kolonialismus und des Holocaust. W.E.B. DuBois’ Text The Negro and the Warsaw Ghetto dient Rothberg also wegen der Art und Weise, wie er DuBois’ Begriff der Rassenschranken („color line“) als Reaktion auf seine Erfahrungen im Polen der Nachkriegszeit neu formuliert, als Modell für die multidirektionale Erinnerung. Rothberg liefert den Beweis dafür, dass Multidirektionalität auf einer interdisziplinären Ebene produktiv sein kann, indem er zeigt, 11 | Ebd.

Schlussbemerkung

dass Holocaust-Studien, Postcolonial Studies und African American Studies über Fächergrenzen hinweg in einen fruchtbaren Dialog treten können. Vor allem weil DuBois, wie Rothberg schreibt, in seinem Essay den Dualismus von absoluter Diskontinuität und vollständiger Kontinuität vermeidet, die einen großen Teil des Diskurses um den Holocaust und sein Verhältnis zu anderen historischen Bereichen prägt, kann er einen Weg in Richtung neuer multidirektionaler Herangehensweisen an Genozid, Rassismus und kollektives Gedächtnis zeigen. 12

Damit hat Rothberg sicher recht und die Balance zwischen Kontinuität und Diskontinuität ist ein Schlüsselfaktor in den multidirektionalen Memory Studies. Durch meine Analyse der Erinnerung an das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten in Deutschland und die komplexe Erinnerung an die 20 Jahre unter faschistischer Herrschaft und nationalsozialistischer Besatzung in Italien habe ich versucht, die Besonderheiten beider Fälle deutlich zu machen und gleichzeitig zu zeigen, dass sie in größere Kontexte eingebunden sind. Das Strukturprinzip hinter jeder Fallstudie und dieser Arbeit als Ganzes war der Versuch, jeweils die interne und externe Multidirektionalität jedes dieser „Erinnerungsorte“, wie ich sie in der Einleitung definiert habe, aufzuzeigen. Intern multidirektional ist die Erinnerung an die nationalsozialistische „Euthanasie“, weil sie in die Erinnerung an den Holocaust eingebettet ist und gleichzeitig außerhalb von ihr steht. Dadurch stellt sie gängige Annahmen über das Wesen und die Identität des Holocaust und seiner Opfer infrage und offenbart Verbindungen zwischen diesem Ereignis und anderen ihm vorangegangenen historischen Prozessen, die sonst vielleicht im Dunkeln geblieben wären. Damit deckt eine Untersuchung der Erinnerung an das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten und insbesondere der Mechanismen und Annahmen, die dazu geführt haben, dass es dauerhaft aus dem Diskurs und der Erinnerung an den Holocaust im Allgemeinen ausgeschlossen wurde, notwendigerweise Verbindungen zu weit verbreiteten Problematiken und Vorurteilen in der gegenwärtigen Gesellschaft gegenüber Behinderung und psychischen Erkrankungen auf. Dies wiederum eröffnet Wege für den Austausch zwischen den Erinnerungs- und Holocaust-Studien und den Disability Studies, dem ich in den Kapiteln 1 bis 3 nachgegangen bin und der eine der Arten der externen Multidirektionalität der Erinnerung an die nationalsozialistische „Euthanasie“ konstituiert. Stellvertretende Zeugenschaft, der Begriff, den ich in Kapitel 3 auf Basis von Texten entwickelt habe, in denen die Erlebnisse der Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms durch Stellvertreter erzählt werden, die die Rolle eines Zeugen der Verbrechen an diesen Opfern einnehmen, entsteht an der Schnittstelle dieser beiden Diskurse. In ihrer traditionellen Form können Arbeiten, die sich auf Zeugenaussaugen stützen, die Erinnerung an die nationalso12 | Rothberg: Multidirectional Memory, S. 114.

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zialistische „Euthanasie“ nicht erfassen, da es für diese Geschehnisse praktisch keine Zeugen(aussagen) gibt. Für die Disability Studies ist der Begriff der stellvertretenden Zeugenschaft aus anderen Gründen problematisch: ein Großteil ihres ethisch-kritischen Impulses leitet sich aus dem Bedürfnis ab, Menschen mit Behinderungen eine eigene Stimme in der Gesellschaft zu geben, und aus diesem Grund kann es als Übergriffigkeit oder Überheblichkeit aufgefasst werden, für sie sprechen zu wollen. Darüber hinaus verankert die ihnen inhärente starke Komponente der Interessensvertretung die Disability Studies im Heute, was, wie David Mitchell und Sharon Snyder in Cultural Locations of Disability überzeugend dargelegt haben, Forscher auf diesem Gebiet dazu gebracht hat, die historischen Verbindungen zwischen heutigen Einstellungen gegenüber Behinderung und der transatlantischen Eugenikbewegung auszublenden. Die weit verbreitete Auffassung, dass Eugenik eine historische und medizinische Aberration war, hat zur Marginalisierung des „Euthanasie“-Programms der Nationalsozialisten innerhalb der Memory Studies sowie der Disability Studies geführt. Die Stellung von Menschen mit Behinderungen im Holocaust wurde somit in beiden Fachbereichen ignoriert, und das multidirektionale Potenzial der Erinnerung an das nationalsozialistische „Euthanasie“-Programm wurde nicht erschlossen, weil sie sich nicht in eines der vorgegebenen Felder einordnen ließ. Die Frage nach der Multidirektionalität wird um ein Vielfaches komplexer, wenn man Triest und die Erinnerung an Faschismus und Nationalsozialismus in der Region betrachtet. Es ist unmöglich, sich dem Thema zu nähern, ohne die Vielzahl an ethnischen, politischen, nationalen und kulturellen Erinnerungen und Sichtweisen mit einzubeziehen, die die Stadt und ihre Geschichte durchdringen. Wie ich gezeigt habe, haben sich die zahlreichen Versuche, die Situation in Triest in ein eindimensionales, homogenes Narrativ zu fassen, letzten Endes als – gelinde gesagt – unzureichend und in vielen Fällen sogar als kontraproduktiv erwiesen. Die interne und externe Multidirektionalität der Erinnerung an Triests Vergangenheit ist in vielerlei Hinsicht in der Person des slowenischen Triestiner Autors Boris Pahor verkörpert, in dessen eigener Biographie sich die faschistische Verfolgung der Slowenen in und um Triest mit dem Holocaust verbindet, und dessen Schriften die Bezüge zwischen den Ereignissen der Vor- und Nachkriegszeit für die slawische Minderheit in der Stadt explizit sichtbar machen. Aber in Triest und in der Erinnerung an die Vergangenheit wirken auch andere Multidirektionalitäten. Die Gedenkstätten Risiera di San Sabba und Foiba di Basovizza spielen, um eine Formulierung Rothbergs aufzugreifen, ein Nullsummenspiel, wobei die Versionen der Geschichte, die in den beiden Gedenkstätten erzählt werden, jeweils als allgemeingültig und unumstößlich dargestellt werden. Wie meine Analyse jedoch gezeigt hat, ist dieses „Spiel“ selbst der größeren, gemeinsamen Absicht untergeordnet, die Italiener als unschuldige Opfer äußerer Aggressoren darzustellen. Dieses Bemühen, einen Opferstatus zu erlangen, offenbart den Wunsch, die Multidirektionalität, die der Geschichte der Stadt inhärent ist, zu begrenzen oder zu umgehen und so die sie prägende Unheimlichkeit

Schlussbemerkung

zu verleugnen. Indem ich diese Mechanismen entlarvt habe und stattdessen für eine multilaterale und differenzierte Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Faschismus und die Besatzung durch die Nationalsozialisten plädiert habe, konnte ich zeigen, dass das starke Verlangen, eine einheitliche Identität zu konstruieren, die in der Geschichte der Stadt angeblich evident ist, sich direkt proportional zu der nicht reduzierbaren Komplexität der hier aktiven divergierenden Erinnerungen und Identitäten verhält. Wenn Multidirektionalität ein Mittel sein soll, um eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, die auf die Zukunft ausgerichtet ist, dann muss sie notwendigerweise Erinnerungen historisieren und die erinnerten Ereignisse in deren historischen Kontext einbetten, und sie so in einem dynamisch und permanent weiterentwickelten Kontinuum der Erinnerung verorten. Aber dies bedeutet auch, dass multidirektionale Erinnerungen als methodisches Prinzip voraussetzen, dass wir eine bestimmte Erinnerung aus allen verfügbaren Perspektiven betrachten. Die vielleicht überraschendste Entdeckung, die ich im Laufe meiner Untersuchung gemacht habe, war der signifikante Mangel an wissenschaftlichen Untersuchungen zur Darstellung und Rolle der Täter in Gedenkstätten und zur Erinnerungskultur im Allgemeinen. Wie ich in Kapitel 4 gezeigt habe, offenbart die Darstellung der Täter in Gedenkstätten die ideologischen Grundlagen der Wahrnehmung und Konstruktion der eigenen Geschichte in einem Land und spiegelt verbreitete Haltungen einer Nation gegenüber Fragen von Schuld und Opferschaft. Darüber hinaus macht eine Fixierung auf die Opfer und deren Erinnerungen es schwieriger oder sogar unmöglich, die Kontinuitätslinien und Verbindungen zwischen Gräueltaten, die scheinbar in keinem Zusammenhang stehen, wahrzunehmen. Diese werden erst sichtbar, wenn wir uns auf die Täter fokussieren, wie ich am Beispiel des „Euthanasie“-Programms der Nationalsozialisten und der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ gezeigt habe. Das Gedenken an die Opfer beschäftigt die Erinnerungskultur nicht minder als das Bemühen, die Schuld für die Verbrechen auf externalisierte andere abzuwälzen, was wiederum eine ehrliche und tiefergehende Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Vergangenheit nur behindern kann. Theodor W. Adorno hat schon früh die Bedeutung von politischer Bildung und der Auseinandersetzung mit den Tätern verstanden. Er warnte davor, den Holocaust lediglich als historische Aberration einzustufen, und betonte, dass dieser vielmehr „selbst Ausdruck einer überaus mächtigen gesellschaftlichen Tendenz“13 war und dass die Grundstruktur der Gesellschaft heute dieselbe ist wie während des Nationalsozialismus. In diesem Zusammenhang behauptet Adorno, dass wir uns nicht sicher sein können, dass derartige Gräueltaten nie wieder geschehen, wenn wir nicht die Täter untersuchen und versuchen, deren Motive und die Mechanismen zu verstehen, die es diesen Männern und Frauen ermöglichten, die Verbrechen zu begehen, deren Opfern wir gedenken. Adorno schreibt: „Die 13 |  Adorno: „Erziehung nach Auschwitz“, S. 674.

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einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie […]; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“14 Damit tritt er auch für eine „kritische“ Geschichtsauffassung ein im Gegensatz zu einer rein „organischen“, und es ist die Aufgabe von Bildung, ein solches kritisches Bewusstsein zu fördern. Die Bedeutung von Bildung als Mittel, eine Verbindung zur Vergangenheit herzustellen, ist ein zentrales Motiv in diesem Buch. Dies gilt nicht nur für meine Analyse von Gedenkstätten, Dokumentationsausstellungen und Gedenkfeiern vor Ort, sondern auch für die literarischen Werke, Filme und Theaterstücke, die ich untersucht habe. Das Denkmal der grauen Busse und die Spur der Erinnerung erwiesen sich als Beispiele für provokante und demokratische Mittel des Gedenkens, die gewöhnliche Bürger zu aktiver Teilnahme und Reflexion anregen. Durch diese dynamischen Denkmäler treten Individuen mit einer gemeinsamen Vergangenheit in Verbindung. In Die Welt da drinnen erzählt Helga Schubert, wie sie Schulklassen besuchte und mit den Schülern über die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ sprach. Auch sie betont die Wichtigkeit, sich mit den Tätern zu beschäftigen und zu versuchen, deren Entscheidungen nachzuvollziehen. Schuberts Auseinandersetzung mit dem Problem der Erinnerung an das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten ist besonders überzeugend, weil sie einen edukativen Rahmen schafft und Bezüge zu aktuellen Problemen herstellt. In Triest bieten der Percorso tra le violenze del novecento des IRSML sowie der Film Le vie della Memoria eine ähnliche pädagogische (und multidirektionale) Herangehensweise, indem sie Leser und Zuschauer dazu einladen, die Verbindungen zwischen den Orten faschistischer, nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt zu erkunden. Von allen Schriftstellern, die ich in diesem Buch diskutiere, hat sich Renato Sarti vermutlich am konsequentesten edukativen Prinzipien verschrieben, da er mit seinen dokumentarischen Stücken ein historisches Bewusstsein bei seinem Publikum fördert. Sowohl Mai morti als auch I me ciamava per nome: 44.787 werden regelmäßig in Schulen im ganzen Land aufgeführt, die Stücke halten Schüler und andere Theaterbesucher dazu an, kritisch über die Geschichte ihres Landes nachzudenken. Ein bestimmendes Merkmal der kritischen Imagination ist das Bewusstsein, dass die Dinge „nicht immer so waren“ und dass sie folglich anders sein könnten. Daher spielen Literatur und Kunst eine zentrale Rolle in meiner Auffassung von „Erinnerungsorten“ als dynamische und multidirektionale Räume. Die Verschmelzung unterschiedlicher Perspektiven, die unsere Beschäftigung mit literarischen Werken bestimmt, fördert unsere Wertschätzung alternativer Sichtweisen und bringen uns dazu, das Unheimliche zuzulassen und Ambiguitäten nicht umgehend auflösen zu wollen. Die beiden hier präsentierten Fallstudien sind nur ein Beispiel dafür, was eine vergleichende Untersuchung der Erinnerungskulturen in Deutschland und Itali14 | Ebd., S. 679.

Schlussbemerkung

en der Nachkriegszeit umfassen kann – und muss. Andere Medien, insbesondere der Film, würden eine eigene Studie erfordern. Es gibt unzählige andere Orte und Kombinationen, die eine Untersuchung verdient haben, zum Beispiel die Fosse Ardeatine in Rom, die Gedenkstätte im Konzentrationslager Fossoli und die Kriegsgräberstätte in Costermano, die ich nur kurz angesprochen habe, geschweige denn die Gedenkstätten in den anderen „T4“-Tötungsanstalten, zum Beispiel in Hadamar, Pirna-Sonnenstein und Hartheim in Österreich. Es gibt eine Reihe von aktuelleren literarischen Texten, die eine multidirektionale Perspektive einnehmen, die ich aber in dieser Studie nicht berücksichtigen konnte, etwa die Romane Heldenfriedhof von Thomas Harlan (2006), Daša Drndićs Sonnenschein (2015), und Claudio Magris’ Verfahren eingestellt (2017) sowie der wachsende Korpus an Texten, Memoiren und Theaterproduktionen, die sich mit der Erinnerung an die nationalsozialistische „Euthanasie“ beschäftigen. Aber die diffraktive Herangehensweise an Erinnerungsorte, die ich für diese Studie gewählt habe, lässt sich selbstverständlich auf eine potenziell unendliche Zahl an geographischen, historischen, kulturellen und linguistischen „Orten“ übertragen. Andere transnationale Konstellationen, etwa Deutschland und Österreich oder Italien und Kroatien bzw. Slowenien, würden zusätzliche Perspektiven auf die hier diskutierten Erinnerungskomplexe liefern, aber es wäre auch wichtig, das Vermächtnis der faschistischen Regime in ganz Europa zu erforschen und insbesondere danach zu fragen, wie die Erinnerungen daran mit der Erinnerung an den Kommunismus interagieren und koexistieren. Die Wechselwirkungen zwischen Makro- und Mikroebene von Geschichte und Erinnerung, die diese Herangehensweise an das Problem des „Ortes“ bestimmen, haben auch wichtige methodische und epistemologische Implikationen für die Erforschung europäischer bzw. globaler Erinnerungsgemeinschaften, da eine solche Herangehensweise es notwendigerweise schwieriger nachvollziehbar macht, was wir unter „Gemeinschaft“ und „Erinnerung“ verstehen, geschweige denn unter dem Begriff „Erinnerungsgemeinschaft“. Wie meine beiden Fallstudien verdeutlicht haben, sind die Erinnerungskomplexe, die an jedem dieser zwei „Orte“ aufeinandertreffen, genau dies, nämlich extrem komplex, kontrovers und sie verweigern sich einer schnellen Antwort. Die Spannung in ihrem Kern ist ihrem Wesen nach immer politisch. Die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ wurde teilweise wegen der Heterogenität ihrer Opfer an den Rand gedrängt, denn da diese keine Erinnerungsgemeinschaft im konventionellen Sinne bilden, d.h. juristisch, linguistisch, kulturell oder religiös, hat sich keine Interessensvertretung etabliert, die in ihrem Namen hätte sprechen können. Für die rechtliche und wirtschaftliche Perspektive, die das öffentliche Gedenken hauptsächlich prägt, waren die Opfer der NS-„Euthanasie“ schlicht unsichtbar. Ein nationales oder transnationales Erinnerungsprojekt darf sich daher nicht ausschließlich auf eine solche Top-down-Perspektive verlassen, da dies notwendigerweise im Ausschluss oder der Marginalisierung von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften resultiert, die nicht in die bestehenden Muster passen. Im Fall von Triest ist die Er-

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innerungskultur schon deshalb politisch, weil sie Erinnerungen so vieler und unterschiedlicher Minderheiten umfasst, die der Erinnerungsdiskurs der Mehrheit versucht, zum Schweigen zu bringen oder sich einzuverleiben. Aber selbst hier ist es problematisch, von separaten Gemeinschaften zu sprechen, wenn man das verwirrende Spektrum historischer, politischer, ethnischer und sprachlicher Identitäten berücksichtigt, die jeder gebürtige Triestiner gleichzeitig haben kann. In einem gesamteuropäischen Rahmen können sich solche Komplexitäten natürlich nur exponentiell vervielfältigen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, den übergreifenden makrohistorischen Kontext dieser spezifischen und kontingenten Konflikte auf lokaler Ebene nicht aus dem Blick zu verlieren, wie ich anhand dieser komparativen Herangehensweise an die deutsche und italienische Erinnerungskultur zu zeigen versucht habe. Die beiden hier untersuchten Orte erscheinen, isoliert betrachtet, völlig unverbunden und unvereinbar, aber wenn man sie im größeren Kontext der internationalen Eugenikbewegung betrachtet, wird es möglich, nicht nur ihre gegenseitigen Berührungspunkte, sondern auch Beziehungen zu anderen „Orten“ zu entdecken, nämlich zum Holocaust, zum Kolonialismus und zum Kommunismus – also den drei prägendsten Erinnerungskomplexen in Europa im 20. und 21. Jahrhundert. Die überraschende Einsicht, dass scheinbar disparate Einheiten eigentlich aufs Engste miteinander verbunden sind – dass es unvermutete Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen der mikroskopischen und der makroskopischen Perspektive gibt – ist zutiefst unheimlich. Das Ziel eines zukunftsorientierten transnationalen oder „europäischen“ Erinnerungsprojektes muss also sein, unseren Sinn für die Unheimlichkeit unserer eigenen Geschichte und Erinnerung zu schärfen.

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 À (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 À (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 À (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 À (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)

Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 À (DE), 978-3-8376-1709-2

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 À (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 À (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 À (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6

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