Ethnos und Demos: Soziologische Beiträge zur Volkstheorie [1 ed.] 9783428404322, 9783428004324


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German Pages 410 [411] Year 1965

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Ethnos und Demos: Soziologische Beiträge zur Volkstheorie [1 ed.]
 9783428404322, 9783428004324

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Emerich Francis I Ethnos und Demos

Ethnos und Demos Soziologische Beiträge zur Volkstheorie

Von

Prof. Dr. Emerich Fraucis

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin Gedruckt 1965 bei Albert Sayffaerth, Berlln 61 Prlnted in Germany

® 1965 Duncker

Meinen Mitarbeitern

Vorwort Die hier zu einem Band zusammengefaßten Aufsätze sind in drei Jahrzehnten entstanden und zum Teil an weit verstreuten, oft schwer auffindbaren Stellen erstmals erschienen, zum Teil bisher unveröffentlicht geblieben. Die Mehrzahl der vorher veröffentlichten Beiträge ist außerdem zuerst in englischer Sprache verfaßt worden. Meine Absicht bestand darin, nach meiner Übersiedlung aus Amerika meine bisherigen Beiträge zur Soziologie der ethnischen Gebilde der Leserschaft im neuen Wirkungskreis leichter zugänglich zu machen. Doch stellte es sich alsbald heraus, daß nicht nur eine sinngemäße Übersetzung größere Schwierigkeiten bereitete als erwartet, sondern daß durch eine bloß sprachliche Übertragung der ins Auge gefaßte Zweck nicht zu erreichen war. Denn die meisten Aufsätze waren aus einer ganz bestimmten wissenschaftsgeschichtlichen Situation herausgewachsen und setzten sich mit zeitbedingten Perspektiven auseinander, die den Leserkreis, dem die Wiederveröffentlichung zugedacht war, gar nicht unmittelbar ansprechen konnten. Damit ergab sich die Notwendigkeit, an die Stelle einer bloßen Übersetzung weitgehend eine gründliche Überarbeitung treten zu lassen. Während der Ausführung des Planes, die sich infolge von Krankheit und anderen widrigen Umständen über mehrere Jahre hinzog, sind einige weitere Arbeiten herangereift, die von vornherein zur Abrundung dieses Bandes gedacht waren. Die eine oder andere wurde zunächst zum Vorabdruck freigegeben, um drängenden Verpflichtungen, vor allem der Pietät, Genüge zu leisten. Die meisten in letzter Zeit entstandenen Aufsätze jedoch erscheinen hier zum ersten Male, darunter die Münchener Antrittsvorlesung, die an meine beiden Vorgänger Wilhelm Heinrich Riehl und Max Weber anknüpft. Auf diese Weise ist es, so hoffe ich, zu guter Letzt dann doch gelungen, eine verhältnismäßig abgeschlossene Diskussion vorzulegen, deren essayistischer Charakter gleichwohl bewußt beibehalten worden ist. Nachdem der hier angesprochene Problembereich in Deutschland jahrelang vernachlässigt worden ist, sind fast zur gleichen Zeit zwei weitere Arbeiten mit einer sehr ähnlichen Thematik entstanden, deren eine, E. Lernbergs "Nationalismus", bei Niederschrift dieses Vorwortes bereits erschienen war, während die andere von W. E. Mühlmann dem

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Vorwort

Vernehmen nach vielleicht noch vor diesem Band auf den Markt kommt. Angesichts der knappen zeitlichen Aufeinanderfolge mußte an dieser Stelle auf eine Diskussion der jüngsten Gedankengänge Lernbergs verzichtet werden. Das Zusammentreffen mehrerer Veröffentlichungen über den gleichen Gegenstand ist keine Seltenheit. Die Frage der Priorität, die im vorliegenden Fall durch die ursprünglichen Erscheinungsjahre der einzelnen Aufsätze einigermaßen beantwortet werden könnte, tritt jedoch an Wichtigkeit hinter der Tatsache zurück, daß mehrere Forscher zu ähnlichen Ergebnissen gelangt sind, obwohl sie zur Zeit ihrer ersten Berichterstattung teilweise gar nicht in der Lage waren, voneinander Kenntnis zu nehmen. Darin äußert sich wohl jene Intersubjektivität und Kumulierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Soziologen stets für ihre Disziplin in Anspruch genommen haben. Abweichungen in der Interpretation gleicher Daten aber sollten nicht der fruchtlosen Polemik, sondern dem dialektischen Fortschritt der Wissenschaft dienen. Bei der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen kommt es schließlich nicht so sehr darauf an, ob sie originell, sondern ob sie richtig sind. In diesem Sinn ist auch die hierin enthaltene Auseinandersetzung mit einer älteren Veröffentlichung Lernbergs zu verstehen. Sie ist dadurch nicht überholt, daß der Autor manchen Einwänden inzwischen selbst Rechnung getragen hat. Denn mir kam es nicht darauf an, die Gesamtleistung eines bestimmten Gelehrten kritisch zu werten, sondern die Grenzen einer bestimmten Methode aufzuzeigen. Aus mehreren Gründen, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Druckkosten, habe ich mich äußerster Sparsamkeit hinsichtlich des wissenschaftlichen Apparates befleißigt. Dies soll nicht als Undankbarkeit denen gegenüber ausgelegt werden, deren Anregungen ich mich in verschiedenem Grade verpflichtet fühle. Die einigermaßen vollständige Angabe der verwendeten Literatur hätte aber den Rahmen einer Aufsatzsammlung gesprengt, die sich nicht nur an Fachleute richtet, sondern an ein breiteres Publikum, vor allem aber an Vertreter mehrerer benachnachbarter Disziplinen. Außerdem enthalten die ursprünglichen Veröffentlichungen häufig sehr umfangreiche Literaturhinweise bzw. Bibliographien, die der interessierte Leser leicht an den Originalstellen einsehen kann. Um das Auffinden zu erleichtern, wurde dem Titel jener Arbeiten, die besonders ausführliche bibliographische Angaben enthalten, jeweils ein * vorangestellt. Im übrigen findet sich für die hier angeschnittenen Themen teils in der Spezialliteratur, teils in den bekannten Nachschlagewerken eine Reihe ausgezeichneter Bibliographien, deren bloße Duplizierung müßig gewesen wäre. Die Entstehungsweise der hier wiedergegebenen Aufsätze macht es besonders schwer, in jedem einzelnen Fall einen zuverlässigen Quellennachweis zu erbringen. Ich habe mich daher zu einem anderen

Vorwort

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Verfahren als sonst üblich entschlossen, und eine Liste derjenigen meiner Publikationen im Anhang beigefügt, auf die die folgenden Essays manchmal wörtlich, manchmal in Übersetzung, manchmal bloß dem Sinne nach beruhen. Außerdem habe ich Verweise auf die korrespondierenden Stellen in diesem Band hinzugefügt. Wo immer es nach dem geltenden Urheberrecht erforderlich war, wurde die entsprechende Abdruckserlaubnis eingeholt. Sie wurde von den betreffenden Herausgebern bzw. Verlegern großzügig erteilt, wofür ihnen der Verfasser aufrichtigen Dank weiß. Die empirischen Forschungen, auf denen die folgenden Arbeiten beruhen, sind durch die Unterstützung von Stiftungen und anderen Stellen ermöglicht worden, für die ich hier Dank zu sagen habe. Solche Beihilfen habe ich vor allem erhalten von der Österreichisch-Deutschen Wissenschaftshilfe, der Historical and Scientific Society of Manitoba, dem Canadian Social Science Research Council, dem amerikanischen Social Science Research Council, der Rockefeiler Foundation, der American Philosophical Society, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem IFO-Institut bzw. der Thyssen-Stiftung. Das Buch ist meinen Mitarbeitern gewidmet, vor allem den Assistenten, wissenschaftlichen Hilfskräften und Sekretärinnen am Soziologischen Institut der Universität München, denen ich wertvolle Anregungen, fruchtbare Kritik und unermüdliche Assistenz verdanke. Ohne jeden einzeln beim Namen nennen zu können, ist es mir ein Bedürfnis, ihnen allen auf diese Weise meinen aufrichtigen Dank zum Ausdruck zu bringen. Innsbruck, im Sommer 1964

E. F.

Der inzwischen in Luchterhands Soziologischen Texten erschienene Band von Wilhelm E. Mühlmann: "Rassen, Ethnien, Kulturen" betrifft nur zum Teil das Thema dieses Buches. Zur Beurteilung der hier und dort vorgetragenen Lehren über die ethnischen Gebilde sei darauf verwiesen, daß es sich um einen vorwiegend terminologischen Widerspruch handelt. Mühlmann lehnt den romantischen Volksbegriff ab und will statt dessen den Ausdruck "Ethnien" verwendet wissen; darunter versteht er "die größte feststellbare Einheit, die von den betreffenden Menschen selbst gewußt und gewollt wird". Ein Vergleich mit meiner Definition von "Volk" wird zeigen, daß ich darunter weitgehend dasselbe verstehe wie Mühlmann unter "Ethnie".

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Studien zur Soziologie der ethnischen Gebilde

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I. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

II. Das Volk als soziologische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

III. Die Nation- politische Idee und soziale Wirklichkeit . . . . . . . . . . . .

60

1. Zur Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

2. Begriffsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

3. Nation und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

4. Volk und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

5. Der Mythus von der Kulturnation

104

IV. Primäre und sekundäre Minderheiten

123

V. Minderheitenforschung in Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Kritik der Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

2. Ansätze der empirischen Forschung .......................... 148 3. Bestimmungsfaktoren von Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4. Zusammenfassung ............................................ 160 VI. Klassen im ethnisch heterogenen Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 VII. Dreimal Nationalitätenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 VIII. Ethnische Gebilde im System der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Volk und Volksgruppe ........................................ 196

2. Nation und Minderheit ....................................... 201 3. Nationale Probleme .......................................... 205 4. Nationalitäten und Minderheiten ............................. 207 5. Fremde und Minderheiten .................................... 214 6. Testfall Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

Inhaltsverzeichnis

12

Zweiter Teil: Beiträge zur empirischen Forschung

229

IX. Die rußlanddeutschen Mennoniten in Manitoba ................... 231 1. Die mennonitische Volksgruppe .............................. 231

2. Die Entstehung der Volksgruppe aus einer religiösen Bewegung 253 3. Der Schulkampf in Manitoba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4. Wandlungen der Sozialstruktur unter dem Einfluß von Wanderungsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 5. Wirtschaftliche Anpassung und Selbsterhaltung der Volksgruppe 299 X. Die spanischen Bergbauern in Neumexiko ........................ 312 1. Kirche und Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

2. Gleichgewicht und Konflikt in einem Völkergemisch . . . . . . . . . . 357 3. Religiöser Pluralismus in einer bäuerlichen Volksgruppe ...... 364 XI. Katholische Aufklärung und nationale Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . 372 1. Bernard Bolzano und die nationale Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

2. Antonio Martinez, ein neumexikanischer Volksführer ........ 383

Quellennachweis

397

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Einleitung Die in diesem Buch gesammelten Aufsätze 1 lassen sich zwanglos in zwei Gruppen einteilen; während die einen Grundsatzfragen behandeln, sind die anderen der Analyse von Einzelerscheinungen gewidmet. Beim zweiten Teil handelt es sich um die Wiedergabe und teilweise um die Übersetzung von Arbeiten, die im Laufe der Jahre an z. T. nicht leicht zugänglichen Stellen erschienen sind. Im vorliegenden Zusammenhang dienen sie vor allem dazu, die empirische Anwendbarkeit und heuristische Brauchbarkeit der im ersten Teil erarbeiteten Denkkategorien zu testen bzw. zu demonstrieren. Im wesentlichen ist das Material im Verlauf zweier größerer Forschungsvorhaben gewonnen worden. Das eine betraf die Mennoniten in Manitoba, deutsch sprechende Angehörige einer anabaptistischen Religionsgemeinschaft, die in zwei Schüben von Rußland nach Kanada gekommen sind und sich dort als eine eigenständige Volksgruppe erhalten haben. Über die Ergebnisse dieser Untersuchungen habe ich ausführlich in einem Buch berichtet, das vor mehreren Jahren in englischer Sprache veröffentlicht wurde. Die hier wiedergegebenen Abschnitte sind teils zusammenfassende Auszüge aus diesem Bericht, teils Übersetzungen älterer Zeitschriftenaufsätze2 • Gegenstand des zweiten Projektes war die spanisch sprechende, vorwiegend katholische Bevölkerung des nördlichen Neumexiko, die seit ihrer gewaltsamen Einverleibung in die Vereinigten Staaten von Amerika vor über hundert Jahren immer mehr den Charakter einer "Minderheit im eigenen Land" angenommen hat. Infolge meiner Über1 Eine Zusammenstellung der Arbeiten, auf denen die in diesem Band gesammelten Aufsätze teilweise beruhen, ist im Anhang (Quellennachweis) enthalten. Im folgenden wurden alle für den Spezialisten bestimmten ausführlichen bibliographischen Hinweise ausgelassen; der interessierte Leser wird sie unschwer an den Originalstellen auffinden. 2 Vgl. insbesondere In Search of Utopia. The Mennonites in Manitoba. Glencoe, 111. und Altona, Man. 1955; The Russian Mennonites. From Religious Group to Ethnic Group; in: American Journal of Sociology 54 (1948), S. 101-107; The Mennonite Commonwealth in Russia, 1789-1914. A Sociological Interpretation; in: Mennonite Quarterly Review 25 (1951), S. 173-182, 200; The Mennonite School Problem in Manitoba; in: Mennonite Quarterly Review 27 (1953), S. 204-233; The Adjustment of a Peasant Group to a Capitalistic Economy; in: Rural Sociology 17 (1952}, S. 218-228; Anabaptism and Colonization; in: The Recovery of the Anabaptist Vision. A Sixtieth Anniversary Tribute to Harold S. Bender. Hrsg. Guy F. Hershberger. Scott.sdale, Pa 1957.

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Einleitung

siedlung von Amerika nach Deutschland konnte dieses Projekt noch nicht abgeschlossen werden. Über einzelne Phasen und Ergebnisse habe ich in Aufsätzen berichtet, die hier zum erstenmal zusammengefaßt werden 3 • Gerade der Kontrast der Kulturen und Volkscharaktere dieser beiden Gruppen kam meiner Absicht entgegen, den ihnen gemeinsamen Typus der primären Minderheit herauszuarbeiten. Dem gleichen Typus sind übrigens auch die meisten mittel- und osteuropäischen Minderheiten der Zwischenkriegszeit zuzurechnen, mit deren Problemen ich in einem früheren Zusammenhang Gelegenheit hatte mich auseinanderzusetzen. Eine etwas andersgeartete Parallelität verbindet die beiden Aufsätze über Bolzano 4 und Martinez 5 • Hier kommt es auf eine gemeinsame geistesgeschichtliche Situation an, aus der heraus die Wirksamkeit nationaler Führergestalten auf zwei verschiedenen Kontinenten verständlich gemacht werden kann. Beide waren katholische Priester, die mit den geistlichen Autoritäten in Konflikt gerieten, ohne sich aus der Kirche herausdrängen zu lassen. Beide gehörten jenem Zweig der Aufklärung an, der als katholische Aufklärung bezeichnet werden kann. Im Gegensatz zur radikal-freiheitlichen Aufklärung mit ihrer Vergottung der Vernunft und ihrem Antiklerikalismus stellt die katholische Aufklärung einen Versuch dar, die traditionelle Religion und die kirchliche Organisation selbst in den Dienst der allgemeinen Volksaufklärung und des moralischen Fortschrittes der Menschheit zu stellen. Als eigentliche Rechtfertigung für die Veröffentlichung dieses Buches betrachte ich dessen ersten Teil. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß darin neben ausführlichen Überarbeitungen von meist in englischer Sprache erschienenen Artikeln eine Reihe neuerer Arbeiten enthalten sind, deren Veröffentlichung bisher gerade deshalb aufgehalten worden ist, um ihnen einen geeigneten Rahmen zu schaffen. Vielmehr schien mir der im strengen Sinn soziologische Beitrag meiner langjährigen Studien über ethnische Phänomene in der Erarbeitung heuristisch fruchtbarer Denkkategorien zu liegen. Die Hauptabsicht des ersten Teils dieser Sammlung könnte als eine Art "terminologischer Flurbereinigung" beschrieben werden. Es ist zwar müßig, über die Richtigkeit von Fachausdrücken oder die Wahrheit von Begriffen zu streiten; das Vgl. Multiple Intergroup Relations in the Upper Rio Grande Region; in: American Sociological Review 21 (1956), S. 84-87; Religious Pluralism in a Peasant Community; in: Religious Education 50 (1955), S. 23-26; Volkstum und Kirche in Neumexiko; in: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens. Hrsg. J. Vincke. 20. Bd., Münster, Westf. 1962. 4 Bernard Bolzano und die nationale Idee. Ein Beitrag zur Geschichte des Nationalismus; in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 51 (1931). 5 Padre Martinez. A New Mexican Myth; in: New Mexico Historical Review 31 (1956), S. 256-269.

Einleitung

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gegen ist die Adäquanz von Begriffen und die Eindeutigkeit von Sprachsymbolen die unabdingbare Voraussetzung für die geistige Bewältigung der Wirklichkeit. Die Angemessenheit eines Begriffes wird aber vom jeweiligen Erkenntnisgegenstand bestimmt; mit anderen Worten, ein Begriff ist dann adäquat, wenn mit seiner Hilfe ein bestimmtes geistiges Interesse befriedigt werden kann, mit dem wir "an der Erscheinungen Flucht" herantreten. Bei meinem Versuch der Begriffsverfeinerung ging es mir niemals um logische Denkübungen oder ästhetische Gedankenspiele. Ursprünglich verfolgte ich überhaupt eher praktisch politische als systematisch theoretische Absichten. Ich versuchte, Ordnung in die herrschende Verwirrung des Denkens über Situationen zu bringen, die unmittelbar das Schicksal von Millionen von Menschen berührten. Solange keine begriffliche Klarheit hergestellt war- so schien mir-, konnten auch keine vernünftigen Maßnahmen in Vorschlag gebracht werden, um der Konflikte Herr zu werden, die sich immer wieder aus solchen Situationen ergeben. Im Laufe meiner Arbeit haben sich freilich die Akzente immer deutlicher in Richtung auf die allgemeine Theorie hin verschoben. Empirische Untersuchungen von besonderen Fällen wurden unter dem Gesichtspunkt ihres möglichen Beitrages zu einer Soziologie der ethnischen Gebilde unternommen. Indem ich mich mit der politischen und sozialen Problematik des modernen Nationalstaates, des Mehrvölkerstaates, des Minderheitenrechtes, der Beziehungen zwischen Nationen und zwischen Volksgruppen auseinandersetzte, erkannte ich, daß ihre rationale Lösung eine stichhaltige Theorie des Volkes voraussetzte. Zunächst versuchte ich, mein Ziel auf dem Weg einer kritischen Auseinandersetzung mit den gängigen Lehrmeinungen zu erreichen6 • Später wurde mir klar, daß die Dialektik der Ideen nur wieder Ideen zeitigt, für die ebensowenig wie für jene die Möglichkeit besteht, "an den Tatsachen zu scheitern" 7 • Gleichzeitig sah ich ein, daß eine Volkstheorie nur im Rahmen einer allgemeinen Gesellschaftstheorie zu erstellen war. Insbesondere der Schlüsselbegriff des Volkes konnte nur von einer höheren Abstraktionsebene aus erarbeitet werden. So wurde ich von zwei Seiten her auf die Soziologie hingedrängt. Die Volkstheorie, die mirvorschwebte,ließ sich nur erstens als Anwendungsbereich allgemeinerer soziologischer Erkenntnisse, und zweitens unter ständiger Bezugnahme auf die Ergebnisse der empirischen Sozialfor0 Ein 1938 fast abgeschlossenes Manuskript ist mit sämtlichen wissenschaftlichen Aufzeichnungen in den Wirren der Zeit verlorengegangen. 7 Vgl. K. R. Popper: Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien 1935, S. 13.

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Einleitung

schung - eben als eine spezielle Soziologie - aufbauen. Wie bei jedem soziologischen Unterfangen mußten Erfahrung und Reflexion, Hypothesenbildungen und empirische Nachprüfungen in fortwährendem Wechselspiel einander ablösen und befruchten, um zu neuenEinsichten vorzustoßen, an denen sich dann praktisches Handeln orientieren kann und soll.

Comte hatte so unrecht nicht, wenn er im Anschluß an die ältere philosophische Tradition eine enge Beziehung zwischen Denken und Tun, zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen Gesellschaftslehre und Gesellschaftspolitik behauptete. Freilich kann dies nur so verstanden werden, daß Unwissenheit und Irrtum über die Realitäten des sozialen Geschehens richtiges politisches Handeln zwar nicht ausschließen, wohl aber erschweren. In diesem Sinn schrieb einmal Theodor Geiger: "Wer den Wirklichkeitszusammenhang inadäquat erfaßt, kann ihn nicht souverän beherrschen8 ." Dagegen folgt auch in diesem Bereich aus richtigen Einsichten nochkeineswegs mitzwingender Notwendigkeit tugendhaftes Verhalten, wie die Sokratiker und nach ihnen die Aufklärer gemeint hatten. Auch lassen sich aus Fakten niemals moralische Prinzipien herleiten. Insbesondere trifft dies auch auf die Wissenschaft von den sozialen Tatsachen zu. Ich teile keineswegs die Hoffnung, der Soziologie könnte es einmal gelingen, eine totale Einsicht in das soziale Geschehen zu vermitteln, gewissermaßen ein allgemein gültiges soziologisches Weltbild und eine verbindliche Weltanschauung zu entwickeln. Denn insofern die Soziologie nur als Einzelwissenschaft ihre Eigenständigkeit zu behaupten vermag, bleibt ihre heuristische Absicht jeweils auf Teilausschnitte aus der Wirklichkeit beschränkt. Dagegen hängt praktisch richtiges Handeln davon ab, daß moralische Prinzipien eh und je auf konkrete Situationen so angewandt werden, wie diese Situationen wirklich sind, nicht wie man glaubt, daß sie sind, oder wie man wünscht, daß sie sein sollten. Die reale Situation zu erkennen, die als Objektives unabhängig vom Wünschen und Wollen des Betrachters ist, das scheint mir aber die eminente Aufgabe der Soziologie zu sein. Worauf es bei der wissenschaftlichen Begriffsbildung in erster Linie ankommt, ist die angemessene Erfassung irgendeines objektiven Sachverhaltes, der für eine gegebene Problemstellung relevant ist9 • Da Denken mit Hilfe von Sprachsymbolen erfolgt, die für bestimmte begrifflich erfaßte Bezugsobjekte stehen, ist zu fordern, daß die hierbei verwandten Ausdrücke möglichst schon durch ihre äußere Form, zumindest aber im Zusammenhang keinerlei Anlaß zu Mißverständnis8 Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens (= Sammlung ,Die Universität' Bd. 41). Stuttgart und Wien 1953, S. 117. 9 Vgl. M. R. Cohen: Reason and Nature. An Essay on the Meaning of Scientific Method. Glencoe, Ill. 21953, S. X f.

Einleitung

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sen geben. Wissenschaftliche Termini müssen also geeignet sein, bei allen, die sich ihrer bedienen, die Vorstellung von ein und demselben gemeinten Sachverhalt hervorzurufen. Wissenschaftliches Forschen beginnt mit einem Problem, das seinerseits freilich bereits gedacht und somit irgendwie begrifflich erfaßt sein muß. Die zur Lösung einer Fragestellung herangezogenen Begriffe können daher nur zum Teil wissenschaftlich verfeinert sein. Gerade bei der begrifflichen Fassung der Fragestellung, auf die es im Einzelfall ankommt, sind wir notwendigerweise zunächst auf die Alltagssprache und die im Populärwissen vorgegebenen, also vorwissenschaftliehen und daher mehr oder weniger inadäquaten Begriffe angewiesen. Diese Überlegung ist für die Soziologie von besonderer Bedeutung. Denn Populärbegriffe über soziale und politische Gegebenheiten sind nur scheinbar dazu bestimmt, reines Erkenntniswissen über die soziale Wirklichkeit zu ermöglichen. Vielmehr handelt es sich vorwiegend um Vorstellungen, die sich auf die praktische Gestaltung der sozialen Wirklichkeit oder doch auf das praktische Verhalten dieser Wirklichkeit gegenüber beziehen. So geht die Idee der Nation auf das Bestreben gewisser Interessengruppen zurück, einen bestimmten Zustand herbeizuführen, der zur Zeit ihrer Konzeption gar nicht bestanden hat, inzwischen freilich wenigstens annäherungsweise herbeigeführt worden ist. Ähnliches gilt für die Begriffe "Staat", "Gesellschaft", "Demokratie", "Freiheit", "soziales Gleichgewicht", usw., usw. Eric Voegelin 10 hat einmal folgende Erläuterung dazu gegeben: "Eine politische Idee versucht nicht, die soziale Wirklichkeit so zu beschreiben, wie sie ist, sondern stellt Sprachsymbole auf, die die Funktion haben, ein Bild einer Gruppe als einer Einheit herzustellen ... Eine politische Idee ist nicht ein Erkenntnisinstrument. Trotzdem bedeutet das nicht, daß sie keine Beziehung zur Realität besitzt oder daß irgendein Erzeugnis einer fruchtbaren Phantasie als politisches Symbolbild dienen kann. Das Symbol basiert auf einem Element der Realität, ist aber keine Beschreibung der Realität. Das Symbol verwendet die Tatsache, um mit Hilfe dieses einen verhältnismäßig einfachen Elementes ein diffuses Feld der Realität als Einheit darzustellen." Alle Begriffe, von denen die Soziologie der ethnischen Gebilde ausgehen muß, sind demnach im höchsten Grade ideologiegefährdet11 • 10 The Growth of the Race Idea; in: Review of Politics 2 (1940), S. 283 bis 286. (Hervorhebung vom Verf.) 11 Davon zu unterscheiden ist die emotionale Besetzung, die gewisse an sich durchaus sinnvolle und sprachgerechte Ausdrücke wie "völkisch", "Einvolkung" u. dgl. infolge ihrer Verwendung durch politische Gruppen angenommen haben, die- wie die Nationalsozialisten- unsere moralische Entrüstung erregen. Wo keine treffenderen Sprachsymbole zur Verfügung ste-

2 Franois

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Einleitung

Bevor es aber gelingen kann, belastete Begriffe zu angemessenen Instrumenten soziologischer Erkenntnis zu machen, müssen die mit ihnen verbundenen affektiven Obertöne sowie die in sie hineingedachten Wertungen und Wünsche wie aus einer chemischen Verbindung ausgefällt werden. Die nächste Aufgabe besteht dann in der Bestimmung jener Eigenschaften und Attribute des begrifflicherfaßten Gegenstandes, ohne die der definitorisch beschriebene Gegenstand etwas anderes wäre als der von uns gemeinte Gegenstand. Mit "Volk", "Nation" usw. werden abstrakte Allgemeinbegriffe symbolisiert, durch die eine Klasse von beobachtbaren Erscheinungen zu einer begrifflichen Einheit zusammengeiaßt wird. Methodisch gehen wir dabei von der Alltagssprache aus und fragen: Welches sind die Attribute, die allen so bezeichneten Erscheinungen und nur diesen auf eine Weise gemeinsam sind, daß sie als eine einzige logische Klasse von Gegenständen gedacht werden können, wenn man von allen übrigen im Begriff nicht enthaltenen Attributen absieht? Eine befriedigende Definition wird erreicht, indem man sukzessive eine Reihe von Formulierungen versuchsweise daraufhin überprüft, inwieweit sie den verschiedenen Erscheinungen entsprechen, die landläufig mitgemeint sind, wenn man das betreffende Wort, z. B. "Volk", denkt oder ausspricht. Da aber über das Wesen dieser Erscheinungen schon lange und viel nachgedacht worden ist und zahlreiche mehr oder weniger exakte Definitionen seitens der Soziologie, aber auch anderer Wissenschaften vorliegen, kann man sich bis zu einem gewissen Grad darauf beschränken, in der Literatur vorgefundene Definitionen daraufhin zu untersuchen, ob sie innere logische Inkonsistenzen enthalten oder in Widerspruch zu bekannten Tatsachen stehen. Diese Absicht stand bei der Abfassung der im ersten Teil wiedergegebenen oder verwendeten Aufsätze im Vordergrund. Die im einführenden KapiteP 2 umrissene Problemstellung wurde erstmals in einem Artikel über "The Nature of the Ethnic Group" angeschnitten. Dieser bildete ursprünglich mit einem gesondert erschienenen Aufsatz eine Einheit, der unter dem Titel "Umwandlung einer Sekte zu einer ethnischen Gruppe13 " im zweiten Teil dieses Buches seinen Platz gefunden hat. Den unmittelbaren Anlaß für die in beiden Teilen niedergelegten Überlegungen bot ein Auftrag der Historischen Gesellschaft von Manitoba, für eine Schriftenreihe über die "ethnic groups" der Provinz eine Darstellung der Mennoniten zu schreiben. Damit ergab sich das dringende Bedürfnis nach einem adäquaten Begriffsapparat. Inshen, wird man sich bei der Verwendung damit abfinden müssen, daß von unbeabsichtigten Nebenbedeutungen abstrahiert werden muß. 12 Vgl. Kap. I. n Vgl. Kap. IX, 2.

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besondere zwangen mich gewisse Widersprüche zwischen der europäischen Tradition, die bis dahin weitgehend von Historikern und Juristen bestimmt worden war, und der in Amerika und Kanada unter dem Einfluß von Robert S. Park und seiner Schule vorherrschenden soziologischen Auffassung dazu, die in der Literatur angebotenen Begriffe zu überdenken 14 • Eine besondere terminologische Schwierigkeit bot sich insofern dar, als im Selbstverständnis der Kanadier die Mennoniten auf gleicher Ebene mit den Franzosen, Isländern, Ukrainern, Polen usw. als eine "ethnic group" (Volksgruppe) betrachtet wurden, obwohl der eigentliche Grund für ihre Sonderstellung und Minderheitenlage in ihrer Religion und nicht in ihrem - ohnehin nicht eindeutigen - Deutschtum zu liegen schien. Ich erwähne dieses Detail deshalb, um zu erinnern, wie sehr empirische Sozialforschung und Angewandte Soziologie geeignet sind, auf die allgemeine Theorie befruchtend zurückzuwirken, derer jene selbst wieder bedürfen, um die ihnen gestellten Spezialaufgaben lösen zu können. Das Thema wurde dann in mehreren Aufsätzen weiter verfolgt, die insgesamt die Grundlage für das einführende Kapitel bilden. Es enthält im wesentlichen eine allgemeine Auseinandersetzung mit dem Begriff des ethnischen Gebildes und dessen Verhältnis zum Gesellschaftsbegriff sowie eine vorläufige Unterscheidung zwischen den Begriffen des Volkes und der Nation. In einem weiteren Beitrag15 wird anschließend zu beweisen versucht, daß das Volk eine für gewisse Probleme der soziologischen Wirklichkeitsanalyse unentbehrliche Denkkategorie darstellt. Diese Begriffszergliederung wird in einem in letzter Zeit entstandenen Essay "Die Nation - politische Idee und soziale Wirklichkeit" fortgesetzt und zu einem gewissen Abschluß gebracht. Vier Bedeutungsreihen für die Wortsymbole "Volk" und "Nation" werden einander gegenübergestellt. Dabei kommt es vor allem darauf an zu zeigen, daß gewisse im Deutschen vorwiegend mit dem Ausdruck "Nation" bezeichnete Bedeutungsinhalte zwar als politische Idee ihre geschichtliche Wirksamkeit erwiesen haben, jedoch als analytische Begriffe zur Beschreibung und Erklärung der sozialen Wirklichkeit schlechterdings ungeeignet 14 Diese Charakterisierung stellt allerdings eine starke Vereinfachung dar. Denn das, was hier verallgemeinernd als typisch europäisches Verständnis der Nationalitäten bezeichnet wird, hatte in der Zwischenkriegszeit auch in Amerika namhafte und einflußreiche Vertreter; so den Historiker Carlton J. H. Hayes, um den bedeutendsten zu nennen. Dagegen blieb die Untersuchung von Nationalitäten und Volksgruppen im eigenen Lande mehr und mehr den Soziologen überlassen, wobei die auf diesem Gebiete arbeitenden Historiker ihrerseits sich immer stärker an die Perspektive der Soziologen anlehnten. 15 Vgl. Kap. II.

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sind. Als Ergebnis dieser Analyse kristallisieren sich zwei Begriffe heraus, denen ein eindeutiger Inhalt zugeschrieben werden kann: Die allgemeine anthropologische Realität des Volkes im Sinne von e'frvo:; und der historische Typus der Nation als Träger des Staates (örnwc;). Im Anschluß daran wird versucht, das Verhältnis ethnischer Gebilde zum Staat zu klären. Als heuristische Hilfskonstruktionen finden zwei Modelle von politischen Herrschaftssystemen Verwendung, um die typische Situation deutlicher erkennen zu lassen, in der sich Völker und Volksgruppen dem Nationalstaat gegenüber befinden. Insbesondere wird versucht, die Rolle von verklammernden Oberschichten bei der Bildung von überethnischen Nationalkulturen zu demonstrieren und das Paradox der strukturbedingten Ethnos-Feindlichkeit des Nationalstaates verständlich zu machen. Im letzten Abschnitt dieses Essays wird das Problem der "Kulturnation" diskutiert. Seit F. J. Neumann 16 und namentlich seit F. Meinecke 17 ist einem "westlichen" Begriff der Staatsnation ein angeblich unpolitischer Begriff der Kulturnation gegenübergestellt worden, der, an Herder anknüpfend, in Mittel- und Osteuropa maßgebend geworden ist. Die damit verbundene Mythenbildung hat manches dazu beigetragen, die politische Auseinandersetzung zu verwirren und eine exakte wissenschaftliche Begriffsbildung zu verhindern. Es wird daher einige Mühe darauf verwandt darzutun, daß im Begriff der Kulturnation zwar bald das Ethnos, bald das Demos als Realbezug enthalten ist, daß es sich aber um ein Gedankengebilde handelt, dem keine bestimmten Bezugsobjekte in der Außenwelt eindeutig zugeordnet werden können. Praktisch wird der Ausdehnungsbereich einer sogenannten Kulturnation allerdings in der Regel mit dem Verbreitungsgebiet einer Schriftsprache identifiziert. Es kann jedoch gezeigt werden, daß auch dieses Kriterium keine eindeutige Bestimmung einer gesamtgesellschaftlichen Einheit zuläßt und daß der Begriff des Sprachvolkes ebenso ungeeignet für die erfahrungswissenschaftliche Analyse sozialer Tatbestände ist wie der der Kulturnation. Die Klärung der Begriffe Volk und Nation macht es möglich, auch den Begriffen Volksgruppe und Minderheit eine präzise Bedeutung zu verleihen. Die beiden erstmals 1957/58 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienenen Beiträge "Minderheitenforschung in Amerika" und "Klassen im ethnisch heterogenen Milieu" enthalten im wesentlichen eine kritische Auseinandersetzung mit der einschlägigen amerikanischen Literatur und den darin zum Ausdruck gebrachten Lehrmeinungen. Eine endgültige Formulierung und systeVolk und Nation. Leipzig 1888. Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates. München und Berlin 3 1915, zuerst 1908. 16

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Einleitung

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matische Darstellung sind im Schlußkapitel enthalten18• Hier werden die wichtigsten Ergebnisse unserer Überlegungen noch einmal zusammengefaßt, soweit sie sich auf das Verhältnis von ethnischen Gebilden zu einer übergeordneten Gesamtgesellschaft beziehen. Dabei stellt sich heraus, daß gewisse Situationen die Bildung zusätzlicher Begriffe erforderlich machen, darunter den Begriff der permanent ansässigen Fremden und der Nationalität (in einem sehr spezifischen Sinn). In diesem Zusammenhang wird der Nationalitätenstaat als echte Alternative zum modernen Nationalstaat aufgezeigt und die für ihn typische Regelung interethnischer Beziehungen analysiert. Vor allem zwei Beiträge gehen entschieden über die "terminologische Flurbereinigung" hinaus, indem der Versuch gemacht wird, empirische Gesetze für bestimmte Typen ethnischer Phänomene zu formulieren. In dem einen' 9 wird mit Hilfe einer klassifikatorischen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Minderheiten gefolgert, daß Isomorphismus zwischen Herkunfts- und Wirtsgesellschaft die Wahrscheinlichkeit der Bildung einer sekundären Minderheitengruppe vermindert, dagegen die Chance einer primären Minderheitengruppe erhöht, sich als funktionierendes Sozialsystem aufrechtzuerhalten. Bei Ausarbeitung dieses Aufsatzes wurde mit der Unterstützung eines Kollegen an der University of Notre Dame, des Mathematikers Arnold Ross, von der Formalisierung typischer Fälle Gebrauch gemacht, die entscheidend zur Entdeckung der besprochenen Zusammenhänge beigetragen hat. Für den Leser bietet die Symbolisierung wohl in erster Linie den Vorteil größerer Anschaulichkeit, sofern sie nicht als Anregung dient, das Problem weiter zu verfolgen, um neue Hypothesen zu gewinnen. In dem Aufsatz "Dreimal Nationalitätenstaat" schließlich werden Einzelfälle -die Österreich-Ungarische Monarchie, Kanada und Nigerien - miteinander verglichen, um die Zusammenhänge zu zeigen, die zwischen gewissen strukturellen Bedingungen und historischen Sequenzen einerseits, dem Vorherrschen bestimmter Typen von nationalen Bewegungen andererseits zu bestehen scheinen. Insbesondere wird gezeigt, daß ständische Eliten dazu neigen, einen Landespatriotismus zu entwickeln und einen föderalistischen Staatsaufbau zu begünstigen, wobei ihnen der ethnische Volksgedanke gelegentlich als willkommener Vorspann dienen kann. Dagegen begünstigen mobile Mittelschichten dann den zentralistischen Nationalstaat französischer Prägung, wenn die Vereinheitlichung einer Staatsbevölkerung bereits weitgehend gelungen ist, bevor sich demokratische Ideen und der ethnische Volksgedanke durchgesetzt haben. Andernfalls kommt es zur Bildung mehrerer 18 19

Vgl. Kap. VIII. Vgl. Kap. IV.

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konkurrierender Gruppen mobiler Mittelschichten, deren eine sich mit dem Gesamtstaat identifiziert, während alle anderen regionale Sonderbestrebungen entwickeln. Wenn die bei diesem Prozeß benachteiligten Mittelschichten außerstande sind, an eine vorgegebene historische Verwaltungseinheit anzuknüpfen, dann neigen sie dazu, ihre Interessen durch direkten Rückgriff auf den ethnischen Volksgedanken zu legitimieren und die Neuaufteilung von Staaten nach ethnischen Kriterien zu fordern. Eine Studienreise durch das südliche und östliche Afrika im Jahre 1963 ermöglichte es dem Verfasser, im abschließenden KapiteF 0 die Anwendbarkeit von im wesentlichen an Hand europäischer und amerikanischer Materialien erarbeiteten Begriffen auf Situationen in den Entwicklungsländern nachzuprüfen. Dabei stellte sich heraus, daß sie sich auch auf die Analyse so schwierig zu überschauender Zusammenhänge anwenden lassen, wie sie dem Außenseiter etwa in der Republik Südafrika entgegentreten. Wenn in diesem Buch wiederholt auf die Soziologie der ethnischen Gebilde Bezug genommen wird, so kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eine solche spezielle Soziologie im Grunde genommen bisher gar nicht gibt. Gewiß haben die hier angeschnittenen Probleme oft die Aufmerksamkeit von Soziologen auf sich gezogen. Namentlich in Amerika haben sie - wenn auch unter den verschiedensten Bezeichnungen- frühzeitig geradezu einen Schwerpunkt des soziologischen Interesses gebildet. Dagegen findet im N achkriegsdeutschland, wo man sich gerne von der Volksgruppenforschung und Volkstheorie einer offenbar auch in dieser Hinsicht nicht ganz bewältigten Vergangenheit distanziert, neben der Familien-, Gemeinde-, Industrie- und zahlreichen anderen Bindestrichsoziologien die Soziologie der ethnischen Gebilde in Fachkreisen kaum ernsthafte Beachtung. Aber auch in Ländern, wo solche Hemmungen keine Rolle spielen, beschränkt man sich meist auf die Behandlung von Teilproblemen, insbesondere der problematischen Situation von ethnischen Sondergebilden (oft "Minderheiten" genannt) im modernen Nationalstaat. Eine der Absichten, die mit der Veröffentlichung der vorliegenden Aufsatzsammlung verfolgt wird, besteht gerade darin, den Nachweis zu erbringen, daß neben den stärker beachteten Aspekten der Minderheitenforschung der ganze weitverzweigte Komplex sozialer Phänomene, für dessen Benennung wir den Ausdruck "ethnische Gebilde" gewählt haben, einen inneren Zusammenhang, eine gewisse logische Konsistenz, aber auch einen ausreichenden Umfang aufweist, um das Aufgaben20

Vgl. Kap. VIII, 6.

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gebiet für eine eigene spezielle Soziologie zu bilden. Die systematische Darstellung einer solchen Soziologie der ethnischem Gebilde lag allerdings nicht in der Absichtdieser Vorstudien; sie muß einer späteren Veröffentlichung vorbehalten bleiben 21 •

21 In Vorbereitung steht ein amerikanisches Lehrbuch, das bei PrenticeHall unter dem Titel "Sociology of Ethnic Groups" erscheinen soll.

Erster Teil

Studien zur Soziologie der ethnischen Gebilde

I Das Problem Sowohl in der Alltagssprache als auch in den Fachsprachen der verschiedenen Wissenschaften, die sich mit dem hier angeschnittenen Problemkomplex auseinanderzusetzen haben (Geschichte, Ethnologie, Soziologie, Rechtswissenschaft, Volkskunde usw.), zeigt sich eine außerordentlich große terminologische Verwirrung, in der auch manche Unklarheiten des Denkens und manche Verkennung der Tatsachen zum Ausdruck kommen. Eine umfangreiche Literatur legt beredtes Zeugnis für die Mangelhaftigkeit nicht nur der wissenschaftlichen Begriffsbildung, sondern auch der Wirklichkeitserkenntnis auf diesem Gebiet ab. Zum Teil handelt es sich einfach um Schwierigkeiten der Verständigung, die durch den Umstand kompliziert wird, daß die populären Vorstellungen, die mit den einschlägigen Ausdrücken verbunden werden, höchst vage und schillernd sind. Sprachgeschichtliche Untersuchungen und die Zergliederung alltäglicher Begriffe eignen sich daher nur in beschränktem Ausmaß dazu, eine Klärung herbeizuführen. "Volk" und "Nation" werden häufig als Synonyme gebraucht. Wo aber ein Unterschied gemacht wird, finden wir, daß die ursprüngliche Bedeutung der beiden Wörter im Lauf der Zeit geradezu vertauscht worden ist. Gleichzeitig hat der Begriffsinhalt allerlei Anreicherungen erfahren, so daß heute der Nationsbegriff zwar nicht mehr genau dasselbe Bezugsobjekt hat wie der ältere Volksbegriff, diesem aber immer noch nähersteht als dem, was früher "Nation" genannt wurde. Außerdem werden in verschiedenen Sprachen etymologisch entsprechende Wörter jeweils in einem anderen Sinn verwendet. Dies erweist sich als besonders mißlich für die Soziologie, deren Begriffe weitgehend im französischen und neuerdings besonders im englischen Sprachraum entwikkelt worden sind. Da z. B. die Verwendung von "people" im Sinne von "Volk" ungebräuchlich oder doch mißverständlich ist, hat sich in der amerikanischen Soziologie der Fachausdruck "ethnic group" eingebürgert. Auf der anderen Seite wird das, was im Deutschen unter "Volk" oder "Nation" verstanden wird, vielfach als "society" wiedergegeben. Ferner haben sich die meisten einschlägigen Forschungen in der Hauptsache mit Gedankengebilden auseinandergesetzt Nun ist es richtig, daß Ideen, Ideale, Deutungen der sozialen Wirklichkeit, kollektive

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Studien zur Soziologie der ethnischen Gebilde

Zielvorstellungen sowie die darauf beruhenden Wertungen und Verhaltensnormen ein Wesenselement der sozialen Gegebenheiten sind, um deren Verständnis und Erklärung sich die Soziologie bemüht - insofern nämlich Menschen sich in ihrem sozialen Handeln tatsächlich an diesen Gedankenbildern orientieren. Aber auch dann erfaßt die Analyse von Idealfaktoren allein nicht das Ganze der sozialen Wirklichkeit. Außerdem geht es bei solchen Untersuchungen meist gar nicht so sehr darum, tragende Ideen, die in einer gegebenen Gesellschaft sozial wirksam sind, ins klare Bewußtsein zu heben, sondern gerade um noch nicht verwirklichte und zum Tragen gekommene Zielvorstellungen einzelner Autoren oder kleiner Kreise. Derartige Idealbegriffe der Nation oder des Volkes haben aber an und für sich nur geringes Interesse für die Soziologie. Erst die Umformung der tatsächlichen Abläufe und Zusammenhänge des sozia.len Handelns, wofür die in den Idealbegriffen enthaltenen Zielvorstellungen den Anstoß geben, bildet ein Stück jener Realität, die es hier zu verstehen und zu erklären gilt. Eng damit verbunden ist das Problem der ideologischen Belastung und Verfärbung von Begriffen, die nicht nur die Formulierungen von Politikern, Moralisten und Männern des praktischen Lebens kennzeichnen. Dasselbe trifft schließlich ebensogut auf die Interpretation der Wirklichkeit zu, wie sie in Rechtsdokumenten zu finden ist, die ja nicht so sehr der rein theoretischen Erkenntnis als vielmehr praktischen Zwekken dienen sollen. Aber auch Gelehrte, die sich ernsthaft um die Erarbeitung adäquater Realbegriffe bemühen, werden nicht selten durchihnen selbst mehr oder weniger unbewußte-Nebenabsichten nichttheoretischer Natur irregeleitet; so, wenn sie eine bestimmte Lehrmeinung über das Wesen der Nation in der Hoffnung vertreten, auf diese Weise konkrete politische Ambitionen zu rechtfertigen. Hinter den Wortverwendungen verbergen sich auch oft tiefgreifende Verschiedenheiten in der Denkweise, die auf besondere philosophische und politische Traditionen zurückgehen. Unter diesen Umständen empfiehlt es sich, voneinem möglichst umfassenden und undifferenzierten Begriff auszugehen und für diesen ein neutrales, von allerlei Nebenvorstellungen möglichst unbelastetes Sprachsymbol zu wählen. In diesem Sinn soll sich hier das Wort "ethnisches Gebilde" zunächst auf all das beziehen, was gemeint ist, wenn von "Volk", "Volkstum", "Volksgruppe", "Volksstamm", "Nation", "Nationalität", "Rasse", "Kulturgemeinschaft" (culture group), "rassischen", "religiösen", "nationalen", "völkischen" oder "kulturellen Minderheiten", "Sprachinseln" u. dgl. gesprochen wird. Dabei wird unterstellt, daß die mit diesen Ausdrücken bezeichneten Sachverhalte innerlich zusammenhängen, ohne daß bereits entschieden werden könnte, worin dieser Zusammenhang eigentlich besteht. Im Begriff des ethnischen Gebildes

Das Problem

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kommt also die Vermutung zum Ausdruck, daß hier ein einheitlicher Bereich der sozialen Wirklichkeit vorliegt, der zum Gegenstand einer Speziellen Soziologie gemacht werden kann. Die Richtigkeit dieser Annahme wird im weiteren zu erweisen sein. Gleichzeitig stellen wir uns zur Aufgabe, nach und nach die verschiedenen Spielarten und Sonderformen von ethnischen Gebilden zu unterscheiden, sie adäquat zu beschreiben und eindeutig zu bezeichnen. Infolge seiner Kompliziert-

heit und Vielschichtigkeit eignet sich das Problem jedoch nicht von vornherein für eine durchgehend systematische Behandlung. Es muß vielmehr immer wieder unter anderen Perspektiven angegangen werden; insbesondere kann es erst in der kritischen Auseinandersetzung mit herkömmlichen Auffassungen und bereits vorliegenden Lehrmeinungen gelingen, allmählich genauere begriffliche Unterscheidungen zu treffen und eine einheitliche Terminologie zu schaffen. In dem Bestreben, den Begriff des ethnischen Gebildes oder der ethnischen Gruppe zu klären, fällt es leichter zu sagen, was sie nicht ist, als was sie ist. Ein ethnisches Gebilde ist keine Rasse, wenn wir Rasse im anthropologischen Sinn als eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamen Erbeigenschaften auffassen. Die auf nahezu alle Kontinente verteilte negroide Bevölkerung der Welt steht in keinem realen sozialen Zusammenhang miteinander, stellt also überhaupt kein soziales Gebilde dar. Auch ist eine ethnische Gruppe keine Nation, wenn wir darunter etwa mit Robert Mciver "eine gefühlsmäßig so zusammenhängende Gemeinschaft" verstehen, "daß sie politische Autonomie besitzt oder wenigstens anstrebt" 1 • Nicht jedes ethnische Gebilde oder Volk besitzt Eigenstaatlichkeit oder drängt nach ihr. Ethnischen Gebilden ist eine Vielfalt von Wesensmerkmalen zugeschrieben worden, wie etwa gemeinsame Bräuche und Sitten, Werte und Normen, Symbole und Sprache, Lebensweise und Charakterformen, gemeinsame Traditionen, Erlebnisse und geschichtliche Erinnerungen, ein gemeinsamer Rassetypus, ein gemeinsamer Siedlungsraum, ja sogar ein gemeinsamer Staat. Viele dieser Attribute lassen sich im landläufigen Begriff der Kultur zusammenfassen, der freilich ebenso undifferenziert und widerspruchsvoll ist wie der Begriff des ethnischen Gebildes selbst. An dieser Stelle genügt es, davon auszugehen, daß jedes ethnische Gebilde durch eine gemeinsame Kultur ausgezeichnet ist. Dagegen würde es bekannten Tatsachen widersprechen, wollte man aus der Verbreitung einer einmaligen spezifischen Kultur an und für sich auf das Vorhandensein eines bestimmten ethnischen Gebildes schließen. Die Kultur verschiedener Gesellschaftsschichten innerhalb ein und desselben Volkes ist z. B. oft so andersartig, daß man sich ernsthaft fragen muß, worin eigentlich die angenommene kulturelle Einheit bestehen soll. So weisen die Lebensformen des Adels verschiedener Völker größere Ähnlichkeiten auf als die von Adel und niederen Gesellschaftskreisen, die dem gleichen Volk angehören. Oder will man etwa den europäischen Hochadel als außerhalb jedes Volkszusammenhangs stehend betrachten? Auf keinen Fall kann etwas Derartiges aber für den bäuerlichen Unterbau eines Volkes angenommen werden. Dennoch konnte nachgewiesen werden, daß den Bauern aller Zeiten und Gegenden gewisse Kulturformen gemeinsam sind, obwohl sie keineswegs ein soziales Gebilde darstellen, noch 1

The More Perfeet Union. New York 1948, S. 270.

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Studien zur Soziologie der ethnischen Gebilde

weniger ein ethnisches Gebilde2 • Sie gehören zum gleichen Kulturtypus, nicht zu derselben Kulturgemeinschaft Auch kann die Kultur eines ethnischen Gebildes Wandlungen unterliegen, ohne daß dieses seine Identität verliert. Ähnliches gilt für die Sprache, die meist als ein wesentlicher Aspekt der Kultur betrachtet wird. Denn Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, können durchaus verschiedenen ethnischen Sozialsystemen angehören. Sonst müßte man Engländer, Amerikaner und sogar die dunkelhäutige Oberschicht Liberias zu ein und demselben Volk rechnen, was kaum jemandem einfallen wird. Neben Kultur und Sprache ist auch Rasse zur Bestimmung von ethnischen Gebilden herangezogen worden. Nun ist es richtig, daß Völker in der Regel endogam sind; Ehen mit Angehörigen anderer ethnischer Gebilde sind oft verpönt. Rasse ist aber in erster Linie eine biologische Gegebenheit, in deren Bereich die Gesetze der Genetik gelten. Nichts deutet darauf hin, daß Inzucht allein, also ohne systematische Auslese, eine Gleichheit äußerlich erkennbarer Wesenszüge herbeiführt. Inwieweit Rassenauslese in ethnischen Gebilden spontan wirksam ist, bleibt großenteils eine Streitfrage. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß das rassische Erscheinungsbild von einem Volk zum anderen häufig typische Unterschiede aufweist. Bedeutungsvoller als wirktiehe biologische Zusammenhänge ist jedoch die geglaubte oder angenommene Abstammungsgleichheit Das Bewußtsein der Blutsverwandtschaft ist geeignet, die emotionalen Bindungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe zu verstärken. Dabei scheint jedoch die tatsächliche genetische Zusammensetzung irrelevant zu sein. Familiennamen folgen z. B. entweder der väterlichen oder (seltener) der mütterlichen Ahnenreihe, und nur gelegentlich werden beide Linien berücksichtigt, obgleich sie vom Standpunkt der Genetik immerhin gleichwertig sind. Seit jeher ist es die Funktion von Abstammungsmythen gewesen, innerhalb eines wie immer entstandenen Sozialsystems die Überzeugung lebendig zu erhalten, daß dessen Mitglieder gemeinsame Vorfahren haben. Körperliche und geistige Eigenschaften, die wirklich oder auch nur angeblich auf gemeinsame Abstammung und Vererbung zurückzuführen sind, beeinflussen jedoch soziales Verhalten noch auf eine andere Weise. Insbesondere körperliche Merkmale, die unverkennbar sind und im allgemeinen nicht willkürlich verändert werden können, eignen sich vorzüglich zur Rationalisierung der positiven und negativen Attitüden, mit denen Menschen einander gegenübertreten. Es ist eine häufige Erscheinung, daß Konfliktsituationen sei es zwischen einzelnen Mitgliedern verschiedener ethnischer Gruppen, sei es zwischen ganzen Völkern - sozusagen an rassischen Besonderheiten einhaken. Das gleiche gilt wohl auch für die Gefühle der Sympathie und Solidarität, auf denen der Bestand so enger Lebensgemeinschaften, wie es ethnische Gebilde sind, nun einmal beruht. Die Identifizierung ethnischer Gebilde mit einem bestimmten geographischen Raum hängt vor allem damit zusammen, daß Menschen Körperwesen sind und die von ihnen gebildeten Sozialsysteme daher irgendwie auch im physischen Raum verankert sind. Eine Besonderheit ethnischer Gebilde könnte z Vgl. E. K. Francis: The Personality Type of the Peasant According to Hesiod's ,Works and Days'. A Culture Case Study; in: Rural Sociology 10 (1945), S. 275-295; ferner C. Zimmermann: Outline of Cultural Rural Sociology. Cambridge, Mass. 1946 und 1948; R. Redfield: The Little Community. Peasant Sociology and Culture. Chicago 1960.

DasProblem

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in der Ausschließlichkeit gesehen werden, mit der sie im allgemeinen einen bestimmten Ausschnitt dieses Raumes für sich in Anspruch nehmen. In diesem Sinn spricht man von "Siedlungs- und Verbreitungsgebieten" verschiedener Völker. Erscheinungen wie Nomadenturn und Wanderungsbewegungen, das Durcheinandersiedeln von Völkern und das Vorhandensein ethnischer Mischgebiete sprechen jedoch dagegen, einen prinzipiellen Zusammenhang zwischen Volk und Raum zu postulieren. Hinsichtlich des oft erwähnten Merkmals der gemeinsamen Geschichte wird in erster Linie an folgendes zu denken sein: Das Gefühl der Solidarität, auf dem ein ethnisches Gebilde beruht, setzt eine beträchtliche Zeitspanne der wechselseitigen Anpassung voraus, während der die Erinnerung verblaßt, daß die Vorfahren seiner Mitglieder ursprünglich ganz verschiedenen Sozialsystemen angehört haben. Im übrigen ist Geschichtlichkeit keine Besonderheit ethnischer Gebilde. In allen menschlichen Verhältnissen spielt der Zeitfaktor eine Rolle. Dagegen stellt das Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte ein besonderes Problem dar3. Jedenfalls deutet die Rede von "geschichtslosen Völkern" darauf hin, daß ethnische Gebilde auch ohne ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein entstehen und bestehen können. Gewiß gehört ein spezifisches "Wir-Gefühl" oder Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zum Wesen eines ethnischen Gebildes; nur unterscheidet es sich hierin in nichts von anderen Sozialgebilden. Wir hätten nicht ausdrücklich auf diesen Punkt Bezug genommen, böte er nicht den Schlüssel für eine beachtenswerte Unterscheidung, die von J.-T. Delos4 zwischen Volk und Nation getroffen worden ist. Dieser spricht zwar meist von "groupe ethnique", verwendet aber wenigstens einmal unversehens auch das Wort "peuple". Ein Volk wird zur Nation - so meint er - durch "La passage de La communaute de conscience d La conscience de former une communaute" 5 • Da Delos auch den Ausdruck "conscience de nous" benützt, können wir "communaute de conscience" mit "Wir-Gefühl" übersetzen. Die ethnische Gruppe- so fährt er fort- ist "une realite objective", obgleich keine "conscience reflexe" vorhanden ist. Zwei Momente verwandeln sie in eine Nation: Erstens das Bewußtsein, eine ursprüngliche Wesenheit zu bilden, und zweitens der Wert, der dieser Tatsache beigemessen wird. "Elle se manifeste par La volonte de perpetuer La vie commune6 ." Daher ist die Nation ein Volk "qui prend conscience de lui-meme selon ce que l'histoire l'a fait; il se replit dans son soi, dans son passe; ce qu'il aime celui-meme tel qu'il se connait ou se figure etre'n. Wir sind zu einer vorläufigen Lösung gelangt: Das Gefühl, eine Gemeinschaft zu bilden, und der Wille, diese Geinschaft zu erhalten, und zwar - wie wir hinzufügen möchten - im wesentlichen s Vgl. Kap. V, 3. 4 Le problerne de la civilisation. La nation. Bd. I: Sociologie de la nation. Montreal 1944. 5 a. a. 0., S. 93. 0

7

Ebd.

a. a. 0., S. 94.

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durch politische Maßnahmen, bilden in der Tat eine Voraussetzung der Nation. Folgen wir Delos, so kann allerdings eine Nation nur dann entstehen, wenn vorher bereits ein anderes Sozialsystem vorhanden ist, eben eine groupe ethnique, ein ethnisches Gebilde. Damit sind wir wieder auf unseren Ausgangspunkt zurückgeworfen. Worin besteht das Wesen des ethnischen Gebildes? Wir haben bereits angedeutet, daß keine der Gemeinsamkeiten, die zu seiner Bestimmung herangezogen worden sind, auf jeden konkreten Einzelfall zutrifft. Das gleiche gilt für den gemeinsamen Staat, der gelegentlich erwähnt wird. Gewiß kommt es vor, daß die Unterordnung unter eine gemeinsame Regierung, direkt oder häufiger indirekt, durch Auferlegung gemeinsamer Gesetze, Einführung einer gemeinsamen Verwaltungssprache, Privilegierung einer bestimmten Religion, Förderung spezifischer Loyalitätsgefühle u. a. m. eine ethnisch heterogene Bevölkerung zu einem neuen Volk zusammenschweißt, oder daß Staatsgrenzen eine ethnisch homogene Bevölkerung spalten bzw. deren Kultur, Sozialstruktur und Charakter wesentlich verändern können. Der Versuch, auf induktivem Weg durch die vergleichende Analyse objektiver Merkmale verschiedenster ethnischer Gebilde zu einem für alle geltenden Bestimmungsgrund zu gelangen, ist oft genug gemacht worden und immer wieder gescheitert. Dieses Versagen läßt sich großenteils darauf zurückführen, daß der prinzipiell dynamische Charakter ethnischer Gebilde (wie aller sozialen Systeme überhaupt) bei der Begriffsbestimmung weitgehend vernachlässigt worden ist. Nun können konkrete Gebilde, die zum Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung gemacht werden, ganz verschiedene Stadien ihrer Entwicklung repräsentieren. Es kann sehr wohl sein, daß die Faktoren, die zur Entstehung eines bestimmten ethnischen Gebildes geführt haben, ihre Bedeutung einbüßen, sobald ein gewisser Grad des inneren Zusammenhalts erreicht ist; oder umgekehrt können Faktoren, die anfangs gar nicht vorhanden oder wirksam waren, später sehr entscheidend zur Erhaltung des Gebildes beitragen. So findet man beispielsweise, daß gewisse Religionsgemeinschaften typische Züge und Verhaltensweisen von ethnischen Gebilden erkennen lassen, obwohl die ursprüngliche Zusammenfassung von ethnisch höchst heterogenen Elementen aufgrund einer bestimmten religiösen Überzeugung bzw. kirchlichen Organisation und nicht etwa aufgrund einer gemeinsamen Sprache, Regierung, Kultur, räumlichen Lokalisierung usw. erfolgt ist. Manche von ihnen haben dann im Lauf der Zeit religiöse Spaltungen erlebt, ohne daß dadurch ihre kollektive Identität und ihr innerer Zusammenhalt in Frage gestellt worden wären. Andererseits haben bei der Bildung neuer ethnischer Gemeinschaften, wie sie im Lauf der letzten Jahrhunderte etwa in Nord- und Südamerika vor sich

Das Problem

33

ging, häufiger politische und geographische als religiöse Faktoren mitgewirkt. So können wir ganz allgemein feststellen, daß für die Prozesse der Ausweitung, Spaltung oder Vereinigung heterogener Elemente, denen auch ethnische Gebilde unterliegen, von Fall zu Fall jeweils ganz verschiedene Faktoren verantwortlich sind. Der Gedanke liegt nahe, daß bei der Bildung ethnischer Gruppen Loyalität einem "äußeren Objekt" gegenüber weitaus am entscheidendsten ist. Doch das Objekt der Anhänglichkeit verschiebt sich von einer Geschichtsperiode zur anderen und von Land zu Land. Es kann ein Monarch sein, eine Religion, eine Sprache und Literatur, eine politische Ideologie, die auf eine bestimmte Regierungsform abzielt, oder auch eine Klasse. Der Typus des Katalysators ist anscheinend ebenso variabel wie die Kultur, die Interessen und die Ideen der Menschen. Wie dem auch sei, offenbar ist immer ein solcher Katalysator nötig, um ethnisch heterogene Elemente zu einem ethnischen Gebilde zu vereinigen. Nach Delos besteht ein sozialer Tatbestand in dem Wechselverhältnis, das einen Menschen mit anderen Menschen verbindet, und zwar nicht direkt, sondern durch Vermittlung eines Objektes, also von etwas außerhalb der Personen Liegendem, das sie in eine Beziehung zueinander bringt. Er meint, alle Institutionen und alle Gruppen wiesen diese Dreiheit auf: PersonObjekt - Person. Wenn diese Ansicht richtig ist, dann würde das, was wir im übertragenen Sinn einen Katalysator genannt haben, mit dem "objet individuel et exteriteur" von Delos zusammenfallen. Doch ist dieses Objekt- so behauptet er - ein allen sozialen Tatsachen gemeinsames Element. Sollten wir daher vielleicht eher die materiell bestimmte Art dieses Objektes als Grundlage für die Klassifikation sozialer Gebilde wählen? Religiöse Gruppen wären dann jene, die Religion zum Objekt haben; Kulturgruppen jene, die Kultur zum Objekt haben usw. Welches besondere Objekt sollten wir jedoch zur Charakterisierung einer ethnischen Gruppe wählen und warum verhält sich eine religiöse Gruppe unter gewissen Umständen genauso wie eine ethnische Gruppe 8 ? Wir könnten sogar die Frage aufwerfen, ob die Ideologien und Wir-Gefühle, die nach Delos die Bildungskräfte einer Nation sind, sich typologisch von jenen Kräften unterscheiden, die zur Bildung religiöser Gruppen führen. Hans Kohn meinte einmal, daß heute der Nationalismus die umfassendste Religion aller Zeiten sei 9 • Obwohl in gewissem Grad übertrieben, spricht dieser Hinweis jedem Versuch Hohn, die hier erwähnten Erscheinungen nach Objekten zu klassifizieren. Wennwir Delos recht verstehen, s Vgl. Kap. IX, 2. g Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution. Heidelberg 1950, S. 44 ff.

a

Francis

Studien zur Soziologie der ethnischen Gebilde

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würde eine ethnische Gruppe fast mit einer Nation identisch sein, die ihrer selbst noch nicht voll bewußt geworden ist. Wäre dies nicht sozusagen eine Definition ex post facto? Oder ist das ethnische Gebilde ein umfassenderer, vielleicht der umfassendste Tatbestand menschlicher Vergesellschaftung, so daß es gleichbedeutend wäre mit dem, was oft "Gesellschaft" genannt wird? In diesem Sinn erklärte L. Gumplowicz einmal, daß für die Bezeichnung der Gesamtheit aller Gesellschaftskreise im Staate "Gesellschaft" überflüssig sei, da das Wort "Volk" bereits existiere und vollkommen ausreiche10 • In der bisherigen Diskussion haben wir "ethnische Gebilde" im wesentlichen mit "Volk" gleichgesetzt. Es wird sich zeigen, daß wir neben Volk und Volksgruppe noch einen Oberbegriff benötigen, der beide umschließt. Hierfür bietet sich das Kunstwort "ethnisches Gebilde" an. "Volk" ist in der Tat eine sinngemäße Übersetzung von "l:'l'tvo~". In einer privaten Mitteilung gibt der bekannte Philologe Kurt von Fritz die folgende Erläuterung: "Die Perser, die Lyder, die Ägypter, die Phryger, aber auch die griechischen Stämme wie die Ätoler, die Argiver usw. werden "f:itvt]" ohne jede Reflexion auf ihre politische Organisation genannt. Die t1'tv1] bleiben "l€1'tv1J", auch wenn sie ihre Unabhängigkeit verloren haben und einem größeren Reich angehören. So enthält das Perserreich des Dareios oder Xerxes eine große Anzahl von i!1'tv1], von denen die Perser nur eines, und zwar eine kleine Minderheit sind. In genau diesem Sinn hat übrigens W. Wundt das Wort "Völkerpsychologie" eingeführt; die Verdeutschung für "Ethnologie" ist "Völkerkunde", und W. H. Riehl verstand unter "Volkskunde" ungefähr dasselbe, was wir mit "Soziologie" meinen. Von Fritz geht dann auf den Unterschied zwischen "i€1'tvo~" und "bfuw~" ein, der für unsere Zwecke von besonderer Bedeutung wird; denn die Idee der Nation schöpft einerseits aus dem demokratischen Staatsdenken, andererseits aus der romantischen Rückwendung zum primitiven Volkstum. Die Zwielichtigkeit und innere Widersprüchlichkeit des modernen Nationsbegriffes ist gerade darauf zurückzuführen, daß in ihm die Bedeutungen von "ltitvo~" und "bfiflo~" wahllos zusammengeworfen werden. In gewissem Sinn ist es richtig, wenn der Begriff der Nation von dem des Volkes abgeleitet wird. Der Nationalbegriff hat aber noch eine andere Wurzel und zeigt dann eine enge Verwandtschaft mit der Bedeutung des altgriechischen "bfiflo~". Hierzu bemerkt vonFritz: ",1\fiflo~' dagegen bedeutet das Volk einer politisch organisierten Gemeinde, und zwar einerseits die Gesamtheit der EAEuitEQOL, der Freien, d. h. derjenigen, welche die eigentliche Gemeinde bilden, einschließlich der Aristokratie, aber ausschließlich der Fremden und der Sklaven; andererseits kann auch die Gesamtheit der Gemeinfreien im Gegensatz zu den Vornehmen als ,bfiflo~· bezeichnet werden. Endlich heißen in Athen auch noch die Einzeldörfer von Attika, aus deren Vereinigung das athenische Volk entstanden ist, ,bfifloL' eben weil sie einmal selbständige politische Gemeinden gewesen sind. Die Doppeldeutigkeit des Wortes einerseits als Gesamtgemeinde, andererseits als Gesamtheit der Gemeinfreien (ausschließlich der Vornehmen) ist wohl daraus 10

Grundriß der Soziologie. Wien 1 1905, S. 234.

Das Problem

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zu erklären, daß in den ursprünglichen Volksmonarchien alle wesentlichen Beschlüsse von der Gesamtheit der Freien in der Volksversammlung gefaßt wurden. Als aber dann eine Aristokratie von Großgrundbesitzern im 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. vielerorten immer mehr die politische Macht an sich gerissen hat, bildete sich ein Gegensatz zwischen der Mehrheit der Gemeinfreien und den Aristokraten heraus, der eben darin Ausdruck fand, daß nun die Gesamtheit der Gemeinfreien als Öi'jf!O~ den Aristokraten oder xaQLEV"tE~ entgegengesetzt wurde. Da die Bildung solcher Aristokratien nicht überall ganz auf dieselbe Weise vor sich gegangen ist, so gibt es naturgemäß auch in der Verwendung dieser Terminologien allerhand komplizierte Nuancen, die man in einem Brief nicht ausreichend auseinandersetzen kann ..." Der Ausdruck "ethnic group" wird aber in der amerikanischen Soziologie, der sich freilich aus der Umgangssprache kein geeignetes Äquivalent für "Volk" anbietet, noch in einer etwas anderen Bedeutung verwendet. Hier entspricht es vor allem dem, was im Deutschen unter "Nationalität" oder "Minderheit" verstanden wird. In genau diesem Sinn hat man übrigens gelegentlich auch von "Volksgruppe" gesprochen. In einer Untersuchung, die R. M. Williams 11 kurz nach dem letzten Krieg über das Problem der Beziehungen verschiedener Gruppen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zueinander angestellt hat, werden ethnische von rassischen und religiösen Gruppen unterschieden. Unter einer ethnischen Gruppe versteht Williams "one possessing continuity

through biological descent whose members share a distinctive social and cultural tradition" 12• Eine solche Definition hat den Nachteil, daß

sie ebensogut auf den inneren Zirkel alter Bostoner Familien, die japanische Nation oder die Polen in Amerika paßt, obwohl offensichtlich nur der letztere Typus sozialer Gebilde gemeint ist.

Eine rassische Gruppe bezeichnet Williams als "one whose members through biological descent share distinctive common hereditary physical characteristics13 ". Eine ähnliche Auffassung finden wir in Mclver's Definition von Rassen als "clusters of people with some geographical identification, each cluster exhibiting typically a characteristic combination of minor physical differences genetically transmissible" 14 • Sofort

taucht eine Reihe von Fragen auf. Warum werden nur gewisse physische Merkmale herangezogen, um rassische Gruppen voneinander zu unterscheiden, während z. B. rote Haare, die gleichfalls zu den vererbbaren Körpereigenschaften gehören, in der Regel unbeachtet bleiben? Warum werden manche Bevölkerungen, die man geographisch identifizieren kann und die im Grund genommen nur recht oberfläch11 The Reduction of Intergroup Tensions. A Survey of Research on Problems of Ethnic, Racial, and Religious Group Relations (= Social Science Research Council Bulletin 57). New York 1947. 12 a. a. 0., S. 42. 13 Ebd. u a. a. 0., S. 269.

3*

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liehe phänotypische Unterschiede aufweisen, als verschiedene Rassen angesehen, während dies in anderen sehr ähnlich gelagerten Fällen nicht zutrifft? Wie geringfügig ("minor") können solche Unterschiede werden, bevor der Begriff der Rasse (z. B. bei der Beschreibung der Juden) durch einen anderen, etwa den der ethnischen Gruppe, ersetzt werden müßte? Die religiöse Gruppe endlich bestimmt Williams durch den Hinweis auf eine gemeinsame religiöse Orientierung, ein Glaubensbekenntnis oder einfach auf die Zugehörigkeit zu einer Kirche bzw. religiösen Bewegung. Trotzdem werden Bevölkerungen dieser Art keineswegs immer als religiöse Gruppen in dem Sinne betrachtet, wie das Williams hier tut. Denn aus dem Zusammenhang ist ersichtlich - außerdem entspricht es auch der in Amerika vorherrschenden Auffassung -, daß man hierbei zwar an die Mennoniten, Juden, Mormonen oder Katholiken in den USA zu denken hätte, aber z. B. die Katholiken in Spanien, die Juden in Israel oder die Unitarier in den Vereinigten Staaten nicht mit einzubeziehen wären. Wiederum sehen wir, wie der Versuch, die ethnische Gruppe auch in dieser zweiten Bedeutung mit Hilfe von äußeren Merkmalen zu charakterisieren und so von anderen Gebildearten zu unterscheiden, zu ganz und gar unbefriedigenden Ergebnissen führt. Denn es konnte niemals überzeugend nachgewiesen werden, daß eine besondere Sprache, irgendeine sektenhafte Religion, gewisse Körpereigenschaften, die auf gemeinsame Abstammung schließen lassen, charakteristische Volksbräuche oder gar Volkstrachten, typische Formen des Rechts und des sittlichen Denkens, bestimmte Lebensformen und Charaktereigenschaften oder irgendeine Kombination davon schlechthin genügen, um aus allen Individuen, auf die diese Eigenschaften zutreffen, ipso facto ein eigenständiges Sozialgebilde zu machen. Es ist eine Binsenwahrheit, daß solche Merkmale nur dann zur Gruppenbildung führen, wenn sie von der beteiligten Bevölkerung als typische Symbole der Gruppendifferenzierung betrachtet werden. Aber das erklärt durchaus nicht, warum und unter welchen Umständen äußere Merkmale tatsächlich für die Unterscheidung verschiedener Sozialgebilde wirksam werden. Der Grund dafür kann sicher nicht in den Merkmalen selbst liegen. Vielmehr besteht ihre eigentliche Funktion in der klassifikatorischen Unterscheidung einer gegebenen Gruppe und ihres Personals von allen anderen Gebilden, die der Lebenserfahrung der die Unterscheidung Treffenden zugänglich sind. Das Vorhandensein wirksamer Unterscheidungsmerkmale aber ist keine Besonderheit von Minderheiten, Völkern oder Nationen, sondern eine wesentliche Voraussetzung für das Bestehen aller in einem umfassenderen Sozialzusammenhang eingebetteten Sozialgebilde.

Das Problem

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Auf der anderen Seite ist es nicht notwendig, daß jede ethnische Gruppe durch eine ihr allein eigentümliche Rasse, Kultur, Religion, Sprache usw. oder eine besondere Kombination solcher Eigenschaften objektiv gekennzeichnet ist. Vielmehr sind charakteristische Unterscheidungsmerkmale jeweils leicht erkennbare äußere Kennzeichen, die geeignet sind, im täglichen Umgang die ethnische Fremdartigkeit der ihr Zugerechneten gegenüber allen anderen an der betreffenden Gesamtgesellschaft Beteiligten deutlich hervorzuheben und dadurch die Identifizierung der ethnischen Herkunft von sonst unbekannten Personen zu erleichtern, soweit diese sozial relevant ist. Das gleiche gilt mutatis mutandis für ganze Völker und auch für Nationen. Daraus erklärt sich auch, warum aus einer großen Anzahl von Eigenschaften jeweils nur einige ausgewählt werden. Dazu kommt noch, daß die in einer Situation herangezogenen Kennzeichen verschieden sein können von den Kennzeichen, die sich in einer anderen Situation bewähren. Denn die Auswahl von Kennzeichen ist völlig von dem Bezugsrahmen abhängig. So kann etwa zur Kennzeichnung ein und desselben Volkes bzw. seiner Angehörigen einmal seine Sprache oder Geschichte, das andere Mal aber seine Religion herangezogen werden, wenn die ursprünglich verwendeten Unterscheidungsmerkmale in einer z. B. infolge von Wanderungen veränderten Situation sich nicht mehr für diese Funktion eignen15 • Aus dem Vorhergehenden ist leicht ersichtlich, warum äußere Kennzeichen, die unter verschiedenen Umständen der praktischen Unterscheidung ethnischer Gebilde und ihrer Mitglieder dienen, nicht ohne weiteres zu deren theoretischer Begriffsbestimmung geeignet sind. Diese wird aber noch durch eine andere falsche Vorstellung erschwert, die als planimetrischer Irrtum bezeichnet werden könnte. Er besteht darin, sich die gesamte Bevölkerung der Erde als in soundso viele Nationen oder Völker eingeteilt zu denken, deren genaue Grenzen und Verbreitung auf einer zweidimensionalen Landkarte abgesteckt werden können. Innerhalb des von einer Nation besetzten Gebietes glaubt man dann gelegentlich ganz ähnliche, wenn auch nicht ebenso vollentwickelte, örtlich begrenzte Gebilde zu entdecken: die sog. Nationalitäten oder Minderheiten. Schematisch wird die Nation, zu deren Bezeichnung oft auch der Ausdruck "Gesellschaft" dient, als ein großer Kreis dargestellt. In diesen werden dann kleinere Kreise eingezeichnet, um verschiedene untergeordnete Gruppen, darunter die sogenannten Minderheiten anzudeuten. Natürlich weiß man, daß die kleineren Kreise einander vielfach überschneiden und selbst noch kleinere Untereinheiten umfassen können. Aber im Grund genommen bleibt das 15

Vgl. Kap. IX, 2.

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Schema planimetrisch, während die dritte Dimension häufig den Erscheinungen der sozialen Schichtung vorbehalten wird. Zudem wird angenommen, daß jede dieser nationalen Gesellschaften eine eigenartige, ja einzigartige Kultur besitzt, vielleicht sogar einen spezifischen Volksgeist, und daß die Kultur jedes sozialen Gebildes dieser Art wesentlich verschieden von der aller anderen Gebilde ist. Minderheiten werden analog zu dieser Vorstellung von Nationen aufgefaßt, indem man meint, daß auch jede von ihnen eine besondere Kultur besitzt, die sie von der nationalen Gesellschaft scharf abhebt, aber gleichzeitig einer anderen nationalen Gesellschaft nahebringt, nämlich jener, von der die betreffende Minderheit abstammt. Die Naivität dieser Art soziologischen Denkens wird natürlich offenbar, sobald man es aller gleißenden Worte entkleidet. Da die graphische Darstellung eines multidimensionalen Raumes nun einmal unmöglich ist, sollte man sich daran gewöhnen, in weit abstrakteren Kategorien zu denken, wenn man die Beziehungen zwischen den verschiedenen Arten von sozialen Gebilden ergründen will. Führen wir "Volk" im Sinn von "Ethnos" als einen Zentralbegriff der Soziologie der ethnischen Gebilde ein, so taucht die Frage nach dem Verhältnis von Volk zu Gesellschaft auf. Auf dieses Problem soll hier noch kurz eingegangen werden. Das Wort "Volk" wirkt wie ein Fremdkörper im Vokabular der modernen Soziologie, deren Schlüsselbegriff nach wie vor "Gesellschaft" bleibt. Freilich hat dieser Begriff im Laufe der Zeit tiefgreifende Wandlungen durchgemacht16 • Der ursprüngliche Gegenstand der Soziologie ist die "bürgerliche Gesellschaft" gewesen, also eine besondere historische Gesellschaftsform, nämlich die Gesellschaft der damaligen Gegenwart. Für die soziologische Gegenwartsanalyse aber besteht kein Anlaß, nach einem konkreten Bezugsobjekt für "Gesellschaft" zu suchen; es versteht sich von selbst, was gemeint ist. Ähnliches gilt von der soziologischen Geschichtstheorie; die Definition von Entwicklungsstadien der Gesellschaft verlangt nach zeitlichen, nicht nach räumlichen Abgrenzungen. Erst die eingehendere Beschäftigung mit ethnographischem Material und mit nicht-europäischen Hochkulturen legte die Annahme einer Pluralität von Gesellschaften nahe. Unversehens verwandelte sich "Gesellschaft" aus einem Namen für historisch Einmaliges in einen Allgemeinbegriff. Diese Entwicklung ist zweifellos durch die Organismustheorie gefördert worden. Denn ein Organismus muß sich von anderen Organismen unterscheiden lassen, er muß Grenzen haben und anhand seiner Grenzen eindeutig bestimmbar sein. Erkennbare physische Grenzen haben aber vor allem 11 Vgl. E. K. Francis: Art. "Soziologie"; in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft Gesellschaft. Hrsg. Görresgesellschaft. Freiburg 1959-1963, Bd. 7, S. 415 bis 455.

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politische Gemeinwesen. Es ist deshalb kein Zufall, wenn etwa H. Spencer den abstrakten Begriff der Gesellschaft durch den Hinweis einerseits auf Nationalstaaten, andererseits auf primitive Stammesgemeinschaften konkretisiert. An dieser Auffassung hat sich im Grund genommen wenig geändert. Auch T. Parsans kann kein anderes Beispiel für ein "boundary-maintaining social system" angeben als die amerikanische Nation 17 • Damit ist freilich wenig gewonnen. Denn wenn "Gesellschaft" praktisch mit "Nation" und "Staat" verschwimmt, dann ist der Ausdruck überflüssig. Der Gesellschaftsbegriff wurde jedoch gerade deshalb in die Fachsprache eingeführt, um ihn dem Staatsbegriff gegenüberzustellen. Er bezog sich zuvörderst auf eine staatsfreie Sphäre, die dem Menschen von Natur aus zusteht und in der sich die menschliche Persönlichkeit entfalten kann. Diese .,Gesellschaft" ist aber ein moralischer, kein primär soziologischer Begriff. In diesem Zusammenhang wäre an eine Eigentümlichkeit zumindest des deutschen Sprachgebrauches zu erinnern. Zwar läßt sich empirisch nachweisen, daß sich Menschen mit einem Volk, einer Nation oder einem Staat identifizieren. Hat es aber viel Sinn zu sagen, jemand "gehöre" der deutschen, jemenitischen oder südafrikanischen "Gesellschaft" an (es sei denn, man versteht darunter das, was auch als "höhere Gesellschaft" bezeichnet wird)? Trotzdem hat sich der Ausdruck "Gesellschaft" oder "Gesamtgesellschaft" in der Soziologie eingebürgert und für viele Zwecke seine analytische Nützlichkeit erwiesen. So sind nicht alle Gesamtgesellschaften ethnischer Natur. Außerdem benötigen wir vielfach zur sprachlichen Darstellung soziologisch relevanter Erscheinungen einen relativ unbestimmten Terminus, der überall dort eingesetzt werden kann, wo die Untersuchungsabsicht keine genauere Definition des größeren Sozialzusammenhanges erfordert, in dem die in Rede stehenden Phänomene beobachtet werden. Immerhin läßt sich die Gesamtgesellschaft soziologisch als der umfassendste Typus von Verbänden betrachten. Ein solches Gebilde ist fähig, alle Grundbedürfnisse der an ihm Beteiligten zu befriedigen und sich ohne alle sozialen Beziehungen außerhalb seiner selbst auf unbestimmte Zeit zu erhalten. Es ist also potentiell autark und unabhängig von allen Sozialgebilden, die nicht in ihm eingeschlossen sind. Es kann die zu seiner Erhaltung notwendige Bevölkerung selbst reproduzieren. Die eine Gesellschaft konstituierenden Normen sind darauf gerichtet, das soziale Verhalten aller an ihr Beteiligten für jede mög17 Vgl. u. a. An Outline of the Social System; in: Theories of Society. Hrsg. T. Parsons, E. Shits, K. D. NaegeZe, J. R. Pitts. Glencoe, Ill. 1961, Bd. 1, S. 36 ff.

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lieherweise auftretende Situation, die sein Funktionieren wesentlich berührt, so zu regeln, daß die Selbsterhaltung der Gesellschaft gewährleistet bleibt. Freilich erfüllen reale Sozialsysteme, die für die Zwecke der soziologischen Analyse als Gesamtgesellschaften behandelt werden können, in der Regel nicht streng diese Bedingungen. Worauf es ankommt, ist aber, daß eine konkrete Gesamtgesellschaft so gedacht werden kann, daß - wenn alle Beziehungen nach außen hin unterbrochen würden und das Gebilde völlig isoliert wäre - die Gesellschaft als funktionierendes System mit der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Mindestbevölkerung weiterbestehen würde18 • Will man die mit dem Wort "Gesellschaft" verbundenen Mehrdeutigkeiten vermeiden, so könnte man statt dessen auch von sozialem "Vollgebilde" sprechen. Das hätte den unleugbaren Vorteil, daß wir viel weniger leicht in die Gefahr gerieten, etwas, das eine so gekünstelte Bezeichnung trägt, uns als einen Organismus, als eine Kollektivperson, als eine metaphysische Substanz oder auch nur als Substrat der sozialen Prozesse, Wechselbeziehungen und Handlungssysteme vorzustellen, die den Gegenstand der Soziologie , namentlich der Makrosoziologie ausmachen. Unter Vollgebilde verstehen wir dann ein soziales Gebilde, dessen Mitglieder - wenigstens potentiell - mit ihrer ganzen Persönlichkeit daran teilhaben. Im Fall von Teilgebilden dagegen sind die Mitglieder immer und notwendigerweise nur mit einem Segment ihrer Persönlichkeit an dem Gebilde beteiligt. Die Frage, wie sich Volk zu Gesellschaft, Nation zu Staat, Volk zu Nation konkret verhalten, liegt zwar ebenso nahe und ist in irgendeiner Form ebensooft gestellt worden wie die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Staat. Solche Fragen sind jedoch in dieser Form soziologisch gleicherweise unbeantwortbar. Was immer man unter "Gesellschaft" verstehen mag - ein soziales Vollgebilde, die Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit, den Inbegriff der menschlichen Vergesellschaftung -, immer sind in dem Begriff der politische und wirtschaftliche Bereich mit eingeschlossen. Die selbst bei M. Weber zu findende Trennung und Nebeneinanderstellung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereiches fordert sofort die Frage heraus: Sind Wirtschaft und Politik nicht auch "soziale" Phänomene, und inwiefern sind die "gesellschaftlich" genannten Erscheinungen "sozialer" als etwa der Staat? Wenn "Staat" soviel bedeuten soll wie nof..rteia oder res publica, dann liegt nahe, darunter dieselbe Totalität gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge zu verstehen, die gemeint ist, wenn man "Volk", "Nation" und eben "Gesellschaft" denkt. 18 Vgl. E. K. Francis: Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens. Bern und München 1957, S. 108 ff.

Das Problem

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Das Dilemma läßt sich nur aufheben, wenn wir uns daran erinnern, daß derartige Begriffe geschaffen worden sind, um unsere Aufmerksamkeit jeweils auf andere Aspekte der totalen sozialen Wirklichkeit zu lenken. Wenn wir von Staat sprechen, dann stehen die Herrschaftsbeziehungen im Vordergrund des Interesses; wenn Soziologen dagegen an Gesellschaft denken, liegt nahe, von der politischen und Rechtsordnung bzw. den Wirtschaftsbeziehungen abzusehen, die den Gegenstand anderer Wissenschaften bilden. Wenn wir aber dann nach den geographischen Grenzen suchen, die eine Gesellschaft von der anderen trennen, dann werden wir letzten Endes wieder auf das Staatsgebiet zurückverwiesen. Der primäre Zweck des Gesellschaftsbegriffes war es, die staatliche von einer nicht-staatlichen Sphäre der sozialen Wirklichkeit, nicht aber die, eine Gesellschaft von einer anderen zu differenzieren. Der Volksbegriff dagegen gewinnt seine spezifische Bedeutung gerade dort, wo der traditionelle Gesellschaftsbegriff nicht mehr ausreicht. Die Funktion des Volksbegriffes ist es, Gemeinsames gegenüber Fremden hervorzuheben; das, was verbindet, dem Trennenden gegenüberzustellen; ohne Rücksicht auf die historischen Zufälligkeiten der jeweiligen Herrschaftsordnung und ohne Rücksicht auf politische Grenzen etwas relativ Dauerhaftes und Bleibendes ins Bewußtsein zu rufen.

II Das Volk als soziologische Kategorie (Münchner Antrittsvorlesung 1959) Magnifizenz, Herr Prodekan, hochverehrte Kollegen, meine Damen und Herren 1 ! An unserer Universität besteht zwar erst seit kurzem ein eigener Lehrstuhl für Soziologie, soziologische Vorlesungen aber werden hier schon seit einem vollen Jahrhundert abgehalten. Der erste Fachvertreter war Wilhelm Heinrich RiehL, Professor für Kulturgeschichte und Statistik an unserer Fakultät. Obwohl Riehl seine Wissenschaft als "Volkskunde" bezeichnete, entsprechen Absicht und Inhalt seiner Forschungen ebenso wie seine Arbeitsweise durchaus dem, was man heute unter Soziologie versteht. Die "Wissenschaft vom Volk" war gedacht als die systematische Begründung einer sozialen Politik auf solidem Tatsachenwissen und auf der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens. Soziale Politik aber bedeutete für ihn die rationale Gestaltung des gesellschaftlichen Daseins überhaupt. Riehl ist ein Zeitgenosse von Herbert Spencer, Lorenz von Stein, Karl Marx und Frederic LePlay; damit reicht die Münchener Tradition in die Frühgeschichte der Soziologie zurück. Diese Tradition ist seither von vielen namhaften Gelehrten fortgesetzt worden, allen voran von Max Weber. Seine Berufung auf den national ökonomischen Lehrstuhl Lujo Brentanos nahm Weber unter der Voraussetzung an, daß er sich im wesentlichen auf soziologische Vorlesungen beschränken würde2. Den Auftakt zu seiner allzu kurzen Lehrtätigkeit in München bildete denn auch ein Kolleg über die Grundkategorien der Soziologie. Gleichzeitig arbeitete er am Abschluß seiner Großen Soziologie "Wirtschaft und Gesellschaft". Wenn nun die Lehren Riehls und Webers als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen dienen sollen, so ist dies nicht ein bloßer Akt verständlicher Pietät. Die Errichtung bzw. Besetzung eines neuen Lehrstuhls wäre vielleicht eine passende Gelegenheit gewesen, um Natur und Zweck der Soziologie in all1 Die folgende Untersuchung über den soziologischen Volksbegriff wurde zuerst als Münchener Antrittsvorlesung verfaßt. Da ihr Inhalt in den Rahmen der bereits damals geplanten Sammlung meiner Beiträge zur Soziologie der ethnischen Gebilde besonders gut zu passen schien, folgte ich nicht dem Brauch, meine Antrittsvorlesung als Sonderschrift zu veröffentlichen. Um so angemessener erschien es, ihre ursprüngliche, rhetorische Fassung beizubehalten. 2 Vgl. Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926,

s. 695.

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gemeinen Zügen zu umreißen. Wie wir sahen, ist aber die Soziologie in München keineswegs eine neue Wissenschaft. Deshalb schien mir eine andere Art der Einführung für den Anlaß geeigneter. Volk ist seit je eine umstrittene soziologische Kategorie gewesen, bei deren Behandlung gerade Riehl und Weber entgegengesetzte Standpunkte vertreten haben. Sowohl aus ihren Einsichten als auch aus ihren Irrtümern läßt sich manches darüber lernen, wie soziologisches Denken sich in diesen hundert Jahren entfaltet hat. Überall zeichnen sich deutliche Ansätze zu einer Konvergenz der Lehrmeinungen ab, in der sich die Widersprüche einander bekämpfender Schulen auflösen. Bevor ich auf das eigentliche Thema eingehe, darf ich Sie, meine Damen und Herren, an ein allgemeineres Problem erinnern, das dem Soziologen, freilich nicht nur ihm, besonders zu schaffen macht. Soziologische Begriffe haben die beunruhigende Eigenschaft, leicht den Händen des Forschers zu entgleiten und dem ursprünglichen Erkenntniszweck entfremdet zu werden. Was das Ergebnis mühsamen Nachdenkens war, dringt wegen seiner Lebensnähe rasch ins Allgemeinbewußtsein und erscheint dann trivial und nicht des Aufhebens wert. Gleichzeitig werden soziologische Denkkategorien mit affektiven Obertönen und wertenden Nebenbedeutungen belastet, abgegriffen wie eine gängige Münze und alsbald unbrauchbar für die wissenschaftliche Verständigung. Solche Vorgänge wirken besonders störend bei der begrifflichen Erfassung jener relativ umgreifenden und dauerhaften Gebilde, die man gemeinhin "Staaten", "Gesellschaften", "Kulturen", "Nationen" oder "Völker" nennt. Das hängt damit zusammen, daß das Zustandekommen und die Fortdauer derartiger Kollektivitäten gewisse mehr oder weniger abstrakte Vorstellungen über ihr Da-Sein, So-Sein und Sein-Sollen zur Voraussetzung haben. Erst unter dem Einfluß der von Menschen gehegten gleichartigen Ideen fügt sich das Zusammenspiel ihres Handeins zu einer Ordnung zusammen, die ihnen selbst als eine objektive, den Wünschen der einzelnen entrückte Gegebenheit entgegentritt. In den sozialen Leitbildern verbinden sich also notwendigerweise Seins- und Sollensurteile mit allerhand nichtrationalen Elementen zu einem psychischen Syndrom. Die aus Wünschen und Wissen Zusammengesetzen Ideologien, die in dieses Syndrom eingehen, enthalten typischerweise die Forderung, daß soziales Handeln ausgerichtet sein soll entweder auf die Erhaltung einer gegebenen Ordnung, die Verwirklichung einer neuen, vorerst nur gedachten Ordnung oder die Wiederherstellung einer einmal wirklich oder auch nur angeblich bestandenen Ordnung. In Anlehnung an Scheler spricht man von Idealfaktoren des sozialen Geschehens. Dabei wird leicht übersehen, daß diese Idealfaktoren ebenso sozial bedingte und sozial wirksame Daten der sozialen Wirklichkeit sind wie die sog. Realfaktoren. Allerdings sind einzelne Idealfaktoren nicht weniger als einzelne Realfaktoren jeweils nur ein Teil dieser Wirklichkeit. Es ist leicht einzusehen, daß der wissenschaftlich brauchbare Begriff eines sozialen Gebildes irgendwelcher Art, der ja auch die Leitbilder mitberücksichtigen muß, auf denen das Gebilde beruht, nicht aus den von den Teilnehmern selbst gehegten Vorstellungen abgeleitet werden kann. Aber auch das Alltagswissen, in dem der sozial handelnde Mensch sich über sein eigenes Tun reflektierend Rechenschaft zu geben versucht, ist noch zu sehr im Ideologischen verhaftet, um unmittelbar als Ausgangspunkt für die soziologische Begriffsbildung zu dienen. Vielmehr muß alles geschehen, um die Realbegriffe, mit denen der Soziologe doch vorwiegend zu arbeiten hat, von ideologischen Verfärbungen und wertenden Obertönen freizuhalten.

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Max Webers Eintreten für das Prinzip der Wertfreiheit in der Soziologie bedarf keiner besonderen Erwähnung. Aber auch Riehl hatte ähnliches im Auge, wenn er etwa schrieb, es sei nicht die Aufgabe der Gesellschaftslehre, "bloß Ideale zu konstruieren und von den Tatsachen des wirklichen Lebens nur das zu berücksichtigen, was ihr in den Kram paßt" 3 • Auch er bemühte sich, freilich nicht immer ganz konsequent, um die objektive Erfassung der konkreten Wirklichkeit mit Hilfe von Denkkategorien, die dem axionormativen Charakter soziologischer Phänomene gerecht werden. Riehl und Weber sind von ganz verschiedenen Voraussetzungen an die soziologische Behandlung der volkhaften Gebilde herangegangen und dementsprechend zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen gelangt. Wenn beide ihr Ziel schließlich verfehlten, so kann dies weitgehend auf die gleiche Ursache zurückgeführt werden: die Vermengung von Ideologie und Wirklichkeitswissenschaft, die im Falle Riehls bewußt, im Falle Webers aber durchaus unbeabsichtigt war. Dies gilt es, nunmehr im einzelnen zu verfolgen. Die kritische Situation, in der die Wissenschaft von der Gesellschaft ihr spezifisches Problem entdeckte, war gekennzeichnet durch den Übergang von einer festgefügten ständischen und traditionellen staatlichen Ordnung zu jenen fließenden und flüssigen sozialen Organisationsformen, die man zunächst als bürgerliche, dann allgemeiner als industrielle Gesellschaft begriff. Die Entwicklung, die im Hochkapitalismus und im modernen Nationalstaat ihren vorläufigen Abschluß finden sollte, stand um 1848, da Riehl seine Naturgeschichte des Volkes konzipierte, wenigstens in Deutschland noch weitgehend in ihren Anfängen. Die Ungeklärtheit der Umbruchszeit spiegelt sich auch im soziologischen Denken Riehls wider. Riehls "Naturgeschichte" ist ein lehrreiches Beispiel für die Entwicklung eines soziologischen Begriffes. Er erklärt als seine Absicht die "gleichsam naturgeschichtlich-analytische Untersuchung unserer öffentlichen Zustände" 4• Ausgangspunkt seiner Arbeit ist die liebevolle Beschreibung von gesellschaftlichen Zuständen, die sein Interesse erwecken und - sprechen wir es einmal offen aus - die ihm irgendwie zusagen. Er beginnt nicht als Gelehrter, sondern als Liebhaber des gemeinen Volkes, insbesondere der Bauern. Was er sucht, sind objektive Tatbestände; was er auswählt, ist das ihm positiv Erscheinende: das Herkömmliche, das Bewährte, dessen Ursprung vergessen ist. Er hebt es hervor, indem er es mit dem negativen Widerpart vergleicht. Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit ist also die unmittelbare Anschauung, das Erlebnis. Riehl botanisiert und sammelt. Er konstruiert zunächst kein System, er beweist nicht aus Begriffen, sondern er beschreibt. Nicht umsonst fühlt er sich unter den Wissenschaften seiner Zeit vor allem zur Ethnographie und zur Geographie hingezogen. Aber Riehl sammelt und beschreibt nicht nur, sondern er kommentiert auch. Er deutet, vor allem teilt er Zensuren aus. Denn Riehl will Einfluß ausüben. Er schreibt ein Quellenbuch zur Politik. Seine Wissenschaft vom Volk soll ein Aktenstück sein, das zeigt, "daß eine mit liebevoller Hingabe an Art und Sitte des Volkes unternommene Durchforschung der modernen Gesellschaftszustände in letzter Instanz zur Rechtfertigung einer konservativen Sozialpolitik führen müsse" 5 • 3 Die Naturgeschichte des deutschen Volkes. Zusammengeiaßt und hrsg. von G. Ipsen. Stuttgart 1935, S. 402. 4 Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. 4 Bde. Stuttgart und Berlin 121925, Bd. 1, S. V. s a. a. 0., 111930, Bd. 2, S. 38.

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Riehls "Naturgeschichte" weist auf die Politik, aber eben nicht auf die "politische" Politik. Er verwendet das Wort "soziale Politik". Sie soll auf der festen Grundlage beobachteter Tatsachen beruhen, und zwar handelt es sich hierbei eben um jenen Tatsachenbereich, der von der Staatswissenschaft seiner Zeit bisher unbeachtet geblieben war. Aber über Recht und Rechtsordnung, dem zentralen Gegenstand der Staatswissenschaft, und der Erwerbsgesellschaft, mit der sich die Staatswirtschaftslehre beschäftigt, steht ein Etwas, das Riehl eben "das Sozia1e" schlechthin nennt. Es bezieht sich, so erklärt er, auf das tatsächliche Leben gegenüber den ideologischen Konstruktionen der Staatsrechtslehre und den Einseitigkeiten der Wirtschaftslehre. Immer wieder betont Riehl, daß wir zuerst die gesellschaftlichen Zustände kennen müssen, wie sie sind, und daß sich erst aus diesem Gesamtbild der Gesellschaft eine vernünftige Staatswissenschaft entwickeln könne. Die Lehre vom Volk ist ihm die unabweisliche Fundamentallehre der politischen Wissenschaft. Wenn Riehl von Volk redete, dann dachte er ursprünglich an die breiten bäuerlichen Volksschichten, die bis vor kurzem außerhalb dessen geblieben waren, was man als die "Gesellschaft" empfand. Aber schon zu seiner Zeit hc:.tte der Volksbegriff eine Aufwertung erfahren, die alsbald auch in Riehls Wortgebrauch zum Ausdruck kam. Um verschiedene Gesellschaftsordnungen zu verstehen und miteinander zu vergleichen, untersuchte sein Zeit- und Gesinnungsgenosse LePlay die Lebensverhältnisse des Arbeiters, weil eben - wie er meinte- die Mehrheit einer Bevölkerung aus Arbeitern bestehe. Ganz ähnlich geht Riehls Naturgeschichte des Volkes vom Bauern als dessen Kern aus, ohne aber das Ganze der zeitgenössischen Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren. So erforscht Riehl weiterhin die Familie, dann den Adel als den Stand des historischen Familienbewußtseins. Die tonangebende und tragende Schicht aber, die seiner Zeit das Gepräge verleiht, ist das Bürgertum, unter dessen Einfluß - wie er sagt - sich eine höhere soziale Einheit vorbereite. Das Gesamtbild des deutschen Volkes wird also abgerundet durch die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. von der durch das Bürgertum und seinen Lebens- und Wirtschaftsformen gestalteten Gesellschaft. Riehl hat sich mit der Ausarbeitung einer befriedigenden Terminologie ehrlich, aber ohne überzeugenden Erfolg abgemüht. Dabei ist er sich der historischen Bedingtheit soziologischer Kategorien wohl bewußt gewesen. Soziologische Begriffe sind Wandlungen unterworfen, eben auch weil sich ihr Gegenstand ständig wandelt. Deshalb kann die soziologische Begriffssystematik sinnvollerweise nur im Hinblick auf konkrete Aufgaben der empirischen Forschung entwickelt werden. Volk, so betont Riehl später, sei eine Abstraktion, die einen höheren Bildungsgrad voraussetze. Die Sache selbst habe es zwar immer gegeben und sei längst von den Ethnographen beschrieben worden, habe aber zunächst ihren Ausdruck im Familien- und Stammesbewußtsein gefunden. Volk beruhe dagegen auf dem Bewußtsein einer um-

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fassenderen Einheit als Ergebnis einer historischen Entwicklung6 • Das sich seiner selbst bewußt gewordene Volk nennt Riehl auch die "Nation" und schreibt: "Die Volkskunde ist gar nicht als Wissenschaft denkbar, solange sie nicht den Mittelpunkt ihrer zerstreuten Untersuchungen in der Idee der Nation gefunden hat 7 ." Anfangs begreift Riehl also unter "Volk" vor allem die breiten bäuerlichen Unterschichten. Für das Ganze steht bald "Gesellschaft", bald "Nation", aber auch wieder "Volk". Schließlich weitet sich sein Begriff des Volkes eindeutig zu dem aus, was heutige Soziologen8 unter einer globalen oder Gesamtgesellschaft verstehen. Wenn aber Volk den soziologischen Oberbegriff darstellt, was ist dann Gesellschaft? Staat, bürgerliche Gesellschaft und die Erwerbsgesellschaft der Wirtschaftswissenschaften sind nach Riehl drei verschiedene Aspekte des Volkes in seiner Totalität. Staat und bürgerliche Gesellschaft sind Formen des Volks-Gemeinlebens. Volk erscheint also als das Substratum, Gesellschaft und Staat als seine Ausdrucksweise, wobei die Gesellschaft wie eine Naturgewalt und unmittelbar wirkt, während der Staat eine bewußtere, höhere Form des Volkslebens mit definitiven Institutionen darstellt. Gesellschaft ist hier der eingeschränktere Begriff, Volk der umfassendere. Das Soziale, also das, was die Gesellschaftswissenschaft untersucht, bezieht sich auf Arbeit, Besitzbildung und die daraus entspringende Sitte, oder genauer gesagt: die ökonomischen Bedingungen des Daseins und die sich daraus ergebenden Sitten. Die Gesellschaft gliedert sich nach den Unterschieden von Arbeit und Besitzgrundlage. Das Ergebnis solcher Unterschiede sind die Stände. Die Summe aller Stände ist die Gesellschaft. Damit ist ein logisch einwandfreies Begriffsschema erreicht, das sich an die abstrakte Gesellschaftstheorie seiner Zeit anschließt. Aber Riehl ist selbst nicht recht zufrieden. Die soziale Wirklichkeit entspricht nicht dem Begriff. Trotzdem ist der Begriff nicht eine bloße Utopie. Die Theorie ist zwar jünger als die Praxis, aber sie ist keine müßige Schulabstraktion, sondern durch "laut redende Tatsachen der widerstrebenden Schule abgezwungen". Sie entspricht der Erkenntnis eines immanenten Entwicklungsprinzips, eines Trends, der in der Gesellschaft der europäischen Kulturvölker seit langem abgezeichnet ist. Hinter den tatsächlichen Sozialzuständen steht ein gemeinsames Gesellschaftsideal a Vgl. Ipsen, a. a. 0., S. 28 f. 1

a. a. 0., S. 30.

Vgl. u. a. R. König: Art. "Gesellschaft"; in: Fischer-Lexikon, Bd. Soziologie. Hrsg. R. König, Frankfurt 1958, S. 96-104; G. Gurvitch: La Vocation Actuelle de la Sociologie. Vers une Sociologie Differentielle. Paris 1950; E. K. Francis: Art. "Makrosoziologie"; in: Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. W. Bernsdorf und F. BüLow. Stuttgart (noch nicht erschienen). 8

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der modernen Kulturvölker. Es ist aber nicht Aufgabe der Gesellschaftslehre, "bloß Ideale zu konstruieren, und von den Tatsachen des wirklichen Lebens nur das zu berücksichtigen, was ihr eben in den Kram paßt". Mit einem deutlichen Seitenhieb auf Männer wie Lorenz von Stein und die Hegelianer meint Riehl, die Gesellschaftslehre müsse sich "durch gründliche statistische und historische Erforschung des Gesellschaftsorganismus als eine tiefgehende, nicht bloß mit eigenem Material des Gedankens, sondern auch der positiven Studien ausgerüstete Wissenschaft bewähren" 9 • Ihr praktischer Wert, so erklärt Riehl, liegt weit mehr in ihrem historisch-analytischen Teil (oder- wie wir sagen würden - in der Empirie) als in ihrem philosophisch-konstruktiven Aspekt (oder- wie wir sagen würden - in der Theorie). Für Riehl ist also die soziologische Theorie, durch die eine systematische Ordnung der modernen sozialen Gebilde erreicht werden soll, kein Selbstzweck, sondern dient in erster Linie dem Verständnis der Wirklichkeit, also dem, was Max Weber "historische Individuen" nennen würde. "Zuerst kamen die neuen Tatsachen, dann der neue wissenschaftliche Begriff; dieser aber überholte die Tatsachen, eben weil er ein Idealbegriff ist' 0 ." Darunter versteht Riehl, daß es sich nicht einfach um ein Abbild bestehender Zustände handelt, wohl aber um die richtige Beschreibung des Zieles, dem der soziale Entwicklungsgang tatsächlich zustrebt. Unentwegt bemüht sich Riehl um die Schärfung seiner Begriffe, deren Gültigkeit, je weiter er fortschreitet, desto allgemeiner wird. Riehl hat kein System der allgemeinen Soziologie hinterlassen. Aber trotz mancher begrifflicher Unklarheiten und manchem Schillern des Ausdrucks hat er ein reiches historisches Quellenmaterial in mehr oder weniger wohlgeordneter soziologischer Weise zusammengetragen, das sowohl seinem Inhalt als auch seiner Methode nach eine Fülle relevanter Anregungen enthält. Er hat es vermieden- wie etwa sein Zeitgenosse Lorenz von Stein - unter Umgehung der empirischen Tatsachen aus metaphysischen Prämissen ein System der Gesellschaftslehre zu entwerfen, das die Wirklichkeit aus dem Begriff zu entwickeln sucht. Die soziologische Theorie kann eben nur in engster Verbindung mit empirischer Sozialforschung gewonnen werden. Sie bleibt immer etwas Werdendes, ungleich jenen Systemen, die die Wirklichkeit aus den Begriffen abzuleiten versuchen und sie damit in ein Prokrustesbett zwängen müssen, das den Tatsachen Gewalt antut. Während das Volk im Mittelpunkt der Riehlschen Gesellschaftswissenschaft steht, hat sich Max Weber nur am Rande mit ihm beschäfe Ipsen, a. a. 0., S. 402. ' 0 a. a. 0., S. 405.

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tigt. In seinem Blickfeld lagen vor allem drei Probleme der modernen Industriegesellschaft: Kapitalismus, Klassenkampf, Demokratie und deren religiöse Hintergründe. Gegenstand seiner empirisch-historischen Forschungen waren daher gerade solche gesellschaftliche Organisationsformen, für die ethnische Beziehungen von untergeordneter Bedeutung sind. Der deutsche Nationalstaat, dessen Werden weitgehend der Anlaß für die charakteristische Problemstellung Riehls gewesen ist, war für Weber bereits zu einer geschichtlichen Selbstverständlichkeit geworden. Als Binnendeutscher hatte er kaum ein inneres Verhältnis zu den Nationalitätenkämpfen Zwischeneuropas, die etwa der Soziallehre des Österreichers L. Gumplowicz ihr charakteristisches Gepräge verliehen haben. Nur beiläufig kannte er auch den Schmelztiegel der Neuen Welt, dessen typische Konflikte auf Robert Park und die ganze amerikanische Soziologie einen ähnlich entscheidenden Einfluß ausgeübt haben wie die Klassengegensätze auf die Soziologie in Deutschland und Westeuropa. Die außenpolitische Problematik vollends, die im Gefolge des Ersten Weltkrieges allenthalben der Volkstheorie einen nachhaltigen Auftrieb geben sollte, konnte von Weber, der ja bereits im Sommer 1920 starb, nicht mehr berücksichtigt werden. Trotzdem sind die wenigen Bemerkungen Webers über ethnische Gebilde gerade im Vergleich zur Riehlschen Position für unsere Zwecke aufschlußreich11 • Was ethnische Gebilde von anderen Typen zu unterscheiden scheint, ist die Tatsache der gemeinsamen Abstammung. Demgegenüber wendet Weber ein, daß biologische Erblinien an und für sich nur eine äußere Gleichartigkeit bzw. auffällige Unterschiede im Phänotypus von Menschengruppen mit sich bringen, was allerdings zu sozialer Anziehung bzw. Abstoßung führen kann, aber eben nicht muß. Übrigens treten ähnliche soziale Vorgänge ja auch zwischen den Angehörigen ganz anders gearteter Gebilde auf, z. B. sozialer Schichten. Solche Überlegungen führen Weher zur Feststellung, daß es bei ethnischen Gebilden überhaupt nicht auf irgendeine wirkliche Abstammungsgleichheit ankommt, sondern auf den Glauben eines bestimmten Personenkreises, seine Angehörigen seien miteinander enger blutsverwandt als mit anderen Menschen. Ein solcher Glaube, so meint er, wird nun dadurch hervorgerufen und gefördert, daß eine vorgegebene Gruppe von Menschen von ihrer Umwelt durch augenfällige Merkmale unterschieden ist, wozu neben dem anthropologischen Typus auch Sitte und Brauch, Kleidung, Wohn- und Ernährungsweise und die daraus folgende "rituelle Lebensregelung", Sprache und anderes mehr dienen können. Aber ebensowenig wie somatische Gleichartigkeit konstituieren kulturelle Gemeinsamkeiten an und für sich das ethnische Gebilde. Denn 11 Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 2 Bde. Tübingen 2 1956, Bd. I, S. 234 ff., Bd. II, S. 527 ff.

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sprachliche Verständigung und die Verständlichkeit des Tuns anderer aufgrund gemeinsamer geistiger Voraussetzungen sind ja wesentliche Bedingungen für soziales Zusammenhandeln überhaupt und durchaus nicht beschränkt auf ethnische Gemeinschaftsbeziehungen. Webers Argument läuft darauf hinaus, daß es gar nicht so sehr die rassischen, sprachlichen oder kulturellen Gemeinsamkeiten sein können, die den Glauben an eine gemeinsame Abstammung hervorrufen. Vielmehr wird ein aus irgendwelchen Gründen - vor allem aus bestimmten Machtverhältnissen heraus - entstandener, also bereits bestehender größerer Sozialzusammenhang vielfach nachträglich aufgrund äußerlich erkennbarer Gemeinsamkeiten als Abstammungsgemeinschaft bzw. ethnisches Gebilde gedeutet. Der bloße Glaube an eine reale oder fiktive Abstammungsgleichheit ist natürlich nicht auch schon dasselbe wie das durch diesen Glauben mitbedingte Gemeinschaftshandeln. Weber befaßt sich nur flüchtig mit der Frage, wie ein Volk zustande kommt. Dabei geht es ihm hauptsächlich um den Nachweis dafür, daß vor allem politische, gelegentlich auch sakrale Ordnungen gewissermaßen auf künstliche Weise Gemeinschaftsbeziehungen herbeiführen können, die durchaus den Charakter des Volkhaften annehmen. Größere Aufmerksamkeit wendet Weber dem umgekehrten Fall zu, den er im Zusammenhang mit der Nation bespricht. Hier handelt es sich um einen Vorgang, bei dem nicht der politische Verband ethnische Gebilde verursacht, sondern bei dem der politische Verband durch den Glauben an den Bestand einer volkhaften Einheit verursacht wird. Aber auch diesmal findet er keinen eindeutigen Zusammenhang. Zwar sei es richtig, daß die politische Vereinigung erleichtert wird, wenn ein bestimmter Personenkreis sich als Volk empfindet, aber es sei keineswegs die bloß gefühlsmäßige Gemeinschaft von Volksgenossen, die immer und notwendig nach einer politischen Verbindung im eigenen Staat verlangt. Besondere Bedeutung für die Bildung von Staaten schreibt Weber dem nationalen Mythus zu, für den auf der einen Seite gemeinsame historische Großtaten, auf der anderen ein politisches und kulturelles Sendungsbewußtsein charakteristisch sei. Der Sinn der Nation könne daher nicht an Hand irgendwelcher gemeinsamer Qualitäten (Rasse, Sprache, Kultur usw.) gefunden werden, welche die Gemeinschaft konstituieren, sondern nur durch die Bezugnahme auf ein gemeinsames Ziel, nämlich den eigenen Staat. Man müsse sich darüber im klaren sein, daß in dem, was man Nationalgefühl nennen könnte, sehr heterogene und von ganz verschiedenen, vor allem schichtungsbedingten Interessen gespeiste Gemeinschaftsgefühle zusammenwirken. 4 Francls

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Wenn auch nicht ohne Bedenken, so ist also Weber bereit, dem Begriff der Nation einen heuristischen Wert zuzuerkennen, solange dabei das Augenmerk auf gewisse politische Realitäten gerichtet bleibt. Dagegen hält er "Volk" für einen soziologisch ganz und gar unbrauchbaren Sammelnamen, da das mit ihm Bezeichnete nur irrtümlich als ein einheitliches Phänomen gelte. Weber trifft nun eine sehr bezeichnende Unterscheidung: "Sippen" - so sagt er - haben eine tatsächliche Abstammungsgemeinsamkeit, ethnische (also volkhafte) Gebilde dagegen nur geglaubte "Gemeinsamkeiten" 12 • Diese Schlußfolgerung kommt überraschend. Gerade Weber hat viel Mühe darauf verwandt, die entscheidende Rolle zu zeigen, die Weltanschauung, Mythus, Ideologie - eben der Glaube in irgendeiner Form - für typische Zusammenhänge und Abläufe sozialen Handelns, also für soziale Gebilde spielen. Entstehung und Erhaltung sozialer Verbände können im Sinne Webers nur verständlich gemacht werden durch Bezugnahme auf gemeinsame Werte, an denen sich das Handeln der Beteiligten orientiert. Die absolute Gültigkeit dieser Werte aber - so lehrt Weber selbst kann nicht exakt bewiesen werden, man kann an sie nur glauben. Im Licht dieser allgemeinen Prinzipien seiner Soziologie wirkt Webers Unterscheidung zwischen Sippen als realen Gebilden, ethnischen Gebilden aber als bloß "geglaubten Gemeinsamkeiten" wenig überzeugend. Es ist schwer einzusehen, warum Machtstreben, Prestigebedürfnis oder Wirtschaftsinteressen realere Faktoren des sozialen Geschehens sein sollten als die Tatsache, daß bei anderen Gelegenheiten der Blutsverwandtschaft eine ähnliche, alle anderen Rücksichten in den Hintergrund drängende Bedeutung beigemessen wird. In jedem Fall handelt es sich doch um W ertvorstellungen, nach denen sich soziales Handeln ausrichtet. Der reale Verband einer Sippe ist ebenso wie der reale Verband eines Volkes mitbestimmt durch Wertbezüge. Mit anderen Worten: Auch der Glaube an die Abstammungsgleichheit größerer Gruppen kann zu ethnischem Gemeinschaftshandeln führen, das nicht weniger real zu sein braucht als das verwandtschaftliche Gemeinschaftshandeln in der Sippe. Webers Ablehnung des Volkes als einer soziologischen Kategorie ergibt sich also keineswegs aus seinen theoretischen Prämissen. Wir müssen den Grund hierfür anderswo suchen. Der Gegensatz in der Behandlung des Volkes ist nicht nur bei Riehl und Weber zu finden. Jahrelang hat man bei uns in soziologischen Kategorien gedacht, die der Riehlschen Auffassung nahekommen. Heute neigt man mit Weber der Auffassung zu, daß der Volksbegriff nicht nur für die geistige Durchdringung der Wirklichkeit unbrauchbar, sondern geradezu irreführend ist. Die politischen und menschlichen Hinteru

Vgl. a. a. 0., S. 237.

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gründe, die zu dieser Akzentverschiebung geführt haben, bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Doch handelt es sich gar nicht um eine Erscheinungneueren Datums. Seitdem man überhaupt gelernt hat, mit den Begriffen Volk und Gesellschaft zu operieren, haben konservative Kreise stets eine Vorliebe für das Wort "Volk" gezeigt, das im liberalen Vokabular dagegen in der Regel durch "Gesellschaft" ersetzt wird. Im einen wie im anderen Fall ergibt sich der bevorzugte Sprachgebrauch weit weniger aus den Bedürfnissen der soziologischen Forschung als aus der verhängnisvollen Vermengung von Sachwissen und Ideologie. Riehl hat sich ganz offen dazu bekannt, daß "Volk" sich nicht bloß auf einen objektiven Tatbestand bezieht, sondern daß in ihm gleichzeitig eine politische und moralische Forderung zum Ausdruck kommt. Aber auch die radikalen Vorkämpfer einer wertfreien Soziologie scheinen ihre ideologische Achillesferse zu haben. Das Dilemma läßt sich weder durch die Ächtung eines unliebsamen oder mißbrauchten Begriffes noch durch die so beliebte Ideologiekritik überwinden. Unter dem Gesichtspunkt einer mit aller nötigen Askese betriebenen soziologischen Systematik ist nur eine Frage entscheidend:

Gibt es irgendwelche unterscheidbaren Bezugsobjekte in der beobachtbaren sozialen Wirklichkeit, die man ohne die Kategorie des Volkes gar nicht in den Griff bekommen kann; oder - anders ausgedrückt - gibt es irgendwelche Probleme der soziologischen Wirklichkeitsanalyse, die ohne Berücksichtigung spezifisch ethnischer Bezüge einfach ungelöst bleiben müßten? Die Beantwortung dieser Frage bedarf einiger weiterer Überlegungen. Vorwegnehmend läßt sich aber schon jetzt sagen, daß Riehl gegenüber Weber recht behalten sollte, wenn er die Realität volkhafter Gebilde bejahte. Dagegen besaß Riehl nicht die wissenschaftlichen Voraussetzungen zur Formulierung eines adäquaten Begriffes. Den Weg dahin hat erst Weber gewiesen; er war es ja vor allem, der das soziologische Denken von der Vorstellung befreite, als sei die überindividuelle Objektivität des Sozialen nur so zu erklären, daß man soziale Gebilde als irgendwelche Kollektivpersönlichkeiten, Organismen, Emanationen eines Geistes, unteilbare Ganzheiten oder sonstige elementare Wesenheiten betrachtet. Die ganze Antwort auf unsere Frage liegt eigentlich in einem einzigen Satz von Max Weber beschlossen: "Für ... die Soziologie sind ... diese Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen'3." Und noch einmal: "Wenn [die Soziologie] von ,Staat' oder von ,Nation' oder von ,Aktiengesellschaft' oder von ,Familie' oder von ,Armeekorps' oder von ähnlichen ,Gebilden' spricht, so meint sie 13

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a. a. 0., S. 6.

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damit lediglich einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen oder als möglichen konstruierten sozialen Handeins einzelner .. .14." Wir werden sehen, welche Konsequenzen sich daraus für unseren Fall ergeben. Soziologisches Denken hat sich lange mit einem sehr einfachen Modell der Gesellschaft begnügt, das am ehesten den Bedürfnissen des Völkerkundlers entspricht. Danach bilden Volk, Staat, Kirche, Kultur und Sprachgemeinschaft eine nur gedanklich zu differenzierende Ganzheit, die eine bestimmte Gruppe von Menschen umfaßt. Für deren Bezeichnung genügt im allgemeinen ein einziger Ausdruck, sei es "Volk", "Volksstamm", "Kultur" oder auch "Gesellschaft". Die verschiedenen Aspekte der totalen Vergesellschaftung lassen sich dann wissenschaftlich als Kulturbereiche oder Institutionen, gewissermaßen als "Organe" des Ganzen im Sinne Spencers behandeln. Dieser Gesellschaftsbegriff, der für die Erfassung primitiver Völker ausreicht, ist dann auch auf die moderne Nation übertragen worden. Hier liegt aber der Fall grundsätzlich anders. Die auf dem Boden von Hochkulturen auftretenden größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge stellen ein überaus kompliziertes Geflecht von verschiedenartigen Systemen sozialen Handeins dar, wofür das Denkmodell des Ethnologen nicht mehr ausreicht. Jetzt erst erhebt sich die Frage, ob man überhaupt noch von letzten gesellschaftlichen Einheiten sprechen darf, deren Mitgliedschaft jeweils räumlich und zeitlich eindeutig voneinander abgegrenzt werden könnte. Denn hier finden wir- und das ist entscheidend- eine weitgehende Verselbständigung der verschiedenen Lebensbereiche: des Staates, der Wirtschaft, der Religion usw., wobei die jeweils daran beteiligten Personenkreise sich vielfältig ineinanderschieben und miteinander zu immer anderen sozialen Systemen verbinden. Erst diese Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität des sozialen Geschehens konfrontiert die Soziologie mit jenen problematischen Situationen, zu deren Lösung sie einer Vielzahl höchst differenzierter Begriffe bedarf. Auch die Einführung eines eigenen soziologischen Volksbegriffes neben Begriffen wie Bevölkerung, Staat, Staatsnation, Kulturnation, Gesellschaft, Kulturgemeinschaft, Sprachgemeinschaft ist einfach deshalb nötig geworden, weil sorgfältige Untersuchungen der empirischen Wirklichkeit zeigten, daß bestimmte konkrete Erscheinungen, die innerhalb komplizierter Sozialzusammenhänge auftreten, auf keine andere Weise verstanden und erklärt werden können. Meine Damen und Herren! Es wäre nun zweifellos am eindrucksvollsten, wenn ich an Hand empirischer Einzeluntersuchungen zeigen 14

Ebd.

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könnte, wie verschiedene Soziologen durch das Gewicht gewisser Daten dazu gedrängt wurden, die Tatsache ethnischer Sozialbezüge anzuerkennen und einen entsprechenden Begriff zu formulieren. Statt dessen muß ich mich darauf beschränken, einige wohlbekannte Beispiele in Erinnerung zu bringen, die die Unerläßlichkeit des Volksbegriffes schlagartig beleuchten: das Entstehen der modernen Nationen, die Nationalitätenkämpfe Mitteleuropas, die konfliktgeladene Heterogenität der Bevölkerungen der Neuen Welt, Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker und seine tragischen Auswirkungen, die völkisch unterbauten Machtansprüche des Nationalsozialismus, die jüngsten staatlichen Neubildungen in den ehemaligen Kolonialländern und das damit verbundene Wiederauftauchen von typischen Minderheitenproblemen, die inzwischen anderswo, wenn auch oft auf sehr drastische und unmenschliche Art, weitgehend überwunden worden sind. All das sind zweifellos Realitäten von schicksalhafter Bedeutung. Sie lassen sich nicht mit der Bemerkung abtun, daß es sich "nur" um einen grundlosen Glauben oder ein ideologisch verbrämtes Machtstreben einzelner Interessengruppen handelt. Ebensowenig fruchtbar ist allerdings die Annahme irgendeines mythischen Volksgeistes oder einer im Biologischen wurzelnden Volkspersönlichkeit. Es genügt auch nicht, sich auf ein quasi-instinktives Gefühl zu berufen, das viele derjenigen offensichtlich nicht haben, die es der Theorie nach besitzen sollten, während andere es zu besitzen vorgeben, die es eigentlich nicht haben sollten. Schließlich findet jeder gesellschaftliche Zusammenhang seinen Ausdruck in Gefühlen, die ihrerseits den Zusammenhalt verstärken. Dasselbe Problem kehrt ja auch in der bekannten Streitfrage wieder, ob es richtiger ist, "Klasse" unter Bezugnahme auf subjektive oder auf objektive Kriterien zu definieren. Alle Versuche der Konzeptualisierung politisch relevanter Tatsachen führen zu ähnlichen Komplikationen, und zwar nicht so sehr wegen der Sprödigkeit des Stoffes als wegen der bewußten oder unbewußten Tendenz, ideologische Postulate in die Definition einzuführen, die mit der Wirklichkeit in Widerspruch geraten. Für die Zwecke der soziologischen Analyse ist vor allem die Angabe von eindeutigen und objektiv feststellbaren Kriterien gefordert, an denen das Vorhandensein eines sozialen Gebildes bestimmter Art, hier also eines Volkes, in jedem konkreten Einzelfall rasch erkannt und wonach der zu ihm gehörende Personenkreis genau bestimmt werden kann. Nur auf diese Weise läßt sich hoffen, der Auflösung der Widersprüche näherzukommen, denen wir bisher begegnet sind. Meine Damen und Herren! Angesichts besonders hartnäckiger Probleme, die allen Anstrengungen zu spotten scheinen, sie durch Reduk-

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tion auf einfachere Elemente zu bewältigen, ist es oft am zweckmä'ßigsten, sich auf die Ausgangsposition zurückzuziehen. Im vorliegenden Fall wird man von der Binsenwahrheit auszugehen haben, daß Zeugung und Aufzucht der Kinder Vorgänge von größter Allgemeinheit sind, die sowohl in die biologische als auch in die soziale Sphäre hineinragen. Auf ihnen bauen sich offenbar soziale Gebilde wie Familie, Sippe, Clan, aber auch Stamm und Volk auf. Zwischen Familie, Sippe usw., die man als Verwandtschaftsgebilde bezeichnen kann, und den eigentlich ethnischen Gebilden besteht aber ein bemerkenswerter Unterschied. Verwandtschaftsgebilde können immer nur als Untereinheiten von umfassenderen Sozialzusammenhängen, den phenomenes sociaux totales im Sinne von Marcel Mauss, gedacht werden. Ethnische Gebilde dagegen haben die Tendenz, sich aus größeren Geschlechterverbänden zu relativ eigenständigen und geschlossenen Systemen sozialen Handeins zu entwickeln, die im Grenzfall den Charakter einer Gesamtgesellschaft annehmen können. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, daß die Idee des Großvolkes als soziales Leitbild durch Übertragung und Ausweitung der Vorstellung von den weit anschaulicheren Verwandtschaftsgebilden entstanden ist. Wie dem auch immer sei, so unterscheiden sich ethnische Gebilde von anderen Typen der sozialen Totalphänomene durch den Umstand, daß der Abstammung oder - genauer gesagt - der Herkunft von Menschen ein so überragender Wert beigemessen wird, daß dadurch Ablauf und Zusammenhang ihres sozialen Handeins entscheidend bestimmt werden. In diesem Sinne also würden wir als ein Volk betrachten: eine jede dauerhafte, durch ein gemeinsames kulturelles Erbe

gekennzeichnete, zahlreiche Verwandtschaftszusammenhänge zu einer unterscheidbaren historischen Einheit zusammenfassende Gesamtgesellschaft. Der Terminus Volksgruppe dagegen würde sich auf Völker oder Volkselemente beziehen, die als unterscheidbare Teilgebilde in Großgesellschaften, namentlich von der Art der modernen Nation, eingegliedert sind. Der heuristische Wert der so definierten Begriffe ließe sich nur durch eine ausführliche soziologische Kasuistik nachweisen, wie sie gerade Weber für die Untersuchung ethnischer Phänomene gefordert hat. Dazu ist hier keine Gelegenheit. Dagegen kann das, was dabei gemeint ist, durch einige zusätzliche Überlegungen weiter verdeutlicht werden. Wir gehen nochmals auf Webers Forderung zurück, daß vom Standpunkt der soziologischen Analyse ein soziales Gebilde als ein typischer Zusammenhang von Handlungsabläufen zu betrachten ist. Es ist daher grundsätzlich falsch zu glauben, die Menschheit ließe sich räumlich und zeitlich in soundso viele Völker einteilen. Denn soziales Handeln vollzieht sich in vielen Dimensionen und kann sich jeweils

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zu verschiedenartigen Systemen zusammenfügen. Herkunft ist nur ein Moment der sozialen Organisation; räumliches Nebeneinander, Machtkonstellationen, religiöse Kultbeziehungen, Arbeitsteilung sind andere Faktoren, durch die soziale Systeme entstehen und weiterbestehen. Jedes konkrete historische Phänomen, das wir nach seinem vorwiegenden Organisationsprinzip als Volk begreifen, wird daher gleichzeitig auch andersgeartete Gemeinschaftsbeziehungen erkennen lassen: Ein Volk ist meist mit einem bestimmten geographischen Raum identifiziert. Es kann auch einen Staat, eine Kirche, ein mehr oder weniger geschlossenes Wirtschaftssystem bilden. Alle diese Gemeinsamkeiten verstärken den ethnischen Zusammenhalt oder können, wie wir von Weber lernten, nachträglich als Volkszusammenhang umgedeutet werden. Einzelne dieser Merkmale können aber auch wegfallen, sich im Laufe der Zeit verändern oder nach und nach durch ganz andere gemeinsame Charakteristika ersetzt werden. Ein Volk kann wandern; es kann auf mehrere Staaten aufgeteilt werden; seine Mitglieder können sich verschiedenen Religionen anschließen; ein Volk kann wichtige Komponenten seiner Kultur, ja sogar seine Sprache mit anderen Völkern teilen; seine Kultur kann sehr stark schichtenmäßig differenziert sein, seine Sprache erhebliche dialektische Variationen aufweisen. Auf der anderen Seite ist es keineswegs so, daß alle Gesamtgesellschaften Völker sein müssen. Die Christenheit des Mittelalters, die Ottomanen, der Islam, das heutige Amerika sind Beispiele für derartige Gebilde, die vorwiegend nach ganz anderen, also nach nichtethnischen Gesichtspunkten konstituiert sind. Wir dürfen uns eben nicht durch das moderne nationalstaatliche Denken irreführen lassen, das davon ausgeht, daß normalerweise Volk, Staat und Kultur zur Deckung kommen. Ferner muß man sich darüber im klaren sein, daß im Laufe der historischen Entwicklung sich ebenso der Typus eines sozialen Gebildes ändern kann wie die Zusammensetzung seiner Mitglieder. So kann eine religiöse Bruderschaft oder Sekte durch freiwillige Absonderung, unter günstigen Umständen durch völlige Ausgliederung ihrer Mitglieder aus ihrem ursprünglichen Sozialzusammenhang mit der Zeit den Charakter eines eigenen ethnischen Gebildes annehmen. Ich darf aus eigener Erfahrung berichten. Als ich mich bei der Erforschung der Mennoniten in Manitoba mit deren Geschichte auseinanderzusetzen begann, sah ich mich einer verwirrenden Situation gegenübergestellt. Unter ihren Vorfahren waren Wiedertäufer aus verschiedenen Teilen Süddeutschlands, die in den Niederlanden Zuflucht vor Verfolgung gefunden und sich dort mit flämischen und friesischen Glaubensgenossen unter Führung des Reformators Menno Simons zu besonderen religiösen Gemeinden zusam-

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mengeschlossen hatten. Die Gegenreformation unter Herzog Alba und die liberale Kirchenpolitik Polens veranlaßte viele "Mennoniten", wie sie nun hießen, sich in und um Danzig sowie an der Weichsel niederzulassen. Zunächst wurden sie hier als Holländer mennonitischen Glaubens betrachtet; sie verwandten die neue holländische Schriftsprache namentlich in Gottesdienst und Schule und unterhielten rege Beziehungen zu ihren niederländischen Glaubensgenossen. Als nach zweihundert Jahren viele Mennoniten aus Westpreußen in die Ukraine weiterwanderten, sprachen sie bereits westpreußisches Platt, hatten die niederländische Reichsbibel durch die Lutherbibel ersetzt und bedienten sich des Hochdeutschen im kirchlichen Gemeindeleben. In Rußland galten sie daher als deutsche Kolonisten. Trotzdem sonderten sie sich von anderen Deutschen, sowohl Katholiken als auch Lutheranern, streng ab, blieben völlig endogam und entwickelten eine Reihe von besonderen Institutionen, die sie nach wiederum hundert Jahren auch nach Kanada mitbrachten. In religiöser Hinsicht aber spalteten sich diese Mennoniten schon in Rußland in zahlreiche Kirchen und Sekten auf, die oft wenig mehr als den Namen miteinander gemein hatten; einige glichen sich den Lutheranern an, andere bildeten eine mennonitische Baptistengemeinde. Trotzdem erschienen und erscheinen auch heute noch die in alle Welt verstreuten Niederlassungen rußlanddeutscher Mennoniten als eine eindeutige Ganzheit. Angesichts ihrer kirchlichen Zersplitterung aber war es offenbar unmöglich, sie auch weiterhin als eine einzige religiöse Gruppe zu begreifen. Der Tatbestand ließ sich überhaupt nur dann verstehen, wenn man erkannte, daß der rußlanddeutsche Zweig der Mennoniten eben inzwischen zu einem besonderen ethnischen Gebilde geworden war, das zeitweise geradezu einem eigenen Volk glich, dessen Verhalten aber jedenfalls überhaupt nur unter Zuhilfenahme des Volksgruppenbegriffes erklärt werden konnte. Ein analoger Vorgang ist neuerdings von T. O'Dea für die amerikanische Sekte der Mormonen festgestellt und auf ähnliche Weise gedeutet worden15 • Umgekehrt kommt es häufig vor, daß auch dann, wenn sich die Gemeinschaft eines Volkes aufgelöst hat, also aktuell keine spezifischen Wechselbeziehungen mehr zwischen seinen ehemaligen Mitgliedern oder deren Nachkommen bestehen, diese immer noch mit dem alten Volksnamen bezeichnet und als eine besondere Einheit betrachtet werden. Gerade diese nachhaltende ethnische Kategorisierung von Individuen, die nichts mehr miteinander gemein haben als ihre Herkunft, liegt vielen Minderheitenproblemen zugrunde. So wurden im vorigen Jahrhundert in Amerika Einwanderer aus Sizilien, ts Vgl. The Mormons. Chicago 1957.

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Neapel, der Romagna, der Lombardei von der Wirtsgesellschaft unterschiedslos als Italiener behandelt, obwohl deren Herkunftsländer noch nicht oder noch nicht lange in einem einzigen Staat vereinigt waren und obwohl diese aus einfachsten ländlichen Verhältnissen stammenden Menschen durch keinerlei gemeinsames Volks- oder Nationalbewußtsein, geschweige durch spezifische soziale Wechselbeziehungen miteinander verbunden waren. Erst durch die von außen herangetragene ethnische Klassifizierung wurden sie in der neuen Heimat zu einer einheitlichen italienischen oder richtiger: italienisch-amerikanischen Volksgruppe zusammengeschmiedet Anderswo, wie bei den Tschechen, hat die Erinnerung an die einmal bestandene ethnische und politische Einheit zu einer nationalen Wiedergeburt geführt. Die Inkongruenzen zwischen Idee und Wirklichkeit, die sich bei derartigen Vorgängen ergeben, sind die Ursache vieler tragischer Spannungen und Konflikte im Völkerleben. Es fehlt die Zeit, um diesen überaus komplexen Erscheinungen weiter nachzuspüren und sie im einzelnen an Hand typischer Fälle zu belegen. Wichtig ist aber noch eine andere Überlegung. Wir gingen davon aus, daß für volkhafte Gebilde das Kriterium der Herkunft entscheidend ist. Dabei ist zu beachten, daß - soziologisch gesehen - Herkunft nicht gleichbedeutend ist mit biologischer Abstammung. Nur im Grenzfall ist soziologische Abstammungsgleichheit identisch mit Blutsverwandtschaft. Denn für die Bestimmung der Verwandtschaft gelten im Einzelfall jeweils ganz verschiedene soziale Definitionen. Die Mitglieder eines Verwandtschaftsgebildes hängen ja oft miteinander genetisch in keiner Weise enger zusammen als mit Mitgliedern anderer Verwandtschaftsgruppen. Dies ist sogar die Regel bei rein patrilinearer oder matrilinearer Bestimmung der Verwandtschaft. Bei manchen Naturvölkern gilt es als unanständig, Verwandtschaftsähnlichkeiten zwischen gewissen Klassen von nächsten Blutsverwandten überhaupt zu bemerken 16• So wirksam können soziale Definitionen sein. Im allgemeinen werden Menschen aufgrund ihrer Herkunft von bestimmten Familien, Sippen und Geschlechtern der Mitgliedschaft eines Volkes zugezählt. Ebenso aber wie Adoption dieselben Verwandtschaftsbeziehungen herstellt wie biologische Zeugung, gibt es auch eine echte Einvolkung Herkunftsfremder. Völker sind also dynamische Systeme sozialen Handeins genauso wie alle anderen Typen sozialer Gebilde. Sie sind dem unaufhörlichen Zerfall und Wiederaufbau unterworfen. Entvolkung, Umvolkung, Assimilation, Volkstumswandel und Volkstumswechsel - das alles sind, na16 Vgl. D. Essing: "Die Urbevölkerung des südlichen Afrikas"; in: Neues Afrika 6 (1964), S. 239.

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mentlich an Grenzen, alltägliche Erscheinungen. Sie sind jedenfalls die unvermeidliche Folge von Wanderungen, Eroberungen, Gebietsabtretungen oder staatlichen Neubildungen. Von größter Wichtigkeit ist dabei die Erkenntnis, daß mehr oder weniger willkürlich geschaffene politische Ordnungssysteme die Fähigkeit besitzen, in erstaunlich kurzer Zeit und ohne wesentliche Veränderung der realen Abstammungsverhältnisse ein Volk zu teilen, aber auch eine heterogene, also herkunftsverschiedene Bevölkerung so zu verbinden, daß sie schließlich als ethnische Einheit funktioniert. Der Schlüssel zum Verständnis solcher Erscheinungen aber ist die Erkenntnis, daß die als Grundlage ethnischer Gebilde bezeichnete Gemeinsamkeit der Herkunft von der sozialen Definition einer gegebenen Situation abhängt17 • Im Einzelfall können jeweils ganz verschiedene Faktoren -nicht nur biologische, sondern auch geographische, politische, religiöse und viele andere -in die soziale Definition der gemeinsamen Herkunft einer Gruppe von Menschen eingehen und so dazu führen, daß sie zu einem Volk wird. Es ist daher wenig sinnvoll, ganz im allgemeinen zu fragen, ob etwa die Franzosen, Indonesier oder Juden Völker seien oder nicht. Soziologisch relevant ist immer nur die Frage, inwieweit das soziale Handeln der so bezeichneten Menschen im Verhältnis zueinander und zu ihrer sozialen Umwelt jeweils in einer ganz bestimmten historischen Situation nach ethnischen Gesichtspunkten, also Herkunft, orientiert ist. Darüber gibt aber einzig und allein die sorgfältige Analyse des konkreten Einzelfalles Aufschluß, wobei die Antwort je nach den Umständen sehr verschieden ausfallen wird. Es kann in der Tat so sein, daß z. B. Juden einmal als Volk oder Volksgruppe in Erscheinung treten, das andere Mal ein ganz andersartiges Sozialsystem bilden und bei einer dritten Gelegenheit in ihrer Wirtsgesellschaft völlig aufgegangen sind, wobei ihre Herkunft weder auf das eigene Verhalten noch auf das ihrer Umwelt irgendeinen Einfluß ausübt. Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal zum Ausgangspunkt unserer Diskussion zurückkehren. Wenn wir auch Riehl darin recht geben mußten, daß das Volk eine soziale Realität ist, so hat sich sein statischer Volksbegriff als ungeeignet für die Zwecke soziologischer Erkenntnis erwiesen. Damit fällt aber auch die romantische Gegenüberstellung von natürlichen, volkhaften, organisch gewachsenen Gemeinschaften einerseits und künstlichen, gemachten, unorganischen Gesellschaftsgebilden andererseits. Demgegenüber fanden wir, daß Webers prinzipieller Ansatz die allmähliche Entwicklung eines dynamischen Volksbegriffes ermöglicht hat, mit dessen Hilfe ein bestimm17 Vgl. W. I. Thomas und F. Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America. New York 2 1927, S. 1899 ff.

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ter Komplex sozialer Phänomene überhaupt erst dem Verständnis erschlossen werden kann. Die Denkkategorie Volk ist in der jüngsten Vergangenheit vielfach ideologisch verzerrt und mißbraucht worden, so daß man fast geneigt sein könnte, den Ausdruck bis auf weiteres überhaupt zu vermeiden. Doch soziale Realitäten lassen sich nicht ad acta legen! Worauf es deshalb ankommt, ist, immer wieder aufs neue zu versuchen, die Realitäten zu erkennen, d. h. als erstes begrifflich zu fassen. Auf den Begriff des Volkes kann man nun einmal nicht verzichten. Ganz abgesehen von dem legitimen Bedürfnis der Wissenschaft nach einer allgemeinen Systematik muß uns ein analytisch geschärfter, vor allem wertfreier Begriff des Volkes zur Verfügung stehen, um Gegenwartsprobleme von höchster Aktualität bewältigen zu können. Schon ein flüchtiger Blick in das Zeitgeschehen beweist, daß allenthalben, besonders in Asien und Afrika, neue Nationalitätenkonflikte die politische Bühne beherrschen, und zwar Nationalitätenkämpfe der gleichen Art wie jene, die bei uns - wenn auch oft auf drastische und unmenschliche Art - zum größten Teil erledigt zu sein scheinen. Aber auch in größerer Nähe gibt es brennende Aufgaben, deren Lösung eine adäquate Volkstheorie voraussetzt. Man braucht nur an die Bemühungen zu denken, angesichts der kommunistischen Gefahr eine überethnische europäischen Gemeinschaft zu begründen, oder an die sehr handgreiflichen, uns alle zutiefst berührenden Konsequenzen, die bei einer länger andauernden politischen Trennung des deutschen Volkes drohen.

111 Die Nation - politische Idee und soziale Wirklichkeit 1. Zur Begriffsgeschichte Sowohl in der Alltags- als auch in der Fachsprache werden "Volk" und "Nation" vielfach als Synonyme gebraucht. Insofern jedoch Unterschiede in ihrer Bedeutung gemacht werden, stößt man auf die Tatsache, daß der Sinn der beiden Wörter im Laufe der Zeit geradezu vertauscht worden ist. Darüber hinaus haben die von verschiedensten Wissenschaften angestellten Versuche einer theoretischen Klärung, noch mehr aber die fortwährenden Bemühungen um die ideologische Rechtfertigung konkreter politischer Aspirationen zu den mannigfaltigsten Anreicherungen der Begriffsinhalte geführt. Unter diesen Umständen gibt die Identität der Sprachsymbole bei jedem Versuch, die mit ihnen zu verschiedenen Zeiten bezeichneten Phänomene miteinander zu vergleichen, Anlaß zu groben Mißverständnissen und Verwechslungen. Wenn es sich lediglich um Umbenennungen, Begriffserweiterungen und ideologische Verzerrungen handeln würde, ließen sich die Schwierigkeiten noch verhältnismäßig leicht überwinden. Aber auch die Sachverhalte selbst, mit denen sich die Gesellschaftswissenschaften beschäftigen, sind ganz allgemein geschichtlichen Wandlungen unterworfen. Einmal eingefahrene Denkgewohnheiten verleiten dann dazu, bekannte Ausdrücke beizubehalten, ihre Bedeutung jedoch derart zu erweitern, daß sie auch auf die neuen Verhältnisse anwendbar bleiben. Die sich daraus ergebende Verwirrung belastet nicht nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung über Volk und Nation, sondern ebenso die Diskussion über Klasse und Schichtung, Staat und Gesellschaft und viele andere besonders hartnäckige Probleme der Soziologie. Dazu kommt noch die weitere und viel ernsthaftere Schwierigkeit, daß Begriffe, Sinngehalte und Deutungen der Wirklichkeit, aus welchen Quellen sie auch immer stammen mögen, unter Umständen selbst in die sozialen Leitbilder eingehen, an denen sozial verbundene Menschen ihr wechselseitiges Handeln orientieren, und so die soziale Wirklichkeit mitbestimmen. Als Ausweg aus dem mehrschichtigen Dilemma bietet sich die Möglichkeit an, eingebürgerte Begriffe konstant zu halten und für verän-

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derte Sachverhalte trotz der historischen Kontinuität jeweils neue Begriffe und Wortsymbole einzuführen. Aus diesem Grund geht unser Vorschlag dahin, an der bereits oben erarbeiteten Definition von Volk als dem grundlegenden analytischen Begriff der Soziologie der ethnischen Gebilde festzuhalten und uns wiederum die Frage vorzulegen: Gibt es neben dem, was wir als "Volk" bezeichnet haben, noch an-

dere soziologisch relevante Sachverhalte, die wir nicht in den Griff bekommen können, ohne darüber hinaus die Denkkategorie "Nation" einzuführen?

Ein begriffsgeschichtlicher Rückblick soll uns der Beantwortung dieser Frage näherbringen. Dabei können wir uns auf einen älteren, längst vergriffenen Aufsatz von F. Hertz 1 stützen, der trotz ähnlicher Versuche, die seither wiederholt von anderen, aber auch von Hertz selbst unternommen worden sind, noch heute als die aufschlußreichste Darstellung der Begriffsgeschichte gelten kann. Der Verfasser leitet seine Arbeit mit einer überaus bezeichnenden Charakterisierung der Problemlage ein:

"Der Aufgabe, das Wesen der Nation begrifflich darzustellen, ist schon viel gelehrte Arbeit und leidenschaftliches Bemühen gewidmet worden. Aber keine dieser Begriffsbestimmungen hat allgemeine Annahme gefunden. Teils scheitert die Verständigung daran, daß das Wort und seine Ableitungen historisch für sehr verschiedene Erscheinungen in Übung gekommen sind, während die Definitionen gewöhnlich nur die eine oder andere Bedeutung als die allein richtige anerkennen wollen. Teils wird bewußt oder unbewußt schon in die Begriffsbestimmungen ein politisches Wollen hineingelegt, um aus dem Begriff dann die Rechtfertigung eines Programms ableiten zu können. Noch mehr ist dies der Fall, wenn wir vom Begriff zu der ihn umwuchernden Ideologie übergehen. Unter der Flagge ,national' vereinigen sich oft sehr differente, ja einander widerstreitende Elemente zu einem ideologischen Komplex . . . Die Macht des bloßen Wortes ,national' ist so gewaltig, daß eben jede Partei es für sich zu annektieren sucht. Infolgedessen droht jede zeitlich aufgereihte Darstellung des ideengeschichtlichen Materials sich zu verwirren, soll sie doch gleichzeitig den Lauf einer großen Zahl von Bächen verfolgen, die sich schließlich zu mächtigen, befruchtenden, aber oft auch verheerenden und trüben nationalen Strömungen vereinigen2." Dieses Zitat enthält einen für die Lösung unseres Problems überaus wichtigen Hinweis. Es zeigt nämlich, daß es bei "Nation" primär nicht wie bei "Volk" in unserem Sinne um die begriffliche Erfassung einer spezifischen Gliederung der menschlichen Gesellschaft geht, die - ähnlich wie Herrschaftssysteme, Verwandtschaftszusammenhänge oder örtliche Differenzierungen in Gemeinden - überall und immer in der sozialen Wirklichkeit beobachtet und nachgewiesen werden kann. 1 "Wesen und Werden der Nation"; in: Jahrbuch für Soziologie. Hrsg. G. Salomon. Erster Ergänzungsband: Nation und Nationalität. Karlsruhe 1927. 2 a. a. 0., S. 1.

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Vielmehr handelt es sich hier offenbar um eine Denkkategorie, die an eine ganz bestimmte historische Situation geknüpft ist. Sie steht in engstem Zusammenhang mit jener politischen Idee, die dem Zeitalter des Nationalismus seinen Charakter verliehen hat. Darauf hatte schon der Österreichische Nationalitätenpolitiker und Staatsmann Karl Renner hingewiesen, als er schrieb: "Nation ist kein natmwissenschaftlicher, kein ethnologischer, kein soziologischer, sondern ein politischer Begriff3 ." Damit ergeben sich für die wissenschaftliche Analyse zwei Aufgaben, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen: Einmal gilt es, den typischen Gehalt der nationalen Idee herauszuarbeiten, auf deren Verwirklichung jene mächtige soziale und politische Bewegung gerichtet ist, die gemeinhin als "Nationalismus" bezeichnet wird. Ideale Entwürfe einer richtigen Ordnung und die ihrer Rechtfertigung dienenden Ideologien erhalten jedoch ihre eigentlich soziologische Relevanz erst, sobald sie als gültige Wirklichkeitsdeutungen, Wertmaßstäbe und Verhaltensnormen in das soziale Leitbild einer Gesellschaft Eingang gefunden haben, also Bestandteil ihrer gedachten Ordnung geworden sind4 • Dann aber bezieht sich das Wort "Nation" auf jene wirklichen sozialen Gebilde, die den Ordnungsvorstellungen und gesellschaftlichpolitischen Leitbildern des Nationalismus entsprechen. Neben den Gestaltungsabsichten der nationalen Bewegung muß daher die Nation als ein historischer Typus der gesamtgesellschaftlichen Ordnung zum Gegenstand der erfahrungswissenschaftliehen Untersuchung gemacht werden. Gerade die Vermischung beider Gesichtspunkte hat die Bereinigung des Nationsbegriffes unendlich erschwert. Denn politisch relevante Begriffe unterliegen in besonderem Maße fortwährenden Verschiebungen und unmerklichen Veränderungen. Ihre propagandistische Manipulation durch zielbewußte Führungsgruppen besteht gerade darin, daß solche Bedeutungswandlungen nach Möglichkeit unbemerkt bleiben; ja, die dadurch entstehenden inneren Widersprüche werden sogar von den Urhebern der Gedanken selbst zumeist aus dem eigenen Bewußtsein verdrängt. Eben weil seine geistige Existenz von der Gültigkeit der Ideale bzw. der Ideologie abhängt, widersetzt sich jeder, dessen Handeln von einer politischen Idee beherrscht ist, auf das entschiedenste der Begriffszergliederung, die ihn eines logischen oder faktischen Irrtums zu überführen droht. In die Enge getrieben, wird er in irgend3 Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich. Erster Teil: Nation und Staat. Leipzig und Wien 2 1918, S. 7. 4 Vgl. E. K. Francis: Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens. Bern und München 1957, S. 100 ff.

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einer Form bei dem Goethe-Wort Zuflucht suchen: "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen." Gerade dieser Appell an das Irrationale und Unaussprechliche ist für die begrifflichen Erschleichungen überaus charakteristisch, deren sich die verschiedenen Spielarten der nationalen Ideologie, nicht zuletzt die nationalsozialistische Rassenund Volkstheorie immer wieder bedient haben. Es wird unsere weiteren Überlegungen erleichtern, wenn wir uns schon an dieser Stelle darüber verständigen, was als die wesentlichen Gestaltungsabsichten des Nationalismus gelten soll. K. G. Hugelmann 5 vertritt die Auffassung, daß der moderne Nationalismus sich vor allem im Nationalitätsprinzip äußert. Seinen Inhalt beschreibt er wie folgt: Die Gliederung der Menschheit in Nationalstaaten sei das Normale und Wünschenswerte. Jedes Volk habe ein natürliches Recht auf seinen nationalen Staat, die nationalstaatliche Ordnung sei naturgemäß. Gleichzeitig werden alle etwa vorhandenen und später auftauchenden sozialen Leitbilder und Ideale als unberechtigt zurückgewiesen, die mit diesem Ordnungsprinzip in Konflikt geraten oder es zu überlagern und zurückzudrängen drohen. Rugelmann hat zwei Merkmale des Nationalstaates hervorgehoben: Erstens schließt er die Hauptmasse des geschlossenen Siedlungsgebietes eines Volkes ein; zweitens ist mit ihm das Bewußtsein verknüpft, daß der Staat eben diesem Volke zugehörig ist. Der Nationalstaat hat nur ein staatsführendes Volk. Er ist also nach Rugelmann bewußt mit dem Volkstum verbunden: Volk und Staat stehen in einem einzigartigen Verhältnis zueinander. Wie wir sehen werden, ist diese Kennzeichnung jedoch nur für eine der beiden Strömungen charakteristisch, die in der auf die Errichtung und Erhaltung von Nationalstaaten hindrängenden nationalen Bewegung zusammengeflossen sind. Eine etwas allgemeinere Definition, die den Vorteil hat, auf außereuropäische Verhältnisse eher anwendbar zu sein, finden wir in der ethnologischen Literatur: ",Nationalismus' ist eine ideologische Verpflichtung, die Einheit, Unabhängigkeit und Interessen einer Bevölkerung zu verfolgen, die sich als Gemeinschaft betrachtet ... Er kann darauf abzielen, eine Gemeinschaft zu vereinigen, die durch politische Grenzen geteilt ist oder die Unabhängigkeit einer Gemeinschaft anstreben, die einer größeren politischen Einheit einverleibt ist6 ." Nach dieser vorläufigen Klärung wenden wir uns in Anlehnung an den bereits zitierten Beitrag von Hertz der geschichtlichen Entwicklung des Nationsbegriffes zu. Dabei stellt sich heraus, daß philologische Untersuchungen 5 Nationalstaat und Nationalitätenrecht im deutschen Mittelalter. Stuttgart 1955. ' F. A. Falters: Ideology and Culture in Yugamba Nationalism; in: American Anthropologist 63 (1961), S. 677.

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über ältere Wortverwendungen, wie siez. B. von Hertz, aber auch an Hand mittelalterlicher Rechtsquellen von Rugelmann angestellt worden sind, für unsere Zwecke relativ unergiebig bleiben. Entscheidender ist dagegen der Hinweis auf die spezifisch staatsrechtliche Bedeutung, die der Begriff des Volkes mit dem Aufkommen und Erstarken moderner Staaten angenommen hat. Je nach den tatsächlichen Machtverhältnissen bezieht er sich bald auf die höheren Stände, bald auf die politisch passive Volksmasse, also die gedrückten, niederen und mittleren Volksschichten. Oft wird das Volk dem König und dem Adel gegenübergestellt. Überdies nimmt der Volksbegriff durch den kirchlichen Sprachgebrauch eine biblische Färbung an. Dagegen drückt "Nation" dann meist das politisch aktive, einheitliche, weltliche Staatsvolk aus, insbesondere im Gegensatz zu anderen Nationen als Träger von Macht und Ruhm. Nachdem Hertz den vielfach verschlungenen Wegen des Sprachgebrauchs auch für die Folgezeit nachgegangen ist, faßt er die Situation dahin zusammen, daß der Begriff der Nation gegenüber dem Begriff des Volkes allmählich aufgewertet worden sei, indem er erst Vorrecht, dann Freiheit und Macht ausdrücke. "Gleichzeitig", so schreibt Hertz weiter, "spiegelt seine Geschichte die Ansprüche der Stände und Parteien auf Führung. Dem Mittelalter bedeutete Nation oft eine privilegierte autonome Korporation; später betrachteten sich die Stände als Nation oder als ihre Vertreter; gelegentlich wurde derselbe Anspruch des Adels auf die Rasse gegründet. Das absolute Königtum erklärte sich selbst als Verkörperung der Nation. Das aufstrebende Bürgertum beanspruchte, auch zur Nation gerechnet zu werden. Die gemäßigten Liberalen betonten, Nation umfasse Volk und Regierung. Den Konservativen lag das Wesen der Nation im NationaJgeist, wie er sich in Tradition und Institutionen verkörpert. Auch die Fortschrittlichen haben aber den Volksgeist angerufen. Die Radikalen wieder setzten dem Anspruch der Privilegierten das Schlagwort entgegen, daß vor allem die von ihnen vertretenen aufstrebenden Schichten, also der Mittelstand, die kleinen Leute oder auch die Parteien die eigentliche Nation darstellten und allein zur Herrschaft berufen seien . . . So engt sich Nation gelegentlich auf den Begriff der energischen Minderheit ein, deren Willen der stumpfen Masse die Bahn vorzuschreiben strebt" 7 • Hertz geht dann auf verschiedene Versuche ein, "Nation" wissenschaftlich zu definieren. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf jene Kriterien, aufgrund derer sich eine Nation nach außen hin abgrenzen läßt. Die Französische Revolution hatte alle Nationen als souverän proklamiert. Dies bedeutete Selbstbestimmung sowohl im Sinne innerer Selbstregierung als auch im Sinne der vorausgehenden nationalen Selbstkonstituierung und Abgrenzung. Zwar verkündete die Französische Revolution den Volkswillen als Grundlage der nationalen Konstituierung, aber sie war nicht bereit, diese Entscheidung jedem Territorium Frankreichs, z. B. dem Elsaß, anheimzustellen und dessen Sezessionsrecht anzuerkennen. Vielmehr hat gerade die Revolution die Einheit und Unteilbarkeit der französischen Nation verkündet. Genau derselbe innere Widerspruch lag übrigens auch dem amerikanischen Sezessionskrieg zugrunde. Zur Begriffsbestimmung der Nation werden im allgemeinen zwei Merkmale herangezogen: Sie umfaßt die Einwohner eines vorgegebenen Staates, die die gleiche Sprache sprechen. Das Problem einer über die Grenze des Staates hin7

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ausreichenden Kulturnation stellte sich weder in England noch in Frankreich. Daher bedeutet im Englischen und Französischen "national" oft einfach staatlich oder dem ganzen Staat gehörig. Erst im deutschen Sprachgebrauch. der sich dann auch im übrigen Mittel- und Osteuropa durchgesetzt hat, taucht der Gedanke auf, daß eine Nation durch Gemeinsamkeit der Sprache, der Kultur und der Abstammung gekennzeichnet sei. Gegenüber den Theorien, die das Wesen der Nation in objektiven Merkmalen erblicken, stehen solche, die es an das Subjektive, an das Bewußtsein der Zugehörigkeit binden. Die romantisch-konservative Volksgeisttheorie nimmt eine objektiv erkennbare Eigenart des Volkes an, in der sich der Volksgeist unbewußt auswirkt. Im allgemeinen wird allerdings das Hauptgewicht auf Bewußtheit gelegt, dann vor allem auf den Willen, ein besonderes Volk zu bilden. Diese Auffassung verbindet sich schließlich mit der Idee der Volkssouveränität zum Nationalitätsprinzip. So entscheidend auch ein bestimmtes Gemeinschaftsgefühl für die Existenz der Nation ist, so muß doch nach vorwiegender Anschauung ein zweites Moment hinzukommen, nämlich ein Vaterland. Die Bezogenheit auf ein Territorium unterscheidet nach Hertz das nationale Gemeinschaftsgefühl von ähnlichen Wir-Gefühlen, z. B. der Kasten, Stände, Religionen, Sekten, Parteien usw. In diesem Sinne werden vielfach das nationale Territorium als der Körper, das Gemeinschaftsgefühl als die Seele der Nation aufgefaßt. Hertz kommt zu keinem endgültigen Schluß darüber, was nun unter "Nation" zu verstehen sei, neigt aber dazu, mehrere unterscheidbare Wortbedeutungen anzunehmen, und zwar "Nation" im Sinne von Staatsnation, Gefühls- und Willensnation, Sprachnation und Kulturnation. Wie zu zeigen sein wird, bietet auch ein solcher Begriffspluralismus keine Lösung. An dieser Stelle kommt es jedoch zunächst auf ein Methodenproblem an. Wenn man von seinen anregenden Beiträgen zur Wortgeschichte absieht, so liegt bei Hertz das Hauptgewicht eben doch auf der Zergliederung vorgefundener Begriffe. Auf diesem Wege aber konnten weder er noch seine zahlreichen Vorgänger und Nachfolger zu einem soziologisch brauchbaren Realbegriff gelangen; denn Zweck eines solchen Begriffes wäre die adäquate Beschreibung eines bestimmten Ausschnittes der beobachtbaren sozialen Wirklichkeit, um dann durch systematische Vergleichung verschiedener, dem Begriff zugeordneter Tatsachen induktive Verallgemeinerungen über regelmäßige Abläufe und Zusammenhänge sozialen Handeins zu ermöglichen. Hertz und den meisten älteren Volkstheoretikern geht es aber gar nicht so sehr um die soziale Wirklichkeit als um Vorstellungen über diese Wirklichkeit, die in schriftlichen Dokumenten verschiedener Art ihren Niederschlag gefunden haben. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob es sich um vorwissenschaftliche Begriffe, politische Ideen, praktische Rechtsvorstellungen oder um Gedankengebilde handelt, die nach Absicht ihrer Urheber der wissenschaftlichen Wahrheitserkenntnis dienen sollen. Denn auch letztere können ideologische Verfälschungen oder historisch und sozial bedingte Irrtümer anderer Art enthalten. Neben der ideengeschichtlichen Untersuchung über das Vorherrschen bestimmter Vorstellungen von Volk und Nation in verschiedenen historischen Situationen liegt allerdings auch ein echtes 5 FraBcis

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wissenssoziologisches Anliegen vor, insofern nämlich, als versucht wird zu ergründen, welche sozialen und politischen Gegebenheiten gerade zu solchen Gedankengebilden Anlaß gegeben haben und sie als "Idealfaktoren" des sozialen Geschehens wirksam werden ließen. Trotzdem kann die Analyse der Idealfaktoren allein niemals ein adäquates Bild von der totalen gesellschaftlichen Wirklichkeit ergeben. Unter den neueren Beiträgen zum vorliegenden Fragenkomplex ragt vor allem Eugen Lembergs nach dem letzten Krieg verfaßte Geschichte des Nationalismus in Europa8 hervor. In gewissem Sinn steht das Werk nicht nur am Ende einer langen Reihe einschlägiger Untersuchungen. Es stellt auch einen Abschluß dar; in ihm wird noch einmal zusammengefaßt, was auf einem ganz bestimmten Wege der historischen Analyse erreicht wurde. Gleichzeitig offenbart es aber auch die Grenzen dessen, was vermittels dieser Methode überhaupt erreicht werden kann. Gerade deshalb bietet es sich als Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung an, die sich weniger auf die beachtliche Einzelleistung als auf eine ganze Wissenschaftsrichtung bezieht, als deren Repräsentant das Buch gelten kann. Lernberg faßt den europäischen Nationalismus als eine geschichtsbestimmende politische und soziale Bewegung auf, äußert sich aber nicht näher über die soziologische Bedeutung dieses Begriffs. Immerhin dürfte es seinen Intentionen nicht zuwiderlaufen, wenn wir weiterhin im Anschluß an R. H. Turner und L. M. KiHian 8 eine soziale Bewegung als einen Prozeß betrachten, bei dem große, zunächst nicht spezifisch miteinander verbundene Bevölkerungsteile durch die Einwirkung einer Kerngruppe, die eine neue soziale Ordnung anstrebt, dazu veranlaßt werden, sich mit dieser Kerngruppe und ihren Zielen zu identifizieren, deren Anweisungen zu folgen und schließlich durch kollektive Aktion unter Führung der Kerngruppe zu versuchen, den erwünschten Zustand herbeizuführen. Im Mittelpunkt steht dabei das Ideal einer besseren Ordnung und deren ideologische Legitimierung. Dementsprechend richtet Lernberg sein Augenmerk auf die allmähliche Formung der nationalen Idee und auf den sozialen Standpunkt ihrer maßgeblichen Vorkämpfer und Träger. Zugleich sucht er die geistigen Voraussetzungen und sozialpsychologischen Motive, aber auch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen aufzuhellen, die zur Annahme der Idee bzw. zu ihrer Modifikation geführt haben. Damit liefert er wichtige Bausteine für die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Ideal- und Realfaktoren in einer konkreten historischen Situation. Gegen Lernbergs Vorgehen ist vor allem der Einwand zu erheben, daß die Begriffe Volk und Nation bewußt vage gelassen werden. Denn die Ideen, nach denen sich soziale Bewegungen orientieren, sind zwar variabel; auch die Grundlage ihrer Legitimierung kann sich wandeln. Sie gehen aber immer von irgendwelchen noch so mißverstandenen oder s Stuttgart 1950. 8 Collective Behavior. Englewood Cliffs, N. J. 1957.

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mißrepräsentierten Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit aus. Die Besonderheit einer politischen Idee - in diesem Fall also das, was die nationale Idee gerade von ähnlichen Ideen unterscheidet - liegt eben in diesem Wirklichkeitsbezug. Auch Lernberg betrachtet das Wesen des Nationalismus in der Hingabe an das Volk und findet das Strukturprinzip der realen gesellschaftlichen Ordnung, die sich unter dem Einfluß des Nationalismus ergeben hat, darin, daß das Volk den dynastischen Herrscher als "Staatsursache" ablöst. Wenn er dann aber ausdrücklich auf eine Unterscheidung zwischen Volk und Nation verzichtet, verschwimmt auch der Unterschied einerseits zwischen den realen Gegebenheiten, auf welche die nationale Idee Bezug nimmt und die wir oben als Volk definiert haben, andererseits dem konkreten Niederschlag der nationalen Bewegung, nämlich den verschiedenen "Nationen" der heutigen politisch-historischen Wirklichkeit. Daß diese Nationen aber nicht identisch sind mit Völkern im ersteren Sinn, liegt auf der Hand. Lernberg begründet sein Vorgehen damit, daß es eine der Aufgaben seines Buches sei, "im Nationalismus die Grundkraft zu zeigen, die sich ... stets als dieselbe erweist". Es handle sich um bloße Schattierungen, wann das Wort "Nation", wann "Volk" gebraucht wird. "Dabei mag ,Nation' mehr die politisch geformte, ,Volk' die mehr nur nach biologischen, sprachlichen und kulturellen Gesichtspunkten abgegrenzte Gemeinschaft bedeuten. Darüber hinaus", so fügt Lernberg hinzu, "werden uns nationsähnliche oder quasinationale Gemeinschaften und Ordnungen begegnen, die nach ihrer Struktur und nach ihrer Funktion im Seelenleben ihrer Angehörigen weitgehend dem entsprechen, was wir hier Nation nennen, wenn sie auch durch andere als ,nationale' Merkmale in sich gebunden sind" 10• Die Beweisführung dreht sich im Kreise. Was auf diese Weise erfaßt werden kann, sind nur Gedankengebilde, nicht auch die sozialen Realitäten, die mit ihnen verknüpft sind. Wie aus der weiteren Darstellung des Buches hervorgeht, identifiziert Lernberg dann doch Volk mit Sprachgemeinschaft. Daß Nationen vielfach (aber durchaus nicht immer) aufgrund sprachlicher Kriterien gegeneinander abgegrenzt worden sind, beweist allerdings noch nicht, daß die ethnischen Gegebenheiten, denen man dadurch gerecht zu werden suchte oder die wenigstens als Vorwand dienten, aufgrund bloßer Sprachgleichheit adäquat erfaßt werden können. Darauf hat auch Lernberg verschiedentlich hingewiesen. Entscheidender aber ist die Tatsache, daß gerade die inadäquate begriffliche Erfassung der Realität des Volkes notwendig zu unlösbaren Widersprüchen nicht nur in der Doktrin, sondern auch in der Praxis des Nationalismus führen mußte. Lernberg kann nur feststellen, daß solche Inkonsistenzen vorliegen, nicht aber, wie es dazu gekommen ist. Näher kommt Lernberg dem Kern der Sache mit der Unterscheidung zwischen einem "naiven, triebhaften Nationalismus" und einem "ideologischen" Nationalismus. Nach seinen Ausführungen zu schließen, ist die erstere Form identisch mit jenen elementaren Wir- und Fremdgefühlen (Solidarität nach innen und Abwehr nach außen), die überall auftreten, wo irgendwelche Sozialgebilde sich gegeneinander abheben. Die Nation zehrt 10

a. a. 0., S. 22.

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freilich von der Übertragung von Gefühlen, die sich zunächst an gegebene ethnische Zusammenhänge knüpfen, auf das Ganze einer in einem Staate vereinigten oder zu vereinigenden Bevölkerung. Doch besteht das eigentliche Problem des Nationalismus nicht einfach im Bewußtsein oder Bewußtmachen bereits vorhandener "triebhafter" Gefühle, sondern in deren ideologischer Hervorbringung und Steuerung. Deshalb macht Lernberg mit Recht den "ideologischen Nationalismus", dem allein wir selbst die Bezeichnung vorbehalten möchten, zum eigentlichen Thema seiner Studie. Dieser Nationalismus - so meint Lernberg - sei begründet in einer spezifischen Anschauung über die Legitimität gewisser politischer Herrschaftssysteme, die im Laufe der neueren Geschichte angestrebt und z. T. verwirklicht worden sind. Der Verfasser sieht nun seine Aufgabe darin, aufzudecken, wie es zu dieser Auffassung vom Volk als einzig legitimem Strukturprinzip der Gesellschaft gekommen ist und welche Veränderungen die nationale Idee im Zusammenstoß nicht nur mit den ethnischen Realitäten, sondern auch mit den tatsächlichen Erfordernissen des modernen Staates erfahren haben. Im Verlauf der Untersuchung gelingt es Lemberg, mit großem Scharfsinn eine Reihe von Faktoren zu isolieren, die bei der ideengeschichtlichen Entwicklung des Nationalismus mitgewirkt haben. Doch sind die Versuche einer Erklärung aus sozialen Zusammenhängen und seelischen Motiven im großen und ganzen weder ohne weiteres einleuchtend noch werden sie aus allgemeinen soziologischen und sozialpsychologischen Erkenntnissen abgeleitet. Vielmehr bedient sich der Verfasser vorwiegend einer Methode, die gelegentlich als die typisch historische bezeichnet worden ist, nämlich Einmaliges aus Einmaligem zu erklären. Dieser Vorgang ist soziologisch unbefriedigend; denn es ergeben sich dabei weder empirische Gesetze, die sich auf zahlreiche analoge Fälle anwenden ließen, noch werden durch Bezugnahme auf die konkret historische Erfahrung Hypothesen über Zusammenhänge, etwa zwischen den sozialen und psychischen oder den wirtschaftlichen und politischen Faktoren, auf ihren Erkenntnisgehalt überprüft. 11

11 Inzwischen hat sich Lernberg mit einem programmatischen Aufsatz (Die Geburt der Nationen. Um eine Theorie des Nationalismus; in: Studium Generale 15 (1962), S. 301-309) erneut zu Wort gemeldet, in dem er sich für eine eigentlich soziologische Behandlung des Problems der Nation einsetzt. Wenn er schreibt, daß nunmehr "der Schritt von einer Theorie der sprachlichvölkisch abgegrenzten Gruppen zu einer Theorie der Großgruppen überhaupt ... zu vollziehen" (S. 303) wäre, so findet darin offenbar die Erkenntnis ihren Ausdruck, daß sich die Spezielle Soziologie der ethnischen Gebilde nicht isoliert, sondern nur auf der Grundlage der Allgemeinen Soziologie entwickeln lasse. Genau dieser Absicht sind die im vorliegenden Bande enthaltenen Studien des Verf. gewidmet, dem es von Anfang an nicht um eine Ideengeschichte des Nationalismus, sondern um ein soziologisches Verständnis jener sozialen Realitäten gegangen ist, auf die sich die nationale Idee bezieht. - Lernbergs neuestes stark soziologisch orientierte Buch über Nationalismus (2 Bde. Reinbek bei Harnburg 1964) konnte, wie oben im Vorwort ausgeführt wurde, hier nicht mehr berücksichtigt werden.

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2. Begriffsanalyse Die bisherige Diskussion hat bis an die Grenzen dessen herangeführt, was auf dem Wege einer historischen Betrachtungsweise für unsere Zwecke erreicht werden kann. Wo es um die soziologische Erfassung der Wirklichkeit geht, kann sie allein zu keiner adäquaten Begriffsbildung führen. Vielmehr müssen wir uns bemühen, uns von dem Zwang ideologisch belasteter Sprachsymbole zu befreien, und versuchen, die verschiedenen mit den Ausdrücken "Volk" und "Nation" verknüpften Vorstellungen herauszuschälen und gegeneinander abzugrenzen. Im wesentlichen lassen sich vier Bedeutungsreihen unterscheiden, die jeweils von verschiedenen Grundvorstellungen ausgehen. Wir wollen sie zunächst unverbindlich durch die neutralen Symbole V 1 , V 2 , N 1 und N 2 kennzeichnen, um der Verwirrung möglichst zu entgehen, die bei der Verwendung der Alltagssprache naheliegt.

vt Die Bedeutungsreihe V 1 hat keinen unmittelbaren Bezug auf den eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchung; doch wird sich zeigen, daß signifikante Querverbindungen indirekt zu V 2 und N 1 D führen. A. Ursprünglich bedeutet "Volk" nichts anderes als eine Anzahl von anschaulich gegenwärtigen Menschen, also: Ansammlung, Haufe, Menge, ganz allgemein: Leute1 • Genau diesem Sinn entspricht das englische Wort "people" und die namentlich in Amerika gebräuchliche Anrede "folks"; in romanischen Sprachen werden dafür vielfach Ableitungen vom lateinischen "gens" verwendet, z. B. ital. "multa gente" (viele Leute, früher sagte man auch bei uns: viel Volk), frz. "gens d'affaires" (Geschäftsleute). Im Deutschen hat sich diese Bedeutung in verschiedenen z. T. archaisch anmutenden Ausdrücken erhalten, wie "Volksauflauf", "Volksmenge", "Kriegsvolk", "Fußvolk", "Mädchen aus dem Volke" u. dgl. B. Den Wortverbindungen "Volkszählung" oder "Volksgesundheit" dagegen entspricht die abstraktere Vorstellung einer relativ großen Bevölkerung innerhalb eines irgendwie geographisch abgrenzbaren Gebietes. Weder bei V 1 A noch bei V 1 B handelt es sich primär um die Feststellung eines realen gesellschaftlichen Zusammenhanges.

C. In seiner dritten Bedeutung bezieht sich "Volk" dagegen auf eine soziologisch relevante Denkkategorie, nämlich auf die breiten Volksschichten, das einfache, gemeine oder niedrige Volk, also die gesellschaftlichen Unterschichten. Dem entspricht im Lateinischen "vulgus", in seiner späteren unspeziftschen Bedeutung auch "plebs", dann "populus". Von letzterem leiten sich über die 1 Eine überaus sorgfältige und überzeugende sprachgeschichtliche Untersuchung findet sich bei Günter Herold: Der Volksbegriff im Sprachschatz des Althochdeutschen und Altniederdeutschen. Ein Beitrag zur Wesenserkundung Germanischer Volksauffassung. Münchener Doktordissertation 1940.

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romanischen Sprachen ("peuple", "popolo") Ausdrücke wie "Popularität" (Volkstümlichkeit) oder "Populärwissenschaft", aber auch das geringschätzige "Pöbel" ab. Die Bedeutung von "Volk" als Unterschicht hat sich in zahlreichen Wortverbindungen erhalten, z. B. Volkskalender, Volksküche. Volksbank, Volksfest u. dgl. Auf ihnen beruhen auch ältere Auffassungen von der Volkskunde als Wissenschaft von der Kultur der breiten bäuerlichen Schichten, den "volkhaften", ursprünglichen Bevölkerungselementen in Gegenüberstellung zur (höheren) "Gesellschaft", den führenden Kreisen und - wie wir sehen werden- der "Nation" im Sinne von N 1D. In diesem Sinn ist auch der in der amerikanischen Fachsprache eingebürgerte Ausdruck "folk" zu verstehen, der in "folk society" 2 , "folk culture", "folkways" enthalten ist, aber auch unseren Fremdwörtern "Folklore", "Folkloristik" zugrunde liegt. Im heutigen Sprachgebrauch entspricht dem "Volk" als Inbegriff der breiten, undifferenzierten Schichten weitgehend die Bezeichnung "Masse", wenn man einmal von ihrer kulturkritischen Verfärbung absieht.

v2 Von den bisher erörterten WOrtbedeutungen ist die Vorstellung von Volk im eigentlichen, ethnischen Sinn zu unterscheiden. An dieser Stelle geht es uns noch nicht um einen wissenschaftlich. adäquaten Volksbegriff, sondern um die schlichte Tatsache, daß im Selbstverständnis gewisser, eine Mehrzahl von Familien und anderen Verwandtschaftsgebilden zu einer relativ dauerhaften Ganzheit zusammenfassender Gesellschaften das Moment der gemeinsamen Abstammung bzw. Herkunft von entscheidender Bedeutung ist. Mag auch nicht immer ein reflektierter Allgemeinbegriff bzw. ein entsprechendes Wortsymbol vorhanden sein, so ist doch die Grundvorstellung des Ethnos jedesmal impliziert, wenn Volksnamen wie Israeliten und Moabiter, Hellenen und Perser, Italer und Etrusker, Goten und Hunnen, Franzosen und Deutsche, Letten und Esten, Katalanen und Basken, Batutsi und Bahutu, Navaho und Hopi ausgesprochen werden. Derartige ethnische Deutungen sozialer Gliederungen hat es so gut wie überall und immer gegeben, mag es auch der Wissenschaft schwerfallen, das Phänomen adäquat zu definieren. Wir haben uns mit dem Problem bereits eingehend auseinandergesetzt. An dieser Stelle kommt es uns auf eine terminologische Klärung an. Dem Volksbegriff in der hier gemeinten Bedeutung entspricht das lateinische Wort "natio", das ebenso wie "natura" mit "nasci" (geboren werden) zusammenhängt. Mit "natio" wird also die natürliche Gemeinschaft bezeichnet, in die man hineingeboren wird. Das ist insofern wichtig, als das Wort "Volk", dessen ursprüngliche Bedeutung dem oben unter V1A angeführten Sinn entsprach, als eine Übersetzung des in mittelalterlichen Rechtsquellen vorkommenden Ausdruckes "natio" erscheint. Daneben wurden Verwandtschafts- und Abstammungszusammenhänge jedoch auch durch"gens" und gelegentlich "stirps" symbolisiert. Als "nationes" oder "gentes" (vgl. "jus gentium") wurden jedoch vor 1 Vgl. E. Francis: Art. "Folk Society"; in: Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. W. Bernsdorf. 2. erw. Aufl., Stuttgart (noch nicht erschienen).

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allem unentwickelte Völkerschaften mit geringerer Kultur bezeichnet, während das Volk von Rom "Populus Romanus" genannt wurdea. "Populus" weist also nicht so sehr auf rein ethnische Gegebenheiten hin, sondern enthält die Grundvorstellung der hochentwickelten politisch organisierten Gesellschaft. Damit steht es der unter N 1 zu behandelnden Bedeutungsreihe näher als der Bedeutung V2 • Bezeichnenderweise wurde bei der Übernahme der Termini in die christliche Vorstellungswelt "populus" auf das Auserwählte Volk angewandt, und zwar sowohl des Alten als auch des Neuen Bundes, dann auf das Kirchenvolk der Laien im Gegensatz zur kirchlichen Hierarchie. Alle anderen Völker galten als "gentes" oder "nationes". Das Wort "gentiles" diente außerdem zur Unterscheidung der getauften Heiden von den Judenchristen, worauf noch heute der englische Ausdruck "gentile" im Sinne von nichtjüdisch hinweist. In mittelalterlichen Urkunden wurden die deutschen Stämme bald als "nationes" bald als "gentes" bezeichnet. In den romanischen Sprachen behielten Ableitungen von den lateinischen Wörtern im allgemeinen ihre ursprüngliche Bedeutung bei, im Deutschen tritt an ihre Stelle "Volk", im Tschechischen "narod". Daneben taucht aber im Deutschen auch das Wort "Stamm" auf, das wohl als Übersetzung für "gens" oder "stirps" gedacht war. Insbesondere die Stämme des jüdischen Volkes wurden so bezeichnet. Interessanterweise bürgerte sich für die Franken, Baiern, Alemannen usw., die zunächst "nationes", also "Völker" genannt wurden, der Ausdruck "Stämme" ein, sobald sie zu einer neuen ethnischen Einheit, dem deutschen Volke, zusammengeschmolzen waren. Damit erhält das Wort "Stamm" die Bedeutung einer ethnischen Einheit, die noch nicht den Stand eines voll entwickelten V0lkes erreicht hat. Aus diesem Grund werden vielfach kleine, unentwickelte Völker, vor allem auch Naturvölker, "Stämme" genannt (vgl. Indianer- oder Negerstämme). Trotzdem dürfen wir uns durch die Wortverwendung nicht beirren lassen. Zweifellos sind viele gesellschaftliche Einheiten, die als "Stämme" bezeichnet werden, soziologisch gesehen genauso Völker im Sinne von V 2 wie jene Großvölker, die man dieser ehrenvollen Benennung vor allem deshalb für würdig hält, weil sie einen Grad der politischen Organisation und kulturellen Entwicklung erreicht haben, der strenggenommen nicht so sehr für Völker im Sinne von V 2 als für Nationen im Sinne von N 1 charakteristisch ist. Freilich unterscheidet die Alltagssprache nicht deutlich zwischen den beiden Sachverhalten. Ebensowenig ist es soziologisch vertretbar, Gebilde, die zu einem Zeitpunkt unterscheidbare Völker im Sinne von V 2 darstellten, gewissermaßen rückwirkend zu bloßen Stämmen zu degradieren, weil sie zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich nur mehr als regionale Varianten eines größeren ethnischen Zusammenhanges erkennbar sind. Man muß sich vielmehr an den Gedanken gewöhnen, daß auch ethnische Gebilde dem fortwährenden sozialen Wandel unterliegen, wobei es eben 3 Daneben wurden allerdings "populus" und seine neusprachlichen Ableitungen auch im Sinne von V1 C (vgl. concursus popuH) verwendet.

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vorkommt, daß mehrere Völker gelegentlich von einem anderen Volk absorbiert werden oder ein neues Volk bilden. Wollte man dem Wort "Stamm" einen eindeutigen analytischen Sinn geben, so müßte es der Bezeichnung von unterscheidbaren regionalen Untereinheiten von Großvölkern vorbehalten bleiben bzw. von kulturellen Restbeständen älterer ethnischer Einheiten, die einmal den Charakter selbständiger, wenn auch verwandter Völker trugen, später jedoch zu einer größeren ethnischen Einheit zusammengeschlossen wurden. Die sogenannten Germanenstämme der Völkerwanderungszeit, aber auch die Franken Karl des Großen wären dann soziologisch gesehen Völker, während erst in späterer Zeit die Franken, Schwaben usw. als Stämme innerhalb des (ausgebildeten) deutschen Volkes betrachtet werden könnten 4 • Schon im Mittelalter wurde "natio" nicht nur im Sinne von V2 verwendet, sondern diente mitunter als geographische Bezeichnung eines Landes oder zur Kennzeichnung des Geburtsortes bzw. Wohnsitzes. Auch bei der Einteilung der Universitäten oder Kirchenkonzilien in nationes ist kein eindeutiger Zusammenhang mit eigentlich ethnischen Gegebenheiten zu erkennen. Vielfach wurden Einheiten der kirchlichen Verwaltung wie Ordensprovinzen "nationes" genannt. Indem der Ausdruck "Nation" später in dieser administrativ-territorialen, nicht-ethnischen Bedeutung auch auf die in der Neuzeit sich entwickelnden politischen Einheiten angewendet wurde, diente er schließlich zur Bezeichnung des modernen Staates bzw. der ihn tragenden Kreise. Hierauf wird unter N 1 näher einzugehen sein. Umgekehrt rückte beim Gebrauch des Wortes "populus" und seiner neusprachlichen Ableitungen die Vorstellung von V1 C in den Vordergrund, woraus sich im Deutschen wiederum eine stärkere Affinität zur ursprünglichen Bedeutung von "Volk" ergab. Typisch hierfür ist die Auffassung von Sir Francis Bacon, für den "people" die breite Masse, "nation" dagegen das aktive Staatsvolk bedeutete. Erst unter dem Einfluß von Rousseau, Herder und den Romantikern wurde das niedere Volk im Sinne von V1C in besonderem Maße mit dem ethnischen Volk im Sinne von V2 identifiziert und ihm nicht nur ein hoher kultureller und sittlicher Wert, sondern auch eine entscheidende politische Bedeutung für die Konstituierung der Nation im Sinne von N1 zugemessen. Im Zusammenhang damit steht die ideologische Aufwertung, die der ethnische Volksbegriff im 18. und besonders im 19. Jahrhundert erfahren hat. Das Volk wurde als ein Stück der von Gott geschaffenen natürlichen Ordnung mythologisiert und als das spontan oder "organisch" Gewordene dem bloß künstlich Gemachten, von einer (staatstragenden) Oberschicht bewußt Geschaffenen gegenübergestellt. Als dann Staat und (bürgerliche) Gesellschaft begrifflich getrennt wurden, ergaben sich zwei entscheidende Dichotomien: einmal im Sinne des Liberalismus der Primat der Gesellschaft gegenüber dem Staat, zum anderen im Sinne 4 Vgl. hierzu vor allem die hervorragende Arbeit von R. Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen Gentes. Köln 1961.

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des Konservativismus die moralische Aufwertung der von irrationalen Kräften getragenen Volksgemeinschaft und die kulturkritische Abwertung der auf rational-zweckhaften Willenshandlungen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft". In der Philosophie des Idealismus, namentlich Hegels wird der Volksgeist z. T. in Anlehnung an die Entelechie biologischer Organismen als vorgegebene Idee, als Urtypus, als sich entfaltende Form des sozialen Organismus verstanden. Mit dieser komplizierten und vielfach ineinander verschlungenen ideologischen Entwicklung konnte die terminologische Entwicklung nicht Schritt halten. Das Wort "Nation" wurde bald auf den Staat, bald auf die bürgerliche Gesellschaft, vielfach aber auch auf das "erwachte", d. h. das sich seiner politischen Relevanz bewußt gewordene "Volk" bezogen, wobei wiederum der Gedanke an das schlichte, einfache Volk, besonders der Bauern, mit der Vorstellung einer natürlichen, ursprünglichen ethnischen Gegebenheit zusammenflossen. Auf andere Bedeutungen des Wortes werden wir unter N 1 und N 2 zurückkommen. Als Ergebnis der bisherigen Erörterungen läßt sich zusammenfassend sagen, daß die Grundvorstellung des Ethnos im Sinne von V 2 im Laufe der Zeit durch ganz verschierlene sprachliche Symbole ausgedrückt worden ist und daß bei der Verwendung der Wörter "Volk", "Nation", "Stamm" bzw. ihrer fremdsprachlichen Äquivalente mit dieser Grundvorstellung jeweils ganz verschiedene Nebenbedeutungen verbunden worden sind. Daher besteht bei der Interpretation einschlägiger Dokumente stets die Gefahr, durch sprachbedingte Assoziationen irregeführt zu werden. Wenn man von affektiven Besetzungen und ideologischen Verfärbungen absieht, die mit immer wieder wechselnden Vorzeichen die Begriffsbildung beeinflußt haben, so lassen sich für V 1C und V 2 eindeutige Inhalte angeben, nämlich die Sozialkategorie der Unterschicht einerseits, der ethnische Typus sozialer Gebilde andererseits. Das Scheitern wiederholter Versuche, ebenso präzise Sachverhalte für die nunmehr zu behandelnden Bedeutungsreihen N 1 und N 2 zu finden, ist darauf zurückzuführen, daß es sich hierbei nicht primär um soziologisch relevante Realbegriffe handelt, sondern um politische Ideen mit höchst variablem Realbezug. Das, was sie verbindet, ist nicht ein gemeinsamer Begriffsinhalt, sondern der Umstand, daß sie sich insgesamt aus der Vorstellungswelt des modernen Nationalismus herleiten lassen, der sich- wie jede politische Bewegung - in erster Linie auf die Gestaltung der politischen Ordnung richtet. 5 Daher stammt auch die soziologische Typologie "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" von F. Tönnies.

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Wir haben bereits davon gesprochen, daß die politischen Gestaltungsabsichten des Nationalismus auf die Schaffung und Erhaltung von Nationalstaaten abzielen. Wir haben weiterhin gesagt, daß hierfür das sog. Nationalitätsprinzip maßgebend ist, wonach - auf die einfachste Formel gebracht- das Staatsgebiet und der von einem bestimmten Ethnos erfüllte Raum möglichst zusammenfallen sollen; in diesem Falle wird das Ethnos zu einer Nation. Die nationale Idee schöpft jedoch noch aus einer ganz anderen Wurzel, nämlich dem demokratischen Prinzip, das nicht die Beziehung zwischen Ethnos und Staat, sondern zwischen den Herrschaftsunterworfenen und Herrschenden in einem vorgegebenen Staat oder wie wir auch sagen können: von Demos und Staat ins Auge faßt.

Das Problem des Nationalstaats ist daher nicht zwei- sondern dreipolig. Einerseits betrifft es das Verhältnis von Staat und Staatsbürger, andererseits die Abgrenzung mehrerer Staaten gegeneinander. Das Nationalitätsprinzip bezieht sich lediglich auf das zweite Problem. Es beantwortet in abstracto die Frage, welche Gebiete im Staat zu vereinigen sind, um seinen nationalstaatliehen Charakter zu begründen. Die Konkretisierung des Prinzips setzt aber voraus, daß der Umfang eines Volkes oder einer Nation festgestellt und gegen andere Völker abgegrenzt werden kann. Diesen praktisch-politischen Zweck suchen die unter N 2 aufgeführten Denkkategorien zu erfüllen. Während im ersteren Fall also das Ethnos als vorgegeben gilt, ist im anderen gerade der Staat vorgegeben; das Problem besteht dann darin, seine innere Herrschaftsstruktur nach "nationalen" Kriterien zu bestimmen. Hier lautet das abstrakte Grundprinzip, daß die Nation (oder das Demos) Träger des Staates sein soll. Die Frage, welche Elemente innerhalb der Bevölkerung des Staates zur Nation bzw. zum Demos zu rechnen sind, wird jedoch auf sehr verschiedene Weise beantwortet. Dem entsprechen die unter N 1 zusammengefaßten Grundvorstellungen. Nt Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, daß das Wort "Nation" relativ frühzeitig zur Bezeichnung administrativ-territorialer Einheiten gebraucht worden ist. Im Einklang damit wird darunter auch einfach der moderne Staat verstanden. Namentlich im Englischen ist das Wort "state" für Staat wenig gebräuchlich, an seine Stelle tritt zumeist "nation". Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht die amerikanische Sprachregelung, wonach die einzelnen Bundesländer zwar "states", der Bund selbst "federation", "union", häufiger aber "nation" genannt wird. Auch im Deutschen bedeutet "national" vielfach "auf den Staat bezogen", "zum Staate gehörig". So bezieht sich das sog. internationale Recht auf Rechtsbeziehungen zwischen Staaten, obwohl daneben als Übersetzung von "jus gentium" der Ausdruck "Völkerrecht" Verwendung findet.

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Im Deutschen wird jedoch "Volk" sonst selten mit "Nation" im Sinne von Staat verwechselt. So ist die Übersetzung von "League of Nations" als "Völkerbund" mit Recht als widersinnig empfunden worden, weshalb wohl neuerdings "Vereinte Nationen" als die offizielle Verdeutschung der United Nations gewählt worden ist. In dieser Hinsicht ist die Gegenüberstellung der folgenden Wortverbindungen aufschlußreich: Während "Nationalbank", "Nationalbibliothek", "Nationaltheater", "Nationalhymne", "Nationalfest" ebensogut "Staatsbank", "Staatsbibliothek", "Staatstheater", "Staatshymne", "Staatsfest" heißen könnten, deuten "Volksbank," "Volksbücherei", "Volkstheater", "Volkslied", "Volksfest" auf V1C hin. Das gleiche gilt für "Volksschrifttum" im Gegensatz zu "Nationalliteratur", worin eher die Bedeutung von N2 zum Ausdruck kommt. Unter "Nationalisierung" wird dasselbe verstanden wie Verstaatlichung, dagegen steht bei "Entnationalisierung" eindeutig die Vorstellung von V2 im Vordergrund. Weit häufiger als auf die politisch organisierte Gesellschaft in ihrer Totalität bezieht sich der Begriff der Nation jedoch auf kollektive Träger der politischen Entscheidungsmacht. Ebenso wie im kirchlichen Bereich etwa die Konzilsväter wurden auch die ständischen Körperschaften weltlicher Machtträger in Nationen gegliedert oder galten insgesamt als die Nation eines Landes. In der Formel vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation z. B. kommt die Verbindung der Macht des Kaisers und der Reichsstände zum Ausdruck. Die polnische oder ungarische Nation bestand aus der Gesamtheit der Standesherren, dem aus den grundbesitzenden und waffenfähigen Freien gebildeten Adel. Ganz ähnlich berichtet Montesquieu, daß man unter den ersten beiden Dynastien Frankreichs oft die Nation versammelt habe, nämlich "die Herren und die Bischöfe, denn von den Städten war noch keine Rede" 8 • Von der Nation wird dann unterschieden die plebs, das untertänige Volk in der Bedeutung von V 1 C. In diesem Sinne ist auch Luthers Bemerkung zu verstehen: "Hier sollte nun die deutsche Nation, Bischöfe und Fürsten, sich auch für Christenleute halten und das Volk, das ihnen befohlen ist in leiblichen und geistigen Gütern zu regieren und zu schützen, vor solchen reißenden Wölfen beschirmen ... 7." Mögen auch die Wurzeln des politischen Nationsbegriffes schon in der ständischen Rechtsauffassung erkennbar sein, so ist doch für unsere Zwecke der enge Zusammenhang zwischen moderner Nation und modernem Staat von größerer Bedeutung. Der Nationbegriff, der den Gegenstand dieser Untersuchung darstellt, erhält seine spezifische Bedeutung erst in den politischen Machtkämpfen und ideologischen Auseinandersetzungen, die den Übergang vom Absolutismus zur Demokratie 8 Vgl. L'Esprit des Lois. XXVIII. 9. Zitiert nach: F. Hertz: Wesen und Werden der Nation; in: Jahrbuch für Soziologie. Hrsg. G. Salomon. Erster Ergänzungsband: Nation und Nationalität. Karlsruhe 1927, S. 12. 7 Luthers Werke. 1898, I. Bd., S. 223. Zitiert nach F. Hertz: a. a. 0., S. 14. (Hervorhebungen vom Verf.)

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kennzeichnen. Hier dient er zur Abgrenzung jenes Personenkreises, der zuerst neben dem Fürsten, dann an dessen Stelle die Geschicke des Staates bestimmen soll. Je nach der konkreten politischen Situation, aber auch je nach dem Standort und den politischen Aspirationen jener, die sich seiner bedienen, verschieben sich ständig Inhalt und Umfang des Begriffes. In der Hitze der politischen Leidenschaften wird das Wort zum Symbol des höchsten sozialen Wertes überhaupt, ohne daß sich mit ihm ein eindeutig angehbarer Realbezug verbinden ließe. In den großen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts wird dann der Kampf gegen den Absolutismus im Namen des Volkes oder der Nation geführt. Bald betrachtet sich der Adel, bald der dritte Stand als Verkörperung der Nation. Noch Montesquieu spricht anfangs von einer adeligen und einer bürgerlichen "Nation". Gelegentlich bedienen sich sogar Monarchen des gleichen Begriffes, um ihre Prärogative zur Geltung zu bringen. So erklärt Ludwig XIV.: "Der König vertritt die ganze Nation; alle Macht ist in seinen Händen ... Die Nation bildet in Frankreich keine Körperschaft, sie wohnt ausschließlich in der Person des Königs 8 ." Während konservative Politiker wie J. de Maistre den König zusammen mit dem Adel als die Nation betrachtet wissen wollen, neigen ihre radikalen Gegenspieler dazu, beide aus der Nation auszuschließen, dafür aber deren Umfang so zu erweitern, daß sie neben dem aufstrebenden Bürgertum das gemeine Volk im Sinne von V1 C mitumfaßt, das bislang gerade ohne ständische Vertretung geblieben war. Die Ausdehnung demokratischer Freiheiten, insbesondere des aktiven und passiven Wahlrechts sowie die politische Mobilisierung immer weiterer Kreise führt dann dazu, praktisch die gesamte Bevölkerung eines Staates mit der Nation zu identifizieren. Die Begriffsbildung ist jedoch noch durch eine zweite, beinahe gegenläufige Bewegung beeinftußt worden, die darauf abzielte, die Macht des Staates zugunsten einer staatsfreien Sphäre einzuschränken, in der sich die bürgerliche Erwerbsgesellschaft ungehemmt entfalten konnte. Dieselben sozialen Kräfte, die in bezugauf ihren politischen Anspruch als Nation oder Volk erscheinen, werden unter einem anderen Aspekt als Gesellschaft dem Staat gegenübergestellt. So konnte Robespierre einmal erklären: "J'entends par peuple la generalite des individus qui compose la Societe ... 9." Auch Adam Smith verstand unter "nation" im wesentlichen die Gesellschaft, deren Grenzen zwar durch den Staat definiert sind, die aber dem staatlichen Machtapparat gegenüber ihre Eigenständigkeit behauptet. Volk, Nation, Staat, Gesellschaft, dazu noch Vaterland und Bürgerschaft (citoyens) sind Denkkategorien, die mit ständig wechselnden Sinngehalten und nicht selten unter Vertauschung der Wortsymbole dem Bemühen dienen, eine aus den Wirren der Revolution neu erstehende politische Ordnung geistig zu bewältigen. Zugleich werden mit ihrer Hilfe neue Loyalitäten hergestellt, aber auch neue Herrschaftsverhältnisse moralisch gerechtfertigt und legitimiert. Erst allmählich tritt mit der relativen Konsolidierung der politischen Wirklichkeit auch eine gewisse Verfestigung der Denkkategorien und eine terminologische Präzisierung ein. ~ Louis XIV; CEuvres, 1806 Bd. I und li: Memoires historiques et instructions de Louis XIV pour le Dauphin, son fils. Zitiert nach F. Hertz: a. a. 0.,

s. 13.

9 Zitiert nach F. Brunot: Histoire de la langue franc;aise des origines 1900. Bd. 9, T 2. Paris 1937, S. 727.

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Dem voll entwickelten Typus des demokratischen Nationalstaates entspricht dann als sein gesellschaftliches Substrat die Staatsnation. Mit diesem Begriff verbindet sich vor allem die Vorstellung einer Gebietsbevölkerung, die einerseits ein unterscheidbares soziales Ganzes bildet und sich dessen bewußt ist, andererseits im Staat den Ausdruck ihres kollektiven politischen Willens findet. Damit ist aber weit mehr die politische Idee als die politische Wirklichkeit gekennzeichnet. Sowohl die Vorstellung vom geschlossenen Volksstaat als auch die Annahme eines objektiv feststellbaren kollektiven Willens, an dem sich politisches Handeln in der Regel orientiert, tragen utopischen Charakter. Wir kommen der Staatswirklichkeit näher, wenn wir den Begriff der Staatsnation auf den staatstragenden Kern der Bevölkerung eines nach demokratischen Prinzipien aufgebauten Staates beschränken, der an der Auswahl der die politische Herrschaft Ausübenden und an deren Entscheidungen im Namen des Ganzen und für das Ganze tatsächlich maßgebenden Anteil hat. Damit werden alle jene Bevölkerungssegmente ausgeklammert, in deren Interesse zwar die Macht im Staat angeblich oder auch der Intention nach ausgeübt wird, die aber an dieser Macht weder direkt noch indirekt mitwirken und denen vielfach aus den bestehenden Machtverhältnissen geringe Vorteile, ja sogar erhebliche Nachteile erwachsen. Damit sind wir in der Lage, die Bedeutungsreihe N 1 wie folgt logisch anzuordnen: A. Nation = Staat; B. das soziale Substrat des Staates, die Gesellschaft; C. die staatstragenden Kräfte innerhalb der Bevölkerung eines Staates, und zwar a) die persönliche Verkörperung des Staates im Fürsten (selten); b) die Stände, namentlich der Adel, im Gegensatz zum Volk im Sinne von V 1 C, oft auch zum Fürsten; c) der dritte Stand, die auf politische Mitverantwortung hinstrebende Bourgeoisie sowie die ihre Ansprüche unterstützende Intelligenz; D. das souveräne Volk unter Einschluß oder mit besonderer Betonung des gemeinen Volkes; E. die Staatsnation oder das Staatsvolk. Wenn wir aus der Bedeutungsreihe N 1 jeden ethnischen Bezug ausgeklammert haben, so geschah dies nicht allein aus analytischen Gründen. Die Vorstellung von der Nation oder - wie wir zur deutlicheren Unterscheidung sagen - die Vorstellung des Demos steht in der Tat in keinem notwendigen Zusammenhang mit der Vorstellung des Ethnos, wenn sich auch beide im konkreten Fall vielfach und auf sehr verschiedenartige Weise ineinander verschlingen. Die Verwirklichung des demokratischen Prinzips setzt zwar das Vorhandensein eines Demos als des legitimen Trägers despolitischen Willens voraus, verlangt aber durchaus nicht dessen ethnische Homogenität. Welche Stände zur Nation zu rechnen seien, mag Gegenstand heftiger Machtkämpfe und ideologischer Kontroversen sein; solange jedoch die Nation nicht über das Staatsgebiet

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hinausgreift, besteht kein Bedürfnis, nach Gesichtspunkten zu forschen, wonach mehrere Nationen voneinander unterschieden werden können. Die Notwendigkeit, grundsätzliche Überlegungen darüber anzustellen, wer zur einen oder anderen Nation gehört, ergibt sich erst, wenn etwa im Namen des demokratischen Selbstbestimmungsrechts die Forderung nach Angliederung einer Gebietsbevölkerung an einen anderen Staat oder nach deren staatlicher Unabhängigkeit erhoben wird. Die Gründe für die Veränderung von Staatsgrenzen können sehr verschiedenartige sein; für die Begründung aber hat der Nationalismus Grundsätze entwickelt, die nicht aus dem demokratischen Prinzip, sondern aus dem Nationalitätsprinzip folgen. Wir haben bereits oben angedeutet, daß bei dessen Anwendung die Neigung besteht, die Nation, deren innere Einheit postuliert wird, mit dem Ethnos zu identifizieren. Die Sache ist jedoch weit komplizierter. Der politisch-gesellschaftliche Gestaltungswille des Nationalismus richtet sich nicht nur auf Grenzberichtigungen und staatliche Neubildungen. Er kann sich auch auf regionale Sonderrechte bzw. die Sonderbehandlung bestimmter Bevölkerungssegmente innerhalb eines Staates oder auf die Anerkennung der inneren Verbundenheit einer in mehreren Staaten lebenden Bevölkerung und deren Recht auf ungehinderten Verkehr bzw. gegenseitige Hilfe beziehen. Auf der anderen Seite dienen nationale Argumente vielfach dazu, ein Staatsvolk zu größerer Solidarität, Opferbereitschaft und Vaterlandsliebe anzuspornen oder auch Angriffe auf die Integrität eines Staates und den status qua, die im Namen des Nationalitätsprinzips erhoben werden, auf gleicher Ebene abzuwehren. Ebenso verschiedenartig wie die Ziele sind die Versuche, sie zu rechtfertigen. Je nach der konkreten Situation, in der Interessenkonflikte dieser Art auftreten, ist jede der beteiligten Parteien bestrebt, die für sie günstigste Auffassung vom Wesen der Nation zum allgemeingültigen Maßstab der moralischen bzw. rechtlichen Beurteilung zu erheben. Während deutsche Nationalisten die Elsässer wegen ihrer Herkunft und Sprache als Deutsche bezeichnen, führen französische Nationalisten deren oft bekundeten Willen ins Feld, der "Grande Nation" anzugehören; viele Polen reklamieren für ihre Republik das Gebiet der größten Ausdehnung eines Fürstentums, das hier verhältnismäßig kurze Zeit, und sogar unter einem anderen Namen bestanden hat; Kroaten berufen sich auf ihre Religion, die sie von den Serben trennt; italienische Faschisten erklären die Südtiroler zu eingedeutschten Romanen; Hitler betrachtete deutsche Juden wegen ihrer Rasse und Abstammung als volksfremd; Amerikaner schließen Neger von den demokratischen Rechten eines Mitglieds der Nation aus. Auch ohne besondere historische oder zeitgeschichtliche Kenntnisse wäre jeder imstande, beliebig viele andere Beispiele dafür zu finden, welche widersprechenden Denkinhalte mit

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"Nation" und "Volk" verbunden worden sind. Sie sind zumeist das Ergebnis von ideologischen Manipulationen affektiv besetzter Wortsymbole, die bewußt oder unbewußt vorgenommen werden, um bestehende Verhältnisse oder deren Veränderung zu rechtfertigen. N2 E. Voegelin 10 hat darauf hingewiesen, daß sich nur grundlegende Erlebnisse der Menschen zur Entwicklung derartiger Symbole eignen. Zu solchen Erlebnissen gehört zweifelsohne nicht zuletzt das Erlebnis des Ethnos. Die meisten in die Bedeutungsreihe N 2 fallenden Begriffsvarianten haben tatsächlich ihren Realbezug in der Grundvorstellung des Volkes im Sinne von V 2 • Dies liegt um so näher, als sich sowohl die politische Idee der Nation als auch der Realbegriff des Volkes auf gesamtgesellschaftliche Gestaltungsformen beziehen. Jedesmal, wenn nun in strittigen Fällen eine Entscheidung über die Zugehörigkeit einer Bevölkerung zu dieser oder jener Nation zu treffen ist, ergibt sich die Notwendigkeit, intersubjektiv feststellbare Eigenschaften anzugeben, wodurch ganz allgemein Völkervoneinander unterschieden werden können. So haben sich nicht nur Gelehrte, sondern in erster Linie Juristen, Staatsmänner und politische Schriftsteller immer wieder um ,,operationale" Definitionen des Ethnos bemüht, ohne freilich eine Einigung erzielen zu können. Das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, daß die begriffliche Erfassung von Sachverhalten der gesellschaftlichen Wirklichkeit von zwei Seiten her bedroht wird. Einmal besteht immer die Möglichkeit theoretischer Irrtümer bei der Analyse von Erfahrungsgegenständen. Außerdem liegt die Gefahr nahe der unbewußten Wahrnehmungsverzerrung, der Verwechslung von Ideal und Wirklichkeit, der Vermischung von Seins- und Sollensvorstellungen, des Einfl.ießens von Interessen, Leidenschaften und anderen irrationalen Motiven, wenn immer die Absicht nicht primär auf Erkenntniswissen über einen bestimmten Tatsachenbereich, sondern auf die Verwirklichung politischer Programme gerichtet ist. Dazu kommt noch ein anderes Moment. Bei der Gestaltung der politischen Wirklichkeit, namentlich bei der rechtlichen Erfassung einschlägiger Tatbestände, aber auch bei dem Bestreben, andere von der allgemeinen Verbindlichkeit des eigenen Standpunktes zu überzeugen, besteht natürlich auch ein praktisches Bedürfnis nach abstrakten Begriffen und einer annäherenden Genauigkeit ihrer Inhalte, ohne die ja Verständigung und öffentliche Meinungsbildung nicht erfolgen könnten. Freilich ist es für ihre propagandistische Wirksamkeit auch wieder ein Vorteil, wenn Vorstellungen dieser Art bis zu einem gewissen Grade 10

The Growth of the Race Idea; in: Review of Politics 2 (1940), S. 283-286.

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vage und mehrdeutig sind. Indem es jedem überlassen bleibt, sie auf seine Weise zu interpretieren, fällt es leichter, weite Kreise mit faktisch divergierenden Interessen und gegenteiligen Wünschen auf das gemeinsame Symbol zu verpflichten und zu gemeinsamer Aktion zu verbinden. Schließlich verlangt die Dynamik des politischen Kampfes eine ständige Anpassung von Denkkategorien an immer neue und unvorhersehbare Konstellationen. Dies wird zweifellos erleichtert, wenn das Denken nicht von vornherein in starre Formen gepreßt und in enge Bahnen gelenkt wird. Die Spielarten und Nuancierungen des Nationsbegriffes der Reihe N 2 , die sich aus ideologischer Verfärbung und "Operationalisierung" ergeben, sind ebenso mannigfaltig wie die konkreten Situationen und Zielvorstellungen, denen sie ihre Entstehung verdanken. Eine einigermaßen erschöpfende Aufzählung und kritische Würdigung der so gewonnenen Begriffe würde nichts weniger voraussetzen als eine Typologie einerseits der politischen Doktrinen, deren Ausdruck sie sind, andererseits der historischen Situationen, die Menschen veranlaßt haben, nach Kriterien für die praktische Unterscheidung relevanter Sozialgebilde zu suchen. Damit wäre aber für den unmittelbaren Zweck unserer Untersuchung wenig erreicht, die nicht auf die Analyse von Gedankengebilden und deren soziale Hintergründe abzielt, sondern auf die Erarbeitung soziologisch adäquater Realbegriffe. "Die Funktion einer politischen Idee ist nicht", bemerkt Voegelin, "die Wirklichkeit zu beschreiben, ... [sie] ist im erkenntnistheoretischen Sinne immer falsch 11 ." Dies würde den Schluß nahelegen, daß aus ihr auch wenig über die soziale Wirklichkeit zu erfahren ist, die das Erkenntnisobjekt einer Erfahrungswissenschaft ist. Der Eindruck wird verstärkt, wenn Voegelin hinzufügt: "Jene, die zu einer sozialen Gruppe gehören und an ihre Existenz glauben, werden immer in der Lage sein, auf das Element der Realität hinzuweisen, das in ihren Gruppensymbolen enthalten ist, um zu beweisen, daß ihre Gruppe wirklich eine Einheit bildet. Jene aber, die politisch anderer Meinung sind, werden stets in der Lage sein, die Diskrepanzen zwischen dem Symbol und der Wirklichkeit aufzuzeigen, die das Symbol repräsentiert 12 ." Deshalb können wir uns an dieser Stelle mit wenigen skizzenhaften Anmerkungen begnügen, ein weitergehendes Interesse aber auf die umfangreiche Literatur verweisen, die sich mit dem Problem gründlicher auseinandersetzt13• Der Realität des Ethnos am nächsten kommen Vorstellungen, die sich mit den Ausdrücken "Sprachnation" und "Kulturnation" verbinden14 • Die weiteste Verbreitung hat der Gedanke gefunden, daß die Gemeinsamkeit der Sprache einerseits eine wesentliche Voraussetzung für das Bestehen eines Volkes, andererseits ein untrügliches Kriterium für dessen Identifizierung darstellt. Dabei ergeben sich allerdings Widersprüche und Ungereimtheiten, über die seit einem Jahrhundert eine lebhafte Ebd. Ebd. 13 Vgl. statt anderer W. Sulzbach: Imperialismus und Nationalbewußtsein. Frankfurt/M. 1959. 1' Vgl. Kap. III, 5. 11

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Diskussion im Gange ist. Denkt man lediglich an die Mehrsprachigkeit mancher Nationen, wie der Belgier, Schweizer oder Kanadier, so läßt sich die Schwierigkeit rasch ausräumen, indem man auf die Doppelbedeutung von "Nation" im Sinne von Ethnos und Demos aufmerksam macht. Ernsthaftere Zweifel bestehen darüber, ob auch dort noch von einem Ethnos gesprochen werden kann, wo keine Sprachgemeinschaft vorhanden ist. Wie dem auch immer sei, keinesfalls berechtigt selbst der ausschließliche Gebrauch der gleichen Hoch- und Schriftsprache an und für sich bereits zur Annahme, daß auch eine ethnische Einheit vorhanden ist. Solchen Einwänden gegenüber hat man sich damit beholfen, zusätzliche Voraussetzungen bzw. Merkmale wie Raum, Religion, Geschichte usw. dem Kriterium der gemeinsamen Sprache hinzuzufügen. Zugleich hat man jedoch zugeben müssen, daß bald die eine, bald die andere Qualifikation fortfallen kann. Damit verliert der Begriff der Sprachnation freilich jeden analytischen Wert. Zwar kann man häufig in konkreten Situationen die ethnische Zugehörigkeit benachbarter Bevölkerungen aufgrund auffallender Sprachunterschiede mit einer Sicherheit bestimmen, die für praktische Bedürfnisse ausreicht. Trotzdem läßt sich auf diese Weise kein adäquater wissenschaftlicher Volksbegriff gewinnen. Die Vorstellung von der Sprachnation ist vielmehr in den Bereich politischer Ideologien zu verweisen. Sie dient dann der Legitimierung bestimmter politischer Forderungen, die ebenso wie ihre ideologische Begründung recht verschiedenartig sein können. Vor allem ein Argument hat historische Bedeutung erlangt, das sich in die folgende Kurzformel kleiden läßt: "Sprachgemeinschaft ist ein untrügliches Zeichen für ethnische Verbundenheit. Wenn es gelingt, diese ins Bewußtsein zu heben, so ergibt sich daraus im Sinne des Nationalitätsprinzips das Recht auf Vereinigung im eigenen Nationalstaat". Allerdings ist es weder Juristen noch Politikern jemals gelungen, in konkreten Fällen dem Nationalitätsprinzip durch Anwendung bloß sprachlicher Kriterien Geltung zu verschaffen. Zur Verdeutlichung sei ein schlagendes Beispiel angeführt, das sich allerdings nicht auf staatliche Neugründungen und Gebietsabtretungen bezieht, sondern dem altösterreichischen Nationalitätenrecht entnommen ist15• Damals ging es u. a. um das Recht der Deutschen bzw. Tschechen in Böhmen und Mähren auf ihre eigenen Schulen. Nicht nur sollten die Mitglieder der Ortsschulausschüsse jeweils aus Angehörigen des eigenen Volkes bestehen, sondern tschechische Kinder sollten gehalten sein, tschechische, deutsche Kinder dagegen, deutsche Schulen zu besuchen. Das Problem bestand darin, die Volkszugehörigkeit eindeutig zu bestimmen. Dabei stellte sich heraus, daß dessen 15 Vgl. W. Steinacker: Der Begriff der Volkszugehörigkeit im altösterreichischen Nationalitätenrecht (= Schriften des Instituts für Sozialforschung in den Alpenländern an der Universität Innsbruck). Innsbruck 1932.

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Lösung weit schwieriger war, als man auf den ersten Blick hätte annehmen können. Gesetzgeber, Verwaltungsbehörden und Gerichte gaben sich unendliche Mühe, um Regelungen zu finden, die den Interessen aHer Beteiligten gerecht wurden. Das Kriterium der Sprache lag nahe, wurde aber vorerst zugunsten des sogenannten Bekenntnisprinzips vernachlässigt: Als Deutscher galt, wer die formelle Erklärung abgab, Deutscher zu sein; Tscheche war, wer sich als Tscheche bekannte. Für die Volkszugehörigkeit der Schüler war das Bekenntnis der Eltern maßgebend. Dabei kam es nun vor, daß aus nationalpolitischen Gründen Tschechen als Kandidaten für den deutschen Schulrat auftraten oder daß tschechische Eltern ihre Kinder in die deutsche Schule schickten, um ihnen die Vorteile einer deutschen Bildung zuteil werden zu lassen, die damals höheres Prestige und bessere Lebenschancen vermittelte. Solche Vorfälle erregten jeweils den Widerstand der Gegenpartei. Ein anderer Streitpunkt waren die Wählerlisten, die z. B. in Mähren für Deutsche und Tschechen getrennt aufgelegt wurden. Wiederum trugen sich aus verschiedenen Gründen Deutsche bzw. Tschechen gelegentlich in die "falschen" Listen ein. Man ging daher dazu über, nach "objektiven" Kriterien für die juristische Bestimmung der Volkszugehörigkeit teils in Verbindung mit dem Bekenntnis, teils unabhängig davon zu suchen. Gerade im Fall des Schulbesuchs lag die Anwendung des Sprachprinzips nahe. Auch da ergaben sich Schwierigkeiten. Manche Kinder tschechischer Eltern beherrschten die tschechische Sprache nur mangelhaft (entsprechendes galt für deutsche Kinder); sie konnten also dem Unterricht in der für sie zuständigen Schule gar nicht folgen. Aber auch die Volkszugehörigkeit der Eltern ließ sich aufgrundder Sprache allein nicht immer eindeutig bestimmen. Sollte die Muttersprache, Umgangssprache oder Haussprache maßgebend sein? In Zweifelsfällen stellte die Behörde zusätzliche Erhebungen an etwa über die Partei- oder Vereinstätigkeit, über die Herkunft aus typisch deutschen bzw. tschechischen Gebieten, über Eintragungen, die bei der letzten Volkszählung gemacht worden waren, über die häusliche Erziehung der Kinder u. dgl. Soziologisch bemerkenswert sind vor allem die Versuche, die örtliche communis opinio über die Volkszugehörigkeit der Betreffenden zu ermitteln. Aber auch das führte zu keinen befriedigenden Ergebnissen. Immer wieder kam es vor, daß jemand, der aufgrundeines Merkmals als Deutscher zu gelten hatte, nach einem anderen dem tschechischen Volk zugerechnet werden mußte. Jede Seite bediente sich der Kriterien und Argumente, die jeweils für sie am günstigsten waren. Die Einzelheiten interessieren hier nicht weiter, sondern nur die Tatsache, daß das Sprachprinzip im konkreten Fall durchaus nicht zur objektiven, jeden Widerspruch ausschließenden Feststellung ethnischer Gegebenheiten ausreicht. Dort, wo es um internationale Streitfragen geht, begnügt man sich meist mit massiveren Methoden, um den ethnischen Charakter eines Territoriums festzustellen. Mit besonderer Vorliebe hat man sich auf den vorwiegenden Gebrauch der einen oder anderen Sprache in einem strittigen Gebiet berufen; auch das Argument der kulturellen und historischen Verbundenheit hat eine wichtige Rolle gespielt. Der demokratischen Denkweise entspricht jedoch am meisten die Kundgebung des Volkswillens: das Plebiszit. So wurde die Befragung der Bevölkerung darüber, zu welcher Nation sie sich zugehörig fühle bzw. welchem

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Nationalstaat sie angehören wolle, zu einem Instrument des internationalen Rechts, als es 1918 darum ging, dem von Präsident Wilson verkündeten Prinzip der nationalen Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen. Freilich überkreuzten sich dabei ethnische und demotische Auffassungen, ohne daß man sich dessen immer klar bewußt geworden wäre, zumal der uniforme Gebrauch des affektgeladenen Sprachsymbols "Nation" den ohnehin schwer zu bewältigenden grundsätzlichen Unterschied verschleierte. Während die mittel- und osteuropäischen Vorkämpfer des Nationalitätsprinzips vorwiegend körperschaftliche Rechte ethnischer Einheiten im Auge hatten und sich mehr aus Opportunitätsgründen demokratischer Argumente bedienten, lag dem Präsidenten eines ethnisch so heterogenen Landes wie der Vereinigten Staaten von Amerika der Gedanke einer Entscheidung der Betroffenen über ihre Staatsangehörigkeit naturgemäß näher. Plebiszitären Charakter trägt aber auch die Auffassung vom Wesen der Nation als einer Gefühls- bzw. Willensgemeinschaft, die teils in Ergänzung, teils im Gegensatz zum Prinzip der Sprach- bzw. Kulturgemeinschaft bereits in den politischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts, namentlich im Zusammenhang mit der nationalstaatliehen Einigung Deutschlands oder Italiens im Vordergrund gestanden ist. Nahe verwandt mit den Begriffen der Gefühls- und Willensnation ist die Auffassung, daß die Existenz einer Nation im Nationalbewußtsein ihrer Mitglieder begründet liege. Solchen und ähnlichen Vorstellungen ist der Umstand gemeinsam, daß sie überaus verschiedenartige Auslegungen zulassen, ohne an den Nachweis eines bereits vorhandenen, funktionierenden Sozialsystems gebunden zu sein, was sie für den politischen Kampf und dessen ideologische Rechtfertigung besonders geeignet macht. Oft hat man sich gerade dann auf sie berufen, wenn bestimmten politischen Ambitionen entgegengehalten werden konnte, daß sie den ethnischen Gegebenheiten widersprechen, die aufgrund irgendwelcher auch von einem unbeteiligten Beobachter erkennbaren Anzeichen wie Sprache, Kultur, Religion oder Geschichte festgestellt werden können. Dies zeigt in aller Deutlichkeit die oft zitierte Erklärung E. Renans, Nationalität sei nicht eine Frage der Rasse, der Sprache, der Religion oder geographischer Gegebenheiten, sondern des Gefühls der Zusammengehörigkeit, des Wunsches zusammenzuleben und des Willens, das Erbe gemeinsamer Erinnerungen hochzuhalten: "Eine Nation ist eine große Solidarität, die sich auf das Bewußtsein der Opfer gründet, die man dargebracht hat und noch darzubringen bereit ist ... Die Existenz einer Nation stellt eine täglich wiederholte Volksabstimmung dar 16 ." Dabei ging es ihm nicht zuletzt darum, den deutu Qu'est-ce qu'une nation? Paris 1882, S. 20. Vgl. hierzu und zum folgen6*

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sehen Anspruch auf Elsaß-Lothringen zu entkräften. Schon vor ihm hatte der italienische Jurist P. S. Mancini gelehrt, daß Rasse, Sprache, Gebiet, Sitten, Geschichte, Gesetze und Religionen nicht ausreichten, um eine Nationalität zu konstituieren, sondern daß diese nur wie eine träge Masse seien, der erst das Nationalbewußtsein Leben einhauchen könne: "Nulla e piu certo della esistenza di questo elemento spirituale animatore della Nazionalitd; nulla e piu occulto e mistorioso della sua origine e delle leggi cui ubidisce11 ." Dieser Charakter einer subsidiären Rechtfertigungstheorie ist auch bei G. Rümelin erkennbar, der nach der Untersuchung einer Reihe von Faktoren, die zur Bildung von Völkern beitragen, zum Schluß gelangt, daß ausschlaggebend einzig die subjektive Empfindung sei: "Mein Volk sind diejenigen, die ich als mein Volk ansehe, die ich die Meinen nenne, denen ich mich verbunden weiß durch unlösbare Bande18." In diesen Aussprüchen zeigt sich eine geradezu rührende Hilflosigkeit, den leidenschaftlichen Wunsch nach Vereinigung im souveränen Nationalstaat rational zu begründen und zu rechtfertigen. Es hat wenig Sinn, die vielfältigen Formulierungen, die mehr dem politischen Tageskampf als dem Bemühen um adäquate analytische Begriffe entsprungen sind, logisch zu zergliedern und empirisch zu überprüfen, sie gegenseitig abzuwägen und im einzelnen ihre Unzulänglichkeit nachzuweisen. Denn so oft auch der Gedanke geäußert worden ist, daß die Nation Ausdruck des spontanen Gefühls, des evidenten Bewußtseins, des kollektiven Willens sei, so sehr der Nationsbegriff auch seine politische Zugkraft bewiesen hat, sein theoretischer Aussagewert ist nicht größer als der des aller verschönernden Floskeln entkleideten Satzes: "Eine Nation ist der Inbegriff jener, die sich aus welchen Gründen immer als eine Nation betrachten bzw. von einer politischen Aktionsgruppe als solche betrachtet werden." Denn auf die Gründe kommt es an, und diese sind, wie auch die eifrigsten Verfechter des nationalen Gedankens immer wieder zugeben mußten, für jede Nation und jede Zeit andere. Wie wenig sich mit derartigen Charakterisierungen beweisen läßt, geht schon daraus hervor, daß Fühlen, Wollen oder die innere Wahrnehmung eigener Bewußtseinsvorgänge elementare Bestandteile aller sozialen Prozesse und von sozialen Gebilden jeglicher Art sind. Die Bezugnahme auf sie ist daher nicht ausreichend, um ein spezifiden R. Laun: Der Wandel der Ideen. Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens. Barcelona 1933. 17 Della Nazionalita come fondamento del diritto delle genti. Turin 1851, s. 38 ff. 18 Reden über den Begriff des Volkes, 1872; in: Kanzlerreden. Tübingen 1907.

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sches Sozialgebilde wie die Nation begrifflich zu bestimmen. Ebenso allgemein ist allerdings auch die Kommunikation vermittels verständlicher Sprachsymbole oder die Orientierung des sozialen Verhaltens an kulturellen Werten und Normen. Die meisten Versuche, das Wesen der Nation zu bestimmen, erschöpfen sich bei näherem Zusehen in generellen Aussagen über die Natur gesellschaftlicher Phänomene überhaupt, namentlich dessen, was die moderne Soziologie unter "Gesamtgesellschaften" versteht. Ob "Nation" einfach als ein anderes Wort für Gesellschaft aufzufassen ist oder zur Bezeichnung einer gesamtgesellschaftlichen Sonderform dient bleibt vielfach unklar. Jedenfalls erfahren wir wenig über spezifische Unterschiede, die möglicherweise zwischen einer Nation und anderen Gesellschaftstypen bestehen. Die Unsicherheit der Begriffsbildung äußert sich auch in der Gepflogenheit, Behauptungen über das Vorhandensein einer nationalen Gemeinschaft durch Häufung heterogener Argumente zu untermauern. Selten fehlt dabei der Hinweis auf historische Verbundenheit oder einen "natürlichen" Raum. Beide Gesichtspunkte stehen in keiner unmittelbaren Beziehung zur Vorstellungswelt des Nationalismus, sondern berühren allgemeinste Probleme der Soziologie. Geographische Gegebenheiten mögen den Verkehr erleichtern oder erschweren, und damit die Bildung von realen Systemen sozialer Interaktion, also auch von Völkern beeinflussen. Markante Merkmale der Topographie eignen sich außerdem zur Symbolisierung vieler territorial begrenzter Sozialgebilde, der Kleingemeinde ebenso wie der politisch geeinten Großgesellschaftl". Sinnfälliger sind dagegen die Beziehungen zwischen Gebiet und Staat, betreffen aber nicht nur den Nationalstaat, der Herrschaftsansprüche im Namen eines vielfach imaginären Demos erhebt. Wirtschaftliche Verflechtungen, militärische Bedürfnisse, administrative Rücksichten u. dgl. können für jede beliebige Regierungsform Anlaß dazu sein, "Rechte" auf einen wie immer gekennzeichneten geographischen Raum anzumelden. Auch geschichtliche Beweisführungen, die häufig dem ethnologischen oder plebiszitären Befund hinzugefügt werden, entbehren der spezifischen Verknüpfung mit dem Nationalen. Alle Institutionen und institutionalisierten Sozialsysteme können als Ergebnis ihrer Geschichte aufgeiaßt werden. Im übrigen ist die historische Begründung territorialer Ansprüche viel älter als das Nationalitätsprinzip: auch Feudalherren oder absolute Monarchen haben sich ihrer mit Vorliebe bedient. Das Problem, welche Rolle das physische Milieu (oder räumliche 19 Vgl. H. Treinen: Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Analyse zum Heimatproblem. Münchner Dissertation 1962 (noch nicht veröffentlicht).

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Kontiguität) und zeitliche Kontinuität im Bereich des Sozialen spielen, kann jedenfalls nicht im Rahmen der Volkstheorie, sondern nur der Allgemeinen Soziologie gelöst werden20 • Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, läßt sich zusammenfassend sagen, daß die in der Reihe N 2 behandelten Bedeutungsinhalte zwar als politische Ideen ihre geschichtliche Wirksamkeit erwiesen haben, jedoch als analytische Begriffe zur Beschreibung und Erklärung der sozialen Wirklichkeit schlechterdings ungeeignet sind. Auch der Versuch, durch die Differenzierung von Sprachnation, Kulturnation, Willensnation, Gefühlsnation, wozu dann logischerweise noch etwa historische Nation, Raumnation, Religionsnation u. dgl. kommen würden, zu brauchbaren Ergebnissen zu gelangen, erscheint vor allem deshalb abwegig, weil sich Erfahrungsobjekt und Erkenntnisobjekt ständig verschieben. Nicht nur unterliegt die Verwendung von Wortsymbolen dauernden Wandlungen diese Schwierigkeit wäre nicht unüberwindbar -, sondern es steht eine wechselnde Vielfalt verschiedenartiger Sachverhalte im Blickfeld. Ebenso verändern sich die Erkenntnisabsichten. Bald richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Feststellung von Indizien für das Vorhandensein realer ethnischer Zusammenhänge, bald auf die moralische und rechtliche Begründung des politischen Anspruches, eine bestimmte Bevölkerung in einem souveränen Staat zu vereinigen, bald auf das Bemühen, ihre demotische Vereinheitlichung im Sinne demokratischer Prinzipien zu erreichen. Ein andermal steht die Frage nach konstitutiven Wesenszügen jeder beliebigen Gesellschaft im Vordergrund, dann wieder das Problem, wie ein Ethnos oder auch ein Demos von andersartigen gesamtgesellschaftlichen Sozialsystemen zu unterscheiden wäre. Auf einer ganz anderen Ebene liegen wiederum Überlegungen darüber, welche historischen Umstände zur Entstehung von Völkern und Nationen geführt haben. Eine sehr entscheidende Rolle spielen schließlich praktisch-politische Bemühungen, eine Mehrzahl von Menschen, die tatsächlich nicht in spezifischer Weise miteinander sozial verbunden sind, durch die Verbreitung nationaler Leitbilder dazu zu veranlassen, einander als Ganzheit zu sehen, gemeinsame Wertvorstellungen und Handlungsziele zu verinnerlichen, Solidaritätsgefühle und einen kollektiven Willen zu entwickeln. Außerdem geht es darum, vor allem durch den Hinweis auf politische Gebilde, die im ungefähr gleichen Raum einmal bestanden haben mögen, oder auf andere historische Umstände, die vielfach auf Illusionen und Mythen beruhen, die Umwelt zu überzeugen, daß die in Wirklichkeit erst herzustellende politisch20 Vgl. etwa E. K. Francis: Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens. Bern und München 1957, S.107.

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gesellschaftliche Vereinigung der betreffenden Bevölkerung moralisch gerechtfertigt sei und allgemeine Anerkennung verdiene. Die in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen lassen es angezeigt erscheinen, für die Zwecke der soziologischen Wirklichkeitsanalyse sich auf jene Begriffe zu beschränken, denen ein möglichst eindeutiger Inhalt zugeschrieben werden kann, und auf alle zum Scheitern verurteilten Bemühungen zu verzichten, anderen Vorstellungen nur deswegen einen rationalen Sinn abzugewinnen, weil sie als ideologische Deutungs- und Rechtfertigungsversuche erhebliche historische Bedeutung gewonnen haben oder von namhaften Gelehrten vertreten worden sind. Wenn wir von allen irrationalen Beimengungen und mißglückten Operationalisierungen absehen, dann legt unsere Begriffsanalyse den Schluß nahe, daß nur zwei der untersuchten Wortbezüge diese Bedingungen erfüllen; einerseits die unter V 2 angeführte allgemeinmenschliche Realität des Volkes oder Ethnos, andererseits der historische Typus der modernen Nation, das Demos im Sinne von N 1 als Träger des demokratischen Staates.

3. Nation und Staat In der modernen Industriegesellschaft stellt der Nationalstaat den vorherrschenden Typus der politischen Ordnung dar; auch die Gesellschaftswissenschaften, insbesondere Geschichte und Staatslehre, pflegen ihn als Denkmodell und Norm zu behandeln. Im Idealfall bezeichnen seine begrifflichen Komponenten - Nation und Staat - zwei Aspekte desselben Sachverhaltes: das eine Mal richtet sich die Aufmerksamkeit auf das gesellschaftliche Ganze, in dessen Namen und um dessentwillen Herrschaft ausgeübt wird bzw. ausgeübt werden soll; das andere Mal auf die institutionellen Regelungen sozialen Verhaltens und die Apparatur, wodurch die Herrschaftsordnung innerhalb eben dieser Gesellschaft verwirklicht wird bzw. verwirklicht werden soll. Auch der Nationalstaat ist zunächst einmal politische Idee und Aufgabe. Dann bezieht sich der Begriff auf eine gedachte Herrschaftsordnung, auf den Vorentwurf einer richtigen Ordnung, nach der sich das soziale Handeln aller Mitglieder ausrichten soll. Informationen hierüber lassen sich aus menschlichen Meinungsäußerungen, namentlich aus dem politischen Schrifttum, dann aus Rechtsdokumenten gewinnen, ohne daß es möglich wäre, ohne weiteres daraus zu schließen, inwieweit die Wirklichkeit dem Ideal entspricht. Darüber hinaus handelt es sich jedoch bei dem Begriff des Nationalstaates auch um die soziale Realität der in einer Gesellschaft wirksamen Herrschaftsbeziehungen, die sich aus dem tatsächlichen Verhalten der an der betreffen-

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den Gesellschaft beteiligten Menschen ablesen lassen, und zwar insoweit sie als Verwirklichung der Nationalstaatsidee erscheinen. Die Wirksamkeit einer politischen Idee hängt jedoch davon ab, daß die in ihr enthaltenen Vorstellungen als verbindliche Deutung der Wirklichkeit von jenen übernommen werden, die ein soziales Ganzes - in unserem Fall also eine Nation - bilden sollen. Voraussetzung für die kollektive Annahme einer bestimmten Deutung der gesellschaftlichpolitischen Wirklichkeit als verbindlicher Norm des sozialen Handeins ist aber deren Glaubwürdigkeit. Sie ist dann gegeben, wenn der ideale Vorentwurf einen intersubjektiv erlebbaren und verhältnismäßig leicht ins Bewußtsein zu hebenden Realbezug hat. Der in der nationalen Idee enthaltene Realbezug ist jedoch keineswegs eindeutig, sondern unterliegt je nach Zeit und Ort erheblichen Schwankungen. Gerade aus dieser Variabilität des Realbezuges erklären sich nicht nur die inneren Widersprüche, die in der nationalen Doktrin enthalten sind, sondern auch die folgenreichen Konflikte, die sich immer wieder bei dem Versuch ergeben haben, die Idee vom nationalen Staat in die politische Praxis umzusetzen. Dabei spielt eine entscheidende Rolle die im letzten Abschnitt eingehend behandelte Mehrdeutigkeit der Sprachsymbole und ihre damit verbundene leichte Manipulierbarkeit nicht nur im Rahmen der politischen Agitation, sondern auch der staatsrechtlichen Interpretation gegebener Tatbestände. Je nachdem die Nation als Demos oder Ethnos gedeutet wird, lassen sich ganz verschiedene politische Konsequenzen aus der Maxime herleiten, daß die Schaffung und Erhaltung von Nationalstaaten anzustreben sei. Wir hatten bereits Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß die Gestaltungsabsichten des Nationalismus auf zwei ganz verschiedene Grundideen zurückzuführen sind, die sich freilich im Verlauf der historischen Entwicklung auf vielfältige Weise miteinander verflochten und bis zur Unkenntlichkeit vermischt haben. Einerseits steht das Nationalitätsprinzip im Vordergrund, wonach das Staatsgebiet und der von einem bestimmten Volk erfüllte Raum zur Deckung kommen sollen. Daraus ergibt sich die Forderung, ein Ethnos, das durch politische Grenzen geteilt ist, in einem ihm allein zugehörigen Staat zu vereinigen, oder einem Ethnos, das einer größeren politischen Einheit einverleibt ist, regionale Autonomie bzw. staatliche Selbständigkeit zu gewähren. Wo dies aus irgendwelchen Gründen nicht zu erreichen ist, ergeben sich typische Nationalitäten- und Minderheitenprobleme, über die noch mehr zu sagen sein wird. Andererseits schöpft die nationale Idee aber auch aus dem demokratischen Prinzip, das gar nicht das Verhältnis zwischen Ethnos und Staat, sondern zwischen Herrscher und Herrschaftsunterworfenen, zwischen Staat und Demos betrifft. Zur Klärung dieses wichtigen Unterschiedes müssen wir etwas weiter ausholen.

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Bei unseren Überlegungen sind wir von der Beobachtung ausgegangen, daß im Gesamtgefüge der menschlichen Gesellschaft gewisse, vornehmlich auf Herkunft beruhende Verbände erkennbar sind, die relative Konstanz und Allgemeinheit besitzen. Wir nannten sie "ethnische Gebilde". Derartige Gebilde lassen sich nicht nur analytisch von jenen politischen Herrschaftssystemen unterscheiden, die als "Staaten" bezeichnet werden; auch in der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit beobachten wir eine weitgehende Unabhängigkeit des Ethnos vom Staat. So setzt sich die Bevölkerung vieler Staaten aus verschiedenen Völkern und Volksteilen zusammen, ohne daß sich daraus eine Bedrohung des Staates, seiner Integrität oder seiner Aktionsfreiheit ergeben müßte. Ja, es hat den Anschein, daß die Heterogenität (d. h. Herkunftsverschiedenheit) von Staatsbevölkerungen eher die Regel darstellt. Andererseits kommt es häufig vor, daß ein und dasselbe Volk auf mehrere Staaten aufgeteilt ist, ohne deshalb notwendigerweise seine Identität zu verlieren. Obwohl der reale Verband des Ethnos an und für sich nichts mit dem staatlichen Herrschaftsverband zu tun hat, bestehen jedoch im konkreten Fall Querverbindungen oder Wechselwirkungen zwischen diesen beiden, wie übrigens zwischen allen Arten von Gesellschaftsstrukturen. Politische Systeme können sich z. B. eng an ethnische Gegebenheiten anlehnen, so daß jene aus diesen hervorzuwachsen scheinen. Aus Gründen der Staatsraison kann die ethnische Homogenität der Herrschaftsunterworfenen als wünschenswert gelten. Auch kann ein gegebener ethnischer Zusammenhang zur Legitimierung von politischen Ansprüchen auf gewisse Gebiete herangezogen werden. Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, daß es ohne weiteres möglich ist, ethnische Gebilde ohne jede Bezugnahme auf politische Verwaltungseinheiten oder staatliche Jurisdiktionen zu identifizieren und erfahrungswissenschaftlich zu untersuchen. Von der bloßen Feststellung, daß ethnische Zusammengehörigkeitsgefühle allgemein menschliche Regungen sind, ist dagegen die politische Relevanz zu unterscheiden, die dieser Tatsache von den als "Nationalismus" bezeichneten politischen Ideen und sozialen Bewegungen beigemessen wird. Während ethnische Strukturzusammenhänge davon unberührt bleiben, ob sich die Beteiligten dessen voll bewußt sind bzw. die Zusammenhänge soziologisch adäquat begreifen, handelt es sich nunmehr um Gedankengebilde, die in einer bestimmten historischen Periode auftauchen und zur Umwandlung der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit in der Geschichte beigetragen haben. Die im Nationalitätsprinzip implizierte Norm, daß das Volk ein Wert sei und zu gewissen Verhaltensweisen verpflichte, ist durchaus keine selbstverständliche Konsequenz seines bloßen Vorhandenseins.

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Ganz im Gegenteil finden wir, daß zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen z. B. Treue zum Lehensherrn oder Landesfürsten, gemeinsame Religion oder Klasseninteressen weit entscheidendere Kriterien für die soziale Verbundenheit abgeben. F. Meinecke 1 und andere haben eine unpolitische Volkslehre, wie sie namentlich von Herder und den Romantikern vertreten worden ist, von einer auf staatspolitische Gestaltung gerichteten nationalen Doktrin unterschieden. Dagegen lassen sich mehrere Einwände erheben. Selbst wenn die liebevolle Hinwendung zum Volkstum und die hohe Bewertung der Volkskultur, die im Begriff der Kulturnation zum Ausdruck kommt, nicht unmittelbar auf die Vereinigung, Umbildung oder Neubildung von Staaten im Sinne des Nationalitätsprinzips hindrängen, so können auch sie nicht lange unpolitisch bleiben, sobald sich die Funktionen des Staates auf immer weitere Lebenskreise auszudehnen beginnen. Politische Forderungen, die sich auf Schutz und Pflege von Nationalsprache und Nationalliteratur richten, ergeben sich z. B. von selbst aus dem staatlichen Schulmonopol und der staatlichen Kulturpolitik. So gesehen vereinigen sich die verschiedenen Ströme der nationalen Bewegung, die bald als nationale Erweckung, bald als Volkserneuerung, bald als Risorgimento usw. in Erscheinung getreten sind, dann doch wieder in dem Streben, Wert und Bedeutung des Ethnos ins allgemeine Bewußtsein zu heben, um die dabei Angesprochenen zu bestimmten politischen Handlungen zu veranlassen, die im konkreten Einzelfall von der bloßen Verteidigung einer staatsfreien Sphäre für die ungehinderte Entfaltung des Volkes bis zum entschlossenen Einsatz staatlicher Machtmittel im Dienste volkspolitischer Ziele reichen können. So paradox es erscheinen mag, so steht doch die Nation, auf deren Realisierung der Nationalismus gerichtet ist, ebensowenig in einem notwendigen und ursprünglichen Zusammenhang mit dem Ethnos wie das Ethnos mit dem Staat. Ausgangspunkt der nationalen Idee ist vielmehr der Staat bzw. das Verhältnis zwischen staatlichem Machtapparat und der Gesamtheit der seiner Herrschaft Unterworfenen: dem Demos. Die Wirklichkeit der Nation ist dann, wie wir sagten, das gesellschaftliche Substrat des Staates, das zwar ein bestimmtes Ethnos sein kann, nicht aber sein muß. Deshalb steht der Begriff der Nation (im Sinne von Demos) dem des Ethnos zunächst weniger nahe als dem der Gesellschaft, wie er etwa von Spencer verstanden worden ist und sich in der soziologischen Literatur eingebürgert hat. Der Ausdruck "amerikanische Gesellschaft" ist z. B. gleichbedeutend mit dem Ausdruck "ame-

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1 Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. München und Berlin 1908, 1928.

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rikanische Nation", während es im Deutschen schwerfällt, von einem "amerikanischen Volk" zu sprechen. Die eigentliche Absicht der nationalen Bewegung richtet sich vor allem auf das richtige Verhältnis von Regierung und Regierten und auf die Legitimierung der staatlichen Herrschaftsordnung durch die Zustimmung oder den Gemeinwillen der ihm Unterworfenen. Damit gerät der Nationalismus in unmittelbare Verbindung zu jener anderen politisch-geistigen Bewegung der Neuzeit, die wir als "Demokratismus" bezeichnen können. Diesen Zusammenhängen ist insbesondere Heinz 0. Ziegler, der früh verstorbene Verfasser eines Buches über Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie 2 nachgegangen, dessen Bedeutung bisher zu wenig beachtet worden ist. Er stellt sich die Aufgabe, die Nation "als eine, ja als die Legitimitätsidee der gegenwärtigen Staatlichkeit"3 zu untersuchen. Wie kommt es, so fragt er eingangs, daß unter den vielen möglichen Strukturprinzipien gerade die nationale Gruppierungsform eine so überragende Verbindlichkeit erhalten sollte, daß sie als Orientierungsmaxime für alles politische Handeln entscheidend wurde? Indem er sich auf die Analyse der nationalen Ideologie, d. h. der sozial wirksamen Vorstellung vom Primat der Verbindlichkeit des Nationalen über alle konkurrierenden Verbindlichkeiten beschränkt, bleibt er allerdings im Grunde genommen eine Antwort schuldig. Denn seinBemühen ist vor allem darauf gerichtet, die nationale Idee aus deren geistigen Quellen abzuleiten. Darüber hinaus wird jene staatlich-gesellschaftliche Wirklichkeit nur am Rande behandelt, die nicht nur die praktische Realisierung national-staatlicher Zielvorstellungen, sondern geradezu erst deren Konzipierung möglich gemacht hat. Zwar merkt Ziegler an, der Zusammenschluß zur politischen Geschehenseinheit als zentralistischer, dynastischer Staat habe überall die Voraussetzung geschaffen für das politische Geltendwerden der modernen Nation. Doch geht er nicht näher auf die Frage ein, wie der Etatismus durch verwaltungsmäßige Vereinheitlichung einerseits, durch Nivellierung, Assimilierung, Einschmelzung heterogener Bevölkerungsteile zu einer gleichförmigen Bürgerschaft, also zu einem Demos, andererseits die homogene Einheit der Nation "vorgebildet" hat. Gerade dieses Problem wäre aber für die vorliegenden Zwecke von unmittelbarerem Interesse als die wissenssoziologische Analyse. Das sozial wirksame Leitbild des Nationalstaates ergibt sich nach Ziegler sowohl historisch als auch logisch aus dem Gegensatz zur Staatsauffassung seines unmittelbaren Vorgängers, des absoluten Fürstenstaates 4• Dem aufgeklärten Absolutismus gilt der Staat im wesentlichen als Regierung und persönliche 2

3 4

Tübingen 1931. a. a. 0., S. 14. a. a. 0., S. 85 f.

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Leistung der Regierenden, nämlich des Fürsten und seiner Berater, Gehilfen, Diener, ausübenden Organe, kurz, seines "Hofstaates". Die Handlungen des Staates sind dann legitim, wenn sie einer allgemeinen rationalen Ordnung entsprechen. Der Staat steht somit der Gesamtheit der Herrschaftsunterworfenen, den Untertanen oder Staatsbürgern (wohl gelegentlich auch "Volk" genannt) abgesondert gegenüber. Entscheidend ist dabei, daß der Herrschaftsverband sowohl von außen legitimiert wird als auch seine Funktion von außen her versieht. Zwischen Regierten und Regierenden besteht nicht nur eine tatsächliche, sondern eine wesensmäßige Kluft. Es ist an sich gleichgültig, ob die Bewohner jener Gebiete, die aus dynastischen Interessen und aus Rücksichten der Staatsraison politisch vereinigt worden sind und deren Zusammensetzung aus den gleichen Gründen jederzeit verändert werden kann, eine reale soziale Ganzheit, sei es ein Ethnos, sei es ein Demos, bilden. Die Entstehungsweise und Großräumigkeit dieser Herrschaftsgebilde macht sogar die ethnische Heterogenität zur Regel. Ja noch mehr. Bei der Zufälligkeit des Zustandekommens solcher Staaten und den häufigen Veränderungen ihres geographischen Umfangs kann es nicht ausbleiben, daß die der Feudalordnung eigentümliche Eigenständigkeit einer Vielfalt von ständischen, sippenhaften, territorialen und eben auch ethnischen Verbänden in einem bald größeren, bald geringen Ausmaß erhalten bleibt. Dem absoluten Monarchen ist es deshalb geläufig, von "meinen Völkern" in der Mehrzahl zu sprechen. Das Leitbild des Nationalstaates ergibt sich aus der politischen Auseinandersetzung mit dem absoluten Staat, seiner Ideologie ebenso wie seiner Wirklichkeit. Der Kampf gegen den Despotismus wird im Namen der Freiheit geführt5• Dabei steht hinter den politischen Kampfparolen neben dem Machtstreben des Bürgertums auch das sittliche Ringen um eine politisch-gesellschaftliche Ordnung, in der der äußere Zwang des Herrschaftsapparates zu einem inneren moralischen Zwang werden soll. Durch Teilnahme und Zustimmung der Beherrschten soll Herrschaft erträglich werden. Hierfür bieten sich zwei Möglichkeiten an: einmal die Bindung des bestehenden absoluten Staates durch Ausbalancierung der Gewalten. Der liberale Konstitutionalismus setzt die Anerkennung einer vor jeder Staatsgewalt geltenden Freiheitssphäre des Individuums voraus, wie sie in der Deklaration allgemeiner unverlierbarer Menschenrechte enthalten ist. Die Nation ist dann der Inbegriff jener, auf die eine die Grundrechte des Staatsbürgers wahrende Staatsverfassung bezogen ist. Daraus folgt mit aller Deutlichkeit, daß hier mit Nation kein Ethnos, sondern nur ein Demos gemeint sein kann. Den Fürsten und der Exekutive werden Interessenvertreter der Herrschaftsunterworfenen und eine unabhängige Gerichtsbarkeit zur Seite gestellt. Die Staatsorgane gelten als Beauftragte der Nation, in deren Namen sie jeweils nur einen verfassungsmäßig umschriebenen Teil der gesamten Herrschaftsgewalt ausüben. Die eigentlich "nationale" Begründung des demokratischen Staates führt jedoch über die liberale Lehre von den Grundrechten und der Gewaltenteilung weit hinaus, nach der die Nation als Summe der ihm unterworfenen Individuen erscheint. Das Schwergewicht liegt nunmehr auf dem Prinzip der Volkssouveränität 6 • An die Stelle der Person des Fürsten tritt als Souverän eine Kollektivität. Die Nation wird als der Träger des politischen Geschehens begriffen, dessen Gemeinwillen den Herrschaftsverband, seine Apparatur und s a. a. 0., S. 90 ff. 6 a. a. 0., S. 96.

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seine Aktionen legitimiert. Der Staat wird zum Funktionär, zum Organ, ja zur bloßen Manifestation der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit, auf die das Wort "Nation" jetzt bezogen wird. Die Nation erscheint als das gesellschaftliche Substrat des Staates. Sie ist praktisch identisch mit der Gesellschaft. Die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit gliedert sich nach Nationen, deren kollektiver Wille je und je ihr eigenes absolutes Gesetz ist. Der Begriff der Freiheit nimmt eine neue Färbung an. Es geht nicht mehr um die staatsbürgerliche Freiheit der einzelnen, sondern um die Selbstbestimmung der Nationen sowohl hinsichtlich der Gestaltung ihrer innerpolitischen Geschicke als auch im Verhältnis zu anderen Nationen und Staaten. Noch bewegen wir uns im Bereich der politischen Idee. Als bloßes Gedankengebilde wird sie nicht unmittelbar davon berührt, wenn die Willensgemeinschaft der Staatsbürger, die die Nation begründen soll, eine Fiktion, bestenfalls eine Zukunftsaufgabe bleibt. Sobald aber der Versuch gemacht wird, die nationale Idee in die politische Praxis umzusetzen, also politisches Handeln an nationalen Leitbildern zu orientieren, tritt notwendigerweise ihr Realbezug in den Vordergrund. Die Selbstkonstituierung der souveränen Nation, der demokratische Prozeß und die für ihn typische Technik der Willensfindung setzen die Existenz echter sozialer Zusammenhänge voraus, wenn sie auch ihrerseits wieder zu deren Stärkung und Formung beitragen. Die Bildung und Kundgabe einer volonte generale - eines "sozialen Konsensus", einer "Öffentlichen Meinung"- wird erst möglich im Rahmen eines gesellschaftlichen Ganzen; zumindest muß der Kern eines den staatlichen Rahmen erfüllenden Demos vorhanden sein. Historisch gesehen ist es der absolute Fürstenstaat, der diese Vorbedingung für die Errichtung und das Funktionieren des Nationalstaates geschaffen hat. Nicht immanente soziale Kräfte haben zur Vereinigung der Staatsbevölkerung geführt, sondern äußere Umstände und ein äußerer Gestaltungswille. Nicht weil das "Volk" selbst dahin drängte, sondern aus Gründen der Staatsraison haben die Herrscher von außen her die innere Vereinheitlichung angebahnt. Nur weil die Nation vom absoluten Staat bereits voTgeformt ist, besitzt die Idee der Volkssouveränität, wonach die Person des souveränen Fürsten durch die kollektive Persönlichkeit der souveränen Nation ersetzt werden soll, jenen realistischen Inhalt und Realbezug, der ihr Glaubwürdigkeit und politische Wirksamkeit verleihen konnte. Gewiß baut nicht jeder Nationalstaat auf den Grundlagen des absoluten Fürstenstaates auf, um dessen Werk der inneren Vereinigung fortzusetzen. Wohl aber ist es immer zuerst eine äußere Macht gewesen - ein "Zwingherr", wie Fichte sagte -, der die Grenzen der Nation festlegt und ihr den Charakter einer realen sozialen Einheit verleiht. Das gilt nicht zuletzt von den sogenannten jungen Nationen, deren Identität darauf beruht, daß ein bestimmtes Gebiet mit seiner Bevöl-

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kerung von einer Kolonialmacht zu einer Verwaltungseinheit zusammengefaßt worden ist. Wenn sich auch die nationale Idee im Kampf gegen den Despoten entzündet, so ist es doch der Despot selbst, der die gesellschaftlichen Voraussetzungen für deren Verwirklichung schafft. Dabei bleibt es schließlich gleichgültig, ob der Despot im Lande residiert oder von jenseits der Grenzen und Meere eine Fremdherrschaft ausübt. Die Nation, die das Ergebnis staatlicher Eingriffe und Einrichtungen ist, entbehrt in der Regel der ethnischen Homogenität. Sie bedarf ihrer auch gar nicht; denn sie ist primär nicht auf ein Ethnos, sondern auf einen Staat bezogen. Das Demos ist zwar ein reales soziales Ganzes, mindestens eine im Werden begriffene Einheit, aber die ethnische Zusammensetzung des Demos ist an sich unwesentlich. Es ist die bereits bis zu einem gewissen Grade demotisch vereinheitlichte Gesamtheit der Beherrschten, an deren Gemeinwille der Appell gerichtet ist, sich gegen den Zwang des äußeren Herrschers aufzulehnen, um die Herrschaft selbst zu übernehmen.

Diese innere Vereinheitlichung und Umwandlung der Staatsbevölkerung in ein Demos ist weder Ausfluß der absolutistischen noch der nationaldemokratischen Ideologie, sondern liegt vor allem in der Struktur des modernen Staates selbst begründet. Zu dessen Wesen gehört nämlich die auf größtmögliche Zweckmäßigkeit und Leistungsfähigkeit abgestellte Koordinierung komplizierter sozialer Vorgänge in einer arbeitsteiligen Gesellschaft und die rationale Verwaltung beliebig großer Gebiete durch einen Stab von spezialisierten, fachlich ausgebildeten Berufsbeamten. Die Bürokratie ist -wie Max Weber lehrte- das technisch höchst entwickelte Machtmittel in der Hand dessen, der über sie verfügt. Durch sie wird jene Steigerung der Wirksamkeit, der geographischen Reichweite und der immer weitere Lebensbereiche durchdringenden Intensität der Herrschaft erreicht, die den modernen Staat auszeichnet. Um zur vollen Wirksamkeit zu gelangen, muß sich die bürokratische Verwaltung über die im Bereich der staatlichen Hoheitsgewalt vorhandenen sozialen Gliederungen hinwegsetzen, um mit jedem einzelnen der ihr Unterworfenen in unmittelbare Verbindung treten zu können. Die Rationalität des staatlichen Anstaltsbetriebes und das Funktionieren der mit ihm verbundenen kapitalistischen Geldwirtschaft verlangen eine gewisse Mobilität und Gleichförmigkeit, vor allem aber die freie Verfügbarkeit und Austauschbarkeit der Individuen im Interesse kollektiver Zwecke. Damit verlieren aber die alten gesellschaftlichen Gliederungen, wie Familie und Sippe, Gemeinde und Religion, Grundherrschaft und Stadt, berufsständische und ethnische Verbände, ihre funktionale Bedeutung für die politisch-gesellschaftliche Ordnung; ja, sie werden als Störungsfaktoren empfunden, deren Ausschaltung als eine

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vordringliche Aufgabe der Staatskunst erscheint. Baute sich das vorbürokratische Herrschaftssystem hierarchisch von unten nach oben auf, so daß der einzelne erst durch Vermittlung der pouvoirs intermediaires mit dem Ganzen in Beziehung stand, so schafft sich der staatliche Verwaltungsstab unter deren Umgehung einen eigenen zentralistischen Apparat und Instanzenzug, der von der Regierungsspitze bis zum letzten Untertanen hinunterreicht. An die Stelle zahlreicher mit allerlei Privilegien und Hoheitsrechten ausgestatteten territorialen und personalen Verbände tritt eine den Bedürfnissen der administrativen Technik augepaßte Neueinteilung in Departements, Kreise, Wehrbezirke und Verwaltungseinheiten anderer Art. Indem der Verwaltungsstaat dazu neigt, zugleich mit den ständischen Privilegien auch soziale Barrieren zu beseitigen und die Eigenständigkeit lokaler, berufsständischer, familiärer, aber eben auch ethnischer Untergliederungen zu beseitigen, die die Mobilität und arbeitsteilige Kooperation aller verfügbaren Kräfte behindern und die Aufgaben des Staates erschweren, bereitet er die demotische Nivellierung der gesamten Staatsbevölkerung vor. Während er im Inneren danach strebt, eine gut funktionierende Einheitsgesellschaft zu schaffen, sucht er sich gleichzeitig nach außen hin durch Kontrolle des Austausches von Ideen, Gütern und Personen eindeutig abzugrenzen. Eines der wirksamsten Mittel, um Geschlossenheit nach außen, Offenheit nach innen zu fördern, ist aber die Verbreitung einer gemeinsamen Schriftsprache. Hochsprachen verdanken ganz allgemein ihre Entstehung nicht zuletzt den Bedürfnissen der kirchlichen und staatlichen Verwaltung. Die von G. C. Homans 1 festgestellte funktionale Interdependenz der Häufigkeit der Interaktionen zwischen den Mitgliedern eines Sozialgebildes und der Intensität der füreinander gehegten Gefühle läßt sich unter Überspringung mehrerer Denkoperationen dahingehend erweitern: Gemeinsamkeit der Sprache erleichtert Interaktionen; vermehrte Interaktionen erhöhen die Gefühle der Verbundenheit; gemeinsame Sprache fördert die Bildung solidarischer Kollektivitäten.

4. Volk und Staat Wenn wir uns das Denkmodell des Nationalstaates noch einmal vergegenwärtigen, so stellt sich das Verhältnis von Volk und Staat in einfachster Form wie folgt dar: Der Staat erscheint als die politische Ausdrucksform einer räumlich abgegrenzten, in sich geschlossenen und nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial - autarken Gesamtgesellschaft Gesellschaft, Staatsbevölkerung und Volk sind umfangsgleich. 7

The Human Group. New York 1950, S. 110 ff.

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Das dem Volk eigene Normensystem findet im Recht seinen Niederschlag und wird vom staatlichen Machtapparat sanktioniert. Maßnahmen des Staates zielen nicht nur auf die Aufrechterhaltung seiner Herrschaft, sondern vor allem auf die Erhaltung und Stärkung des Volkes ab'. Nun haben aber unsere bisherigen Untersuchungen gezeigt, daß die vom Nationalismus vorgestellte politische Idee sehr verschiedene Deutungsmöglichkeiten des Volksbegriffes zuläßt und daß die von ihm geschaffene Staatswirklichkeit sehr viel komplizierter ist, als es nach dem Modell den Anschein hat. Um uns das tatsächliche Verhältnis von Ethnos und Nationalstaat klarzumachen, wollen wir uns die Situation ethnischer Gebilde im Rahmen von Herrschaftssystemen vergegenwärtigen, die vom Typus des modernen Staates wesentlich abweichen. Dabei ergibt sich zunächst die Notwendigkeit, uns von der Vorstellung zu befreien, als ob jede politische Ordnung als Staat oder doch in Analogie zum Staat zu begreifen ist. H. Heller2 hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, (1) daß es politische Beziehungen und politische Handlungssysteme gegeben habe, bevor es Staaten gab; und (2) daß die durch das Gebiet bestimmte Funktion des Staates erst auf einer durch hochentwickelte Arbeitsteilung gekennzeichneten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung notwendiggeworden sei. Eskann nicht unsere Aufgabe sein, alle Varianten nichtstaatlicher oder vorstaatlicher politischer Herrschaftsverhände unter dem Aspekt unseres unmittelbaren Problems: der Situation von ethnischen Gebilden zu berücksichtigen. Für die beabsichtigte gedankliche Konstruktion eines Idealtypus genügt der Vergleich zwischen dem modernen Staat und jener politischen Ordnung, aus der er im Verlauf der neueren europäisch-abendländischen Geschichte hervorgegangen ist. Der moderne Staat ist charakterisiert durch Monopolisierung der Macht, insbesondere der physischen Zwangsmittel, und durch den Anspruch, die innerhalb der durch seine Grenzen umschriebenen Gesellschaft auftretenden Konflikte in letzter Instanz zu entscheiden. Dagegen war das mittelalterliche Herrschaftssystem pluralistisch. Die heutigen Funktionen des Staates waren auf viele Träger verteilt. Der Fürst übte nur in geringem Ausmaß unmittel1 In diesem Sinne formulierte etwa H. Ahrens vor über einem Jahrhundert das Prinzip des Volksstaates, wonach sich alle durch Gemeinsamkeit der Sprache verwandten Stämme zu einem organischen, sozialen und politischen Volksganzen abschließen. (Vgl. Organische Staatslehre. Wien 1860, S. 62. Zitiert nach L. Gumptowicz: Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Österreich-Ungarn. Innsbruck 1879, S. 196.) -Die philosophische Untermauerung des romantischen Volksbegriffs, der hier zum Ausdruck kommt, geht vor allem auf Fichte zurück, der auch die Vorstellung vom konstanten und notwendigen ZusammenhangvonSprache undVolksturn vertreten und daraus weitgehende politische Folgerungen gezogen hat. Diesen ideengeschichtlichen Wurzeln hat neuerdings E. Kedouri eine lesenswerte Schrift gewidmet: Nationalism. London 1960, 21961. 2 Staatslehre. Leiden 1934.

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bare Herrschaft aus; selbst für die Ausübung der Gerichtsbarkeit war er auf die Dienste verselbständigter Lokalgewalten angewiesen. Heller spricht von einem Agglomerat von zahlreichen größeren, kleineren und kleinsten Herrschaftseinheiten, die untereinander meist nur durch das sehr lockere Lehensband vertraglich zusammenhingen. "Indem im Ständestaat die tatsächlichen Machthaber zu Korporationen zusammengeiaßt wurden, ergibt sich eine Dualisierung zwischen Herrscher und Ständen, die über zwei voneinander unabhängige Machtorganisationen mit eigenem Apparat verfügten3." Erst mit der Entstehung des modernen Staates entwickeln sich die bisher verschwommenen, lose und intermittierend zusammenhängenden Polyarchien zu kontinuierlichen, stärker organisierten Machteinheiten mit einem stehenden Heer, das den unmittelbaren Anstoß zur bürokratischen Durchbildung der Finanzverwaltung gab, mit einer einheitlichen Beamtenhierarchie und mit einer einheitlichen Rechtsordnung. Die sachlichen Herrschafts- und Verwaltungsmittel werden aus Privatbesitz in öffentliches Eigentum überführt. Indem der Staat bestrebt ist, über den Verwaltungsapparat mit jedem einzelnen seiner Untertanen ohne Vermittlung von pouvoirs intermediaires in direkte Beziehung zu treten, ergibt sich eine universale, zentrale und planmäßig regulierte Vereinheitlichung des staatlich relevanten Handelns. Erst aus diesem Verhältnis zwischen der Gesamtheit der Untertanen, für die der absolute Staat die für alle in gleicher Weise geltenden Verhaltensregeln erläßt, und dem souveränen Monarchen, der selbst an kein Gesetz gebunden ist, kann der Gedanke einer souveränen Nation entstehen, die in freier kollektiver Entscheidung sich selbst (d. h. allen ihren einzelnen Mitgliedern und sozialen Untergliederungen) die für die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung notwendigen Gesetze auferlegt, während deren Durchsetzung bzw. Durchführung die Funktion des bürokratischen Staatsapparates bleibt, den der Nationalstaat vom absoluten Fürstenstaat praktisch unverändert übernimmt. Von seinem Vorgänger übernimmt der Nationalstaat außerdem den Begriff der unverletzlichen Gebietshoheit. Daran änderte auch die spätere Einführung des Begriffs der Personalhoheit im Grunde genommen wenig. Denn, wie R. Laun 4 bemerkt, entspricht es einer lange vorherrschenden und auch heute keineswegs überwundenen Staatsidee, die Bevölkerung als "Pertinenz des Staatsgebietes" zu betrachten und den Kreis der Staatsangehörigen, auf die sich die Personalhoheit bezieht, durch das Gebiet zu bestimmen. Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt unserer Überlegungen angelangt. Wir haben nämlich zu fragen, welche typischen Unterschiede zwischen der Stellung von ethnischen Gebilden in einer nichtstaatlichen politischen Ordnung und jener Lage bestehen, die gewissen Volksgruppen im Nationalstaat den Charakter von Minderheiten verleiht. Für die sprachliche Symbolisierung des nicht- bzw. vorstaatlichen Typus bietet sich die Bezeichnung "Reich" an. In der neueren Staatslehre hat der Reichsbegriff geringe Beachtung gefunden, so daß es schwerfällt, ihn mit hinreichender juristischer Präzision dem Staatsbegriff gegenüberzustellen. Seine eigentlich wissenschaftliche Bedeutung hat er im Zua a. a. 0., S. 128.

4 Der Wandel der Ideen. Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens. Barcelona 1933, S. 167 f.

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sammenhang mit historischen Untersuchungen gewonnen, die sich wiederum vor allem dem mittelalterlichen Kaiserreich und dem Römischen Reich Deutscher Nation zuwenden; seine Reste haben sich bis an die Schwelle jener Periode erhalten, für die der moderne Staatsbegriff und der nationale Gedanke bestimmend geworden sind. Es ist jedoch kein Zufall, wenn auch außerhalb dieses spezifischen historischen Zusammenhanges dem Wort "Reich" unwillkürlich dann vor der Bezeichnung "Staat" der Vorzug gegeben wird, wenn man von den Reichen des Altertums, dem Chinesischen Reich, dem Türkischen Reich oder den Kolonialreichen der Neuzeit spricht. Denn in jedem Falle handelt es sich um politische Herrschaftsverbände, die mit Hilfe des juristischen Staatsbegriffes nicht adäquat erfaßt werden können. Zunächst verbindet sich mit "Reich" 5 die Vorstellung einer weiträumigen, im Grenzfall sich auf die ganze zivilisierte Welt erstreckenden politischen Ordnung, die zahlreiche Völker mit ihren Herrschaftsverbänden zu einer übergeordneten politischen Einheit zusammenfaßt. Dehnt ein Staat seine Hoheit auf andere Staaten aus, so hören diese auf zu bestehen oder bleiben doch nur als nachgeordnete Verwaltungseinheiten erhalten. Dagegen werden durch Einbeziehung in ein Reich (auch im Falle der die Regel bildenden Eroberung) die traditionellen Herrschaftsverbände nicht aufgehoben, sondern als eigenständige Gliederungen dem Reichsverband eingefügt. Dem monarchischen Oberhaupt des Reiches kommt gegenüber den anderen Oberhäuptern der dem Reich eingegliederten Herrschaften nicht nur unbestrittener Vorrang und oberste Würde, sondern auch höchste Autorität zu. Deren Legitimierung ist zwar in erster Linie religiöser Art, doch besitzt die Macht des Kaisers auch eine sehr realistische Grundlage in der Tatsache, daß er selbst Oberhaupt einer der im Reich vereinigten Herrschaften ist. Mit anderen Worten: Die Suprematie des Kaisers stützt sich sowohl auf seine moralische Autorität als auch auf seine Hausmacht. Ein Volkskönig oder Territorialherr wird zum Kaiser, indem er eine Oberherrschaft über alle anderen, ihm an sich gleichgestellten Herren ausübt. Die Eigenart des Reiches als politischer Überbau über zahlreiche Herrschaftsverbände wird vor allem bei seiner Entstehung und bei seiner Auflösung offenbar: Am Anfang stehen unabhängige Stammesherzogtümer, deren einem es gelingt, sich über alle anderen zu erheben; am Ende finden wir Territorialstaaten, deren Souveräne keine andere irdische Autorität mehr über sich anerkennen. Die Darstellung der Beziehungen der im Reich zusammengefaßten Herrschaften zueinander und zum Kaiser deutet bereits die Stellung 5 Vgl. K. Basel: Art. "Reich"; in: Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte. Hrsg. H. Rössler und G. Franz. München 1958, S. 969-973.

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ethnischer Gebilde innerhalb der für ein Reich typischen Herrschaftsordnung an. Das Reich regelt das Verhältnis seiner politischen Gliederungen nicht nur zueinander, sondern auch zur Außenwelt. Jeder dieser Gliederungen entspricht ein in einem Herrschaftsverband vereinigtes Volk. Da das Reich grundsätzlich nicht in die innere Ordnung der eingegliederten Herrschaftsverbände eingreift, bleiben auch Eigenleben und Eigenständigkeit der verschiedenen Völker erhalten. Soziologisch gesehen erscheinen sie als Vollgebilde, während das Reich als übergeordnetes Teilgebilde zu betrachten ist, dessen Wirksamkeit sich vorwiegend auf die politische Dimension beschränkt8 • Jedes Volk behält den Charakter nicht nur einer politisch autonomen, sondern auch wirtschaftlich autarken und sozial unabhängigen Gesamtgesellschaft mit einer eigenen sozialen Struktur und einem spezifischen kulturellen Wert- und Normensystem. Ebenso wie vor ihrer politischen Eingliederung in das Reich treten die Angehörigen der verschiedenen Völker des Reiches nicht unmittelbar als Einzelpersonen in Beziehung zueinander, sondern interagieren als und durch Repräsentanten ihres eigenen Volkes. Auch Häuptlinge, Stammesherzöge, Volkskönige usw. repräsentieren in erster Linie das kollektive Ganze ihrer jeweiligen Völker. Mit deren Zusammenschluß im Reich übernehmen diese "Herren" freilich noch eine zweite soziale Rolle, indem sie ihr soziales Handeln nunmehr auch an Zielvorstellungen, Werten und Normen orientieren, die sich auf das Reich als Ganzes beziehen. Reichsfürsten und Reichsstände bilden auf einer höheren Ebene ein zusätzliches Sozialsystem mit einer eigenen Struktur, einer eigenen Wertordnung, besonderen gemeinsamen Aufgaben und Interessen. Neben ihnen beginnen sich aber auch andere Segmente der verschiedenen in das Reich einbezogenen politisch-sozialen Einheiten mit dem Reich als Bezugsgruppe zu identifizieren, insbesondere der Verwaltungsstab der Herren, ihr militärisches Gefolge und die Ritter, dann die Händler, 8 Vgl. E. K. Francis: Minority Groups- ARevision of Concepts; in: British Journal of Sociology 2 (1951), S. 219 ff., insbesondere S. 224; ders.: Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens. München und Bern 1957, S. 115 ff. Ähnlich auch E. Kedouri: a. a. 0. - Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei auf die unterschiedliche Verwendung des entsprechenden englischen Wortes "empire" bei S. N. Eisenstadt: The Political Systems of Empires (New York und London 1963) hingewiesen. Unter seinen sieben Typen von politischen Systemen werden "feudal systems" in Europa, Japan und dem Nahen Osten neben "centraZized historical bureaucratic empires" angeführt. Als Beispiele für den letzteren Typus werden u. a. "the West, Central and East

European states from the fall of the feudal system through the Age of Absolutism" erwähnt, die nach der von uns vorgeschlagenen, zugegebenermaßen

groben Dichotomie gerade nicht zum Typus "Reich", sondern zum Typus "Staat" zu rechnen wären.

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deren Tätigkeit sich im Schutz des Reiches entfaltet, sowie die geistliche und weltliche Intelligenz als Schöpfer und Vermittler von überethnischen und universalen Ideen und Kulturwerten. Diese Personenkreise in ihrer Gesamtheit sind es, die die lokalen Herrschaften und ethnischen Verbände zu einer höheren Einheit verklammern; sie bilden gewissermaßen die .,Reichsnation". Dagegen bleibt das .,Volk" auf die traditionellen ethnischen Verbände beschränkt und von der Reichsnation ausgeschlossen. Während alle übrigen unmittelbar ihrem Volk und nur mittelbar dem Gesamtverband des Reiches angehören, ist es die Funktion der verklammernden Oberschicht, die übergeordnete Reichseinheit zu verkörpern und stellvertretend ihre Völker in diese einzubeziehen. Darüber hinaus ergeben sich freilich aus der Tatsache des politischen Zusammenschlusses im Reich mannigfache Gelegenheiten zur Vermehrung und Intensivierung direkter Kontakte und Interaktionen zwischen den einzelnen Angehörigen verschiedener Völker, so etwa im Bereich des Güteraustausches und der militärischen Zusammenarbeit. Es kommt zu einer Institutionalisierung von Sozialsystemen, die die normativen Ordnungen der einzelnen Völker transzendieren und auf das Reich als Ganzes bezogen sind. Zudem erleichtert der politische Verband die Mobilität über die ursprünglichen Volksgrenzen hinaus und fördert damit nicht nur die räumliche, sondern auch die soziale Vermischung von Völkern. Entscheidend für das vorliegende Problem ist jedoch der Umstand, daß für das Reich weder aus verfassungsrechtlichen noch aus verwaltungstechnischenGründen eine innere Notwendigkeit besteht, die gesamte auf seinem Gebiet lebende Bevölkerung zu einer realen sozialen Ganzheit zu vereinigen und kulturell zu vereinheitlichen. Vielmehr wird diese Einheit durch die verklammernden Schichten hergestellt, deren Angehörige damit teilweise aus ihrem Volksverband herausgehoben und losgelöst werden. Während die politische Ordnung des Reiches es möglich macht, Völker mit kollektiven Privilegien auszustatten und dadurch ihren Fortbestand zu gewährleisten, stellt die für den modernen Staat typische individuelle Rechtsgleichheit geradezu eine Bedrohung der ethnischen Gebilde dar. Zur Verdeutlichung dieses wesentlichen Unterschiedes bedienen wir uns eines im höchsten Grade vereinfachten Denkmodells. Zunächst soll vorausgesetzt werden, daß während der ganzen Dauer dieser Prozesse die Identität der gesamtgesellschaftlichen Totalität gewahrt bleibt, in der sie erfolgen. Indem wir sowohl Grenzverschiebungen als auch Wanderungsbewegungen ausschließen, halten wir den Gebietsumfang und die Zusammensetzung der Gebietsbevölkerung konstant. Unser Interesse konzentriert sich auf die inneren strukturellen Veränderungen, die in diesem isolierten Universum sozialer Zusammenhänge statt-

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finden, wenn sich der jeweils vorherrschende Typus der politischen Ordnung ändert. Wir haben vorhin den Reichstypus als einen Überbau über zahlreiche Herrschaften charakterisiert, deren Eigenleben grundsätzlich erhalten bleibt. Jede dieser Herrschaften ist als der politische Aspekt eines gesamtgesellschaftlichen Vollgebildes zu betrachten, das wir als ein "Volk" bezeichnen. Zur weiteren Vereinfachung unseres Denkmodells stellen wir uns jedes dieser Völker als eine "folk society" vor, also als eine in sich geschlossene, selbstgenügsame, stabile, homogene, schriftlose tribal society (Stammesgesellschaft). Bei gleichbleibenden Umweltsbedingungen gewährleistet ihre Geschlossenheit und Homogenität die Perpetuierung der traditionellen Formen des Zusammenlebens und die Erhaltung ihrer kulturellen Eigenart. Im Vergleich mit Hochkulturen tragen Volkskulturen immer den Charakter einer gewissen "Primitivität". Wie wir sahen, besteht die soziale Realität des Reiches im wesentlichen in einem segmentalen Sozialsystem, an dem lediglich die jeweilige Oberschicht der in ihm vereinigten Völker teilnimmt, während alle anderen wie bisher in ihrem eigenen Volkstum aufgehen. Die "Herren" repräsentieren also die einzelnen Völker, aus denen sie hervorgegangen sind und denen sie auch weiterhin verbunden bleiben. Gleichzeitig interagieren sie aber in spezifischer Weise miteinander und orientieren ihr soziales Handeln nach besonderen Wertvorstellungen und sozialen Leitbildern, die auf das Reichsganze bezogen sind. Als verklammernde Oberschicht bilden sie eine reale soziale Einheit, eine Gruppe, deren Mitglieder typischerweise ethnisch heterogen sind und deren gemeinsame Kultur die verschiedenen Volkskulturen transzendiert. Die Verbindung heterogener Komponenten in der Reichsnation wird zum Anstoß für die Bildung einer höheren Kultur. Innerhalb des Reiches finden wir also auf einer unteren Ebene homogene Völker mit ihren traditionellen Volkskulturen, auf einer höheren Ebene dagegen die ethnisch heterogene Oberschicht mit ihrer spannungsreichen, dynamischen "nationalen" Kultur. Nach den bisherigen Überlegungen ist es kein Zufall, daß im Populärbegriff des Volkes sich zwei Vorstellungen erhalten haben: einmal die der ursprünglichen Homogenität und Selbstgenügsamkeit einer Gesamtgesellschaft, das andere Mal die einer traditionalistischen und relativ primitiven Kultur der niederen Schichten. Vom sozialen Bezugssystem des Reiches und der sie tragenden "höheren Gesellschaft" aus gesehen erscheint das "Volk" als Inbegriff der im Reich vereinigten Völker mit ihren Volkskulturen. Diesem "niederen" Volk steht die "Nation" gegenüber, in der sich eine die Volkskulturen transzendierende "höhere" nationale Kultur verkörpert. Solange Herren und Volk ständisch voneinander gesondert bleiben, sickert die Nationalkultur

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nur allmählich zum Volk durch, ohne dessen traditionelle Lebensformen entscheidend zu verändern. Vom sozialen Bezugssystem der einzelnen Volksgemeinschaften aus gesehen sind dagegen die Herren jeweils mit dem eigenen Volk identifiziert und bilden seine Oberschicht. Bisher hat unser Modell mit Lebensbedingungen gerechnet, die einer relativ primitiven Agrarwirtschaft entsprechen. Nur auf ihrem Boden läßt sich grundsätzlich die Eigenständigkeit der Volkstümer trotz politischer Vereinigung aufrechterhalten. Mit dem Auftauchen städtischer Wirtschafts- und Lebensformen dagegen ergibt sich eine wesentlich neuartige Situation; denn nunmehr werden ethnisch heterogene Bevölkerungen miteinander in direkte Verbindung gebracht und aus dem bäuerlichen Volkstum herausgehoben. Ebenso wie die höhere Kultur der Herren ist auch die Stadtkultur überethnisch. Weltoffenheit und Wirtschaftsinteressen veranlassen die Bürger, sich mit der Reichseinheit zu identifizieren. Die mächtigen Städte treten neben den agrarischadeligen Herren in den Kreis der Reichsstände ein, die sich mit dem Kaiser in die Herrschaft teilen. Mit der mehrschichtigen Differenzierung der so erweiterten Reichsnation ergibt sich eine weitere spannungsreiche Entfaltung und Differenzierung ihrer höheren Kultur. Wir wollen es bei diesen höchst schematischen Andeutungen bewenden lassen und uns fragen: Welche gesellschaftlichen Strukturveränderungen treten ein, wenn ein Reich zum Staat wird (wobei der mögliche Zerfall des Reiches in mehrere Staaten unberücksichtigt bleiben soll)? Schon aus dieser Fragestellung geht hervor, daß unserem Reichstypus nicht bloß universale Kaiserreiche entsprechen, wie etwa das Hl. Römische Reich. Auch der englische König spielte z. B. eine imperiale Rolle, als er die Macht der Barone beschnitt und die Oberherrschaft über alle Völker der Insel in Anspruch nahm. Doch wir wollen unser Modell nicht überfordern. Für den Übergang vom Reich zum absoluten Staat ist die Tatsache entscheidend, daß der Monarch die direkte Herrschaft über alle Völker des Reiches auf sich überträgt und deren vormalige Herren zum abhängigen Hofadel werden. Bäuerliches Volk, Städte und Adel werden in gleicher Weise Untertanen des souveränen Monarchen. Damit bahnt sich aber eine Annäherung zwischen Volk und Ständen an, die schließlich zur Einbeziehung des Volkes in die Nation führen sollte. Um uns diesen Vorgang klarzumachen, müssen wir rekapitulieren. Nach unserem Modell waren zwei Bezugsebenen des sozialen Handeins zu unterscheiden: Einerseits wird die gesamtstaatliche Einheit hergestellt durch die aus ihrem Volkstum herausgehobenen "privilegierten", "gebildeten", "höheren" Gesellschaftsschichten, denen gegenüber alle anderen als "niederes Volk" und undifferenzierte "Masse" erscheinen. Andererseits löst sich auf einer zweiten Ebene dieses Volk in zahlreiche ethnische Einheiten auf, in nach ihrer Herkunft, ihrer Sprache bzw.

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ihren Dialekten, ihrer ganzen geschichtlichen Tradition und ihrer kulturellen Eigenart höchst differenzierte lokale und regionale Gemeinschaften. Auf dieser Ebene erhalten sich aber auch Erinnerungen und Restbestände von einstmals selbständigen, an die verschiedenen Volkstümer geknüpften Herrschaftsverbänden. Das Bindeglied zwischen beiden Ebenen bilden die sog. pouvoirs intermediaires; sie repräsentieren Völker und Regionen nach oben hin und vermitteln Staatsgewalt und nationale Einheit nach unten. Montesquieu 1 bezeichnete die noblesse als die natürlichste vermittelnde Kraft, nannte daneben aber auch die seigneurs, den Klerus und die Städte. Zu den pouvoirs intermediaires rechnet Montesquieu offenbar vor allem den großen Grundadel, der durch seine Besitzungen dem Volk verbunden bleibt, dann die ansässige Gentry, den Seelsorgsklerus bis hinauf zu den Bischöfen und schließlich die Landstädte als natürliche Zentren einer Region. "Point de monarque, point de noblesse; point de noblesse, point de monarque- mais on a un despote." Dieser lapidare Aphorismus Montesquieus läßt sich etwa so interpretieren: Wird der Adel dem von ihm repräsentierten Volke entfremdet, indem er sich mit der höfisch-hauptstädtischen Kultur identifiziert und sich als bloßes Vollzugsorgan des Staates versteht, dann fällt auch die Verbindung zwischen Volk und Monarch, zwischen dem Staat und seinen Untergliederungen fort. Indem der Monarch bzw. der Staat seine legitime Autorität im Verständnis des Volkes verliert, wird er zum Despoten, der von außen her und durch bloße Gewalt regiert. Freilich stellt nicht nur der Landadel die notwendige Verbindung zwischen gesamtstaatlicher Zentralgewalt und den Untergliederungen der Gesellschaft her. Mit der wachsenden Bedeutung städtischer Wirtschaftsformen und weltlicher Bildung rückt auch das Bürgertum in die erste Reihe der pouvoirs intermediaires. Bei Montesquieu steht der Klerus noch für die gesamte kulturschöpferische und kulturvermittelnde Intelligenz. Ihre kulturschöpferische Leistung bezieht sich vor allem auf die Gestaltung jener höheren Kultur, die wir als "Nationalkultur" bezeichnen. Bei ihrer kulturvermittelnden Funktion dagegen handelt es sich im wahrsten Sinn des Wortes um die Übersetzung abstrakter, verallgemeinemder Begriffe in die Sprache des Alltags sowie um die Auslegung allgemeingültiger Normen und ihre Anwendung auf die konkrete, differenzierte, in ihrer traditionellen Eigenart je und je einmalige Gesellschaftswirklichkeit Um die Entscheidungen des Staates, die in der Atmosphäre des Hofes und der Hauptstadt gefällt werden, überhaupt praktikabel und durchführbar zu machen, bedarf es der Kommunikation von oben nach un7 CEuvres completes de Montesquieu. Hrsg. M. A. Masson. Bd. I. Paris 1950, s. 20 ff.

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ten und einer möglichst ungefilterten Rückkoppelung. Erst dieser zweiseitige Kommunikationsprozeß, der durch die pouvoirs intermediaires hergestellt wird, garantiert die sinngemäße Konkretisierung von abstrakten Gesetzen einerseits, die dauernde Anpassung der Gesetze an die Realitäten des sozialen Geschehens andererseits. Fällt diese Vermittlung aus, wird das Gesetz zur unverständlichen und im Grunde ineffektiven Gewalt. An diese vom absoluten Staat angebahnte demotische Einschmelzung und Nivellierung seiner Bevölkerung knüpft nun der Nationalismus mit seiner Forderung an, daß die Herrschaft im Staat von der Nation oder doch in ihrem Namen ausgeübt werden und dem kollektiven Interesse dienen solle. Gemeinsame Sprache allein reicht freilich nicht für die Bildung der Nation als des sozialen Substrats des Staates aus. Die Tatsächlichkeit einer Gesellschaft wird vor allem hergestellt durch gemeinsame Zielsetzungen, Wertmaßstäbe, Verhaltensnormen, geistige Güter und Symbole, kurz durch gemeinsame Kultur. Dazu gehören nicht zuletzt die in der Nationalliteratur enthaltenen Sinndeutungen der sozialen Wirklichkeit und die von ihr vorgestellten Ideen und Ideale. Eben deshalb ist der Nationalstaat notwendig auch Kulturstaat: Hort der Nationalkultur als Brennpunkt für das Kollektivbewußtsein der gesamten Staatsbevölkerung. Die Verbreitung der gemeinsamen Nationalkultur und deren Verinnerlichung durch jeden Staatsbürger wird vor allem im Wege der allgemeinen Volksbildung erreicht, deren Förderung und Kontrolle zur Wesensaufgabe des Nationalstaates wird.

5. Der l\lythus von der Kulturnation Der Gegensatz zwischen Kulturnation und Staatsnation, der zugleich als Gegensatz zwischen einem "deutschen" und einem "westlichen" Nationsbegriff gilt, ist vor allem durch Friedrich Meinecke in seinem erstmals 1907 aufgelegten Buch Weltbürgertum und Nationalstaat; Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates dem Bewußtsein breiterer Kreise nahegebracht worden. Wie Meinecke selbst anmerkt, hatte jedoch bereits Fr. J. Neumann in seiner 1888 veröffentlichten Schrift Volk und Nation auf den Unterschied zwischen einem politischen und einem kulturellen Volksbegriff aufmerksam gemacht. Wenn wir nach Mohls Enzyklopädie der Staatswissenschaften von 1859 unter einer Staatsnation "die Gesamtheit der Teilnehmer des Staates" verstehen\ so liegt es nahe, sie dem gleichzusetzen, was wir als "Demos" bezeichnet haben. Daran ist auch im großen und ganzen wenig auszusetzen. Da1

Zitiert nach F. J. Neumann: Volk und Nation. Leipzig 1888, S. 74.

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gegen wäre es irreführend, nun auch "Ethnos" mit "Kulturnation" zu identifizieren, sobald darunter mit Neumann eine "Bevölkerungsgruppe" verstanden werden soll. "die infolge hoher [!]eigenartiger Kulturleistungen (insbesondere in Literatur, Kunst und Wissenschaft oder in politischer Beziehung) ein eigenes geistiges Wesen gewonnen hat, das sich auf weiten Gebieten von Generation zu Generation überträgt" 2 • Denn wir sind bei der Entwicklung des Volksbegriffes von der Überlegung ausgegangen, daß es sich bei der sozial wirksamen Vorstellung eines Herkunftszusammenhangs um ein spontanes, allgemein verbreitetes soziales Leitbild handelt, dessen Sinn auch dem ungebildeten Laien ohne weiteres verständlich ist, selbst wenn er sehr wahrscheinlich außerstande wäre, darüber rational zu reflektieren. Dagegen sind "Kulturnation" und "Kultur" -wie zu zeigen sein wird -Literaten- und Gelehrtenbegriffe, die erst in neuerer Zeit ein gewisses Maß an Volkstümlichkeit und damit an sozialer Effektivität erlangt haben. Ebenso wie die Nation überhaupt scheint auch die Kulturnation in den Bereich der soziologischen Realbegriffe zu gehören. Halten wir an unserer früher gegebenen Definition von "Volk" (Ethnos) fest, so fällt es nicht schwer, auf wirkliche Situationen hinzudeuten, auf die der Begriff paßt3 • Aber auch der Kreis jener ist ohne weiteres angebbar, der einer Staatsnation (Demos) zuzuordnen ist, u. zw. wenigstens in dem Maße, daß die empirische Überprüfung von Aussagen über derartige Gebilde möglich wird. Nicht so im Falle der Kulturnation. Zwar steckt auch in diesem Begriff bald das Ethnos, bald das Demos als Realbezug mit darin, letzten Endes handelt es sich jedoch - wie bereits gesagt wurde - um ein Gedankengebilde, dem nichts Bestimmtes in der Außenwelt eindeutig zugeordnet werden kann. Diese These, die in direktem Widerspruch zu einer ehrwürdigen Tradition nationalen Denkens namentlich in Deutschland steht, wird im weiteren eingehender zu begründen sein. Um diese geistige Operation überhaupt vollziehen zu können, müssen wir uns jedoch erneut den Unterschied zwischen Begriffen vor Augen halten, die nur der Reflexion dienen, und Begriffen, die zugleich als effektive Leitbilder einer gedachten Ordnung in die wirkliche Ordnung sozialer Gebilde mit eingehen.

Herders Beitrag Als Schöpfer des spezifisch deutschen Nationalbegriffes gilt Herder, der seinerseits namentlich von Rousseau, Montesquieu und Voltaire ausgeht und in Fichte, Regel und den Romantikern seine Nachfolger findet. Die geistesgeschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge 2

3

Ebd. Vgl. Kap. II.

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des deutschen nationalen Denkens sind zum Überdruß erörtert worden. Sie stehen nicht im Blickfeld unseres Vorhabens. Dagegen ist die Frage nach dem Realbezug des Begriffes der Kulturnation, der diesem Denken zugrunde liegt, von um so größerer Bedeutung. Woran knüpfen die Schöpfer des deutschen Nationalgedankens wie Herder, Fichte, die Klassiker und vor allem die Romantiker eigentlich an? Woran denken sie, wenn sie sich auf die "deutsche Nation" oder das "deutsche Volk" berufen? Es war sicher nicht so, daß sie sich zuerst den Begriff der Nation ausdachten, um anband seiner Bestimmungsmerkmale in der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit jene Entität zu identifizieren, die als deutsches Volk unter vielen anderen Völkern angesprochen werden könnte. Bevor man überhaupt imstande war, einen wissenschaftlichen Allgemeinbegriff der Nation zu konstruieren, gab es vielmehr bereits einen, wenn auch noch so vage erfaßten Erfahrungsgegenstand "Deutsche Nation". Für Herder und seine Zeitgenossen war Deutschland eben noch eine historische Realität, eine vielleicht teilweise verschüttete, aber leicht wieder ins Bewußtsein zu hebende Erinnerung. Immer noch gab es gemeinsame deutsche Institutionen, einen Deutschen König und ein Römisches Reich, das im Bewußtsein der Deutschen längst zu einem Deutschen Reich geworden war. Daß auch Herder sich der Bedeutung solcher Symbole der deutschen Einheit wohl bewußt war, geht aus einem Gedicht des Jahres 1780 hervor, in dem er Josef II. als "Oberhaupt von neun und neunzig Fürsten und Ständen" aufforderte, den Deutschen ein Vaterland, ein Recht, eine Sprache und eine Religion zu geben 4 • In ihrem eigenen Selbstbewußtsein waren die Deutschen immer noch eine Nation, und zwar aufgrund ihrer im Mittelalter erfolgten Vereinigung, die primär eine politische, nicht eine kulturelle Tatsache gewesen ist. Mit dem Verfall der politischen Einheit war 4

Vgl. Herders sämtliche Werke. Hrsg. B. Suphan. 33 Bde. Berlin 1877 bis

1913, Bd. 29, S. 551: "0 Kaiser, Du von neun und neunzig Fürsten

und Ständen, wie des Meeres Sand, das Oberhaupt, gib uns, wonach wir dürsten, ein Deutsches Vaterland, Und ein Gesetz und eine schöne Sprache und redliche Religion: Vollende Deines Stammes schönste Sache auf Deines Rudolphs Thron, Daß Deutschlands Söhne sich wie Brüder lieben, und Deutsche Sitt' und Wissenschaft, Von Thronenach so lange schon vertrieben, mit unserer Väter Kraft Zurückekehren, daß die holden Zeiten, die Friederieb von ferne sieht und nicht beförderte, sich um Dich breiten und seyn Dein ewig Lied."

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freilich die "nationale" Einheit der Deutschen problematisch geworden und erschien um so problematischer, wenn man sie mit der Wirklichkeit der französischen Nation verglich, die namentlich seit der Großen Revolution den Deutschen in sehr massiver und handfester Weise zum Bewußtsein gebracht wurde. Die Frage drängte sich auf, ob man überhaupt von einer deutschen Nation in derselben Weise wie von der französischen Nation sprechen konnte. Die Vorstellung von der deutschen Kulturnation entspringt nun dem Bemühen, erstens die Deutschen als Nation ebenbürtig den Franzosen an die Seite zu stellen und zweitens den unverkennbaren Unterschied zwischen einer Nation von der Art der französischen und einer Nation von der Art der deutschen Nation semantisch zu überbrücken. Wer sich an die ungeheuere Symbolkraft erinnert, die das bloße Wort "Nation" im Zeitalter des Nationalismus ausgeübt hat, wird verstehen, warum die Beibehaltung der gemeinsamen Bezeichnung für Deutsche und Franzosen den Deutschen so wichtig war. Eine Nation zu sein, war bereits an und für sich eine Auszeichnung; als solche anerkannt zu werden, war entscheidend für Prestige, Autorität und bis zu einem gewissen Grad auch für reale politische Macht. Wollten sich die Deutschen nicht selbst als gesellschaftliche Realität aufgeben und vor Frankreich endgültig kapitulieren, dann mußten sie auf diesem Titel bestehen, auch wenn ihnen das wichtigste Attribut abging, das die Franzosen zu einer Nation machte, nämlich der eigene und einigende Staat. Damit erscheint die deutsche Kulturnation im wesentlichen als Gegenbegriff zur französischen Staatsnation. Herders Beitrag bestand also nicht in der Entdeckung oder auch nur Wiederentdeckung der deutschen Nation, nicht einmal in deren begrifflicher Erfassung. Seine eigentliche Leistung muß anderswo gesucht werden. Herders nationales Denken wird meist als unpolitisch charakterisiert. Noch in der Zwischenkriegszeit verschanzten sich Führer nationaler Minderheiten gerne hinter einem von Herder abgeleiteten "unpolitischen" Volksbegriff, um dem Vorwurf des Hochverrats zu entgehen. Der Herdersehe Volksbegriff ist jedoch nur insofern unpolitisch, als das Volk nicht vom Staat (dem "Politischen") her definiertwird 5 • Dagegen ergeben sich auch aus diesem Nationsbegriff eine Reihe sehr handfester politischer Konsequenzen. Auch Herder war ein Patriot, dem gerade die politische Zerrissenheit Deutschlands besondere Sorgen bereitete. Er beklagt das mangelnde Interesse am Staat, die Abwesenheit einer gemeinsamen Hauptstadt, das Fehlen eines gemeinsamen gesetzgeberischen Genius u. dgP. Er vermißt den Nationals Vgl. a. a. 0., Bd. 8, S. 258. 6 Vgl. a. a. 0., Bd. I, S. 141: "Wir arbeiten in Deutschland wie in jener

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geist, der die Deutschen zu gemeinsamem Handeln vereint. Gewiß, Herder fordert nicht wie die französischen Intellektuellen seiner Zeit zum Kampf gegen die vielen kleinen Tyrannen des Vaterlandes auf. Er ruft nicht -wie Fichte - nach einem "Zwingherrn Deutschlands". Aber Herder will zweifellos die Wiederherstellung der Einheit des deutschen Volkes, wenn auch zuvörderst seiner geistigen Einheit unter Ausschaltung fremder, vor allem französischer Einflüsse. Er will die volle Entfaltung seines nationalen Genius, seiner angeborenen Fähigkeiten und Anlagen. Immer wieder unterstreicht er den Wert der nationalen VerbundenheW aller Deutschen und bemüht sich um eine Belebung des Bewußtseins der deutschen Einheit. Dem soll einerseits die Pflege der deutschen Sprache und Literatur8 dienen, der er sich besonders widmet, andererseits aber auch die Hinwendung gerade auf jene Epoche der Geschichte 9 , während der Deutschland politisch eine führende Rolle gespielt und das deutsche Volk in seiner geeinten Machtentfaltung höchstes Ansehen genossen hat. Um solcher sicher nicht unpolitischen Absichten willen widmete sich Herder auch der Bewältigung jenes begrifflich-semantischen Dilemmas, von dem wir sprachen. Ihm lag daran, den Nachweis zu erbringen, daß die nationale Einheit auch dann weiterbestehen könne, wenn sich der politische Verband der Nation in zahlreiche souveräne Landesfürstentümer auflöst. Diesem Zwecke sollte der Begriff der Kulturnation dienen, wenn auch der Ausdruck nicht von Herder stammt. Dem Staat als der durch menschliche Willkür und blinden Zufall herbeigeführten Herrschaftseinheit wird die Nation als ein "natürlich" gewordenes Gesellschaftsganzes gegenübergestellt, dessen räumliche Ausdehnung nicht an Staatsgrenzen gebunden ist. Dieser Ansatz läßt die geistige Verwandtschaft zwischen dem Begriff der nationalen Kulturgesellschaft und der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft deutlich erkennen. In beiden Fällen wird auf eine vom Staat abhebbare Sphäre des sozlalen Daseins aufmerksam gemacht, in der menschliche Werte ohne Bezug auf den staatlichen Zwangsapparat zur Entfaltung gelangen. In beiden Fällen wird aber auch die Priorität des rein Gesellschaftlichen behauptet, einmal gedacht als menschliche Zusammenarbeit zur Befriedigung wirtschaftlicher Interessen, das andere Mal als geistiger Austausch und geistige Produktion zur Befriedigung kultureller Bedürfnisse. Verwirrung Babels; Secten im Geschmack, Partheien in der Dichtkunst, Schulen in der Weltweisheit streiten gegeneinander: keine Hauptstadt, und kein allgemeines Interesse: kein großer allgemeiner Beförderer und allgemeines gesetzgeberisches Genie." 7 Vgl. a. a. 0., Bd. 4, S. 197 und Bd. 17, S. 211. 8 Vgl. a. a. 0., Bd. 1, S. 139 f., Bd. 16, S. 46 und Bd. 18, S. 136. 9 Vgl. a. a. 0., Bd.l7, S. 259 und Bd. 18, S. 382 ff.

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Dabei wird freilich oft zeitliche mit moralischer Priorität verwechselt: Man will die historische Priorität der Gesellschaft (oder des Volkes) beweisen, um die moralische Priorität des Menschen und seiner "natürlichen" Gemeinschaften gegenüber dem Staat zu begründen. Über den historischen Beweis hinaus wurde es dann die Aufgabe der soziologischen Analyse, den zunächst moralisch postulierten staatsfreien Bereich zu konkretisieren und in seiner spezifischen Eigenart zu bestimmen. In diesem Sinne haben Herder und die romantischen Volkstheoretiker ebenso soziologische Absichten verfolgt wie die offiziell so genannten "Soziologen", deren ursprünglicher Gegenstand die "bürgerliche" Gesellschaft gewesen ist. In diesem frühen Verständnis war aber die bürgerliche Gesellschaft im Grunde genommen doch wieder nur ein analytisches Element der Nation. Überspitzt könnte man sagen: die Soziologen suchten nach der staatsfreien Sphäre innerhalb jedes Staates, die Volkstheoretiker nach einer staatsfreien Sphäre neben einer Mehrzahl von Staaten. Nach der auf Herder aufbauenden Volkstheorie wird also die Einheit einer Nation wie der Deutschen nicht durch die politische Vereinigung einer Bevölkerung im Staat, sondern durch die Eigenart ihrer Kultur hergestellt. Wie schon Neumann richtig sah, bedeutet Kultur hier im wesentlichen "höhere geistige Leistungen"' 0 • Wenn auch der Katalog der Kulturbereiche nicht immer der gleiche ist, so werden meist Sprache, Literatur, Kunst, Wissenschaft, Religion, bisweilen auch Recht und politische Institutionen erwähnt. Jedenfalls denkt man jeweils an jene Bildungswerte, deren Verwirklichung gerade als wesentlicher Beitrag zur Vervollkommnung der Persönlichkeit und zum Fortschritt der Menschheit betrachtet wird. Mit dem Gedanken an geistige Hochleistungen, deren Inbegriff eben "Kultur" in diesem Sinne ist, verbindet sich ferner die Vorstellung, daß typische Kulturleistungen Ausdruck einer geistigen Substanz seien, einer Kollektivseele11 , eines nationalen esprit oder Genius, eines Volksgeistes' 2 • Dieser Erklärungsweise entspricht dann die Suche nach einem typischen Nationalcharakter, nach einer permanenten und wesenhaften Anlage einer ganzen Kollektivität zu bestimmten geistigen Ausdrucksformen und Verhaltensweisen. Indem Nationen als kollektive Persön-

lichkeiten aufgefaßt werden, erhält die neue Wissenschaft von den Nationalkulturen, aus der ja unsere "Geisteswissenschaften" hervor1

o Vgl. a. a. 0., S. 74 und S. 92. Vgl. Herder: a. a. 0., Bd. 8, S. 273.

11

1! Der Ausdruck "Genius des Volkes" findet sich bei Herder: a. a. 0., Bd. 2, S. 160; in Bd. 5, S. 217 und Bd. 14, S. 384 lesen wir "Geist des Volkes". Beide Termini bezeichnen offensichtlich denselben Sachverhalt.

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gegangen sind, den Charakter einer Art Kollektivpsychologie. An dieser Stelle kommt es nicht auf eine Diskussion der zahlreichen Interpretationen und Varianten der Grundvorstellung an, daß Nationen geistige Wesenheiten seien, die in einer charakteristischen Hochkultur, einer typischen Kulturgestalt, ihren objektiv faßbaren Ausdruck finden. Die dargebotene, wenn auch recht schematische Darstellung genügt, um zu zeigen, daß (entgegen einer von A. L. Kroeber und C. Kluckhohn 13 geäußerten Auffassung) Kulturbegriff und Volksgeistlehre nahe verwandt miteinander sind. BeideentspringendemBemühen, die historischindividuelle Eigenart und die typischen Ausdrucksformen menschlicher Kollektivitäten, insbesondere der Völker und Nationen verständlich zu machen. Kritik des Begriffs Es ist nicht leicht, die mit dem Kulturbegriff verbundene Problematik ins Bewußtsein zu heben; denn "Kultur" ist so sehr Bestandteil des modernen Denkens geworden, daß der Begriff für die meisten als selbstverständlich und fraglos gilt. So ist es ein nicht zu unterschätzendes Verdienst von 0. H. Ziegler 1\ sehr nachdrückliche Zweifel an seiner Brauchbarkeit für die soziologische Wirklichkeitsanalyse angemeldet zu haben. Nach ihm beruht der Kulturbegriff auf vier Annahmen; nämlich (1) daß Kultur die Bezeichnung für ein einheitliches Gesamtphänomen ist; (2) daß diese Kultur ein individuelles Phänomen darstellt; (3) daß ihr ein objektives Sein zukommt; und (4) daß sie in dieser Weise die unabhängige Variable darstellt, die das eigentliche Wesen des Nationalen ausmacht. Keine dieser Annahmen ist ohne weiteres einleuchtend oder zwingend. Vielmehr handelt es sich bei diesen Vorstellungen um weltanschaulich bedingte Deutungsversuche. So ist die Frage, welches Phänomen man als repräsentativ für eine Gesamtkultur setzt, durchaus von subjektiven Wertungen abhängig. Auch die Totalitäten, die hier jeweils behauptet werden, sind in Wirklichkeit weder abgrenzbar noch überhaupt aufweisbar. Eine solche spekulative Deutung aber verbleibt - wie Ziegler sagt - letztlich im Bereich eines unkontrollierbaren weltanschaulichen Subjektivismus15 • Wir sind von der These ausgegangen, daß dem Begriff der Kulturnation keine bestimmten Bezugsobjekte in der Erscheinungswelt zugeordnet werden können. Diese These wurde durch eine kurze Analyse 13

Culture; a Critical Review of Concepts and Definitions. New York

14

Die Moderne Nation. Ein Beitrag zur Politischen Soziologie. Tübingen

15

Ebd.

2 1963,

s. 33 f.

1931, s. 215.

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des Begriffes der Kultur erhärtet. Kultur stellt insofern das konstitutive Moment der Kulturnation dar, als im Sinne dieses Begriffes jede Nation durch eine einzigartige Kultur konstituiert und durch sie von jeder anderen Nation unterschieden wird. Nun hat die Diskussion aber gezeigt, daß der Begriff der Gesamtkultur auf Voraussetzungen beruht, die seine Brauchbarkeit für die Abgrenzung einer sozialen Kollektivität in Frage stellen. Die erste dieser Voraussetzungen hat H. Freyer einmal so ausgedrückt: "... Eine Gesamtkultur ist eine Individualität, nur eben nicht eine solche der psychischen, sondern der objektiv geistigen Sphäre. Sie ist eine Individualität unter der Bedingung, daß ein einheitliches Bindungszentrum in ihr vorhanden ist, das in allen Teilen der konkreten Kulturwirklichkeit ungeteilt wirkt, so wie der Einheitspunkt der Person in deren entfalteter Seele wirksam ist. Und wie wir auch immer den Sinngehalt, den wir als Träger der Kultureinheit ansetzen, inhaltlich zu bestimmen haben werden - logisch muß es mit ihm bestellt sein wie mit dem Einheitspunkt der seelischen Individualität ... " Wir müssen "den Einheitspunkt, den wir suchen, als ein spontanes Zentrum denken, von dem aus alle Teile der Kulturindividualität innerlich belebt werden; als Kraft, die in jedem Stück des Objektivationssystems ganz wirklich ist". Das Vorhandensein und die Ausdehnung einer solchen Gesamtkultur sind freilich abhängig von der Auftindung eines Sinngehaltes, "der in allen Objektivationen der Gesamtkultur, und zwar erst in allen zusammen ganz ausgeformt wird"18. Ganz offenbar handelt es sich bei dieser Art von gegenständlicher Sinndeutung notwendigerweise um spekulative, weltanschaulich bedingte und von subjektiven Wertungen abhängige Interpretationen, die jederzeit anfechtbar und durch beliebige andere subjektive Deutungen ersetzbar sind. Die Totalitäten, die hier behauptet werden, sind, wie Ziegler treffend sagt, in Wirklichkeit weder absetzbar noch überhaupt aufweisbar17 • Was nun die Annahme anlangt, daß Kulturen ein objektives Sein besäßen, so führt gerade sie über die Vorstellung hinaus, daß eine Nation durch das Vorhandensein einer typischen und einzigartigen Kulturgestalt bestimmt werde, also durch eine Gesamtkultur, die alle einzelnen Kulturbereiche nach einem einmaligen Prinzip strukturiert. Denn nach dieser Auffassung tritt Kultur nicht nur als ein Objektives und Äußeres seinem Schöpfer, dem Menschen, gegenüber, sondern eine spezifische Kultur kann auch die Völker und Nationen, auf deren Boden sie ursprünglich gewachsen ist, beliebig transzendieren und sich auf heterogene Bevölkerungen mit wechselnden Herrschaftssystemen ausbreiten. Die Annahme schließlich von der notwendigen inneren 18 Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Leipzig und Berlin 1923, S. 110 f. und 104. 11 Vgl. H. 0. Ziegler: a. a. 0., S. 216.

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Konsistenz einer Gesamtkultur, von einem einheitlichen Sinngehalt, der wie eine kategoriale Kraft das ganze System der Objektivationen einer Gesamtkultur formt 18, entspricht der auch in der empirischen Kulturanthropologie und Soziologie weit verbreiteten Auffassung, daß die Kultur einer Gesellschaft ein Minimum an Integration aufweisen müsse, um das Funktionieren und die Erhaltung des betreffenden gesellschaftlichen Systems zu gewährleisten. Diese Lehre ist zumindest umstritten. Die Tatsache, daß jede Gesellschaft per definitionem ihre Kultur besitzt, besagt noch lange nicht, daß diese Kultur einzigartig, einheitlich und integriert sein muß. Im Gegenteil, manches spricht gegen diese Hypothese. Wie immer die Frage im Lichte der Tatsachen zu beantworten sein wird, so trägt die Diskussion doch nichts Wesentliches zum Problem der Kulturnation bei. Denn wenn a priori angenommen wird, eine einzigartige integrierte Kultur konstituiere eine Kulturnation, so ist das einfach eine Sache der Definition. Die reale Existenz von solchen Kulturgestalten und damit von Kulturnationen wäre jedoch erst noch nachzuweisen. Es ist zumindest zweifelhaft, ob insbesondere Hochkulturen jemals diesen Charakter tragen. Aber selbst wenn sich Kollektivitäten finden ließen, die so definiert werden können, steht noch keineswegs fest, daß diese die entfernteste Ähnlichkeit mit dem haben würden, was man heute als eine "Nation" bezeichnet. Wir gelangen zu dem Schluß. daß sich konkret eine soziale Kollektivität nicht umschreiben und von jeder anderen Kollektivität der gleichen oder einer anderen Gattung unterscheiden läßt, indem man vom Vorhandensein eines spezifischen Kulturintegrats ausgeht; und zwar vor allem deshalb, weil ein solches Integrat gar nicht eindeutig feststellbar ist. Das haben diejenigen, die sich des kulturellen Nationsbegriffes bedient haben, in Wirklichkeit auch niemals versucht. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war vielmehr die Beobachtung einer tatsächlich gegebenen Kollektivität, deren Einheit sie bloß nachträglich damit zu begründen suchten, daß sie ihr eine spezifische gemeinsame Gesamtkultur zuschrieben. Häufiger und oft vermischt mit dem ersten Denkprozeß aber liegt dem Begriff der Kulturnation der Wunsch und die Forderung zugrunde, daß eine bestimmte durch Staatsgrenzen getrennte Bevölkerung eine soziale Einheit bilden solle, weil angeblich eine Einheit und Einheitlichkeit ihres kulturellen Erbes vorhanden sei. Trotz seiner Unzulänglichkeit für die soziologische Begriffsbildung besitzt der Begriff der Kulturnation dennoch erhebliches soziologisches Interesse. Einerseits ist es methodisch durchaus berechtigt, die Eigenart einer Nationalkultur zu untersuchen, sobald der Personenkreis 18

Vgl. H. Freyer: a. a. 0., S. 111ft.

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feststeht, der als eine Nation mit einer identifizierbaren Kultur behandelt werden kann. In diesem Fall bestimmt freilich nicht die Kultur den Umfang der Nation, sondern die Nation das, was legitimerweise als ihre Kultur zu betrachten ist. Kulturanalysen dieser Art sind freilich nicht auf Nationen beschränkt, sondern lassen sich für alle möglichen größeren sozialen Einheiten durchführen. Der spezifische Begriff der Kulturnation ist also hier heuristisch wertlos. Wichtiger ist die von Ziegler gemachte Feststellung daß der Glaube an eine gemeinsame Kultur für das Nationalbewußtsein von konstitutiver Bedeutung sei. Freilich gilt dasselbe für jeden Glauben an irgendwelche menschlichen Gemeinsamkeiten, insbesondere auch für den Glauben an gemeinsame biologische Abstammung oder auch den Glauben an eine rechtmäßige politische Gemeinschaft z. B. infolge legitimer Zugehörigkeit zu einer Dynastie. Damit hat sich unser Problem von der Ebene der objektiv feststellbaren Wesensmerkmale einer gesellschaftlichen Kollektivität auf die Ebene des sozialen Mythus und seiner Rolle für die reale Vereinigung von Menschen zu gesamtgesellschaftlichen Verbänden verschoben. Daß der Begriff der Kulturnation vor allem zum Bereich der politischen Idee und des Mythus gehört, haben wir bereits angedeutet. Dabei kommt es gar nicht darauf an, auf welche Art und Weise diese kollektive Einheit zustande gekommen ist; insbesondere ist es durchaus gleichgültig, ob sie auf der Tatsache des gemeinsamen Staates oder der gemeinsamen Herkunft beruht. Der Mythus von der Kulturnation, der sich aus dem Ethos der Aufklärung herleiten läßt, gipfelt vor allem in der praktischsittlichen Forderung, daß jedes Demos und jedes Ethnos die Aufgabe habe, spezifische und einzigartige Bildungswerte zu verwirklichen, um dadurch dem Fortschritt der Menschheit zu dienen. So wird es auch verständlich, warum in diesem Zusammenhang "Kultur" immer auf kulturelle Hochleistungen abzielt, während sich der Kulturbegriff der modernen Kulturanthropologie und Soziologie bekanntlich einer solchen bewertenden Unterscheidung nach Möglichkeit enthält19 • Das Gedankengebilde "Kulturnation" ist zwar nicht als Realbegriff soziologisch relevant, wohl aber als Ausdruck einer geistigen Bewegung. Im romantischen Nationalismus tritt der Mythus von der Kultur und der Kulturnation geradezu an die Stelle des Mythus 20 von Christentum und Kirche. Nicht umsonst ist der Nationalismus eine säkularisierte Religion genannt worden; denn er erhebt die Kultur zum höch19

1963,

Vgl. A. Gehlen: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied

s. 120 f.

20 Unter Mythus werden hier erfahrungswissenschaftlich nicht gestützte oder überhaupt nicht falsifl.zierbare Vorstellungen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden, die Menschen zur sozialen Orientierung dienen.

8 Francis

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sten Wert und vergöttlicht in ihr die charakteristischen Schöpfungen des Menschen: Wenn auch der einzelne Mensch sterblich ist, so sind doch seine geistigen Schöpfungen (eben seine "Kultur") unvergänglich ... Im Zeichen dieser nationalen "Religion" verbinden sich die Menschen miteinander, wie sie sich ehedem um des religiösen Bekenntnisseswillenvereinigt haben. Die Entfaltung der Nationalkultur- oder auch der Kultur der Menschheit, die sich je und je in einer nationalen Kultur verwirklicht - erscheint als der eigentliche Sinn des Daseins, um dessentwillen notfalls das Leben des einzelnen geopfert werden muß. Das christliche Vollkommenheitsideal der Vereinigung mit Gott wird abgelöst von dem Gedanken der Entfaltung der schöpferischen geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen und des kulturellen Fortschrittes, an dem der einzelne je nach seinem Bildungsgrad in größerem oder geringerem Maße teilnimmt. Insofern nun Kultur ein kollektives Produkt menschlichen Zusammenwirkens ist, erscheint die Nation als die Gemeinschaft derjenigen, die an gemeinsamen höchsten Kultur- und Bildungswerten teilhaben und diese verwirklichen. Es gibt also zwei logische Möglichkeiten, um zu einem präzisen Begriff der "Kulturnation" zu gelangen und damit überhaupt die Grundlage für eine sinnvolle Diskussion zu schaffen. Entweder definieren wir Kulturnation als eine auf die Verwirklichung einer spezifischen und einzigartigen Kulturidee bezogene Gesamtgesellschaft, oder als eine "natürliehe", d. h. ohne menschliches Planen, spontan entstandene ethnische Gemeinschaft: ein Volk, das zum Träger einer unterscheidbaren Hochkultur geworden ist. Mit dieser Explikation des Begriffes sind allerdings unsere Zweifel nicht entkräftet, ob derartige Gebilde in der gesellschaftlichen Erscheinungswelt tatsächlich identifiziert und konkretisiert werden können.

Kulturnation als Sprachnation In der Tat ist es wohl noch niemals versucht worden, eine Nation an Hand des Ausdehnungsreiches einer Gesamtkultur zu bestimmen und abzugrenzen. Statt dessen ist die allgemeine Neigung festzustellen, einen Teilaspekt der Kultur hierfür heranzuziehen und den Umfang der Kulturnation mit dem Verbreitungsgebiet einer Schriftsprache zu identifizieren. Nun ist es sicher nicht dasselbe zu behaupten, daß das Vorhandensein einer Kulturnation leicht und untrüglich an Hand der Sprache erkennbar ist, oder zu sagen, daß die Eigenart der Sprache ein Wesenselement der Kultur und damit auch der Nation sei. Im ersteren Fall geht man von der Voraussetzung aus, daß zwischen Sprache, Kultur und womöglich auch noch Volk (Ethnos) eine konstante Relation bestehe. In diesem Sinne galt bereits für die Philologen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die gemeinsame Sprache als untrügliches Zei-

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chen für die Herkunftsgleichheit und ethnische Verwandtschaft der sie Sprechenden. Etymologie und historische Grammatik sind von Männern wie den Brüdern Grimm nicht zuletzt in der Absicht getrieben worden, Zusammenhänge zwischen Völkern und Völkerfamilien aufzudecken. Wenn dagegen Herder und andere in der Hochsprache und der in ihr verbreiteten N ationaUiteratur eine Offenbarung des Geistes und der Eigenart einer Nation erblickten, dann machten sie Sprache und Literatur geradezu zu einem konstitutiven Element der Nation. Dem Literaten, der seine Aufgabe in der Bereicherung der nationalen Kultur erblickt, mag die Überschätzung seiner eigenen Tätigkeit, aber auch der Gedanke an Verbreitungsgebiete von Literatursprachen besonders naheliegen. Doch war die gesteigerte Bedeutung, die der Literatur beigemessen wurde, auch darin begründet, daß diese, wie Ziegler bemerkt, ein spezifisch bürgerlicher Beitrag zum Aufbau der geistigen Welt ist21 • Die Literatur, die aus der Gemeinsamkeit der Sprache erwächst und die Bildung bestimmt, wird als repräsentativ für die Kultur angesehen; sie erscheint ihrer objektiven Struktur nach als Voraussetzung für die Nationalisierung des kulturellen Bewußtseins, die gleichfalls einen typisch bürgerlichen Beitrag zum modernen Gesellschaftsdenken darstellt. Wenn auch immer wieder die Kulturnation ebenso wie das Ethnos mit Sprachgemeinschaft identifiziert worden ist22 , so läßt sich doch unschwer nachweisen, daß die Sprache selbst eine von anderen, nicht zuletzt politischen Faktoren abhängige Variable ist. Herder, Fichte, die Romantiker und auch neuere Volkstheoretiker neigen dazu, in der Sprache den "natürlichen", d. h. spontanen, seinem Wesen und der seiner Entwicklung innewohnenden Entelechie nach von Anbeginn fixierten und unveränderlichen Ausdruck des Ethnos zu sehen. Dagegen ist einzuwenden, daß die Spracheinheit einer Bevölkerung ebensogut das Resultat willkürlicher Eingriffe sein kann. Namentlich kann die Einführung und Verbreitung einer Hochsprache dem Staat geradezu als Mittel dienen, um die demotische Vereinheitlichung seiner ethnisch heterogenen Bevölkerung herbeizuführen. Eine überaus aufschlußreiche Illustration für derartige Vorgänge bietet die Behandlung der 21

a. a. 0., S. 229.

Statt vieler sei P. Sorokin angeführt, der in: Society, Culture and Personality (New York und London 1947) erklärt: "When we try to analyse 22

nationality groups ... we find that the most distinctive trait is language with the many cultural values correlated with it ... " (S. 201). Dagegen lesen wir

aufS. 254, daß die Nation durch einen Komplex von drei Verbindungsgliedern charakterisiert sei, nämlich neben der gemeinsamen Sprache auch noch durch ein gemeinsames Gebiet und einen gemeinsamen Staat.



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Sprachenfrage zur Zeit der Französischen Revolution, während der die Bevölkerung Frankreichs überhaupt erst zu einer einheitlichen Nation geworden ist. Nach der Meineckeschen Typologie wäre die französische Nation als Staatsnation anzusprechen. Dennoch haben ihre geistigen Führer niemals einen Zweifel darüber gelassen, daß im Selbstbewußtsein der Franzosen gerade "Kultur" und "esprit" die spezifische Qualität der französischen Nation ausmachen, ja sie aus allen anderen Nationen als die bedeutendste, vielleicht als die einzig wahre Kulturnation herausheben. Gerade die Entstehung der französischen Nation, die mit Recht als Prototyp der modernen Nation betrachtet wird, läßt deutlich erkennen, daß die ethnische Homogenität einer Bevölkerung durchaus nicht vorausgesetzt werden muß, um sie als Nation definieren zu können23 • Weit mehr als heute war man sich im 18. Jahrhundert der Tatsache bewußt, daß weite Gebiete Frankreichs erst in verhältnismäßig neuerer Zeit zu einem Einheitsstaat vereinigt worden waren, daß die Untertanen des französischen Königs von ganz verschiedenen Völkern und Nationen herstammten und daß ihre heterogene Herkunft in sehr erheblichen regionalen Unterschieden der Sprache, der Kultur, der politischen Tradition und der Loyalitätsgefühle ihren Niederschlag gefunden hatten. Gerade die zahlreichen Sprachen und Dialekte, die innerhalb der Staatsgrenzen gesprochen wurden und die die Verständigung ohne Hinzuziehung von Wörterbüchern und Dolmetschern unmöglich machten, waren schon unter dem Ancien Regime als ernstes politisches Problem empfunden worden, dessen Lösung aus Gründen der Staatsräson in der Förderung französischer Schulen und in administrativen Sprachregelungen gesucht wurde. Wie wenig bis zum Ausbruch der Revolution jedoch erreicht worden war, beweist neben zeitgenössischen Reiseberichten eine in allen Provinzen durchgeführte Erhebung, deren Ergebnisse in den Lettres d Gregoire zusammengefaßt worden sind. Von insgesamt 43 Punkten dieser Umfrage bezogen sich vier auf den Gebrauch des Französischen und des patois in den Städten bzw. auf dem Lande. Im Jahre 1794 erstattete H. Gregoire, Pfarrer von Embermesnil, dem Comite d'Instruction Publique Bericht: Nur in etwa fünfzehn Departements im Innem des Landes genieße die französische Sprache ausschließliche Verwendung, dagegen gebe es noch ungefähr dreißig "patois" mit eigenem Namen. Die von F. Brunot24 zusammengestellte Übersicht über die Umfrageergebnisse vermittelt den Eindruck, daß das Französische im Grunde genommen nur in den "pays de langue d'oui" und den "pays franco-provenr;als" allgemein verständlich war, wahrscheinlich von der Mehrheit aller Franzosen dagegen 2a Zum Folgenden vgl. insbesondere das Standardwerk von F. Brunot: Histoire de la langue Franc;:aise des origines a 1900. Paris 1905 ff. 24 a. a. 0., Bd. 9, Teill, S. 206.

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nicht oder nur mit großer Schwierigkeit gesprochen, geschweige denn gelesen und geschrieben werden konnte. Dabei braucht man gar nicht an die eigentlich fremdsprachigen Regionen zu denken, die sogenannten "pays d idiome" wie Roussillon, Bearn, Pays Basque, Corsica, Flandre Maritime, das "pays bretonnant" der Bretagne, Lorraine Allemande und das Elsaß, wo jeweils Spanisch, Baskisch, Italienisch, Flämisch, Bretonisch bzw. Deutsch nicht nur die einzige Verkehrssprache sondern z. T. die offizielle Landessprache geblieben waren. Auch die "patois"-Sprachen, deren sich in den "pays de langue d'oc" des Südens (Provence, Gascogne, Auvergne, Lyonnais usw.) außer den Bauern auch Bürger und Adel fast ausschließlich bedienten, trugen nicht den Charakter idiomatischer Varianten des Französischen, sondern stellten eine eigene Sprachfamilie dar, die dem Französisch-Sprechenden ebenso fremd bleibt wie das Platt dem Hochdeutsch-Sprechenden. Daß die Philologie das Plattdeutsche als deutsche, die Langue d'oc als französische Dialektgruppe klassifiziert, dagegen das Piemontesische dem Italienischen zurechnet, ist ja überhaupt nicht so sehr in objektiven Ähnlichkeiten und Unterschieden begründet als in den ZufäHigkeiten der politischen Geschichte und in der Neigung der Historiker, Verbreitungsgebiete von Schriftsprachen als das entscheidende Einteilungskriterium zu verwenden. Wie stark man die sprachlichen Verschiedenheiten zwischen dem nördlichen und südlichen Frankreich noch im 18. Jahrhundert empfand, darauf weist die Tatsache hin, daß es etwa neben einem Dictionnaire francais-celtique~3 oder einem Dictionnaire breton-francais 2e nicht nur ein Vocabulaire francopro:,•enr;al21, sondern auch ein Dictionnaire languedocien-francais 28 gab, das zwischen 1756 und 1821 nicht weniger als vier Auflagen erlebte und den bezeichnenden Untertitel trug: "choix des mots langue-d'ociens les plus difficiles d rendre en francais contenant un recueil des principales fautes que commettent dans la diction et dans la prononciation francaise les habitants des provinces meridionales du Royaume, connus d Paris sous le nom de Gascons". Mit der Revolution erhielt das Sprachenproblem eine neue Note und gewann besondere Vordringlichkeit. Nunmehr galt es im Sinne der demokratischen Staatstheorie nicht nur das ganze Volk, d. h. die Gesamtheit der Staatsbürger, mit den Gesetzen und Einrichtungen des Staates vertraut zu machen, der ja nunmehr ihr Staat sein sollte, sondern auch die Nation und ihre parlamentarische Vertretung bzw. Regierung einander näherzubringen sowie die breiten Volksschichten politisch zu schulen und zu mobilisieren. In den Beratungen der zentralen revolutionären Gremien und der patriotischen Verbände, die sich allenthalben bildeten, spielten daher frühzeitig Überlegungen darüber eine Von P. Gregoire de Rostrenen aus dem Jahre 1738. Von Don Le Pelletier, erschienen 1752. 2 7 Von Achard, erschienen 1785. 28 Von Baissier de Sauvage, mit Auflagen aus den Jahren 1758, 1785, 1820 und 1821. 25

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hervorragende Rolle, wie angesichts der babylonischen Sprachverwirrung, die immer wieder mit Besorgnis zitiert wurde, diese staatspolitische Aufgabe erfüllt werden konnte. Zunächst sah man in der möglichst raschen Übersetzung der Verfassung sowie der wichtigsten Gesetze und administrativen Neuregelungen in die verschiedensten lokalen Idiome den einzig gangbaren Ausweg. Anfangs betraute man damit Freiwillige, die sich anboten; so wurden Dugas 1791 beauftragt, die Verfassungsgesetze für dreißig Departements zu übersetzen. Zehn Monate später hatte er mit seinem Mitarbeiterstab bereits neun Bände Verfassungsgesetze und Dekrete für Hautes-Pyrenees vollendet, sieben für Basses-Pyrenees, je zwei für Dordogne und Aveyron, je einen für Correze, Landes, Aude und Haute-Garonne. Andere Übersetzungen wurden an Ort und Stelle hergestellt, zumal im Elsaß und in der Bretagne. Alsbald zeigte sich jedoch, daß auf diese Weise die Schwierigkeiten der Verständigung zwischen der Hauptstadt, wo sich das eigentliche politische Geschehen vollzog und wo gesamtstaatliche Reformen in rascher Folge beschlossen wurden, und den Provinzen nicht bewältigt werden konnte, zumal sich die Beschwerden über bedenkliche und folgenschwere Fehler in den verschiedenen Übersetzungen wichtiger Dokumente und Entscheidungen häuften. Nicht zuletzt solche Erfahrungen sind es gewesen, die die Verantwortlichen zur Überzeugung kommen ließen, daß das Funktionieren des demokratischen nationalen Staates die Durchsetzung einer einzigen nationalen Sprache erforderte. So heißt es in der Chronique de Paris vom 10. November 1792: "Cette bigarrure dans Za Zangue pouvait etre tol~r~e SOUS Z'ancienne division de Za France en provinces, et dans un temps ou Z'ignorance du peupZe avait un grand objet d'utilite pour Ze gouvernement. Mais aujourd'hui, ou Zoin de craindre les Zumieres, le premier interet de Z'Etat est de les propager, il taut bannir du territoire de Za repubZique tout autre langue que celle que Z'on parle d la Convention nationaZe 20 ." Die lokalen Sprachen wurden geradezu zu einem Instrument der Gegenrevolution. 1792 wird aus dem Baskenland berichtet: "... le fanatisme domine; peu de personnes savent parZer frant;ais; les pr~tres basques et autres mauvais citoyens ont interpr~t~ d ces intortun~s habitants les decrets comme ils ont eu interet 30." Im nächsten Jahr schreibt man aus Straßburg: "Si Za langue allemande n'est proscrite et des institutions etablies pour apprendre celle de la Republique, on ne peut repondre de lui conserver ce principale boulevard31 ." Mit dem "Zev~e en masses" und der Volksarmee wird die Vereinheitlichung der Nationalsprache auch zu einer zwingenden militärischen Notwendigkeit. Im Schulausschuß der Nationalversammlung charakterisiert 1794 Barere die Gefahr mit eindringlichen Worten: " ... le federalisme et la superstition parlent bas-breton; Z'~migration et la haine de la R~publique parlent allemand; la contre-revolution parle italien et le fanatisme parle basque . . . Il vaut mieux instruire que faire traduire, comme si c'etait d nous d maintenir ces jargons barbares et ces idiomes grossiers que ne peuvent plus servir que les fanatiques et les contre-revolutionnaires .. .32 " Man entschließt sich 10 30

31 32

Zitiert nach F. Brunot: a. a. 0., Bd. 9, Teil1, S. 159. a. a. 0., S. 176. a. a. 0., S. 178. a. a. 0., S. 181.

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zu drastischen Maßnahmen, die im Elsaß geradezu in einen "terreur linguistique" ausarten sollten, wie Brunot bemerkt33 •

Die allgemeine Verbreitung, ja ein Monopol der französischen Sprache wird aber auch positiv als das sicherste Mittel gewertet für die Einigkeit und Formung der französischen Nation, die nicht zuletzt im Erlebnis der Revolution und ihrer Kriege zur eigentlichen Entfaltung gelangt. Barere beschließt seine bereits zitierte Rede: " ... dans la democratie, laisser les citoyens ignorants de la langue nationale [sie] ... c'est trahir la patrie ... Le franc;ais deviendra la langue universelle, etant la langue des peuples. En attendant, comme il a eu Z'honneur de servir d la declaration des Droits de Z'homme, iZ doit devenir la Zangue de tous les

Franc;ais. Nous devons aux citoyens l'instrument de Za pensee publique, l'agent Ze plus SUT de Za Revolution, Ze meme langage. Chez un peuple Zibre la langue doit etre une et la meme pour tous." Typisch ist auch das rethorische Bekenntnis von Domergue zur Nationalsprache: "Je puise mon courage ... dans l'espoir d'elever notre langue d la hauteur du peuple qui la parle; je le puise dans la certitude de cooperer d l'unite de langage, comme nos legislateurs ont opere l'unite de gouvernement et de legislation, et dans la certitude plus flatteuse encore de pouvoir par la propagation de notre langue, ce conducteur electrique de la liberte, de l'egalite, de la raison, contribuer d la regeneration publique de l'Europe:u." Die politische Sendungsidee der Revolution verbindet sich mit der kulturellen Mission der Aufklärung; es geht nicht nur um die nationale Sprache, sondern um die Sprache der Freiheit und der Vernunft. "Hinsichtlich der Sprache", so klagt der Abbe Gregoire, "stehen wir noch beim Turm von Babel, obwohl wir, was die Freiheit betrifft, die avantgardeder Nationen bilden" 35 • Er bestehe wenig Hoffnung, den Stein der Weisen zu finden: eine gemeinsame Sprache für die Völker der Welt. Aber es müßte wenigstens möglich sein, die Sprache einer großen Nation so zu vereinheitlichen, daß die Bürger, aus denen sie besteht, ihre Gedanken austauschen können. "Cette entreprise qui ne fut pleinement executee chez aucun peuple, est digne du peuple franc;ais, qui centralise

toutes les branchesde l'organisationsociale,etqui doit etrejaloux de consacrer au plutöt, dans une Republique une et indivisible, l'usage unique et invariable de la langue de la liberte ... Tout ce qu'on vient de dire appelle la conclusion que pour extirper tous les prejuges, developper toutes Zes verites, tous les talents, toutes les vertus, fondre tous les Citoyens dans la masse nationale, simplifier Ze mechanisme et faciliter le jeu 33 34 35

Ebd. a. a. 0., S. 182. a. a. 0., S. 207.

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de la machine politique, il faut identite de Langage [sie]. . . l'unite d'idiome est une partie integrante de la revolution .. .36 " Der Wille zur Einheitssprache verdichtet sich zu konkreten Maßnahmen. Die allgemeine Volksschule soll nicht nur Analphabetentum und Ignoranz bekämpfen, sondern auch der Nationalsprache zum Sieg verhelfen. Schon in der Assemblee Constituante hatte Talleyrand den Weg gewiesen: "Une singularite frappante de l'etat dont nous sommes affranchis, est sans doute que la langue nationale, qui chaque jour etendait ses conquetes au deld les limites de la France, soit restee au milieu de nous comme inaccessible d un si grand nombre de ses habitants, et que le premier lien de communication ait pu paraitre, pour plusieurs de nos confreres, une barriere insurmonfable . . . les ecoles primaires vont mettre fin d cette etrange inegalite: la langue de la Constitution et des lois y sera enseignee d tous; et cette foule de dialectes corrompus, dernier reste de la feodalite sera cantrainte de disparaitre .. .37." Nach mehrjährigen Debatten geht 1794 die Nationalversammlung endlich daran, eine staatliches Schulwesen mit der einen Nationalsprache als Unterrichtssprache für ganz Frankreich, vor allem aber für die fremdsprachigen Regionen einzurichten.

Die ausführliche Darstellung eines historischen Einzelfalles wäre kaum vertretbar gewesen, käme ihm nicht paradigmatische Bedeutung zu. Die ausgewählten Dokumente und gerade das unnachahmliche Pathos der Originaltexte sprechen für sich selbst. In solcher und ähnlicher Form haben die Ideen der Revolution nicht nur das politische Schicksal ganz Europas gestaltet, an ihnen hat sich allenthalben der Wille zu nationalstaatlicher Eigenständigkeit entzündet. Teils in Nachahmung des französischen Vorbildes, teils in bewußtem Gegensatz zu ihm sind Volksbegriffe und nationale Ideologien entwickelt worden, die sich je und je anderen Voraussetzungen und politischen Gegebenheiten anpaßten. Man sollte keinen Augenblick vergessen, daß das, was die Männer der deutschen Freiheitsbewegung, der tschechischen Wiedergeburt oder des italienischen Risorgimento über das Wesen des Volkes und der Nation sagten, nicht so sehr Ergebnis detachierter Objektivität und abstrakt verallgemeinernder Theorie gewesen ist und auch gar nicht so gedacht war. In ihren Reden und Schriften, auch in dem, was sich mit dem Nimbus der Wissenschaft umgab und damit deren Intersubjektivität und Allgemeingültigkeit für sich in Anspruch nahm, kam vor allem anderen ein im weitesten Sinn politischer Gestaltungswille zum Ausdruck, der nicht zögerte, Begriffe zurechtzubiegen und gelehrte Argumente in den Dienst der "Sache" zu stellen. Dort wo kein bereits bestehender Staat den Umfang der Nation, die zu seinem Träger gemacht werden sollte, mehr oder weniger greifbar vorgezeichnet hatte oder doch die Erinnerung an einen einmal bestandenen Staat nachwirkte, dort suchte man nach anderen Gemeinsamkeiae a. a. 0., S. 207 und S. 210. a. a. 0., S. 13.

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ten, an denen die Begriffsbildung anknüpfen konnte. Als Symbole der Einheit und gleichzeitig der Trennung bot sich mancherlei an: auffallende Gegebenheiten der Topographie, geschichtliche Reminiszenzen, Verwandtschaft bzw. Fremdheit der Sprache, religiöse Unterschiede, typische Sitten und Bräuche u. a. m. Da es weitgehend nicht um die bloße Feststellung gesellschaftlicher Realitäten ging, die sich ohne weiteres dem außenstehenden Beobachter aufgedrängt hätten, sondern um etwas erst zu Schaffendes (also, wie man bezeichnenderweise sagte, um die "Bildung", "Erweckung" oder "Wiedergeburt" von Völkern), konnte es nicht ausbleiben, daß je nach Standort und politischer Absicht ganz verschiedene und einander widersprechende Kriterien sowohl für deren pragmatische Bestimmung als auch für die wissenschaftliche Definition herangezogen wurden. Indem die gemeinsame Sprache als maßgebliches Unterscheidungsmerkmal verwendet wurde, erhielt die Idee der Nation einen allgemein verständlichen Realbezug, nämlich das Volk im Sinne von Ethnos. Das soll keineswegs besagen, daß in jedem konkreten Fall jede Bevölkerung, die als Nation definiert worden ist, realiter ein Ethnos darstellte oder auch nur ethnisch homogen gewesen wäre; sondern nur, daß die allgemeine Grundvorstellung des Ethnos dadurch besonders leicht aktiviert werden kann, daß man sich auf die gemeinsame Sprache beruft. Denn die Möglichkeit intimer und intensiver sprachlicher Verständigung ist nicht nur Voraussetzung für das Bestehen realer Sozialsysteme, auffallende Eigentümlichkeiten der Sprache eignen sich auch in hervorragendem Maße zur Symbolisierung von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen bzw. von Unterschieden zwischen benachbarten Völkern. Immer wieder ist auch von der Wissenschaft das Ethnos ausdrücklich oder stillschweigend mit der Gesamtheit jener gleichgesetzt worden, die dieselbeSprache sprechen. Lemberg stehtdurchaus nicht allein, wenn er letzten Endes unter Volk, zumindest dem Volk als Objekt "naiver, triebhafter" Gefühle, die Sprachgemeinschaft versteht38 • Gerade das Beispiel Frankreichs läßt aber erkennen, daß das französische Volk- wenn wir dabei an die geistige Einheitall jener denken, deren Muttersprache das Französische ist (ohne uns im Augenblick an den französisch sprechenden Bewohnern von Belgien, Kanada, Martinique, Haiti, dem Kongo oder Rwanda zu stoßen)- nicht Ausgangs- und 38 Vgl. Geschichte des Nationalismus in Europa. Stuttgart 1950, insbesondere S. 24 ff. und S. 152 ff. Diese Gleichsetzung von Ethnos und Sprachvolk findet sich auch noch in seinem neuesten Werk NationaUsmus (= Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Bd. 197 und 198). München 1964, Bd. I, S. 114 ff. et passim. Eine Auffassung, die im Anschluß an Herder bereits von Fichte vertreten und auf das Politische übertragen wird. Siehe Joh. G. Fichte: Reden an die Deutsche Nation. Harnburg 1955, Vierte Rede, S. 62 ff.

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Anknüpfungspunkt der nationalen Idee, sondern eher ihr Ergebnis ist. Anders als in Deutschland oder Osteuropa diente die Gemeinsamkeit der Sprache in Frankreich nicht so sehr der Legitimierung und Abgrenzung der Nation, sondern wurde bewußt und mit Erfolg als kulturpolitisches Instrument eingesetzt zur Herstellung und Sicherung der inneren Einheit, des politischen und des sozialen Zusammenhaltes der durch die Staatsgrenzen definierten französischen Nation. Der Fall Frankreichs steht keineswegs allein, wenn auch in anderen Fällen der Nachweis politischer Hintergründe für die Einführung einer lingua franca schwerer zu führen ist, dieja-wie das Lateinische in Ungarn oder das Englische in Zentralafrika - auch eine Fremdsprache sein kann und gar nicht auf einem der naheliegenden Volksdialekte aufzubauen braucht.

IV Primäre und sekundäre Minderheiten In diesem Aufsatz ist von Minderheiten als funktionierenden Sozialsystemen die Rede. Minderheitenkategorien, die auf der klassifikatorischen Zusammenfassung einer Anzahl von Menschen unter dem Gesichtspunkt der gemeinsamen Herkunft beruhen, ohne daß sie gleichzeitig in spezifischen Wechselwirkungen zueinander stehen, und das meist mehr sozialpsychologisch behandelte Problem der Diskriminierung und des Vorurteils bleiben von der Betrachtung ausgeschlossen. Wenn also im folgenden von Minderheiten gesprochen wird, sind Minderheitengruppen gemeint, d. h. soziale Gebilde vom Typus des Verbandes, deren Angehörige ihr aufeinander bezogenes Handeln an einem gemeinsamen normativen Leitbild orientieren. Bei den dergestalt spezifizierten Minderheiten besteht das Problem nicht darin, wie eine bestimmte Art des sozialen Verhaltens zustande kommt, das als ungerecht oder schädlich empfunden wird, um daraus Vorschläge für die Besserung zwischenmenschlicher Beziehungen ableiten zu können. Vielmehr richtet sich das Interesse bei der Analyse dieser Gattung sozialer Gebilde auf ihre Entstehungsweise, ihr Verhalten im Rahmen des gesellschaftlichen Ganzen und die Bedingungen ihrer Erhaltung, Umwandlung oder Auflösung. Auffallende Variationen im Verhalten von Minderheiten legen den Schluß nahe, daß es sich gar nicht um ein homogenes Phänomen handelt, sondern daß sich deutlich mehrere Arten von Minderheiten unterscheiden lassen. Vielfach wird zwischen völkischen bzw. nationalen, religiösen, rassischen und kulturellen Minderheiten unterschieden. Doch lehrt die Erfahrung, daß eine solche Klassifizierung keinem erkennbaren wissenschaftlichen Zweck zu dienen vermag. Typische Unterschiede im Verhalten von Minderheitengruppen lassen sich vielmehr nur dann erklären, wenn es gelingt, sie statt mit Hilfe von äußeren Merkmalen auf Grund konstitutiver Unterschiede zu differenzieren. Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Grundlagen für eine solche Klassifikation zu legen. Wir wollen uns dabei auf die Entstehungsweise von Minderheitengruppen beschränken, und nur die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten und in Kanada berücksichtigen. Allerdings glauben wir, daß sich dasselbe Schema mit entsprechenden Modifikationen auch auf Europa und namentlich auf die Entwicklungsländer anwenden läßt.

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Ganz allgemein gesprochen entstehen Minderheiten vorwiegend dann, wenn eine hinreichende Anzahl von Individuen' von einer Gesamtgesellschaft in eine andere übertragen wird. Manchmal erfolgt diese Übertragung im Wege von Wanderungsbewegungen. In anderen Fällen findet aber überhaupt keine Ortsveränderung statt, dann nämlich, wenn eine seßhafte Bevölkerung durch Verschiebung von Staatsgrenzen in eine Minderheit verwandelt wird. Die Art und Weise, wie die Situation der betroffenen Bevölkerung verändert wird, ist in beiden Fällen so verschieden, daß es überraschend wäre, wenn es sich um ein und dieselbe Gattung von Minderheitengruppen handeln würde. Außer dem Modus der Übertragung sind noch vier weitere Variable in Betracht zu ziehen, 1. die Eigenart der Bevölkerung, die übertragen wird, 2. der Typus ihrer Herkunftsgesellschaft und 3. der Typus der Wirtsgesellschaft, in die sie übertragen wird. Viertens spielt die in Herkunfts- und Wirtsgesellschaft vorherrschende politische Ordnung eine sehr wichtige Rolle. Zur Bildung echter Minderheiten kann es überhaupt nur unter den Bedingungen des modernen Nationalstaates kommen. In diesem Falle ist die "Mehrheit" identisch mit der als Nation konstituierten, im Staat politisch zusammengefaßten Gesamtgesellschaft. Minderheiten sind also Volksgruppen, die in einem bestimmten Verhältnis zur Gesamtgesellschaft stehen, in die sie eingeschlossen. sind. Dieses Verhältnis ist vor allen Dingen dadurch gekennzeichnet, daß die Mitglieder solcher Volksgruppen zwar grundsätzlich als gleichberechtigte Mitglieder der Gesamtgesellschaft gelten, jedoch faktisch nicht im gleichen Maße am Genuß sozialer Güter teilnehmen wie die übrigen Mitglieder der betreffenden Gesellschaft. Ihre tatsächliche Gleichstellung kann nur durch Aufgabe ihrer ethnischen Sonderart, d. h. durch Assimilation erreicht werden. Unter anderen Herrschaftsformen dagegen fehlen alle Voraussetzungen für die Bildung von Minderheitsverhältnissen. Wir haben uns oben des analytischen Begriffs des Reiches bedient, um die Bedingungen darzustellen, unter welchen eine Vielzahl eigenständiger Völker politisch zusammengefaßt werden kann, ohne daß es zu ihrer Vereinigung in einer einheitlichen Gesamtgesellschaft kommt2 • Wie wir bereits an anderer Stelle hervorhoben, gehört zu den Wesensmerkmalen des modernen Staates ein fest umgrenztes, in der Regel kontinuierliches Staatsgebiet sowie das Staatsvolk, d. h. die permanente Bevölkerung des Staatsgebietes. Die Staatsgesetze gelten grundsätz1 Die Bedingung der hinreichenden Größe bezieht sich auf die Tatsache, daß gesellschaftliche Untergliederungen ebenso wie Gesamtgesellschaften für ihr richtiges Funktionieren auf jedem wesentlichen Niveau ihrer Struktur eines gewissen Minimums an Mitgliedern bedürfen. Vgl. M. J. Levy: The Structure of Society. Princeton 1952, S. 149 ff., insbes. 152. 2 Vgl. Kap. 111, 4.

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lieh in gleicher Weise für die gesamte Staatsbevölkerung. In der Nation verkörpert sich der Gesamtwille der Staatsbürger, der den Staat und die Ausübung seiner souveränen Herrschaftsgewalt legitimiert. Staatsbürgerschaft wird im allgemeinen von der Zugehörigkeit zur permanenten Staatsbevölkerung abgeleitet. Obwohl nun die Indianer zweifellos zur Staatsbevölkerung der USA gehören und weder eine konkurrierende Staatsbürgerschaft besitzen, noch als staatenlos gelten können, war bis vor kurzem ihre Stellung in Staat und Gesellschaft eine ganz andere als die der übrigen Amerikaner. Die ideologische Rechtfertigung und die juristischen Hilfskonstruktionen, die zur Begründung dieses für einen modernen Rechtsstaat ungewöhnlichen Verhältnisses herangezogen worden sind, können hier außer acht gelassen werden. Soziologisch relevant ist die soziale Wirklichkeit, die den Prinzipien der nationalstaatliehen Ordnung tatsächlich nicht entspricht. Indem die Indianer als Mündel der Bundesregierung behandelt wurden, blieben sie aus der amerikanischen Nation ausgeschlossen und einem fremden politischen Willen unterworfen. Für permanente Bewohner des geschlossenen Staatsgebietes, die bestimmten ethnischen Gemeinschaften angehören, galt hier also ein ganz anderes Recht als für die übrige Staatsbevölkerung. Anstelle der Gleichheit aller Individuen vor dem Recht traten kollektive Sonderrechte, die sich übrigens nicht nur gegen, sondern auch zugunsten der Indianer ausgewirkt haben und insbesondere zur Erhaltung ihrer völkischen Eigenart beitrugen. Was demgegenüber die Situation der nichtfarbigen amerikanischen Minderheiten anlangt, so können wir davon ausgehen, daß die Wirtsgesellschaft im großen und ganzen dem Typus einer im Nationalstaat politisch zusammengefaßten Nation entspricht. Das gleiche gilt jedoch nicht hinsichtlich ihrer Herkunftsgesellschaften. Gewiß sind die meisten amerikanischen Einwanderer, die Minderheitengruppen gebildet haben, aus Ländern gekommen, die heute zum Gebiet von Nationalstaaten gehören. Das war aber zur Zeit ihrer Einwanderung nicht immer der Fall. Denn damals entsprach etwa die Österreichisch-Ungarische Monarchie eher dem Typus eines Reiches, das gerade im Begriff stand, sich in einen Nationalitätenstaat3 umzuformen. Sizilianer und Norditaliener hatten so wenig miteinander gemeinsam, daß man für die damalige Zeit kaum von einer einzigen Nation sprechen kann. Die"nationale" Einheit Polens war mehr Wunsch als Wirklichkeit, vor allem dann, wenn man die nationalstaatliche Vereinigung in den Vordergrund rückt. Außerdem ist zu bedenken, daß die meisten bäuerlichen Volkstümer, die die Mehrzahl der amerikanischen Immigranten stellten, innerlich überhaupt noch nicht irgendeiner "Nation" eingegliedert waren. Vielmehr hatten sie den Charakter von folk societies behalten. Als solche standen sie zwar unter der Kontrolle von Nationalstaaten oder von Gesellschaften, die im Begriffe waren, vollentwickelte Nationen zu bilden, doch stellten die Bauerngemeinden selbst noch relativ unabhängige, geschlossene und 3

Vgl. Kap. VII.

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autonome soziale Systeme dar. Wenn wir von der Herkunftsgesellschaft der Einwanderer sprechen, dürfen wir daher nicht an jene Nationen denken, denen wir sie heute zurechnen würden, sondern an die bäuerlichen Gemeinschaften, die den sozialen Charakter der Immigranten bis zum Zeitpunkt ihrer Übertragung in die amerikanische Wirtsgesellschaft geformt haben. Zudem kann bei einer sorgfältigeren Analyse der Prozesse, durch die sich Minderheitengruppen bilden, der Umstand der selektiven Migration nicht außer acht gelassen werden. So ist bekannt, daß viele der europäischen Auswanderergruppen, die nach Amerika kamen, gar nicht repräsentativ für die verschiedenen Völker gewesen sind, von denen sie abstammten. Vielmehr handelte es sich bei ihnen vorwiegend um Häusler, weichende Bauernsöhne, Taglöhnerund ländliches Proletariat. Endlich macht es einen großen Unterschied, ob eine Minderheit aus Individuen besteht, die einander in der alten Welt nicht kannten und die keine direkten sozialen Beziehungen miteinander hatten, bevor sie mit derWirtsgesellschaft in Kontakt kamen; oder ob eine ganze Volksgruppe als funktionierendes Sozialsystem neue Beziehungen mit der Wirtsgesellschaft aufnimmt unter gleichzeitigem Verlust der alten Beziehungen mit der Herkunftsgesellschaft Letzterer Fall ist natürlich typisch für die Bildung von Minderheitengruppen, die sich aus Eroberung oder friedlicher Annexion 4 ergibt, kann aber auch dann vorliegen, wenn eine ganze Volksgruppe im Wege einer Massenauswanderung von einem Land in ein anderes übertragen wird, ohne daß ihr ursprüngliches Sozialsystem wesentliche Veränderungen erfährt. Diese Gedankengänge legen eine allgemeinere Theorie über die Bildung von Minderheitengruppen nahe. Als Ausgangspunkt dient die Beobachtung, daß das Verhalten von Europäern, die während der Blütezeit transkontinentaler Wanderungsbewegungen um die Jahrhundertwende nach amerikanischen Städten zogen, gewisse auffallende Regelmäßigkeiten erkennen läßt. In allen diesen Fällen war die Wirtsgesellschaft dieselbe: die amerikanische Großstadt. Dagegen gehörten die Einwanderer selbst ganz verschiedenen Religionen und Nationen an und redeten ganz verschiedene Sprachen. Durchaus unabhängig davon, ob die Einwanderer Italiener, Polen, Tschechen, Ruthenen oder was sonst noch waren, zeigt jedoch ihr Verhalten auffallende Ähnlichkeiten. Sie alle bildeten schließlich abgesonderte ethnische Gemeinschaften, deren Entwicklungsgang denselben typischen Verlauf nahm. Mit geringen Abweichungen tendierten die europäischen Einwanderer verschiedener 4 Das Wort "Annexion" weist auf die Tatsache hin, daß die Wirtsgesellschaft ihre Herrschaft auf ein Gebiet zusammen mit dessen permanenter Bevölkerung ausgedehnt hat, die bisher mit der Herkunftsgesellschaft politisch verbunden gewesen waren.

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Herkunft dahin, sich zuerst in billigen Logierhäusern zu einem gemeinschaftlichen Leben zu vereinigen, dann sich ökologisch abzusondern und in bestimmten Wohnvierteln zusammenzuballen; Mischehen waren verpönt, Hilfsorganisationen und Nationalkirchen wurden gegründet; schließlich wurden große Dachverbände und eine eigene Presse geschaffen. Bei solchen Gruppen ergaben sich jedesmal die gleichen Spannungen in der zweiten Generation, die zu einer allmählichen Säkularisierung, Akkulturation an die amerikanische Großgesellschaft und teilweisen Assimilierung unter gleichzeitiger Beibehaltung einer differentiellen Klassenlage geführt haben. Während dies für die überwiegende Mehrheit der Emigranten ohne Rücksicht auf nationale Herkunft zutrifft, reagierten einige ihrer eigenen Landsleute völlig anders auf die neue Situation. Anstatt sich in isolierten ethnischen Gemeinschaften abzuschließen, haben letztere direkt ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft gefunden und sind schnell assimiliert worden. Diese Verhaltensunterschiede hatten wiederum nichts zu tun mit ihrer nationalen Herkunft. Es gab sowohl Italiener, Polen, Ruthenen, Deutschen, Iren usw., die Minderheitengruppen bildeten, als auch solche, die sich sofort in die amerikanische Gesellschaft einfügten, ohne den Zusammenschluß mit Landsleuten zu suchen. Der Unterschied in ihrem Verhalten hing nicht von ihrer Nationalität, sondern allem Anschein nach davon ab, ob ihre unmittelbare Herkunftsgesellschaft bäuerliche Dorfgemeinschaften gewesen waren oder ob sie aus europäischen Städten stammten, deren Sozialstruktur nicht wesentlich von derjenigen amerikanischer Städte ähnlicher Größenordnung abwich. Diese vorläufigen Beobachtungen legen folgende allgemeine Hypothesen nahe: 1. Wenn Mitglieder einer Herkunftsgesellschaft P als einzelne in eine Wirtsgesellschaft H tranferiert werden, die mit der Herkunftsgesellschaft P im Hinblick auf wichtige Strukturelemente isomorphisch ist, dann werden die transferierten Individuen dazu fähig sein, ihren Platz direkt in der Wirtsgesellschaft H einzunehmen, so daß sich keine Minderheitengruppe M bildet. 2. Wenn dagegen Mitglieder einer Herkunftsgesellschaft P als Individuen in eine Wirtsgesellschaft H übertragen werden, die im Hinblick auf diese Strukturelemente mit der Herkunftsgesellschaft P nicht isomorphisch ist, dann sind diese Individuen in der Regel nicht in der Lage, ihren Platz direkt in der Wirtsgesellschaft H einzunehmen. Sie werden deshalb dazu neigen, abgesonderte ethnische Gemeinschaften M zu bilden. In jedem Falle sind unter Herkunfts- und Wirtsgesellschaft nicht

Nationen und Großgesellschaften, sondern lokale bzw. regionale soziale

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Systeme zu verstehen, die jeweils in einer größeren nationalen Gesellschaft eingeschlossen sind und als deren Bestandteile funktionieren. Um die Gültigkeit dieser Hypothesen zu überprüfen, ist es notwendig, die formalen Elemente der Sozialstruktur genauer zu bestimmen, in bezug auf welche gesagt werden kann, daß eine Isomorphie zwischen zwei Strukturen vorliegt oder nicht. Die bekannte Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Bevölkerungen bietet sich als angemessener begrifflicher Bezugsrahmen an. Ch. P. Loomis und I. A. Beegle 5 haben den Versuch unternommen, eine Parallele zwischen den Begriffspaaren Stadt-Land und Gemeinschaft-Gesellschaft zu ziehen. Demgegenüber ist einzuwenden, daß derartige Modelle sich nur für jene Forschungszwecke eignen, für die sie entworfen worden sind. "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" beziehen sich in erster Linie auf typische Modi zwischenmenschlicher Beziehungen und auf typische Wertorientierungen, die diese Beziehungen bestimmen. Sie sind jedoch nicht brauchbar zur Beschreibung sozialer Systeme als solcher. So ist es z. B. ein Irrtum, Gemeinschaft mit dem ländlichen Milieu oder der folk society zu identifizieren und Gesellschaft mit dem städtischen Milieu bzw. der state civilization6 • Viele Schwierigkeiten, denen man bei der Anwendung solcher Idealtypen auf empirische Tatsachen begegnet, lassen sich darauf zurückführen, daß in diese Idealtypen mehrere nur scheinbar interdependente Faktoren eingebaut sind, die in Wirklichkeit unabhängig voneinander variieren. Daher bedarf es solcher Begriffe, die es möglich machen, bestimmte Klassen von Minderheiten durch die Kombination mehrerer Serien von Typen zu differenzieren. Für den vorliegenden Zweck genügt ein reichlich grobes Schema, wobei jeder Terminus durch ein Minimum an Eigenschaften definiert werden soll. Wir gehen von der Gegenüberstellung des ländlichen und städtischen Typus aus. Dabei soll als ländlich (R) ein bestimmtes Habitat von Teilen einer komplexen Gesellschaft bezeichnet werden, deren Lebensunterhalt direkt aus der Landwirtschaft oder verwandten wirtschaftlichen Tätigkeiten, wie z. B. der Fischerei, bzw. aus diesen ergänzenden Beschäftigungen stammt. Als städtisch (U) soll dagegen ein bestimmtes Habitat von Bevölkerungsteilen bezeichnet werden, die eine Vielzahl von nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigungen, vor allem im sekundären und tertiären Wirtschaftssektor ausüben, also in Handel, Industrie, Dienstleistungen. Der Ausdruck "komplexe Gesellschaft" bezieht sich auf eine GesamtgesellRural Social Systems. New York 1950. Der Idealtypus "state civilization" wurde von Alvin Boskoff formuliert. Vgl. Structure, Function, and Folk Society; in: American Sociological Review 14 (1949), S. 749-758. 5

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schaft, in der die verschiedensten untergeordneten Verbände dadurch zu einem funktionierenden sozialen System zusammengeiaßt sind, daß für Verhaltensnormen Vorsorge getroffen ist, die in formelle Gesetze gefaßt und dazu bestimmt sind, Interaktionen zwischen den heterogenen Untergliederungen so zu regeln, daß deren friedliche Kooperation gewährleistet bleibt. Diese Ordnung wird durch besondere Funktionäre aufrechterhalten, die hinreichende Autorität und Macht besitzen, um die Einhaltung der Normen durch äußere Sanktionen zu erzwingen. Neben einem begrenzten Sektor allgemeiner Zielvorstellungen und Werte, die allen Mitgliedern der komplexen Gesellschaft gemeinsam sind, steht jedoch den Individuen und untergeordneten Verbänden ein weites Feld von Alternativen offen. Eine weitere Unterscheidung soll getroffen werden zwischen dem Solidaristischen (S) und dem individualistischen (I) Typus der Vergesellschaftung. Wir sprechen von einem individualistischen Typus dann, wenn das Individuum für sich selbst, aber von einem solidaristischen, wenn es als integrierter Bestandteil eines sozialen Gebildes handelt. In einem Solidaristischen Gebilde ist soziales Handeln charakteristischerweise auf die Erhaltung, das Prestige, bzw. die Macht des Gebildes ausgerichtet, das als Schicksalsgemeinschaft aufgefaßt wird. Dabei sind die Verpflichtungen der einzelnen Mitglieder unspezifiziert und unbegrenzt. In einem individualistischen Gebilde dagegen ist soziales Handeln charakteristischerweise am Eigeninteresse, vor allem an hedonistischen Werten orientiert. Die sozialen Beziehungen sind vertraglich und im Sinne zweckhaften Denkens geregelt. Nach diesem Paradigma lassen sich die zwei typischen Fälle europäischer Einwanderer in amerikanische Städte, von denen wir vorhin sprachen, auf folgende Weise erklären. Nehmen wir zuerst den Fall, bei dem Herkunfts- und Wirtsgesellschaft nicht isomorphisch sind. War die Herkunftsgesellschaft ein Bauerndorf vom ländlich-solidaristischen Typus (R, S), dann wird es einem einzelnen Einwanderer schwerfallen, die sozialen Situationen richtig zu definieren, die ihm in einer Wirtsgesellschaft vom städtisch-individualistischen Typus (U, I) entgegentreten. Während er unfähg ist, vertraute Verhaltensnormen und eine solidaristische Wertorientierung in seinen Beziehungen zu Mitgliedern der Wirtsgesellschaft anzuwenden, besteht eine Affinität mit anderen, ihm bisher unbekannten Einwanderern, die dieselbe ländlich-solidaristische Herkunft wie er selbst aufweisen. Daher werden Einwanderer gleicher Herkunft dazu neigen, eine vertrautere soziale Situation herzustellen, indem sie örtliche Gemeinschaften bilden, die - obwohl gezwungener Weise städtisch- dennoch die solidaristischen Wesenszüge eines Bauerndorfes präservieren, so daß eine örtliche Untergliederung vom städtisch-solidaristischen Typus (U, S) entsteht. g Franc!•

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Im anderen Fall sind bei Emigranten, die nach amerikanischen Städten auswandern, sowohl Herkunfts- als auch Wirtsgesellschaft von demselben individualistischen Typus und daher isomorphisch. Demgemäß wird der einzelne Einwanderer in der Lage sein, seine Rolle in der neuen Situation nach vertrauten Regeln zu definieren. Ein Einverständnis über angemessenes Verhalten und richtige Wertorientierungen kann leichter zwischen Fremden und Einheimischen hergestellt werden, weil ihr soziales Erbe, obwohl in gewisser Hinsicht verschiedenartig, dennoch isomorphisch ist im Hinblick auf die wesentlichen Elemente der sozialen Ordnung. Solche Emigranten werden keine ethnischen Gemeinschaften bilden, da kein Bedürfnis nach Absonderung besteht, während gleichzeitig der gruppenbildende Faktor des Solidarismus in ihrem persönlichen Wertsystem fehlt. Das gleiche Schema ist auch anwendbar auf die Einwanderung in ländliche Gebiete. Die Mehrzahl nord- und westeuropäischer Bauern, die sich im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten niedergelassen haben, stammten aus Herkunftsgesellschaften, die von demselben ländlichen individualistischen Typus wie die amerikanische Wirtsgesellschaft in diesem bestimmten Gebiet, also isomorphisch waren. Daher sind solche Einwanderer rascher von der amerikanischen Gesellschaft absorbiert worden, als dies bei den bäuerlichen Einwanderern aus Ostund Südeuropa nach amerikanischen Städten der Fall gewesen war. Allerdings sind ländliche Gemeinden selten, bei denen der S-Faktor vollständig fehlt. Dies trifft besonders auf die Zeit zu, während der die Einwanderung großen Stils in die amerikanischen ländlichen Gebiete des Mittelwestens erfolgt ist. Daher zeigt das Verhalten der ländlichen Einwanderer im Hinblick auf die Bildung und den inneren Zusammenhalt von Minderheitensiedlungen eine gewisse Ambivalenz. Dem kann unser Schema trotzdem Rechnung tragen, indem der Begriff einer ländlichen Gesellschaft eingeführt wird, die sowohl individualistische (I) als auch solidaristische (S) Züge aufweist, wobei entweder der I- oder der S-Faktor überwiegt. Wir kommen dann zu dem folgenden Schluß: Wenn die Wirtsgesellschaft ländlich und überwiegend individualistisch (R[IIS]) ist, während die Herkunftsgesellschaft ländlich und vorwiegend solidaristisch (R[S/I]) ist und umgekehrt, dann sind Herkunfts- und Wirtsgesellschaft nicht isomorphisch im Hinblick auf entscheidende Elemente der sozialen Ordnung. Dementsprechend werden die einzelnen Einwanderer nach ihrer Übertragung in die Wirtsgesellschaft dahin tendieren, ethnische Gemeinschaften vom ländlichen und vorwiegend solidaristischen Typus (R[S/I]) zu bilden. Ebenso werden Bauern, die aus einer Herkunftsgesellschaft vom rein ländlichen-solidaristischen Typus (R, S) in eine Wirtsgesellschaft vom städtisch-individualistischen (U, I) oder vom länd-

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liehen und vorwiegend individualistischen Typus (R[IIS]) übertragen werden, ethnische Gemeinschaften vom solidaristischen Typus bilden, und zwar entweder städtische Gemeinschaften dieses Typs (U,S) oder ländliche Gemeinschaften dieses Typs (R,S). Noch ein anderer Unterschied zwischen der Situation in einem typisch ländlichen und in einem typisch städtischen Milieu verlangt unsere Aufmerksamkeit. Ökologische Prozesse treten nur unter der Bedingung freier horizontaler Mobilität von Individuen in Erscheinung, so wie sie tatsächlich zu einem erheblichen Ausmaß in amerikanischen Städten während jener Periode bestanden hat, mit der wir uns hier beschäftigen. Mit Ausnahme von zu Arbeitsgruppen zusammengeschlossenen Landarbeitern können Einwanderer in Landgebiete nur dann ethnische Gemeinschaften bilden, wenn ihnen ein entsprechend großes und zusammenhängendes Stück Land zur Verfügung steht. Häufig sind Niederlassungen ländlicher Einwanderer derselben Nationalität aufgrund willkürlicher Planung entstanden. Wenn solche Gemeinden einmal geschaffen sind, die entweder vom ländlich-solidaristischen oder vom ländlich-individualistischen Typus sein können, so werden sie dauerhafter sein als ähnliche städtische Gemeinschaften, selbst wenn der S-Faktor schwach entwickelt ist oder sogar fehlt; denn die Mobilität ländlicher Bevölkerungen (wiederum mit Ausnahme von Landarbeitern) ist im allgemeinen beschränkt infolge der größeren Schwierigkeiten, die mit dem Verkauf von Landbesitz und der wirtschaftlichen Etablierung an einem anderen Ort verbunden sind. Dies sind störende Faktoren, die die allgemeine Regel teilweise außer Kraft setzen, daß die Tendenz, Solidaristische ländliche Niederlassungen zu bilden, je nach dem Vorhandensein oder Fehlen eines Isomorphismus zwischen Herkunfts- und Wirtsgesellschaft in bezugauf die unterschiedliche Intensität des S- Faktors variieren wird. Bis zu diesem Punkt haben wir uns mit der Bildung von sozialen Untergliederungen beschäftigt, die wir sekundäre Minderheitengruppen nennen wollen. Wie aus unserer Analyse hervorgeht, ist eine sekundäre Minderheitengruppe nicht einfach ein Abbild der Herkunftsgesellschaft, sondern stellt ein neuartiges soziales Gebilde dar, das als Reaktion auf eine unvertraute Situation entsteht. Eine sekundäre Minderheitengruppe bleibt in hohem Ausmaß segmental, insofern, als sie keinen Anspruch auf die ganze Persönlichkeit jedes ihrer Mitglieder erhebt, die ja gleichzeitig sowohl an der ethnischen Gemeinschaft als auch an den größeren Sozialsystemen der Wirtsgesellschaft teilnehmen. Diese Art von Minderheitengruppen unterscheidet sich scharf von jenen, die wir als primäre Minderheitengruppen bezeichnen wollen. Um den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Typen herauszustellen, wollen wir die Bedingungen, unter denen die Wanderungsbewegung erfolgt, g•

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konstant halten und zeigen, daß dieselben Bedingungen nicht nur zur Bildung sekundärer, sondern auch primärer Minderheitengruppen führen können. Nur in relativ wenigen Fällen ist es vorgekommen, daß ein Teil einer bäuerlichen Gesellschaft kollektiv in ein unbesiedeltes Gebiet eines anderen Landes auswandert, wie dies etwa bei den rußlanddeutschen Mennoniten der Fall gewesen ist. Bleibt eine solche Gruppe ungestört, so tendiert sie dahin, die traditionellen gesellschaftlichen Formen der Herkunftsgesellschaft getreu nachzubilden. In einem solchen Fall bleiben die Beziehungen der Mitglieder der Minderheit mit der Wirtsgesellschaft im großen und ganzen auf Wirtschaft, Recht und Politik beschränkt. Der S-Faktor, der durch die kollektive Übertragung und den Kontakt mit einem unvertrauten sozialen Milieu nur verstärkt worden war, wird durch die Wanderungsbewegung nicht unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen, selbst wenn später die Isolierung aufgehoben wird und zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Mitgliedern der Minderheit und der Wirtsgesellschaft intensiviert und ausgedehnt werden. Vielmehr wird die Anpassung an die neuen Verhältnisse von der Gruppe als ganzer vollzogen, so daß neue, im Wege der Akkulturation erworbene Handlungsmuster als Teil der eigenen Kultur perzipiert und akzeptiert werden. Statt daß die Akkulturation zur Assimilation und zum Verlust von Mitgliedern an die Wirtsgesellschaft führt, verstärkt sie eher die Chance der Minderheitengruppe, sich als deutlich unterscheidbare lokale Untergliederung innerhalb der komplexen Wirtsgesellschaft zu erhalten. In diesem Fall bezieht sich der Isomorphismus zwischen Herkunfts- und Wirtsgesellschaft (der es der Einwanderungsgruppe erlaubt, in der neuen Situation auf dieselbe Weise zu funktionieren wie in der alten) auf die rechtliche, politische, soziale und wirtschaftliche Stellung, die ihr - wenigstens zeitweilig von der Wirtsgesellschaft eingeräumt wird, in die sie eingeschlossen ist. Häufiger werden allerdings primäre Minderheitengruppen durch Veränderungen von Staatsgrenzen gebildet, wobei es gleichgültig ist, ob diese Veränderungen auf Eroberung, Vertrag, Verkauf oder dynastische Erbfolge zurückzuführen sind. Entscheidend ist vielmehr immer der Umstand, daß eine neue Beziehung zwischen zwei funktionierenden sozialen Systemen durch Annexion eines Teiles der Gebietsbevölkerung des einen hergestellt wird. Denken wir zunächst an Fälle, die etwa durch die amerikanischen Indianer exemplifiziert werden. Jedesmal wenn ein Staat seine Herrschaft auf einen primitiven Volksstamm ausdehnt, schafft er eine Reihe von Normen, durch die die Beziehungen zwischen dem betreffenden Stamm und dem Staatsvolk geregelt sind. Ist die Herrschaft auf dieses notwendige Mininum beschränkt, dann werden die sozialen Beziehungen innerhalb des Volksstammes kaum berührt. Im

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modernen Nationalstaat jedoch dehnt sich der Einfluß des Staates auf immer weitere Gebiete des sozialen und kulturellen Lebens aus; überdies wird die ganze Staatsbevölkerung unter gleiches Recht gestellt. Dadurch wird Isolierung und Geschlossenheit der Volksgruppe zerstört, ihre Mitglieder werden gezwungen, sich an zwei miteinander unvereinbarliehen Sozialsystemen zu beteiligen. Solche Veränderungen, die den typischen Charakter eines primitiven Volksstammes in Mitleidenschaft ziehen, können zur Desorganisation der Volksgruppe in einem solchen Ausmaß führen, daß sie von einer primären in eine sekundäre Minderheitengruppe umgewandelt wird. Eine Indianerreservation mit ihrer Sonderverwaltung kann entweder dazu dienen, die Volksgruppe vor dem Zusammenbruch zu bewahren oder den Verfallsprozeß zu beschleunigen. Sowohl im einen wie im anderen Falle ist die Bevölkerung einer solchen Reservation auf ähnliche Weise aus der Nation ausgeschlossen, wie die Eingeborenenbevölkerung einer überseeischen Kolonie. Obwohl der Fall eines annektierten Naturvolkes in mehr als einer Hinsicht dem vorher diskutierten Fall einer bäuerlichen Auswanderergruppe ähnelt, besteht doch ein bemerkenswerter Unterschied. Eine folk society ist immer auf eine komplexere Gesellschaft hin geordnet, deren integralen Bestandteil sie bildet und ohne die sie nicht bestehen könnte. Die folk society besitzt nicht nur Normen, die die sozialen Beziehungen innerhalb der Gruppe regeln, sondern zusätzlich einen Normenkodex, der die Beziehungen ihrer eigenen Mitglieder zu Mitgliedern anderer, in die Großgesellschaft eingeschlossenen Untergliederungen regelt. Sobald eine bäuerliche Gruppe von einem Land ins andere wandert oder durch einen fremden Staat annektiert wird, sieht sie sich veranlaßt, die Beziehungen zur Wirtsgesellschaft in Analogie zu den Beziehungen zu definieren, die zwischen ihr und der Herkunftsgesellschaft einmal bestanden hatten. Dagegen beziehen sich die traditionellen Normen eines primitiven Volksstammes nur auf weit einfachere Situationen des interethnischen Verkehrs zwischen verschiedenen autonomen Stämmen; dementsprechend bieten sie keine Handhabe für die Bewältigung von komplizierteren Beziehungen zwischen Personen und zwischen Gruppen, die immer dann auftreten, wenn mehrere heterogene Untergliederungen zu einem so komplexen Sozialsystem verbunden werden, wie es eine moderne Nation darstellt. Im letzteren Fall besteht kein Isomorphismus zwischen dem losen Sozialzusammenhang mehrerer Naturvölker einerseits, innerhalb dessen der Indianerstamm ursprünglich funktioniert hat, und der komplexen Nationalgesellschaft andererseits, in der nunmehr die Minderheit funktionieren soll. Wir kommen daher zu dem Schluß: Isomorphismus zwischen Herkunfts- und Wirtsgesellschaft ten-

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diert dahin, die Wahrscheinlichkeit der Bildung einer sekundären Minderheitengruppe zu vermindern und die Chance einer primären Minderheitengruppe zu erhöhen, sich als funktionierendes Sozialsystem aufrechtzuerhalten, und umgekehrt. Ein dritter Typus von primären Minderheiten wird nicht nur durch die Nationalitäten Europas repräsentiert, sondern in Amerika auch durch die französischen Kanadier und die Spanier von Neumexiko. Solche Gruppen bilden sich, wenn eine komplexe Nationalgesellschaft ihre Herrschaft auf eine Bevölkerung ausdehnt, die nicht nur folk societies und bäuerliche Gemeinschaften in sich einschließt, sondern selbst eine komplexe Nationalgesellschaft oder einen regional definierten Teil einer solchen Nation darstellen. Allerdings genügt das vorliegende Paradigma nicht, um diesen Fall zu erklären. Vielmehr wäre es notwendig, eine neue Variable einzuführen, nämlich die Rolle der Intelligenz und der von ihr propagierten nationalen Idee; beides dient den Aspirationen von Eliten, die in dieser Form in isolierten folk societies und bäuerlichen Gemeinschaften nicht vorkommen. Indem wir die Ordnung umkehren, die wir aus heuristischen Gründen bisher eingehalten haben, gelangen wir zu den folgenden Typen von Minderheiten im Hinblick auf ihre Entstehungsweise, ohne daß ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden könnte: I. Primäre Minderheitengruppen bilden sich auf folgende Weise: 1. Ein primitiver Volksstamm wird in eine komplexe Wirtsgesellschaft vom Typus der Nation im Wege der Annexion eines zusammenhängenden Gebietes transferiert (typischer Fall: Indianerstämme in Amerika). 2. Eine bäuerliche Volksgruppe wird aus einer komplexen Herkunftsgesellschaft in eine komplexe Wirtsgesellschaft vom Typus der Nation übertragen, und zwar a) im Wege der Annexion eines zusammenhängenden Territoriums. Eine solche Situation tritt ein, wenn z. B. das Gebiet nach seiner Annexion von der führenden Elite verlassen wird, so daß nur einheimische bäuerliche Gemeinschaften vom Typ der folk society zurückbleiben. Annäherungsweise wird dieser Typus in Nordamerika vertreten durch die Situation, die einmal in Französisch-Kanada, in Landgebieten von Französisch-Louisiana und in gewissen spanischen Gegenden von Colorado und California bestanden hat. b) im Wege kollektiver Wanderungsbewegungen ganzer Volksgruppen (typischer Fall: die rußlanddeutschen Mennoniten in Manitoba).

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3. Eine komplexe Gesellschaft oder ein großer Teil einer solchen Gesellschaft wird in eine komplexe Wirtsgesellschaft vom Typus der Nation übertragen (typischer Fall: die europäischen Nationalitäten). Il. Sekundäre Minderheitengruppen können sich auf folgende Weise bilden: 1. Eine hinreichende Anzahl von Individuen wird von einer länd-

lichen solidaristischen Herkunftsgesellschaft in eine städtische individualistische Wirtsgesellschaft übertragen (typischer Fall: die polnischen Bauern in Amerika, wie sie von Thomas und Znaniecki geschildert worden sind).

2. Eine hinreichende Zahl von Individuen wird aus einer ländlichen Herkunftsgesellschaft in eine ländliche Wirtsgesellschaft übertragen, die sich voneinander wesentlich unterscheiden hinsichtlich der relativen Intensität des S-Faktors im Vergleich zum I-Faktor (typischer Fall: die ländlichen ethnischen Niederlassungen im amerikanischen Mittelwesten). Zur Verdeutlichung der verschiedenen im Laufe unserer Diskussion gewonnenen Typen von Minderheiten dient die folgende Symbolisierung:

TeiL A: Symbole Gesellschaft (symbolisiert durch A, B): ein funktionierendes System sozialer Handlungen, das autark ist, eine relative Unabhängigkeit, von äußeren Einflüssen besitzt und gegenüber anderen Gesellschaften relativ abgeschlossen bleibt. Subgruppe (symbolisiert durch A 1, B 1): ein soziales System, das innerhalb der Gesellschaft A, B funktioniert; bezeichnend für eine Subgruppe ist die Abhängigkeit von der umgebenden Gesellschaft. (A): ein lose gegliedertes Supersystem, das mehrere Gesellschaften umschließt.

Ä 1 : Funktion von A 1 innerhalb von A

A: Minderheit a 1, a' 1, a" 1 , •.• : Mitglieder von A 1 bl> b' 1, b" 1 , ... : Mitglieder von B 1 ä 1 : Funktion von a 1 in A 1 b1 : Funktion von b 1 in B 1

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R: Das ländliche Habitat von Segmenten einer komplexen Gesellschaft, die ihren Lebensunterhalt direkt oder indirekt aus dem Agrarsektor beziehen. U: Das städtische Habitat von Bevölkerungsteilen, die in zahlreichen nicht-agrarischen Berufen, vor allem in öffentlichen Diensten, im Handel und in der Industrie tätig sind. S: Soziales Handeln, das typischerweise auf gruppenorientierte Werte gerichtet ist; die sozialen Verpflichtungen der Mitglieder sind unspezifiziert und von unbestimmter Anzahl. I: Soziales Handeln, das typischerweise auf Ich-bezogene Werte gerichtet ist; vertragliche Beziehungen sowie Zweckdenken kennzeichnen diesen Typus. P: Herkunftsgesellschaft H: Wirtsgesellschaft isomorph mit nicht isomorph mit --4

:

wird übertragen nach impliziert daher

Teil B: Formalisierung Fall I: A1 .= B1 a 1 wird in B 1 integriert =9 es entsteht keine Minderheit

e,

Fall II:

(sekundäre Minderheiten) A 1