Kultur und Ethnos: Zur Kritik der bürgerlichen Auffassungen über die Rolle der Kultur in Geschichte und Gesellschaft [Reprint 2021 ed.] 9783112480304, 9783112480298


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Kultur und Ethnos: Zur Kritik der bürgerlichen Auffassungen über die Rolle der Kultur in Geschichte und Gesellschaft [Reprint 2021 ed.]
 9783112480304, 9783112480298

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Kultur und Ethnos

A K A D E M I E DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR GESCHICHTE

Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte

BAND 68

Kultur und Ethnos Zur Kritik der bürgerlichen Auffassungen über die Rolle der Kultur in Geschichte und Gesellschaft

H e r a u s g e g e b e n v o n BERNHARD WEISSEL

AKADEMIE-VERLAG 1980



BERLIN

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 0 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lektorin: Hildegard Palm Korrektor: Gottfried Hemp © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenznummer: 202 • 100/151/80 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg Bestellnummer: 753 733 1 (2034/68) • LSV 0705 Printed in G D R DDR 2 8 , - M

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

7

Julian Vladimirovic Bromlej Zur Frage nach dem Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie - Versuch einer vergleichenden Analyse der angloamerikanischen und der sowjetischen Standpunkte

23

Julija Pavlovna Petrova-Averkieva Der Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der USA

39

Irmgard Sellnow Zur Rolle und Bedeutung psychologischer Theorien in der Ethnographie . . . .

59

Sergej Aleksanderovic Tokarev Kritik der strukturalistischen Methode von Claude Lévi-Strauss

75

Ursula Schienther Die Ethnographie in der BRD und ihr Verhältnis zur Geschichtswissenschaft, zur Kulturgeschichte und Soziologie

87

Bernhard Weißel Zur Stellung und Rolle der kulturanthropologischen Orientierung in der BRDVolkskunde

101

Eduard L'vovic Nitoburg Hauptrichtungen in der amerikanischen bürgerlichen wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart über das Negerproblem in den USA^

119

Lev Evgen'evic Kubbel' Die wichtigsten Tendenzen bei der Behandlung der vorkolonialen politischen Strukturen Afrikas in der westeuropäischen Ethnologie

139

Jürgen Herzog Der Einfluß der „politischen Soziologie" auf die bürgerliche Ethnographie - die Konflikttheorie in der englischsprachigen Afrika-Anthropologie

157

6

Inhaltsverzeichnis

Dietrich Treide Die „ökonomische Anthropologie" und ihre Haltung zum Marxismus-Leninismus

177

Solomon Il'ic Bruk Ethnodemographische Probleme in der Welt nach 1945 und ihre Interpretation in der bürgerlichen Wissenschaft

203

Tibor Bodrogi Grundzüge der Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

219

Brigitte Emmrich Zu einigen Arbeiten der bürgerlichen Volksliedforschung in der BRD. Ein kriti-^ scher Literaturbericht zum deutschen Volkslied nach 1789 227 Konrad Irmschler Zur Übernahme von Fragestellungen einer „historischen Anthropologie" durch die bürgerliche Geschichtswissenschaft der BRD

233

Rudolf Quietzsch Arbeit und Gerät der Bauern in der bürgerlichen Volkskundeforschung der BRD

237

Hans-Jürgen Räch Bemerkungen zu Wolfgang Emmerichs Buch „Proletarische Lebensläufe" . . . . Helmut Reim Zu den theoretischen und methodischen Positionen des Culture Area-Konzepts Ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs zur „kulturellen Ökologie" J. H. Stewards Mihäly Särkäny Leslie White und die Revolution der Kultur

245

251 263

Bernd Schöne Zur Widerspiegelung der „Industriegesellschaftstheorie" in der bürgerlichen volkskundlichen und sozialgeschichtlichen Literatur der BRD

275

Peter Schuppan Wandlungen bürgerlicher Kulturgeschichtsauffassungen in der BRD der sechziger Jahre

283

Erich Stockmann Bemerkungen zur bürgerlichen Volksliedforschung

291

Rudolf Weinhold Zur Position der sogenannten historisch-archivalischen Richtung in der BRDVolkskunde

295

Autorenverzeichnis .

299

.

Vorwort

I Mit diesem Band legen Volks- und Völkerkundler der D D R erstmalig in einer speziell dieser Thematik gewidmeten Publikation Arbeitsergebnisse zur Auseinandersetzung mit ^Hauptrichtungen der bürgerlichen Ideologie in der Ethnographie kapitalistischer Länder vor. Es sind die für den Druck überarbeiteten und autorisierten Fassungen der Referate und einer Auswahl von Diskussionsbeiträgen, die auf einem in Zusammenarbeit mit der Historikergesellschaft der D D R vom Zenträlinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R und dem Institut für Ethnographie „Miklucho-Maklaj" bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR veranstalteten Symposium vom 2. bis 4. November 1976 im Museum für Völkerkunde in Leipzig gehalten wurden.1 Damit wurde erstmals auch ein größerer Teilnehmerkreis, zu dem neben Ethnographen auch Museologen und Vertreter benachbarter Disziplinen gehörten, mit wichtigen Zielen und Aufgaben der Ethnographie bekanntgemacht. Wie andere Gesellschaftswissenschaftler der D D R , so werten auch die Ethnographen, entsprechend der traditionellen Gliederung in der D D R als Volks- und Völkerkundler tätig, die Auseinandersetzung mit bürgerlichen Wissenschaftskonzeptionen als einen wesentlichen Bestandteil ihrer Arbeit zur weiteren Ausprägung des marxistisch-leninistischen Forschungsprofils ihrer Disziplin. Wertvolle Hilfe erfuhren sie von ihren sowjetischen Kollegen. In kameradschaftlicher Zusammenarbeit wurden Plan und Konzeption erarbeitet. Die Teilnehmer der sowjetischen Delegation vermittelten uneigennützig ihre Erkenntnisse und Erfahrungen, die sie auf diesem Gebiet in jahrzehntelanger Arbeit erworben haben. Es mag erlaubt sein, bei dieser Gelegenheit wenigstens zwei Arbeiten namentlich anzuführen, zumal sie in der D D R , vermittelt durch Rezensionen, einem interessierten Leserkreis vorgestellt wurden: fitnologiceskie issledovanija za rubezom. Kriticeskie ocerki, Moskau 1973 - rezensiert von I. Sellnow in Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 1975, S. 208-213, und Koncepcii zarubeznoj etnologii. Kriticeskie etjudi, Moskau 1976, rezensiert von B. Weißel, im gleichen Jahrbuch von 1978, S. 207-211. Das war eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen des Symposiums. Sie 1

Nicht alle hier abgedruckten Diskussionsbeiträge kamen auf dem Symposium zum Vortrag. Auf die Aufnahme einiger anderer vorbereiteter Diskussionsbeiträge mußte hier aus Platzgründen verzichtet werden.

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B. WEISSEL

ermunterte die Ethnographen der DDR, nun auch ihrerseits ihre Arbeitsergebnisse der Diskussion in einem größeren Forum zu unterbreiten. Der Plan der Veranstaltung sah insofern eine Arbeitsteilung vor, als sich die Vertreter der sowjetischen Ethnographie in ihren Ausführungen besonders auf die kritische Analyse der Konzeptionen der angelsächsischen Kulturanthropologie konzentrierten, während sich die Referenten aus der DDR neben Beiträgen zur allgemeinen Theorie und Methodologie in der bürgerlichen Ethnographie insbesondere der Einschätzung wissenschaftsgeschichtlich neuer Trends in der Volks- und Völkerkunde in der BRD zuwandten. Ergänzende Beiträge zur Kritik des bürgerlichen Strukturalismus wurden von einem sowjetischen und ungarischen Ethnographen gehalten. Ein weiterer Beitrag eines ungarischen Vertreters war der Analyse der kulturologischen Theorie des bekannten amerikanischen Ethnographen J. Steward gewidmet. Ein tschechischer Beitrag gab Einblicke in die Aufgaben und Problemstellungen des Kampfes der Ethnographie der CSSR gegen den Revanchismus der sogenannten Vertriebenen-Volkskunde in der BRD. Als Fazit des Symposiums kann festgehalten werden, daß die wesentlichen Ziele, die sich die Veranstalter gestellt hatten, voll erreicht wurden. So wurde das Informationsbedürfnis der Teilnehmer erfüllt, wobei davon ausgegangen werden mußte, daß vielen die inzwischen erzielten Ergebnisse in ihrer ganzen Breite vorher nicht bekannt waren. Erfeulich aber war, daß die zahlreichen Teilnehmer in zentrale Probleme der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie aktiv in die Diskussion einbezogen werden konnten. Daß sich von insgesamt 116 Teilnehmern 38 in 91 Beiträgen und Anfragen zu Wort meldeten, bezeugt das lebendige Interesse, das die Teilnehmer dem Verlauf der Beratung entgegenbrachten. Daß sie sich in Anfragen und Bemerkungen zu Wort meldeten und in einzelnen Diskussionsbeiträgen Vertreter benachbarter Disziplinen auf parallele oder ähnliche Entwicklungen im Bereich der Theorie und Methodologie ihrer Fachdisziplinen in kapitalistischen Ländern hinwiesen, unterstreicht das starke Interesse, das dem Thema des Kolloquiums über die Kreise der Ethnographen hinaus entgegengebracht wurde. Es machte aber auch deutlich, was als Anregung und Forderung mehrfach auch artikuliert wurde, daß nämlich der Ausbau der interdisziplinären Kooperation die conditio sine qua non auf dem Wege zu weiteren, wesentlichen Fortschritten darstellt, gilt es doch, mit der weiteren Qualifizierung der Kritik zugleich das theoretisch-methodologische Fundament der eigenen Disziplin entsprechend den aktuellen wissenschaftshistorischen Anforderungen weiter auszugestalten. Es kann nicht Aufgabe dieser einführenden Bemerkungen sein, die Ergebnisse des Symposiums im einzelnen detailliert einzuschätzen. Noch weniger ist an eine kritische Würdigung der einzelnen Beiträge gedacht. Sie bleibt dem Leser vorbehalten, der sich auf Grund der Lektüre selbst ein Urteil über die Konzeption und den wissenschaftlichen Wert der Publikation bilden wird. Ihm soll weder vorgegriffen noch soll er beeinflußt werden. Im folgenden soll nur auf einige Leitlinien hingewiesen werden, die auch den Rahmen für die Beurteilung der vorliegenden Publikation abgeben könnten und vom Leser in Betracht gezogen werden sollten. Wenn hier einiges, was in den Beratungen diskutiert

Vorwort

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wurde, hervorgehoben, anderes jedoch nicht nochmals ausdrücklich erwähnt wird, so liegt dem keine Wertung zugrunde. Diese wäre schon deshalb nicht möglich, weil viele fruchtbare und weiterführende Gedanken erstmals in Form von Fragen vorgetragen wurden, für die nach dem Stand der Forschung noch keine gesicherte Antwort gegeben werden kann. In einer Disziplin mit einem so weiten Gegenstandsbereich wie die Ethnographie und einer so großen Zahl ihrer Schulen, Richtungen und Traditionen in den kapitalistischen Ländern konnten den Teilnehmern freilich nur Ausschnitte geboten werden. Nach welchen Prinzipien erfolgte aber die Auswahl? Was erschien der näheren Beleuchtung wert, und was mußte unter den gegebenen Umständen entfallen? Als erstes, und das gilt für beide Partner ebenso wie für die Gäste des Symposiums, war der erreichte Forschungsstand zugrunde zu legen, galt es doch, Ergebnisse einem Kreis von Interessenten vorzustellen und aus dem Meinungsstreit Anregungen und Hinweise zur Fortsetzung der Forschungen zu entnehmen. Das zweite Kriterium der Auswahl ergab sich aus dem Einfluß, den die einzelnen Richtungen und Schulen innerhalb der Ethnographie der kapitalistischen Länder ausüben. Eine wissenschaftsgeschichtlich seit langem etablierte Disziplin wie die Ethnographie weist seit ihrer Existenz Traditionen von verschiedener Konstanz und Dauer auf. Während sich einige ihrer Positionen unangefochten über Jahrzehnte behaupten, erreichen andere in kurzer Frist den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit, um ebenso rasch an Aktualität einzubüßen und nur noch Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Studien zu werden. Seit dem Ausgang des zweiten Weltkrieges, der auch eine neue Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus einleitete, ist ein rascher Wechsel im Theorieangebot zu verzeichnen. Als besonders augenfällig sind hier die Prätentionen der Kulturanthropologie auf die Führungsstellung sowie der zunehmende Einfluß soziologischer Schulen festzuhalten. Dagegen ist der Einfluß der funktionalistischen und kulturgeographischen Richtungen erheblich zurückgegangen. Andere wie die psychologischen und neoevolutionistischen Schulen behaupten nach wie vor ihre Position und sind bestrebt, ihren Auffassungen stärker Geltung zu verschaffen. In der Volkskunde der BRD wurde versucht, durch Anleihen bei. der Verhaltensforschung der Kulturanthropologie, der Systemtheorie der Kulturkritik der Frankfurter Soziologenschule, bei der bürgerlichen Sozialgeschichte und bei den verschiedenen Schulen der empirischen Sozialforschungen Anschluß an moderne Trends der Wissenschaftsentwicklung zu finden und sich nunmehr als eine Wissenschaft zu präsentieren, die nach „Aufarbeitung des Theoriedefizits" Anschluß an das theoretische Niveau der anderen Sozialwissenschaften gefunden habe. Die Ursachen dieser Erscheinungen sind vielfältig, und es muß hier davon abgesehen werden, sie auf einen Nenner zu bringen. In welcher Weise und in welchem Maße wissenschaftsgeschichtlich immanente Momente und ideologische Reflexe auf die Vertiefung der allgemeinen Krise des Kapitalismus im Bewußtsein der Vertreter der bürgerlichen Ethnographie zusammenwirken und zu welchen Ausdrucksformen sie in der Ausprägung der einzelnen Theorien und Lehrmeinungen gelangten, war jeweils Gegenstand der Referate und der Diskussionen. Daß sich der Marxismus-Leninismus auch in der Ethnographie auf dem Vormarsch befindet und über große Möglichkeiten zur Erweiterung seines Einflusses verfügt und die Exponenten der bürgerlichen Ideologie trotz aller Anstrengungen auf dem Gebiet unserer Disziplin die erstrebte historische Initiative

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B. WEISSEL

nicht wieder 2urückerlangt haben, ist auch Hauptmerkmal in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, eine Feststellung, die im Schlußwort des Symposiums vom Leiter der sowjetischen Delegation, Prof. Ju. V . Bromlej, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der U d S S R , nachdrücklich unterstrichen wurde. D a ß in den folgenden Ausführungen auf den Nachweis der Belege verzichtet wurde, liegt auf der Hand. Einmal gehen die einleitenden Bemerkungen, wie sie hier versucht werden, auf die Wertungen in den Beiträgen selbst zurück, und darum kann auf die Literaturangaben zu den jeweiligen Beiträgen verwiesen werden. Zum zweiten wäre dazu die Erarbeitung einer umfangreichen Spezialbibliographie erforderlich, eine A u f gabe, die in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden konnte. D e r Leser, der weitere Aufschlüsse über Stand und Aufgaben in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie auf dem Fachgebiet der Ethnographie erwartet, sei deshalb auf die Periodika der Ethnographie der sozialistischen Länder und auf das internationale Referateorgan „ D E M O S " , in dem die Neuerscheinungen auf diesem Gebiet angezeigt werden, verwiesen.

II In der Geschichte der Ethnographie in den sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts tritt der wachsende Einfluß des Marxismus-Leninismus auf theoretischmethodologischem Gebiet als ein neues Moment der Entwicklung besonders augenfällig in Erscheinung. E s handelt sich jedoch, soweit die Situation in den kapitalistischen Ländern in Betracht kommt, nicht schlechthin um eine Rezeption in linearer Progression, sondern um einen äußerst widerspruchsvoll verlaufenden Prozeß, der in vollem Gange ist und deshalb noch keine abschließende Wertung gestattet. Bestrebungen, die Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus zu Rate zu ziehen, um aus ihrem Studium Antwort auf die Fragen der Zeit und, darin einbegriffen, nach den Aufgaben der Wissenschaft zu gewinnen, stehen Versuche gegenüber, nur einzelne Seiten, Thesen und Problemstellungen des historischen Materialismus zu entlehnen, sie zur Abstützung der eigenen Auffassungen zu benutzen, um diese unter Anrufung der Autorität von Marx, Engels und Lenin attraktiver erscheinen zu lassen. Zwischen diesen beiden Polen erstreckt sich ein breites Feld, das durch die vielfältigsten Übergänge und Vermittlungen in den Positionen geprägt ist. Den widerspruchsvollen Erscheinungen, die die Szenerie kennzeichnen, liegen vielfältige Ursachen zugrunde, die ihrerseits ideologische Reflexe der allgemeinen Krise des Kapitalismus darstellen. In der Ideologieproduktion innerhalb der bürgerlichen Ethnographie treten ebenso wie in anderen bürgerlichen Sozialwissenschaften ein immer rascherer Verschleiß von Theorien und das ständige Suchen nach neuen Methoden und Modellen zur Erklärung der gesellschaftlichen Realität als charakteristisches Merkmal ihres gegenwärtigen Entwicklungsstadiums besonders augenfällig in Erscheinung. Wer freilich nicht an der Oberfläche der Erscheinungen haftenbleibt und zum Wesen vorstößt, wird auch hier Kontinuität und Diskontinuität als zwei Momente einer einheitlichen Entwicklung wahrnehmen. D a s „Bleibende in der Erscheinungen Flucht" besteht hier darin, daß bei allen auf den ersten Blick noch so originell anmutenden Ausformungen

Vorwort

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der Theorie und Methodologie das Interesse an der Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung letztlich den Rahmen und den Spielraum für die Bewegung der Theorien und Ideen vorschreibt. Dabei bleibt es sich letztlich gleich, ob die kapitalistische Gesellschaftsordnung expressis verbis zu der Gesellschaft schlechthin erklärt wird, über die hinaus eine weitere Entwicklung theoretisch nicht reflektiert wird, oder ob „Gesellschaft", ohne sie mit bestimmten qualitativ kennzeichnenden Attributen zu versehen, stillschweigend als Synonym für die kapitalistische Gesellschaftsordnung verwendet wird. Es ist im Hinblick auf diese entscheidende Frage auch nur von sekundärer Bedeutung, ob die Regulierung der gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Gesellschaftssystems mit Hilfe von Gleichgewichtsmodellen oder durch konflikttheoretische Konstruktionen interpretiert wird. Beide sind in den ihnen zugedachten gesellschaftlichen Funktionen wechselseitig aufeinander bezogen, bilden jeweils das Komplement des anderen und stehen fest auf dem Fundament bürgerlicher Gesellschaftsauffassung. Das gegenwärtige Vordringen des Marxismus-Leninismus vollzieht sich in einer welthistorischen Situation, die im Ergebnis der Entwicklung seit dem Ausgang des zweiten Weltkrieges durch das veränderte Kräfteverhältnis zugunsten der Kräfte des Sozialismus und des Friedens gekennzeichnet ist. Die unabweisbare Tatsache, daß der Hauptinhalt der Weltgeschichte in unseren Tagen im Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab besteht, daß der Kapitalismus welthistorisch unwiederbringlich die Initiative verloren hat und daß der real existierende Sozialismus seine Fähigkeit zur Lösung der Menschheitsprobleme auf so eindrucksvolle Weise demonstriert, konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Stellung und Funktion der bürgerlichen Sozialwissenschaften, die Ethnographie darin eingeschlossen, bleiben. Die zuungunsten des Kapitalismus veränderte Weltlage mußte in den kapitalistischen Ländern notwendig Diskussion um den gesellschaftlichen Standort und die Verantwortung der Ethnographie, nach Nutzen, Zweck und Einsatzbereich ihrer Forschungen hervorbringen. Besonders die Ethnographen der angelsächsischen Länder sahen sich angesichts des Zerfalls des kapitalistischen Kolonialsystems gezwungen, ihre theoretisch-methodologischen Positionen und ihr methodisches Forschungsinstrumentarium zu überprüfen, war doch die Erforschung der Lebensweise und Kultur der bis dahin schriftlosen, in ihrer Entwicklung in vorkapitalistischen Gesellschaftsiverhältnissen zurückgebliebenen ethnischen Gemeinschaften in den ehemals kolonialen und abhängigen Ländern bis dahin ihr bevorzugtes Studienobjekt gewesen. Waren und sind sie auch in ihrer überwältigenden Mehrheit, im Bann der bürgerlichen Ideologie befangen, Gegner der marxistisch-leninistischen Idee der Entwicklung und damit der Auffassung von Weltgeschichte als einheitlichem Prozeß, der vom Niederen zum Höheren fortschreitet und damit die Ablösung der Ordnung des Kapitalismus durch den Sozialismus/Kommunismus historisch legitimiert, so konnten sie schwer an der vor aller Welt offenkundigen Tatsache vorbeisehen, daß die Welt „im Wandel" begriffen ist, der nicht schlechthin rückgängig gemacht werden kann. Damit ist auch die welthistorische Ausgangssituation umrissen, in der die Theorie vom „sozialen Wandel" in der empirischen Soziologie geboren wurde. Von dort her hat sie sich wellenförmig auf benachbarte Disziplinen ausgebreitet und auch die Sozialgeschichte, die Kulturgeschichte und Ethnographie erreicht, wo sie in entsprechender

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Modifikation als Theorie vom „sozialkulturellen Wandel" figuriert, um der wachsenden Anziehungskraft der in sich geschlossenen, einheitlichen soziologischen Theorie des historischen Materialismus zu begegnen. In diesem Zusammenhang ist; darauf zu verweisen, daß die bürgerliche Soziologie bzw. empirische Sozialforschung, wie sie sich vielfach selbst bezeichnet, nicht nur in dieser Hinsicht „einheitsstiftend" wirkt. Das gilt, wenn auch nach dem Grad der Wirksamkeit verschieden, sowohl für die Ethnographie in den angelsächsischen Ländern als auch für die B R D . Ein kennzeichnender Zug neuester Wissenschaftsentwicklung in den kapitalistischen Ländern besteht in der Zunahme der Tendenzen der interdisziplinären Kooperation, wobei die empirische Sozialforschung häufig als Initiator wirkt und sich mit ihrem „Angebot an Theorie" als Katalysator einheitlicher theoretisch-ideologischer Ausrichtung betätigt. Sowohl in den angelsächsischen Ländern als auch in der B R D wird die Rolle der empirischen Sozialforschung als eines „Voranbringers" von namhaften Vertretern der Ethnographie nachdrücklich anerkannt. Ihre Mittlerdienste werden insofern gerne in Anspruch genommen, als sie sich als der geeignete Weg anbieten, um den häufig beklagten „Mangel an Theorie" zu überwinden. Hier gibt es freilich entsprechend dem konkreten Verlauf der Wissenschaftsgeschichte und den bis zum Ausgang des zweiten Weltkrieges in den einzelnen Ländern vorherrschenden Wissenschaftstraditionen in der Adaptionsbereitschaft gegenüber den Theorien und Methoden der empirischen Sozialforschung beträchtliche Unterschiede. In der B R D wurde die von den Nachbardisziplinen angebotene Hilfe schon deshalb dankbar aufgenommen, weil sie der offiziellen Volks-, in gewissem Maße aber auch der Völkerkunde dazu verhelfen konnte, sie vom Odium einer Vergangenheit unter der hitlerfaschistischen Diktatur zu befreien, in der namhafte Vertreter beider Disziplinen nur allzu eilfertig und beflissen ihre Dienste bei der Vorbereitung und Durchführung der „Blut-und-Boden"-Politik als Bestandteil der Weltherrschaftsziele des deutschen Militarismus und Imperialismus zur Verfügung gestellt hatten. Die Modernisierung mußte als Ausweis für eine angebliche „Bewältigung der Vergangenheit" herhalten, was nicht unwidersprochen hingenommen werden kann, da das dort offerierte Faschismus-Bild zum einen durch eine allzu oberflächliche Sicht gekennzeichnet ist und sonst die treibenden Kräfte des Geschichtsprozesses außer acht läßt und zum anderen durch eine Optik gebrochen ist, in der die Klassenkämpfe um den Kulturfortschritt in den einzelnen Perioden der Geschichte des deutschen Volkes durch ideengeschichtliche Schemata verstellt und somit verzerrt werden. Diese Thematik ist Gegenstand unserer Abhandlungen und Rezensionen von Mitarbeitern des Wissenschaftsbereichs Kulturgeschichte/Volkskunde des Zentralinstituts für Geschichte bei der AdW der D D R , insbesondere im Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, Neue Folge, Band 1, Jg. 1973 ff., auf das hier für ergänzende Studien verwiesen wird. In den USA konnten dagegen namhafte Ethnographen darauf verweisen, daß in ihren Wissenschaftsauffassungen die Gleichwertigkeit aller ethnischen Gemeinschaften stets als Axiom gegolten habe und daß sich alleine daraus ihre grundsätzliche Gegnerschaft gegen den nazistischen Rassismus erkläre. Zum Beweis wurde bezeichnenderweise das Festhalten an der Konzeption der multilinearen Evolution angeführt. Daß diese Behauptung für die Gegenwart nicht aufrechterhalten werden kann und daß dem Leser, wenn auch in subtileren Formen, Varianten des Rassismus auch auf dem Gebiet der Ethnographie begegnen, zeigte das Referat von Nitoburg auf.

Vorwort

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Aber weder Anleihen bei der bürgerlichen Soziologie noch bei anderen Sozialwissenschaften können der bürgerlichen Ethnographie zu einer in sich geschlossenen, einheitlichen soziologischen Theorie verhelfen, mit deren Hilfe die von ihr erforschten Phänomene und Prozesse im Sinne eines in sich geschlossenen Systems erklärt werden könnten. Die Versuche, dies durch Anleihen bei der bürgerlichen Systemtheorie zu bewerkstelligen, erwiesen sich als Fehlschlag. Die bürgerliche Soziologie und andere für sie relevante Disziplinen können nur „Theorien mitderer Reichweite" offerieren, deren Anwendung im günstigsten Falle die Verallgemeinerung empirischer Daten auf einem begrenzten Sektor der gesellschaftlichen Beziehungen in einem eng begrenzten historischen Zeitraum gestattet. Dieses Handikaps sind sich um die Theoriebildung bemühte Vertreter der bürgerlichen Ethnographie bewußt. Sie nehmen es in Kauf, eröffnen Theorien „mittlerer Reichweite" immerhin die Aussicht, auf einem begrenzten Sektor des gesellschaftlichen Lebens in Zusammenarbeit mit staatlichen Dienststellen steuernd und regulierend auf gesellschaftliche Prozesse einzuwirken und damit die Effizienz ihrer Forschungen für konkrete und aktuelle kulturpolitische Bedürfnisse beweisen zu können. Daraus erklärt sich zumindest zu einem Teil die Option für kulturell und geographisch sowie historisch „kleinjräumige" Themen. Dieser Aspekt sollte bei der Analyse der Genesis der Vorstellungen über Gegenstand und Aufgaben der Ethnographie in den kapitalistischen Ländern nicht aus den Augen gelassen werden. Die Veränderungen in der Weltlage zuungunsten des Kapitalismus beschränken sich freilich nicht nur auf die tiefgreifenden gesellschafdichen Umgestaltungen, die sich gegenwärtig in der sogenannten dritten Welt vollziehen. Im Rahmen der allgemeinen Krise des Kapitalismus zeigen sich Krisenerscheinungen in allen Regionen und Bereichen. Dabei können einzelne Ereignisse, Prozesse und Probleme der politischen Entwicklung in einzelnen Ländern tiefgreifende Wirkungen hervorrufen, die dazu führen, daß auch Wissenschaftskonzeptionen, die Fragen nach Gegenstand und Aufgaben der Disziplin eingeschlossen, die bis dahin als gesichert und keiner Diskussion bedürftig erschienen, fragwürdig und unter das Feuer der Kritik genommen werden. Dazu zählen, um n^r einige markante Beispiele zu nennen, der Aufschwung der Befreiungsbewegung der Afroamerikaner in den USA, die studentische Protestbewegung gegen das kapitalistische Establishment in einer Reihe von kapitalistischen Ländern Europas und Amerikas in den sechziger Jahren, die Niederlage des USA-Imperialismus in seinem schmutzigen Krieg gegen das vietnamesische Volk sowie die Mißerfolge der von J. F. Kennedy inaugurierten Politik der USA, die unter dem Namen „Allianz für den Fortschritt" firmierte und der Befriedung des lateinamerikanischen Subkontinents und der Aufrechterhaltung der Hegemonie des Dollarimperialismus dienen sollte. In der BRD und in der Schweiz wirkt das sogenannte „Gastarbeiterproblem" als ein zusätzlich auslösendes Moment. Es warf die Frage auf, mit welchen Regulierungsmechanismen die Anpassung der kapitalistisch ausgebeuteten ausländischen Lohnarbeiter an das bestehende Gesellschafts- und Kultursystem ohne Schaden für dieses bewerkstelligt werden könnte. Das führte zu einer neuen Definition des „Heimat"-Begriffs. Damit eröffneten sich auch neue Möglichkeiten, verhaltenspsychologische, durch die Ethologie ergänzte Problemstellungen und Theorien in der Ethnographie der BRD wissenschaftlich in Umlauf zu bringen.

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B. WEISSEL

Die zahlreichen Äußerungen der theoretischen Grundlagenkrise der bürgerlichen Ethnographie, die nur schwer in einem einzigen Ausdruck zu fassen sind, sind in ihrem Stellenwert erst richtig einzuschätzen, wenn man sie vor dem Hintergrund des Wachstums des Sozialismus und der Fortschritte der Ethnographie der sozialistischen Länder betrachtet. Besonders heftig verliefen die Diskussionen um ein neues Selbstverständnis der anglosächsischen Kultur/Sozialanthropologie. An ihrem weitgespannten Anspruch gemessen, die Wissenschaft vom Menschen schlechthin zu repräsentieren, mußte das Mißverhältnis zwischen ihren Ambitionen und den tatsächlichen Forschungsresultaten besonders kraß zutage treten. Um den offenkundigen Gebrechen beizukommen, wurden theoretisch-methodische Anleihen bei den verschiedensten Wissenschaften, von der Individualpsychologie und der Psychiatrie über die Biologie und die Verhaltenspsychologie der Tiere bis hin zur empirischen Sozialforschung und der Sozialpsychologie, aufgenommen. Richtungen wie der Kulturrelativismus, der Evolutionismus, die verschiedenen Konzeptionen eines ökonomischen, technologischen und geographischen Determinismus und des Positivismus, die in den USA längst eingebürgert waren, gingen in neuer Konstellation der Theorien und Ideen bisher nicht gekannte Verbindungen ein. Sie alle boten ihre Dienste an, um die Anthropologie qua Ethnographie aus der Talsohle der Krise herauszuführen. Als neue Autoritäten wurden nacheinander und manchmal auch gemeinsam T. Parsons, R. Merton, P. Sorokin, S. Freud, M. Weber, M. Scheler, W. Dilthey, E . Husserl und andere Exponenten der spätbürgerlichen Philosophie und Soziologie angerufen, ohne daß eine von ihnen unangefochten das Feld behauptet hätte. Auch die Übernahme naturwissenschaftlicher Ergebnisse vermochte keine grundlegende Änderung herbeizuführen, sind doch deren Konzepte nicht unabhängig vom Welt- und Gesellschaftsbild der jeweiligen Autoren letztlich durch die Antwort auf die Grundfrage der Philosophie bestimmt und darum keineswegs „ideologiefrei". Die bürgerlichen Ethnographen vermochten weder die Gesetzmäßigkeiten des Kulturfortschritts in der Weltgeschichte zu erklären, noch die innere Geschlossenheit der Kulturanthropologie, die in gleichem Maße auf den Ergebnissen der Natur- und Sozialwissenschaften aufbauen sollte, zu demonstrieren. Auch die Herausbildung immer neuer Subdisziplinen auf den Grenzbereichen zu anderen Wissenschaften schuf keinen Wandel In der Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus wurde die Forderung nach größerer Praxisrelevanz der kultursozial-anthropologischen Forschungen immer lauter und hartnäckiger erhoben. Um die Allgemeingültigkeit des dialektischen und historischen Materialismus als fragwürdig erscheinen zu lassen, wurden Themen und Gebiete ausgesondert, die die Unzulänglichkeit und Unzuständigkeit des historischen Materialismus dartun sollten. Dazu zählt, wie auf dem Symposium zum Ausdruck gebracht wurde, die Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den afrikanischen Ländern vor ihrer Eroberung durch die kapitalistischen Kolonialmächte. Hier wird die Stoßrichtung gegen die marxistisch-leninistische Auffassung vom Ursprung und Wesen des Staates besonders deutlich. Dagegen wiesen die diesbezüglichen Referate (Kubbel', Herzog) und Diskussionsbeiträge überzeugend den umfassenden Charakter und die uneingeschränkte Gültigkeit der marxistisch-leninistischen Theorie vom Ursprung und Wesen des Staates und somit auch die Unhaltbarkeit jener Konzeptionen nach,

Vorwort

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die dem afrikanischen Kontinent im Hinblick auf diese Grundfrage der Geschichts- und Gesellschaftsauffassung eine Exemtionsstellung reservieren möchten. Ein Grundzug des Kampfes der bürgerlichen Ideologie gegen den Vormarsch des Marxismus-Leninismus tritt auch in der bürgerlichen Ethnographie sichtbar in Erscheinung. Es ist der Versuch, für jene Bereiche in der Entwicklung der Natur und Gesellschaft mechanisch-materialistische, zumeist aber subjektiv-idealistisch bestimmte Erklärungen zu offerieren, die von der marxistisch-leninistischen Forschung noch nicht oder noch unzureichend erfaßt werden. Bekanntlich stellt der Marxismus-Leninismus ein in sich geschlossenes, monistisches System der Weltanschauung dar, das aber im Unterschied zu allen bürgerlichen Systemen auf Grund neuer Erkenntnisse und Einsichten der Einzelwissenschaften des ständigen Ausbaus und der Vervollständigung fähig ist. In den sozialistischen Staaten hat die marxistisch-leninistische Ethnographie verschiedene Stadien der Entwicklung durchlaufen und mußte den Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis entsprechend Prioritäten in der Reihenfolge der zu lösenden Aufgaben setzen. Die erste und für ihre weitere Gestaltung entscheidende Aufgabe bestand in der materialistischen Grundlegung der Disziplin im Gesamtsystem der Wissenschaften. Mit dem allmählichen Übergang zum Kommunismus, in dem das Gewicht des subjektiven Faktors als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung steigt und für die weitere Ausprägung der Vorzüge des real existierenden Sozialismus entscheidende Bedeutung erlangt, tritt auch die Objekt-SubjektDialektik in der Erforschung der Durchsetzung der Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung in den Mittelpunkt des Interesses. Damit werden auch an die Ethnographie wie an andere Gesellschaftswissenschaften höhere Anforderungen an das theoretische Niveau ihrer Forschungsergebnisse gestellt. Sie muß ihr Augenmerk stärker auf die Bereiche der Verhaltensweisen, Wertorientierungen und Einstellungen, auf die Traditionen in Sitte und Moral, kurz, auf die Probleme von Lebensweise und Kultur der ethnischen Gemeinschaften in den verschiedenen historischen Entwicklungsformen richten, um deren Rolle im Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion in der Weltgeschichte präziser bestimmen zu können. Auch darin erweist sich der Wert des Symposiums, daß die Notwendigkeit dieser Aufgaben ins Bewußtsein der Teilnehmer gerückt wurde.

III Die in diesen Band aufgenommenen Arbeiten zeigen an, daß die Ethnographen der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft ihr Hauptaugenmerk auf die Erscheinungen in der Geschichte der bürgerlichen Ethnographie richten, in denen sich Neues oder zumindest Neuartiges artikuliert. Dabei stehen Grundfragen der Theorie und Methodologie und die Diskussionen um die Bestimmung der Grundkategorien im Mittelpunkt des Interesses. Das ist legitim und entspricht einem aktuellen Bedürfnis, erwachsen daraus doch Problemstellungen, die auch die marxistisch-leninistischen Ethnographen nicht übersehen können. In der gegenwärtigen Epoche, die sich auch durch ein näheres Zusammenrücken der Völker und Nationen auf dem Erdball auszeichnet und mit den Problemen der Urbanisierung und der Umweltgestaltung auch neue Fragen der Kommunikation und des Kulturaustausches über die Grenzen der Staaten und Ethnien hinweg aufwirft, nimmt auch das Interesse der Wissenschaftler insgesamt an den

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Kulturprozessen zu. Ihre Beherrschung im Interesse der breiten Massen der Völker und Nationen erweist sich als ein Indikator, der Fortschritt und Reaktion in der gesellschaftlichen Entwicklung zuverlässig anzeigt. Lebensweise und Kultur erschließen neue Dimensionen im ideologischen Klassenkampf der Gesellschaftssysteme des Kapitalismus und des Sozialismus. Zugleich eröffnen sich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Meinungsaustausches zwischen den Ethnographen der sozialistischen und kapitalistischen Länder, die zum besseren Verständnis der jeweiligen Aufgaben und Positionen beitragen und damit der Sache der Völkerverständigung dienen. Die marxistischleninistischen Ethnographen stellen sich verantwortungsbewußt dieser Aufgabe, bietet doch der Meinungsstreit mit bürgerlichen Fachkollegen die Möglichkeit, die eigenen theoretisch-methodologischen Positionen in verschiedenen internationalen Foren und Begegnungen beweiskräftig zu vertreten und begründete Antworten auf anstehende Fragen zu geben. Auf diesem Feld kann insbesondere die sowjetische Ethnographie wertvolle Erfahrungen aufweisen. Auf einem gesicherten Fundus von originären, aus empirischen Forschungen zur ethnischen Geschichte, zur Geschichte der interethnischen Beziehungen und zur Ethnosoziologie aufbauend, bietet sie Ergebnisse an, in denen wichtige Seiten und Prozesse der sozialistischen Kulturrevolution im ersten sozialistischen Multinationalitätenstaat der Welt ihre theoretische Verallgemeinerung gefunden haben. Die steigenden Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis bei der weiteren Ausgestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und beim allmählichen Übergang zum Kommunismus führen folgerichtig auch zu neuen Kriterien und Maßstäben zur Bewertung der wissenschaftlichen Leistungen der einzelnen Disziplinen. Was gestern noch ausreichend erschien, erweist sich heute bereits als unzureichend. Die Erforschung der historischen Gesetzmäßigkeiten des Wandels der Lebensweise und Kultur der werktätigen Klassen und Schichten beim Aufbau, bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und beim allmählichen Übergang zum Kommunismus ist zwar fester Bestandteil der Forschungsprogramme der Ethnographie und Folkloristik der sozialistischen Länder, hat aber noch nicht überall zu Ergebnissen geführt, die eine Verallgemeinerung auf hohem theoretisch-methodologischem Niveau gestatten. In einigen Ländern wie auch in der DDR hat diese Arbeit eben erst begonnen. In diesem Zusammenhang breitet sich unter den Ethnographen die Erkenntnis aus, daß die Zeit herangereift ist, das System der Grundkategorien und Grundbegriffe der ethnographischen Wissenschaft im Hinblick auf ihre Effektivität für die Erforschung der Kulturprozesse in der Gegenwart kritisch zu überprüfen. Die Anstöße dazu kommen nicht nur aus den Bedürfnissen und Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis, sie erwachsen auch aus Erfordernissen, die der Wissenschaftsgeschichte immanent sind. Damit gewinnt die Arbeit auf theoretisch-methodologischem Gebiet zukünftig einen noch höheren Stellenwert und fordert zu verstärkter Diskussion im Kreis der Ethnographen und Folkloristen der sozialistischen Länder heraus. Unter den diskussionswürdigen Themen ist hier vor allem auf die Problematik des „Ethnos" und der ethnischen Gemeinschaften zu verweisen, die lange Zeit theoretisch unbearbeitet blieb und erst durch Arbeiten sowjetischer Ethnographen auf den Platz im Wissenschaftsverständnis der Ethnographie gestellt wurde, der ihr gebührt. Die schöpferische

Vorwort

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Initiative der sowjetischen Fachkollegen hat zwar in der DDR beifällige Aufnahme und allerseits Anerkennung gefunden, und die Notwendigkeit, sich dieser Problematik mit eigenständigen Arbeiten anzunehmen, wird nirgendwo bestritten. Dennoch kann aus den Reihen der Ethnographen der DDR, von Arbeiten von Mitarbeitern des Instituts für sorbische Volksforschung Bautzen abgesehen, auf keine eigenständige Arbeit verwiesen werden. Eines der Ergebnisse des Leipziger Symposiums bestand auch darin, daß es der Arbeitsgemeinschaft Ethnographie bei der Historikergesellschaft der DDR empfahl, diese Aufgabe als vordringlich in ihr Arbeitsprogramm aufzunehmen. Es kann nicht Aufgabe dieser einleitenden Bemerkungen sein, die vielen Anstöße und Anregungen zur Beschäftigung mit theoretisch-methodologisch relevanten Fragen zu verzeichnen, die im Verlauf der Beratungen artikuliert wurden. Neben und nächst der Thematik des Ethnischen trat das Bedürfnis hervor, der Problematik der marxistischleninistischen Kulturtheorie im Zusammenhang mit einer zu inaugurierenden marxistischleninistischen Kulturgeschichtsschreibung größere Beachtung zu schenken. Hier kann freilich auf erste Diskussionsbeiträge von Ethnographen und Kulturhistorikern der sozialistischen Länder verwiesen werden. Im Hinblick auf die Aufgabe, im Umfeld der historischen und der Kulturwissenschaften zur Lösung der ihnen gemeinsam aufgegebenen Probleme vielfältige Kooperationsbeziehungen herzustellen und auszubauen, erlangt die Beschäftigung mit der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie, die freilich eigenständige Beiträge aus der spezifischen Sicht der Ethnographie einschließt, wachsende Bedeutung. Gewisse Rückstände gegenüber den konkreten Anforderungen der kulturpolitischen Praxis, in der die Erforschung und Pflege der fortschrittlichen Traditionen in der Kultur und Lebensweise der Werktätigen einen wichtigen Platz einnehmen, sind auch bezüglich des Problemkomplexes „Novation - Tradition" zu verzeichnen. Daß hier auf einige noch ungenügend erforschte und theoretisch-methodologisch unzureichend geklärte Problemkomplexe - sie stehen hier pars pro toto - verwiesen wird, entspricht dem Anliegen des Symposiums. Das Ziel bestand, wie eingangs bemerkt wurde, darin, einem größeren Kreis von Ethnographen und Vertretern benachbarter Wissenschaftsdisziplinen Ergebnisse und Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Hauptrichtungen der bürgerlichen Ideologie auf dem Gebiet der Ethnographie vorzustellen und über die Diskussion einen neuen Abschnitt im Erfahrungs- und Meinungsaustausch und in der weiteren Zusammenarbeit unter den Ethnographen der beteiligten Länder einzuleiten. Die Darstellung der gewonnenen Erkenntnisse war stets mit einer kritischen Bilanz des Erreichten verbunden, in der auch die weißen Flecken und die bisher nur unzureichend bearbeiteten Felder auf der Soll-Seite verbucht wurden. Mehrfach wurde prononciert zum Ausdruck gebracht, daß die Aufdeckung der bürgerlichen Beschränktheit in den Wissenschaftsauffassungen von Ethnographen der kapitalistischen Länder nur die eine Seite der Aufgabe darstellt. Es genügt nicht nachzuweisen, daß ihre Fragen und Antworten falsch sind, weil die Problemstellungen metaphysisch, idealistisch oder mechanisch-materialistisch gefaßt und aus dem dialektischen Entwicklungszusammenhang gelöst werden. Kritik bürgerlicher Wissenschaftsauffassungen und ihres Kategorienapparates heißt zugleich, auf der Grundlage des dialektischen und 2

Kultur u. Ethnos

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B. WEISSEL

historischen Materialismus echt weiterführende Probleme zu formulieren und theoretisch tief begründete Antworten zu finden. Geschieht dies, werden die Ethnographen der sozialistischen Länder zukünftig einen noch wirksameren Beitrag zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der Lebensweise und Kultur der Völker, ihrem Hauptarbeitsfeld, leisten und im Verein mit den Vertretern der Naturund Gesellschaftswissenschaften schöpferisch an der weiteren Ausarbeitung der Kategorien des dialektischen und historischen Materialismus mitwirken. Die Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen der bürgerlichen Ideologie auf dem Fachgebiet ist demnach kein Selbstzweck, kein Bereich, dessen Bearbeitung nur einigen Spezialisten mit Neigungen zur Arbeit auf theoretisch-methodologischem Gebiet aufgegeben ist. Sie ist immanenter Bestandteil der Arbeiten zur weiteren Ausgestaltung des Lehrgebäudes der marxistisch-leninistischen Ethnographie. Auch für unsere Disziplin wurde der Nachweis erbracht, daß viele weiterführende Anstöße aus dem Studium der Geschichte der eigenen Disziplin gewonnen werden. Lag auch das Schwergewicht der Referate und Beiträge des Symposiums auf der Analyse der Richtungen und Strömungen, in denen sich die Grundlagenkrise der bürgerlichen Ethnographie und die Versuche, veränderten Verhältnissen mit neuen Theorien und Konzeptionen zu begegnen, besonders deutlich widerspiegeln, so durften und dürfen - das wurde allgemein anerkannt - auch Vorstellungen und Auffassungen, die nach der Eigengesetzlichkeit der Tradition unreflektiert weiterwirken und in zahlreichen Arbeiten, vornehmlich auf der deskriptiven Ebene angesiedelt, zum Ausdruck kommen, nicht außer acht gelassen werden. Der unter großem publizistischem Aufwand besonders in den periodisch erscheinenden Fachorganen ausgetragene Streit der Vertreter der verschiedenen Richtungen um die führende Stellung bei der theoretischmethodologischen Umrüstung der bürgerlichen Ethnographie im Hinblick auf neue Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis darf nicht vergessen machen, daß in den kapitalistischen Ländern alljährlich nach wie vor zahlreiche, zumeist monographische Arbeiten herausgegeben werden, die theoretisch kaum befrachtet erscheinen und deutliche Züge der Abstinenz gegenüber allem aufweisen, was sich in Theorie und Methodologie als neuartig darbietet. Es wäre falsch, diese Arbeiten pauschal als konservativ abqualifizieren zu wollen. Manche dieser Arbeiten enthalten wertvolle Bausteine zur Erkenntnis in weiten Teilbereichen der Geschichte der materiellen und geistigen Kultur und leisteten beachtliche Beiträge zur Erschließung des kulturellen Erbes der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes. Vielen Laienforschern und Sammlern ist echtes persönliches Engagement für die schöpferischen Kulturleistungen aus der Mitte des Volkes zu attestieren. Ob und inwieweit ein konservatives Gesellschafts- und Menschenbild die Aufbereitung-des Materials und seine historische Interpretation beeinflußt haben, kann jeweils immer nur im Ergebnis der konkreten Analyse ermittelt werden. Dieser Hinweis erschien mir notwendig, denn an den Diskussionen um neue Konzepte und Theorien, in denen sich die Sorge um die zukünftigen Schicksale der Disziplin manifestiert, beteiligt sich, soweit wir es übersehen, nur eine Minderheit von Wissenschaftlern. In der Öffentlichkeitsarbeit, d. h. in der Umsetzung der Forschungsergebnisse in die Erschließung und Aufbereitung von Quellenzeugnissen in die Museums- und Ausstellungspraxis und in die populärwissenschaftliche Vortragstätig-

Vorwort

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keit, halten die Vertreter konservativer Richtungen starke Positionen. Sie prägen weitgehend auch das Bild in der Pflege regionaler und lokaler Kulturtraditionen, die politisch oft am reaktionären Flügel der politischen Kräfte angesiedelt sind. Sie üben einen nachhaltigen Einfluß auf die Vorstellungen interessierter Kreise vom Inhalt und von den Aufgaben der Ethnographie aus. In der B R D gehört die Klage über die „Dilettanten" zum festen Repertoire der Beschwerden über die Hemmnisse, die einer Erhöhung des gesellschaftlichen Ansehens der Disziplin im Wege stehen. Direkte und indirekte Unterstützung finden die Exponenten konservativ-heimattümelnder Tendenzen bei konservativen Hochschullehrern und staatlichen Dienststellen. Extrem reaktionäre, ultramontane Befürworter der Pflege „des Alten", „des Grundschichtigen" in der traditionellen Volkskultur begleiten ihre Plädoyers mit heftigen Attacken und Diffamierungen der marxistisch-leninistischen Ethnographie. Die Rolle des Sturmbocks ist der antikommunistischen Totalitätsdoktrin zugedacht. Auf sie im Zusammenhang mit den zukünftigen Aufgaben der Auseinandersetzung zu verweisen, erscheint aus zwei Gründen als notwendig: Erstens ist das Gewicht dieser Kräfte in den letzten Jahren keineswegs geringer geworden. Die allgemeine politische Atmosphäre in der B R D , die durch die Zunahme rechtsradikaler Aktivitäten, durch Berufsverbote für aufrechte Demokraten und eine Praxis der Verdächtigung und Gesinnungsschnüffelei gekennzeichnet ist, begünstigt ihr weiteres Vordringen. Zweitens blockieren diese Kräfte die notwendige wissenschaftliche Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern über die Grenzen der Gesellschaftssysteme hinweg, in dem sie ihre Fachkollegen im eigenen Land, die sich, von liberalen Positionen ausgehend, der Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus stellen wollen, der Absicht der „kommunistischen Unterwanderung" bezichtigen. Als besonders eifernde Gegner der Entspannung haben sich auf dem Territorium der B R D in den letzten Jahrzehnten die Exponenten der sogenannten Vertriebenenvolkskunde erwiesen. Meist aus den Reihen jener „Volks- und Volkstumsforscher" hervorgegangen, die im Rahmen der vom deutschen Imperialismus in der Zeit vom Ausgang des ersten bis zum Ende des zweiten Weltkrieges betriebenen Propaganda und Politik der „europäischen Neuordnung" an der ideologischen Vorbereitung und Durchführung der Versklavung der Völker Mittel- und Osteuropas mitwirkten, halten sie in zahlreichen Schriften, Ausstellungen und Vorträgen die Legende von der angeblichen deutschen Kulturmission im Osten und Südosten Europas am Leben. Sie sprechen insbesondere den slawischen Völkern jede schöpferische Kulturleistung ab. Alle erhaltenswerten Kulturerrungenschaften werden mit dem Etikett „abendländisch-christlichdeutsch" versehen und als Werk der deutschen Kolonisation ausgegeben. Die im Ergebnis der volksdemokratischen Revolutionen durchgeführte sozialistische Kulturrevolution wird als „Einbruch fremder Mächte" deklariert und diskreditiert. Soweit den Völkern Ost- und Südosteuropas überhaupt kulturschöpferische Fähigkeiten zugebilligt werden, bezieht sich dies nur auf traditionelle Bereiche der materiellen und geistigen Kultur. Sie werden daran gemessen und gewogen, inwieweit sie es vermögen, traditionelle, historisch überholte Lebensformen zu konservieren. Ihre Leistungen für den historischen und kulturhistorischen Fortschritt kommen nirgendwo ernsthaft in Betracht. 2»

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B. WEISSEL

Die Vertreter der „Vertriebenen-Volkskunde" in der BRD und in Österreich gliedern sich in die Aktivitäten der sogenannten „Landsmannschaften" ein. Diese sind Bestandteil des Aktionsprogramms der politischen Kräfte, die die Revision der im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstandenen Grenzen unverhüllt als ihr Ziel erklären. Der Hauptstoß ihrer Aktivitäten richtet sich besonders gegen die CSSR und die Volksrepublik Polen. Sie fungieren als mobile Hilfstruppe der Fraktion der Monopolbourgeoisie der BRD, die darauf spekuliert, durch Einschlagen eines „harten Kurses" gegenüber den sozialistischen Staaten die Entspannung rückgängig zu machen und auf dem Wege über die Konfrontation schließlich auch die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges zu ihren Gunsten-zu korrigieren. Gewiß bezeichnet diese Richtung nur eine Stimme im Chor der BRD-Volkskunde, und es wäre falsch, aus ihren Auslassungen die für die Zukunft bestimmende Tendenz ablesen zu wollen. Ebenso falsch wäre es aber auch, sie im Hinblick darauf zu ignorieren, daß sich das, was sie an Produkten zu offerieren hat, bereits auf den ersten Blick betrachtet, als leicht durchschaubare Geschichtsklitterung für reaktionäre politische Propagandazwecke erweist. Die Notwendigkeit, die von der „Vertriebenen-Volkskunde" propagierten Auffassungen einer ständigen und bis auf den Grund reichenden Kritik zu unterziehen, besteht dennoch. Ihre Wurzeln reichen weit in die historische Vergangenheit zurück. Sie entspringen nationalistischen, extrem chauvinistischen, pangermanistischen Ideen, die reaktionäre Vorurteile gezüchtet und genährt und die Beziehungen des deutschen Volkes zu seinen Nachbarvölkern auf das schwerste belastet haben. Damit wird die marxistisch-leninistische Ethnographie auf Aufgaben verwiesen, die sie gemeinsam mit anderen geschichtswissenschaftlichen Disziplinen bei der weiteren Ausarbeitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes zu leisten hat. Für das tiefere Verständnis der Geschichte der Völker der sozialistischen Staaten ist die Kenntnis ihrer Kulturleistungen, Traditionen und der wechselseitigen Kultureinflüsse von hervorragender Bedeutung, und ein tieferes Geschichtsverständnis ist wiederum ein wesentlicher Faktor in den Prozessen der Annäherung der Kulturen der sozialistischen Nationen und Völker. Das wird auch der Auseinandersetzung mit nationalistischen Auffassungen neue Impulse verleihen. Die Entwicklungsperspektive der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft eröffnet auch der Ethnographie neue Möglichkeiten, die bisherigen Ergebnisse in der Erforschung der interethnischen Beziehungen und des Kulturaustausches in welthistorischer Dimension auszubauen. Auch auf diesem Gebiet hat die sowjetische Ethnographie Schrittmacherdienste geleistet. Zwischen den Ethnographen der DDR und der CSSR wurde eine Gemeinschaftsarbeit eingeleitet, die sich die Erforschung der wechselseitigen Kultureinflüsse und der interethnischen Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Periode der nationalen Wiedergeburt des tschechischen Volkes zum Ziel setzt. Auch der Hinweis auf diese Problemkomplexe erschien uns in diesem Zusammenhang notwendig, stellt doch das weite Feld der Erforschung der Geschichte der interethnischen Beziehungen einen wichtigen Abschnitt im Kampf zwischen dem MarxismusLeninismus und den verschiedenen Spielarten der bürgerlichen Ideologie dar. Das Problem des gleichberechtigten Neben- und Miteinanders der Nationen und Völker in einem Staatsgebilde, das die Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft beispiel-

Vorwort

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gebend für die Menschheitsgeschichte gelöst haben, verleiht der Ethnographie der sozialistischen Länder, die an diesen Prozessen verantwortungsbewußt mitwirkt, jene Überzeugungskraft und moralische Autorität, die sie heute bereits in der Welt genießt und weitere Erfolge für Frieden und Fortschritt in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie erwarten läßt. Bernhard Weißel

Julian Vladimirovic Bromlej

Zur Frage nach dem Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie — Versuch einer vergleichenden Analyse der angloamerikanischen und der sowjetischen Standpunkte

In unserer Epoche, da zwischen den in den verschiedensten Gegenden der Erde lebenden Menschengruppen immer engere Kontakte hergestellt werden, tritt die Notwendigkeit enger Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern der verschiedensten Länder und Kontinente beim Studium des Menschen und der Menschheit immer offensichtlicher zutage. Das gilt in gleicher Weise auch für die Annäherung der ihrem Profil nach ähnlichen Disziplinen, die sich in den verschiedenen Ländern mit dieser Thematik befassen. Sie erlangt heute eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Das trifft auch in erheblichem Maße auf die Anthropologie und Ethnographie in allen ihren Zweigen und Ausprägungen zu, womit die Physische, Sozial- und Kulturanthropologie auf der einen und die Ethnologie, Volks- und Völkerkunde, die Laographie u. a. auf der anderen Seite gemeint sind. Die Aufgabe, die Auffassungen von der Anthropologie und Ethnographie einander anzunähern, wirft freilich sofort die Frage nach ihrem Platz im System der Wissenschaften auf. Dabei geht es letztlich um die zukünftigen Schicksale dieser Disziplinen. Gegenwärtig stößt man in der Literatur nicht von ungefähr immer häufiger auf Äußerungen von einer Krise der Anthropologie.1 Man vernimmt auch Stimmen, die von einer allmählichen Verengung des Gegenstands der Ethnographie unter den modernen Bedingungen sprechen. Gleichzeitig nehmen in wachsendem Maße und in breiter Front Komplexdisziplinen ihre Arbeit auf dem Feld der anthropologisch-ethnographischen Forschungen auf. Diese Komplexdisziplinen reichen von der Kunstwissenschaft und Linguistik bis zur Geschichte und Soziologie. All das zeugt untrüglich von dem Ansehen der uns interessierenden Disziplinen, von ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Entwicklung der Gegenwart. Daraus kann sowohl auf die Haltung offizieller Kreise als auch auf das nicht weniger wichtige Interesse geschlossen werden, das ihnen die breite Öffentlichkeit entgegenbringt. Daraus erklärt sich auch die besondere Aktualität des zu behandelnden Problems. Nicht selten werden Ethnographie (Ethnologie) und Anthropologie (insbesondere Kultur/Sozialanthropologie) schlechthin gleichgesetzt oder doch als nahezu gleichwertig 1

Siehe C. Lévi-Strauss, La crise de l'anthropologie moderne, Le Courier UNESCO, Paris 1961, Nr. II; D. Lewis, „Anthropology and colonialism", in: Current Anthropology, 1973, Bd. 14, Nr. 6; I. R. Grigulevic, „Social'naja antropologija: est' Ii u nee buduscee?", in: Sovetskaja Étnografija, 2, 1975.

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eingestuft. Solchen Auffassungen begegnet man in der Literatur des Westens, 2 aber man trifft sie auch in der Literatur sozialistischer Länder, die Sowjetunion nicht ausgenommen. 3 Aber diese Identifizierung ist nur sehr bedingt statthaft und durchaus nicht überall gerechtfertigt. 4 Man darf darüber hinaus nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß sich darin Tendenzen zur Ausweitung der Divergenzen in den Vorstellungen vom Wesen und vom Gegenstand der Disziplinen artikulieren. Hinzu kommt, daß die Definition der einzelnen Disziplinen keineswegs von allen Wissenschaftlern anerkannt wird. Unterschiede in den Auffassungen bestehen nicht nur von Land zu Land, sondern selbst unter den Spezialisten innerhalb eines einzelnen Landes. All das erfordert, bei der Frage nach dem Verhältnis der Gegenstandsbereiche der uns interessierenden Disziplinen, der Begründung ihrer Abgrenzung dem System der entsprechenden Beweisführung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Daß die Bestimmung des Profils einer Wissenschaft nicht willkürlich erfolgen kann, darf als evident gelten und dürfte keinen Widerspruch hervorrufen. Solche Definitionen hängen von einer Reihe von Bedingungen ab, die obligatorischen Charakter tragen. Erstens führt die Aussonderung einer bestimmten Sphäre der objektiven Realität als Objekt der Forschung und ihrer spezifischen Wesensmerkmale - als Bewegungsformen der Materie - , deren Erkenntnis die Aufgabe der jeweiligen Wissenschaft darstellt, mit der Vertiefung der Kenntnisse über diese Wesensmerkmale unausweichlich auch zu veränderten Vorstellungen über ihren Gegenstand. Zweitens muß die Abgrenzung gegenüber den Komplexdisziplinen in Betracht gezogen werden. Drittens hängt die Bestimmung des Profils von der Bewertung der Traditionen und vom Erfahrungsschatz einer Wissenschaft ab. Schließlich erlangt auch die Benennung der Wissenschaft eine bestimmte Bedeutung. In dem uns interessierenden Zusammenhang wird den Traditionen gewöhnlich spezielle, bisweilen sogar entscheidende Bedeutung beigemessen. In der Regel bilden sich jedoch die Traditionen der einzelnen Wissenschaften ziemlich spontan heraus und bringen die Veränderungen bestimmter Bedürfnisse der Gesellschaft nur vermittelt zum Ausdruck. Die Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis des Gegenstandes der jeweiligen Wissenschaft zu den komplexen Disziplinen wird aber in der Praxis nur allzu häufig ignoriert. O f t vergißt man die „umgekehrte" Beziehung zwischen dem Gegenstand einer Wissenschaft und seiner Bezeichnung. Wie jeder spezielle Terminus, so ist freilich auch die Bezeichnung der wissenschaftlichen Disziplin bedingt, und es gibt im allgemeinen kein festes Verhältnis der Abhängigkeit zwischen ihr und dem Gegenstand. Einen anschaulichen Beweis liefern Geographie und Geologie. Dennoch ist die bestimmte semantische Beziehung in dieser Hinsicht so wesentlich, als daß man sie einfach ignorieren könnte. Das trifft besonders dann zu, wenn die Bezeichnung der wissen1

3

4

Davon zeugt besonders anschaulich die Bezeichnung der 1961 von G. P. Murdock gegründeten Zeitschrift: Ethnology. An international journal of cultural and social anthropology. Siehe Ju. P. Averkieva, „Etnografija i kul'turnaja/social'naja antropologija na zapade", in: Sovetskaja Etnografija, 5, 1971, S. 11. Diesen Fragen wurde bereits in der Spezialliteratur Aufmerksamkeit geschenkt. Siehe A. Hultkrantz, „American .anthropology' and European .ethnology' ", in: Laos, 2, 1952, S. 100.

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

25

schaftlichen Disziplin keinen abstrakten Charakter aufweist. So wird niemand ernsthaft die Zoologie eine Disziplin nennen wollen, die die Pflanzen erforscht, oder die Genetik als die Wissenschaft bezeichnen, die sich mit Mineralien beschäftigt. Das erklärt sich daraus, daß im entgegengesetzten Falle eine krasse Nichtübereinstimmung des Terminus zu beobachten wäre, der zur Bezeichnung der Wissenschaft und der von ihr erforschten Eigenschaften der objektiven Realität verwendet wird. Anders ausgedrückt: eine bestimmte Übereinstimmung zwischen der Bezeichnung einer wissenschaftlichen Disziplin und der von ihr erforschten objektiven Realität ist notwendig. Dabei ist freilich keine Identität gefordert wie dies, wie sich am Wort „Geschichte" zeigt, übrigens auch gar nicht erstrebenswert ist. Anders wäre es äußerst schwierig, die notwendige Konventionalität und die sinnentsprechende Verwendung der Begriffe zu gewährleisten, die der wissenschaftlichen Disziplin und ihren spezifischen Funktionen den Namen geben. Bei der Anthropologie scheint, auf den ersten Blick betrachtet, direkte Übereinstimmung zwischen der Bezeichnung des Objekts der Wissenschaft und dem Eigennamen der Disziplin zu bestehen, bildet doch der Mensch, Anthropos, das Objekt, und die Anthropologie stellt sich allgemein die Aufgabe, den Menschen allseitig zu erforschen. Bereits im 18. Jahrhundert, als das Wort „Anthropologie" 5 eben erst aufkam, bezeichnet es den „Traktat von der Seele und vom Körper des Menschen".6 Später wurde dieser Terminus konkretisiert und weiter aufgeschlüsselt. Die allseitige Erforschung des Menschen sollte sich sowohl auf seine biologischen als auch seine soziokulturellen Eigenschaften erstrecken.7 So befaßt sich nach F. Boas die Anthropologie „mit den biologischen und geistigen Erscheinungen menschlichen Lebens". 8 Später bot M. Herskovits im Grunde dieselbe Definition: „Die Anthropologie, die ihre Aufmerksamkeit dem Menschen zuwendet, hat alle Phasen der menschlichen Existenz, die biologische und kulturelle, die vergangene und gegenwärtige im Auge." 9 Eine Definition jüngeren Datums von R. M. und F. M. Keesing lautet: „Die Anthropologen untersuchen sowohl die physischen (biologischen) als auch die kulturellen und sozialen Wesensmerkmale des Menschen."10 Ähnliche allgemeine Definitionen 11 lösen jedoch unausweichlich die Frage 5

B I

a M

10

II

Der Terminus „Anthropologie" taucht bereits im 16. Jahrhundert auf. Siehe A. Bastian, Die ( Vorgeschichte der Ethnologie, Berlin 1881, S. 7. Siehe C. I. Poirier, Histoire de l'ethnologie, Paris 1961, S. 19. Bei der Einbürgerung der Auffassung vom Profil der Anthropologie in den angelsächsischen Ländern spielte das 1 8 7 1 gegründete Anthropologische Institut Großbritanniens und Irlands, in das die bereits 1843 in London gegründete Ethnische Gesellschaft eingegliedert wurde, eine bestimmte Rolle. Siehe Averkieva, a. a. O., S. 9. F. Boas, Psychological problems in anthropology, 1 9 1 0 , S. 1. M. Herskovits, Man and his works, New York 1949, S. 5 ; siehe ferner A. Montague, Anthropology and Human nature, Boston 1 9 5 7 ; T. K . Penniman, A Hundred Years of Anthropology, London 1965, S. 1 3 - 1 4 . R. M. Keesing/F. M. Keesing, New perspectives in cultural anthropology, New York 1 9 7 1 , S. 5. Die ideologische Grundlage der Auffassung von der Anthropologie als der Universalwissenschaft vom Menschen bildet der philosophische Anthropologismus, der für die Anschauungen -vieler

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JU. V. BROMLEJ

aus: Wodurch unterscheidet sich die Anthropologie von solchen Wissenschaftsdisziplinen wie Philosophie und Soziologie,12 die in diesem oder jenem Maße den Anspruch auf die Erforschung der Menschheit als Ganzes erheben? Gewöhnlich wird leider die Frage nach der diflerencia specifica der Anthropologie mit Stillschweigen übergangen. Sie zu ignorieren, ist jedoch schlechterdings unmöglich, denn sie ist selbst Realität, und dieser kann man nicht entgehen. Abstrakte Erörterungen, wonach die Aufgabe der Anthropologie im Studium der gemeinsamen Züge des Menschen und der Menschheit bestehe,13 führen nicht weiter. Eine solche Aufgabe stellen sich auch die vorhin erwähnten Disziplinen. Hier ist überdies anzumerken, daß die Anthropologie sich in der Praxis nicht auf die Erforschung des „allgemeinen" Charakters beschränkt, mit der Anthropologen den Leser übrigens eigentlich kaum behelligen. Auch die Behauptung, daß „der konkrete Beitrag, den die Anthropologie in die Wissenschaft vom Menschen einzubringen bestrebt ist, in der weiten Sicht auf die Sache, in der weiten Perspektive besteht, die Spezialkenntnisse anderer Disziplinen vereint und sie in Verbindung mit den eigenen direkten und unmittelbaren Beobachtungen des Anthropologen erforscht", 14 vermag an diesem Sachverhalt nichts zu ändern. Die Weite der Sicht und Perspektiven nehmen beispielsweise die Philosophie und Soziologie für sich in Anspruch, und der Soziologie sind die Methoden der unmittelbaren Beobachtung und Feldforschung ebenfalls vertraut. Auf spezifische Methoden kann man sich anders als bei Hilfswissenschaften bei der Begründung des selbständigen Charakters der Grundwissenschaften wohl kaum berufen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Eingeständnis rvon Lévi-Strauss, daß „die Anthropologie sich von anderen ,Human'- und Sozialwissenschaften nicht durch einen ihr einzig und allein gehörenden Forschungsgegenstand auszeichnet".1" Auch die Zuordnung

u

13

14 15

Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts charakteristisch ist. Der philosophische Anthropologismus war eine der Formen der Überwindung des Idealismus durch den vormarxschen Materialismus. Dieses Herangehen stand bekanntlich im Zentrum des Materialismus Ludwig Feuerbadis, der in seinen Schriften die Notwendigkeit einer Universalwissenschaft von der Gesellschaft, die Anthropologie, zu begründen suchte. Der fundamentale Fehler des philosophischen Anthropologismus war seine Auffassung vom Menschen als einem biologischen Wesen mit abstrakt seit eh und je ausgestattetem Potential und einem unveränderlichen Wesen (siehe Averkieva, a. a. O., S. 9 bis 10). In der Gegenwart werden in der bürgerlichen Wissenschaft Versuche unternommen, eine philosophische Anthropologie als eine Art „humanistisches" sozial-philosophisches System zu schaffen, das den angeblich „antihumanistischen" Traditionen der marxistischen Philosophie entgegengestellt werden soll (siehe I. I. Antonovic, Sovremennaja filosofskaja antropologija, Kriticeskij ocerk, Minsk 1970). Siehe P. N. Fedoseev, „Problema social'nogo i biologiceskogo v filosofa i sociologii", in: Voprosy filosofii, 3, 1976, S. 65. So „strebt die allgemeine Anthropologie", nach M. Harris, „danach, eine allgemeine Orientierung zu erreichen". Sie bezieht sich darauf, „wie die bedeutenden Fakten in der ganzen Menschheit, im maximalen Kontext der Zeit, des Raums und der Theorie zu bestimmen und zu werten sind". (M. Harris, Culture. Man and Nature. An Introduction to General Anthropology, New York 1971, S. 5.) D. G. Mandelbaum, Anthropology as study as career, Berkeley 1965, S. 1. C. Lévi-Strauss, Anthropologie Structurale, Paris 1968, S. 37i8.

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

27

der „allgemeinen" Anthropologie zu den Naturwissenschaften, 16 wie sie unter der Einwirkung der Ideen des philosophischen Anthropologismus versucht wird, verheißt keine Befreiung aus dem Dilemma. Letztlich wäre sie dabei mit der physischen Anthropologie identisch und verlöre somit ihren Anspruch auf Allgemeinheit. Diese Frage verbleibt auch weiterhin Gegenstand der Diskussion, und zuweilen rechnet man die Anthropologie als Ganzes zu den Humanwissenschaften. 17 Wie bereits bemerkt wurde, erblickt man nicht selten die Hauptaufgabe der Anthropologie in einer Verbindung des Studiums der biologischen und soziokulturellen Aspekte des Menschen und der Menschheit.18 Eine solche Behandlung der Anthropologie stellt sich als äußerst verschwommen dar, bleibt doch das Studium der Wechselbeziehungen des Biologischen und Sozialen in der Tätigkeit des Menschen eine der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft insgesamt.19 Leider weisen derartige auf die Synthese zielenden Forschungen in der .Anthropologie nur ein geringes Eigengewicht auf. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur die Thematik der Referate auf dem letzten Internationalen Kongreß in Chikago anzuschauen.20 Davon zeugt aber auch die in der Praxis der angelsächsischen Länder gültige Einteilung der Anthropologie in die Physische,21 die Kultur- und Sozialanthropologie, die sich wiederum in zahlreiche Subdisziplinen gliedern. In den USA und England werden das Verhältnis der einzelnen anthropologischen Disziplinen und ihr Platz im System der Wissenschaften durchaus nicht einheitlich bewertet. „Wie Lehre und Praxis auf den meisten Universitäten der USA zeigen, stellt die allgemeine Anthropologie ein Amalgam aus vier Bereichen bzw. Disziplinen dar, nämlich der Kultur anthropologie (manchmal auch Sozialanthropologie genannt), der Archäologie, der anthropologischen Linguistik und der Physischen Anthropologie dar." 22 ie 17

18

19

A. R. Radcliffe-Brown, A natural science of society, Glencoe 1957. R. Redfield, „Relation of anthropology to the social sciences and humanities", in: Anthropology Today, Chicago 1953, S. 728-738; derselbe, „Anthropology among the disciplines...", in: Current Anthropology, Bd. 4, 1963, Nr. 2. Siehe dazu die vorhin angeführten Definitionen der Anthropologie von Boas, Herskovits und Penniman, siehe auch Mandelbaum, S. 1, und Harris, S. 1. Die Notwendigkeit komplexen Herangehens an das Studium des Menschen wird in letzter Zeit von sowjetischen Wissenschaftlern mehrfach betont (siehe B. G. Anan'ev, Celovek kak predmet poznanija, Leningrad 1968). Dabei ist zu unterstreichen, daß die wichtigste Bedingung des dialektischen Herangehens an das Problem des Verhältnisses zwischen Biologischem und Sozialem darin besteht, daß die gegebenen Erscheinungen einerseits nicht miteinander identifiziert, andererseits aber auch nicht starr einander entgegengesetzt werden dürfen. (Siehe Fedoseev, a . a . O . , S. 65.)

20

IX. International Congress of Anthropological and Ethnological Sciences. Plan of the Congress and Résumés of contributions, Chicago 1973, S. 1 - 1 4 7 ; siehe ferner Ju. P. Averkieva/ Ju. V. Bromlej, „IX. Mezdunarodnyj kongress antropologiceskich i étnologiceskich nauk", in: Sovetskaja Étnografija, 1, 1974, S. 3 - 1 5 .

21

In der UdSSR wird wie in der Mehrheit der europäischen Länder zur Bezeichnung der Physischen Anthropologie gewöhnlich der Terminus „Anthropologie" verwendet, der nur in diesem Sinne gebraucht wird.

32

Harris, S. 1. Die Hervorhebungen stammen vom Autor des Beitrags.

28

J U . V. B R O M L E J

Spricht man in den USA von den speziellen anthropologischen Disziplinen, so begnügt man sich gewöhnlich mit dem Hinweis auf die Physische und die Kulturanthropologie. In England pflegt man dagegen der Physischen Anthropologie die Sozialanthropologie gegenüberzustellen. Zwischen den „Kulturanthropologen" der USA und den englischen „Sozialanthropologen" ist seit vielen Jahren eine - Polemik um das Verhältnis dieser beiden Wissenschaften zueinander im Gange. 23 Der Streit geht um das Wesen und das Verhältnis der Begriffe „Kultur" und „Gesellschaft". Die Mehrheit der amerikanischen Wissenschaftler vertritt die Auffassung, daß „Kultur" und „Gesellschaft" Begriffe von gleichem Rang seien und daß die soziale Struktur im Begriff „Kultur" einbezogen ist. Sie betrachten die Sozialanthropologie als Teil der Kulturanthropologie, der sich mit dem Studium der Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen und den ihnen entsprechenden Institutionen befaßt. 24 In ihrer Polemik mit ihren amerikanischen Kollegen vertreten die englischen Sozialanthropologen dagegen die Auffassung, daß die Kulturanthropologie einen Teil der Sozialanthropologie bilde. Sie berufen sich darauf, daß Kultur nur einer der Aspekte des sozialen Lebens sei.^ In jüngster Zeit wird jedoch zur Bezeichnung beider Spielarten der Anthropologie immer häufiger, insbesondere auf internationalen Foren, die „integrierende" Bezeichnung Kultur/Sozialanthropologie verwendet.26 Von Integration kann hier freilich nur bedingt gesprochen werden. Das ergibt sich vor allem aus der außerordentlichen Verschwommenheit der theoretisch-ideologischen Positionen der angloamerikanischen Kultur/ Sozialanthropologen.27 Das wirkt wiederum „umgekehrt" auf die Seite der Kultur- und Sozialanthropologie zurück, die uns hier besonders interessiert, nämlich auf die Vorstellungen von ihrem Gegenstand. Obwohl diese Vorstellungen, wie wir sehen, keineswegs einheitlich sind, ist nachdrücklich zu unterstreichen, daß es sich um eine Disziplin handelt, die heute in der westlichen Welt sehr „in Mode" ist.28 Die Frage nach ihrem Gegenstand und Platz im System der Wissenschaften taucht 23

Näheres siehe bei Averkieva, a. a. O., S. 1 2 - 1 3 .

24

E . A. Hoebel, Man in the primitive world. An introduction to anthropology, London 1949, S. 5 ;

25

A. R. Radclifle-Brown, A structure and function in primitive society, 6. Aufl., London

Penniman, S. 15. 1965,

S. 5. 26

Siehe Encyclopaedia Britannica, Bd. 6, Chicago-London-Toronto-Genf 1963, S. 888.

27

Zur Kritik der Hauptrichtungen und -schulen der angloamerikanischen Kultur/Sozialanthropologie durch sowjetische Wissenschaftler siehe Angloamerikanskaja etnografija na sluzbe imperializma, Moskau 1 9 5 1 ; Sovremennaja amerikanskaja etnografija. Teoreticeskie napravlenija i tendencii, Moskau 1 9 6 3 ; Averkieva, a . a . O . ; dieselbe, „fitnografija v S ? A i neokolonializm", in: Novaja i Novejsaja Istorija, 5, 1 9 7 2 ; dieselbe, O b otnosenii k marksizmu v sovremennoj

etnografii

zapada, Etnologiceskie issledovanija za rubezom. Kriticeskie ocerki, Moskau 1 9 7 3 ;

dieselbe,

„Der

Neoevolutionismus

in

der

gegenwärtigen

Ethnographie

der U S A " ,

in

diesem

Band;

Grigulevic, a. a. O. 28

Einer besonders starken Popularität erfreut sie sich in den USA. In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg

wuchs

die

Mitgliederzahl

der

Amerikanischen

Anthropologie-Assoziation

um

das

Fünffache und stieg auf einige Tausend an. Dabei überwiegen die Kulturanthropologen zahlenmäßig. Man schätzt, daß die Zahl der Wissenschaftler dieser Spezialisierungseinrichtungen die aller übrigen Länder zusammengenommen übersteigt. (Siehe Grigulevic, a. a. O., S. 38.)

29

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

häufig auch in der ausländischen Literatur auf. Sie wird nicht nur in allgemeinen Überblicksdarstellungen aufgeworfen, sondern auch in Spezialarbeiter 2 9 Einen der ernsthaftesten Versuche in dieser Richtung unternahm vor nicht allzu langer Zeit M. Freedman in einer für die U N E S C O bestimmten Ausarbeitung. Als ein Kapitel der Arbeit „Hauptforschungsrichtungen in den Sozial- und Humanwissenschaften" bietet sie unter der Überschrift „Sozial- und Kulturanthropologie" 30 einen speziellen Überblick. Dieser Uberblick wurde als gesondertes Referat auf dem IX. Internationalen Kongreß der anthropologischen und ethnologischen Wissenschaften im Jahre 1973 in Chikago gehalten und zur Diskussion gestellt. 31 In vielen Ansichten der Tradition folgend, siedelt Freedman den Einsatzbereich der kultur/sozialanthropologischen Forschungen in der Grenzfläche zwischen den sogenannten „primitiven" Gesellschaften und der Gegenwart an. 32 Faktisch wird jedoch den „primitiven" Gesellschaften eindeutig der Vorzug gegeben; beim Studium der Gegenwart gilt das Interesse vorwiegend den kleinen Menschengruppen. 33 All das erweist sich freilich als das bereits Bekannte, aber es tritt hier sehr klar in Erscheinung. D a s gilt jedoch nur insofern und insoweit wir davon absehen, den Charakter der Kultur/Sozialanthropologie in Beziehung zur Bezeichnung der Disziplin zu setzen. Als Objekt in diesem Sinne 34 figurieren gewöhnlich: die Gesellschaft überhaupt oder die sozialen Gruppen, 3 5 die Kultur insgesamt, die Lebensweise oder die Kulturareale 3 6 und drittens die Völker. 37 Kann man in den ersten beiden Fällen noch von einer gewissen Übereinstimmung zwischen der Bezeichnung, des Gegenstands und der Disziplin sprechen (Sozium - Soziale Anthropologie; Kultur - Kulturanthropologie), so läßt sich im dritten Fall eine solche Übereinstimmung schwerlich feststellen. Zugleich erhebt sich, wann immer von Gruppen (sozialen, kulturellen, ethnischen) die Rede ist, die „äußerlich betrachtet, formale", aber im Sinne der Logik unausweichliche Frage: Warum befaßt sich eine Wissenschaft, deren Bezeichnung vom Wort „Anthropos" abgeleitet ist und die man häufig genug als die Wissenschaft charakterisiert, deren Objekt der Mensch oder die Menschheit sei, nur mit einigen Teilen der Menschheit? Bereits darin kommt eine gewisse Willkürlichkeit zum Ausdruck. Man kann das hinnehmen, und gewöhnlich geschieht das auch. Aber das befreit sie nicht von anderen Unzulänglichkeiten und Widersprüchen ähnlicher Art. So stellt sich insbesondere die Frage: 29

Siehe „Anthropology among the diseiplines", in: Current Anthropology, 4, 1963, N r . 2.

3(1

M . Freedman, Social and Cultural Anthropology. Extract from Main Trends

Social and Human (UNESCO).

Sciences.

31

Siehe Averkieva/Bromlej, a. a. O . , S. 6 - 7 .

32

Freedman, a. a. O .

33

Siehe E n c y d o p a e d i a Britannica, Bd. 20, S. 862 ; Keesing/Keesing, S. 4 - 5 .

34

Gewöhnlich

werden

Objekt

of Research

in the

U N E S C O , to be published in 1 9 7 3 - 7 4 , Paris-den H a a g , Mouton

und

Gegenstand

innerhalb

der

Kultur/Sozialanthropologie

nicht

scharf begrenzt, und häufig geht es allgemein nur um ihren objektiven Gegenstandsbereich. 38

M . Titiev, T h e Science of man, N e w Y o r k 1956, S. 4.

315

Siehe ebenda; D . G . Mandelbaum, Cultural Anthropology, California 1965, S. 2 ; A . Hultkrantz,

37

A . Haddon, History of anthropology, London 1949, S. VII.

General Ethnological Concepts, Copenhagen 1960, S. 57.

30

JU. V. B R O M L E J

Warum wendet diese Disziplin ihr Augenmerk in erster Linie den „primitiven" Gesellschaften zu? Ist etwa der Mensch in den hochentwickelten Gesellschaften kein Anthropos mehr? Soweit die Rede darauf kommt, beruft man sich gewöhnlich auf die Tradition. Wie bereits bemerkt wurde, reichen solche einzelnen Berufungen auf die Tradition nicht aus, um den objektiven Gegenstandsbereich einer Disziplin zureichend zu begründen, und in diesem uns interessierenden Fall sind sie völlig unzulänglich.38 Die Hinweise, daß in hochentwickelten Gesellschaften kleine soziokulturelle Gruppen erforscht werden, können die Unzulänglichkeiten der Argumentation nicht beheben. Stellen etwa die großen Gemeinschaften und die großen Einheiten in der Gliederung des Menschengeschlechts in der Gegenwart, wie z. B. die Nationen, keine soziokulturellen Einheiten dar? Bei der Antwort auf diese Frage soll die Berufung darauf, daß sich die Kultur/ Sozialanthropologie von anderen Disziplinen durch die Methode der Feldforschung unterscheide, aus der Verlegenheit helfen.39 Auch hier wird offenbar, daß die Methode allein keine ausreichende Begründung für die Gliederung und Aussonderung von Forschungsbereichen liefern kann. Das erklärt sich allein schon daraus, daß auch andere Wissenschaften, wie z. B. die Geologie, Feldforschungen betreiben. Andererseits, so bemerkt Freedman zutreffend, erhält die Kultur/Sozialanthropologie bei weitem nicht alle ihre Ergebnisse allein durch die Methode der Feldforschungen.40 Hier ist vor allem die Aufmerksamkeit auf den Platz zu lenken, den die Kultur/Sozialanthropologie besonders der vergleichend typologischen Methode einräumt.41 Die komplizierte Situation, in der sich die Kultur/Sozialanthropologie in unseren Tagen befindet, wird besonders offenkundig, wenn nach ihrem Verhältnis zu komplexen, „gemischten" Disziplinen gefragt wird. Das betrifft in erster Linie ihr Verhältnis zur sogenannten konkreten Soziologie. Diese Disziplin hat in den letzten Jahrzehnten in der ganzen Welt eine stürmische Entwicklung genommen. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten über die Bestimmung ihres Gegenstandsbereichs tritt sie letztlich mit dem Anspruch auf, die gegenwärtige Gesellschaft, soweit sie mit dem Mittel empirischer Untersuchungen erforscht werden kann, in ihrer Totalität zu erfassen. Man muß eingestehen, daß es nicht leicht fällt, diesem Druck zu widerstehen. Wenn Kulturanthropologen nach dem Verhältnis ihrer Disziplin zur konkreten Soziologie befragt werden, machen sie gewöhnlich geltend, sie unterscheide sich von dieser, wie sich kulturelle von den sozialen Erscheinungen im eigentlichen Sinne unterscheiden. Auch wenn man solcher Abgrenzung der gesellschaftlichen Erscheinungen zustimmt oder nicht zustimmt, beDieses Umstands waren sich auch einige führende westliche Anthropologen bewußt. So argumentiert Boas bei dem Versuch, das erhöhte Interesse der Anthropologen an den Gesellschaften

logisch

zu

begründen,

daß

die

„grundlegenden

Besonderheiten

„primitiven" der

sozialen

Organisation dort deutlicher sichtbar werden dürften als in den entwickelten städtischen Gesellschaften" (Boas, S. 1). 3a

Siehe Encyclopaedia Britannica, Bd. 20, S. 862.

40

Freedman, a. a. O., S. 121.

41

Haddon, S. V I I I ; Exploration in Cultural Anthropology, hsg. v. W . Goodenough, New York 1963, S. 2 ; Keesing/Keesing, S. 4 ; L. Despres, „Anthropological Theory, Cultural Pluralism and the Study of Complex Societies", in: Current Anthropology, Bd. 9, 1968, Nr. 1, S. 4.

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

31

deutet das noch nicht, daß man einer Vermischung von Anthropologie und Soziologie das Wort reden sollte. Hier erhebt sich jedoch unabweisbar die Frage nach der Abgrenzung der Kulturanthropologie sowohl gegenüber der allgemeinen Kulturwissenschaft als auch gegenüber den einzelnen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Sozialanthropologie wäre freilich nur schwer gegenüber den Prätentionen der Soziologie zu verteidigen, und dies um so weniger, als sie dem Studium kleiner Gruppen ihr Hauptaugenmerk schenkt. Nicht von ungefähr betrachten die Begründer der Sozialanthropologie ihre Wissenschaft als Subdisziplin der Soziologie.42 In der englischsprachigen Spezialliteratur der Gegenwart wird nicht selten die enge Bindung zwischen Sozialanthropologie und Soziologie anerkannt, und man hebt hervor, daß beide gleiche Ziele hätten.43 Freilich ist man sich auch der problematischen Natur der Grenzen zwischen der Anthropologie und Soziologie im ganzen genommen bewußt. In dieser Hinsicht ist die Bemerkung eines der führenden Soziologen der USA, T. Parsons', sehr aufschlußreich: „Es fällt schwer, die besondere Stellung zu kennzeichnen, die die Anthropologie einnimmt. In gewisser Beziehung hat sie sich eines größeren Bereichs als den der Soziologie bemächtigt, während sie in anderer Hinsicht ihr Augenmerk auf die schriftlosen Kulturen und Gesellschaften richtet."44 Zweifellos hat das Fehlen eindeutig fixierter Grenzen zwischen der Anthropologie und Soziologie eine Ursache auch in der für die jüngste Zeit zu beobachtenden Tendenz, an den Universitäten der USA Lehrstühle zu schaffen, die beide Disziplinen vereinen. Zusammenfassend sei gesagt: Das vorhin Ausgeführte dürfte deutlich erwiesen haben, daß die Bestimmung des Standorts der Kultur/Sozialanthropologie im System der Wissenschaften von erheblichen Schwierigkeiten begleitet ist. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Eingeständnis, das einer ihrer Vertreter in einem erweiterten Diskussionsbeitrag auf dem internationalen Symposium zum Thema „Der Platz der Anthropologie und der Ethnographie im System der Wissenschaften. Der westliche und der sowjetische Standpunkt" machte, das erst kürzlich, im Juli 1976, auf Burg Wartenstein in Österreich stattfand. In seinem Vortrag erklärt er: „Ich weiß sehr wohl, daß einige Kollegen meine Irritation teilen, die ich empfinde, wenn man mich ersucht, eine Definition der Anthropologie selbst unter Verwendung der akademisch gebräuchlichen Termini zu geben".45 Wenn wir nun zum Vergleich der Kultur/Sozialanthropologie mit der Ethnographie schreiten, so soll letztere vornehmlich im Lichte der sie auszeichnenden Kriterien, d. h. ihrer entwicklungsbestimmenden Traditionen, der Übereinstimmung von Name und Inhalt und der Grenzen zu den kombinierten Wissenschaften betrachtet werden. Bekanntlich wird der Terminus „Ethnographie" in den verschiedenen Ländern durchaus nicht in einem einheitlich festgelegten Sinn verwendet. In einigen Fällen verwendet Vi 43 44

45

Hultkrantz, G e n e r a l . . . , S. 209-210. Encyclopaedia Britannica, Bd. 20, S. 862. American sociology. Perspectives, problems, methods, hsg. v. T. Parsons, New York-London 1948. T. Dragadze, „A few notes toward understanding ,ethnos* theory", in: The place of anthropology amongst the sciences. The soviet and the western view. Paper prepared in advance for participants in Burg Wartenstein, Symposium Nr. 70, New York 1976, S. 1.

32

JU. V. BROMLEJ

man ihn im Unterschied zu Ethnologie, 46 die als theoretische, verallgemeinernde Wissenschaft betrachtet wird, zur Bezeichnung des deskriptiven Niveaus der Forschungen.47 Analog zur Kultur/Sozialanthropologie 48 wird die deskriptive Ebene mit Ethnographie bezeichnet, während sie doch folgerichtig „Anthropologie" genannt werden müßte. Eine solche Gegenüberstellung der wissenschaftlichen Disziplinen ist jedoch nach unserer Auffassung nicht stringent. Ihr liegt der Unterschied von griechisch „grapho" ich schreibe - und „logos" zugrunde, das Bedeutungen wie „Begriff", „Gedanke", „Vernunft", „Lehre" aufweist. 49 Bei solcher Begründung müßten Wissenschaften wie Geographie und Demographie sich eigentlich auf das Sammeln und Beschreiben des Materials beschränken. Überdies ist die Grenze zwischen dem Sammeln und dem Verallgemeinern des Materials nur in einem bestimmten Sinn gültig. So erweist sich die in unserem Lande und in anderen europäischen Ländern traditionell gebräuchliche Verwendung des Terminus „Ethnographie", der beide Ebenen der Forschung, sowohl die sammelnd-deskriptive als auch die verallgemeinernde Tätigkeit, einschließt, als zureichend begründet. In der Praxis wird Ethnographie faktisch mit Ethnologie identifiziert.50 Freilich wird der Terminus „Ethnologie" relativ selten verwendet, dafür gebraucht man häufiger sein russisches Synonym „Narodorvedenie", was als „Volksforschung" im Deutschen wiederzugeben wäre. Wenn man sich mit der Bestimmung des Profils der Ethnographiè (Ethnologie) befaßt, so ist nachdrücklich zu betonen, daß die Benennung der Disziplin unmittelbar auf das Etbnos als ihren Forschungsgegenstand verweist. Folglich hängt die Vorstellung von der Ethnographie weitgehend davon ab, welche Gemeinschaft wir mit dem Terminus „Ethnos" bezeichnen. Im Altgriechischen wurde das Wort „Ethnos" bekanntlich in vielfältiger Bedeutung gebraucht; es konnte Volk, Stamm, Masse, Menschengruppe, die 16

47

/,s

49

50

Es ist bekannt, daß „in Amerika Ethnologie in der R e g e l . . . das vergleichende Studium der primitiven Völker bezeichnet". (À. Hultkrantz, „Anthropology as a goal research some reflection", in: Folk, Bd. 7, 1965, S. 17.) Äußerst aufschlußreich ist hier die Meinung, daß „die Ethnographie eine anspruchslose, beschreibende Disziplin ist und aus der Mode k o m m t . . . Sie präsentiert sich allein mit der Sammlung von Fakten als Rohmaterial für die Ethnologie". (Hoebel, S. 6). Einen eigentümlichen, in der Verfahrensweise willkürlichen Versuch, eine gewisse hierarchische Ordnung unter den untersuchten Disziplinen herbeizuführen, unternahm Lévi-Strauss. Nach seiner Meinung „schließt die Ethnologie die Ethnographie als ihre voraufgehende Etappe in sich ein". Im Verhältnis von Ethnologie zur Kultur/Sozialanthropologie stelle letztere die endgültige Etappe der Synthese dar, „die als Grundlage die Ergebnisse von Ethnographie und Ethnologie in sich aufnimmt" (Lévi-Strauss, Anthropologie Strukturale, S. 388). Man muß freilich anerkennen, daß in etymologischer Hinsicht der Terminus „Ethnologie" einen bestimmten Vorzug genießt. Es versteht sich von selbst, daß für die gegenwärtige Wissenschaft eine Bezeichnung vorzuziehen ist, die ihre verallgemeinernden, nicht ihre deskriptiven Funktionen unterstreicht. (Siehe Ju. V. Bromlej, Étnos i Étnografija, Moskau 1973, S. 181.) Auf die Rechtmäßigkeit ihrer Verwendung wurde in der sowjetischen Literatur mehrfach eingegangen. (Siehe V. N. Charuzina, Vvendenie v Étnografiju. Opisanie i klassifikacija narodov zemnogo sara, Moskau 1941, S. 16.) Bezeichnend in dieser Hinsicht ist, daß sich bei uns in der Praxis der Übersetzungstätigkeit ziemlich fest eingebürgert hat, die in fremdsprachlichen Texten vorkommende „Ethnologie" im Russischen mit dem Wort „Ethnographie" wiederzugeben.

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

33

Angehörigen einer Sprachgemeinschaft usw. bedeuten. Obwohl der Terminus „Ethnos" in der Wissenschaft der Gegenwart längst nicht mehr in so vielfältiger Bedeutung verwendet wird, wurde bis heute noch keine ausreichende Einheit in der Interpretation sowohl des Begriffs selbst als auch seiner grundlegenden Analogien „Ethnische Gemeinschaften" und „Ethnien" erzielt. Alle allgemeinen Deutungen lassen sich auf zwei hauptsächliche Gruppen zurückführen. Dazu gehören auf der einen Seite die Vorstellungen, daß Ethnos eine relativ kleine Gemeinschaft vorwiegend archaischen Charakters darstelle. 51 Dem steht die Auffassung gegenüber, die den Terminus als Äquivalent zum Wort „Volk" (narod) verwendet. Darunter werden nicht nur kleine, sondern auch Gemeinschaften begriffen, die nach vielen Millionen zählen, und zwar nicht nur in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Völker, sondern auch die Völker hochentwickelter Länder.52 Seit ihren Anfängen hat die russische ethnographische Wissenschaft den Terminus „Ethnos" im Sinne von „Volk" gebraucht.53 Eine solche Auffassung vom Terminus hat sich auch in der sowjetischen Ethnographie erhalten, wo er besonders in den letzten Jahrzehnten weite Verbreitung fand. 54 Für den Gebrauch des Terminus „Ethnos" im weiten Sinne des Wortes als Äquivalent für das Wort „Volk" bei der Bezeichnung des Forschungsobjekts der Ethnographie und Ethnologie gibt es nach unserer Auffassung um so mehr Gründe, da man dieses Objekt schwerlich auf einige in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Gemeinschaften begrenzen kann. Ethnien sind nicht nur die Hopi, Botokuden, Aleüten und ähnliche Gemeinschaften mit relativ geringem zahlenmäßigem Bestand, sondern auch die jeweils nach Millionen zählenden Völker wie die Russen, Engländer, Japaner, Franzosen usw. Daraus leitet sich die Vorstellung ab, daß die Ethnographen nicht nur zurückgebliebene, sondern auch in ihrer Entwicklung fortgeschrittene, sowohl „fremde" Völker als auch das eigene Volk erforschen. Solche Auffassungen sind bekanntlich nicht nur für die russischsprachige Literatur charakteristisch. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann sich in Europa das Interesse an der Erkenntnis der eigenständigen Kultur des eigenen Volkes zu regen, was seinen Ausdruck insbesondere in dem deutschen Terminus „Volkskunde" findet. Wir meinen, daß dieser Terminus ebenso wie „Völkerkunde" 55 besonders anschaulich zeigte, daß das Objekt 51

52

M

5/1

55

3

Siehe R. Naroll, „On Ethnic unit Classification", in: Current Anthropology, Bd. 5, Okt. 1964, Nr. 4. Siehe Ethnic groups and boundaries. The Social Organisation of Culture Difference, hsg. v. F. Barth, Bergen 1970. Siehe N. M. Mogiljanskij, Etnografija i ee zadaci, Ezegodnik Russkogo antropologiceskogo obscestva, Bd. 3, St. Petersburg 1908, S. 1 0 2 - 1 0 5 . Siehe P. I. Kusner, „Nacional'noe samosoznanie kak etniceskij opredelitel", in: Kratkie soobscenija Instituta Etnografii ANSSSR, 8. Lieferung, 1 9 4 9 ; S. A. Tokarev, „Problemy typov etniceskich obscnostej", in: Voprosy filosofu, 11, 1 9 6 4 ; V. I. Kozlov, Dinamika cislennosti narodov, Moskau 1969; Ju. V. Bromlej, „Etnos i etnosocial'nyj organizm", in: Vestnik Akademii nauk SSSR, 8, 1 9 7 0 ; K . V. Cistov, „Etniceskaja obscnost', etniceskoe soznanie i nekotorye problemy duchovnoj Kul'tury", in: Sovetskaja Etnografija, 3, 1972; Bromlej, Etnos i Etnografija. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Disziplinen zueinander verdient eine gesonderte Betrachtung. (Siehe W . Steinitz, „Volkskunde und Völkerkunde", in: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde, Berlin 1955, Bd. I, Heft 1/2, S. 2 7 0 - 2 7 5 . ) Kultur u. Ethnos

34

J U . V. B R O M L E J

der entsprechenden Disziplinen „narod" bzw. „das V o l k " darstellt. Hier haben wir, anders ausgedrückt, eine völlige Übereinstimmung zwischen den Bezeichnungen der Disziplinen und den Auffassungen von ihrem Objekt vor uns. Ähnlich verhält es sich in unserem Lande mit dem traditionellen Verständnis des Terminus „Ethnographie", denn dieser wird, wie bereits bemerkt wurde, bei uns seit eh und je in der Bedeutung von „Volk" verwendet. D i e Fixierung des Objekts einer wissenschaftlichen Disziplin bedeutet freilich eo ipso noch nicht, daß damit alle Fragen ihres Profils vorweg bestimmt wären. D e r vorhin formulierten These entsprechend, daß alle Ethnien bzw. Völker das Hauptobjekt der Ethnographie bzw. Ethnologie bilden, sind deshalb Meinungsverschiedenheiten über ihren Gegenstand nicht ausgeschlossen. Das mußte sich insbesondere in der Periode der Herausbildung der sowjetischen ethnographischen Wissenschaft klar äußern. Damals herrschte auf der einen Seite die Tendenz vor, die Aufgaben der Ethnographie ausschließlich auf die Erforschung archaischer sogenannter „Relikt"erscheinungen festzuschreiben und andererseits die Ethnographie - genauer die Ethnologie - zu einer Art Superdisziplin zu deklarieren, die sich ähnlich der Anthropologie berufen fühle, im Grunde letztlich alle Komponenten der Lebenstätigkeit der Gesellschaft zu erforschen. Solche und ähnliche Meinungsverschiedenheiten in der Bestimmung des Gegenstands der Ethnographie blieben bis heute bestehen. D i e erstgenannte Tendenz impliziert offensichtlich eine Auffassung vom Gegenstand der Ethnographie bzw. Ethnologie, die insofern in gewisser Hinsicht an eine Art von Chagrinleder erinnert, als für die Gegenwart das Verschwinden des Archaischen aus dem Leben der Völker in stetiger Progression einen charakteristischen Zug darstellt. Trotz der Weite, die sich damit zu eröffnen scheint, erweist sich die zweite Tendenz für die Perspektive der Erforschung der ethnischen Gebilde für die Zukunft im Grunde kaum aussichtsreicher. Sie erzeugt unüberwindliche Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Aufgaben der Ethnographie in der Erkenntnis der Realität gegenüber den zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen, die die verschiedenen Seiten und Aspekte im Leben der Völker erforschen. Gegenwärtig treten diese Schwierigkeiten besonders deutlich im Zusammenhang mit der stürmischen Entfaltung der konkret-soziologischen Forschungen hervor, erheben diese doch den Anspruch, im Grunde alle Seiten im Alltagsleben der Gesellschaft zu erfassen. Nach unserer Auffassung könnten diese extremen Positionen leicht überwunden werden, sofern man sich bei der Definition des Gegenstands der Ethnographie nach denselben Kriterien orientiert, von denen man sich in der Regel bei Festlegung der Gegenstandsbereiche der Naturwissenschaften leiten läßt. E s geht um die spezifischen Qualitäten des Objekts, die von der jeweiligen Wissenschaft untersucht werden. In unserem Falle ist das Ethnos das entsprechende Objekt, unter dessen typenbildenden charakteristischen Wesensmerkmalen man die entsprechenden Kriterien herausfinden muß. 56 Zu diesen Wesensmerkmalen zählen zweifellos jene, durch die sich das Ethnos von den anderen Menschengemeinschaften heraushebt. Man hebt demnach jene Merkmale heraus, die einerseits die Ausführlicher siehe dazu Ju. V. Bromlej, „Das ethnographische Studium der Völker. Zu einigen aktuellen Problemen der sowjetischen Ethnographie", in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, Neue Folge Bd. 3, Jg. 1975, S. 8 4 - 8 5 .

Gegenstand von KulturySozialanthropologie und Ethnographie

35

innere Integration der Angehörigen des-jeweiligen Ethnos gewährleisten - man spricht hier von den ethnointegrierenden Funktionen - und jene, die die Abgrenzung gegenüber anderen ethnischen Einheiten bewirken. Man spricht hier von den ethnodifferenzierenden Funktionen. 57 Folglich ist die Untersuchung der Komponenten des Ethnos durch das Prisma der von ihm wahrgenommenen ethnischen Funktionen das Hauptkriterium für Herausbildung des Gegenstandsbereichs der Ethnographie. D a aber die ethnodifferenzierenden Merkmale, die ethnischen Spezifika, der unmittelbaren Anschauung zugänglicher sind als die ethnointegrierenden, dienen sie in der Regel als Hauptmoment der Orientierung bei der Festlegung des Gegenstandsbereichs der ethnographischen Forschungen. Aber der Ethnographie (Ethnologie) obliegt die Aufgabe, das Wesen des Ethnos als Ganzes aufzudecken. Sie untersucht nicht nur die dem jeweiligen Ethnos eigentümlichen Besonderheiten, sondern auch jene Züge, welche allen ethnischen Gemeinschaften eigen sind. D i e Bestimmung des Besonderen und Allgemeinen stellt stets einen einheitlichen Prozeß dar. So setzt das vergleichende Studium der Komponenten des Ethnos als Hauptmethode zur Erkenntnis seiner jeweiligen spezifischen Besonderheiten als unabdingbar die Herausarbeitung auch der Züge voraus, die es mit anderen ethnischen Einheiten gemein hat. Einige solcher Züge sind in allen Ethnien anzutreffen, sowohl in den im Verlauf der Geschichte aufgetretenen und verschwundenen als auch in den gegenwärtig existierenden, und sie besitzen allgemeinmenschlichen Charakter. Andere sind nur einer Gruppe ethnischer Gemeinschaften eigen, sind ihrerseits auch spezifisch. D i e Betrachtung des Ethnos durch das Prisma der Wahrnehmung seiner ethnischen Funktionen ermöglicht es, das Hauptfeld der ethnographischen (ethnologischen) Forschungen abzustecken. Geht man so an die Aufgabe heran, so offenbart sich, daß der Kern der Ethnographie (Ethnologie) jene Schicht der Kultur - dies im weitesten Sinne verstanden - bildet, die ethnische Funktionen erfüllt. Hier ist vor allem die traditionelle, die Kultur des Alltags (Lebenskultur) gemeint. In den verschiedenen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung spielte die traditionelle Kultur des Alltags freilich eine sehr unterschiedliche Rolle. D i e Parameter der Traditionen unterscheiden sich nach Wertigkeit und Zeit. In einer Reihe von Fällen handelt es sich hauptsächlich um althergebrachte, archaische Traditionen, andere sind neuen Ursprungs und erst im Prozeß der Herausbildung begriffen. In den Vorklassen- und frühen Klassengesellschaften erschöpft sich die Kultur in der in der Alltagspraxis ausgeübten traditionell-archaischen Form. Folglich treten auch alle Seiten im Leben des Ethnos, die materielle und sozionormative Kultur einbegriffen, in das Blickfeld der Ethnographen. In den entwickelten Gesellschaften nimmt die ethnische Spezifik in der Sphäre der geistigen Kultur und der psychischen Erscheinungen komplexeren Charakter an. Dementsprechend zeichnet sich auch der Kern des Gegenstandsbereichs der Ethnographie durch eine größere Komplexität der wissenschaftlichen Problematik aus. Besondere Bedeutung erlangt dabei das Studium des ethnischen Selbstbewußtseins. 58 D a das Ethnos aber ein dynamisches, sich in der Zeit veränderndes 57

Siehe Bromlej, Etnos i Etnografija, S. 2 7 - 1 1 3 .

58

Siehe Ju. V. Bromlej,

„Sovremennaja etnografija i ee perspektivy", in: Buduscee nauki

Mezdunarodnyj ezegodnik, 8. Lieferung, Moskau 1975, S. 2 5 4 - 2 6 0 . 3»

-

36

JU. V. BROMLEJ

System darstellt, besteht die Hauptaufgabe der Ethnographie im Studium der ethnischen Prozesse, beginnend mit der Ethnogenese der Völker und endend mit den gegenwärtig ablaufenden ethnosozialen (nationalen) Prozessen. Zusammenfassend sei gesagt: Nach unserer Meinung gestattet diese Auffassung von den Aufgaben der Ethnographie nicht nur, eine vollständige Übereinstimmung der Bezeichnung der Wissenschaft mit ihrem Inhalt herbeizuführen, sondern auch die Ethnographie klar von den komplexen Disziplinen abzugrenzen. Das bezieht sich in erster Linie auf ihr Verhältnis zur Soziologie. Ich möchte es hier bei der bloßen Feststellung bewenden lassen und verweise die an dieser Frage Interessierten auf die entsprechende Literatur. 59 Ich möchte allgemein zwei Momente festhalten. Erstens eröffnen die genannten Kriterien der Abgrenzung der Ethnographie von den komplexen „Zweigdisziplinen auch die Möglichkeit, eine Reihe von Grenzdisziplinen (Ethnische Anthropologie, Ethnolinguistik, Ethnogeographie usw.), die für ein vertieftes Studium vieler ethnischer Erscheinungen außerordentlich wichtig sind, noch eindeutiger in ihrem Profil auszuprägen. Zweitens sei hier die Lösung der Frage nach den Beziehungen der Ethnographie zu solchen Wissenschaften wie Soziologie und Geschichte60 angedeutet, die sich die breite Erfassung der Gesellschaft zum Ziel setzen. Hier haben wir die auf der Grenzfläche angesiedelten Disziplinen Ethnosoziologie 61 und Ethnische Geschichte62 im Auge. Als Konsequenz unserer Darlegungen erhebt sich die Frage: Worin besteht gegenwärtig die Gemeinsamkeit der Gegenstandsbereiche der sowjetischen Ethnographie und der angloamerikanischen Kultur/Sozialanthropologie? Das Gemeinsame zeigt sich anschaulich beim Studium der in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Völker. Hier erforschen sowohl die Ethnographie als auch die Kultur/Sozialanthropologie die Lebensweise der entsprechenden Völker in allen ihren Seiten und Aspekten. Irgendwelche gra511

S. I. Bruk/V. I. Kozlov/M. G. Levin, „O predmete i zadacach etnografii", in: Sovetskaja fitnografija, 1, 1963; Ju. V. Bromlej/O. I. Skaratan, „O sootnosenii istorii, etnografii i sociologii", in: Sovetskaja Etnografija, 3, 1969; Bromlej, Etnos i etnografija, S. 236-262; V. I. Kozlov/ V. V. Poksisevskij, „Etnografija i geografija", in: Sovetskaja Etnografija, 1, 1973; V. V. Poksisevskij, „Vzaimoproniknovenie i vzaimodejstvie geografii i etnografii", in: Izvestija Akademii nauk SSSR, Serija geograficeskaja, 5, 1975.

60

Siehe Bromlej/Skaratan, a. a. O. Unter Ethnosoziologie versteht man das Studium ethnischer Prozesse in den verschiedenen Gruppen einerseits und der sozialen Veränderungen in den verschiedenen ethnischen Gemeinschaften. Hier denken wir an Forschungen, die sich auf die neuen Etappen des welthistorischen Prozesses und nicht nur auf die soziale Organisation „primitiver" Gesellschaften beziehen, wie man mitunter „Ethnosoziologie" im Westen versteht. Hier sei auf die Auffassung R. Thurnwalds verwiesen.

61

62

Unter ethnischer Geschichte versteht man das Studium der Veränderungen der ethnischen Gemeinschaften in der Zeit. Hier geht es nicht nur um Veränderungen einzelner Züge dieser Gemeinschaften, sondern um Veränderungen in ihrer Gesamtheit. Diese Behandlung der ethnischen Geschichte muß man deutlich von der Auffassung der Ethnohistorie in der westlichen Literatur abgrenzen, die gewöhnlich darunter nur die Geschichte schriftloser Völker versteht. (Hultkrantz, G e n e r a l . . . , S. 112; Freedman, a. a. O., S. 95.)

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

37

vierenden Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung vom Forschungsobjekt treten hier nicht in Erscheinung, da hier das Ethnos und der soziale Organismus (die Gesellschaft) in der urgesellschaftlichen Formation im allgemeinen zusammenfallen. Wohl aus diesem Grunde waren viele unserer westlichen Opponenten auf der kürzlich stattgefundenen Begegnung auf Burg Wartenstein geneigt, dem Ethnos die Rolle des entscheidenden Objekts der Kultur/Sozialanthropologie zuzuerkennen.63 Wie bereits bemerkt, ist eine solche Auffassung vom Objekt der Disziplin einzelnen ihrer Vertreter durchaus nicht fremd. Wie wir uns überzeugen konnten, sind jedoch die vorherrschenden Auffassungen vom Gegenstandsbereich der Kultur/Sozialanthropologie, insbesondere beim Studium der Völker der industriell entwickelten Länder, mit der Kultur und den sozialen, vornehmlich kleinen Gruppen verbunden. Hieraus könnte man schließen, daß sich vielleicht die Ethnographie der Gegenwart nach unserem Wissenschaftsverständnis zur angloamerikanischen Kultur/Sozialanthropologie ebenso verhält wie zum Komplex der kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf der einen und zur Soziologie auf der anderen Seite. Ein solcher Schluß wäre freilich eine allzu grobe Vereinfachung, denn die Antwort auf die Frage nach den Wechselbeziehungen der Kultur/Sozialanthropologie zu den kulturwissenschaftlichen Disziplinen, besonders aber zur Soziologie, läßt sich nicht auf einen Nenner bringen. Von dem offenkundigen Auseinandergehen der Positionen von Ethnographie und Kultur/Sozialanthropologie in den Auffassungen von den Einsatzbereichen beim Studium der Gegenwart zeugt besonders deutlich die Tatsache, daß ein solches „ethnographisches" Thema wie die interethnischen Beziehungen und die ethnischen Prozesse in der Gegenwart vorwiegend im Blickfeld der angloamerikanischen Soziologen und nicht der Anthropologen liegt.64 Gleichzeitig ist zu beachten, daß in der Kultur/Sozialanthropologie zwei Tendenzen auftreten, die sie ein Stück an die Ethnographie näherrücken lassen. Die erste äußert sich in einer besonderen Aufmerksamkeit der Kultur/Sozialanthropologie ebenso wie auch der Ethnographie gegenüber den im Alltagsleben wirksamen traditionellen Komponenten der Lebensweise der Menschen.65 Das zweite für die Kultur/Sozialanthropologie in der Gegenwart charakteristische Merkmal ist das Streben nach vergleichender Analyse, nach der Herausarbeitung von. Varianten der kulturellen und sozialen Gemeinschaften. Auch für die Ethnographie ist das vergleichende typologische Herangehen eine sehr wichtige Bedingung für die Herausarbeitung der typischen Züge ihrer Hauptforschungsobjekte, der ethnischen Gebilde, aber auch der kulturellen Gemeinschaften. Andererseits darf man freilich eine gewisse Vertiefung der Unterschiede zwischen 63

64

65

Siehe V. X. Kozlov, „Metodologiceskie problemy etnografii", in: Sovetskaja Etnografija, 2, 1977, S. 117-132. I. P. Trufanov, „O nekotorych tendencijach v issledovanii etnosocial'nich processov v SSA", in: Sovetskaja Etnografija, 4, 1972, S. 180-184. Man muß freilich unterstreichen, daß sich die Ursachen bei der Ethnographie und Kultur,/ Sozialanthropologie wesentlich unterscheiden. Im Falle der Ethnographie erklären sie sich daraus, daß solche Komponenten die Hauptträger ethnischer Spezifik sind, im anderen Fall fügt sich dies in die vorherrschende Auffassung von der Bedeutung des Studiums „primitiver" Gesellschaften ein, wo diese Komponenten die dominierenden sind.

JU. V. BROMLEJ

38

den Gegenstandsbereichen der hier miteinander verglichenen Disziplinen nicht übersehen. Das erklärt sich in erheblichem Maße daraus, daß das Profil der Ethnographie, zumindest in einigen Ländern, eindeutiger bestimmt wird als das der Kultur/Sozialanthropologie. Diese erweist sich immer stärker als in sich aufgespalten und entspricht ihrer Namensbezeichnung immer weniger. Das macht die Markierung ihrer Grenzen gegenüber den Komplexdisziplinen nahezu unmöglich und erschwert in erster Linie ihre Verteidigung gegenüber dem Ansturm der Soziologie. Zieht man noch die Existenz von Krisenerscheinungen ideologischer Natur in der Kultur/Sozialanthropologie in Betracht, so wird verständlich, warum man heute in der westlichen Literatur auf Vorstellungen stößt, denen zufolge nicht die Bestimmung ihrer Perspektiven, 66 sondern auch die Forderungen nach einem neuen Profil als Unsinn denunziert werden. 67 Die Zukunft der Ethnographie, die sich als Wissenschaft von den ethnischen Gebilden versteht, bietet dagegen für Pessimismus keinen Raum. Solange die Ethnien bzw. die Völker existieren, behält die Ethnographie ihr Forschungsobjekt, und das bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die aktuelle Gegenwart. 06 67

Keesing/Keesing, S. 402. C. Lévi-Strauss, „Anthropology, its achievements and future", in: Current Anthropology, Bd. 9. 1968, S. 126.

Julija Pavlovna Petrova-Averkieva

Der Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der USA

Nach dem zweiten Weltkrieg vollzogen sich in der theoretischen Orientierung der Ethnographen der USA tiefgreifende Veränderungen, die im Endergebnis zur Entstehung des Neoevolutionismus in der amerikanischen Ethnographie führten. Auch gegenwärtig ist der sogenannte Neoevolutionismus die auffälligste Erscheinung auf theoretischem Gebiet in der Ethnographie der USA. Der heutige Neoevolutionismus ist jedoch nicht eine Einheit theoretischer Konzeption, sondern unter dieser Bezeichnung wird eine Vielzahl von Ideenrichtungen zusammengefaßt, deren gemeinsames Merkmal das Bestreben zur Herausarbeitung einer historisch-philosophischen Konzeption ist, die die Geschichte der menschlichen Gesellschaft insgesamt erklären könnte. Das Auftreten des Neoevolutionismus wurde zweifellos durch das veränderte Kräfteverhältnis in der Welt nach dem zweiten Weltkrieg hervorgerufen. Die gegenwärtige Epoche der wissenschaftlich-technischen Revolution, die stürmischen und tiefgreifenden sozialen Transformationen in allen Sphären des Lebens der Völker der Welt stellten die Gesellschaftswissenschaften mit besonderer Schärfe vor die verantwortungsvolle Aufgabe, die gegenwärtige und historische Lebenserfahrung der verschiedenen Länder und Völker empirisch zu untersuchen, die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der verschiedenen Gesellschaftssysteme zu formulieren und deren Zukunft vorauszusagen. Große Bedeutung gewann die soziologische und ethnologische Erforschung der gegenwärtigen Prozesse auf dem Gebiet der sozialen, nationalen und ethnischen Beziehungen innerhalb der verschiedenen Gesellschaftssysteme, und zwar besonders in den Ländern der „Dritten Welt". Der nationale Befreiungskampf der Völker kolonialer und halbkolonialer Länder, der zur Krise des Kolonialsystems führte und eine Reihe Länder Afrikas, Asiens und Südamerikas auf einen selbständigen Entwicklungsweg brachte, hat heute einen entscheidenden Einfluß auf die Beziehungen der einzelnen sozialen Kräfte sowohl innerhalb dieser Länder als auch im internationalen Maßstab. Es ist nicht verwunderlich, daß der Verlauf der sozialen Transformationen in den Ländern der „Dritten Welt" heute die Aufmerksamkeit sowohl der progressiven Weltöffentlichkeit als auch der Kräfte des Imperialismus auf sich zieht. Die gesellschaftliche Orientierung, die Wahl des Weges der sozialökonomischen Entwicklung der jungen Staaten, erfolgt heute unter den Bedingungen eines scharfen Kampfes der Kräfte des Fortschritts und der des Imperialismus, der die antiimperialistische Front der für ihre nationale Freiheit kämpfenden Völker zu spalten und die revolutionär-demokratischen Kräfte dieser Front auf die Seite des Kapitalismus zu ziehen versucht.

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Eine große Rolle im ideologischen Kampf um die Beeinflussung der Völker der „Dritten Welt" spielt die ethnographische Wissenschaft der USA, die sich bis in die jüngste Vergangenheit vorwiegend mit der Erforschung des gesellschaftlichen Lebens der Völker der kolonialen Welt befaßt hat. Es ist deshalb kein Zufall, daß eine Reihe von Ethnographen der USA erklären, der größte Beitrag innerhalb der gegenwärtigen internationalen Beziehungen könne von ihnen durch die Erforschung der Völker der „Dritten Welt" geleistet werden. Sie diskutieren aktiv die Methoden zur Erforschung solcher Völker, die sich nach ihrer Definition unter den Bedingungen einer „explosive Situation" entwickelt haben. S^e begreifen jetzt, daß, wie R. Cohen schreibt, „die schnellen Veränderungen in den nichteuropäischen Gebieten der Welt und die klaren evolutionistischen Ziele der neuen Nationen alle Gesellschaftswissenschaftler zwingen, in dynamischen Begriffen zu denken." 1 Der frühere Antihistorismus des ethnographischen Präsentismus in den Beschreibungen der Gesellschaft erwies sich nach Eingeständnis der Wissenschaftler selbst als ungeeignet für die heutige Epoche „der pragmatischen kulturellen Veränderungen". 2 Die neuen Bedingungen in der Welt, die sich im ungeahnten Tempo vollziehenden Umwälzungen im Leben der Völker zeigten überzeugend die Haltlosigkeit des früheren theoretischen Nihilismus und der Konzentration auf das empirische Sammeln von Fakten. Als unbefriedigend erwies sich auch die Konzeption des „kulturellen Wandels", die sich in den ersten Nachkriegs jähren entwickelt hatte; jene Konzeption fixierte lediglich das Vorhandensein von Veränderungen in den Erscheinungen und Objekten, zeigte jedoch nicht die Richtung der sich vollziehenden Veränderungen. Vor den Ethnographen stand jedoch ein sozialer Auftrag, der nicht einfach eine Fixierung von Veränderungen forderte, sondern eine Analyse der Kausalität und Richtung, eine Prognose des weiteren Verlaufs und vor allem die Klärung der Möglichkeiten einer Steuerung dieser Prozesse. Tatsächlich versuchten die Ethnographen, auf der Grundlage der gesammelten Daten ihre Empfehlungen zur „Planung" der praktischen Politik der führenden Kreise der USA in diesen Ländern zu formulieren. 3 Diesem Zweck diente das Buch „Einführung des sozialen Wandels. Ein Handbuch für Amerikaner in überseeischen Ländern", das von bedeutenden Wissenschaftlern der USA geschrieben worden war: dem Professor an der Columbia-Universität von New York C. M. Arensberg und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Zentrums zur Erforschung der menschlichen Ressourcen A. H. Niehoff. 4 Es waren gerade praktische Fragen der Politik der führenden Kreise der USA in den Ländern der „Dritten Welt", die die Notwendigkeit einer „Theorie der Dynamik 1 2

a

4

R. Cohen, „The strategy of social evolution", in: Anthropologica 1962, Bd. IV, Nr. 2. F. Henry, „The role of fieldworker in an explosive political Situation", in: Current Anthropology, Bd. 7, 1966, Nr. 5; B. Nelson, „Anthropological debate: Concern Over future of foreign research", in: Science, 1966, Nr. 154, S. 1525-1527. Siehe M. Mead, Applied anthropology: Some uses of anthropology theoretical and applied, New York 1958; Cultural patterns and technical change, hg. v. M. Mead, New York 1959; The United States and Africa, hg. v. W. Goldschmidt, New York 1959. C. M. Arensberg/A. H. Niehoff, Introducing social change. A manual for Americans overseas, Chicago 1964.

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des kulturellen Wandels" hervorriefen. Über diesen Zusammenhang von Theorie und Praxis schrieb ganz offen die uns wohlbekannte M. Mead: „Die angewandte Ethnographie hängt wesentlich von der Theorie des Wandels ab". 5 Das Thema einer Philosophie des Prozesses kultureller Wandlungen und seiner Dynamik wird in den fünfziger Jahren zum führenden Thema in der ethnographischen Forschung der USA. Von den Veränderungen und Korrekturen der Theorie in der Ethnographie der USA der fünfziger Jahre zeugt eine Vielzahl von Publikationen dieser Zeit. Für die Ethnographen der USA der fünfziger Jahre war nach den Worten eines ihrer führenden Theoretiker C. Kluckhohn „der Zustand des theoretischen Suchens" charakteristisch.6 Dieses Suchen auf dem Gebiet der Theorie in der ethnographischen Wissenschaft der USA war ein Widerhall des Suchens nach einem „neuen System des Glaubens und der neueru Ideologie" in der Philosophie und Soziologie des Westens, wie der amerikanische Ethnograph und Philosoph D. Bidney schreibt.7 Obwohl man noch 1954 die Feststellung antreffen konnte, daß der Evolutionismus und Diffusionismus in der amerikanischen Ethnographie aus der Mode gekommene Phasen der Entwicklung des theoretischen Denkens seien, sprachen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre viele führende Ethnographen der USA bereits von einer Hinwendung der Wissenschaftler zum Evolutionismus. So konstatierte zum Beispiel R. Beals 1956 auf dem V. Internationalen Anthropologen- und Ethnographenkongreß in Philadelphia, daß „das wachsende Interesse an der kulturellen Evolution zur Hauptrichtung der gegenwärtigen Anthropologie der USA geworden ist."8 1957 schrieb Kluckhohn über die „Renaissance des Evolutionismus"; und nach den Worten von D. Bidney galt 1958 „die Theorie der Evolution als führende Konzeption der Gegenwart". Im Zusammenhang mit dem 1959 von den Ethnographen der USA begangenen hundertsten Jahrestages des Erscheinens von Darwins Buch „Die Entstehung der Arten" vollzog sich indessen - nach den Worten J. H. Stewards - eine „allgemeine Proklamation des Evolutionismus". Tatsächlich kann man in den Artikeln, die diesem Jubiläum gewidmet sind,9 einen allgemeinen Umschwung zum Evolutionismus deutlich erkennen. Die ab Ende der fünfziger Jahre führende moderne ethnographische Schule des Neoevolutionismus bildete sich in beträchtlichem Maße unter dem Einfluß der historischphilosophischen Konzeption von White heraus. Nicht zufällig schrieb ein Vertreter dieser Richtung, E. Wolf, im Jahre 1959: „Die theoretische Anschauung von White, sein Postulat, daß die kulturellen Ereignisse eine determinierende Kausalität besitzen, seine Theorie, daß man die materiellen Ursachen, die materielle Erklärung dafür suchen muß, stimmen mit den Hauptströmungen in der Anthropologie überein".10 5 6

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,J

10

Mead, Applied anthropology . . . C. Kluckhohn, „Developments in the field of anthropology in the twentieth Century", in: Cahier d'Histoire Mondial, Paris 1957, Nr. 3, S. 767. D. Bidney, in: American Anthropologist, Bd. 60, 1958, Nr. 6, Teil 1, S. 1212. R. Beals, „Current trends in American ethnology", in: Men and cultures. Selected papers of the Fifth International Congress of anthropological and ethnological sciences, Philadelphia, 1960. C. Kluckhohn, a . a . O . , S. 767; D. Bidney, a . a . O . , S. 1212; J. H. Steward, „Evolutionary principles and social types", in: Evolution after Darwin, Bd. 2, Chicago 1960, S. 184. E. Wolf, in: American Anthropologist, Bd. 62, 1960, Nr. 1, S. 149.

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Die Hinwendung der Ethnographen der USA zu den Kategorien „Entwicklung", „Evolution" stellte sie zwangsläufig vor die Notwendigkeit, die Hauptprobleme der Philosophie der Geschichte zu lösen, nämlich die Gesetzmäßigkeiten und das Fortschreiten der Entwicklungsprozesse, die Dialektik der konkret-historischen und allgemeinen Formen der Entwicklung, die Beziehungen zwischen der Entwicklung der Bestandteile des Systems und der Entwicklung des Systems als Ganzes. Bekanntlich haben K. Marx, F. Engels und W. I. Lenin in ihren Werken das Problem der Entwicklung einer tiefgreifenden und allseitigen Analyse unterzogen. Sie schrieben über die Entwicklung als allgemeine Eigenschaft der Materie, über die Spezifik der Entwicklungsformen in der anorganischen und organischen Welt, in Natur und Gesellschaft, über die Triebkräfte und den Mechanismus des objektiven Entwicklungsprozesses, über die Einheit und den Kampf der Gegensätze als Quellen der Eigenentwicklung des Objekts. Die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus deckten überzeugend die Dialektik der quantitativen und qualitativen Veränderungen im Entwicklungsprozeß, in den evolutionären und revolutionären Formen dieses Prozesses auf. Wie werden nun diese Probleme vom Neoevolutionismus gesehen? Die allgemeine „Proklamierung" des Evolutionismus barg eine „Gefahr" für die Wissenschaftler der USA in sich. Sie konnte sich nämlich auch als „Proklamierung" des Marxismus erweisen. Tatsächlich geschah dies zum Teil. Viele amerikanische Ethnographen der jüngeren Generation wandten sich mit der Herausbildung des Evolutionismus immer häufiger dem Marxismus bei der Lösung von Kardinalproblemen der Wissenschaft über die Gesellschaft zu. Die Mehrzahl der Wissenschaftler bezeichnete sich in dem Bestreben, sich vom „Evolutionismus des 19. Jahrhunderts" abzugrenzen (dem, wie man weiß, auch der Marxismus zugeordnet wurde), als „moderne Evolutionisten" oder „Neoevolutionisten". (Es ist bezeichnend, daß der Terminus „Neoevolutionismus" ein Synonym des Begriffs „begrenzter Evolutionismus" war, mit dem R. Lowie die historischphilosophische Konzeption des Paters W. Schmidt charakterisiert hat.) Der Neoevolutionismus galt in den sechziger Jahren als die modernste theoretische Richtung innerhalb der Ethnographie der USA. Er war im Gegensatz zu White ein gemäßigterer Versuch, den krassen Antihistorismus und den relativistischen Empirismiis der historischen Schule zu überwinden. Deshalb sprach sich auch White kategorisch dagegen aus, zu den Neoevolutionisten gezählt zu werden. Bei den Vertretern des Neoevolutionismus ist zweifellos ein gewisses Abrücken von den extremen Auffassungen des Antihistorismus und des theoretischen Nihilismus der Antievolutionisten zu beobachten. Aber je nach dem Grad des Abrückens gibt es mehrere Definitionen des Neoevolutionismus als Theorie der Entwicklung der Kultur und des Verständnisses der Evolution selbst. Wenn früher die Vertreter der historischen Schule in der amerikanischen Ethnographie, die die Idee des Fortschritts negierten, sich von dem Terminus „Evolution" lossagten und ihn durch den Begriff „Wandel" oder „Wachstum" ersetzten, so kann man jetzt eine umgekehrte Metamorphose beobachten: den Wandel begann man als „Evolution" zu bezeichnen und verlagerte oftmals in diesen Begriff die einstige metaphysische Auffassung von der Entwicklung: als quantitative Veränderung, Wachstum, Verminderung, Substitution. „Evolution" wurde sehr häufig als platter Evolutionismus verstanden, als kontinuierliche Differenzierung der Formen

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und Funktionen und als Komplizierung der Strukturen einer Erscheinung. Weite Verbreitung fand die Idee der Kontinuität der biologischen und sozialen Evolution, die Auslegung der kulturellen Evolution als unmittelbare Fortsetzung der biologischen Evolution. Damit stehen die Versuche im Zusammenhang, die Gesetzmäßigkeiten der biologischen Evolution auf die Gesellschaft zu übertragen, auch die Entstehung der Ideen des sozialen Darwinismus. Die Idee der Kontinuität der biologischen und sozialen Evolution gründete sich auch auf die Arbeiten angesehener Vertreter der historischen Schule, die sich als Vertreter des Bvolutionismus erklärten. Charakteristisch sind in dieser Hinsicht zum Beispiel die Auffassungen von G. P. Murdock, der durch Arbeiten bekannt geworden ist, die eine Widerlegung der Interpretation der Geschichte der Urgesellschaft durch Morgan und Engels zum Gegenstand haben. 11 Der Hauptinhalt der historischen Konzeption Murdocks besteht in dem Versuch, die Ewigkeit des Privateigentums der Kleinfamilie biologisch zu begründen. In der gleichen Richtung interpretiert die Evolution auch einer der modernen Theoretiker der USA-Ethnographie, R. Naroll. Die soziale und kulturelle Evolution hat nach seinen Auffassungen „bestimmte formale Ähnlichkeiten mit der biologischen". Die Arbeitsteilung, die Verzweigung der Organisationsformen vergleicht er mit der „progressiven Entwicklung des Niveaus der Organisation der Zelle und ihrer funktionellen Differenzierung". 12 Die Vertreter der psychologischen Richtung in der amerikanischen Ethnographie zollen der allgemeinen Anerkennung der methodologischen Bedeutung der Evolution ihren Tribut und betonen ihr Interesse für die „behaviourale evolution". Dieses Interesse ist zweifellos durch die Ergebnisse der Forschung auf dem Gebiet der Ethologie der Tiere stimuliert. 13 In einer Reihe von Arbeiten der Vertreter der Kontinuität der biologischen und sozialen Evolution werden die Ideen des sozialen Darwinismus wiederbelebt. In ihnen wird der Versuch gemacht, die Ewigkeit der Normen der bürgerlichen Gesellschaft biologisch zu begründen durch die vererbten Eigenschaften der menschlichen Natur. Bei solchen Arbeiten handelt es sich um Versuche, die Kleinfamilie, das Privateigentum, die soziale Differenzierung aus der Ethologie der Tiere abzuleiten. Es gibt Arbeiten, in denen die Ewigkeit und Unausweichlichkeit der Kriege durch einen der Natur des Menschen eigenen Instinkt der Aggressivität begründet werden, Arbeiten, in denen Verhältnisse des Privateigentums aus dem von den tierischen Vorfahren ererbten angeborenen Instinkt der Individualität abgeleitet werden, des Instinkts der „Territorialität" 11

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Sein Hauptwerk: G. P. Murdock, Social structure, New York 1949; vgl. die Kritik seiner Auffassung durch Ju. P. Averkieva, Indejcy Severnoj Ameriki, Moskva 1974, S. 2 1 - 2 5 . Zu seiner Evolutionsauffassung im besonderen vgl. den Aufsatz: G. P. Murdock, „Evolution in Social Organization", in: Evolution and anthropology: A centennial appraisal, Washington 1959. R. Naroll, „A preliminary index of Social development", in: American Anthropologist, Bd. 58, 1956, Nr. 1, S. 4. Vgl. dazu: L. A. Fajnberg, „O nekotorych predposylkach vozniknovenija social'noj organizacii", und die im Zusammenhang damit geführte Diskussion in: Sovetskaja ßtnografija, 1974, Nr. 5, S. 94-125.

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usw. Die Quellen der sozialen Ungleichheit der Menschen werden aus dem den tierischen Primaten eigenen Instinkt der Dominanz und des Strebens nach Prestige abgeleitet. White und solche Vertreter der historischen Schule wie F. Boas und A. L. Kroeber waren überzeugte Gegner der Versuche einer Biologisierung des sozialen Lebens der Menschen. Sie deckten die wissenschaftliche Haltlosigkeit und den reaktionären Charakter des sozialen Darwinismus auf. Es ist offensichtlich, daß die neoevolutionistischen Versuche einer Wiederbelebung derartiger Theorien ein Ausdruck von Bestrebungen waren, reaktionären Richtungen in der amerikanischen Ethnographie erneut stärker Geltung zu verschaffen. Zu Beginn der sechziger Jahre erschienen jedoch Arbeiten, in denen die Spezifik der kulturellen Evolution und ihr Unterschied zur biologischen Evolution hervorgehoben werden. 1960 veröffentlichte einer der führenden ethnographischen Theoretiker der USA, E. Vogt, einen Artikel, in dem er eingestand, daß die Entwicklung eine allgemeine Eigenschaft der Materie ist, und auch die Notwendigkeit des Übergangs betonte von einer statischen Auffassung der Kultur als System, das zum Gleichgewicht strebt, zu ihrer Erforschung als System, das sich im Zustand ständiger Veränderungen befindet. „Jede Erscheinung kann als eine Reihe sich vollziehender Prozesse begriffen w e r d e n . . . Der Wandel ist eine der wichtigsten Besonderheiten der Gesellschaft." 1 ^ Die Vorzüge eines solchen Herangehens versuchte er mit den Erfolgen der Außenpolitik der UdSSR zu begründen, die sich seiner Meinung nach auf der Konzeption des sozialen Wandels aufbaut, was den Verlauf des Wandels vorauszusetzen erlaube. Vogt hat einen gewissen Beitrag zur Herausarbeitung der Entwicklungstheorie geleistet, wenn auch nur dadurch, daß er dazu aufrief, „die kurzzeitlichen Prozesse auf dem Niveau der Mikrozeit und die langzeitlichen Prozesse auf dem Niveau der Makrozeit" zu unterscheiden. Die ersten kann man seiner Auffassung nach als sich in der Zeit wiederholende periodische Prozesse bezeichnen, die zweiten dagegen als aufeinander folgende aufbauende Prozesse. E. Vogt erkennt den dialektischen Zusammenhang dieser beiden Prozesse an. Überzeugend findet sich die wissenschaftliche Haltlosigkeit des sozialen Darwinismus in der Arbeit des White-Schülers M. K. Opler dargelegt. Opler kritisierte die Spencersche Bestimmung der Evolution, die Konzeption der multilinearen Evolution und den Idealismus der behaviouristischen Auffassungen der Evolution der Kultur. An das Problem der Entwicklung ging Opler von einer materialistischen Position aus heran. Die Grundlage einer jeden Veränderung der Kultur sah er in der „materiellen Basis und im Charakter der sozialen Struktur der Gesellschaft... Der erste Faktor ist zweifellos die Haupttriebkraft oder die Hauptursache des kulturellen Wandels." 15 Neben den zwei Hauptrichtungen hinsichtlich des Verständnisses der sozialen Evolution, wie sie in Arbeiten der USA-Ethnographen zu finden sind, kann man Übergangsformen bei der Auslegung der kulturellen Evolution feststellen. Sie zeigten sich zum M

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E. Vogt, „On the concept of structuce and procress in cultural anthropology", in: American Anthropologist, Bd. 62, 1960, Nr. 1, S. 20. M. K. Opler, „Cultural evolution and psychology of peoples", in: Essays in the science of culture, New York 1960, S. 356 f.

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Beispiel in den Ansichten von Kroeber am Ende der fünfziger Jahre. Er versteht die kulturelle Evolution im Geiste eines platten Evolutionismus als allmählichen kontinuierlichen Prozeß quantitativer Veränderungen. Die Vernachlässigung oder Ignorierung qualitativer Veränderungen und Unterbrechungen der Kontinuität verhinderte die Anerkennung einer fortschreitenden Entwicklung des historischen Prozesses durch Kroeber. Diese Auffassung der Evolution war die natürliche Folge der Herrschaft des Empirismus in der amerikanischen Ethnographie. Auf diese Inkonsequenz in der Behandlung der Evolution gründet sich auch der Neoevolutionismus von Steward, der als Haupttheoretiker des Neoevolutionismus gilt. Gerade in seinen Arbeiten hat diese Richtung ihre klassische Ausbildung gefunden. Er definierte die Theorie der kulturellen Evolution als „Suchen nach kulturellen Gesetzmäßigkeiten" und betonte, daß in der Wissenschaft drei Konzeptionen der kulturellen Evolution existieren: 1. der lineare Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, 2. die Konzeption der universellen Evolution (White und G. Childe), 3. die Konzeption der multilinearen Evolution (vertreten durch ihn selbst). Als linearen Evolutionismus bezeichnete er das „Schema der allgemeinen Stadien" von Morgan, das Schema „der Materialisten und Kommunisten, das von den sowjetischen Wissenschaftlern völlig geteilt wird." Er selbst lehnte es strikt ab. Als unannehmbar sah er auch den universellen Evolutionismus von White und Childe an, da er „keine Formulierungen hat, die eine beliebige Kultur und alle Kulturen erklären würden." Die Konzeption der multilinearen Evolution ist nach Steward die einzig fruchtbringende wissenschaftliche Theorie der kulturellen Evolution. Den Hauptwert dieser Theorie sah er darin, daß ihr Interesse auf die konkreten Kulturen gerichtet ist. Von relativistischen Positionen einer Verabsolutierung des Konkreten betrachtet Steward die Weltgeschichte als eine Summe paralleler und sich multilinear entwickelnder Kulturen. Er konzedierte die Kausalität und Gesetzmäßigkeit der Entwicklung eines jeden einzelnen Systems als eines bestimmten „kulturellen Typs" und stellte seine historische Konzeption der Idee der Einheit und fortschreitenden Entwicklung der Menschheit insgesamt entgegen. White charakterisierte die Position Stewards treffend als „stückweise Anerkennung der Evolution." Die Konzeption der multilinearen Evolution hielt Steward für die Grundlage des Neoevolutionismus und charakterisierte sie als „die neue Basis, auf der die modernen Evolutionisten eine Theorie errichten können, die die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft erklärt." 16 Sie wurde von ihm nicht nur dem „Evolutionismus des 19. Jahrhunderts" entgegengestellt, sondern auch dem von ihm darin eingeschlossenen Marxismus. - Die Konzeption der multilinearen Evolution war zweifellos ein Ergebnis der theoretischen Orientierung der historischen Schule in der amerikanischen Ethnographie. Am ausführlichsten versuchte Steward die Konzeption der multilinearen Evolution in seiner Arbeit „Theorie des Kulturwandels. Die Methodologie der multilinearen Evolution" darzulegen. 17 Zur Verdeutlichung der Konzeption der multilinearen Evolution ist 16 17

J. H. Steward, „Cultural évolution", in: Scientific American, Bd. 149, 1956, S. 73 f. J. H. Steward, Theory of culture change; the methodology of multilinear évolution, Urbana 1955.

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die Erklärung Stewards interessant, daß er in diesen Begriff denselben Sinn lege, den Marx dem Begriff „Pluralismus" beigelegt habe. Der Marxismus versteht aber bekanntlich unter Pluralismus einen idealistischen Standpunkt, nach dem alles Existierende aus einer Vielzahl selbständiger, von einander unabhängiger Wesenheiten besteht. Diese Theorie der Vielfalt der Wahrheit ist dem Dualismus verwandt und dem materialistischen Monismus diametral entgegengesetzt. In der amerikanischen bürgerlichen- Philosophie liegt der Pluralismus dem Pragmatismus von William James zugrunde, der der Theorie der Vielfältigkeit der objektiven Wahrheit entgegengesetzt liegt. Es ist offensichtlich, daß Steward seine Konzeption des Pluralismus nicht so sehr dem Evolutionismus gegenüberstellt als vielmehr dem Marxismus. Obwohl Steward im allgemeinen gegen eine Gleichsetzung des biologischen und sozialen Evolutionismus ist, verzichtet er zur Begründung der Theorie des Patriarchats nicht darauf, zu biologischen Analogien Zuflucht zu nehmen. „So wie eine einfache, einzellige Form des Lebens durch mehrzellige, in sich spezialisierte Formen abgelöst wird, so werden soziale Formen, die aus einzelnen Familien bestehen, durch mehrzellige Formen abgelöst".18 Man sieht, auch Steward geht in seinen Anschauungen von der wie Engels seinerzeit schrieb - „absurden Voraussetzung aus", die besonders im 18. Jahrhundert als unantastbar und unumstößlich galt, „die monogame Einzelfamilie, die kaum älter ist als die Zivilisation, sei der Kristallkern, um den sich Gesellschaft und Staat allmählich angesetzt habe." ly

Die „kulturelle Ökologie" Stewards Die Hauptaufgabe des Neoevolutionismus sah Steward in der ursächlichen Erklärung der verschiedenen Formen und Entwicklungslinien der menschlichen Kultur. Den historischen Materialismus hielt er für eine unannehmbare Erklärung, indem er ihn als „ökonomischen Materialismus" mißdeutete. Für anziehender hielt er den technologischen Determinismus von White. Als einen Mangel dieser materialistischen Konzeption von White sah er jedoch das zu hohe Niveau der Verallgemeinerungen an, die nicht die Einzelheiten und Abweichungen gegenüber dem Allgemeinen erklären könnten. Eine Erklärung für die letzteren vermittelt nach Stewards Überzeugung seine eigene „heuristische Konzeption der kulturellen Ökologie", die dem Wesen nach eine Determiniertheit durch Technik und Umwelt unterstellt, also eine gewisse Synthese von technologischem Determinismus und geographischem Determinismus ist. Den Begriff „kulturelle Ökologie" selbst erklärt Steward als Bezeichnung des Prozesses der Anpassung der jeweils gegebenen Kultur an das gegebene natürliche Milieu. „Die kulturell-ökologische Adaption ist eine der wichtigsten schöpferischen Prozesse des kulturellen Wandels".20 Die ökologische Konzeption Stewards besteht in folgendem: Der Charakter des natürlichen Milieus bestimmt die Spezialisierung der Wirtschaft, die Spezialisierung wiederum bestimmt den Charakter der gesellschaftlichen Beziehungen. Bei den nomadi18 19 20

Ebenda, S. 13. K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1969, S. 100. Steward, Theory, S. 37.

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sierenden Sammlern wie den Schoschonen des Großen Beckens bildet sich im Ergebnis des „sozial-fragmentierenden" Einflusses des Milieus das „Familienniveau der sozialkulturellen Integration" heraus; die Jagd auf Wild, das in kleinen verstreuten Herden lebt, ergibt die patrilineare Gemeinschaft; bei der Jagd auf Tiere, die in großen wandernden Herden leben, entstehen völlig andere soziale Formen, usw. Wenngleich Steward seine Ökologie dem „geographischen Determinismus" entgegenstellt, so sehen wir zwischen beiden doch keinen wesentlichen Unterschied. Auch er selbst reduziert diesen Unterschied allein darauf, daß der geographische Determinismus die Gesamtheit der Besonderheiten des jeweiligen Gebietes berücksichtigt, während die kulturelle Ökologie nur die natürlichen Besonderheiten der Hauptnahrungsquellen in Betracht zieht: die Gewohnheiten der Tierherden, die gejagt werden, die Menge der Zedernbäume, deren Nüsse gesammelt werden, usw. So definiert Steward die Wechselbeziehung zwischen Umwelt und Gesellschaft als Prozeß der Anpassung der Kultur an die Umwelt, wobei die Kultur selbst als etwas von außen Gegebenes, in dieses Milieu Hineingetragenes begriffen wird. Eine solche Fragestellung ist in beträchtlichem Maße biologistisch. Davon zeugt auch der Begriff „Ökologie" selbst, der aus der Biologie entlehnt wurde, wo er die Wechselbeziehung zwischen dem Organismus und der Umwelt beinhaltet. Aber wenn man von einer Anpassung der biologischen Arten an die Umwelt sprechen kann, so bedeutet der Gebrauch dieses Terminus zur Charkterisierung der Wechselbeziehungen zwischen Natur und Mensch eine Übertragung der-biologischen Gesetze auf die Gesellschaft, bedeutet es, daß die Menschen lediglich als biologisches Wesen aufzufassen seien. Die Anpassung an die Umwelt setzt die dominierende Bedeutung ebendieser Umwelt voraus. Es ist offensichtlich, daß Steward bei seinen Überlegungen zur kulturell-ökologischen Anpassung als bestimmenden Faktor in der Entwicklung der Gesellschaft die zweite Seite der Wechselbeziehungen zwischen der Natur und dem Menschen ignoriert, die in der Einwirkung des Menschen auf die Natur besteht. Die Begründer des Marxismus-Leninismus lösten bekanntlich die Frage der Wechselbeziehungen des Menschen und der Natur dialektisch von der Position ihrer konsequent herausgearbeiteten Lehre vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen. Marx stellte fest, daß der Mensch stets als Subjekt auftrete, die Natur dagegen als Objekt, ferner, daß der Mensch sich nicht an die Umwelt anpasse, sondern vielmehr sie aktiv-produktiv nutze. „In der Produktion eignen. . . die Gesellschaftsglieder die Naturprodukte menschlichen Bedürfnissen an . . ."21 An die erste Stelle stellt Marx somit die produktive Tätigkeit des Menschen und charakterisiert sie als einen „Prozeß zwischen Mensch und Natur, . . . worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert." 22 Durch den Charakter der Produktion, den Zustand der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse wird auch der Charakter der Nutzung der Umwelt durch den Menschen bedingt. Wie Marx schrieb, „ergibt sich aus einer bestimmten Form der materiellen Produktion erstens eine bestimmte Struktur 21

22

K. Marx, „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie", in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1964, S. 620. K. Marx, „Das Kapital", Bd. 1, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1969, S. 192.

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der Gesellschaft, zweitens ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Natur. Ihr Staatsaufbau und ihr geistiges Leben werden sowohl durch das eine als auch durch das andere bedingt. Folglich wird dadurch auch der Charakter der geistigen Produktion bestimmt."23 Die Ökologie Stewards steht ganz eng im Zusammenhang mit seiner Konzeption des Pluralismus. Denn gerade durch die Vielfalt der natürlichen Bedingungen erklärt er die Multilinearität der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die er, wie wir gesehen haben, ohne Erfolg dem Monismus des historischen Materialismus gegenüberzustellen versucht. Steward lehnte den Marxismus ab, ohne sein Wesen zu kennen, und folgte blind den verfälschenden Darstellungen des Marxismus durch seine Kollegen, insbesondere von K. Wittfogel, der voreingenommen und völlig aus der Luft gegriffen den Marxismus eines mechanischen, platten Evolutionismus bezichtigte. Der Mechanismus der Diskreditierung des Marxismus-Leninismus in solchen Arbeiten erinnert an die Methode der Verfälschung des Sozialismus, von der Lenin schrieb, daß der Sozialismus dadurch entstellt wird, daß ihm Absurdität unterschoben wird, um dann die Absurdität schlagend zu widerlegen. 24 Indem Steward die marxistische Periodisierung der Geschichte mit dem plattevolutionistischen Schema der allgemeinen Stadien identifiziert, versuchte er, ihr die Ansichten „der kulturellen Relativisten des 20. Jahrhunderts" entgegenzustellen, die „durch umfangreiches Material" bestätigt würden, das davon zeuge, daß „die konkreten Kulturen sich beträchtlich voneinander unterscheiden und nicht-lineare Stadien durchlaufen." 25 Hier erkennt man ein weiteres Beispiel der für die historische Schule der USA-Ethnographie charakteristischen, formal-logischen Methode des Urteils und des Unverständnisses der dialektischen Auffassung der Marxisten von der Wechselbeziehung des allgemeinen und konkreten historischen Prozesses. „Die Marxsche Dialektik", hob Lenin hervor, „erfordert eine konkrete Analyse der jeweiligen historischen Situation."26 Die Begründer des Marxismus-Leninismus, die die Erforschung der Geschichte der Gesellschaft dialektisch betrieben, kamen zu dem Schluß, daß einzelne Völker sich unter bestimmten Bedingungen entwickeln können auch unter Umgehung dieser oder jener allgemeinen Stufen des menschlichen Fortschritts. Allgemein bekannt ist zum Beispiel die marxistische Voraussage des nicht-kapitalistischen Entwicklungsweges einzelner Völker. Den Ethnographen der USA ist der Sprung der Indianervölkerschaften aus der Urgemeinschaft in den Kapitalismus unter Umgehung der vermittelnden Stadien der allgemeinen Entwicklung der Menschheitsgeschichte gut bekannt. Die Konzeption der multilinearen Evolution war zweifellos ein Ausdruck der Krise der westlichen historischen Ideen. Sie hat diese Krise nicht nur nicht überwunden, sondern als ein Produkt dieser Krise selbst ihre Merkmale getragen. Wie die letzten 23

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K. Marx, „Theorien über den Mehrwert", in: K . Marx/F. Engels, Werke, Bd. 26. 1, Berlin 1965, S. 257. W. I. Lenin, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 137. Steward, Theory, S. 28. W. I. Lenin, Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 322.

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Beiträge von Steward beweisen, fühlte er dies und versuchte, seine Konzeption aus der ideologischen Sackgasse herauszuführen. In seinen späteren Arbeiten unterzog er eine Reihe seiner grundlegenden Thesen einer Revision. Am entscheidendsten wich Steward vom Relativismus der multilinearen Evolution in seinem postum veröffentlichten Werk ab, das sich mit der Analyse und Einschätzung des wissenschaftlichen Erbes von Kroeber befaßt. 27 Die Revision seiner Standpunkte findet jedoch keine Beachtung. In der Geschichte der theoretischen Ideen in den USA wird sein Name bis heute mit der Konzeption der multilinearen Evolution in Zusammenhang gebracht, die er in einer Arbeit des Jahres 1955 dargelegt hat. Er wird weiterhin als der Begründer der enviromentalistisch-evolutionistischen Richtung in der westlichen Ethnographie charakterisiert. Stewards Konzeption der multilinearen Evolution mit ihrer Theorie der Determiniertheit durch Technik und Milieu hat einen starken Einfluß auf die theoretische Orientierung der Ethnographen und Archäologen der USA. Sie ist ihrem Wesen nach die methodologische Basis des Neoevolutionismus in der Ethnographie und Archäologie in den USA der siebziger Jahre. Besonderen Einfluß gewann die Stewardsche Konzeption der kulturellen Ökologie, die von ihren heutigen Vertretern als eine gewisse Synthese des ökologischen Determinismus Stewards und der energetischen Theorie Whites weiterentwickelt wird. 28 In dieser Form ist diese Konzeption die allgemeine methodologische Basis der historischphilosophischen Auffassungen der Neoevolutionisten unterschiedlicher ideologischer Orientierung. Es ist nicht verwunderlich, daß jeder von ihnen etwas Eigenes zu dieser Konzeption beisteuert. So versuchte z. B. Goldschmidt, der Theoretiker des Funktionalismus in der Ethnographie der USA, die „kulturelle Ökologie" mit seiner Konzeption des „comparativen Funktionalismus" zu verknüpfen und in dieser Verbindung die „Basis der modernen evolutionistischen Methode zur Erschließung der Kulturgeschichte" zu sehen.29 In den Arbeiten der Verfechter einer systematischen Methode zur Betrachtung der Kulturgeschichte tauchte der Begriff „Ökosystem" auf, der von den gegenwärtigen Forschern auf dem Gebiet der „ökologischen Anthropologie" viel gebraucht wird. Indem diese Vertreter das gesellschaftliche Leben eines bestimmten Volkes als System auffassen, analysieren sie es als Teil eines umfassenderen Systems, nämlich „eines Ökosystems".30 Dieses Ökosystem im weiteren Sinne wird als System der Wechselbeziehungen zwischen lebenden Organismen und der unbelebten Umwelt in dem jeweiligen Areal definiert. Das philosophische Problem der Beziehung zwischen Mensch und Natur wird naturalistisch als Wechselverhältnis von Energie und Materie, von lebender und unbelebter Natur abgehandelt. Die Aufgaben der Ethnographie werden dabei als Studium der adaptiven Bindungen der menschlichen Population an das natürliche Milieu definiert. Die Analyse konzen27 28

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J. H. Steward, Alfred Kroeber, New York 1973. Vgl. die Übersicht von J. W . Anderson, „Ecological anthropology and anthropological ecology", in: Handbook of social and cultural anthropology, hg. v. J. J . Honigmann, Chicago 1973. W . Goldschmidt, Comparative functionalism. An essay in anthropological theory, Berkeley-Los Angeles 1966, S. 124. Siehe O. D. Duncan, „Social Organization and ecosystem", in: Handbook of modern sociology, hg. v. R. E. L. Harris, Chicago 1964. Kultur u. Ethnos

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triert sich auf die Aufdeckung der ursächlichen Einflüsse der natürlichen Ressourcen auf die Merkmale des gesellschaftlichen Lebens der jeweiligen Populationen. In den Arbeiten der Forscher dieser Richtung findet man viele Versuche zur Erklärung von Kriegen, des Vorhandenseins oder Fehlens sozialer Ungleichheit, der Ausbeutung, der Klassen, der religiösen Vorstellungen und Gebräuche durch die Spezifik der natürlichen Ressourcen des jeweiligen Milieus. Unter den Verfechtern dieser Interpretation gibt es jedoch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Grades des Milieueinflusses auf die sozialökonomische Struktur des einen oder anderen gesellschaftlichen Organismus. Gleichzeitig werden die Positionen der Verfechter der kulturellen Ökologie bzw. der ökologischen Anthropologie einer berechtigten Kritik seitens einer Reihe ihrer Kollegen aus dem eigenen Lande unterzogen. Die Haltlosigkeit der Konzeptionen der ökologischen Anthropologie wurde überzeugend gezeigt durch S. Cook, der hervorhob, daß die Grundlage dieser Konzeptionen eine Biologisierung des Menschen ist, eine Betrachtung der Menschen als eine Art lebender Organismen. Die Begründer des historischen Materialismus des 19. Jahrhunderts, so räumt Cook ein, zeigten überzeugend die Unrichtigkeit eines solchen Herangehens. Es „vertuscht", so sagt er, die wichtigste evolutionäre Tatsache, daß der Homo sapiens die einzige Art ist, die ihre Existenzbedingungen selbst schafft, indem sie unmittelbar auf sie einwirkt und die physische Natur durch eine organisierte soziale Tätigkeit umgestaltet. Mit anderen Worten betont er, daß die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse spezifisdi sind für die menschliche Adaption und die Adaption des Menschen zu einem Prozeß machen, der sich wesentlich von der Anpassung aller anderen Arten in der Natur unterscheidet. Nur der Homo sapiens erreichte von allen Lebewesen auf der Erde einen solchen Grad der Adaption, durch den seine Population das Material der Natur in Produkte verwandelt, die für die Existenz notwendig sind, und deren soziale Beziehungen nicht genetisch programmiert sind sondern von Generation zu Generation weitergegeben werden und das Verhältnis zum „Anteil am Prozeß der Produktion"31 widerspiegeln. Cook hebt die Wichtigkeit der Schlußfolgerung von Engels in dessen Arbeit „Die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung des Alfen" hervor. In den Arbeiten einer Reihe von amerikanischen Ethnographen mit einer linksliberalen Orientierung - z. B. S. Mintz, E. Wolf, M. Fried, R. Carneiro, E. Service, M. Harris, M. D. Sahlins - wird der Versuch unternommen, eine Theorie des Neoevolutionismus herauszuarbeiten als eine Art neuer historisch-philosophischer Konzeption, wobei jedoch ihre Theorien in Wirklichkeit eine eigentümliche Synthese der Anschauungen von White und Steward sind. Sie verbinden den ökologischen Determinismus des letzteren mit der energetischen Theorie von White und versuchen, die Idee der multilinearen Evolution mit der Idee der Einheit des historischen Prozesses von White zu verknüpfen, gelegentlich auch mit den Konzeptionen des Diffusionismus und Funktionalismus alter Schule und in einzelnen Thesen sogar mit dem Marxismus. Wolf z. B. bestimmte den Neoevolutionismus als eklektische Verbindung der Ideen des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, des Diffusionismus, des Funktionalismus und der ökolo31

S. Cook, „Economic anthropology: Problems in theory, method and analysis", in: Handbook of social and cultural anthropology, S. 846.

D e r Neoevolutionismus

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gischen Theorie, was seiner Meinung nach dadurch berechtigt ist, daß „die Begrenztheit der einen Methode durch die positiven Qualitäten anderer ergänzt wird". 32 Sahlins, Service und T. Harding gehen von der Anerkennung der Idee der Einheit der Weltgeschichte und des gesellschaftlichen Fortschritts aus und definieren den Gang der Evolution der menschlichen Gesellschaft als Gesamtheit zweier Prozesse: des Prozesses der spezifischen Evolution und des Prozesses der allgemeinen Evolution, die von ihnen als „zwei Seiten einer Erscheinung" verstanden werden, das heißt, des allgemeinen Verlaufs der Evolution. Diese Konzeption des Evolutionismus wurde in dem Artikel von Sahlins „Spezifische und allgemeine Evolution" in der kollektiven Monographie „Evolution und Kultur" formuliert sowie in den Artikeln anderer Autoren dieser Monographie ausgeführt.33 Sahlins und Service unterzogen die in der Wissenschaft vorhandenen Definitionen der Evolution einer kritischen Analyse. Dabei wenden sie sich am entschiedensten gegen die Deutung des „ein-linearen Evolutionismus". Während die Vertreter der historischen Schule sowohl die Ethnographen des 19. Jahrhunderts als auch den Marxismus des ein-linearen Evolutionismus bezichtigten, so sind Sahlins und Service der Meinung, daß dieser Vorwurf nur dem Marxismus zukomme und die Ethnographen des 19. Jahrhunderts völlig ungerechtfertigt beschuldigt worden seien. „Von den evolutionistischen Ethnographen des 19. Jahrhunderts", betont Sahlins, „muß ein für allemal die Beschuldigung der Ein-Linearität genommen werden." Die Ein-Linearität des Marxismus sehen die Autoren in der marxistischen Auffassung des historischen Prozesses als eines progressiven Wechsels gesellschaftsökonomischer Formationen. Sahlins geht besonders auf den Feudalismus ein, indem er nur einen Sonderfall einer spezifischen Evolution zurückgebliebener Länder Europas sieht. Darin, daß der Feudalismus der unmittelbare Vorläufer der kapitalistischen Gesellschaftsformation wurde, sah Sahlins eine Äußerung des von Service entwickelten „Gesetzes des evolutionären Potentials". Überhaupt hat Sahlins behauptet, daß die antike Zivilisation weiterentwickelt war als die feudalen Länder Europas. In den Konzeptionen von Sahlins und Service wie auch anderer Neoavolutionisten in der amerikanischen Ethnographie sind Spuren der Biologisierung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft doch feststellbar. Sie zeigen sich in den Versuchen, Parallelen zwischen der sozialen und biologischen Evolution herzustellen, in der Überbetonung der Rolle der adaptiven Prozesse, wenn die Evolution der Kultur wie die Evolution der Organismen in der Biologie als Assimilationsprozeß behandelt wird. Der Naturalismus äußert sich auch in den Versuchen einer Messung des Fortschritts in Energiezertifikaten. Es ist ganz offensichtlich, daß ihre historische Konzeption gegen den Marxismus gerichtet ist. Der Neoevolutionismus wird von ihnen völlig richtig als theoretische Antithese zum Marxismus angesehen. Gewiß, einige Kritiker des Neoevolutionismus versuchen ihn mit dem Marxismus zu identifizieren, indem sie auf die reale Tatsache der Nähe zum Marxismus in der Anschauung einiger Wissenschaftler des Westens spekulieren, die für die Wiederbelebung des „Evolutionismus des 19. Jahrhunderts" eintreten, sich aber nicht als „Neoevolutio32

E. W o l f , „The study of evolution", in: Horizons of anthropolqgy, Chicago 1 9 6 4 , S. 1 0 . M. D . Sahlins, „Evolution: specific and general", in: Evolution and culture, Ann A r b o r S. 4 3 f.

4*

1960,

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nisten" fühlen. Man kann auch eine gewisse geistige Nähe zu den Konzeptionen der marxistischen Soziologie in den Äußerungen einiger Neoevolutionisten über die Bedeutung der materiellen Produktion, der sozialen Ungleichheit und der Ungleichheit hinsichtlich des Eigentums für die Entwicklung der Gesellschaft feststellen, in ihrer Anerkennung von gesellschaftlichen Erscheinungen wie Basis und Überbau. Aber oft verbergen sich hinter einer marxistischen Phraseologie antimarxistische Konzeptionen, die nicht selten als „verbesserter" Marxismus ausgegeben werden. Typisch in dieser Hinsicht ist die Konzeption des „kulturellen Materialismus" von M. Harris.

Der „kulturelle Materialismus" von M. Harris M. Harris, Schüler von White und Steward, versuchte, den ihren Konzeptionen eigenen Naturalismus zu überwinden. In seiner grundlegenden Arbeit zur Geschichte der Theorie in der westlichen Ethnographie 34 unterzog er alle Richtungen in der Geschichte der bürgerlichen Ethnographie sowie die marxistische Geschichtsauffassung einer Kritik und versuchte, seine originelle historisch-philosophische Konzeption „des kulturellen Materialismus" zu entwickeln. Er kritisiert zu Recht die Vermischung der kulturellen und biologischen Evolution durch Sahlins und Service und betont die Spezifik der sozialen Evolution. Er kritisiert auch die multilineare Evolution von Steward und fragt ihn, wieviel Entwicklungslinien er wohl aufstelle. 35 Aber auch der kulturelle Materialismus von Harris ist im Grunde nur ein technisch-ökologischer Materialismus wie auch schon bei anderen Neoevolutionisten. Seine Überlegungen gehen in die gleiche Richtung: „Die Verwendung einer ähnlichen Technik in einer ähnlichen Umwelt hat die Tendenz, zu ähnlichen Formen der Organisation der produktiven Arbeit und Verteilung zu führen, und diese rufen ihrerseits ähnliche Formen sozialer Gruppierungen hervor, die die Tätigkeit durch ähnliche Systeme von Werten und Vorstellungen rechtfertigen und koordinieren." 36 Aber im Unterschied zu Sahlins und Service, die den Marxismus beschimpfen, versucht Harris seinen kulturellen Materialismus als „verbesserten Materialismus" darzustellen; er erkennt sogar Marx als Begründer des kulturellen Materialismus an, aber als solche sieht er gleichfalls White und Steward an. Er bezeichnet ihre Methode, an die Geschichte der Gesellschaft heranzugehen, als „kultur-materialistisch", die Konzeption von Steward als „ökologische Variante des Kulturmaterialismus" und wirft ihnen vor, daß sie „Marx nicht ihre Anerkennung gezollt haben", die ihm nach Ansicht von Harris unbestritten zukomme: „Es ist historisch unbestritten, daß keine Person des 19. Jahrhunderts, eingeschlossen die nichtmarxistische Soziologie des 20. Jahrhunderts, einen Einfluß gehabt hat, der auch nur annähernd an den von Marx und Engels heranreicht." In seiner Arbeit betont er wiederholt den Einfluß des Marxismus auf die amerikanische Ethnographie: „Die Kulturanthropologie entwickelte sich ganz und gar als Reaktion gegen den Marxismus." Harris versucht zu zeigen, daß der Marxismus einen positiven 34 35 36

M. Harris, The rise of anthropological theory, New York 1968. Ebenda, S. 656 f. Ebenda, S. 4.

D e r Neoevolutionismus

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Einfluß auf die westlichen Sozialwissenschaften ausüben könne, wobei er freilich zwischen dogmatischem und schöpferischem Marxismus unterscheidet. Letzteren versteht Harris als Sozialwissenschaft ohne Dialektik und ohne Lehre von der proletarischen Revolution. Die Grundlage eines solchen Marxismus sieht er in der Lehre von Basis und Überbau, die nach Harris das Fundament auch für den Kulturmaterialismus bildet, für eine gewisse „universelle" Soziologie und sogar einen „Ersatz" für den „dogmatischen" Marxismus. Im Kulturmaterialismus sieht Harris „eine neue Strategie" der Erforschung theoretischer Probleme der Ethnographie. In Wirklichkeit jedoch ist es eine eklektische Theorie, in der der Versuch gemacht wird, die Konzeption des Neoevolutionismus mit einigen Ideen der marxistischen Soziologie zu vereinen. Sie ist erstaunlich ähnlich der „Philosophie des modernen Materialismus", die gegen den Marxismus entwickelt wurde, ein angeblich „verbesserter" Marxismus des revisionistischen amerikanischen Soziologen S. Hook. Im allgemeinen hat der Kulturmaterialismus von Harris die Begrenztheit des TechnikUmwelt-Determinismus nicht überwunden, und im ideologischen Bereich stellt er den Versuch einer Revision der marxistischen Auffassung von der Geschichte der Gesellschaft dar, indem einerseits Roverenzen an die Adresse von Marx gerichtet werden und sich andererseits Beschimpfungen auf die „dogmatischen" Marxisten, zu denen er auch Lenin zählt, nebst einer gehörigen Portion Antisowjetismus finden. Bei aller Vielfalt ist der Neoevolutionismus in der amerikanischen Ethnographie der letzten zwei Jahrzehnte insgesamt ganz zweifellos ein Beweis für das Suchen der Ethnographen nach einer neuen Methodologie, ein Versuch, aus der theoretischen Sackgasse herauszukommen, in welche die historische Schule sie geführt hat. Eine große Gruppe von Ethnographen der USA ist nun wesentlich weiter als die Neoevolutionisten vom Relativismus und Agnostizismus der historischen Schule abgewichen und hat die Begrenztheit der Konzeption von White und Steward überwunden. Die Arbeiten der Verfechter des Neoevolutionismus zeugen ganz zweifellos davon, daß in der Entwicklung der Theorie im ethnographischen Bereich in den USA materialistische Tendenzen festzustellen sind. Gleichzeitig jedoch kann man in der amerikanischen Ethnographie auch idealistische Tendenzen feststellen. Am deutlichsten äußert sich dies in der sogenannten „Ethno-Wissenschaft" oder „Ethno-Semantik" bzw. „Cognitive Anthropologie".37 Die Vertreter dieser Richtung sehen es als ihre Aufgabe an, durch die Methode der Semiotik die nicht real wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen zu untersuchen und Beschreibungen („Adäquate") von Vorstellungen der Menschen der jeweiligen Kultur von den Dingen und Erscheinungen ihrer Kultur zu geben, also eine Untersuchung der Erkenntnisprozesse der Umwelt durch diese Menschen. Ein Theoretiker .der Ethno-Wissenschaft, W. Sturtewant, rechtfertigt diese Methode dadurch, daß sie angeblich die Voreingenommenheit, den Ethnozentrismus des Ethno37

Siehe W . Sturtewant, „Studies in ethnoscience", in: American Anthropologist. Bd. 66, 1 9 6 4 , Nr. 2 ; Cognitive anthropology, hg. v. S. A . Tyler, N e w Y o r k 1 9 6 9 ; O. Werner, „Some new developments in ethnosemantic fields", in: Current trends in Iinguistics, hg. v . Th. Sebeok, Bd. 12, Hague 1974.

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graphen bei der Beschreibung der Kultur des einen oder anderen Volkes ausschließe. Harris, der diese Richtung in der Ethnographie der USA kritisiert, kennzeichnet sie durchaus zutreffend als idealistische Richtung, die von den Ideen Diltheys ausgeht und die Unzulänglichkeit der atomaren Auffassung der Kultur bewahrt. 38 Neben der Erarbeitung und Verbreitung unterschiedlicher neoevolutionistischer, allgemein-methodologischer Konzeptionen kann man auf Grund zahlreicher Arbeiten und Vorträge von amerikanischen Ethnographen besonders der jungen Generation auf ein wachsendes Interesse an der marxistischen Geschichtsphilosophie und auf eine allmähliche Durchsetzung ihrer Ideen in den Forschungen schließen. Einen schlagenden Beweis dafür lieferte das aktive Auftreten amerikanischer Ethnographen in den auf ihre Initiative gebildeten speziellen Sektionen und in dem vorausgegangenen Symposium zum Thema „Probleme und Möglichkeiten der marxistischen Ethnologie" auf dem 1973 in Chikago veranstalteten IX. Internationalen Anthropologen- und Ethnographenkongreß.39 Auf diesem Kongreß entstand auch die Idee zur Herausgabe einer speziellen Zeitschrift „Der marxistische Anthropologe", die seit 1975 unter dem Titel „Dialektik Anthropology" erscheint. Wie die Beiträge der Ethnographen der USA in den letzten Jahren zeigen, werden die Ideen der Begründer des Marxismus-Leninismus von ihnen in ausgedehnter Quellenarbeit studiert. Allerdings erfolgt dies nicht immer durch unmittelbares Studium der Arbeiten der Schöpfer des wissenschaftlichen Kommunismus. Oft dienen als Quellen einer Kenntnis des Marxismus voreingenommene Interpretationen in den Arbeiten von antikommunistischen Ideologen, in Lehrbüchern von „Marxkundlern" und ähnlichen. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die erwähnte grundlegende Untersuchung von Harris zur Geschichte der Ethnographie des Westens, worin den Klassikern des Marxismus breiter Raum eingeräumt wird; doch hat Harris, wie der Text zeigt, seine Kenntnisse über den Marxismus von Wittfogel, M. Weber und anderen Marxkritikern bezogen. Die Folge eines derartigen Studiums des Marxismus ist eine falsche Vorstellung über die Anschauung seiner Begründer. Viele westliche Wissenschaftler befassen sich mit dem Marxismus auf Grund der Originalquellen. Die Ziele jedoch, die sie sich dabei stellen, sind unterschiedlich, und unterschiedlich sind deshalb auch die Einschätzungen der wissenschaftlichen Bedeutung der Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus. Die einen Wissenschaftler, solche wie Morris E. Opler zum Beispiel, lesen die Arbeiten von Marx, Engels und Lenin und machen sich mit den Arbeiten ihrer Nachfolger zu dem Zweck bekannt, um sie im Sinne eines technologischen Determinismus, eines ökonomischen Determinismus oder aber als Dogmatismus zu interpretieren. Man findet auch Versuche einer Identifizierung des Marxismus mit dem Existentialismus. Andere suchen in den Werken der Klassiker des Marxismus Antworten auf sie bewegende Fragen über die wissenschaftliche Auffassung einer Geschichte der Gesellschaft (z. B. E. Leacock, H. Hickerson u. a.). Im Zusammenhang mit dem allgemeinen, breiten Interesse am Marxismus in den 38 39

Harris, S. 568-597. Vgl. dazu Ju. P. Averkieva/Ju. V. Bromlej, „IX. Mezdunarodnyj Kongress antropologiceskich i etnologiceskich nauk", in: Sovetskaja Etnografija 1974, Nr. I.

Der Neoevolutionismus

55

Kreisen der Wissenschaftler des Westens finden wir nicht selten auch Äußerungen über seine Bedeutung für die Entwicklung der westlichen Sozialwissenschaft und insbesondere für die Ethnographie. Negativ schätzt z. B. Morries E . Opler den Einfluß des Marxismus auf die amerikanische Ethnographie ein,40 während sein Bruder Marwin K. Opler bestrebt ist, seine Untersuchungen auf dem Gebiet der ethnischen und Sozialpsychologie auf den Thesen des historischen Materialismus aufzubauen.41 Über einen positiven Einfluß des Marxismus selbst auf nicht-marxistische Ideen äußern sich Harris, Mead und sogar Murdock. Harris gibt zum Beispiel bei der Behandlung des Einflusses des Marxismus auf die Entwicklung der Sozialwissenschaften des Westens zu, daß „die Wissenschaft von der Gesellschaft in den USA durch ihre Isolation von den marxistischen Gedanken einen großen Schaden genommen hat." E r hebt die große Bedeutung des Marxismus für die theoretische Ethnographie des Westens hervor, wiederholt jedoch gleichzeitig die in der westlichen Soziologie verbreitete Ansicht, daß der Marxismus veraltet sei. „Veraltet" soll die von Marx gegebene Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und seine Lehre von der proletarischen Revolution sein. Harris schließt sich hierbei den Ideen westlicher Soziologen an, die zu beweisen versuchen, daß in der modernen kapitalistischen Gesellschaft ein Prozeß der „Deproletarisierung" und „Sozialisierung" vor sich gehe. Für unannehmbar hält Harris die dialektische Methode von Marx. Weite Verbreitung finden bei westlichen Wissenschaftlern auch Begriffe der marxistischen politischen Ökonomie, wie Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte, obwohl letztere oft noch mit Technologie gleichgesetzt werden und die Bedeutung der ersteren als ökonomische Struktur der Gesellschaft ignoriert wird. Einige Thesen des Marxismus werden von westlichen Ethnographen unter anderen Bezeichnungen gebraucht, so figuriert z. B. der Begriff „ökonomische Gesellschaftsformation" oft unter der Bezeichnung „soziokulturelles System". Die aus dem Marxismus entlehnten Ideen und Thesen werden oft in ganz unerwarteter Weise eklektisch mit Ideen der bürgerlichen Soziologie verflochten. Aber neben den Wissenschaftlern, die vom Marxismus nur einzelne Ideen übernehmen und sie zum Schaden nicht nur des Marxismus, sondern auch ihrer eigenen Wissenschaft verwenden, entwickelt sich in der Ethnographie der USA ein Flügel progressiver Wissenschaftler, die eine positive Einstellung zum wissenschaftlichen Erbe der Klassiker des Marxismus haben und ihre Forschungen von der Position des historischen Materialismus durchzuführen bemüht sind, womit sie den Einfluß der in der westlichen Wissenschaft vorherrschenden bürgerlichen Konzeptionen überwinden. Diese Wissenschaftler kritisieren mutig reaktionäre Anschauungen ihrer Kollegen und erläutern geduldig das Wesen des Marxismus. Sie treten aktiv gegen den Krieg, für den ' ,0 M. E. Opler, „Cultural evolution, Southern Athapaskans and chronology in theory", in: Southwestern Journal of Anthropology, Bd. 17, 1961, Nr. 1; derselbe, „Two converging lines of influence in cultural evolutionary theory", in: American Anthropologist, Bd. 64, 1962, Nr. 3, S. 1; derselbe, „Integration, Evolution and Morgan", in Current Anthropology, Bd. 3, 1962, Nr. 5 ; derselbe, „Morgan and Materialism", in: Current Anthropology, Bd. 3, 1962, Nr. 5, S. 479. 41 M. K. Opler, a. a. O.

56

J U . P. P E T R O V A - A V E R K I E V A

Frieden, gegen Rassismus, gegen die Benutzung der Wissenschaft für die Interessen des Imperialismus und Neokolonialismus ein.42 Für die moderne Ethnographie der USA sind Unsicherheit und das Suchen nach neuen soziologischen. Theorien charakteristisch. Viele ihrer kritisch eingestellten Vertreter sprechen dies offen aus, wenn sie von einer ideologischen Krise der Wissenschaft reden. Davon zeugen harte Diskussionen, der Kampf fortschrittlicher und reaktionärer historisch-philosophischer Konzeptionen in allen Bereichen und zu allen Problemen der Ethnographie. Ein Jahrzehnt der Versuche, „neue" Theorien zu schaffen, hat die Wissenschaftler von der Unfähigkeit der bürgerlichen Wissenschaft überzeugt, eine befriedigende soziologische Theorie zu entwickeln, die den Verlauf der Weltgeschichte zu erklären in der Lage wäre und dem Marxismus widerstehen könnte. Die Krise der bürgerlichen historischen Ideen festigt nur die Autorität des historischen Materialismus. Das vergangene Jahrzehnt war eine Periode der ständigen Ausdehnung und Vertiefung des Einflusses des Marxismus auf die westliche Ethnographie und Soziologie. Aber die Hinwendung der modernen Ethnographen der USA zum Marxismus ist ein komplizierter und vielschichtiger Prozeß. Auf der einen Seite zeugt er von der wachsenden Autorität des Marxismus. Aber in jedem einzelnen Fall hat die Hinwendung des einen oder anderen bürgerlichen Ethnographen zu den marxistischen Ideen unterschiedlichen Sinn und Bedeutung. In einer Zahl von Fällen ist die Hinwendung zu Marx ein Ausdruck der Bewegung eines progressiv eingestellten Wissenschaftlers auf den Marxismus zu. In anderen Fällen kommen Wissenschaftler zu den Ideen des Marxismus durch ihre wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit und ziehen Schlußfolgerungen, die ihrer sonstigen ideologischen Orientierung widersprechen. In einem Fall überwinden sie die antiwissenschaftlichen Konzeptionen alter Schulen, im anderen folgen sie ihnen blind. Gleichzeitig sind die verschiedenartigsten Versuche offenkundig, die erschütterten Positionen der bürgerlichen soziologischen Theorien durch die Ideen und die Autorität des Marxismus zu stützen. Allen Versuchen der Hinwendung zum Marxismus im Interesse der wissenschaftlichen Forschungen steht die Widerstandskraft reaktionärer Wissenschaftler entgegen, die die Ideen des Marxismus in Mißkredit zu bringen und seinen Einfluß zu neutralisieren suchen. Die einen bemühen sich, sich als „Marxisten" zu verkleiden, jedoch als „neue Marxisten", die den Marxismus „verbessern" und die Thesen des Marxismus in präparierter und der bürgerlichen Ideologie angepaßter Form darlegen. Diesen Zweck haben denn auch verschiedene Varianten der Konvergenztheorie zur Annäherung des Marxismus an das bürgerliche soziologische Gedankengut. Ihre Vertreter sind bemüht, den Marxismus - um mit Lenin zu sprechen - in der Umarmung der bürgerlichen Wissenschaft zu ersticken. Andere führen einen offenen, heute jedoch wenig populären Kampf gegen den Marxismus. Der gesamte Verlauf der Geschichte der theoretischen Ideen in der Ethnographie der 42

Vgl. „Social responsibility symposium", in; Current Anthropology, Bd. 5, 1968 j W ä f : anthcopology of armed conflict and aggression, New York 1968.

Der Neoevolutionismus

57

USA überzeugt uns, daß die ehrlichen Wissenschaftler der USA den Widerstand der reaktionären Ideologie überwinden und erkennen werden, daß der Marxismus den einzigen Ausweg aus der Sackgasse darstellt, in die idealistische und relativistische Konzeptionen die bürgerliche Sozialwissenschaft geführt haben. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der gegenwärtigen ausländischen Ethnographie ist die Tatsache, daß Grenzprobleme der Geschichte der Gesellschaft, die sowohl in ethnographischen als auch historischen Untersuchungen aufgeworfen werden, fruchtbringend von einer ganzen Reihe marxistischer Historiker verschiedener kapitalistischer Länder bearbeitet werden. In den USA z. B. finden Fragen der Geschichte und Kultur der Völker Amerikas eine echte wissenschaftliche Darstellung in den Arbeiten von W. Foster, H. Aptheker, G. Hall, H. Winston u. a.

Irmgard S e l l n o w

Zur Rolle und Bedeutung psychologischer Theorien in der Ethnographie

Psychologische T h e o r i e n sind in der E t h n o g r a p h i e k e i n e n e u e n Erscheinungen. B e r e i t s einige Vertreter der evolutionistischen Schule, w i e z. B . W a i t z 1 o d e r Spencer 2 , hatten sich

in

erheblichem

Umfang

darauf

gestützt

und

mit

ihrer

Hilfe

gesellschaftliche

P h ä n o m e n e erklärt. V o r a l l e m aber f ä l l t in d i e Z e i t der W e n d e v o m 19. z u m 20. Jahrhundert d i e

Begründung

der V ö l k e r p s y c h o l o g i e

durch W u n d t . 3

Seine

Auffassungen

und A r b e i t e n hatten eine w e i t r e i c h e n d e u n d l a n g a n h a l t e n d e W i r k u n g , u n d seinen G e sichtspunkten schlössen sich n e b e n Bastian 4 auch Lazarus 5 u n d Steinthal 6 an. D e n n o c h ging nicht v o n W u n d t , sondern v o n Freud d i e A n r e g u n g für d i e E n t s t e h u n g der m o d e r neren psychologischen Richtungen in d e r E t h n o g r a p h i e aus. D i e s e H i n w e n d u n g zu F r e u d hatte hinsichtlich T h e o r i e u n d

Methode

der

einge-

schlagenen D e n k r i c h t u n g erhebliche K o n s e q u e n z e n . W a r W u n d t v o n e i n e m dialektischen Verhältnis zwischen I n d i v i d u u m u n d G e s e l l s c h a f t a u s g e g a n g e n , 7 w u r d e d i e s e E r k e n n t -

1

Th. Waitz, Grundlegung der Psychologie, Hamburg-Gotha 1846. H. Spencer, System der synthetischen Philosophie, 2 Bde., Stuttgart 1875/76. :i W. Wundt, Grundriß der Psychologie, 8. Aufl., Leipzig 1907, insbesondere S. 381 ff. '' A. Bastian, Allgemeine Grundzüge der Ethnologie. Prolegomena zur Begründung einer naturwissenschaftlichen Psychologie auf dem Material des Völkergedankens, Berlin 1884. ' M. Lazarus, Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Berlin 1865. 1

B 7

H. Steinthal, „An die Leser", in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, Bd. 1, Berlin 1891. Vgl. z. B. folgende Ausführungen: „In den geistigen Gemeinschaften und in den in ihnen hervortretenden Entwicklungen von Sprache, Mythus und Sitte treten uns dennoch geistige Zusammenhänge und Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesentlichen Beziehungen von dem Zusammenhange der Gebilde im individuellen Bewußtsein unterscheiden, denen aber darum doch nicht weniger wie diesem Wirklichkeit zuzuschreiben ist. In diesem Sinne kann man den Zusammenhang der Vorstellungen und Gefühle innerhalb einer Volksgemeinschaft als ein Gesamtbewüßtsein und die gemeinsamen Willensrichtungen als einen Gesamtwillen bezeichnen." Und weiterhin polemisierte er direkt gegen diejenigen, die Individuum und Gesellschaft als einander gegenüberstehende Größen betrachteten: „Eine Nachwirkung dieser unpsychologischen und gegenüber den Problemen der Völkerpsychologie völlig ratlosen Auffassung ist es, wenn heute die Begriffe eines Gesamtbewußtseins und Gesamtwillens den gröbsten Mißverständnissen begegnen. Statt sie einfach als einen Ausdruck für die tatsächliche Übereinstimmung und die tatsächlichen Wechselwirkungen der Individuen einer Gemeinschaft zu betrachten, meint man hinter ihnen

60

I. S E L L N O W

nis von späteren Psychologen nicht weiter verfolgt. Dies hatte nicht nur eine metaphysische Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft bei den jüngeren Vertretern psychologischer Theorien zur Folge, wesentlicher noch waren die häufig einseitige Betrachtung des Individuums, die damit engstens verbundene Vernachlässigung der gesamtgesellschaftlichen Aspekte - insbesondere hinsichtlich der materiellen Grundlagen des Lebens - und die starke Hinwendung zur Psychiatrie. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Bekanntlich war die evolutionistische Schule ausgesprochen historisch orientiert, und ihre Vertreter bemühten sich zum Teil um die Erarbeitung umfassender Geschichtsbilder. Die stürmische Entwicklung in den Gründerjahren verführte zur Annahme einer stetigen Progression auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Dieser unbedingte Glaube an den unaufhörlichen Fortschritt der Menschheit erlitt jedoch ernsthafte Erschütterungen, als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Krisenzeichen bemerkbar machten. Der Evolutionismus wich anderen Schulen, die mit zunehmenden politischen Widersprüchen in stets höherem Maße einem Geschichtsagnostizismus verfielen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Folgeerscheinungen dieser Entwicklung einzugehen. Eine dieser Folgen jedoch ist im gegebenen Zusammenhang wesentlich: Die Hinwendung zu sekundären Fragen der Geschichtsentwicklung. Auch das Aufkommen psychologischer Schulen der Geschichtsbetrachtung resultierte unmittelbar aus diesen Veränderungen. Für sie stand nicht mehr die Frage nach den großen Entwicklungslinien der Menschheitsgeschichte im Mittelpunkt des Interesses; sie beschäftigten sich statt dessen mit einer Spezialf rage: mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Zweifellos ist dies ein Problem, das wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient und das keineswegs zufällig heute auch in sozialistischen Ländern immer häufiger aufgegriffen wird, hängt doch das Tempo des sozialistischen Aufbaus in wesentlichem Maße vom bewußten Handeln der Menschen ab. Es ist also nicht die Fragestellung als solche, an der sich die Auffassungen scheiden, es ist vielmehr die Betrachtungsweise. Die psychologischen Schulen der neueren Zeit begannen ihr Wirken mit einer Absage an die Grundsätze und Erkenntnisse der Völkerpsychologie. Indem man sich nunmehr auf die Individualpsychologie, insbesondere aber auf die Psychoanalyse, stützte, wollte man tiefere Einsichten gewinnen und die „geheimsten Triebfedern der Determiniertheit des Seelenlebens" aufdecken. 8 Freud, der Begründer der neuen Betrachtungsweise, sah als Haupttriebfeder menschlichen Handelns den Sexualtrieb an. Ödipuskomplex, Narzißmus - im Sinne „einer nicht erreichten erotischen Objektwahl" bzw. der daraus resultierenden „Selbstliebe" 9 - , Komplexe und Verdrängung waren die wichtigsten Schlagworte. Allerdings erwies es sich manchmal als sehr schwierig, den Kultur- und Geschichtsverlauf - auch wenn man nur Ausschnitte davon der Betrachtung unterzog irgendein

mythologisches

Wesen

oder

mindestens

eine

metaphysische

Substanz

zu

(Wundt, S. 3 8 4 - 3 8 5 ; vgl. auch: Derselbe, Vorlesungen über die Menschen- und 3. Aufl., Hamburg-Leipzig 1 8 9 7 , S. 4 8 8 - 4 8 9 ) . 8

G . Röheim, Spiegelzauber, Leipzig-Wien 1 9 1 9 , S. 2 6 3 .

7

M

Richards betont im Vorwort der genannten Monographie, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes das Ergebnis gemeinschaftlicher Anstrengungen sei, wobei vor allem Fallers durch sein Interesse an Webers Theorien über die Entstehu'ng von Bürokratien viel dazu beigetragen habe. (Richards, East African Chiefs, S. 23.) Fallers seinerseits gehörte u. a. dem Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences (Stanford) an, in dem auch D. E. Apter und C. Geertz mitarbeiteten und dessen Vorsitzender E. Shils, einer der nächsten Mitarbeiter Parsons', ist; aus diesem Zentrum ging 1 9 5 8 das Committee for the Comparative Study of New Nations hervor, 1957/1958 arbeitete auch Dahrendorf an diesem Zentrum. Ein Ergebnis interdisziplinärer Zusammenarbeit ist auch das unter der Schirmherrschaft des EAISR entstandene sogenannte „leadership project", das von Fallers konzipiert worden war und dessen Ergebnisse publiziert sind in: „The King's Men", in: Leadership and Status in Buganda on the Eve of Independence, hsg. von L. A. Fallers, London 1964 (mit einem Vorwort von A . I. Richards). R. Dewjatkowa, „Max Weber und Karl Marx", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 11, 1968.

176

J. HERZOG

für diese Staaten besser angepaßten „dritten Weg" erreicht werden. Die Möglichkeit hierfür sehen sie in der anscheinend engen Verflechtung von „traditionellen" Verhältnissen (die auf Großfamilie, Clan oder Stamm mit ihren entsprechenden Häuptlingen als Führern beruhen) mit „modernen" Institutionen (Staatsapparat, Parlament usw.). Die eurozentristische Sicht der Politologen, die wie D. E. Apter alles mit dem Maßstab der westlichen Institutionen messen,49 und der ökonomische Determinismus der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftler werden als für die Entwicklungsländer ungeeignet abgelehnt. A. K. E. Mensah aus Ghana schreibt hierzu in ihrer am Ethnographischen Institut der Universität München verteidigten Dissertation, daß wirtschaftliche Stabilität nicht politische Stabilität bedeute, diese weder nach sich ziehe noch sie gewährleiste, besonders bei großer ethnischer Heterogenität der Bevölkerung wie in den afrikanischen Staaten. „Zwar führt die Konfrontation der traditionellen Gesellschaften mit einer modernen Ökonomie zu einem bemerkenswerten Verfall der ,subsistence economy' und zur Schwächung der Verwandtschaftsstrukturen, aber dies führt nicht zwangsläufig zu einer sozialen Integration oder zur Stabilität des modernen Staates." 50 Mit dem so begründeten Rückgriff auf die „traditionellen" Verhältnisse geht es den bürgerlichen Ethnographen letztlich um die Hervorkehrung der nationalen Besonderheiten, der nationalen „Exklusivität" der revolutionären Veränderungen auf dem afrikanischen Kontinent. Die afrikanische Revolution wäre durch die Kolonialzeit und die ethnische Heterogenität ihrer Länder geprägt, die Revolutionen auf dem europäischen Kontinent dagegen mehr durch Klassen als durch ethnische Bindungen, so lautet die These von Fallers. 51 Der Kampf der afrikanischen Völker für sozialen Fortschritt und die Befreiung von imperialistischer Abhängigkeit soll so aus der weltumspannenden Bewegung gegen den Imperialismus herausgelöst und isoliert werden. Zugleich soll mit dem Konzept des „dritten Weges" die spontane Hinwendung breiter Volksmassen in den jungen Staaten zum Sozialismus einerseits und ihre Verbundenheit mit den überkommenen autochthonen gesellschaftlichen Institutionen und Werten andererseits ausgenutzt werden, um den „klassischen" Kapitalismus westeuropäischer Prägung zu modifizieren und ihn den neuen Bedingungen anzupassen. 49 50

51

D.\E. Apter, The Gold Coast in Transition, Princeton 1955, S. 3. A. K. E. Mensah, Autoritätskonzept und Autoritätswandel in Ghana, Nigeria und Uganda (Inaugural-Diss.), München 1970, S. 4 f. Fallers, The King's Men, a. a. O., S. 2.

Dietrich Treide

Die „ökonomische Anthropologie" und ihre Haltung zum Marxismus-Leninismus

In seinen kritischen Untersuchungen zur „ökonomischen Anthropologie" kennzeichnete Ju. I. Semenov diese Richtung als eine der wichtigsten modernen Strömungen in der bürgerlichen Sozialanthropologie und Ethnologie.1 Diese Feststellung besitzt nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit, wenn auch in den letzten Jahren die oft sehr zugespitzten Diskussionen zwischen den Vertretern der einzelnen „Fraktionen" innerhalb der „ökonomischen Anthropologie" abgeebbt sind.2 Es kann nicht Gegenstand dieses Beitrages sein, die „ökonomische Anthropologie" in ihrer Entwicklung, in der Vielfalt der Auffassungen und der Widersprüchlichkeit der einzelnen Konzepte darzustellen; einen ersten Versuch einer breiter angelegten marxistischen Analyse hat Semenov unternommen. Vielmehr geht es hier darum, einen besonderen Aspekt der „ökonomischen Anthropologie" zu behandeln, der gleichwohl von grundsätzlicher Bedeutung für die Bestimmung des ideologischen und theoretischen Standorts dieser Richtung ist. Es geht um die Bewertung der Aussagen prominenter Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" zum Marxismus-Leninismus, vor allem zu Werken von 1

Ju. I. Semenov, „Teoreticeskie problemy .èkonomiceskoj antropologii' ", in: Étnologiceskie issledovanija za rubezom. Moskau 1973, S. 3 0 - 7 6 ; derselbe, „M. Sahlins, Stone Age économies", Rezension in: Sovetskaja Etnografija, 4, 1974, S. 168-172. Auch in einer seiner jüngsten Arbeiten berührte Semenov bei der Behandlung sozialökonomischer Verhältnisse in sogenannten „peasant societies" Arbeiten der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" (Ju. I. Semenov, „Pervobytnaja kommuna i sosedskaja krest'janskaja obscina", in: Stanovlenie klassov i gosudarstva. Moskau 1976, S. 8 ff.). Desgleichen ging Semenov auf die „ökonomische Anthropologie" in seinem Aufsatz „O spezifike proizvodstvennych (sozial'no-ékonomicéskich) otnosenij pervobytnogo obscestva" (in: Sovetskaja Ëtnografija, 4, 1976, S. 93 ff.) ein.

2

Einen gewissen Überblick über die Literatur zur „ökonomischen Anthropologie" bis zum Jahr 1972 bietet die annotierte Bibliographie von Harrie van der Pas „Economic Anthropology 1940 to 1972", Oosterhout 1973. Die 1975 in „Current Anthropology" (Bd. 16, Nr. 3, Sept. 1975, S. 427-437) veröffentlichten Stellungnahmen zur „ökonomischen Anthropologie" brachten kaum neue Erkenntnisse. Erwähnenswert ist der dort gegebene Hinweis auf eine Gruppe von Autoren (White, Steward, Lee, Gulliver, Geertz, Suttles, Vayda, Dyson-Hudson), die in der Regel nicht zum Kreis der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" gerechnet wurden, wobei keine einmütige Auffassung darüber besteht, ob man diese Autoren als Repräsentanten einer relativ einheitlichen Eorschungsrichtung (cultural ecölogy) ansehen kann (S. 432). Verhältnismäßig breiten Raum nahm, in den Bemerkungen van der Pas' und Schneiders (S. 429 f., 432-439) Godeliers Arbeit „Un domaine contesté: L'anthropologie économique", Paris 1974, ein.

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Kultur u. Ethnos

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K. Marx. Diese subjektiven Aussagen werfen ein Licht auch auf das objektive Verhältnis zwischen Marxismus-Leninismus und der „ökonomischen Anthropologie" als Bestandteil der bürgerlichen Ideologie, ohne natürlich dieses objektive Verhältnis umfassend und dem Wesen nach richtig widerspiegeln zu können. Semenov hat bereits auf die Tatsache hingewiesen, daß sich die Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" im Verlauf ihrer Diskussion über Aufgaben, theoretische Konzepte und Methoden immer häufiger auf das Werk von Marx bezogen haben.3 Die von Semenov in diesem Zusammenhang angeführten Autoren - er nennt S. Sahlins, M. D. Frankenberg und R. Cook - verdeutlichen mit einzelnen Feststellungen und vor allem mit ihrem gesamten Werk, daß ihre Bezugnahme auf Marx keinesfalls von einer einheitlichen Position aus erfolgt ist und erfolgt. Eine differenzierende Einschätzung soll deshalb Inhalt dieses Beitrags sein. Zugleich dürfen bestimmte Gemeinsamkeiten in der Haltung der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" zum Marxismus nicht übersehen werden; die einheitliche Betrachtung des Allgemeinen und des Besonderen ist auch hier unerläßlich. Unverkennbar hat sich die bürgerliche Kultur- und Sozialanthropologie oder Ethnologie relativ spät und sporadisch in die Bezugnahme auf Marx, F. Engels oder W. I. Lenin eingereiht; über längere Zeit hin richteten sich die Attacken der Anthropologen und Ethnologen fast ausschließlich gegen die Auffassungen L. H. Morgans oder später L. Whites, ohne die Werke von Marx und Engels zur universalhistorischen Entwicklung der Menschheit überhaupt zu erwähnen. Typisch dafür ist etwa die vielzitierte Arbeit J. Stewards zur Konzeption der „multilinearen Evolution" („Theory of Culture Change", 1955), in der die Namen von Marx und Engels nicht erscheinen. Auch G. P. Murdock hat in seinem Standardwerk der bürgerlichen Sozialanthropologie „Social Structure" (1949) Engels „ausgespart". Marx erwähnt er ein einziges Mal als einen Theoretiker neben anderen, umfunktioniert zu einem Wegbereiter des Konzepts vom „Kulturwandel": „This assumption (die Formen"der sozialen Organisation werden vor allem von ökonomischen Faktoren geschaffen, D. T.) is derived from the analysis by Lowie of the origin of sibs, from our own supportive evidence as presented in Chapter 8, and from the various theorists from Marx to Keller who have stressed the importance of economic factors in cultural change."4 Fast gleichzeitig erschienen zwei Werke bürgerlicher Anthropologen, die nach Vorarbeiten auf diesem "Gebiet (besonders von B. Malinowski und R. Thurnwald) von grundlegender Bedeutung für die allmähliche Herausbildung der Forschungsrichtung der „ökonomischen Anthropologie" werden sollten: R. Firths „Primitive Polynesian Economy" (1939) und M. Herskovits' „The economic Life of primitive people" (1940), das in umgearbeiteter und erweiterter Form 1952 unter dem programmatischen Titel „Economic anthropology" veröffentlicht wurde. Die Arbeit von Herskovits verdient im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung dieses Beitrags besondere Beachtung. Das relativ ausführliche Eingehen auf das Werk von Marx war zu dieser Zeit in der anthropologischen Literatur - wie gesagt - noch die 3 4

Semenov, Teoreticeskie problemy, a. a. O., S. 75 f. G. P. Murdock, Social Structure, New York/London 1966, S. 137.

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Ausnahme. Herskovits stellte sich nicht das Ziel, in diesem Werk den Marxismus direkt zu attackieren. Wie aber Herskovits aus dem Zusammenhang gelöste Aussagen von Marx kommentierte, läßt erkennen, wie wenig er den Marxismus zu erfassen vermochte, wie widerspruchsvoll seine Bemerkungen zum Werk von Marx waren. Semenov rechnet Herskovits (neben Firth und Goodfellow) zu den Anthropologen, die das marginalistische Konzept bürgerlicher Ökonomen auf die Erforschung der Völker der Vorklassengesellschaft angewendet haben.5 Die folgende Feststellung von Herskovits bestätigt diese Aussage: „The distinctions to be drawn between literate and nonliterate economies are consequently those of degree rather than of kind." 6 Es ist in Rechnung zu stellen, daß diese Auffassung nicht zuletzt eine Reaktion auf Versuche führender bürgerlicher Ökonomen war, den „Primitiven" die Fähigkeit zum „Wirtschaften" (zumindest zum „rationalen" Wirtschaften) überhaupt abzusprechen. 1890 schrieb A. Marshall - und noch 1936 wurden diese Feststellungen in der 8. Auflage seines Standardwerkes „Principles of Economics" abgedruckt - : „Scanty and untrustworthy as is our information about the habits of savage tribes, we know enough of them to be sure that they show a strange uniformity of general character, amid great variety of detail. Whatever be their climate and whatever their ancestry, we find savages living under the dominion of custom and impulse; scarcely ever striking out new lines for themselves; never forecasting the distant future, and seldom making provision even for the near future; fitful in spite of their servitude to custom, governed by the fancy of the moment; ready at times for the most arduous exertions, but incapaple of keeping themselves long to steady work." 7 Ausgehend vom Vorsatz, eine vergleichende Erforschung der Ökonomie unter Einbeziehung aller, auch der „primitiven" Gesellschaften, voranzubringen, akzeptierte Herskovits die Grundaussage des Marginalismus über das allgemeine Prinzip des „Wirtschafteris": „The principle of maximizing satisfactions by the conscious exercise of choice between scarce means is valid because we find that this does occur in all societies."8 Herskovits betonte jedoch, daß die Verwirklichung dieses Prinzips stets in konkreten Formen, entsprechend den unterschiedlichen kulturellen „value systems" der betreffenden Gesellschaften vor sich gehe: „This relativistic approach to the comparative study of exonomic behaviour and institutions provides the epistemological foundation essential if the differences between different ways of life are not to be analyzed and assessed in terms of principles that derive from a single culture - in this case, our own." 9 Diese Aussagen lassen deutlich erkennen, daß die Übernahme des marginalistischen Konzepts durch Herskovits keinen Bruch mit den Traditionen der bürgerlichen Kulturanthropologie mit sich brachte. Historische Unterschiede im ökonomischen Bereich wurden mit der Wirksamkeit unterschiedlicher kultureller Traditionen erklärt, wobei die Entstehung dieser kulturellen Traditionen, ihr Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung 5

Semenov, Teoreticeskie problemy, a. a. O., S. 4 5 .

6

M. Herskovits, Economic Anthropology, New York 1965, S. 4 8 8 .

' Zitiert nach G . Leclerc, Anthropologie und Kolonialismus, München 1975. 8

Herskovits, S. 24.

,J

Ebenda, S. 23.

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außerhalb der theoretischen Erörterung blieben. Dieser Mangel mußte zu einem erkenntnistheoretischen Widerspruch führen: Einerseits sind nach Herskovits - entsprechend der Grundaussage des Marginalismus - die gleichen grundlegenden Einrichtungen des ökonomischen Lebens in allen Gesellschaften anzutreffen („Yet practically every economic mechanism and institution known to us is found somewhere in the nonliterate world."), andererseits leugnete er die Möglichkeit, die Erscheinungen einer „ K u l t u r " (einschließlich der ökonomischen Phänomene) ausgehend von den analytischen Begriffen untersuchen zu können, die beim Studium einer anderen „ K u l t u r " angewendet wurden. Diese theoretischen und methodischen Positionen spiegeln sich in den Stellungnahmen von Herskovits zum Werk von Marx in vollem U m f a n g wieder. Zunächst mußte sich Marx den Vorwurf gefallen lassen, daß er sich - wie auch A. Smith, Marshall oder Bücher - fast ausschließlich auf das Studium „unserer K u l t u r " beschränkt habe, daß seine Bemerkungen zur Ökonomie „primitiver" Völker zufälliger Natur und „certainly no more acceptable" seien. 10 Zugleich wird Marx dafür kritisiert, daß er (ebenso wie Marshall und T . Vehlen) in hohem Maße von einer evolutionistischen Position ausgegangen sei. Herskovits bemerkt d a z u : „ A s a matter of fact, this approach is to be regarded as the most important single factor standing in the way of an adequate use of data from nonliterate societies by economists as a means of broadening concepts and checking generalizations." 1 1 D i e von Herskovits behauptete weitgehende Beschränkung der Arbeiten von Marx auf die Untersuchung „unserer K u l t u r " ist nach seiner Meinung auch der Grund dafür, daß Marx mit dem Konzept des „ökonomischen Determinismus" in Verbindung gebracht wurde und wird. Herskovits fand folgende Erklärung für den angeblichen „ökonomischen Determinismus" im Werk von M a r x : „It is not hard to see from this how the reaction of a sensitive conscious man to the working conditions and standards of living of the wage-earners during the early days of the industrial revolution took the form of an explanation assigning a preponderant and even an exclusive role to the economic factors in the historic process." 1 2 D i e Definition, die Marx in der „Kritik der politischen Ökonomie" zum Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und von ökonomischer Basis und gesellschaftlichem Überbau gegeben hat, versuchte Herskovits in ihrer grundsätzlichen Bedeutung zu relativieren. Marx' „eigene K u l t u r " („wherein economic factors are actually of primary importance" 1 3 ) war für Herskovits der historische Einzelfall. E r stellte allen „students of society" seiner Zeit die A u f g a b e , „to assess the relative weight, in various cultures, at various times, of the several aspects of culture, as their most effective lead in the analysis of the plural factors in social causation." 1 4 D i e s e Aussage verdeutlicht in besonders prägnanter Form, d a ß die „ K u l t u r " (und die „Kulturen") als das wichtigste, als das eigentliche Objekt der Forschung angesehen und den einzelnen „Aspekten der 10 11 12 13 14

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S. S.

495. 56. 494. 495. 496.

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Kultur" von Herskovits je nach historischer Situation ein unterschiedliches Gewicht eingeräumt wurde. Angesichts dessen ist es zunächst einigermaßen erstaunlich, daß Herskovits im gleichen Zusammenhang ein Bekenntnis zum historischen Materialismus ablegte. 15 Im erwähnten Abschnitt aus der „Kritik der politischen Ökonomie" fand er sowohl den „Beweis" für Marx' ökonomischen Determinismus („The method of production in material life determines the general character of the social, political and spiritual processes of life"), aber zugleich auch „an equally succinct statement of historical materialism": „It is not the consciousness of men that determines their being, but on the contrary, their social being determines their consciousness." Es kann keine schlüssige Antwort auf die Frage gegeben werden, was Herskovits bewogen hat, Marx auf diese Weise zu interpretieren. Vielleicht war dieses Vorgehen als eine besondere Form des Angriffs gegen den „ökonomischen Determinismus" gedacht, vielleicht wollte Herskovits indirekt auf vermeintliche Widersprüche in den Grundpositionen des Marxismus hinweisen. Auf jeden Fall ging es Herskovits darum, das, was er als „historischen Materialismus" definierte, als Allgemeingut der bürgerlichen sozialwissenschaftlichen Erkenntnis hinzustellen. Nach seiner Auffassung konstatiert die Aussage von Marx, daß nicht das Bewußtsein das Sein, sondern das Sein das Bewußtsein des Menschen bestimmt, nicht mehr als das, „what is today the most generally accepted position of social scientists that no force extraneous to man's biopsychio reaction to his total situation can be called on to account for the outer manifestations and inner sanctions which give to every culture the organized and stable forms that permit it to function continously over succeeding generations." 16 Diese „Entschärfung" des historischen Materialismus wird aber vor allem offensichtlich, wenn man daran erinnert, welche Sätze Herskovits seinen Lesern vorenthalten hat, die sich an sein Marx-Zitat aus der „Kritik der politischen Ökonomie" unmittelbar anschließen: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um." 17 Es ist zu bezweifeln, daß Herskovits bei vollständiger Anführung des inhaltlich eine untrennbare Einheit bildenden Abschnitts aus dem „Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie" auch die Feststellung hätte treffen können: „Whit the hypothesis of historical materialism, therefore, no social scientist can quarrel." 18 In diesen Aussagen eines Wegbereiters der „ökonomischen Anthropologie" erschienen bereits wesentliche Züge, die die Auffassungen nachfolgender Vertreter dieser Richtung 15 16 17

18

Ebenda, S. 495. Ebenda, S. 496. K. Marx, „Vorwort zur .Kritik der Politischen Ökonomie'", in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1964, S. 8 f. Herskovits, S. 496.

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gleichfalls in hohem Maße prägten: Der generelle Bezug auf einen diffusen „Kultur "Begriff, das Unvermögen zur Bestimmung des Platzes des „Ökonomischen" (wie des „Sozialen" oder „Religiösen") innerhalb der „Kultur" wie auch zur Bestimmung des Verhältnisses von lokalhistorischen Erscheinungen (der Existenz der „einen" Kultur) und universalhistorischer Entwicklung (der „Kulturentwicklung" im allgemeinen). Ein wesentlicher Ausgangspunkt, von dem aus Herskovits und andere Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" die „Auseinandersetzung" mit dem Marxismus-Leninismus führten und führen, war und ist das „methodische" Prinzip, Marx summarisch mit bürgerlichen Ökonomen und Soziologen in ideologiegeschichtlich und theoriegeschichtlich falschen) Zusammenhang zu bringen und damit die grundsätzlich andersartigen Erkenntnisse des Begründers der wissenschaftlichen Weltanschauung des Proletariats bürgerlichen Positionen „anzunähern" und zu „entschärfen", sie ihrer revolutionären Aussage zu berauben. Untrennbar damit verbunden war und ist das hochgradig eklektizistische Herangehen an den Marxismus-Leninismus, von der Zerstückelung einer Passage aus einem Werk von Marx bis zur Ignorierung des Gesamtwerkes von Engels oder Lenin reichend. Für Herskovits beschränkte sich Marx wie Smith, Marshall oder Bücher auf das Studium lediglich der „eigenen Kultur", ging er angeblich wie Marshall oder Veblen von einer evolutionistischen Position aus. C. S. Beishaw fand Übereinstimmung zwischen Marx, Smith, Marshall und Veblen in dem Punkt, daß sich ihr Interesse auf „interplay and mutual influence between society and economy" richtete.19 Sicher war und ist selbst eine sehr allgemeine Beachtung eines solchen Zusammenhanges für bürgerliche Ökonomen keine Selbstverständlichkeit, das wollte Beishaw unter anderem auch zum Ausdruck bringen. Zum anderen bleibt aber in seiner Aneinanderreihung der entscheidende, qualitativ neue Beitrag, den Marx zur wissenschaftlichen Erklärung des Verhältnisses von ökonomischen und sozialen Erscheinungen leistete, außer Betracht. Zugleich wurde sowohl die historische Herausbildung des Marxismus als vor allem auch seine weitere Entwicklung nach dem Tode von Marx in falsche ideologische und wissenschaftsgeschichtliche Beziehungen gesetzt. Auch bürgerlichen Sozialwissenschaftlern ist die grundsätzliche Kritik, die Marx an den Auffassungen von Smith geübt hat, durchaus bewußt 2 0 Auch nach G. Daltons wie Frankenbergs Meinung stehen sich die Auffassungen von Marx und Marshall diametral gegenüber. 21 Allein unter dem Gesichtspunkt, daß sie wirtschaftliche und soziale Sachverhalte in einem Zusammenhang gesehen haben - ohne die Frage auch nur zu berühren, in welchem Zusammenhang - war es Frankenberg seinerseits aber auch möglich, „a line of theoretical argument" von Marx über M. Weber bis T. Parsons und Smelser zu „erkennen". 22 Eine ähnliche - gleichfalls mehr „soziologisch" akzentuierte - Einordnung von Marx traf G. Dalton, indem er ihn neben Maine, Tönnies, Weber w

20 21

n

C. S. Beishaw, Traditional Exchange and Modern Markets. Englewood Cliffs, N e w York 1965, S. 2. Ein Gegenstand der speziellen Behandlung könnte der auffällige Sachverhalt sein, daß in diesem Zusammenhang - nicht nur von Beishaw - das Werk Ricardos „vergessen" wurde. M. Sahlins, Stone Age economics, 1974, S. XI. R. Frankenberg, „Economic Anthropology: One Anthropologist's View", in: Themes in Economic Anthropology, hsg. von R. Firth, London/New York/Sydney/Toronto/Wellingtön 1967, S. 48. Ebenda, S. 49.

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und Bloch nannte.23 Die Auffassungen Parsons' und speziell auch die Webers sind von marxistischer Seite wiederholt prinzipieller Kritik unterzogen worden,24 wobei sich G. Ripp speziell mit Versuchen einer Gleichsetzung der Erkenntnisse von Marx mit bestimmten Auffassungen von Weber auseinandergesetzt hat.25 Man kann demnach weder Frankenberg noch Dalton in ihren theoriegeschichtlichen Ansichten folgen. Überdies mußte Frankenberg einräumen, daß zwar Parsons selber auf seine Beziehungen zum Werk Malinowskis verwiesen hat und entsprechend Firth auf seine Beziehungen zu den Auffassungen Webers,26 daß aber die Arbeiten von Marx, der Ausgangspunkt seiner „line of theoretical argument", neben denen von Engels durch die bürgerlichen Sozialwissenschaftler eine „spezielle" Behandlung erfuhren: „Just as in economics, however, Marx and Engels's writings on economic anthropology were shunted off the mainline and only allowed to return when no longer considered to travel at a dangerous speed."27 Vielleicht sah Frankenberg in diesem Umstand den Grund dafür, daß nach seiner Ansicht einige Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" zu „Marxisten wider Willen" wurden. In bezug auf Firth, C. S. Beishaw, Salisbury oder T. S. Epstein schrieb er: „They all are Marxists malgré lui; it only remains for them to embrace their role and produce (perhaps with Dalton and Polanyi's aid) a meaningful synthesis."28 Wie noch gezeigt werden wird, war von der Sache her überhaupt nicht in Erwägung zu ziehen, daß Firth oder Epstein in der Lage oder willens gewesen wären, ihre Stellung als Marxisten zu erkennen und (mit Hilfe der Substantivisten Dalton und K. Polanyi) eine „Synthese" zu schaffen; für diese Vorstellung Frankenbergs gab es weder objektive noch subjektive Anhaltspunkte. So wenig stichhaltig also die summarische Zusammenstellung von Marx mit bürger23

G. Dalton, „Theoretical Issues in Economic Anthropology", in: Current Anthropology, Bd. 10, Nr. 1, 1969, S. 96. Parsons selber hat die „Dividierung" von Marx in einen „Wirtschaftstheoretiker" und in einen „Soziologen" vertreten wie - auch darin Schumpeter folgend - die Unterscheidung des „Sozialwissenschaftlers" Marx vom Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Vgl. T. Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie, hsg. von D. Rüschemeyer, Neuwied/ Berlin (West) 1964, S. 206. Zur Kritik der Auffassungen Parsons' sind vor allem die Arbeiten Erich Hahns, B. P. Lowes und C. Warnkes zu nennen: Erich Hahn, „Die Übersozialisierung des Menschen", in: Soziale Wirklichkeit und soziologische Erkenntnis, Berlin 1965; B. P. Löwe, Klassenkampf oder sozialer Konflikt? Zu den Gleichgewichts- und Konflikttheorien der bürgerlichen Soziologie, Berlin 1973; C. Warnke, Die „abstrakte" Gesellschaft. Systemwissenschaften als Heilsbotschaft in den Gesellschaftsmodellen Parsons', Dahrendorfs und Luhmanns, Berlin 1974. Eine kritische Wertung Webers findet sich bei I. S. Kon, Der Positivismus in der Soziologie, Berlin 1968, S. 131-161, und bei K. Braunreuther, „Ökonomie und Gesellschaft in der deutschen bürgerlichen Soziologie", in: Sonderheft der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin, Teil II, Berlin 1964, S. 75-106.

23

28 27 28

G. Ripp, Politische Ökonomie und Ideologie. Kritische Betrachtungen zur ökonomischen Ideologie des gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 1974, S. 29 ff. Frankenberg, a. a. O., S. 49. Ebenda. R. Frankenberg, „Comment on Dalton, G., Theoretical Issues in Economic Anthropology", in: Current Anthropology, Bd. 10, Nr. 1, 1969, S. 83.

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liehen Sozialwissenschaftlern, die Konstruierung von theoriegeschichtlichen Beziehungen zwischen ihnen, die Entdeckung von „Marxisten wider Willen" oder der Ruf nach „Synthese" auch sind, so wichtig war und ist ein solches Vorgehen als eine Form der Wegbereitung für eine umfassendere ideologische Zielstellung. C. Mills - „kritischer" Soziologe und ein Wegbereiter der „Neuen Linken" - hat diese Zielstellung prägnant formuliert: „Heute besteht aber keine .marxistische Sozialwissenschaft', die über irgendeine intellektuelle Wichtigkeit verfügte. Was vorhanden ist, ist nur - eine Sozialwissenschaft. Ohne das Werk von Marx und der anderen Marxisten wäre auch diese nicht, was sie ist; durch ihre Arbeit allein aber wäre sie fast nicht so gut, wie sie tatsächlich ist. Niemand kann ein entsprechender Sozialwissenschaftler sein, der die Ideen des Marxismus nicht bewältigen kann, aber niemand kann zu einem solchen werden, der glaubt, daß der Marxismus das letzte Wort ausspricht. Kann hier überhaupt ein Zweifel bestehen - nach Max Weber, Thorstein Veblen, Karl Mannheim - , um nur diese drei zu erwähnen? Wir verfügen heute über bessere Methoden als Marx, um die Menschen, die Gesellschaft und die Geschichte zu studieren und zu verstehen, aber das Werk der erwähnten drei Gelehrten wäre unvorstellbar ohne das seine."29 Ripp erinnert daran, daß Lenin bereits 1897 in der II. Internationale gegen die opportunistische Tendenz auftrat, den Marxismus mit bürgerlichen Auffassungen zu vermengen, dem Marxismus einen „pluralisierenden" Charakter zu geben, ihn zu relativieren. 30 In der Gegenwart ist diese Tendenz, wie E. Fromm und K. Sokolowski gezeigt haben, in der Form des „weltanschaulichen Pluralismus" weiterhin ein wesentlicher Bestandteil bürgerlicher Ideologie. 31 Die entsprechenden Versuche der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" besitzen demnach keinerlei Originalität. Dem „weltanschaulichen Pluralismus" entspricht in der bürgerlichen Philosophie und in den einzelnen Sozialwissenschaften ein ausgeprägter Eklektizismus im Herangehen an die Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus. In den Arbeiten auch der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" finden sich kaum Bezüge auf Engels und Lenin, schon gar nicht auf Arbeiten von Gesellschaftswissenschaftlern aus der Sowjetunion und aus den anderen sozialistischen Staaten. Aus dem Gesamtwerk von Marx werden in der Regel nur wenige Arbeiten herangezogen; nicht selten werden Aussagen aus dem Zusammenhang gelöst, so daß ihr Inhalt entstellt wird. Frankenberg führt eine solche Art der Zitierung an, wie sie von Firth vorgenommen wurde; 32 dabei geht es nicht um eine periphere Frage, sondern um ein zentrales Element der Diskussion zwischen den Fraktionen innerhalb der „ökonomischen Anthropologie", um das Verhältnis von ökonomischen zu sozialen Erscheinungen. Auch das - obenerwähnte - Inbeziehungsetzen von Marx und bürgerlichen Sozialwissenschaftlern bedient sich eindeutig der eklektizistischen Methode. Wenn Frankenberg die Feststellung trai, daß etwa Salisbury (wenn auch gegen seinen Willen) Marxist sei, 29 30 31

32

Zitiert nach Ripp, S. 16 f. Ebenda, S. 31. E. Fromm/K. Sokolowski, „Zum Platz des Pluralismus in der gegenwärtigen Ideologie", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 8, 1975, S. 1036-1039. Frankenberg, Economic Anthropology, a. a. O., S. 53 f.

bürgerlichen

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bezog er sich lediglich auf die Arbeitszeitberechnungen dieses Autors. 33 Wiewenig solche Berechnungen für sich genommen, ohne Relation zur Gesamtheit der sozialökonomischen Verhältnisse, auszusagen vermögen, wurde von Dalton in der Polemik mit Salisbury und der von ihm vertretenen Richtung innerhalb der „ökonomischen Anthropologie" wie folgt dargestellt: „Salisbury's book on a primitive economy in N è w Guinea before and after the introduction of purchased steel axes is cited by Firth (1965) and Cook (1966) as proof of the ability to ,apply' conventional économies to a primitive economy because Salisbury does some rather elementary calculations such as the number of man-days of labor required to produce a variety of items (1962: 147). Such calculations can be done for any economy - Robinson Crusoe's, a medieval monastery, an Israeli kibbutz, or Communist China." 34 Besonders deutlich wurde und wird die politische und ideologische Stoßrichtung des Eklektizismus beim Umgang mit den Werken der Klassiker des Marxismus-Leninismus in der immer wieder versuchten Gegenüberstellung der Arbeiten von Marx und der Arbeiten von Engels. L. Krader hat eine Reihe von Philosophen und Sozialwissenschaftlern zusammengestellt, die sich auf diesem Gebiet hervorgetan haben (Masaryk, Schumpeter, Korsch, Lukacs, Habermas, Fleischer u. a.), und er glaubte, diese Reihe durch seine eigenen Ansichten ergänzen zu müssen. 35 Auch Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" haben dieser Versuchung nicht widerstehen können. Selbst als Cook dazu überging, einen Ausweg aus dem Dilemma der „ökonomischen Anthropologie", aus dem offensichtlich fruchtlosen Streit der Fraktionen innerhalb dieser Richtung zu suchen und ihm eine Orientierung auf Marx wichtig erschien, wollte er nicht auf diese Gegenüberstellung Marx-Engels verzichten. 36 Nach alledem kann nur die Feststellung getroffen werden, d a ß die „ökonomische Anthropologie" mit einer Ignorierung der Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus wie in neuerer Zeit vor allem mit der philosophischen und politischen „Relativierung" und eklektizistisehen Entstellung dieser Werke allgemeine Tendenzen der Entwicklung der bürgerlichen Ideologie in vollem Umfang widerspiegelt. Entsprechend diesem hochgradigen Eklektizismus ist es außerordentlich schwierig, eine grundsätzliche - über die Meinung zu einzelnen Aussagen der Klassiker hinausgehende Einstellung bestimmter Gruppen oder auch nur einzelner Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" zum Marxismus-Leninismus zu erkennen. Es ist bekannt, daß die bürgerlichen Anthropologen nicht müde geworden sind, die Gesetzmäßigkeit der universalhistorischen Entwicklung zu attackieren und auf ihrem Gebiet damit direkt oder indirekt Argumente gegen die gesetzmäßige Ablösung der sozialökonomischen Formation des Kapitalismus durch die Formation des Kommunismus in die Welt zu setzen. Dabei bedienten und bedienen sich bürgerliche Anthropologen in der Regel der Behauptung, d a ß der Marxismus-Leninismus nur ein starres, eingleisiges historisches Entwicklungsschema und lediglich die mechanische Wirksamkeit eines alles 33 34 35 36

Frankenberg, Comment, a. a. O., S. 83. Dalton, a. a. O., S. 68. L. Krader, Ethnologie und Anthropologie bei Marx, München 1973, S. 124 ff. Semenov, Teoreticeskie problemy, a. a. O., S. 76.

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andere beherrschenden Faktors (Wirtschaft, Ökonomie, Produktion) anzubieten habe. Diese Angriffe wurden und werden entsprechend den unterschiedlichen Richtungen innerhalb der bürgerlichen Anthropologie unterschiedlich formuliert,37 Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" unterbreiteten und unterbreiten vor allem die Charakterisierung des Marxismus-Leninismus als „ökonomischen Determinismus". Der von bürgerlicher Seite gegenüber dem Marxismus-Leninismus vorgetragene Vorwurf eines wie auch immer spezifizierten „Determinismus" richtete sich stets gegen den materialistischen Monismus der marxistisch-leninistischen Philosophie. In der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart haben sich diese Attacken unter dem Vorzeichen diverser Spielarten des „weltanschaulichen Pluralismus" eher verstärkt als abgeschwächt.38 Ausdruck der tiefen Krise der bürgerlichen Ideologie ist, daß sie selber zur gleichen Zeit verschiedenartige Varianten des Determinismus hervorbringt, neben dem geographischen Determinismus gegenwärtig vor allem den technologischen Determinismus oder den empirischen bzw. szientistischen Determinismus.39 Die Kennzeichnung des MarxismusLeninismus als „ökonomischen Determinismus" wie die Ausbildung dieser Determinismus-Konzeptionen haben die gleiche Grundlage: Nach K. Tessmann sind die Vertreter dieser Konzeptionen außerstande, die Ursache der Entwicklung der Produktivkräfte in den Gesetzmäßigkeiten des Produktions- und Reproduktionsprozesses einer Produktionsweise zu erkennen, vielmehr sehen sie sie in „inneren" Momenten der Produktivkräfte bzw. in bestimmten einzelnen Faktoren der Produktion.40 Und aus ebendiesem Grunde sind die bürgerlichen Philosophen oder Ökonomen nicht in der Lage zu begreifen, was der Marxismus-Leninismus unter Determinierung der gesellschaftlichen Entwicklung versteht: „Determiniert wird die geschichtliche Entwicklung durch die materiellen Gesetzmäßigkeiten des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Produktionsweise in ihrer Einheit. Diese Einheit erscheint insbesondere im Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen - als den beiden dialektischen Polen einer gesellschaftlichen Ganzheit der Produktionsweise. Ihre kontinuierliche Entwicklung wird vor allem durch die Produktivkräfte zum Ausdruck gebracht. Die Eigentumsverhältnisse hingegen bestimmen den gesellschaftlichen Inhalt aller Aneignungsverhältnisse der Produktionsweise und ihren sozialökonomischen Ausdruck. Hiernach kommen allen Momenten der Produktionsweise ganz bestimmte, auf besondere Weise determinierende Funktionen zu. Sie sind nur in ihrer Einheit wesentliche Momente einer ökonomischen Gesellschaftsformation. Produktivkräfte hören auf, Produktivkräfte zu sein, sobald sie nicht zugleich bestimmte ökonomische Verhältnisse realisieren und in der Klassengesellschaft auch Klassenfunktion erfüllen."41 37

38 39

40 41

In besonders konzentrierter Form äußerten sich diese Attacken im Rahmen der Entwicklung des multilinearen Evolutionismus. Vgl. Ju. P. Averkieva, „Neo-Evolutionism, Relativism and Racialism", in: Races and Peoples. Contemporary Ethnie and Racial Problems, Moskau 1974. Fromm/Sokolowski, a. a. 0„, S. 1038. K. Tessmann, „Zur Kritik des technologischen Determinismus", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 9, 1974, S. 1092 ff. Ebenda. Ebenda, S. 1092.

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In dieser Weise vertritt der Marxismus-Leninismus eindeutig die Positionen eines Determinismus, eines sozialen Determinismus, wie G. J. Gleserman schreibt.42 Dadurch erst wird wissenschaftliche Erklärung der Wirklichkeit und wissenschaftliche Voraussicht möglich, können die Menschen die Zukunft schaffen - allerdings unter Bedingungen, die nicht von ihren Wünschen abhängen. Das ist genau das Gegenteil von der Position Poppers, der erklärte: „Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig." 43 Keinesfalls ist der gesellschaftliche Determinismus des Marxismus-Leninismus aber „ökonomischer Determinismus" im Verständnis auch der „ökonomischen Anthropologen". Der gesellschaftliche oder soziale Determinismus bezieht sich immer auf die Produktionsweise und somit auf eine ökonomische Gesellschaftsformation, umfaßt die sozialökonomischen Erscheinungen und Prozesse in ihrer Widersprüchlichkeit und Einheit. Gerade die Erkenntnis dieses Verhältnisses ökonomischer und sozialer Phänomene ist aber der Punkt, zu dem bürgerliche Ökonomen nicht vorgedrungen sind, teils dieses Verhältnis überhaupt ignorierend oder aber über mechanistische Versuche einer Inbeziehungsetzung nicht hinausgelangend. Es ist hervorzuheben, daß bestimmte Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" diesen Sachverhalt - zumindest in einigen seiner Erscheinungsformen - wahrgenommen haben. Frankenberg schrieb: „If I am correct, classical economics saw.the economic process as embedded in the social. The writing of Marx are the culmination point in relating the two together. After Marx, Marshall and his successors moved away as Dalton suggests, consigning the social concomitants - Marx's question, cui bono? - to the limbo of sociologists and Marxism." 44 Wenn Frankenberg auch keine überzeugende Formulierung hinsichtlich der Charakterisierung des Standpunkts der klassischen bürgerlichen Ökonomie gefunden hat ( „ . . . saw the economic process embedded in the social."), so hat er darin recht, daß Marx ökonomische und soziale Prozesse als Einheit untersucht hat. Er bestätigt auch - hierin Dalton folgend - die bereits von Marx getroffene Aussage, daß die bürgerliche Ökonomie im 19. Jahrhundert wesentliche Positionen der Erkenntnis sozialökonomischer Erscheinungen und Prozesse wieder aufgab und zur „Vulgärökonomie" degenerierte, vom spontanen Materialismus auf Positionen des subjektiven Idealismus überging, wie W. S. Wygodski feststellt. 45 Bemerkenswert ist die im gleichen Zusammenhang geäußerte Meinung Frankenbergs, daß die spätere erneute Berücksichtigung sozialer Erscheinungen in den Ansichten bürgerlicher Ökonomen von der gesellschaftlichen Praxis diktiert wurde. 48 Eine ähnliche Ansicht formulierte Beishaw, ein anderer führender Vertreter der „ökonomischen Anthropologie", indem er gewisse Modifikationen in den Konzeptionen und theoretischen Konstruktionen bürgerlicher Ökonomen und anderer Sozialwissenschaftler zu Veränderungen in strategischen Zielstellungen des Neokolonialismus (ohne auf diesen Sach® G. J. Gleserman, „Probleme des sozialen Determinismus", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1, 1975, S. 64 ff. 53 Zitiert nach Gleserman, a. a. O., S. 65. 44 Frankenberg, Economic Anthropology, a. a. O., S. 48. 45 W. S. Wygodski, Wie „Das Kapital" entstand, Berlin 1976, S. 74 ff. 46 Frankenberg, Economic Anthropology, a. a. O., S. 48 f.

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D. T R E I D E

verhalt einzugehen und diesen Begriff zu verwenden) in Beziehung setzte: „The rapid growth of new nations has led to the examination of the growth of income and wealth in a context of widely variable cultures and social structures. At first there was concern about the social consequences of economic growth, seen in such terms as family change, urbanization, and political development. Then attention was given to the social concomitants of economic growth, on the assumption that there was an interplay and mutual influence between society and economy. This, of course, was not a new idea, since it had formed the basis of much of the writing of Adam Smith, Alfred Marshall, Marx and Veblen, and those anthropologists who interested themselves in economics. But the growth of formal economic theory had tended to exclude examinations of the social variables until cross-cultural comparisons reinforced their relevance. And in the last few years another step has been taken. We now hear of the social prerequisites to economic growth. The Marxian idea that something economic determines forms of society has been modified by the notion that certain social and cultural forms may be necessary before economic growth can take place." 47 Es ist offensichtlich, daß die Aussage Beishaws nicht mit der Einschätzung Frankenbergs hinsichtlich der Stellung Marshalls übereinstimmt. Es ist auch nicht zu übersehen, daß Beishaw wie andere Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" den Marxismus in die Nähe des „ökonomischen Determinismus" rückt. Auch hat die Annahme einiger bürgerlicher „Entwicklungsplaner" (vor allem Vertreter einer „sozialen Strategie"), daß bestimmte soziale und kulturelle Sachverhalte gegeben sein müssen (oder zu schaffen sind), bevor „ökonomisches Wachstum" vonstatten gehen kann, absolut nichts mit einer „Modifizierung" der Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus zu tun. Doch verdeutlichen die Ausführungen Beishaws - wie auch die Auffassungen Frankenbergs oder Daltons daß die „ökonomischen Anthropologen" der Frage nach dem Verhältnis von ökonomischen und sozialen Erscheinungen nicht für alle Zeiten ausweichen konnten. Nicht zuletzt die unterschiedliche Haltung zu dieser Frage kennzeichnet die Positionen der verschiedenen Fraktionen innerhalb der „ökonomischen Anthropologie". Die allgemeine Charakterisierung der wichtigsten Fraktionen innerhalb der „ökonomischen Anthropologie" muß angesichts der speziellen Thematik dieses Beitrags kurz gehalten werden. Die Auffassung vom Bestehen zweier hauptsächlicher Gruppierungen, der „Formalisten" und der „Substantivisten", hat sich in der Diskussion zwischen diesen Fraktionen selber herausgebildet. Auch Semenov nahm diese beiden Gruppierungen als Ausgangspunkt seiner kritischen Einschätzung. E r weist aber - völlig zu Recht - darauf hin, daß weder die „Formalisten" noch die „Substantivisten" Lösungen für die von ihnen aufgeworfenen Fragen aufzeigen konnten.48 Beide Fraktionen stellten das kapitalistische System nicht in Frage. Dabei sollte, allerdings nicht übersehen werden, daß das Auftreten der „Formalisten" und der „Substantivisten" in gewissem Maße objektive Widersprüche im Kapitalismus, innerhalb seiner Ideologie und im speziellen Bereich der bürgerlichen Anthropologie widerspiegelt. Während die „Formalisten" als offene Apologeten

47 48

Beishaw, S. 1 f. Semenov, Teoreticeskie problemy, a. a. O., S. 6 6 - 7 5 .

.Ökonomische Anthropologie" und Marxismus

189

des kapitalistischen Systems aufgetreten sind, nahmen Vertreter der Fraktion der „Substantivisten" bei Kritik an einigen Erscheinungen des Kapitalismus reformistische Positionen ein. Wie Semenov zeigen konnte, sind die Grenzen zwischen den „Formalisten" und „Substantivisten" nicht scharf abgrenzbar, ist die Zuordnung des einen oder anderen Vertreters zu der einen oder anderen Fraktion wegen der Unklarheit und Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen und des nicht seltenen Positionswechsels keinesfalls einfach. 49 Es ist eine erst partiell in Angriff genommene Aufgabe, die theoretischen Auffassungen der „Formalisten" und der „Substantivisten" mit Grundlinien der Entwicklung der bürgerlichen Sozialwissenschaften und im besonderen natürlich der bürgerlichen Ökonomie in Zusammenhang zu bringen. Semenov hat die Fraktion der „Formalisten" an die „neoklassische" Richtung, an die subjektive Schule der bürgerlichen politischen Ökonomie angeschlossen und nachgewiesen, daß vor allem das Konzept des „Marginalismus" von bestimmendem Einfluß auf die „Formalisten" wurde. 50 Für die „Substantivisten" hat Semenov einen solchen Nachweis nicht geführt. M. Godelier unternahm seinerseits den Versuch, „Formalisten" und „Substantivisten" mit grundlegenden Konzepten der bürgerlichen Ökonomie in Verbindung zu bringen. In der Zuordnung der „Formalisten" zum „Marginalismus" deckt sich seine Auffassung mit der Semenovs. In der Definition der Ökonomie durch die „Substantivisten" erkennt Godelier „die .klassische' Definition der Ökonomie wieder, die von Adam Smith und Ricardo s t a m m t . . .".51 Künftig wird es möglich sein, auf der Grundlage umfassender marxistischer Einschätzung zur Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart - vorgenommen etwa von I. M. Ossadtschaja 52 oder H. Meißner 53 bestimmte Beziehungen der „Formalisten" und der „Substantivisten" zu Grundrichtungen der bürgerlichen Ökonomie nachzuweisen. Allerdings spiegeln die Ansichten der „Formalisten" oder „Substantivisten" nicht direkt die Konzeptionen der bürgerlichen Ökonomie wider. Die „ökonomischen Anthropologin" haben Auffassungen bürgerlicher Ökonomen immer nur partiell übernommen und versucht - wie am Beispiel von Herskovits demonstriert wurde - mit eigenen Konzepten zu „synthetisieren". 54 Nicht zuletzt wurden die „ökonomischen Anthropologen" durch die gesellschaftliche Praxis immer wieder gezwungen, ihre Auffassungen zu modifizieren und zu revidieren. 55 Grundsätzlich ist deshalb festzustellen, daß die Anschauungen der „Formalisten" wie der „Substantivisten" nicht

48

Ebenda, S. 54 ff. Ebenda, S. 31-36, 42-46. 51 M. Godelier, ökonomische Anthropologie, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 26. I. M. Ossadtschaja, Von Keynes zur neoklassischen Synthese, Berlin 1976. 53 H. Meißner, „Die Krise der bürgerlichen politischen Ökonomie", in: Zur Kritik gegenwärtiger bürgerlicher sozialökonomischer Theorien, Berlin 1975, S. 24-38. 54 Zur lediglich sporadischen Beschäftigung der „ökonomischen Anthropologen" mit den Theorien der bürgerlichen Ökonomen vgl. das Zeugnis Daltons: Dalton, a. a. O., S. 63. 5r ' Die Nichtübereinstimmung zwischen „theoretischen" Prämissen und der gesellschaftlichen Realität spiegelte sich u. a. eindrucksvoll im Auftreten mehrerer „Formalisten" wider, die partielle Kritik an den Auffassungen von Firth und Herskovits übten. Vgl. dazu Semenov, Teoreticeskie problemy, a. a. O., S. 66-72.

50

190

D. TREIDE

allein aus ideologie- und theoriegeschichtlicher Sicht analysiert werden können,56 sondern vor allem der wesentliche Anteil der gesellschaftlichen Praxis an der Ausbildung und Veränderung der Konzepte der „ökonomischen Anthropologen" aufzuzeigen ist. Die Untersuchungen und Studien der „Formalisten" haben die wirtschaftliche Expansion des US-amerikanischen Imperialismus unter spätkolonialen Bedingungen (während der 2. Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus) und unter den Bedingungen der Herausbildung und frühen Entwicklung neokolonialistischer „ökonomischer Strategien" und Praktiken begleitet.57 Sie stellten das kapitalistische System weder im Ganzen noch in Einzelheiten in Frage. Die theoretische und methodische Fundierung besaßen die Arbeiten der „Formalisten", wie gesagt, in den „offiziellen" ökonomischen Theorien, die in den USA vertreten wurden, vor allem im „marginalistischen" Konzept. Nach Meinung der „Formalisten" war dieses Konzept auf alle Gesellschaften der Erde anwendbar.58 Einen gewissen Ansatzpunkt für die praktische Anwendung ihres theoretischen und methodischen Konzepts fanden die „Formalisten" darin, daß zur Zeit ihrer Untersuchungen in verstärktem Umfang Elemente der kapitalistischen Produktionsweise wenn auch in kolonial deformierter Form - in präkapitalistische Gesellschaften eindrangen. Nicht zuletzt auf solche Erscheinungen richtete sich ihre Aufmerksamkeit, wie Studien von Tax, Nash oder Firth zum Phänomen der „peasantry" erkennen lassen.59 Allerdings zeigte sich zugleich, daß mit dem „marginalistischen" Konzept die ökonomische und soziale Realität, vor allem die objektiv sehr komplizierten, vielschichtigen 56

So anregend der Versuch S. Heretiks war, zwei Grundströmungen des bürgerlichen ökonomischen Denkens zu verfolgen - eines abstrakt-logischen und eines sozialökonomischen bzw. soziologischhistorischen Trends er mußte sich die Kritik Meißners gefallen lassen, daß „bei einer solchen Charakterisierung der bürgerlichen politischen Ökonomie die Gefahr besteht, daß die Entwicklung der politischen Ökonomie nur aus der Methodologie und nicht aus der ökonomischen und politischen Kräftekonstellation abgeleitet wird". (Aus dem Bericht über die Diskussion zum wissenschafdichen Symposium „Zur Kritik gegenwärtiger bürgerlicher sozialökonomischer Theorien", Berlin 1975, S. 57. Dort auch der Aufsatz von Heretik „Methodologische Probleme bürgerlicher ökonomischer Theorien", S. 10-23.) Diese Kritik Meißners warnt auch davor, die auf den ersten Blick naheliegende Zuordnung der „Formalisten" zur „abstrakt-logischen" Strömung und der „Substantivisten" zur „sozialökonomischen bzw. soziologisch-historischen Strömung" vorzunehmen, ganz abgesehen davon, daß die Begriffe „sozialökonomisch" oder „soziologischhistorisch" an und für sich nicht sehr glücklich gewählt zu sein scheinen.

57

Ein großer Teil der „klassischen" Arbeiten der „Formalisten" fällt in die Jahre von etwa 1940 bis 1965, während sich die „Krise" des „Formalismus" - wie SemSnov zeigen konnte seit den sechziger Jahren immer stärker bemerkbar machte (Semeriov, Teoreticeskie problemy, a. a. O., S. 66 f.). Beim keinesfalls zufälligen Anwachsen detaillierter Studien zur Wirtschaft lateinamerikanischer, asiatischer, afrikanischer oder ozeanischer Bevölkerungen in diesen Jahren darf andererseits nicht übersehen werden, daß diese Studien - trotz Bemühen um die Anwendung des „marginalistischen" Konzepts - den Ansprüchen der bürgerlichen „Entwicklungs"-Ökonomen nicht in vollem Umfang entsprachen. Vgl. dazu W. E . Moore, „Der soziale Rahmen der ökonomischen Entwicklung (1961)", in: Soziologie der Entwicklungsländer, hsg. von G. Eisermann, Stuttgart/Berlin (West)/Köln/Mainz 1968.

58

Vgl. Semenov, Teoreticeskie problemy, a. a. O., S. 45. Ebenda, S. 45 f.

59

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191

sozialökonomischen Verhältnisse in den Staaten Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas nicht erfaßt werden konnten. Indirekt kam das in der Kritik zum Ausdruck, die der „Formalist" R. Burling an Arbeiten der „Formalisten" Herskovits und Firth übte. E r warf ihnen vor, daß die konkreten Analysen nicht den eigenen theoretischen Prämissen entsprächen.60 Godelier machte auf die Aussage des „Formalisten" K . H. Schneider am Ende seiner bekannten Studie über die Wahi-Wanyaturu aufmerksam, wo er feststellte: „To employ the traditional formal economic approach one must also augment it." 61 Mit der sich ständig vertiefenden Krise des Neokolonialismus zeigte sich auch zunehmend eine Krise des „Formalismus", häuften sich Kritiken aus dem bürgerlichen Lager. 63 Diese kritischen Bemerkungen waren sehr wahrscheinlich auch ein Reflex auf die Versuche zur Entwicklung einer „sozialen Strategie", d. h. auf die Versuche des Ausbaus und der langfristigen Sicherung - freilich abhängiger - kapitalistischer Verhältnisse in den sogenannten Entwicklungsländern selber. 63 Entsprechend ihrem Konzept, daß die ökonomischen Kategorien des Kapitalismus universalen, auf alle Gesellschaften anwendbaren Charakter besäßen (was die systemapologetische Behauptung von der „ewigen" Natur des Kapitalismus impliziert) haben eine Reihe von „Formalisten" nicht schlechthin die - sonst im bürgerlichen Lager nicht selten geäußerte - Meinung vertreten, daß die Erkenntnisse von Marx nur für die von ihm untersuchte kapitalistische Gesellschaft, nicht aber für präkapitalistische Gesellschaften Gültigkeit hätten. Sie versuchten, sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen, den Marx auch von ihnen verwendeten ökonomischen Kategorien gegeben hatte. Wiederholt befaßten sie sich auf diese Weise mit der Marxschen Werttheorie, wobei die Diskussion um die Möglichkeit der Nutzung sogenannter Arbeitszeitanalysen in bezug auf präkapitalistische Gesellschaften den Ausgangspunkt bildete." 1967 versuchte Firth seine Meinung zur Marxschen Werttheorie betont „objektiv" zum Ausdruck zu bringen. E r schrieb: „That the labour-cost theory of value is found unsatisfactory by an eminent modern economist not prejudiced against a Marxist view may be epitomized by the comments of Joan Robinson." 64 Eine ihm offensichtlich besonders wichtig erscheinende Aussage J . Robinsons zitierte Firth im Wortlaut: „In terms of value, an hour is an hour. A constant quantity of labourtime, year after year, produces the same value. But who cares? What we want to know is how much stuff it is producing. Marx's notion of .abstract labour', like Ricardo's

60

R. Burling, „Maximation Theories and the Study of Economic Anthropology", in: American

61

Godelier, S. 73.

62

Zu den kritischen Bemerkungen aus dem „eigenen Lager" vgl. die Anmerkungen 55 und 60. Zur

63

Über die Möglichkeiten und Grenzen einer „Mitwirkung" bürgerlicher Anthropologen an den

Anthropologist, Bd. 64, Nr. 4, Teil 1, 1962.

Kritik von Seiten der „Substantivisten" vgl. Semenov, Teoreticeskie problemy, a. a. O . , S. 66. Versuchen zur Durchsetzung einer „sozialen Strategie" vgl. D. Treide, „Zur Mitverantwortung der Ethnographie für die Auseinandersetzung mit neokolonialistischen Konzeptionen", in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Bd. XXVIII, Berlin 1972, S. 6 9 - 8 8 . 64

R. Firth, „Themes in Economic Anthropology: A General Comment", in: Themes in Economic Anthropology, S. 21.

D. TRELDE

192

.absolute value' or Edgeworth's measurement of Utility, is a .mirage'." 85 Dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit eines ausführlicheren kritischen Eingehens auf die Stellung der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" zur Marxschen Werttheorie; das würde jedoch mehr Raum beanspruchen als in diesem Überblick zur Verfügung steht. 66 65

Ebenda.

66

In seiner Monographie „Theoretische Grundlagen der gegenwärtigen bürgerlichen Berlin 1977, nahm Heretik speziell zu Versuchen einer neo-keynesianistischen

Ökonomie",

„Rehabilitierung"

von Marx Stellung (S. 224 ff.). E r schrieb: „Wie man sieht, ist der ideologische Hintergrund des wiederbelebten Interesses an der ökonomischen Lehre von Marx das Bemühen der bürgerlichen Ökonomen, diese Lehre im Geiste des Keynes'schen Reformismus zu interpretieren, aus Marx' Theorie den revolutionären Inhalt zu entfernen und so den grundsätzlichen Gegensatz zwischen der marxistischen und bürgerlichen Ökonomie zu verschleiern" (S. 226). In diesem Zusammenhang ging Heretik auch auf Auffassungen Robinsons zur Marxschen Werttheorie ein. Für die Auseinandersetzung gerade auch mit diesen Auffassungen ist die folgende Darstellung WygodskiS von außerordentlicher Wichtigkeit: „Das wesentlichste Verdienst der von der klassischen Schule repräsentierten bürgerlichen politischen Ökonomie war der Drang, ,den innren Zusammenhang zu begreifen', sie wollte ,den innren Zusammenhang im Unterschied von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen begreifen' (Marx/Engels, Werke, Bd. 26. 3, Berlin 1968, S. 445, 490). Seinen Ausdruck fand dies in der Arbeitswerttheorie. Schon die einfache Konstatierung der Tatsache, daß die menschliche Arbeit Quelle des Wertes ist, eröffnete eine ganze Epoche in der Geschichte der politischen Ökonomie. Damit war der Ausgangspunkt für jene materialistische Tradition in der Geschichte der ökonomischen Wissenschaft gelegt, die später in vollem Umfang in der Marxschen Theorie aufgegangen ist. Doch war die Verkündigung, daß die Arbeit Quelle des Wertes ist, noch nicht gleichbedeutend mit der Erkenntnis der spezifischen gesellschaftlichen Natur dieser Arbeit im Kapitalismus. Der Weg zu dieser Erkenntnis war für ausnahmslos alle bürgerlichen Ökonomen wegen ihrer apologetischen Konzeption, in der die kapitalistische Produktionsweise als ewige, natürliche Produktionsform galt, versperrt. Dagegen war Marx auf diese Erkenntnis schon methodologisch vorbereitet, nachdem er Mitte der vierziger Jahre zusammen mit Engels die materialistische Geschichtskonzeption erarbeitet hatte. E r zerlegte die Kategorie gesellschaftliche Produktion

und stellte sie als

dialektische Einheit

der

Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse dar. Wir hatten gesehen, daß diese .Zerlegung' die konkrete Umsetzung der methodologischen Gesamtkonzeption war, nach der jede gesellschaftliche Erscheinung und damit auch jede Kategorie, die diese Erscheinungen ausdrückt, die dialektische, widersprüchliche Einheit von stofflichem Inhalt und gesellschaftlicher Form bildet. Gerade dadurch war Marx in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in der Lage, die historische Spezifik der gesellschaftlichen, wertschaffenden Arbeit zu erfassen, indem er in der Arbeit selbst wie auch im Arbeitsprodukt das, was den stofflichen Inhalt der Arbeit und ihres Produkts ausmacht, nämlich die konkrete Arbeit und den Gebrauchswert als Produkt dieser Arbeit, von dem unterschied, was die gesellschaftliche

Form

der Arbeit

und ihres

Produkts

bildet,

nämlich

die

abstrakte Arbeit und den Wert als ihr Resultat. Die bürgerlichen Ökonomen waren nicht imstande, den stofflichen Inhalt und die gesellschaftliche Form der ökonomischen Kategorie auch nur annähernd folgerichtig und bewußt auseinanderzuhalten. ,Bei ihnen ist das stoffliche Element des Kapitals . . . verwachsen mit seiner sozialen Formbestimmung', schrieb Marx (ebenda, S. 316). Aus der eingehenden Analyse der klassischen politischen Ökonomie durch Marx im .Kapital' folgte, daß eben die Vermischung der beiden Seiten der Arbeit und der beiden Faktoren der Ware, die Unfähigkeit, die Arbeit, und damit auch das Arbeitsprodukt zu zerlegen, die bürgerlichen Ökonomen hinderten, den Mechanismus

„Ökonomische Anthropologie" und Marxismus

193

Besonders deutlich wurden die Versuche der „Formalisten", sich mit dem Marxismus auseinanderzusetzen, bei der Anwendung der Kategorien „Kapital" und „Kapitalismus" selber. Ju. P. Averkieva konstatierte in einer speziellen kritischen Stellungnahme zu einer Arbeit von Firth aus dem Jahre 1972, daß nach diesem Autor bei Völkern der klassenlosen Gesellschaft Kapital im „Marxschen Sinn" existiert habe. Averkieva konnte zeigen, daß die Beweisführung Firths zu diesem Punkt nicht stichhaltig ist; sie konnte zugleich nachweisen, daß diese und damit verbundene Auffassungen (so auch die Polemik gegen einen Kommunismus der Urgesellschaft) Firth notwendigerweise in das Fahrwasser westlicher „Marxologen" führten und zur Übernahme von Ansichten D. Beils, H. Marcuses oder Brzezinskis.67 Frankenberg zitierte die Kritiken Sahlins' an R. Lowie, Bunzel oder Herskovits wegen ihrer Behauptungen, daß „capitalism" auch in „primitive societies" zu finden sei.68 Er schloß sich dieser Kritik an und identifizierte sich mit der Aussage von Marx, daß Kapital eine Beziehung zwischen Menschen, keine Sache ist.69 Zugleich aber stimmte Frankenberg der Ansicht Firths zu, daß „Kapital" - allerdings mit unterschiedlicher Funktion - bereits in der „peasant society" und in der „primitive society" existent gewesen sei, wobei er einen Abschnitt aus der „Deutschen Ideologie" in dieser Weise auslegte.70 Ohne Frage entstand die kapitalistische Produktionsweise im Schöße der sozialökonomischen Formation des Feudalismus, ohne Zweifel drangen und dringen Elemente der kapitalistischen Produktionsweise in urgesells.chaftliche Verhältnisse ein, trugen und tragen zu ihrer Auflösung bei. Aber darum geht es hier nicht. In dem von Firth in seiner Einführung auch wegen des stimulierenden theoretischen Gehalts gelobten Werk „Capitalism, Primitive and Modern. Some Aspects of Tolai Economic Growth" spricht die Autorin, T. S. Epstein, nicht von zwei Formen des „Kapitals", sondern - wie bereits der Titel zu erkennen gibt - von zwei Existenzformen des Kapitalismus.71 Sie behauptet mit Bezug auf Engels' „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates", daß die von ihr erfaßten Melanesier alles andere als „primitive communists" seien,72 wobei

07

68 69 70

71

72

13

der kapitalistischen Ausbeutung zu erklären" (Wygodski, S. 56 f.). Hinsichtlich der Herausarbeitung der Werttheorie durch Marx vgl. auch W. Tuchscherer, Bevor „Das Kapital" entstand. Die Herausbildung und Entwicklung der ökonomischen Theorie von Karl Marx in der Zeit von 1843 bis 1858, Berlin 1973. Averkieva ging u. a. auch auf Firths Sympathien für einen „undogmatischen" Marxismus ein (Averkieva, „O nekotorych popytkach interpretacii marksizma etnografami zapada", in: Sovetskaja Etnografija, 3, 1973, S. 20 fi.). Frankenberg, Economic Anthropology, a. a. O., S. 79. Ebenda. Ebenda. Die von Marx und Engels in dem von Frankenberg zitierten Abschnitt der „Deutschen Ideologie" behandelten gesellschaftlichen Verhältnisse (mit der Existenz eines ständischen Kapitals; K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1962, S. 52, vgl. auch S. 55, 57) sind nicht identisch mit gesellschaftlichen Verhältnissen, die etwa von Firth mit den Begriffen „peasant society" oder „primitive society" charakterisiert worden sind. T. S. Epstein, Capitalism, Primitive and Modern. Some Aspects of Tolai Economic Growth, Melbourne 1968. Ebenda, S. 29. Kultur u. Ethnos

194

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sie offenläßt, ob sie hier nur eine Richtigstellung hinsichtlich dieser Bevölkerungsgruppe beabsichtigt, oder eine prinzipielle Korrektur an Engels. In zahlreichen Passagen ihres Werkes fällt es Epstein sogar schwer, den „ursprünglichen Kapitalismus" und den „modernen Kapitalismus" voneinander abzugrenzen. So schreibt sie: „Pre-contact Tolai, like modern capitalist society, was preoccupied with the accumulation of wealth." Und: „The Tolai ,big man', like a true capitalist, invested his resources in order to increase his wealth. It was relatively easier for a rich Tolai to become richer than for a poor man to start on the ladder of success. Similarly, in our own modern capitalistic society it is much easier for a rich man to accumulate more resources than for a poor man to start making his way in life." Und weiter: „The shrewd ,big man' often got his followers to plant iarge areas. It was customary for him to provide food for his labourers. He recouped his expenses, plus a certain profit, as soon as crops were harvested and sold (Parkinson, 1907, 56)."73 Ohne auf die Tatsache näher einzugehen, daß Epstein hier ganz offensichtlich die Szene der „pre-contact economy" verläßt, muß auf den erstaunlichen Widerspruch zwischen den angeführten Zitaten und einigen anderen, dicht benachbarten Aussagen aufmerksam gemacht werden. Sie verweist darin auf eine ökonomisch begründete hochgradige soziale Mobilität. Und als Ursache dieser Mobilität führt sie an: „Land, the only major asset required for productive activity, was readily available to all and was in no way restricted to an elite. Management must therefore be counted as a separate, and most important, factor of production in the traditional economy, apart from land, labour, and capital."74 Diese in der Tat frappierenden Widersprüche in den Aussagen versteht man letztlich nur, wenn man erfährt, daß die Abgrenzung gegen den Marxismus wesentlicher Grund für ihr Zustandekommen ist: „Social mobility was based largely on economic criteria. However, contrary to Marxian theories, according to which economic differentiation was determined by relationship to productive resources, social status was achieved on the basis of individual managerial ability."75 Eine vortreffliche Argumentation: Zum einen wird den Marxisten unterstellt, daß sie Fragen der Leitung ökonomischer Unternehmungen im Zusammenhang mit der sozialökonomischen Differenzierung keine Aufmerksamkeit widmen würden. Zum anderen erbringt auch der „ursprüngliche Kapitalismus" einen Beweis für die welthistorische Mission einer - vom Eigentum an Produktionsmitteln unberührten - Herrschaft der Manager! Eine Analyse der theoretischen Auffassungen der „ökonomischen Anthropologen", die zur „substantivistischen" Richtung gerechnet werden, zeigt stärkere Unterschiede, als sie innerhalb der Fraktion der „Formalisten" zu konstatieren sind. Die „Substantivisten" bezogen theoretische Anregungen in viel geringerem Maße als die „Formalisten" von den „großen", „offiziellen" ökonomischen Konzepten, wie sie in den USA entwickelt wurden,76 zumindest fixierten sie sich nicht in gleicher Weise auf ein bestimmtes Konzept. 73

Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 32. 75 Ebenda. ' 6 Für die „Substantivisten" gilt der in Anmerkung 54 angeführte Hinweis Daltons in besonderem Maße. 74

.ökonomische Anthropologie" und Marxismus

195

Dalton hat versucht, diesem Sachverhalt eine „theoretische" Rechtfertigung zu geben: „Economists are used to living in several theoretical universes - price theory, income theory, growth theory, development theory, Soviet economy - which overlap only partially. They do not throw out Marshall because he did not answer Keynes' questions; they do not throw out Keynes because he did not answer Harrod and Domar's questions; and they do not throw out any of these market economy theorists because they did not address themselves to issues of collectivizations and central planning in Soviet economy. . . . Like the economists, economic anthropologists are dealing with several aspects of several sorts of economies, and held several sets of concepts to understand and measure them properly." 77 Auf die Fehler und Unscharfen in diesen Aussagen Daltons kann hier im einzelnen nicht eingegangen werden; wiewenig ihn sein „theoretisch-methodischer Pluralismus" zu neuen bzw. „spezifischen" Konzepten hinsichtlich der Behandlung der sozialökonomischen Veränderungen bei kolonial unterdrückten und ausgebeuteten Völkern oder der Veränderungen unter den Bedingungen des Neokolonialismus geführt hat, wird noch gezeigt werden. Wenn auch die stärkere Entwicklung der Fraktion der „Substantivisten" in den sechziger Jahren und besonders in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts - wie bereits angedeutet - von Krisenerscheinungen im Neokolonialismus, im Gefüge bürgerlicher ökonomischer Konzepte und nicht zuletzt innerhalb der Richtung der „Formalisten" wesentlich beeinflußt wurde, so blieben in ihr übernommene (funktionalistisch-strukturalistische und nicht zuletzt „kulturologische") Konzepte der bürgerlichen Anthropologie in hohem Maße wirksam. Ungenügend erforscht sind bisher die realen Auswirkungen eines Anstoßes von „außen": Eine relativ frühe Komponente, die zur Entwicklung „substantivistischer" Positionen beigetragen hat, war eine „romantische" Kritik 78 an bestimmten Erscheinungsformen des Kapitalismus, vor allem formuliert als Kritik an dem „unpersönlichen", sich allen sozialen Erscheinungen auferlegenden kapitalistischen Marktmechanismus. Diese Komponente wurde von K. Polanyi eingebracht, der von den „Substantivisten" in der Regel als Wegbereiter ihrer Betrachtungsweise genannt wird. 79 Polanyi und in seiner Nachfolge Dalton, P. Bohannan und andere untersuchten Formen der Distribution und der Zirkulation in unterschiedlichen Zeiten und Regionen und konstruierten universell angewendete Typen von Austausch- und Marktmechanismen. 80 Nach Polanyi war die Existenz des kapitalistischen Marktmechanismus die Ursache dafür, daß sich die falsche Auffassung herausbilden konnte, alle Gesellschaften seien in ihrer Existenz und in ihrer Entwicklung von ökonomischen Sachverhalten bestimmt. 81 Er räumte - wie 77 78

79 80

81

13*

Dalton, a. a. O., S. 80. Mit unterschiedlichen Erscheinungsformen einer solchen „romantischen" Kritik hat sich Kon ohne Polanyi zu behandeln - in seiner Arbeit „Der Positivismus in der Soziologie", Berlin 1968, 11. Kapitel, auseinandergesetzt. Dalton, a. a. O., S. 79 f. Vgl. Trade and Markets in the Early Empires, hsg. von K. Polanyi, C. M. Arensberg, H. W. Pearson, Glencoe 1957; P. Bohannan/G. Dalton, „Introduction", in: Markets in Africa, New York 1965. K. Polanyi, „Our Obsolete Market Mentality", in: Commentary, 13, 1947.

1%

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auch Herskovits - ein, daß Marx mit der Behauptung des Primats ökonomischer Erscheinungen in bezug auf den Kapitalismus der freien Konkurrenz recht gehabt habe, daß er sich aber hinsichtlich des Primats der Ökonomie gegenüber sozialen Erscheinungen sowohl in bezug auf die präkapitalistischen Gesellschaften als auch hinsichtlich der Gesellschaften getäuscht habe, die auf den Kapitalismus der freien Konkurrenz folgten.82 Auch Dalton erklärte unmißverständlich: „Marx was wrong in generalizing economic determination of social organization to early and primitive societies. Indeed, the lesson of economic anthropology is the unimportance of economic organization in primitive society, as the determinative influence on social organization or culture. Rather, it is kinship, tribal affiliation, political rule, and religious obligation that control, direct and are expressed by the economic in primitive societies."83 Man kann mit gutem Grund behaupten, daß die „Substantivisten" die These vom angeblichen ökonomischen Determinismus des Marxismus-Leninismus innerhalb der „ökonomischen Anthropologie" am eifrigsten vertreten haben. Mit der Unterordnung des „ökonomischen" unter die „Soziale Organisation" und die „Kultur" in vorkapitalistischen Gesellschaften und in Gesellschaften, die nach dem Kapitalismus der „freien Marktwirtschaft" kamen, verfolgten Polanyi und Dalton aber nicht nur „theoretische" Ziele. Polanyi bestritt, daß der Hitlerfaschismus ökonomische Ursachen hatte. 84 In Auslegung der Wunsch- und Zielvorstellungen Polanyis von einer anzustrebenden „reabsorption of the economic system in society" ermittelte Dalton hinsichtlich der beiden Hauptströme des modernen Sozialismus, des marxistischen und des demokratischen Sozialismus (so seine Diktion) eine „Tragödie" folgender Art: „ . . . both the Welfare State and Soviet Communism are creating higher incomes and material security widely diffused. This is all to the good. But neither has begun to create a new society in which industrial technology is deliberately organized to express social relationships and ethical norms."85 Diese Ausführungen legen wohl überzeugend dar, aus welchen Gründen Dalton vor allem die „Universalität" der Forschungen Polanyis, seinen Beitrag zur Entwicklung einer „vergleichenden Wirtschaftsforschung", zu würdigen bemüht war. 86 Schließlich muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß sich Polanyi gegen eine „Uberbewertung" ökonomischer Faktoren als hauptsächliche Ursache für das Schicksal kolonial beherrschter Völker wandte: „Not economic exploitation, as often assumed, but the disintegration of the cultural environment of the victim is then the cause of degradation. The economic process may, naturally, supply the vehicle of destruction, and almost invariably economic inferiority will make the weaker yield, but the immediate cause of 82 f3

84 85

86

Ebenda. G. Dalton, Introduction to Primitive, Archaic and Modern Economies, Essays of Karl Polanyi, New York 1968, S. XVII. Polanyi, a. a. O., S. 117. G. Dalton, „Primitive, Archaic and Modern Economies; Karl Polanyi's Contribution to Economic Anthropology and Comparative Economy", in: Essays in Economic Anthropology. Proceedings of the 1965 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society, Seattle 1965, S. 8. Ebenda, S. 15.

„Ökonomische Anthropologie" und Marxismus

197

his undoing is not for that reason economic; it lies in the lethal injury to the institutions in which his social existence is embedded. The result is loss of selfrespect and standards, whether the unit is a people or a class, whether the process springs from so-called „culture-conflict" or ffom a change in the position of a class within the confines of a society."87 Nach Daltons Ansicht haben diese Feststellungen allen Spezialisten etwas zu sagen, die sich in „Entwicklungsländern" mit „social and cultural implications of economic and technological change" befassen.88 Diese Feststellung besitzt ihr besonderes Gewicht angesichts der umfangreichen Tätigkeit Daltons auf dem Gebiet der „Entwicklungsländerforschung". Auch interessiert an allgemeinen Fragen des Austauschs und der Marktbeziehungen wandte sich Dalton vor allem Problemen zu, die mit dem Eindringen von Elementen der kapitalistischen Produktionsweise in afrikanische präkapitalistische Gesellschaften verbunden waren und verbunden sind, bekundete er ein spezielles Interesse für die sich unter diesen Bedingungen wandelnde Stellung der (Dorf-) Gemeinschaf ten, für Fragen der „lokalen Entwicklung" (,,micro-development") im Rahmen neokolonialistischer Zielstellungen.89 Unter den „analytischen Kategorien" der „ökonomischen Anthropologie" nannte Dalton „socio-economic change", „growth" und „development". Als „context of change and development" nannte er „colonialism-culture contact, independence-explicit national and village level modernization". Die „types of change" bestimmte er wie folgt: „1. Degenerative: cultural disruption and absence of substitute forms of organization. 2. Cash income growth without development: primitive economies becoming peasant; adoption of cash-earning activities with little or no disruption of ordinary life and without concomitant technological and other innovations which diversifies and sustains income growth. 3. Development: sustained income growth for the local community through integrationeconomic, political, cultural - into the larger socio-economic unit of which it is a part without loss of ethnic identity or group malaise." 90 Bei Anwendung der gängigen Kategorien der bürgerlichen „Entwicklungs-Ökonomen", ,,-soziologen" und ,,-politologen" ist die hohe Veranschlagung des „kulturellen Faktors" (und des „ethnischen Faktors") unübersehbar („colonialism-culture contact"; „cultural disruption"; „disruption of ordinary life"; „loss of ethnic identity"). Die „Abwehr" des „ökonomischen Determinismus", die Rettung des Konzepts der „embeddedness" des „Ökonomischen" im „Sozialen" bei grundsätzlichem Eintreten für die Durchsetzung einer - neokolonial abhängigen - kapitalistischen Entwicklung sind untrennbar damit verbunden und ebenso unschwer erkennbare Grundelemente der theoretisch-methodischen Konstruktionen Daltons. Eine gewisse Sonderstellung ist im Kreis der „Substantivisten" Sahlins einzuräumen, der sich ohne Zweifel am stärksten von einer ausschließlichen oder weitgehenden Orien87 88 89 90

K . Polanyi, The Great Transformation, New York 1944, S. 157. Dalton, Primitive, Archaic and Modern Economies, a. a. O., S. 7. Dalton, Theoretical Issues, a. a. O., S. 75 ff. Ebenda, S. 71.

198

D. TREIDE

tierung auf die Untersuchung von Austausdi- und Marktbeziehungen gelöst und sich auch der Analyse der Produktion in präkapitalistischen Gesellschaften zugewendet hat. Auch von der Haltung Polanyis und Daltons zum Marxismus-Leninismus unterscheidet sich Sahlins ohne Zweifel. Semenov hat darauf hingewiesen, daß sich Sahlins in einigen Fragen marxistischen Positionen angenähert hat. 91 Eine solche Feststellung erfordert aber auch, daß - in Weiterführung kritischer Bemerkungen Semenovs - wesentliche theoretische Schwächen in Sahlins' Arbeiten aufgezeigt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Sahlins' Studien zur „domestic mode of production", von ihm in Kurzfassung D M P genannt. 92 Die Formulierung dieses Konzepts erfolgte - wie eine Analyse der Arbeiten Sahlins' erkennen läßt - in einem längeren Prozeß, in dessen Verlauf Sahlins unterschiedliche Anregungen aufgenommen und verarbeitet hat. In der 1968 erschienenen Arbeit „Tribesmen" unterschied er - Polanyi folgend - zwischen entfremdeter Arbeit im Kapitalismus und nichtentfremdeter Arbeit unter den Bedingungen einer klassenlosen („tribal") Gesellschaft. 93 In mehreren Arbeiten behandelte Sahlins den Unterschied zwischen der Produktion für den eigenen Verbrauch und der Produktion für den Austausch als ein wesentliches, wenn nicht entscheidendes Kriterium für die Trennung der präkapitalistischen von der kapitalistischen Produktion. Sahlins beklagte, daß diese Unterscheidung zumindest in den angelsächsischen Ländern in Vergessenheit geriet, daß Thurnwald sie (1932) noch einmal aufgegriffen habe, daß sie von Malinowski aber außer Kurs gesetzt worden sei.94 In seinem Beitrag zur Leslie White-Festschrift (1960) berührte Sahlins die Stellung der Produzenten zu den Produktionsmitteln. Als Gewährsmann für die Charakterisierung der entsprechenden Verhältnisse in der Vorklassengesellschaft („primitive society", „tribal society") nannte er Herskovits: „Herskovits repeatedly notes that the means of production are in the direct possession of producers, and obliges us by pointing out the most significant implications of this fact, viz., the primitive producer ,is the master of his own economic destiny' (Herskovits)". An dieses Zitat fügte Sahlins folgenden Satz an: „To Marx, of course, this is the key difference between capitalistic and most precapitalistic economies."95 Schon Sahlins' Überlegungen im „Vorfeld" der D M P geben zu erkennen, daß er in hohem Maße Polanyi, Herskovits u. a. verpflichtet ist, daß er die gleichen Aussagen von Marx wie diese und andere bürgerliche Autoren vor ihnen heranzieht und die Marxschen Erkenntnisse in eklektizistisch-simplifizierender, bisweilen entstellender Weise behandelt. Die gleichen Feststellungen muß man für die ausgearbeitete, aber im wesentlichen wenig Neues bringende Fassung des Konzepts der „domestic mode of production" in der 1972 erschienenen Arbeit „Stone Age economics" treffen. 91 92

9J 94 a5

Ju. I. Semenov, Sovetskaja Etnografija, 4, 1974, S. 168. Neben Sahlins' Arbeit „Stone Age economics", Chicago und New York 1972 und 1974 (2. Auflage), ist in diesem Zusammenhang sein Aufsdtz „The Intensity of Domestic Production in Primitive Societies; Social Inflections of the Chayanov Slope", in: Studies in Economic Anthropology, hsg. von G. Dalton, 1971, zu nennen. M. Sahlins, Tribesmen. Englewood Cliffs, New York 1968, S. 81. Sahlins, Stone Age economics, S. 82 f. M. Sahlins, „Political Power and the Economy in Primitive Society", in: Essays in the Science of Culture, hsg. von G. E. Dole, R. L. Carneiro, New York 1960, S. 408.

.ökonomische Anthropologie" und Marxismus

199

In „Stone Age economics" offenbarte Sahlins die heterogene Herkunft seines Konzepts der DMP in konzentrierter und prägnanter Form. In bezug auf eine nach seiner Auffassung besonders charakteristische Eigenschaft der DMP, der nur teilweisen Ausschöpfung sowohl der Arbeitskraft als auch der natürlichen Ressourcen, schrieb er: „In brief, to explain the observed disposition toward underproduction in the primitive economies, I would reconstruct the .independent domestic economy' of Karl Bücher and earlier writers - but relocated now somewhat chez Marx, and redecorated in a more fashionable ethnography."96 In seinem Beitrag für „Studies in Economic Anthropology" (1971) erklärte Sahlins die Notwendigkeit der „Wiederentdeckung" Büchers: „But when Malinowski formulated his .Tribal Economy' by opposition to C. Bücher's .Independent Domestic Economy' the latter was effectively put aside before its theoretical usefulness had been exhausted (Malinowski, 1921)." 97 Man geht allerdings wohl kaum fehl in der Annahme, daß das zeitweilige Zurücktreten dieser „Independent Domestic Economy" Büchers im Bewußtsein der angloamerikanjschen Kultur- und Sozialanthropologen nicht nur eine Frage der Dominanz bestimmter Richtungen und „Schulen" war. Sahlins bemerkt dazu selber: „It seems no accident that the basic laws of domestic economy were first revealed by peasant studies."98 Das Konzept der „peasantry", „peasant economy" oder „peasant society" wird bekanntlich von bürgerlichen Historikern und Sozialwissenschaftlern sowohl auf Gesellschaften angewendet, die das Niveau der „tribal society" überschritten hatten, als auch - und nicht zuletzt - auf relativ rückständige Enklaven in entwickelteren, vor allem in kapitalistischen Gesellschaften (wobei je nach dem Grad der Einbeziehung der relativ rückständigen und isolierten Gruppen in die entwickelteren Gesellschaften bestimmte „types of peasantry" unterschieden werden). 99 Sahlins entnahm zahlreiche Anregungen und umfangreiche Materialien für die Ausformung seines Konzepts der DMP aus dem Werk Cajanovs über die Landwirtschaft im zaristischen Rußland unmittelbar vor der Oktoberrevolution100 und stellte weiterhin fest, daß sein Konzept der „domestic mode of production" die gleichen Einsichten gewähre wie das - von marxistischen und bürgerlichen Ökonomen und Soziologen wiederholt kritisierte - Konzept der kolonialen „dual economy" Boekes.101 So läßt Sahlins die Frage weitgehend offen, welcher sozialökonomischen Formation die DMP zuzurechnen ist; Semenov hat bereits auf diesen Mangel hingewiesen.102 Besonders bedenklich ist, daß Sahlins indirekt Marx als Zeugen für seine alle vorkapitalistischen ökonomischen und sozialen Verhältnisse überspannende „domestic mode of production" benannt hat: „Even with exchange, the domestic mode is cousin to 88 97 98 88

100 101 102

Sahlins, Stone Age economics, S. 76. Sahlins, The Intensity of Domestic Production, a. a. O., S. 30. Ebenda, S. 33. Vgl. dazu die zum Teil in ihren theoretischen Positionen sehr unterschiedlichen Arbeiten von Firth, Redfield oder Wolf. Sahlins, Stone Age economics, S. 87. Ebenda, S. 85. Semenov, Sovetskaja Etnografija, 4, 1974, S. 1 7 1 .

200

D. T R E I D E

Marx' .simple circulation of commodities', . . . ,Simple circulation' is of course more pertinent to peasant than to primitive economies. But like peasants, primitive peoples remain constant in their pursuit of use values, related always to exchange with an interest in cosumption, so to production with an interest in provisioning. And in this respect the historical opposite of both is the bourgeois entrepreneur with an interest in exchange value."103 Der einzige direkte Hinweis auf die universalhistorische Stellung der DMP, den Sahlins gab, kann wegen seiner theoretischen und methodischen Unzulänglichkeit schließlich auch nicht weiterhelfen: „The household is to the tribal economy as the manor to the medieval economy or the corporation to modern capitalism; each is the dominant production - institution of its time. Each represents, moreover, a determinate mode of production, with an appropriate technology and division of labor, a characteristic economic objective or finality, specific forms of property, definite social and exchange relations between producing units - and contradictions all its own."104 Diese Aufzählung von ökonomischen und sozialen Erscheinungen, die nach Sahlins offensichtlich eine „mode of production" konstituieren und charakterisieren sollen, zeigt mit großer Deutlichkeit, daß er in dieser auch von ihm in ihrer zentralen Bedeutung erkannten Frage Marx nicht konsultiert hat. Sahlins betont zwar die Beziehungen zwischen ökonomischen, sozialen und politischen Erscheinungen und verwendet ausführlich den Begriff des „Widerspruchs", unterstellt aber als Folge der eigenen Unfähigkeit zur Anwendung der Dialektik den Marxisten, die Theorie der Basis-Überbau-Beziehungen auf „primitive societies" nicht anwenden zu können: „The determination of the main organization of production at an infrastructural level of kinship is one way of facing the dilemma presented by primitive societies to Marxist analysis, namely, between the decisive role accorded by theory to the economic base and the fact that the dominant economic relations are in quality superstructural, e. g., kinship relations . . ."103 Sahlins erwähnt im Zusammenhang mit seinen mehr beschreibenden Versuchen einer Bestimmung dessen, was eine „mode of production" ist, nicht Marx, vielmehr Terray mit dessen Auffassung er sich teils identifiziert, teils aber auch nicht - und C. Meillassoux.106 Die Nennung dieser Autoren gibt die Gelegenheit, abschließend auf die im allgemeinen wenig beachtete Tatsache hinzuweisen, daß die Auffassungen und Arbeitsergebnisse der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" in die Arbeiten Godeliers 103

Sahlins, Stone Age economics, S. 8 3 .

104

Ebenda, S. 7 6 .

m

Ebenda.

J06

Ebenda.

Von

grundlegender

Bedeutung

für

die

Auseinandersetzung

mit

den

Auffassungen

Terrays ist der Aufsatz Semenovs in der Sovetskaja Etnografija, 4, 1 9 7 5 . In einer seiner jüngsten Arbeiten setzte sich Meillassoux kritisch sowohl mit den Auffassungen Terrays als auch Sählins' auseinander

(C.

Meillassoux,

kapitalistische Wirtschaft,

Die wilden

Früchte

Frankfurt/M. 1 9 7 6 ,

S.

der Frau. Ü b e r 16-18,

häusliche

Produktion

4 8 ) . Anmerkungen zu dieser

und

Arbeit

Meillassoux' finden sich in D . Treide, Zu einigen aktuellen Fragen der ethnographischen Wirtschafts- und Sozialforschung dieses Autors steht noch aus.

(Manuskript);

eine umfassende Stellungnahme zu den

Konzepten

Ökonomische Anthropologie" und Marxismus

201

Eingang gefunden haben. Godelier hat sich sowohl mit den Konzepten der „Formalisten" als auch der „Substantivisten" kritisch auseinandergesetzt. In einer Reihe von Einzelfragen läßt sich nachweisen, daß Godelier „substantivistischen" Auffassungen nahestand. 1973 stellte er dann eine Gruppe von „Anthropologen" vor, zu der er Sahlins, J. Friedman, Godelier, E. Terray und andere rechnete. Diese Gruppe weise das „formalistische" Konzept zurück und halte das „substantivistische" für unzureichend. Ihre Vorstellung sei, diese Unzulänglichkeit durch die Anwendung der von Marx geschaffenen Grundbegriffe der „sozialökonomischen Formation" und der „Produktionsweise" konstruktiv zu überwinden. 107 Am Beispiel der Arbeiten von Sahlins wurden konkrete Ergebnisse dieses Vorsatzes vorgestellt. Eine entsprechende Analyse der Ergebnisse Godeliers und Terrays - die über die Bewertung ihrer Aussagen zur „asiatischen Produktionsweise" hinausgehen muß - steht noch aus. Wenn eingangs festgestellt wurde, daß die Bezugnahme einer zunehmenden Zahl von „ökonomischen Anthropologen" vor allem auf Marx keinesfalls von einer einheitlichen Position aus erfolgte und erfolgt, so konnte das im Vorangehenden konkretisiert und politische, ideologische wie „theoretische" Gründe dafür aufgezeigt werden. Ohne Zweifel wird sich auch künftig - Ausdruck der ständig wachsenden Kraft des realen Sozialismus, der weltweiten Offensive des Marxismus-Leninismus auf der einen Seite und der Krise, der historischen Defensive der bürgerlichen Ideologie auf der anderen Seite - eine wachsende Zahl bürgerlicher Philosophen, Historiker, Ökonomen, Soziologen und Anthropologen mit dem Marxismus-Leninismus befassen. E. Julier hat in seiner Untersuchung „Marx-Engels-Verfälschung und Krise der bürgerlichen Ideologie" wesentliche Motivationen der Beschäftigung mit dem Marxismus-Leninismus analysiert.108 Besondere Aufmerksamkeit wird künftig auch bei der Analyse der Auffassungen bürgerlicher Anthropologen, die sich vorrangig mit ökonomischen und sozialökonomischen Sachverhalten befassen, die Unterscheidung revisionistischer Auffassungen, als marxistisch „verkleidete" Auffassungen von subjektiv ehrlichen Bemühungen um eine Annäherung an den Marxismus-Leninismus, um die schrittweise Aneignung des Marxismus- Leninismus erfahren. Die - notwendigerweise kurz gehaltene und bei weitem nicht alle relevanten Fragen berührende - Behandlung einiger theoretisch-methodischer Konzepte Sahlins' konnte den Umfang und die Kompliziertheit der dabei zu behandelnden Probleme andeuten. Weiterzuführen ist die kritische Analyse der vielfältigen Einflüsse bürgerlicher (einschließlich revisionistischer) Ideologie, die Sahlins aufgenommen und verarbeitet hat. Zugleich sind seine Bemühungen um die Anwendung von theoretisch-methodischen Prinzipien, die er dem Werk von Marx entnommen hat, auf Verhältnisse der Vorklassengesellschaft, der Auflösung der Vorklassengesellschaft und der Herausbildung und Entwicklung der Klassengesellschaft in gewissem Sinne eine Herausforderung an die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften, die Bemühungen um die weitere Ausarbeitung der theoretischen und methodischen Grundlagen der Forschung zu intensivieren. Das betrifft sowohl allgemeinere, schon oft diskutierte Probleme wie etwa die Frage der Entwicklung der Produktionsweisen in den präkapitalistischen Formationen 107

Godelier, S. 26 ff.

,m

E. Julier, Marx-Engels-Verfälschung und Krise der bürgerlichen Ideologie, Berlin 1975.

202

D. T R E I D E

einschließlich bisher nicht ausreichend analysierter wesentlicher Sachverhalte, etwa der konkreten Untersuchung des Verhältnisses der Produktivkraftentwicklung zur Entwicklung der Produktionsverhältnisse. Das betrifft auch die konsequentere Anwendung der Kategorie der sozialökonomischen Struktur- und Entwicklungsform (obscestvennoèconomiceskij uklad), 109 die von besonderer Wichtigkeit für die Erforschung der Übergangsverhältnisse von einer ökonomischen Gesellschaftsformation zu einer anderen ist,110 und damit spezielle Bedeutung für die Behandlung der sozialökonomischen Strukturen und Entwicklungen besitzt, die auch von den „ökonomischen Anthropologen" erfaßt wurden und werden. Das gilt schließlich auch für die Anwendung und Erprobung solcher Kategorien wie der „ökonomischen Zelle" (chozjajstvennaja jacejka) und des „ökonomischen Organismus", die von Semenov in jüngster Vergangenheit in die Diskussion gebracht worden sind.111 Ju. I. Semenov, „Znacenie kategorii .obscestvenno-ékonomicsekij uklad' dlja analiza social'noèkonomiceskogo stroja obscestva", in: Naucnye doklady vyssej skoly, filosofskie nauki, Nr. 3, Moskau 1976, S. 3 9 - 4 8 ; darin auch Literaturangaben zur gleichen Thematik, nu y g j -yy Küttler, „Zur Frage der methodologischen Kriterien historischer Formationsbestimmung", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXII. Jg., Heft 10, Berlin 1974, S. 1046; derselbe, „Theoretische Grundlagen und Methoden historischer Analyse von Gesellschaftsformationen", in: Deutsche Zeitschrift .für Philosophie, 24. Jg., 1976, Heft 9 ; derselbe, „Formationsanalyse, Typologie und Revolutionsgeschichtsforschung im Werk Lenins", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXV. Jg., 1977, Heft 7. 111 Semenov, Znacenie kategorii, a. a. O., S. 43 ff.

lua

Solomon Il'ic Bruk

Ethnodemographische Probleme in der Welt nach 1945 und ihre Interpretation in der bürgerlichen Wissenschaft

I In den mehr als 30 Jahren, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges vergangen sind, vollzogen sich Ereignisse von welthistorischer Bedeutung, die entscheidenden Einfluß auf den Verlauf ethnodemographischer Prozesse in der Welt sowie auf die gesamte Bevölkerungsentwicklung besaßen. Besonders hervorzuheben sind unter diesen historischen Ereignissen in erster Linie die Herausbildung des sozialistischen Lagers sowie der Zerfall des Kolonialsystems des Imperialismus und, damit verbunden, die Entstehung Dutzender neuer selbständiger Staaten. Die äußerst schnelle Zunahme der Bevölkerungszahl der Erde ist das Hauptphänomen in den demographischen Prozessen der Nachkriegszeit. In der ausländischen sozial-ökonomischen Literatur, die sich Problemen der Bevölkerungsentwicklung gewidmet hat, und ebenso in rein demographischen Arbeiten werden die Ursachen für dieses Phänomen ausführlich analysiert. Zur- Charakterisierung der demographischen Prozesse, die sich in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen haben, wird dabei immer öfter der Terminus „demographische Explosion" gebraucht. Die Analyse des statistischen Materials für einen längeren Zeitraum widerlegt jedoch die in vielen ausländischen Untersuchungen anzutreffende Auffassung von einer „Bevölkerungsexplosion" und von einem „unkontrollierten" Bevölkerungszuwachs in der Nachkriegsperiode, obwohl sich bedeutsame qualitative und quantitative Veränderungen in den demographischen Prozessen vollzogen haben. Tatsächlich hat sich mit der Entwicklung der Produktivkräfte das Wachstumstempo der Weltbevölkerung immer mehr beschleunigt. Während die Weltbevölkerung im Jahre 1820 ungefähr 1 Milliarde Menschen betrug, war sie etwa 100 Jahre später, im Jahre 1927, auf 2 Milliarden, weitere 33 Jahre später, im Jahre 1960, bereits auf 3 Milliarden angewachsen. 1976 erreichte die Weltbevölkerung eine Zahl von 4 Milliarden Menschen. Wenn man den derzeit bestehenden Mittelwert des Wachstumstempos der Weltbevölkerung von 1,8 Prozent pro Jahr zugrundelegt, so müßte sich die Weltbevölkerung in 40 Jahren verdoppelt haben. Wann setzte der starke Sprung in der Zunahme der Weltbevölkerung ein? Womit war er verbunden? Welche Faktoren waren bei diesen demographischen Prozessen bestimmend? Auf alle diese Fragen kann eine Antwort gegeben werden, wenn man die Bevölkerungsdynamik auf einen längeren Zeitraum hin untersucht. Die Bevölkerungsdynamik der gesamten Welt wird von ihrer natürlichen Bewegung, d. h. der Wechselbeziehung von Geburtenzahl und Sterblichkeit bestimmt. In einer Reihe von Ländern und Kontinenten wirken auf die Veränderung der Quantität der Bevölke-

204

S. I. BRUK

rung auch Migrationsprozesse ein (in gewissen Zeitabschnitten z. B. war in Irland, Australien, Kanada, USA u. a. der Einfluß der Migration auf die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung sogar bedeutender als der Einfluß der natürlichen Bevölkerungsbewegung). In dem langen Zeitraum von vielen Hunderttausenden von Jahren nahm die Weltbevölkerung außerordentlich langsam zu. Das muß aus dem niedrigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der großen Abhängigkeit des Menschen von der Natur erklärt werden. Mit der Höherentwicklung der Gesellschaft verringerte sich die Bedeutung der natürlichen Bevölkerungsbewegung. Im Altertum und im Mittelalter war die Geburtenzahl im allgemeinen sehr hoch und näherte sich dem biologisch Möglichen. Ebenfalls sehr hoch war aber auch die Sterblichkeit, die durch die periodisch auftretenden Epidemien, die unhygienischen Lebensbedingungen sowie durch die zahlreichen Hungersnöte und Kriege hervorgerufen wurde. Die Geburtenziffer lag insgesamt nicht sehr viel höher als der Sterblichkeitsgrad. Obwohl in bestimmten Gebieten der Erde zeitweilig für eine geringe Sterblichkeitsrate günstige Bedingungen bestanden, so war doch die Abweichung von den Durchschnittswerten des sehr geringen natürlichen Bevölkerungswachstums aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besonders groß. Seit dem 16. Jahrhundert beschleunigte sich das Tempo des Bevölkerungswachstums. Das resultierte aus der Weiterentwicklung der Produktivkräfte im Rahmen des Kapitalismus. Der Anstieg der Industrieproduktion in einer Reihe von Ländern wurde von einem Aufschwung in der Landwirtschaft, von der Erhöhung der Nahrungsgüterproduktion wie auch von den Erfolgen in der Medizin (besonders im Kampf gegen die Epidemien) begleitet. All das konnte sich auf die demographischen Prozesse auswirken. Ein starkes Wachstum der Bevölkerung setzte in der zweiten Hälfte des 18! Jahrhunderts ein. Es fällt zeitlich mit der industriellen Revolution in einer Reihe westeuropäischer Länder zusammen. In dieser Zeit erfolgte die erste sogenannte „demographische Explosion." Während sich bis dahin die Bevölkerung um durchschnittlich 0,1 Prozent jährlich vermehrt hatte, wuchs sie in den folgenden 150 Jahren (bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) durchschnittlich um 0,5 Prozent an. Der Charakter der demographischen Prozesse war in den einzelnen Ländern sehr stark differenziert entsprechend dem unterschiedlichen sozial-ökonomischen Entwicklungsniveau. In den entwickeltsten Ländern kam es zu einem Absinken der Sterblichkeit (wobei betont werden muß, daß dieser Prozeß in äußerst langsamem Tempo und über viele Jahrzehnte hinweg verlief). Trotz des gleichzeitigen Rückganges der Geburtenzahl war das Tempo des natürlichen Bevölkerungszuwachses hier doch bedeutend höher als in den Ländern, die in koloniale oder halbkoloniale Abhängigkeit geraten waren. Der seit-Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte Rückgang der Geburtenzahl in verschiedenen Ländern wurde aber noch von der ebenfalls sinkenden Sterblichkeitsziffer übertroffen. Das führte zu einem gewissen Rückgang des natürlichen Bevölkerungswachstums. Einmal läßt sich das durch die oft auftretenden ökonomischen Krisen, die Unsicherheit vor dem morgigen Tag, zum anderen durch die sich schnell vollziehende Urbanisation, durch die Zunahme des Anteils der Frauen am gesellschaftlichen Produktionsprozeß wie auch durch andere Faktoren erklären, die entscheidenden Einfluß auf die Höhe der Geburtenzahl ausübten.

Ethnodemographische Probleme

205

In den gleichen Jahren lag in den Ländern Asiens und Afrikas die Sterblichkeit bedeutend höher als in anderen Erdteilen, und der natürliche Bevölkerungszuwachs war in beiden Kontinenten trotz der hohen Geburtenziffer äußerst niedrig: 0,3 bis 0,8 Prozent jährlich. Die hohe Geburtenrate (sie nahm jährlich um 40 Menschen je tausend Bewohner zu) basierte hierbei in bedeutendem Maße auf der früh vollzogenen Eheschließung und wurde auch durch das Streben nach Kinderreichtum hervorgerufen. Letzteres wiederum war mit einer sehr hohen Kindersterblichkeit verbunden, die sogar die Gefahr in sich barg, daß die Eltern ohne Nachkommen blieben. (In der Mehrzahl der afrikanischen Länder starben ein Viertel, in einigen Ländern Afrikas ein Drittel oder sogar die Hälfte der Kinder, ohne das erste Lebensjahr erreicht zu haben.) Sehr hoch war die Sterblichkeit dabei im Jugendalter und im mittleren Alter. Hungersnöte und Seuchen forderten jährlich Zehn- bis Hunderttausende von Menschenleben. Als Beispiel dafür sei die Tragödie Indiens angeführt, als es sich unter britischer Kolonialherrschaft befand. Noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und anfangs des 20. Jahrhunderts verhungerten hier ca. 25 Millionen Menschen. Mehr als 5 Millionen Menschen wurden von der Cholera hinweggerafft. Auf die Gesamtdauer des Geschichtsverlaufs gesehen läßt sich eine allgemeine Tendenz feststellen: schrittweiser Rückgang der Sterblichkeitsrate und in bestimmter Weise damit verbunden langsamerer Rückgang der Geburtenzahl, der in der Endkonsequenz zu einer Tempobeschleunigung im Bevölkerungswachstum führte. An Abhängigkeit vom Wechselverhältnis zwischen der Höhe der Geburtenzahl und dem Grad der Sterblichkeit kann man einige Typen der Reproduktion der Bevölkerung bestimmen, die sich mit der Veränderung der sozialökonomischen Bedingungen wandeln. Der Typ der Reproduktion neigt in jedem konkreten Land zu relativ schnellen Veränderungen. Wenn der höchste Bevölkerungszuwachs bei hoher Geburtenzahl und für diese Zeit niedriger Sterblichkeit im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts lag, so ist diese Erscheinung nur für die Länder Europas charakteristisch. Dieser Typ der Bevölkerungsreproduktion [machte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schon in der Mehrzahl der Länder Lateinamerikas bemerkbar. In Europa war zu gleicher Zeit der Rückgang der Geburtenzahl schon bedeutsamer als der Rückgang der Sterblichkeit. Um die Veränderungen in den ethnodemographischen Prozessen der Periode nach dem zweiten Weltkrieg analysieren zu können, sollen einige Angaben über die Bevölkerungsstärke und das Bevölkerungswachstum vorherliegender Perioden, mit dem Jahr 1920 beginnend, angeführt werden. In den vergangenen 55 Jahren vermehrte sich die Weltbevölkerung um das 2,2fache (obwohl in diesen Zeitraum der blutigste Krieg der Menschheitsgeschichte fiel),1 wobei sie in den 20 Jahren vor dem zweiten Weltkrieg um 26,7 und in den 30 Jahren nach 1945 durchschnittlich um 65 Prozent (1950 bis 1975 um 58,8 Prozent) anwuchs.2 In den Jahren 1

Die tatsächliche Zahl der menschlichen Verluste im zweiten Weltkrieg beträgt 60 Millionen Menschen. Was die indirekten Verluste in Verbindung mit der sinkenden Geburtenzahl und der Erhöhung der Sterblichkeit betrifft, so waren sie mindestens um das Doppelte höher als die direkten Verluste (unter Verwendung von Interpolationsmethoden kann man vermuten, daß der Welt im Resultat des zweiten Weltkrieges maximal 175 Millionen Menschen fehlen).

2

In allen demographischen Quellen wurde die Bevölkerungszahl für die Jahre 1940 und 1950 errechnet. Da zuverlässiges Zahlenmaterial über die Bevölkerungsstärke im letzten KTriegsjahr

206

S. I. BRUK

vor dem zweiten Weltkrieg betrug der durchschnittliche Jahreszuwachs der Weltbevölkerung gleichbleibend 1,2 Prozent, das heißt, die Bevölkerung der Erde vermehrte sich jährlich um 25 Millionen Menschen. Für die letzten 25 Jahre beträgt die Zuwachsrate 1,9 Prozent, das sind 58 Millionen Menschen, und für die letzten 10 Jahre sind es mehr als 67 Millionen Menschen. Die genannten Zahlen zeugen unbestreitbar von einer rasanten Beschleunigung des zahlenmäßigen Anwachsens der Weltbevölkerung; besonders beeindruckend sind dabei die absoluten Zahlen. In den letzten 55 Jahren wuchs die Bevölkerung Lateinamerikas und Afrikas am schnellsten an, während die Bevölkerung Nordamerikas, der UdSSR und besonders Europas (ohne den europäischen Teil der Sowjetunion) am langsamsten zunahm. Aber gerade diese Tendenzen blieben auch in den letzten 25 Jahren bestehen, wenn sich auch die Proportionen etwas verschoben haben. So beginnt Afrika mit dem Tempo seines Bevölkerungswachstums Lateinamerika einzuholen. (In den vergangenen 5 Jahren hat Afrika wahrscheinlich Lateinamerika schon eingeholt und sogar überflügelt.) Sehr hoch war auch der Bevölkerungszuwachs in Asien, in Europa blieb er weiter zurück. Das ungleichmäßige Bevölkerungswachstum in verschiedenen Erdteilen wurde insbesondere durch Migrationen aus Ländern Europas nach Amerika und Australien sowie durch die Folgen zweier Weltkriege mitbedingt. Letztere wirkten sich besonders einschneidend auf die Bevölkerungsstärke der UdSSR und der übrigen europäischen Länder aus; aber die entscheidende Rolle spielt hier der ungleiche natürliche Bevölkerungszuwachs. Im Ergebnis all dessen veränderte sich der Anteil, den bestimmte Gebiete der Welt an der Gesamtbevölkerung der Erde haben, ganz entscheidend. (So verringerte sich seit 1950 der Anteil der Bevölkerung Europas von 15,8 auf 12 Prozent, der Afrikas hingegen wuchs von 8,7 auf 10,2 Prozent an). Schon für die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts war ein relativ hoher Bevölkerungszuwachs charakteristisch, der sich in fast allen Teilen der Erde feststellen läßt, außer in dem hochurbanisierten Europa, das zudem eine bedeutende Anzahl Auswande-. rer nach Amerika und Australien abgab. Das jährliche Bevölkerungswachstum von 1,5 Prozent in Asien, Afrika und Amerika zeugt von einer allgemein vorherrschenden hohen Geburtenzahl, wobei aber zur gleichen Zeit die Sterblichkeit durchschnittlich um das Zweifache höher lag als in der Gegenwart. Mit vollem Recht kann man von einer zweiten „demographischen Explosion" sprechen, die nach dem ersten Weltkrieg einsetzte. Diese „Explosion" führte zu einer starken Tempobeschleunigung des Bevölkerungswachstums. Besonders schnell wuchs die Bevölkerung Asiens und Afrikas, in denen das natürliche Bevölkerungswachstum in Vergleich zu den1 beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts um das Mehrfache zunahm. Die Weltwirtschaftskrise am Beginn der dreißiger Jahre, die gespannte politische Lage in verschiedenen Teilen der Welt, die Vorbereitung des Krieges durch die reaktionären faschistischen Regime in Deutschland, Italien und Japan und danach auch der Ausbruch kriegerischer Konflikte in Äthiopien, China und Spanien mußten sich ebenfalls auf die demographischen Prozesse auswirken. Der mittlere jährliche Bevölkerungs(1945) fehlt, werden die Bevölkerungswerte vom Jahre 1975 mit den entsprechenden Werten für das Jahr 1950 verglichen.

Ethnodemographische Probleme

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Zuwachs ging in den dreißiger Jahren auf 1 Prozent zurück, und in einigen entwickelten kapitalistischen Ländern begannen sich deutliche Symptome einer Depopulation abzuzeichnen. Schon 1935 hatte in Frankreich die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten überschritten. Stark ging der Bevölkerungszuwachs im mächtigsten Land der kapitalistischen Welt, in den USA, zurück. Fait um ein Drittel verringerte sich das Tempo des Bevölkerungswachstums in Asien. Im Gegensatz zu dieser Tendenz wiesen die Länder Lateinamerikas ein durchschnittliches Bevölkerungswachstum auf, das sich sogar noch auf 1,8 Prozent jährlich vergrößerte. Der über die Völker der Sowjetunion hereingebrochene zweite Weltkrieg brachte ihnen auf allen Gebieten Elend und große Verluste: sehr hoch waren die Verluste an Menschenleben sowohl in den Reihen der Armee als auch unter der Zivilbevölkerung. Die Geburtenzahl sank stark ab und der Sterblichkeitsgrad nahm zu. (In vielen Ländern war während der Kriegsjahre die Geburtenzahl niedriger als die Sterblichkeit). In den vierziger Jahren fiel der durchschnittliche Zuwachs der Weltbevölkerung insgesamt auf 0,8 Prozent und in Europa sogar auf 0,3 Prozent. (Erst 1947 überschritt die Bevölkerungsstärke dieser Teile der Welt wieder den Vorkriegsstand). In der Sowjetunion, die die Hauptlast des Krieges zu tragen hatte und die größten Opfer an Menschen bringen mußte, verringerte sich die Bevölkerung in dem genannten Jahrzehnt um 15 Millionen Menschen. Der Vorkriegsstand wurde erst 1955 wieder erreicht. Das Tempo des Bevölkerungswachstums ging auch in Asien und Afrika zurück. Jedoch in den Ländern Amerikas, die nicht direkt vom Krieg berührt wurden, sowie auch in Australien begann die Bevölkerungszahl in beschleunigtem Tempo zu wachsen. Besonders trifft diese Feststellung auf Lateinamerika zu, wo der mittlere Bevölkerungszuwachs 2,4 Prozent im Jahr erreichte (eine bis dahin noch nie dagewesene Wachstumsrate 1). Man muß dazu jedoch feststellen, daß ungefähr ein Drittel dieses Zuwachses von Immigranten ausgemacht wurde, die in den ersten Nachkriegsjahren aus verschiedenen Ländern Europas einströmten. Die Zunahme der Geburtenzahl in der Periode nach dem zweiten Weltkrieg, die mit der Entlassung der Männer aus den Armeen und mit der Wiederherstellung unterbrochener Familienbeziehungen zusammenhing sowie mit der Wiederbelebung der Wirtschaft verbunden war, erwies sich in verschiedenen kapitalistischen Ländern als bedeutsamer und länger anhaltend als erwartet. Sie war in jedem Falle größer als nach dem ersten Weltkrieg. Das Ansteigen der Geburtenzahl wurde von einem starken Sinken der Sterblichkeit, besonders der Kindersterblichkeit, begleitet. Das resultierte aus den Erfolgen in der Medizin, vor allem durch das Erscheinen der Antibiotika. All das führte zu einem bedeutsamen Bevölkerungszuwachs in Europa, genau so wie in den entwickelten kapitalistischen Ländern in anderen Teilen der Welt. Seit Mitte, in einigen Ländern sogar seit Beginn der sechziger Jahre wandelte sich diese allgemeine Tendenz in der Mehrzahl der entwickelten Länder; es setzte ein Rückgang der Geburtenzahl ein, der die sinkende Sterblichkeitsrate überholte und zu einer allmählichen Verlangsamung des Tempos des natürlichen Bevölkerungszuwachses führte. Dieser Prozeß setzt sich bis zur Gegenwart fort. Anders gestaltete sich die demographische Situation in den Entwicklungsländern, die

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sich nach und nach aus der kolonialen und halbkolonialen Abhängigkeit befreiten. Die Tempobeschleunigung des Bevölkerungswachstums in diesen Ländern war in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem durch ein ganz wesentliches Sinken der Sterblichkeit, unter Beibehaltung einer hohen Geburtenzahl, gekennzeichnet. In einigen Ländern wuchs die Geburtenzahl sogar dank der Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung an. Die sinkende Sterblichkeit hing vor allem 'mit dem Rückgang der Sterblichkeit im Kindes- und Jugendalter infolge der Entwicklung des Geburtshilfewesens und der Durchsetzung elementarer Grundsätze des Gesundheitsschutzes und der Hygiene als auch mit der sinkenden Sterblichkeit der alten Menschen zusammen. Die Verbesserung allgemeiner sanitär-hygienischer Bedingungen und energische Maßnahmen im Kampf gegen Seuchen und gegen gefährliche Infektionskrankheiten, die in vielen Ländern mit Hilfe internationaler Organisationen durchgeführt wurden, führten in kurzer Zeit zu einer Verringerung des allgemeinen Sterblichkeitskoeffizienten um das Zwei- und Mehrfache. In Verbindung damit wird der jährliche natürliche Zuwachs in den Entwicklungsländern im Durchschnitt gegenwärtig 2,2 Prozent betragen. Das bisher Festgestellte bedeutet nicht, daß die Entwicklungsländer (vielleicht mit Ausnahme Lateinamerikas) den hauptsächlichsten demographischen Merkmalen nach schon mit den industriell entwickelten Staaten zu vergleichen wären. So besteht vor allem noch ein großer Unterschied in der Lebenserwartung (der Anteil von Personen im Alter von 60 Jahren und älter ist in den Entwicklungsländern um das 1,5- bis 2fache niedriger als in den entwickelten Ländern), in der allgemeinen Sterblichkeit (in den Entwicklungsländern insgesamt ca. 15, in den übrigen Ländern 9 Sterbefälle auf 1 000 Menschen jährlich) und besonders in der Kindersterblichkeit (durch letztere wird in der Hauptsache die relativ hohe allgemeine Sterblichkeit in den Entwicklungsländern bestimmt). Das Verhältnis der Kindersterblichkeit (bis zum 1. Lebensjahr) beträgt gegenwärtig in der Welt insgesamt ca. 80 Sterbefälle auf 1 000 Neugeborene (in ,den Entwicklungsländern im Durchschnitt hingegen ca. 100 Sterbefälle auf 1 000 Neugeborene; in den übrigen Teilen der Welt ca. 25 Sterbefälle auf 1 000 Geburten). In einer Reihe von Ländern Afrikas sterben von 1 000 Säuglingen 150 bis 200. Man kann für den Zeitraum vieler Jahre eine weltweite relative Stabilisierung des durchschnittlichen Wertes der Geburtenzahl konstatieren. Er verringerte sich nur in Nordamerika, in Europa und in der Sowjetunion. Erst in den zurückliegenden 5 Jahren begann sich die Geburtenzahl schließlich auch in Asien und Lateinamerika zu verringern. Dafür blieb jedoch die Sterblichkeitsquote in den entwickelten Ländern unverändert, während sie sich in den beiden jüngstvergangenen Jahrzehnten um das Anderthalbfache in allen anderen Gebieten der Welt verringerte. Diese Erscheinung führte zu einem gewissen Anstieg des relativen Bevölkerungszuwachses von durchschnittlich 1,6 jährlich in den Jahren 1953 bis 1957 auf 2 Prozent in den Jahren 1965 bis 1973. Erst in den letzten Jahren ging der Bevölkerungszuwachs auf 1,8 Prozent zurück. In der gleichen Zeit vertiefte sich die Diskrepanz zwischen den demographischen Werten der entwickelten Länder und der Entwicklungsländer, und es erhöhte sich der Anteil der Entwicklungsländer am allgemeinen Bevölkerungszuwachs relativ stark. So entfielen 1975 von der 70-Millionen-Bevölkerungszunahme allein 43 Millionen auf Asien (ohne die UdSSR), 12 Millionen auf Afrika, -8 Millionen auf Lateinamerika. Auf alle übrigen Gebiete der Erde ent-

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fielen nur 7 Millionen Menschen. Ihr Anteil am Gesamtzuwachs verringerte sich von 20 Prozent um die Mitte der fünfziger Jahre auf 10 Prozent in der Gegenwart. Somit kann man von einer völlig entgegengesetzten Tendenz in der Bevölkerungsdynamik der entwickelten Länder sprechen. Das Niveau von Geburtenzahl und Sterblichkeit wie auch ihre Wechselbeziehung in den Entwicklungsländern finden ihren Ausdruck in einer regional ziemlich großen Variabilität. In den letzten Jahren war die Geburtenrate in Afrika am höchsten, ca. 47 Promille, jedoch läßt sich doch auch hier die höchste Sterblichkeitsrate feststellen, nämlich 19 Promille. In Asien und Lateinamerika ist die Höhe der Geburtenzahl ungefähr gleich, jedoch ist die durchschnittliche Sterblichkeitsrate in Asien fast Um das l,5fache höher als in Lateinamerika, wenn auch nicht so hoch wie in Afrika. Im Endergebnis sind die Werte des natürlichen Zuwachses in Afrika und Lateinamerika am höchsten. Asien hat insgesamt eine etwas niedrigere Zuwachsrate. Trotz der allgemeinen Verringerung des natürlichen Bevölkerungszuwachses in den entwickelten kapitalistischen Ländern sind auch hier wesentliche Schwankungen zwischen unterschiedlichen Gruppen von Ländern festzustellen. Am stärksten sank der natürliche Bevölkerungszuwachs in den Ländern West- und Nordeuropas sowie in den USA. Zur gleichen Zeit stieg das Bevölkerungswachstum in Japan und in den Ländern Südeuropas sogar etwas an. Was die sozialistischen Länder betrifft, so ist in der Sowjetunion die Geburtenzahl etwas höher und die Sterblichkeit niedriger als in den kapitalistischen Ländern Europas und in den USA. Das führt im Endergebnis zu einem höheren natürlichen Bevölkerungszuwachs in der Sowjetunion. Die übrigen sozialistischen Länder Europas zeichnen sich durch niedrige Geburtenzahl, niedrige Sterblichkeit wie auch durch ein niedriges Tempo des natürlichen Bevölkerungszuwachses aus. In der Mongolischen Volksrepublik, der Koreanischen Volksdemokratischen Republik und in der Sozialistischen Republik Vietnam hielt die hohe Geburtenzahl bei stark fallender Sterblichkeit an. Auf Kuba sichern eine hohe Geburtenzahl und eine niedrige Sterblichkeit den hohen natürlichen Bevölkerungszuwachs. Obwohl offizielle Angaben aus China fehlen, schätzen ausländische Experten den natürlichen Bevölkerungszuwachs in diesem Land auf 1,4 bis 1,8 Prozent jährlich. E r ist damit niedriger als in anderen Ländern Asiens außer Japan und Israel. In Afrika gibt es kein Land, in dem der natürliche Bevölkerungszuwachs niedriger als 1,5 Prozent jährlich liegt. In Asien gibt es ebenfalls kein Land mit einem natürlichen Zuwachs von weniger als 1 Prozent. Zur gleichen Zeit weisen in Europa von 28 Ländern nur 4 Länder einen natürlichen Bevölkerungszuwachs von mehr als 1 Prozent auf. Es sind dies Albanien, Island, Rumänien und Spanien. Der höchste Zuwachs ist in Kenia, Libyen, Honduras (mehr als 3,5 Prozent), der geringste (weniger als 0,3 Prozent) in der B R D , D D R , Österreich, Finnland, Großbritannien, Belgien und einigen anderen Ländern Europas zu verzeichnen, wobei in der B R D und einigen anderen Ländern Europas in den letzten Jahren die Sterblichkeit höher lag als die Geburtenzahl. Eine Analyse demographischer Prozesse zeigt, daß die Veränderungen in der natürlichen Bevölkerungsbewegung in der Gegenwart insbesondere von der Dynamik der Geburtenzahl abhängen, da die Reserven zur Senkung der Sterblichkeit besonders in den entwickelten Ländern schon relativ erschöpft sind. 14

Kultur u. Ethnos

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Die Sterblichkeit in diesem oder jenem Land ist eng verbunden mit dem sozialökonomischen Entwicklungsniveau, mit dem Wohlstand der Bevölkerung und einem gut ausgebauten Gesundheitswesen. Der Prozeß sinkender Sterblichkeit vollzog sich nicht zufällig zuerst in Europa, das in seiner ökonomischen Entwicklung andere Teile der Welt überflügelte. Nicht zufällig ist auch, daß sich die Sterblichkeit in der UdSSR, wo der Gesunderhaltung des Menschen ungewöhnlich große Aufmerksamkeit geschenkt wird, im Vergleich zum Vorkriegsstand um die Hälfte verringerte. Jedoch muß man im Blick behalten, daß mit der Verringerung der Sterblichkeit langsam der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung anwächst. Unter ihnen ist die Sterblichkeit am höchsten. Im Ergebnis solcher Wandlungen in der Altersstruktur der Bevölkerung nimmt mit der Zeit die allgemeine Sterblichkeit etwas zu (das heißt zahlenmäßig, in bezug auf die Gesamtbevölkerung). Komplizierter gestaltet sich das Problem der Geburtenzahl. Die demographischen Prozesse werden einerseits von einem ganzen Komplex sozialökonomischer Faktoren und andererseits von der ihnen eigentümlichen bekannten Selbständigkeit und ihrem großen Beharrungsvermögen beeinflußt. Das demographische Verhalten in bezug auf die Geburtenzahl ist sehr konservativ, und in vielem ist es abhängig von den unter den Völkern existierenden Traditionen und Einstellungen. Selbst diese Traditionen erhalten oftmals ihre Kraft auch dann noch, wenn sich die sozial-ökonomischen Bedingungen, die sie hervorgebracht haben, grundlegend gewandelt haben. Deshalb haben in letzter Zeit Wissenschaftler, die die Probleme der Dynamik der Geburtenzahl der Bevölkerung erforschen, besondere Aufmerksamkeit der Untersuchung ethnischer Besonderheiten der Völker, ihren Traditionen, ihrer Lebensweise, den Sitten und Bräuchen wie auch der Analyse der sozialpsychologischen Aspekte geschenkt, ebenso wie den Ansichten, Haltungen und Vorurteilen. Unter den Ursachen, die einen Rückgang der Geburtenzahl hervorrufen, muß in erster Linie die Urbanisierung genannt werden, die breitere Einbeziehung der Frauen in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, der Anstieg ihres Bildungs- und Kulturniveaus, die Abnahme der Kindersterblichkeit, die Erhöhung des Heiratsalters u. a. Was die Entwicklungsländer betrifft, so sind in ihnen die genannten Faktoren noch nicjit ausreichend entwickelt; in bestimmtem Maße „werden sie gelöscht" durch die Traditionen des Kinderreichtums. (In den vergangenen historischen Epochen wurden diese Traditionen zur gesetzmäßigen Reaktion auf die bis dahin sehr hohe Sterblichkeit und sie widerspiegeln so das instinktive Bestreben des Volkes, „zu überleben"). In vielen Agrarländern, in denen die Kinder schon in jungen Jahren zur Arbeit herangezogen werden, wird eine große Kinderzahl immer noch als einer der Faktoren angesehen, der den Wohlstand der Familie sichert. Die Traditionen des Kinderreichtums sind in bedeutendem Maße auch mit einigen in den Entwicklungsländern verbreiteten Religionen verbunden. Sie waren auch die Widerspiegelung der sozial-erniedrigenden Lage der Frau, der bis in die jüngste Vergangenheit hinein die Rolle einer Haussklavin zugewiesen wurde, die dem Mann zu dienen, den Haushalt zu führen und Kinder zu gebären hat. Auf die Höhe der Geburtenzahl hatten die in diesen Ländern überall verbreiteten Traditionen der frühen Eheschließungen großen Einfluß. Die sozialökonomischen Umgestaltungen konnten vorläufig noch nicht entscheidend auf die in den Entwicklungsländern

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herrschenden Traditionen einwirken, und trotz der angenommenen Zahlenwerte ist die Geburtenzahl hier nach wie vor noch hoch.

II D i e sich stark verändernden Parameter der Reproduktion der Erdbevölkerung hatten großen Einfluß auf alle demographischen Indizien, und es vertieften sich die Unterschiede zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern weiter. In den vergangenen Jahrzehnten setzte eine zunehmende Nivellierung im Hinblick auf den Zeitpunkt der Eheschließung ein. In Gebieten der E r d e mit bisher vorherrschenden früh geschlossenen Ehen werden jetzt Braut und Bräutigam erwachsener, in E r d regionen mit bisher überwiegend spät geschlossenen Ehen sind die Eheschließenden jetzt jünger. D i e sozial-kulturellen Umgestaltungen, die Entwicklung des Bildungswesens, besonders dessen Zugänglichwerden für Frauen, die zunehmende Durchsetzung eines Familienmodells, das sich nur aus Eltern und Kindern zusammensetzt (das erfordert in der Regel ein eigenes Verfügen über Existenzmittel), führten dazu, daß in den Ländern mit traditionell frühzeitiger Eheschließung nun der Eintritt in die E h e in reiferem Alter erfolgt. In Städten, wo alle die bereits genannten Faktoren besonders stark ausgeprägt sind, setzt die Eheschließung in der Regel später ein als in ländlichen Gebieten. D e r Anteil der Personen, die keine Ehe eingehen, variiert in den verschiedenen Ländern zwischen 1 bis 2 Prozent und 10 bis 12 Prozent. E r kann sogar 15 bis 20 Prozent und mehr betragen. Besonders bemerkenswert ist hierbei wieder der Unterschied zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern. So waren in Europa zu Anfang der siebziger Jahre in acht Ländern mehr als 10 Prozent der Frauen im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ledig. In Irland waren es sogar 21 Prozent, in der Schweiz 17 Prozent und in Norwegen 16 Prozent. Für die Männer im gleichen Alter lag der entsprechende Anteil Unverheirateter etwas niedriger (es überwiegt also die Zahl lediger Frauen gegenüber der lediger Männer), jedoch ist er trotzdem relativ hoch. In Asien und Afrika ist der Anteil unverheirateter Männer und Frauen bedeutend geringer (2 bis 4 Prozent), wobei in einigen Ländern mit starkem Überwiegen lediger Männer der Prozentsatz unverheirateter Frauen sogar auf 0,5 bis 0,7 absinkt (Indien und Pakistan; der Prozentsatz unverheirateter Männer beträgt hier 3,2 bzw. 2,2). In den entwickelten Ländern geht die Zahl der Eheschließungen zurück, wobei ein bedeutendes zahlenmäßiges Übergewicht lediger Frauen zu konstatieren ist. In diesen Ländern wurde die kontinuierlich ansteigende Zahl von Ehescheidungen zu einem großen sozialen Problem. (In einigen Ländern werden 30 bis 50 Prozent aller geschlossenen Ehen wieder geschieden). Auch die Familienstruktur ist in den einzelnen Ländern stark unterschieden. In den entwickelten Ländern überwiegt die aus Mann und Frau mit ihren Kindern bestehende Familie, die Kleinfamilie. In den Entwicklungsländern hingegen ist die patriarchalische Familie (Eltern, ihre Söhne und deren Frauen sowie die Enkel) vorherrschend. D i e Durchschnittsgröße einer Familie ist in den europäischen Ländern am geringsten. D i e Familien zeichnen sich hier durch eine niedrige Geburtenzahl aus und sind zu einem 14*

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großen Teil Einkindfamilien. 3 - In Großbritannien, Ungarn, Norwegen, Frankreich und in der CSSR beträgt die Durchschnittsgröße einer Familie 3,1 Personen, in der B R D 2,9 und in Schweden nur 2,8 Personen. In einigen Entwicklungsländern liegt die Durchschnittsgröße einer Familie um das Doppelte höher: auf den Philippinen 5,6 Personen, in Kostarika 5,7, in Honduras 5,6 Personen usw. In der UdSSR beträgt die Durchschnittsgröße einer Familie 3,3 Personen, wobei diese Zahl in den Sowjetrepubliken Mittelasiens und in Aserbaidshan bedeutend höher, in den übrigen Gebieten der Sowjetunion hingegen niedriger liegt. Zu bemerken ist dazu auch, daß sich dieser Unterschied in den vergangenen 15 Jahren noch verstärkt hat. Es lassen sich zwei Haupttypen der Altersstruktur der Bevölkerung herauskristallisieren. Die Mehrzahl der Entwicklungsländer (mit großer Geburtenzahl, hoher Sterblichkeit, geringer durchschnittlicher Lebenserwartung) gehört zum ersten Typ, der sich durch einen sehr hohen Prozentsatz der Bevölkerung im Kindesalter und einen kleineren Anteil alter Menschen auszeichnet. Die Länder Europas, Nordamerika, Japan, Australien und Neu-Seeland stellen den zweiten Typ dar, mit einer niedrigen Geburtenzahl, mit niedriger Sterblichkeit und einer langen Lebenserwartung. Für diese Länder wiederum sind ein kleiner Anteil Kinder sowie ein hoher Prozentsatz alter Menschen an der Gesamtbevölkerung charakteristisch. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen von Ländern wird noch dadurch unterstrichen, daß der Anteil der produktiven Altersstufen an der Gesamtbevölkerung in den Entwicklungsländern, wo also mehr Kinder als alte Menschen leben, abnimmt. In bestimmten Ländern ist dieser Prozentsatz sogar stark fallend. Im ganzen gesehen wird fast die gesamte Periode nach dem zweiten Weltkrieg durch eine Verjüngung der Gesellschaft in der ersten Ländergruppe und durch seine Veralterung der Gesellschaft in der zweiten Gruppe von Ländern charakterisiert. Der Anteil von Kindern bis 15 Jahre in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas überschreitet gewöhnlich 40 Prozent der Bevölkerung. In einer Reihe von Entwicklungsländern macht dieser Anteil fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. In den entwickelten Ländern hingegen bewegt sich der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung zwischen einem Fünftel und einem Viertel. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Unterschied des im Kindesalter befindlichen Bevölkerungsanteils zwischen den Entwicklungsländern und entwickelten Ländern weiter ausgeprägt. Das zeigt sich insbesondere in der anhaltend hohen Geburtenzahl, bei einem starken Rückgang der Kindersterblichkeit in den Ländern der ersten Gruppe und dem Rückgang der Geburtenzahl und der Verlängerung der Lebenserwartung in den Ländern der zweiten Gruppe. Was die alten Menschen (älter als 60 Jahre) betrifft, so ist ihr hoher Anteil kennzeichnend für Länder mit einem niedrigen Prozentsatz an Kindern. Den höchsten Anteil älterer Leute (18 bis 22 Prozent) an der Gesamtbevölkerung weisen die D D R , Österreich, Schweden, England, Frankreich, Belgien sowie andere Länder Europas auf. Der niedrigste Prozentsatz alter Menschen findet sich in den Ländern Afrikas, Asiens und 3

Der Anteil der „Familien", die nur aus einem Menschen bestehen, macht bis zu einem Fünftel aller Familien Schwedens, der B R D , der D D R , Frankreichs und einiger anderer Länder Europas aus.

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Lateinamerikas vor. In einigen dieser Länder machen die .Menschen im höheren Lebensalter insgesamt nur 3 bis 5 Prozent der Bevölkerung aus. Die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung führt im Endergebnis in den beiden Gruppen von Ländern zu einer Verringerung der produktiven Altersgruppe. Während sich in entwickelten Ländern ein Zuwachs des spezifischen Anteils der alten Menschen ergibt, kommt es andererseits in den Entwicklungsländern zu einem schnelleren Anwachsen des Anteils der Kinder und auch zu einer langsamen Zunahme des Anteils von Personen im höheren Lebensalter. Alle diese Vorgänge rufen eine Reihe von ökonomischen, sozialen und medizinischen Problemen hervor. Die sogenannte „demographische Belastung", d. h. das Verhältnis zwischen der zahlenmäßigen Stärke der Kinder und alten Menschen und der quantitativen Größe der Personen im arbeitsfähigen Alter, das sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich manifestiert, wird im allgemeinen fast überall größer. Die Geschlechterstruktur der Bevölkerung wurde in großem Maße durch die Kriege beeinflußt. Die Verluste an Menschen waren in den Kriegen unter den Männern immer am höchsten. Bei der Herausbildung regionaler Disproportionen in der Geschlechterstruktur spielen Migrationen eine wichtige Rolle, in denen in der Regel die Zahl der Männer überwiegt. In der Nachkriegsperiode hatte vor allem der Altersunterschied in der Lebenserwartung bei den Männern und Frauen einen stärkeren Einfluß auf die Geschlechterstruktur. Wie auch bei anderen demographischen Merkmalen, so unterscheidet sich auch die Geschlechterstruktur in den Entwicklungsländern und in den entwickelten Ländern sehr stark voneinander. Sehr hoch ist die Zahl der Männer in Asien. Diese besonders starke Disproportion unter den Geschlechtern läßt sich vornehmlich in Südasien (30 Millionen mehr Männer) und in China (20 Millionen mehr Männer) feststellen. Hinzugefügt sei, daß nur in diesen Ländern die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen niedriger liegt als die der Männer. In der zweiten Gruppe (entwickelte Länder) wird die Zahl der Männer von der der Frauen überflügelt. Das hängt damit zusammen, daß der Unterschied in der durchschnitdichen Lebenserwartung zugunsten der Frauen besonders groß ist. Bei Frauen ist hier eine fast 5 Jahre längere Lebenserwartung anzutreffen. Unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution wächst der Urbanisierungsgrad der Gesellschaft beständig an. Im Jahre 1940 lebten 25 Prozent der Bevölkerung in Städten, 1950 waren es 29 und in der Folgezeit wurden es ca. 40 Prozent. Der Anteil der Stadtbevölkerung vergrößerte sich im Jahresdurchschnitt um ein halbes Prozent. Es ist natürlich, daß sich vor allem die Entwicklungsländer, besonders Asiens und Afrikas, in denen der Anteil städtischer Bevölkerung noch sehr gering ist, durch ein relativ hohes Tempo der Urbanisierung auszeichnen. In einer Reihe von Entwicklungsländern übertraf der Zustrom der Landbevölkerung in die Städte (besonders in die Großstädte, in erster Linie in die Hauptstädte) den Bedarf an Arbeitskräften. Das wiederum läßt das Heer der Arbeitslosen und der nur gelegentlich Beschäftigten anwachsen. Dennoch ist der Urbanisierungsgrad in Asien und Afrika um vieles geringer als in anderen Kontinenten. In Europa nimmt der Anteil städtischer Bevölkerung nicht wesentlich zu, in einigen Ländern verringert er sich sogar.

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Viele demographische Faktoren beeinflussen die Wandlungen in der ethnischen Struktur der Bevölkerung. Insbesondere veränderten Migrationsprozesse in der Nachkriegszeit ganz entscheidend die ethnische Zusammensetzung in einigen Gebieten der Erde. Einen noch größeren Einfluß auf die Dynamik der ethnischen Struktur übte das ungleichmäßige Tempo des natürlichen Bevölkerungszuwachses bei den einzelnen Völkern der Welt aus. Große Einwirkungen auf die ethnische Struktur der Weltbevölkerung gingen von sozialökonomischen Faktoren wie auch von vielen politischen Ereignissen der Nachkriegsperiode aus. Wir besitzen keine Möglichkeit, die Veränderungen der ethnischen Struktur der Bevölkerung für die gesamte Nachkriegsperiode nach 1945 zu analysieren, weil bis zu Beginn der sechziger Jahre im allgemeinen irgendwelche umfangreichere Zahlenangaben über die zahlenmäßige Stärke und die Verbreitung der Völker der Welt fehlen. Die vollständigsten Angaben (für 1961) wurden im „Atlas der Völker der Welt" (Atlas narodov mira) publiziert. Im Laufe von 14 Jahren (von 1961 bis 1975) vermehrte sich die Weltbevölkerung fast um 1 Milliarde Menschen, das heißt um ein Drittel. Jedoch war das Bevölkerungswachstum in verschiedenen Gebieten der Welt recht ungleichmäßig: die zahlenmäßige Zusammensetzung einzelner Völker nahm um mehr als das Anderthalbfache, ja sogar um das Doppelte zu. Andere Völker wiederum vergrößerten sich nur sehr unbedeutend. Innerhalb dieses Zeitraumes erhöhten von 257 großen Völkern mit mehr als 1 Million Menschen je Volk 102 Völker (die hauptsächlich in Entwicklungsländern leben) ihre zahlenmäßige Stärke um mehr als das Anderthalbfache und weitere 60 Völker um mehr als ein Dittel. In der gleichen Zeit nahm die Personenzahl der europäischen Völker um weniger als 15 Prozent zu, die vieler Völker Nord- und Westeuropas nur um 2 bis 7 Prozent.

III Nach den Prognosen der Demographen der UNO, die auf Angaben aus der Mitte und dem Ende der sechziger Jahre basieren, wird sich das Wachstum der Bevölkerung im kommenden Jahrzehnt im wesentlichen nicht verändern. Die in allen Ländern sinkende Geburtenzahl wird durch das ungefähr gleiche Sinken der Sterblichkeit in den Entwicklungsländern kompensiert. Von den Experten wurde errechnet, daß die „Spitze" des Bevölkerungswachstums schon erreicht wurde bzw. in den kommenden Jahren erreicht sein wird: in Europa 1950 bis 1955, in der UdSSR, in Nordamerika und Australien 1955 bis 1960, in Ostasien in den Jahren 1960 bis 1965, im übrigen Asien 1970 bis 1975, in Lateinamerika 1975 bis 1980, in Afrika 1985 bis 1990. Man nimmt an, daß im laufenden Jahrzehnt das Wachstum der Erdbevölkerung am intensivsten sein wird. Laut diesen Einschätzungen beginnt sich das Tempo des Bevölkerungswachstums ab 1985 zu verlangsamen. Der natürliche Bevölkerungszuwachs wird sich am Ende dieses Jahrhunderts von 2 auf 1,7 Prozent verringern. Es ist anzunehmen, daß die Geburtenzahl in der gesamten Welt von 34 auf 25 Prozent absinken wird. Gleichzeitig wird die Sterblichkeit von 14 auf 8 Prozent zurückgehen. Die wahrscheinliche Bevölkerungszahl der Erde wird im Jahre 2000 zwischen 5,5 und 7 Milliarden liegen. Ein Großteil der Experten rechnet mit einer sehr wahrscheinlichen Zahl von 6,5 Milliarden Menschen. Dabei

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vollzieht sich ein gewaltiger Wandel des Anteils der Erdteile an der Gesamtbevölkerung. Es wird angenommen, daß sich der Anteil Asiens an der Weltbevölkerung von 56,8 auf 58,2 Prozent, Afrikas von 10,2 auf 12,6 und Lateinamerikas von 8,1 auf 10 Prozent vergrößern wird. In gleicher Zeit wird sich der Anteil Europas von 12 auf 8,8 und Nordamerikas von 6 auf 5,1 Prozent verringern. Die neuesten statistischen Angaben erlauben es, diese Berechnungen zu korrigieren. Die Anfang der siebziger Jahre einsetzende Tendenz eines sinkenden natürlichen Bevölkerungswachstums in fast allen Gebieten der Erde wird sich in der Folgezeit noch weiter verstärken, wenn man die sinkenden Geburtenzahlen in Asien und Lateinamerika berücksichtigt. Man kann schon jetzt feststellen, daß der Höhepunkt des Bevölkerungswachstums der Erde bereits Ende der sechziger Jahre erreicht war. Was Afrika anbetrifft, so ist das der einzige Kontinent, in dem sich das Tempo des Bevölkerungswachtums noch weiterhin beschleunigen wird. In nicht mehr als 5 bis 10 Jahren wird sich dann auch dort die gleiche Erscheinung wie in der übrigen Welt vollziehen. Die Faktoren, die auf das Sinken des natürlichen Bevölkerungszuwachses einwirken, werden sich weiter entwickeln und man kann konstatieren, daß am Ende unseres Jahrhunderts der Bevölkerungszuwachs maximal nicht mehr als 1,5 Prozent jährlich betragen wird. Wenn man diese unserer Meinung nach maximale Größe des jährlichen natürlichen Bevölkerungswachstums von 1,8 Prozent für das laufende Jahrzehnt, 1,7 Prozent für die achtziger Jahre und 1,6 Prozent für die neunziger Jahre (mit einer Verringerung zu Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Prozent) zugrunde legt, so wird die Bevölkerungszahl der Erde im Jahre 1980 4,3 Milliarden, 1990 5,1 Milliarden und im Jahre 2000 etwas weniger als 6 Milliarden Menschen betragen. Nach den Prognosen einiger sowjetischer Wissenschaftler wird es im 21. Jahrhundert zu einer starken Verringerung des Tempos des Bevölkerungswachstums kommen. Nach den Berechnungen des bekannten sowjetischen Wissenschaftlers Urlanis wird Mitte des 21. Jahrhunderts die Gesamtzahl der Erdbevölkerung ungefähr 9 Milliarden und in der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts 11 bis 12 Milliarden Menschen betragen. Auf dieser Stufe kann der Stillstand des Bevölkerungswachstums oder doch nur ein unbedeutender Zuwachs erwartet werden.4

IV Im Jahr 1798 begründete der englische reaktionäre Priester T. R. Malthus in seinem Buch „Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz" die Theorie einer absoluten Überbevölkerung, nach der die Bevölkerung in geometrischer Progression, die Existenzmittel aber nur in arithmetischer Progression zunehmen würden. „ . . . Wenn der Bevölkerungsvermehrung kein Hindernis in den Weg gelegt wird, so wird sie sich alle 25 Jahre verdoppeln und in geometrischer Progression zunehmen". Im Endresultat tritt eine „absolute Überbevölkerung" ein.5 4

Vgl.

B.

Urlanis:

„Das

Bevölkerungswachstum

der Erde",

in:

Marksistsko-leninskaja

narodonaselenija, Moskau 1974, S. 237 f. ;

T. R. Malthus, Opyt o zakone narodonaselenija, Teil I, St. Petersburg 1868, S. 99.

teorija

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Indem sie sich auf diese erdachte Gesetzmäßigkeit stützen, versuchen die Malthusianer den werktätigen Schichten einzureden, daß an ihrer Armut und ihrem Elend die unabänderlichen Naturgesetze schuld sind, und sie selbst müßten daran interessiert sein, auf frühe Eheschließungen und die Zeugung von Nachkommen zu verzichten. Der Gesamtverlauf der sozialökonomischen Entwicklung der Menschheit bewies die wissenschaftlich völlige Unhaltbarkeit dieser inhumanen Theorie, nach der Seuchen, Kriege und andere Katastrophen, die großen Menschenmassen das Leben kosten, angeblich die Übereinstimmung zwischen der zahlenmäßigen Stärke der Menschen und den vorhandenen Existenzmitteln wieder herstellen würden. Der Malthusianismus wurde von den Klassikern des Marxismus-Leninismus entlarvt, indem sie aufzeigten, daß die Bevölkerungsentwicklung nicht nur von Naturgesetzen abhängt, sondern letztlich von den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt wird. Die neue demographische Situation, die nach dem zweiten Weltkrieg entstand, wurde von den Ideologen der Bourgeoisie zu neuen Attacken gegen den Marxismus, zur Rechtfertigung und Verteidigung des Kapitalismus ausgenutzt. Gegenwärtig kann man die bürgerlichen Wissenschaftler in zwei Gruppen einteilen: in die äußerst reaktionären Neomalthusianer und die sogenannten Liberalen. Sie und andere versuchen die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu verteidigen und zu rechtfertigen, während sie die Bedürfnisse der heranwachsenden Generation nicht befriedigen können. Während die ersteren Kriege als Mittel für die Lösung sozialer Probleme, die mit dem Bevölkerungswachstum verbunden sind, über die Maßen loben, suchen die Liberalen nach anderen Mitteln zur Erhaltung des Kapitalismus. Die Neomalthusianer propagieren eine Doktrin, deren Wesen in folgendem besteht: mit Hilfe der Geburtenkontrolle können alle grundlegenden sozialökonomischen Widersprüche des Kapitalismus überwunden werden. Ihrer Meinung nach ist erstens der Prozeß der Geburtenzahl ein rein biologischer Prozeß und nicht von sozialen Faktoren zu beeinflussen und zweitens dominiert die Reproduktion der Bevölkerung über die ökonomischen und sozialen Prozesse. Die Neomalthusianer behaupten auch, daß die Ressourcen der Erde begrenzt seien, die Fruchtbarkeit der Menschen hingegen unbegrenzt wäre. Sie lobpreisen die Vergangen^ heit, als die Fähigkeiten zur Vermehrung des menschlichen Geschlechts durch eine ganze Reihe nivellierender Faktoren kompensiert wurden: durch Hungersnöte, Epidemien und Kriege. Der bekannte amerikanische Demograph, der Neomalthusianer W. S. Thompson schreibt: „Das einzige zuverlässige Mittel, den Bevölkerungsdruck sowie die Spannungen und Unruhen, die er hervorruft, zu dämpfen, ist die Bevölkerungskontrolle... Eine Alternative zu einer solchen Kontrolle kann die Wiederherstellung der hohen Norm der Sterblichkeit - durch Hungersnöte, Elend und Armut, wie auch durch Krankheiten und möglicherweise auch durch einen heißen Krieg in nicht allzuferner Zukunft - sein".6 Ein anderer überzeugter Malthusianer, der französische Soziologe G. Bouthoul schreibt: „Es ist unmöglich, Harmonie unter den Nationen zu erreichen, wenn ihre zunehmende biologische Expansion - die Hauptquelle aller Aggressivität - nicht ausgeglichen wird . . . es ist nicht länger möglich, ernsthaft über Abrüstung zu sprechen, ohne eine demo8

W. S. Thompson, Population and Progress in the Far East, Chicago 1959, S. 399.

Ethnodemographische Probleme

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graphische Abrüstung." 7 Der frühere Ideologe des faschistischen Deutschlands, K. H. Pfeffer, propagiert nicht nur malthusianische, sondern auch rassistische Ideen. In einer seiner Arbeiten 8 vertritt er eine Theorie, nach der die Europäer nicht zulassen dürften, daß die Eingeborenen der Kolonialländer Bildung erhalten können, da sie dadurch ihre menschliche Würde empfänden. Er spricht davon, daß der soziale Fortschritt und die Entwicklung der Medizin den Entwicklungsländern nur Schaden zugefügt hätten: sinkende Sterblichkeit, keinen Rückgang der Geburtenzahl; während nur die Begrenzung der Geburtenzahl, nach Auffassung von Pfeffer, der einzig mögliche Weg einer progressiven Entwicklung für diese Länder sei. Er bedauerte, daß die grausamen und groben Mittel der Begrenzung des Bevölkerungswachstums - die jedoch „für die Gesellschaft Rettungsmittel sind" - nicht mehr angewandt werden und „daß der ganzen Welt die Gefahr droht, in der ungeordneten Masse von Eingeborenen unterzugehen". Gegenwärtig gibt es nur noch wenige Wissenschaftler, die rein biologische Positionen zur Erklärung der Wechselbeziehung von ökonomischer Entwicklung und Bevölkerungsentwicklung beziehen. Auch nur wenige unter den bürgerlichen Wissenschaftlern negieren dabei die sozialen Faktoren. Die Scheidung zwischen Malthusianern und Antimalthusianern beginnt, wenn es darum geht, die Überbevölkerung als etwas Natürliches und Unvermeidliches oder aber als durch die sozialökonomische Struktur unter verschiedenen konkret-historischen Bedingungen Hervorgerufenes anzuerkennen sowie als Ursache für die große Armut die hohe Zahl von Werktätigen oder vielmehr deren Ausbeutung verantwortlich zu machen. Die liberale Richtung in der gegenwärtigen bürgerlichen Wissenschaft vertritt der französische Soziologe und Demograph A. Sauvy. Er ist der Meinung, daß die physiologische Fruchtbarkeit (Fertilität) eine feste Größe sei. Das bedeutet, daß Veränderungen im Wachstumstempo der Bevölkerung das Ergebnis von den Veränderungen sein können, denen die soziale Fruchtbarkeit unterworfen ist.9 Durch sozialökonomische Ursachen bedingt, erklärt er den Rückgang der Geburtenzahl in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Nach Meinung von Sauvy trägt die Überbevölkerung relativen Charakter. „Wenn es viele arme Länder mit großer Überbevölkerung gibt, mit einer Bevölkerung, die unterernährt ist, die nur ungenügend beschäftigt werden kann, die verarmt ist, so erklärt sich daraus, daß die Ressourcen und die Möglichkeiten der heutigen Technik schlecht ausgenutzt w e r d e n . . . Man meint, es gäbe übermäßig viele Menschen, also wird die Notwendigkeit hervorgehoben, seine Zuflucht in demographischen Mitteln zu suchen: Emigration, Schwangerschaftsverhütung (und einige könnten sogar auf den Gedanken kommen: würden nicht Epidemien die Bevölkerung stärker dezimieren?), obgleich sich bei einer Konzentration der Aufmerksamkeit auf die technische Rückständigkeit Vorschläge für eine völlig andere Ordnung ergeben: die Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, Bildung und Aufklärung usw.".10 7 8 9 10

G. Bouthoul, La Sur population, Paris 1964, S. 5. K. H. Pfeffer, Die Sozialen Systeme der Welt, Düsseldorf 1961, S. 248, 289. A. Sauvy, Malthus et les deux Marx, Paris 1963, S. 81. Ebenda, S. 121 f.

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S. I. BRUK

Trotz dieser im Grunde richtigen Ideen dramatisiert Sauvy ungerechtfertigt die Probleme der Bevölkerungsentwicklung und bezeichnet unsere Zeit als die „Epoche der demographischen Revolution". Er schlägt den führenden Ländern .vor, ihre Streitigkeiten zu begraben und sich zusammenzuschließen, um „mit dem Problem der Geburtenbegrenzung fertig zu werden". Die sowjetischen marxistischen Wissenschaftler haben großen Anteil an der Entlarvung des Malthusianismus. Seine Menschenfeindlichkeit, sein tief reaktionärer Charakter, wurde sehr überzeugend in den Arbeiten sowjetischer Ökonomen, Soziologen, Demographen und Ethnographen aufgezeigt. Dies führte zu einer zunehmenden Isolierung, in die schließlich die eifrigsten Malthusianer gerieten. Die Marxisten betrachten die Bevölkerung als eine sozial-biologische Kategorie unter dem Primat des Sozialen: demographische Prozesse hängen in erster Linie vom ökonomischen System und der sozialen Struktur der Gesellschaft ab, deshalb kann eine solche Maßnahme wie die Geburtenkontrolle nur eine Hilfsfunktion im Hinblick auf gründliche soziale und ökonomische Veränderungen in den Entwicklungsländern haben. Tatsächlich erschweren in diesen Ländern die noch erhalten gebliebenen Reste der vorkapitalistischen Agrarökonomie, das niedrige Nationaleinkommen, die Massenarbeitslosigkeit, das Analphabetentum und das schnelle Wachstum der Bevölkerung die soziale und ökonomische Entwicklung. Nicht ohne Grund werden in mehr als dreißig dieser Länder Programme zur Geburtenkontrolle durchgeführt. Jedoch ist eine gründliche Lösung dieser Frage mit tiefgehenden sozial-ökonomischen Umwandlungen, mit der Befreiung der nationalen Wirtschaft von ausländischer Abhängigkeit, mit der industriellen Entwicklung und dem Wachstum der Städte, der Entwicklung von Volksbildung und Wissenschaft, mit Agrarreformen, mit der Liquidierung archaischer Überbleibsel in der Lebensweise u. a. verbunden. Die natürlichen Ressourcen der Erde unter den Bedingungen ihrer rationellen Nutzung sind in der Lage, eine bedeutend höhere Anzahl Menschen zu ernähren als die in der Gegenwart. Es ist interessant festzustellen, daß die Mehrzahl der Vertreter von Entwicklungsländern auf der 1974 in Bukarest stattgefundenen Weltbevölkerungs-Konferenz unterstrichen hat, daß die Lösung der mit der Bevölkerungsentwicklung verbundenen Probleme die wirtschaftliche Entwicklung einschließen muß und nicht nur in den Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung bestehen kann. Auf die Möglichkeiten einer Stabilisierung der zahlenmäßigen Stärke der Weltbevölkerung unter den Bedingungen der Herrschaft neuer gesellschaftlicher Beziehungen wies schon F. Engels hin: „Die abstrakte Möglichkeit, daß die Menschenzahl so groß wird, daß ihrer Vermehrung Schranken gesetzt werden müssen, ist ja da. Sollte aber einmal die kommunistische Gesellschaft sich genötigt sehn, die Produktion von Menschen ebenso zu regeln, wie sie die Produktion von Dingen schon geregelt hat, so wird gerade sie und allein [sie] es sein, die dies ohne Schwierigkeiten ausführt." 11 11

K . Marx/F. Engels, Werke, Bd. 35, Berlin 1967, S. 151.

Tibor Bodrogi

Grundzüge der Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

Die philosophischen Grundlagen der Theorien von C. Lévi-Strauss werden gewiß häufiger erörtert als seine fachwissenschaftlichen Aktivitäten, obschon auch diesbezügliche Kritiken keineswegs selten sind. Es ist der Unbewandertheit der Philosophen in der Fachwissenschaft zuzuschreiben, daß z. B. der ungarische Philosoph J. Kelemen, der sich mit dem französischen Strukturalismus befaßt und ihn in ideologischer Hinsicht negativ einschätzt, folgendes behauptet: „In den Fachwissenschaften, das heißt, bei der Darstellung eines aus dem System der Zusammenhänge herausgegriffenen Gebietes der Wirklichkeit, kann die Anwendung der Elemente der strukturalistischen Methode zum Erfolg führen." 1 Um diese Frage klarstellen zu können, müssen wir jene Arbeit von Lévi-Strauss analysieren, die nicht bloß zur Schilderung seiner Theorie und seiner Methode geeignet ist, sondern auf dem Wege eines konkreten Beispiels zu einem Ergebnis gelangt, dessen Richtigkeit oder Irrtümlichkeit den Wert des ganzen Systems bestimmt. Diese Arbeit ist - gegenüber dem allgemein gehaltenen Werk „Social Structure"2 - die Abhandlung „Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie", die zuerst im Jahre 1945 in der Zeitschrift „Word" erschienen ist.3 Lévi-Strauss beginnt mit der Feststellung, die Linguistik sei die höchstentwickelte, ja, sogar die einzige Gesellschaftswissenschaft, die eine positive Methode zustande gebracht habe und die den Kern der ihrer Analyse unterzogenen Fakten kenne. Es sind vor allem die vier Grundschritte der phonologischen Methode, die von der Ethnologie methodologisch genutzt werden können. Unter den vier Grundschritten meint der Verfasser folgendes: 1. Die Phonologie schreitet von den bewußten sprachlichen Erscheinungen in Richtung der unbewußten inneren Struktur weiter; 2. die Ausdrücke behandelt sie nicht als unabhängige Entitäten, sondern betrachtet vielmehr die Verbindungen zwischen den Ausdrücken als Grundlagen ihrer Analyse; 3. sie führt den Begriff des Systems ein; 4. sie setzt sich die Entdeckung allgemeiner Gesetze zum Ziel, die sie entweder auf induktivem Wege oder durch logische Deduktion findet, und die infolgedessen einen absoluten Charakter gewinnen. 1

1

J. Kelemen, „Marxizmus és .Strukturalizmus'", in: Magyar Filozófiai Szemle, XIII, 1969, 4, S. 7 0 9 - 7 1 5 . C. Lévi-Strauss, „Social Strutture", in: Anthropology To-Day, hg. v. A. L. Kroeber, Chicago 1953, S. 5 2 4 - 5 5 3 ; derselbe, Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M. 1967, S. 2 9 9 - 3 4 6 . Ebenda, S. 4 3 - 6 7 .

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T. BODROGI

Auf dem Gebiet der Soziologie finden wir vor allem bei den Verwandtschaftsproblemen eine Situation, die der Form nach den vom phonologischen Sprachwissenschaftler untersuchten Problemen analog ist: den Phonemen ähnlich sind auch die Verwandtschaftsbezeichnungen Bedeutungselemente, die erst mit ihrer Einstufung in das System ihre Bedeutung erhalten. Sowohl die verwandtschaftlichen als auch die phonologischen Systeme werden auf der Ebene des unbewußten Denkens geschaffen. Schließlich führt die Wiederholung der Verwandtschaftsformen, der Eheregeln und gewisser Verhaltensweisen bei bestimmten Verwandtschaftssystemen in entfernten Gebieten und bei höchst unterschiedlichen Gesellschaften zu der Vermutung, daß die beobachteten Erscheinungen vom Wirken allgemeiner, jedoch latenter Gesetze herrühren. Das Problem ist also folgendermaßen zu formulieren: Die verwandtschaftlichen Erscheinungen sind in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit typengleich als die sprachlichen. Darf aber die Soziologie die Methode der Phonologie anwenden, um im eigenen Bereich vorwärtszukommen? Die Frage möchte Lévi-Strauss durch die Analyse eines konkreten Falles erläutern. Er stellt fest, daß der Begriff, der im allgemeinen als „Verwandtschaftssystem" bezeichnet wird, eigentlich zwei verschiedene Ordnungen zum Inhalt hat. Es gibt vor allem Termini, in denen die verschiedenen verwandtschaftlichen Beziehungen zum Ausdruck kommen. Die Verwandtschaft wird jedoch nicht nur in der Nomenklatur ausgedrückt, vielmehr fühlen sich die Einzelpersonen oder die Klassen der Individuen, di« sich dieser Ausdrücke bedienen, zu einem gegenseitig bestimmten Verhalten verpflichtet (oder auch nicht), wie Respekt oder Vertraulichkeit, Recht oder Pflicht, Sympathie oder Antipathie. Neben dem „Benennungssystem" gibt es also noch ein zweites System psychologischer und gesellschaftlicher Art, welches „Haltungssystem" genannt wird. Dem letzteren obliegt die Funktion, die Kohärenz und das Gleichgewicht der Gruppe zu sichern, doch wissen wir nicht, wie die Verbindung zwischen den verschiedenen Verhaltensweisen ist. Beim Benennungssystem kennen wir also das System, aber nicht die Funktion, während beim Haltungssystem, gerade umgekehrt die Funktion bekannt und das System unbekannt ist. Hier sei bemerkt, daß Lévi-Strauss den Standpunkt, wonach das Benennungssystem das Haltungssystem widerspiegelt - ich würde übrigens statt Haltungssystem lieber „interpersonelles Haltungssystem" sagen - , mit dem einfachen Argument zurückweist, die verwandtschaftlichen Ausdrücke spiegelten das gesellschaftliche Verhalten nicht genau wider. Das stimmt zweifellos; denn 1. ist die ideale Verhaltensnorm nicht in jedem Fall mit dem tatsächlichen Verhalten identisch, ist also kein Gesetz, sondern bloß eine Tendenz; 2. die verwandtschaftlichen Termini bezeichnen zum Teil kein verhaltensbedingtes, sondern ein genealogisches Verhältnis ; 3. es gibt Termini, die in einem gegebenen System nur Überreste („survivals") sind und ein effektiv nicht mehr funktionierendes Verhältnis bezeichnen. Die Widerspiegelung ist also in der Tat nicht genau, doch bleibt davon das Wesentliche unberührt, da wir kein Beispiel dafür haben, daß sich für ein effektiv funktionierendes verwandtschaftliches Verhältnis kein adäquater Terminus entwickelt hätte. Offenbar kann also die Kenntnis des terminologischen Systems die Kenntnis des Verwandtschaftssystems nicht ersetzen, doch ist meines Erachtens die Feststellung von Lévi-Strauss unzutreffend, wonach es zwischen diesen beiden einen tiefgründigen Unterschied geben soll. Mit dem, was Lévi-Strauss des weiteren über die unklaren, nicht ausdrücklichen und institutionalisierten Verhaltensarten schreibt, sind wir im übrigen

Zur Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

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einverstanden, wobei wir allerdings bei unserer Ansicht bleiben, daß das Verhalten ebenso die Konsequenz der in gesellschaftlicher Kooperation manifestierten effektiven gesellschaftlichen Verhältnisse ist, wie deren sprachliche Bezeichnung: der Terminus, Träger eines bestimmten Inhaltes. In Weiterführung seines Gedankenganges behauptet Lévi-Strauss, zwischen dem terminologischen und dem Verwandtschaftssystem bestünden wechselseitige Beziehungen, doch seien wir aufgrund methodologischer Überlegungen berechtigt, die dem einen oder dem anderen System angehörenden Probleme getrennt zu behandeln. Untersuchen wir also ein Problem, welches mit Fug und Recht als Ausgangspunkt der „Verhaltenstheorie" gelten kann, nämlich das Verhältnis zwischen dem Onkel mütterlicherseits (avunculus) und dem Sohn der Schwester, zumal wir dieses Verhältnis bei zahlreichen primitiven Gesellschaften vorfinden. Die Fragestellung ergibt sich aus einer mit der Sprachwissenschaft analogen Situation. Ebenso wie jede Sprache aus der Menge der möglichen Laute nur einen bestimmten Teil auswählt, selektiert auch der Mensch für Verhaltenszwecke nur einige der möglichen interpersonellen Beziehungen. Nebenbei bemerkt: Der Kreis der möglichen Beziehungen und Kombinationen ist beschränkt, während die „Wahl" kausal determiniert ist. Für die ehelichen Beziehungen zwischen Mann und Frau gibt es z. B. nur vier mögliche Modalitäten : ein Mann - eine Frau, ein Mann - mehrere Frauen, eine Frau - mehrere Männer, mehrere Männer - mehrere Frauen. Es kann alsb gefragt werden, was der tiefere Grund der Auswahl ist and nach welchen Gesetzen die Kombinationen entstehen. Vor einer Untersuchung der Frage führt Lévi-Strauss die Avunkulatstheorie von Radcliffe-Brown an. Laut Radcliffe-Brown umfaßt das Avunkulatsverhältnis zwei entgegengesetzte Verhaltensgruppen, ein Gegensatzpaar: Ist der Neffe dem Onkel gegenüber vertraulich, so verhält er sich unfreundlich zum Vater, und umgekehrt. RadcliffeBrown erklärt das Gegensatzpaar mit der Abstammung: Im Falle einer patrilinearen Abstammung verkörpert der Vater die Autorität der Sippe, der Onkel ist also gleichsam eine „männliche Mutter", wogegen bei matrilinearer Abstammung der Onkel mütterlicherseits die Autorität der Sippe repräsentiert; das Verhalten ihm gegenüber ist also formell und steif. Laut Lévi-Strauss läßt aber diese Erklärung zwei Fragen auch weiterhin offen. Zum einen kommt das Avunkulat nicht in jedem patrilinearen und matrilinearen System vor, zum anderen umfaßt das Onkelverhältnis eine Beziehung von vier Termini und nicht von einem. Es genügt also nicht, das Verhältnis Vater - Sohn und Onkel - Schwesterssohn zu untersuchen, denn diese wechselseitigen Relationen sind Aspekte eines umfassenden Systems, in dem vier Beziehungstypen miteinander verbunden sind : Bruder - Schwester, Gatte - Gattin, Vater - Sohn, Onkel mütterlicherseits - Schwesterssohn. Betrachten wir nun diese vier Beziehungen in verschiedenen patrilinearen und matrilinearen Gesellschaften, so zeigt sich, daß das gegenseitige Verhalten der in den einzelnen Beziehungen vorkommenden zwei Personen entweder von Innigkeit, Intimität, Liebe usw. oder von Feindseligkeit, Schroffheit, Steifheit usw. geprägt ist, und zwar so, daß je zwei der vier Beziehungen als negativ bzw. als positiv zu bezeichnen sind. Diesem Zusammenhang ist folgendes Gesetz zu entnehmen : Die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe verhält sich zur Beziehung Bruder - Schwester wie die Beziehung Vater - Sohn zur Be-

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T. BODROGI

Ziehung Gatte - Gattin. Ist also das eine Beziehungspaar bekannt, so kann daraus das andere jederzeit abgeleitet werden. Die negativen und positiven Beziehungen sind freilich nicht auf die erwähnten Verhaltenstypen reduzierbar, genauer formuliert: die elementaren Verhaltensweisen bedeuten freiwillige Gegenseitigkeit ( = ) , erzwungene Gegenseitigkeit ( + ) , Recht ( + ) und Pflicht (—). Da wir aber die Grundbeziehung zwischen den Gegensatzpaaren sowohl bei patrilinearer als auch bei matrilinearer Abstammung finden, ist es evident, daß die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe einem System angehört und daß dieses in seinem vollen Zusammenhang betrachtet werden muß, damit die Struktur bemerkbar wird. Diese Struktur beruht auf vier Mitgliedern (Bruder, Schwester, Vater, Sohn), die von zwei aufeinander bezogenen Gegensatzpaaren zusammengehalten sind, und zwar so, daß in jeder der beiden betroffenen Generationen eine positive und eine negative Beziehung vorhanden ist. Also:

oder

usw.

Diese Struktur ist die denkbar einfachste Verwandtschaftsstruktur, die es nur geben kann: es ist das eigentliche Verwandtschaftselement. Seine Behauptung untermauert Lévi-Strauss mit einem logischen Argument: Damit eine Verwandtschaftsstruktur überhaupt existieren kann, müssen drei Typen der Beziehungen zusammentreffen: Blutsverwandtschaft, Ehe, Abstammung. Wie ergibt sich aber daraus das weiter nicht mehr reduzierbare Verwandtschaftselement? Lévi-Strauss leitet dies vom allgemeinen Bestehen des Inzestverbots ab, was soviel bedeutet, daß ein Mann in der menschlichen Gesellschaft eine Frau nur von einem anderen Mann erhalten kann, der ihm diese Frau - seine Tochter oder Schwester - überläßt. Es bedarf also keiner besonderen Erklärung, wieso der Onkel mütterlicherseits in der Verwandtschaftsstruktur vorkommt: er erscheint nicht, sondern ist zwangsläufig zugegen, denn er ist die Voraussetzung des Daseins des Verwandtschaftselements". Ich glaube, es muß nicht ausführlicher dargelegt werden, welche Bedeutung dem Endergebnis des Gedankenganges bzw. der Ableitung von Lévi-Strauss zukommt. Wollte man ihm folgen, so hätte die Sozialanthropologie (im weiteren Sinne: die Soziologie) erstens in der phonologischen Methode ein objektives Instrument von fast naturwissenschaftlicher Exaktheit zur Erschließung der gesellschaftlichen Gesetze gefunden. Zweitens würde durch die Anwendung dieser Methode die Aufstellung automatisch funktionierender struktureller Gesetze (die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe verhält sich zu . . . wie . . . usw.) ermöglicht. Im vorliegenden Falle fände nicht nur das Problem des Avunkulats eine befriedigende Lösung, sondern auch für das weiter nicht mehr reduzierbare Verwandtschaftselement, die einfachste Struktur aller menschlichen Beziehungen, die elementare Zelle der Gesellschaft. Nur: treffen die Prämissen zu und

Zur Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

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fügen sich die anscheinend fest zusammengeschmiedeten Glieder der logischen Kette tatsächlich ineinander? Es läßt sich vor allem darüber streiten, ob es zulässig ist, von einem avunkularen Verhältnis in solchen Fällen zu sprechen, wenn die Beziehung Onkel mütterlicherseits Neffe „verschwommen, nicht ausdrücklich" ist, wenn sie also kein institutionalisiertes Verhältnis darstellt und folglich gesellschaftlich ungeregelt ist. Wir wollen immerhin Lévi-Strauss das Recht einräumen, auch die „nicht ausdrückliche" Beziehung in Betracht zu ziehen und kommen auf die Frage zu sprechen: Darf man - wie Lévi-Strauss es tut den Zusammenhang zwischen der Abstammung und der Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe außer acht lassen? Das Problem wurde von Homans und Schneider in ihrer Arbeit - erschienen 1955 - erörtert. Sie untersuchten die bekannten Fälle der präferenziellen asymmetrischen ehelichen Querverbindungen zwischen Geschwisterkindern (vorgeschriebene oder empfohlene Ehe mit der Tochter des Onkels mütterlicherseits bzw. der Tante väterlicherseits) und gelangten zur Feststellung, daß „in 22 der 26 Gesellschaften, wo die Ehe mit der Tochter des Onkels mütterlicherseits die präferierte Form darstellt, eine patrilineare Abstammungsordnung herrscht, während in 5 von 7 Gesellschaften, die die Ehe mit der Tochter der Tante väterlicherseits präferieren, die Abstammung matrilinear ist". 4 Obschon die Korrelation nicht hundertprozentig ist, läßt sich dennoch eine so starke Korrelationstendenz zwischen der mütterlichen oder väterlichen Seite der Präferenz und der Abstammung nachweisen, daß sie nicht mehr ignoriert werden kann. Können wir außerdem die These von Lévi-Strauss akzeptieren, wonach die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe das Verhältnis zwischen vier Mitgliedern (Bruder, Schwester, Schwager, Neffe) umfaßt? Die Feststellung von Radcliffe-Brown wird von Lévi-Strauss nicht erwähnt und folglich auch nicht widerlegt: „Nach unseren gegenwärtigen Angaben ist überall, wo wir den Onkel mütterlicherseits für wichtig halten, auch die Tante väterlicherseits von Bedeutung, wenn auch auf andere Art. Der Brauch, wonach sich der Sohn der Schwester seinem Onkel mütterlicherseits Freiheiten herausnehmen darf, scheint im allgemeinen mit besonderem Respekt und Gehorsam der Tante väterlicherseits gegenüber einherzugehen".5 Pflichten wir dieser Feststellung bei - und wir können ja nicht anders, denn es sind uns zahlreiche Beispiele dieser Tendenz bekannt - , so müssen wir die vier Beziehungstypen auch mit der Beziehung Tante väterlicherseits Bruderssohn ergänzen, und zwar nicht nur wegen dem tatsächlichen Vorhandensein des institutionalisierten Verhaltens, sondern auch wegen der bereits erwähnten Präferenz der patrilateralen ehelichen Querverbindungen der Geschwisterkinder. Hier könnte man noch fragen, warum im elementaren Beziehungspaar die Beziehung Vater - Tochter und Onkel mütterlicherseits - Schwesterstochter fehlen, denn außer den bekannten, wiewohl nicht häufigen Fällen einer Ehe Onkel mütterlicherseits - Nichte auch die Verbindung des Onkels mit der Tochter seiner Schwester (ähnlich oder gleich wie die Beziehung zum Neffen) beachtenswert ist. Als Beispiel wollen wir die zentralen Bantu-Stämme anführen, wo „der Khazi (Onkel mütterlicherseits, T. B.) erscheint, wenn der Sohn oder 4

M. Harris, The Rise of Anthropological Theory, New York 1968, S. 502.

5

A . R. Radcliffe-Brown, Structure and Function in Primitive Society, London 1952, S. 17.

224

T. B O D R O G I

die Tochter seiner Schwester krank i s t . . . E r bestreitet die Heiratskosten der Söhne . . . E r nimmt die für die Töchter bezahlte Summe entgegen".6 Betrachten wir nun das nächste Kettenglied, die Gegensatzpaare des Verhaltens und das Gesetz, das sich auf ihr Verhältnis bezieht. Hier können gleich zwei Gegenargumente vorgebracht werden. Das eine stellt die Frage: Haben wir es im Falle dieser Struktur tatsächlich mit einem Verwandtschaftselement zu tun? Wenn ja, dann müßten wir diesen Verhaltensbeziehungen und Gegensatzpaaren in jedem Verwandtschaftssystem begegnen. Auf diese Einwendung kommt auch Lévi-Strauss zu sprechen und beantwortet sie mit der Voraussetzung zweier Stufen: Die der ersten angehörenden Verwandtschaftssysteme sind aus der Superposition elementarer Strukturen entstanden, hier bleibt die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe stets sichtbar; die zweite ist ebenfalls eine einheitliche Konstruktion des Systems, enthält aber schon eine komplexere Ordnung, hier verschwindet bereits die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe im differenzierteren Rahmen. Da Lévi-Strauss die Verwandtschaftssysteme weder der ersten noch der zweiten Stufe determiniert, ist seine Hypothese meritorisch schwerlich zu behandeln; dennoch glauben wir, in der Voraussetzung der zwei Stufen einen Widerspruch zu erkennen. Wenn man die Einfachheit oder Komplexität der Struktur als Scheidelinie betrachtet, so müßte die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe in den „einfachen" Verwandtschaftssystemen, vor allem also im System der sogenannten zivilisierten Gesellschaften vorhanden sein, ist es aber nicht; sie ist hingegen gerade in jenen Gesellschaften zu finden, wo infolge der Primitivität des allgemeinen Organisationsniveaus die Verwandtschaft eine große Bedeutung hat, weshalb auch die Organisation differenziert und komplex ist. Doch nehmen wir an, daß die Beziehung O n k e l - N e f f e bzw. das erwähnte Verwandtschaftselement für die primitiven Gesellschaften charakteristisch ist. In diesem Falle kämen wir zum logischen Schluß, daß die Gegensatzpaare bzw. die sich daraus ergebenden Gesetze, wenn auch nicht überall, so doch in vielerlei Gesellschaften, in den allerprimitivsten jedoch schlechthin immer existieren müßten. Hier stellt sich aber das Problem, daß es höchst schwierig oder gar unmöglich ist, die fraglichen Verhältnisse nach dem von LéviStrauss angegebenen Schema zu charakterisieren.7 Kontrollhalber unternahm ich den Versuch, die Verhältnisse eines der bestbekannten australischen Verwandtschaftssysteme, des Murngin, auf diese Weise zu charakterisieren. Die Beziehung Bruder - Schwester ist infolge des starken Vermeidungstabus eindeutig negativ, ebenso auch die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe, doch die Beziehungen Vater - Sohn und Gatte - Gattin lassen sich mit diesen Kategorien kaum charakterisieren. Um aber bei unserem Beispiel zu bleiben: es zeigte sich auch hier, daß es neben der Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe auch die institutionalisierte Beziehung Tante väterlicherseits - Neffe gibt, und daß die als negativ geltende Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe eine Folge der matrilateralen ehelichen Querverbindungen der Geschwisterkinder ist: der Onkel ist nämlich ein potenzieller oder gar effektiver Schwiegervater, dem der Sohn als Ablöse 6

Zitiert nach T . Bodrogi, „A néprajzi terminología kérdéséhez. Társadalomszervezet:

vérségi

kapcsolatok", in: Ethnographia, Bd. 68, 1957, S. 1 5 - 1 6 . 7

W. L. Warner, A Black Civilization. A Study of an Australian Tribe, New York 1958, S. 52 bis 124.

Zur Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

225

für die Braut regelmäßige Geschenke gibt. Die Fälle der von Lévi-Strauss analysierten fünf Gesellschaften sind zur Generalisierung bzw. zur Anerkennung der Gültigkeit des Gesetzes unzureichend. Nehmen wir nun das letzte Kettenglied, das Inzestverbot, infolgedessen der Onkel mütterlicherseits in die Verwandtschaftsstruktur nicht eintritt, sondern zwangsläufig in ihr zugegen ist. Wir wollen die logische Gültigkeit der Behauptung nicht bestreiten, wonach ein Mann eine Frau nur dann bekommen kann, wenn ein anderer Mann - Vater oder Bruder - auf diese Frau verzichtet. Darin liegt aber die Möglichkeit von zwei Beziehungen: zum einen die Beziehung zum Bruder der Gattin, woraus sich durch die abstammungsbedingte Verbindung die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe ergibt, und zum anderen die Beziehung zum Vater der Gattin, der auf seine Tochter verzichtete. In den Gesellschaften mit Präferenz für die matrilaterale Geschwisterkinderehe sind die beiden Personen freilich identisch, mit dem selbstverständlichen Unterschied, daß der betreffende Mann einmal auf seine Schwester, das andere Mal auf seine Tochter - diesmal zugunsten des Sohnes seiner Schwester - verzichtet. Trotz ihrer Häufigkeit ist aber die matrilaterale Geschwisterkinderehe doch nicht universell, und so müßte es aufgrund der Logik (falls wir die sich aus dem Inzestverbot ergebende Schlußfolgerung akzeptieren) auch ein Verwandtschaftselement anderen Typs geben, welches sich neben den Beziehungen Vater - Sohn und Gatte - Gattin auch auf die Beziehungen Gatte Schwiegervater und Großvater - Enkel erstreckt. Wenn man so will, kann man auch hier Gegensatzpaare aufstellen, denn der institutionalisierte Charakter der Beziehungen zum Schwiegervater und zur Schwiegermutter (in Querverbindung: des Schwiegersohnes zur Schwiegermutter und der Schwiegertochter zum Schwiegervater) sind ja allgemein bekannt, was beispielsweise in der strengen Vermeidungspflicht oder im sexuellen Recht des Schwiegervaters zur Schwiegertochter (z. B. ius primae noctis) zum Ausdruck kommt. Weniger institutionalisiert, doch vielerorts sehr prägnant ist die Beziehung GroßvaterEnkelsohn, was sich z. B. in Australien auch darin zeigt, daß sich beide Personen mit demselben Terminus anreden. Ich glaube mit dem Gesagten hinreichend illustriert zu haben, daß die von LéviStrauss durchgeführte Analyse, mit der er einerseits die Anwendbarkeit der phonologischen Methode in der Untersuchung des Verwandtschaftssystems und, im weiteren Sinne, des Gesellschaftssystems beweisen und andrerseits die Existenz des Verwandtschaftselements und des sich daraus ergebenden strukturellen Gesetzes feststellen wollte, ihr Ziel nicht erreicht h a t D a ß es sich hier in der Tat um eine fundamentale Frage handelt, zeigt sich auch darin, daß Lévi-Strauss für notwendig hält, sich zum Schutz des von ihm erschlossenen Verwandtschaftselements mit Radcliffe-Brown 'auseinanderzusetzen; die auf die elementare Familie basierte Theorie des letzteren bezeichnet er als höchst gefährlich und vertritt in bezug auf die Verwandtschaftsbeziehungeri eine grundlegend verschiedene Ansicht. Laut Lévi-Strauss setze sich nämlich das Verwandtschaftssystem nicht aus den objektiven Banden der Abstammung oder der Blutsverwandtschaft zwischen den Individuen zusammen, sondern bestünde nur im Bewußtsein der Menschen; es sei ein willkürliches System der Vorstellungen und nicht die spontane Entwicklung einer tatsächlichen Situation. Mit dieser Feststellung meinen wir nicht diskutieren zu müssen, vielmehr wollen wir den englischen und amerikanischen Anthro15

Kultur u. Ethnos

226

T. BODROGI

pologen das Wort geben. Leach vertritt die britische Meinung über die Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss, indem er dessen Generalisierungen als „allzusehr umfassend" und seine elementaren Strukturen als einen „recht lockeren Boden für eine allgemeine Theorie" bezeichnet.8 Für Leach sind „die interessantesten gedanklichen Elemente von Lévi-Strauss durchweg idealistischer Natur", während der Amerikaner Harris in seinem Überblick über den französischen Strukturalismus, als er das Verhältnis von Lévi-Strauss und Marx behandelt, folgendes schreibt „ . . . in all seinen wesentlichen Mitteilungen, in jeder Auswahl der Hypothesen, in all seinen bisherigen Analysen schöpft (Lévi-Strauss) seine grundlegenden Gedanken aus den Hauptströmungen des französischen und deutschen Idealismus... Er fand Comte, Dürkheim und Mauss auf den Kopf gestellt und schloß sich ihnen an". 9 8

9

E. Leach, „Claude Lévi-Strauss - Anthropologist and Philosopher", in: Theoty in Anthropology, hg. v. R. O. Manners/D. Kaplan, Chicago 1968, S. 546. Harris, S. 513.

Brigitte Emmrich

Zu einigen Arbeiten der bürgerlichen Volksliedforschung in der BRD. Ein kritischer Literaturbericht zum deutschen Volkslied nach 1789 1

Historische Volkslieduntersuchungen in dem Sinne, daß Liedgut der Vergangenheit Untersuchungsgegenstand ist, sind in der bürgerlichen Volksliedforschung ziemlich zahlreich. Bislang überwogen historisch-philologische Untersuchungen, mit denen die bürgerliche Volksliedforschung wertvolle und umfangreiche Materialdokumentationen vorgelegt hat und zu wesentlichen Ergebnissen in der Analyse gekommen ist. Dabei hing es zweifellos zunächst von der Quellenlage ab, ob das Liedgut einer bestimmten Periode untersucht wurde oder nicht. Entscheidend war jedoch letztendlich die ideologische Position der Volksliedforscher, was in besonders starkem Maße natürlich auf die Untersuchung des die Zeitereignisse reflektierenden Liedes zutrifft, und zwar gleichermaßen des progressiv-revolutionären wie des regressiv-reaktionären. Die im wesentlichen auf bürgerlichen Positionen beharrende Volksliedforschung der BRD (bzw. der Schweiz und Österreichs) ist in theoretisch-methodologischer Hinsicht ziemlich heterogen. Ausgesprochen homogene Richtungen oder gar Schulen, die in der unmittelbaren Nachfolge der wechselnden Theorien der bürgerlichen Philosophie und Historiographie stehen, lassen sich kaum feststellen. Als Trends schlugen bzw. schlagen sich allerdings die internationalen bürgerlichen Wissenschaftskonzeptionen auch in der Volksliedforschung der BRD nieder. In neuerer Zeit dominiert die neopositivistische Orientierung, sofern es sich um Untersuchungen des älteren, traditionellen Volksliedes handelt. Das gilt in der Regel auch für Arbeiten mit stark soziologischem Einschlag, die von Vertretern der Nachbarwissenschaften (Publizistik, Rechtswissenschaft) im Rahmen der Volksliedforschung verfaßt wurden.2 Die genannten Richtungen berücksichtigen im allgemeinen, zumindest in Teilaspekten, den konkreten sozial-historischen Hintergrund. 1

Die folgenden Ausführungen sind im Zusammenhang mit einer Literaturerschließung zum deutschen Volkslied

nach

1789

(bis etwa

1815)

entstanden.

Sie können

demzufolge nicht

gesamte Spektrum der bürgerlichen Volksliedforschung erfassen. Theoretisch relevante

das

Werke

der allgemeinen Volksliedforschung wurden selbstverständlich herangezogen. 2

G. Kieslich,

Das

„Historische Volkslied" als publizistische Erscheinung.

Untersuchungen

zur

Wesensbestimmung und Typologie der gereimten Publizistik zur Zeit des Regensburger Reichstages und des Krieges der Schmalkaldener gegen Herzog Heinrich den Jüngeren von Braunschweig 1 5 4 0 - 1 5 4 2 , Münster/Westfalen 1 9 5 8 ; J. M. Rahmelow, Die publizistische Natur , und der historiographische W e r t deutscher Volkslieder um 1 5 3 0 , Diss., Hamburg 1 9 6 6 ; derselbe, „Das Volkslied

als publizistisches

forschung, 1 4 , 1 9 6 9 , S. 1 1 - 2 6 . 15»

Medium

und

historische

Quelle",

in:

Jahrbuch

für

Volkslied-

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B. EMMRICH

Dieser wird jedoch nicht als ein Moment des gesamthistorischen Prozesses erkannt und deshalb nur scheinbar objektiv interpretiert, falls es nicht überhaupt bei der Deskription bleibt. Deutlicher wird die Abstinenz von der sozial-ökonomischen Basis bei einigen Forschern, die ziemlich unvermittelt an überkommenen - und zwar auch für die bürgerliche Forschung überholten - volkskundlichen Vorstellungen festhalten, welche ihrerseits wiederum von vornehmlich ^psychologischen und anthropologischen Anschauungen überlagert werden. Von einem idealistischen Volksbegriff ausgehend, in dem das Volk mit „Mutterschicht", „Grundschichten" bzw. „Unterschichten" (hier keineswegs sozial verstanden) identifiziert wird, 3 werden die Volkslieder in einem psychisch-anthropologischen Bereich angesiedelt und damit gewissermaßen „zeitlos" gemacht. In den Fällen, wo „Grundschichten" u. ä. nicht ausschließlich psychologisch definiert werden, sind Bildungsfaktoren zu ausschlaggebenden Kategorien gewählt worden. So sucht Danckert die „Mutterschicht" im „heutigen Mitteleuropa" im Landvolk; die Stadtzivilisation habe das Volkslied vernichtet.4 Dabei wird die als „Mutterschicht" apostrophierte Bevölkerungsgruppe als fruchtbar im Hinblick auf Volksliedproduktion angesehen. Aus dem Angeführten wird deutlich, daß die Erklärungen ganz an der Oberfläche der Erscheinungen - im geistig-bildungsmäßigen Bereich - bleiben. Strukturelle Untersuchungen haben in verschiedenen Bereichen der Volksdichtungsforschung (z. B. in der Märchen- und Sprichwortforschung) zu beachtlichen Ergebnissen geführt, und zwar stets dort, wo sie sich nicht zu einer exklusiven Methode mit philosophischem Anspruch, dem Strukturalismus, verstiegen. In der Volksliedforschung der BRD wurde der Strukturalismus lange Zeit nur sporadisch und eklektisch angewandt. Bei einer solchen Arbeitsweise wurden in der Synthese Dinge miteinander identifiziert, die historisch nicht die gleiche Funktion erfüllen bzw. nicht von gleicher Wertigkeit sind. Ein extremes Beispiel aus der jüngsten Zeit und zugleich die erste umfassende strukturalistische Untersuchung in der Volksliedforschung der BRD ist das 1973 erschienene Buch „Ideologie im Lied. Lied in der Ideologie. Kulturanthropologische Strukturanalysen" des seit 1968 in der BRD lebenden V. Karbusicky. 5 Von der funktionalen Polyvalenz der Lieder ausgehend, ist Karbusicky bestrebt nachzuweisen, „ . . . daß die Methoden der ideologischen Manipulation in typologischer Hinsicht die gleichen sind, obwohl es sich um scheinbar scharf entgegengesetzte Ideologien handelt". 6 Mit dieser Sentenz, die zugleich Prämisse und Resultat seiner Untersuchung ist, stellt sich Karbusicky auf die Basis einer betont antikommunistischen Gleichsetzung u. a. von faschistischer und marxi3

4 5

Vor allem bei W . Danckert, Das Volkslied im Abendland, Bern/München 1966, S. 23, 27, 4 1 ; auch schon in derselbe, Grundriss der Volksliedkunde, Berlin 1939, und in anderen Arbeiten als verbindliche Terminologie; schwächer bei E. Klüsen, z.B. in: Volkslied. Fund und Erfindung, Köln 1969, S. 45, und in W . Wioras Arbeiten. Danckert, Das Volkslied im Abendland, S. 27, 49. V. Karbusicky, Ideologie im Lied. Lied in der Ideologie. Kulturanthropologische Strukturanalysen, Köln 1973. In dieser Arbeit werden Text und Melodie gleichermaßen untersucht. In der Musikethnologie, hat die Strukturforschung eine längere Tradition und eine solide Basis, so daß die Gefahr eines Zur-Philosophie-Werdens nicht in gleichem Maße bestand wie in der Textforschung.

* Karbusicky, S. 15.

Zur bürgerlidien Volksliedforschung in der BRD

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stisch-leninistischer Ideologie. Er abstrahiert von den sozial-ökonomischen Grundlagen des gesamthistorischen Entwicklungsprozesses bzw. von bereits erkannten und verifizierten Gesetzmäßigkeiten in diesem Bereich und degradiert den historischen Prozess zu einem fatalistischen Wechsel von Perioden der „Indoktrination" („durch totalitäre Ideologien") und der „Freiheit". Dies ist die Ursache dafür, weshalb die scheinbar verblüffenden Ergebnisse der mit philologischer, textologischer und musikologischer Akribie durchgeführten Liedanalyse keineswegs der Wahrheit entsprechen. Eine ausreichende Kritik der Auffassungen Karbusickys ist allerdings auf folkloristisch-ethnologischer Grundlage allein nicht möglich. Entgegentreten kann man dieser Konzeption nur auf der Basis einer uneingeschränkten Anerkennung der objektiv verifizierbaren historischen Mission der Arbeiterklasse. Übrigens ist auffallend, daß bei Karbusickys Beweisführung - entgegen sonst üblichen bürgerlichen Praktiken - psychologische und sozial-anthropologische Faktoren kaum eine Rolle spielen. Die Heranziehung dieser Faktoren hätte seine DetailErgebnisse formal vermutlich zum Teil bestätigt, insgesamt aber in einem anderen Licht erscheinen lassen, da es schließlich nicht unwichtig ist, ob die herausgearbeiteten Formalia (stilistisch und inhaltlich) typisch für bestimmte Ideologien oder (nur) füt bestimmte Techniken der Propaganda (als gesellschaftlicher Erscheinung) sind. Ganz abgesehen davon, daß die Wechselbeziehungen und die Eigengesetzlichkeit der verbalen Kommunikation und der Wortkunstwerke - als legitimes Feld der Strukturforschung sowie ihr Funktionskontext in dieser Arbeit Karbusickys gänzlich außer Betracht bleiben. Es ist sicher kein Zufall, daß sich unsere Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Volksliedforschung im deutschen Sprachgebiet auf die ideologisch exponierte Arbeit des in die BRD emigrierten tschechischen Folkloristen orientiert. Die Arbeiten der deutschen bürgerlichen Volksliediotsckec sind weit weniger theorienträchtig. Strukturalistische Forschungen im umfassenden Sinne finden sich nur bei Vertretern der Nachbarwissenschaften (wie oben bereits angeführt bzw. im musikwissenschaftlichen Bereich). Allgemeine Abhandlungen enthalten gelegentlich strukturalistische bzw. strukturelle Ansätze. 7 - Es sei hinzugefügt, daß Karbusickys etwas formalistische, fast ausschließlich auf das quantitative Moment orientierte Forschungen auch in der BRD Kritiker gefunden haben. 8 Ein nicht unwesentlicher Teil der Volksliedforscher in der BRD zeigt - besonders in den letzten Jahren - eine verstärkte Hinwendung zum sozialen Kontext des Liedguts sowie Bestrebungen, verbotenes, unerwünschtes oder - wie E. Klüsen sagt3 - apokryphes Liedgut aufzufinden und zu dokumentieren. 10 Was darunter verstanden wird, erfährt man 7

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Das trifft auf Arbeiten von L. Röhrich, M. Lüthi und L. Petzoldt zu. Außerdem: D . Sauermann, Historische Volkslieder des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Volksliedforschung und zum Problem der volkstümlichen Geschichtsbetrachtung, Münster 1968. Im musikwisser /chaftlichen Bereich handelt es sich um die Fortführung schon älterer Traditionen. Siehe Bose, Brednich und Klüsen in der Diskussion zu Karbusicky, „Die Inhaltskategorien des volkstümlichen und patriotischen Liedes des 19. Jahrhunderts", in: Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1972, S. 19. E. Klüsen, „Das apokryphe Volkslied", in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 10, 1965, S. 85 bis 102. Dabei wird auch Liedgut aus der Zeit nach 1789 erfaßt (Hinweis auf Liedverbotslisten). Originales Liedgut wurde bereits auf der Arbeitstagung der Kommission für Lied-, Musik- und

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B. EMMRICH

u. a. im Protokollband der Arbeitstagung zum Thema „Soziale Implikation - ein Aspekt der Volksmusikforschung", die von der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 29. September bis 2. Oktober 1974 in Neuss durchgeführt wurde. 11 Es wird eine stärkere Berücksichtigung der Liedträger und ihrer sozialen Bedingungen und letztlich sogar eine „soziale Verantwortlichkeit der Volkskunde" gefordert. 12 Man ist bemüht, vom Lied als Objekt weg zum sozialen Träger des Liedgutes zu kommen. Daß der Klassencharakter - also die wirkliche soziale Dimension - der Lieder bis zu einem gewissen Grade in Betracht gezogen wird, zeigen u. a. R. W. Brednichs Ausführungen in der Diskussion über den Quellenwert von Kontrollisten der Liedzensur, in denen er die Ansicht äußert, daß die Liedzensur auch dann eine politische Funktion erfüllt, wenn nach moralischen Aspekten geurteilt wird. 13 Insgesamt bleiben die Beiträge des Bandes jedoch auf dem Boden neopositivistischer Forschung, und soziale Verantwortlichkeit erschöpft sich weitgehend in „gemeindlicher Volkskulturpflege" (besonders von Klüsen angestrebt). 14 Eine Ausnahme bildet - neben einigen Diskussionsbeiträgen von H. Lixfeld 15 - der Beitrag von S. Schutte über „Das .Marburger Studentenlied' von H. Eisler. Ein Beitrag zur Kritik des deutschen Nationalismus"16, der sich marxistischen Positionen annähert.17 Schon hier wird deutlich, daß die linkesten Positionen nicht im Kreis der eigentlichen Volksliedforschung (der BRD) zu finden sind.18 In der literaturwissenschaftlichen, mit einem ausführlichen Vorwort und Kommentaren versehenen Dokumentation „Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner" von H. W. Engels19 werden marxistische Positionen erreicht. Das hier dargebotene LiedTanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 23.-25. März 1972 in Wetzlar behandelt. Siehe Protokollband, Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, hsg. von R. W. Brednich, Freiburg i. Br. 1972. 11

Soziale Implikation - ein Aspekt der Volksmusikforschung. Protokoll der Arbeitstagung, veranstaltet von der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V., vom 29. September bis 2. Oktober 1974 in Neuss, hsg. von E. Klüsen, Neuss 1974.

1:1

R. W. Brednich, „Einführung in den Problemkreis", in: Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 13, Diskussion zu H. Glagla, „Über den Quellenwert von Kontrollisten der Liedzensur", in: Ebenda, S. 8 - 1 3 . Ebenda, S. 5. Im übrigen werden soziale Zielsetzungen in der Volksliedforschung der BRD oft schon durch die Terminologie verwässert; Brednich und W. Suppan sprechen z. B. von Parteinahme für „unterprivilegierte Schichten" in R. W . Brednich, W . Suppan, Die Ebermannstädter Liederhandschrift geschrieben um 1750 von Frantz Melchior Freytag, Schulrektor zu Ebermannstadt (Staatsbibliothek Bamberg Msc. misc. 580 a), Kulmbach 1972, S. 23. Soziale Implikation - ein Aspekt der Volksmusikforschung, S. 41, 70 ff.

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13 16 17

li!

1-bedürftige Aspekte im Buch Emmerichs. Hier und heute aber sollte nur gezeigt werden, daß infolge der härteren Klassenauseinandersetzungen der letzten Jahre in der BRD ein Neubedenken auch bei der Volkskunde und ihr verwandten Disziplinen eingesetzt hat und neben der reaktionären „Modernisierung" eben auch progressive, in ihren besten Vertretern sogar marxistische Tendenzen zu vermelden sind, zu denen ohne Zweifel auch Emmerich zu rechnen ist. 28

Weimarer Beiträge, S. 154.

Helmut Reim

Zu den theoretischen und methodischen Positionen des Culture Area-Konzepts — Ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs zur „kulturellen Ökologie" J. H. Stewards

In ihrem Beitrag über den Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der (JSA charakterisierte Ju. P. Petrova-Averkieva die von J. H. Steward vertretene „heuristische Konzeption der kulturellen Ökologie" als eine „gewisse Synthese von technologischem Determinismus und geographischem Determinismus." 1 „Vertreten" und nicht „begründet" muß man wohl deshalb sagen, weil Stewards Konzeption ihr Vorbild und ihre Vorläufer in einer Schule der amerikanischen Völkerkunde findet, die dem alten „klassischen" wie dem Neoevolutionismus (und natürlich auch dem Marxismus) gegenüber eine gegensätzliche Position bezieht: die Lehre von den culture areas. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß die Stewards „kultureller Ökologie" eigene Tendenz, „nur die natürlichen Besonderheiten der Hauptnahrungsquellen in Betracht" zu ziehen2 sowie „die Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Gesellschaft als Prozeß der Anpassung der Kultur an die Umwelt" 3 zu interpretieren, bereits deutlich genug bei O. T. Mason und - vor allem - bei C. Wissler, einem der prominentesten Vertreter des culture area-Konzepts und des sogenannten „amerikanischen Diffusionismus" zum Ausdruck kommen. Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts, als sich an mehreren Universitäten Europas und Nordamerikas eine als Ethnographie, Ethnologie, Völkerkunde, Social und/oder Cultural Anthropology bezeichnete Wissenschaft als selbständiges akademisches Lehrfach zu etablieren begann, schickte man sich auch an, die während des 19. Jahrhunderts gewaltig angeschwollene Flut ethnographischer Nachrichten zu ordnen, d. h. die Völker der Erde ihrer Kultur nach zu klassifizieren. Innerhalb weniger Jahre unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwende entstanden gleich drei theoretisch-methodische Richtungen der bürgerlichen Völkerkunde, die sich unabhängig voneinander dieser Aufgabe annahmen: Erstens das Konzept der „Wirtschaftsformen", unter Einführung dieses Begriffs 1892 begründet von Eduard Hahn 4 und 1896 zu einem regelrechten 1

Siehe Ju. P. Petrova-Averkieva, „Der Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der USA", in diesem Band. 2 Ebenda. 3 Ebenda. * Siehe Eduard Hahn, „Die Wirtschaftsformen der Erde", in: Petermann's Mitteilungen, Bd. 38. Gotha 1892.

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„System" der Völkerklassifikation ausgebaut durch E. Grosse 5 ; zweitens die Lehre von den „Kulturkreisen", sozusagen „aus der Taufe gehoben" von F. Graebner und B. Ankermann auf der denkwürdigen Sitzung der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" vom Dezember 1904 6 ; schließlich drittens eine Forschungsrichtung, die sich der Gliederung des amerikanischen Doppelkontinents in sogenannte „culture areas" verschrieben hatte. In einen etwas weiter gespannten wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, offenbart sich die letztgenannte Richtung als eine spezifisch neuweltliche Spielart jener allgemeinen Strömung in der bürgerlichen Ethnographie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Absage an den Evolutionismus motiviert wurde. Ihre Anfänge gehen nach A. L. Kroebers und F. Boas' Meinung auf die Ordnung von Museumskollektionen „on natural geographical lines instead of evolutionistically schematic ones" zurück.7 Inwieweit dieser Darstellung im Hinblick auf den musealen Ursprung des culture areaKonzepts zuzustimmen ist, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Fest steht indessen, daß gleich der ursprünglichen Konzeption der „Wirtschaftsformen" durch Hahn, mit der ja „eine Art Urteil über die Höhe und die zeitliche Folge der Entwicklung der Wirtschaftsform" ausdrücklich vermieden werden sollte,8 und vor allem der de-facto-Begründung der später so bezeichneten „kulturhistorischen Schule" durch F. Ratzel9 auch hier der Anstoß von geographischer Seite kam. Denn es war der - als was er sich selbst begriff - „Technogeograph" Mason, der in einem 1894 erschienenen Artikel erstmalig von „culture or inventional areas" sprach, worunter er unverwechselbare geographische Milieutypen verstand, deren spezifische Bedingungen und Ressourcen zu bestimmten Techniken, Erfindungen und Gewerben ihrer Bewohner geführt hätten.10 Das jedoch nicht unter einem kausalen Zwange, sondern als „Gelegenheit", diese Dinge zu schaffen.11 Für eine Erörterung des methodengeschichtlichen Standortes des culture area-Konzepts ist es zudem nicht uninteressant, daß Ratzel dieses erste Anzeichen einer neuen, ihm sympathischen Richtung in der amerikanischen Völkerkunde als ein literarisches Zeugnis der „anthropogeographischen Methode in der Ethnologie" registrierte.12 Doch erscheint Siehe E. Grosse, Die Formen der Familie und die Formen der Wirthschaft, Freiburg i. Br./ Leipzig 1896. 6 F. Graebner, „Kulturkreise und Kulturschichten in Ozeanien"; B. Ankermann, „Kulturkreise und Kulturschichten in Afrika", beide in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 37, Berlin 1905. 7 A. L. Kroeber, „Cultural and Natural Areas of Native North America", in: University of California Publications in American Archaeology and Ethnology, Bd. 38, Berkeley 1939, S. 4 ; vgl. auch F. Boas, General Anthropology, Boston 1938, S. 670 f. 8 Hahn, a. a. O., S. 8.