Kultur und Ethnos: Zur Kritik der bürgerlichen Auffassungen über die Rolle der Kultur in Geschichte und Gesellschaft [Reprint 2021 ed.] 9783112524749, 9783112524732


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German Pages 300 [301] Year 1981

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Kultur und Ethnos: Zur Kritik der bürgerlichen Auffassungen über die Rolle der Kultur in Geschichte und Gesellschaft [Reprint 2021 ed.]
 9783112524749, 9783112524732

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Kultur und Ethnos

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR GESCHICHTE

Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte

BAND 68

Kultur und Ethnos Zur Kritik der bürgerlichen Auffassungen über die Rolle der Kultur in Geschichte und Gesellschaft

Herausgegeben von

BERNHARD W E I S S E L

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1980

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 0 Berlin, Leipziger Straße 3 — 4 Lektorin: Hildegard Palm Korrektor: Gottfried Hemp © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenznummer: 202 • 100/151/80 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg Bestellnummer: 753 733 1 (2034/68) • L S V 0705 Printed in G D R DDR 28,- M

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Julian Vladimirovic Bromlej Zur Frage nach dem Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie - Versuch einer vergleichenden Analyse der angloamerikanischen und der sowjetischen Standpunkte . Julija Pavlovna Petrova-Averkieva Der Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der USA . Irmgard Sellnow Zur Rolle und Bedeutung psychologischer Theorien in der Ethnographie . Sergej Aleksanderovic Tokarev Kritik der strukturalistischen Methode von Claude Lévi-Strauss . Ursula Schienther Die Ethnographie in der B R D und ihr Verhältnis zur Geschichtswissenschaft, zur Kulturgeschichte und Soziologie Bernhard Weißel Zur Stellung und Rolle der kulturanthropologischen Orientierung in der B R D Volkskunde Eduard L'vovic Nitoburg Hauptrichtungen in der amerikanischen bürgerlichen wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart über das Negerproblem in den USA . Lev Evgen'evic Kubbel' Die wichtigsten Tendenzen bei der Behandlung der vorkolonialen politischen Strukturen Afrikas in der westeuropäischen Ethnologie . Jürgen Herzog Der Einfluß der „politischen Soziologie" auf die bürgerliche Ethnographie - die Konflikttheorie in der englischsprachigen Afrika-Anthropologie .

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Inhaltsverzeichnis

Dietrich Treide Die „ökonomische Anthropologie" und ihre Haltung zum Marxismus-Leninismus

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Solomon Il'ic Bruk Ethnodemographische Probleme in der Welt nach 1945 und ihre Interpretation in der bürgerlichen Wissenschaft .

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Tibor Bodrogi Grundzüge der Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss .

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Brigitte Emmrich Zu einigen Arbeiten der bürgerlichen Volksliedforschung in der B R D . Ein kritischer Literaturbericht zum deutschen Volkslied nach 1789 .

227

Konrad Irmschler Zur Übernahme von Fragestellungen einer „historischen Anthropologie" durch die bürgerliche Geschichtswissenschaft der B R D .

233

Rudolf Quietzsch Arbeit und Gerät der Bauern in der bürgerlichen Volkskundeforschung der B R D

237

Hans-Jürgen Räch Bemerkungen zu Wolfgang Emmerichs Buch „Proletarische Lebensläufe" .

245

Helmut Reim Zu den theoretischen und methodischen Positionen des Culture Area-Konzepts Ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs zur „kulturellen Ökologie" J . H. Stewards

251

Mihâly Sârkâny Leslie White und die Revolution der Kultur .

263

Bernd Schöne Zur Widerspiegelung der „Industriegesellschaftstheorie" in der bürgerlichen volkskundlichen und sozialgeschichtlichen Literatur der B R D .

275

Peter Schuppan Wandlungen bürgerlicher Kulturgeschichtsauffassungen in der B R D der sechziger Jahre

283

Erich Stockmann Bemerkungen zur bürgerlichen Volksliedforschung .

291

Rudolf Weinhold Zur Position der sogenannten historisch-archivalischen Volkskunde Autorenverzeichnis

Richtung in der

BRD295 299

Vorwort

I Mit diesem Band legen Volks- und Völkerkundler der D D R erstmalig in einer speziell dieser Thematik gewidmeten Publikation Arbeitsergebnisse zur Auseinandersetzung mit Hauptrichtungen der bürgerlichen Ideologie in der Ethnographie kapitalistischer Länder vor. E s sind die für den Druck überarbeiteten und autorisierten Fassungen der Referate und einer Auswahl von Diskussionsbeiträgen, die auf einem in Zusammenarbeit mit der Historikergesellschaft der D D R vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R und dem Institut für Ethnographie „Miklucho-Maklaj" bei der Akademie der Wissenschaften der U d S S R veranstalteten Symposium vom 2. bis 4. November 1976 im Museum für Völkerkunde in Leipzig gehalten wurden. 1 Damit wurde erstmals auch ein größerer Teilnehmerkreis, zu dem neben Ethnographen auch Museologen und Vertreter benachbarter Disziplinen gehörten, mit wichtigen Zielen und Aufgaben der Ethnographie bekanntgemacht. Wie andere Gesellschaftswissenschaftler der D D R , so werten auch die Ethnographen, entsprechend der traditionellen Gliederung in der D D R als Volks- und Völkerkundler tätig, die Auseinandersetzung mit bürgerlichen Wissenschaftskonzeptionen als einen wesentlichen Bestandteil ihrer Arbeit zur weiteren Ausprägung des marxistisch-leninistischen Forschungsprofils ihrer Disziplin. Wertvolle Hilfe erfuhren sie von ihren sowjetischen Kollegen. In kameradschaftlicher Zusammenarbeit wurden Plan und Konzeption erarbeitet. D i e Teilnehmer der sowjetischen Delegation vermittelten uneigennützig ihre Erkenntnisse und Erfahrungen, die sie auf diesem Gebiet in jahrzehntelanger Arbeit erworben haben. E s mag erlaubt sein, bei dieser Gelegenheit wenigstens zwei Arbeiten namentlich anzuführen, zumal sie in der D D R , vermittelt durch Rezensionen, einem interessierten Leserkreis vorgestellt wurden: fitnologiceskie issledovanija za rubezom. Kriticeskie ocerki, Moskau 1973 - rezensiert von I. Sellnow in Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 1975, S. 208-213, und Koncepcii zarubeznoj etnologii. Kriticeskie etjudi, Moskau 1976, rezensiert von B . Weißel, im gleichen Jahrbuch von 1978, S. 207-211. D a s war eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen des Symposiums. Sie 1

Nicht alle hier abgedruckten Diskussionsbeiträge kamen auf dem Symposium zum Vortrag. Auf die Aufnahme einiger anderer vorbereiteter Diskussionsbeiträge mußte hier aus verzichtet werden.

Platzgründen

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ermunterte die Ethnographen der D D R , nun auch ihrerseits ihre Arbeitsergebnisse der Diskussion in einem größeren Forum zu unterbreiten. Der Plan der Veranstaltung sah insofern eine Arbeitsteilung vor, als sich die Vertreter der sowjetischen Ethnographie in ihren Ausführungen besonders auf die kritische Analyse der Konzeptionen der angelsächsischen Kulturanthropologie konzentrierten, während sich die Referenten aus der D D R neben Beiträgen zur allgemeinen Theorie und Methodologie in der bürgerlichen Ethnographie insbesondere der Einschätzung wissenschaftsgeschichtlich neuer Trends in der Volks- und Völkerkunde in der B R D zuwandten. Ergänzende Beiträge zur Kritik des bürgerlichen Strukturalismus wurden von einem sowjetischen und ungarischen Ethnographen gehalten. Ein weiterer Beitrag eines ungarischen Vertreters war der Analyse der kulturologischen Theorie des bekannten amerikanischen Ethnographen J. Steward gewidmet. Ein tschechischer Beitrag gab Einblicke in die Aufgaben und Problemstellungen des Kampfes der Ethnographie der CSSR gegen den Revanchismus der sogenannten Vertriebenen-Volkskunde in der BRD. Als Fazit des Symposiums kann festgehalten werden, daß die wesentlichen Ziele, die sich die Veranstalter gestellt hatten, voll erreicht wurden. So wurde das Informationsbedürfnis der Teilnehmer erfüllt, wobei davon ausgegangen werden mußte, daß vielen die inzwischen erzielten Ergebnisse in ihrer ganzen Breite vorher nicht bekannt waren. Erfeulich aber war, daß die zahlreichen Teilnehmer in zentrale Probleme der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie aktiv in die Diskussion einbezogen werden konnten. Daß sich von insgesamt 116 Teilnehmern 38 in 91 Beiträgen und Anfragen zu Wort meldeten, bezeugt das lebendige Interesse, das die Teilnehmer dem Verlauf der Beratung entgegenbrachten. Daß sie sich in Anfragen und Bemerkungen zu Wort meldeten und in einzelnen Diskussionsbeiträgen Vertreter benachbarter Disziplinen auf parallele oder ähnliche Entwicklungen im Bereich der Theorie und Methodologie ihrer Fachdisziplinen in kapitalistischen Ländern hinwiesen, unterstreicht das starke Interesse, das dem Thema des Kolloquiums über die Kreise der Ethnographen hinaus entgegengebracht wurde. Es machte aber auch deutlich, was als Anregung und Forderung mehrfach auch artikuliert wurde, daß nämlich der Ausbau der interdisziplinären Kooperation die conditio sine qua non auf dem Wege zu weiteren, wesentlichen Fortschritten darstellt, gilt es doch, mit der weiteren Qualifizierung der Kritik zugleich das theoretisch-methodologische Fundament der eigenen Disziplin entsprechend den aktuellen wissenschaftshistorischen Anforderungen weiter auszugestalten. Es kann nicht Aufgabe dieser einführenden Bemerkungen sein, die Ergebnisse des Symposiums im einzelnen detailliert einzuschätzen. Noch weniger ist an eine kritische Würdigung der einzelnen Beiträge gedacht. Sie bleibt dem Leser vorbehalten, der sich auf Grund der Lektüre selbst ein Urteil über die Konzeption und den wissenschaftlichen Wert der Publikation bilden wird. Ihm soll weder vorgegriffen noch soll er beeinflußt werden. Im folgenden soll nur auf einige Leitlinien hingewiesen werden, die auch den Rahmen für die Beurteilung der vorliegenden Publikation abgeben könnten und vom Leser in Betracht gezogen werden sollten. Wenn hier einiges, was in den Beratungen diskutiert

Vorwort

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wurde, hervorgehoben, anderes jedoch nicht nochmals ausdrücklich erwähnt wird, so liegt dem keine Wertung zugrunde. Diese wäre schon deshalb nicht möglich, weil viele fruchtbare und weiterführende Gedanken erstmals in Form von Fragen vorgetragen wurden, für die nach dem Stand der Forschung noch keine gesicherte Antwort gegeben werden kann. In einer Disziplin mit einem so weiten Gegenstandsbereich wie die Ethnographie und einer so großen Zahl ihrer Schulen, Richtungen und Traditionen in den kapitalistischen Ländern konnten den Teilnehmern freilich nur Ausschnitte geboten werden. Nach welchen Prinzipien erfolgte aber die Auswahl? W a s erschien der näheren Beleuchtung wert, und was mußte unter den gegebenen Umständen entfallen? Als erstes, und das gilt für beide Partner ebenso wie für die Gäste des Symposiums, war der erreichte Forschungsstand zugrunde zu legen, galt es doch, Ergebnisse einem Kreis von Interessenten vorzustellen und aus dem Meinungsstreit Anregungen und Hinweise zur Fortsetzung der Forschungen zu entnehmen. Das zweite Kriterium der Auswahl ergab sich aus dem Einfluß, den die einzelnen Richtungen und Schulen innerhalb der Ethnographie der kapitalistischen Länder ausüben. Eine wissenschaftsgeschichtlich seit langem etablierte Disziplin wie die Ethnographie weist seit ihrer Existenz Traditionen von verschiedener Konstanz und Dauer auf. Während sich einige ihrer Positionen unangefochten über Jahrzehnte behaupten, erreichen andere in kurzer Frist den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit, um ebenso rasch an Aktualität einzubüßen und nur noch Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Studien zu werden. Seit dem Ausgang des zweiten Weltkrieges, der auch eine neue Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus einleitete, ist ein rascher Wechsel im Theorieangebot zu verzeichnen. Als besonders augenfällig sind hier die Prätentionen der Kulturanthropologie auf die Führungsstellung sowie der zunehmende Einfluß soziologischer Schulen festzuhalten. Dagegen ist der Einfluß der funktionalistischen und kulturgeographischen Richtungen erheblich zurückgegangen. Andere wie die psychologischen und neoevolutionistischen Schulen behaupten nach wie vor ihre Position und sind bestrebt, ihren Auffassungen stärker Geltung zu verschaffen. In der Volkskunde der B R D wurde versucht, durch Anleihen bei der Verhaltensforschung der Kulturanthropologie, der Systemtheorie der Kulturkritik der Frankfurter Soziologenschule, bei der bürgerlichen Sozialgeschichte und bei den verschiedenen Schulen der empirischen Sozialforschungen Anschluß an moderne Trends der Wissenschaftsentwicklung zu finden und sich nunmehr als eine Wissenschaft zu präsentieren, die nach „Aufarbeitung des Theoriedefizits" Anschluß an das theoretische Niveau der anderen Sozialwissenschaften gefunden habe. Die Ursachen dieser Erscheinungen sind vielfältig, und es muß hier davon abgesehen werden, sie auf einen Nenner zu bringen. In welcher Weise und in welchem Maße wissenschaftsgeschichtlich immanente Momente und ideologische Reflexe auf die Vertiefung der allgemeinen Krise des Kapitalismus im Bewußtsein der Vertreter der bürgerlichen Ethnographie zusammenwirken und zu welchen Ausdrucksformen sie in der Ausprägung der einzelnen Theorien und Lehrmeinungen gelangten, war jeweils Gegenstand der Referate und der Diskussionen. D a ß sich der Marxismus-Leninismus auch in der Ethnographie auf dem Vormarsch befindet und über große Möglichkeiten zur Erweiterung seines Einflusses verfügt und die Exponenten der bürgerlichen Ideologie trotz aller Anstrengungen auf dem Gebiet unserer Disziplin die erstrebte historische Initiative

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nicht wieder zurückerlangt haben, ist auch Hauptmerkmal in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, eine Feststellung, die im Schlußwort des Symposiums vom Leiter der sowjetischen Delegation, Prof. Ju. V. Bromlej, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, nachdrücklich unterstrichen wurde. Daß in den folgenden Ausführungen auf den Nachweis der Belege verzichtet wurde, liegt auf der Hand. Einmal gehen die einleitenden Bemerkungen, wie sie hier versucht werden, auf die Wertungen in den Beiträgen selbst zurück, und darum kann auf die Literaturangaben zu den jeweiligen Beiträgen verwiesen werden. Zum zweiten wäre dazu die Erarbeitung einer umfangreichen Spezialbibliographie erforderlich, eine Aufgabe, die in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden konnte. Der Leser, der weitere Aufschlüsse über Stand und Aufgaben in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie auf dem Fachgebiet der Ethnographie erwartet, sei deshalb auf die Periodika der Ethnographie der sozialistischen Länder und auf das internationale Referateorgan „DEMOS", in dem die Neuerscheinungen auf diesem Gebiet angezeigt werden, verwiesen.

II In der Geschichte der Ethnographie in den sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts tritt der wachsende Einfluß des Marxismus-Leninismus auf theoretischmethodologischem Gebiet als ein neues Moment der Entwicklung besonders augenfällig in Erscheinung. Es handelt sich jedoch, soweit die Situation in den kapitalistischen Ländern in Betracht kommt, nicht schlechthin um eine Rezeption in linearer Progression, sondern um einen äußerst widerspruchsvoll verlaufenden Prozeß, der in vollem Gange ist und deshalb noch keine abschließende Wertung gestattet. Bestrebungen, die Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus zu Rate zu ziehen, um aus ihrem Studium Antwort auf die Fragen der Zeit und, darin einbegriffen, nach den Aufgaben der Wissenschaft zu gewinnen, stehen Versuche gegenüber, nur einzelne Seiten, Thesen und Problemstellungen des historischen Materialismus zu entlehnen, sie zur Abstützung der eigenen Auffassungen zu benutzen, um diese unter Anrufung der Autorität von Marx, Engels und Lenin attraktiver erscheinen zu lassen. Zwischen diesen beiden Polen erstreckt sich ein breites Feld, das durch die vielfältigsten Übergänge und Vermittlungen in den Positionen geprägt ist. Den widerspruchsvollen Erscheinungen, die die Szenerie kennzeichnen, liegen vielfältige Ursachen zugrunde, die ihrerseits ideologische Reflexe der allgemeinen Krise des Kapitalismus darstellen. In der Ideologieproduktion innerhalb der bürgerlichen Ethnographie treten ebenso wie in anderen bürgerlichen Sozialwissenschaften ein immer rascherer Verschleiß von Theorien und das ständige Suchen nach neuen Methoden und Modellen zur Erklärung der gesellschaftlichen Realität als charakteristisches Merkmal ihres gegenwärtigen Entwicklungsstadiums besonders augenfällig in Erscheinung. W e r freilich nicht an der Oberfläche der Erscheinungen haftenbleibt und zum Wesen vorstößt, wird auch hier Kontinuität und Diskontinuität als zwei Momente einer einheitlichen Entwicklung wahrnehmen. Das „Bleibende in der Erscheinungen Flucht" besteht hier darin, daß bei allen auf den ersten Blick noch so originell anmutenden Ausformungen

Vorwort

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der Theorie und Methodologie das Interesse an der Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung letztlich den Rahmen und den Spielraum für die Bewegung der Theorien und Ideen vorschreibt. Dabei bleibt es sich letztlich gleich, ob die kapitalistische Gesellschaftsordnung expressis verbis zu der Gesellschaft schlechthin erklärt wird, über die hinaus eine weitere Entwicklung theoretisch nicht reflektiert wird, oder ob „Gesellschaft", ohne sie mit bestimmten qualitativ kennzeichnenden Attributen zu versehen, stillschweigend als Synonym für die kapitalistische Gesellschaftsordnung Verwendet wird. Es ist im Hinblick auf diese entscheidende Frage auch nur von sekundärer Bedeutung, ob die Regulierung der gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Gesellschaftssystems mit Hilfe von Gleichgewichtsmodellen oder durch konflikttheoretische Konstruktionen interpretiert wird. Beide sind in den ihnen zugedachten gesellschaftlichen Funktionen wechselseitig aufeinander bezogen, bilden jeweils das Komplement des anderen und stehen fest auf dem Fundament bürgerlicher Gesellschaftsauffassung. Das gegenwärtige Vordringen des Marxismus-Leninismus vollzieht sich in einer welthistorischen Situation, die im Ergebnis der Entwicklung seit dem Ausgang des zweiten Weltkrieges durch das veränderte Kräfteverhältnis zugunsten der Kräfte des Sozialismus und des Friedens gekennzeichnet ist. Die unabweisbare Tatsache, d a ß der Hauptinhalt der Weltgeschichte in unseren Tagen im Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab besteht, daß der Kapitalismus welthistorisch unwiederbringlich die Initiative verloren hat und daß der real existierende Sozialismus seine Fähigkeit zur Lösung der Menschheitsprobleme auf so eindrucksvolle Weise demonstriert, konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Stellung und Funktion der bürgerlichen Sozialwissenschaften, die Ethnographie darin eingeschlossen, bleiben. Die zuungunsten des Kapitalismus veränderte Weltlage mußte in den kapitalistischen Ländern notwendig Diskussion um den gesellschaftlichen Standort und die Verantwortung der Ethnographie, nach Nutzen, Zweck und Einsatzbereich ihrer Forschungen hervorbringen. Besonders die Ethnographen der angelsächsischen Länder sahen sich angesichts des Zerfalls des kapitalistischen Kolonialsystems gezwungen, ihre theoretisch-methodologischen Positionen und ihr methodisches Forschungsinstrumentarium zu überprüfen, war doch die Erforschung der Lebensweise und Kultur der bis dahin schriftlosen, in ihrer Entwicklung in vorkapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen zurückgebliebenen ethnischen Gemeinschaften in den ehemals kolonialen und abhängigen Ländern bis dahin ihr bevorzugtes Studienobjekt gewesen. Waren und sind sie auch in ihrer überwältigenden Mehrheit, im Bann der bürgerlichen Ideologie befangen, Gegner der marxistisch-leninistischen Idee der Entwicklung und damit der Auffassung von Weltgeschichte als einheitlichem Prozeß, der vom Niederen zum Höheren fortschreitet und damit die Ablösung der Ordnung des Kapitalismus durch den Sozialismus/Kommunismus historisch legitimiert, so konnten sie schwer an der vor aller Welt offenkundigen Tatsache vorbeisehen, d a ß die W e l t „im W a n d e l " begriffen ist, der nicht schlechthin rückgängig gemacht werden kann. Damit ist auch die welthistorische Ausgangssituation umrissen, in der die Theorie vom „sozialen Wandel" in der empirischen Soziologie geboren wurde. Von dort her hat sie sich wellenförmig auf benachbarte Disziplinen ausgebreitet und auch die Sozialgeschichte, die Kulturgeschichte und Ethnographie erreicht, wo sie in entsprechender

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Modifikation als Theorie vom „sozialkulturellen Wandel" figuriert, um der wachsenden Anziehungskraft der in sich geschlossenen, einheitlichen soziologischen Theorie des historischen Materialismus zu begegnen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß die bürgerliche Soziologie bzw. empirische Sozialforschung, wie sie sich vielfach selbst bezeichnet, nicht nur in dieser Hinsicht „einheitsstiftend" wirkt. Das gilt, wenn auch nach dem Grad der Wirksamkeit verschieden, sowohl für die Ethnographie in den angelsächsischen Ländern als auch für die BRD. Ein kennzeichnender Zug neuester Wissenschaftsentwicklung in den kapitalistischen Ländern besteht in der Zunahme der Tendenzen der interdisziplinären Kooperation, wobei die empirische Sozialtorschung häufig als Initiator wirkt und sich mit ihrem „Angebot an Theorie" als Katalysator einheitlicher theoretisch-ideologischer Ausrichtung betätigt. Sowohl in den angelsächsischen Ländern als auch in der BRD wird die Rolle der empirischen Sozialforschung als eines „Voranbringers" von namhaften Vertretern der Ethnographie nachdrücklich anerkannt. Ihre Mittlerdienste werden insofern gerne in Anspruch genommen, als sie sich als der geeignete Weg anbieten, um den häufig beklagten „Mangel an Theorie" zu überwinden. Hier gibt es freilich entsprechend dem konkreten Verlauf der Wissenschaftsgeschichte und den bis zum Ausgang des zweiten Weltkrieges in den einzelnen Ländern vorherrschenden Wissenschaftstraditionen in der Adaptionsbereitschaft gegenüber den Theorien und Methoden der empirischen Sozialforschung beträchtliche Unterschiede. In der BRD wurde die von den Nachbardisziplinen angebotene Hilfe schon deshalb dankbar aufgenommen, weil sie der offiziellen Volks-, in gewissem Maße aber auch der Völkerkunde dazu verhelfen konnte, sie vom Odium einer Vergangenheit unter der hitlerfaschistischen Diktatur zu befreien, in der namhafte Vertreter beider Disziplinen nur allzu eilfertig und beflissen ihre Dienste bei der Vorbereitung und Durchführung der „Blut-und-Boden"-Politik als Bestandteil der Weltherrschaftsziele des deutschen Militarismus und Imperialismus zur Verfügung gestellt hatten. Die Modernisierung mußte als Ausweis für eine angebliche „Bewältigung der Vergangenheit" herhalten, was nicht unwidersprochen hingenommen werden kann, da das dort offerierte Faschismus-Bild zum einen durch eine allzu oberflächliche Sicht gekennzeichnet ist und sonst die treibenden Kräfte des Geschichtsprozesses außer acht läßt und zum anderen durch eine Optik gebrochen ist, in der die Klassenkämpfe um den Kulturfortschritt in den einzelnen Perioden der Geschichte des deutschen Volkes durch ideengeschichtliche Schemata verstellt und somit verzerrt werden. Diese Thematik ist Gegenstand unserer Abhandlungen und Rezensionen von Mitarbeitern des Wissenschaftsbereichs Kulturgeschichte/Volkskunde des Zentralinstituts für Geschichte bei der AdW der D D R , insbesondere im Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, Neue Folge, Band 1, Jg. 1973 ff., auf das hier für ergänzende Studien verwiesen wird. In den USA konnten dagegen namhafte Ethnographen darauf verweisen, daß in ihren Wissenschaftsauffassungen die Gleichwertigkeit aller ethnischen Gemeinschaften stets als Axiom gegolten habe und daß sich alleine daraus ihre grundsätzliche Gegnerschaft gegen den nazistischen Rassismus erkläre. Zum Beweis wurde bezeichnenderweise das Festhalten an der Konzeption der multilinearen Evolution angeführt. D a ß diese Behauptung für die Gegenwart nicht aufrechterhalten werden kann und daß dem Leser, wenn auch in subtileren Formen, Varianten des Rassismus auch auf dem Gebiet der Ethnographie begegnen, zeigte das Referat von Nitoburg auf.

Vorwort

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Aber weder Anleihen bei der bürgerlichen Soziologie noch bei anderen Sozialwissenschaften können der bürgerlichen Ethnographie zu einer in sich geschlossenen, einheitlichen soziologischen Theorie verhelfen, mit deren Hilfe die von ihr erforschten Phänomene und Prozesse im Sinne eines in sich geschlossenen Systems erklärt werden könnten. Die Versuche, dies durch Anleihen bei der bürgerlichen Systemtheorie zu bewerkstelligen, erwiesen sich als Fehlschlag. Dife bürgerliche Soziologie und andere für sie relevante Disziplinen können nur „Theorien mittlerer Reichweite" offerieren, deren Anwendung im günstigsten Falle die Verallgemeinerung empirischer Daten auf einem begrenzten Sektor der gesellschaftlichen Beziehungen in einem eng begrenzten historischen Zeitraum gestattet. Dieses Handikaps sind sich um die Theoriebildung bemühte Vertreter der bürgerlichen Ethnographie bewußt. Sie nehmen es in Kauf, eröffnen Theorien „mittlerer Reichweite" immerhin die Aussicht, auf einem begrenzten Sektor des gesellschaftlichen Lebens in Zusammenarbeit mit staatlichen Dienststellen steuernd und regulierend auf gesellschaftliche Prozesse einzuwirken und damit die Effizienz ihrer Forschungen für konkrete und aktuelle kulturpolitische Bedürfnisse beweisen zu können. Daraus erklärt sich zumindest zu einem Teil die Option für kulturell und geographisch sowie historisch „kleinräumige" Themen. Dieser Aspekt sollte bei der Analyse der Genesis der Vorstellungen über Gegenstand und Aufgaben der Ethnographie in den kapitalistischen Ländern nicht aus den Augen gelassen werden. Die Veränderungen in der Weltlage zuungunsten des Kapitalismus beschränken sich freilich nicht nur auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umgestaltungen, die sich gegenwärtig in der sogenannten dritten Welt vollziehen. Im Rahmen der allgemeinen Krise des Kapitalismus zeigen sich Krisenerscheinungen in allen Regionen und Bereichen. Dabei können einzelne Ereignisse, Prozesse und Probleme der politischen Entwicklung in einzelnen Ländern tiefgreifende Wirkungen hervorrufen, die dazu führen, daß auch Wissenschaftskonzeptionen, die Fragen nach Gegenstand und Aufgaben der Disziplin eingeschlossen, die bis dahin als gesichert und keiner Diskussion bedürftig erschienen, fragwürdig und unter das Feuer der Kritik genommen werden. Dazu zählen, um nur einige markante Beispiele zu nennen, der Aufschwung der Befreiungsbewegung der Afroamerikaner in den USA, die studentische Protestbewegung gegen das kapitalistische Establishment in einer Reihe von kapitalistischen Ländern Europas und Amerikas in den sechziger Jahren, die Niederlage des USA-Imperialismus in seinem schmutzigen Krieg gegen das vietnamesische Volk sowie die Mißerfolge der von J. F. Kennedy inaugurierten Politik der USA, die unter dem Namen „Allianz für den Fortschritt" firmierte und der Befriedung des lateinamerikanischen Subkontinents und der Aufrechterhaltung der Hegemonie des Dollarimperialismus dienen sollte. In der BRD und in der Schweiz wirkt das sogenannte „Gastarbeiterproblem" als ein zusätzlich auslösendes Moment. Es warf die Frage auf, mit welchen Regulierungsmechanismen die Anpassung der kapitalistisch ausgebeuteten ausländischen Lohnarbeiter an das bestehende Gesellschafts- und Kultursystem ohne Schaden für dieses bewerkstelligt werden könnte. Das führte zu einer neuen Definition des „Heimat"-Begriffs. Damit eröffneten sich auch neue Möglichkeiten, verhaltenspsychologische, durch die Ethologie ergänzte Problemstellungen und Theorien in der Ethnographie der BRD wissenschaftlich in Umlauf zu bringen.

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Die zahlreichen Äußerungen der theoretischen Grundlagenkrise der bürgerlichen Ethnographie, die nur schwer in einem einzigen Ausdruck zu fassen sind, sind in ihrem Stellenwert erst richtig einzuschätzen, wenn man sie vor dem Hintergrund des Wachstums des Sozialismus und der Fortschritte der Ethnographie der sozialistischen Länder betrachtet. Besonders heftig verliefen die Diskussionen um ein neues Selbstverständnis der anglosächsischen Kultur/Sozialanthropologie. An ihrem weitgespannten Anspruch gemessen, die Wissenschaft vom Menschen schlechthin zu repräsentieren, mußte das Mißverhältnis zwischen ihren Ambitionen und den tatsächlichen Forschungsresultaten besonders kraß zutage treten. Um den offenkundigen Gebrechen beizukommen, wurden theoretisch-methodische Anleihen bei den verschiedensten Wissenschaften, von der Individualpsychologie und der Psychiatrie über die Biologie und die Verhaltenspsychologie der Tiere bis hin zur empirischen Sozialforschung und der Sozialpsychologic, aufgenommen. Richtungen wie der Kulturrelativismus, der Evolutionismus, die verschiedenen Konzeptionen eines ökonomischen, technologischen und geographischen Determinismus und des Positivismus, die in den USA längst eingebürgert waren, gingen in neuer Konstellation der Theorien und Ideen bisher nicht gekannte Verbindungen ein. Sie alle boten ihre Dienste an, um die Anthropologie qua Ethnographie aus der Talsohle der Krise herauszuführen. Als neue Autoritäten wurden nacheinander und manchmal auch gemeinsam T. Parsons, R. Merton, P. Sorokin, S. Freud, M. Weber, M. Scheler, W. Dilthey, E. Husserl und andere Exponenten der spätbürgerlichen Philosophie und Soziologie angerufen, ohne daß eine von ihnen unangefochten das Feld behauptet hätte. Auch die Übernahme naturwissenschaftlicher Ergebnisse vermochte keine grundlegende Änderung herbeizuführen, sind doch deren Konzepte nicht unabhängig vom Welt- und Gesellschaftsbild der jeweiligen Autoren letztlich durch die Antwort auf die Grundfrage der Philosophie bestimmt und darum keineswegs „ideologiefrei". Die bürgerlichen Ethnographen vermochten weder die Gesetzmäßigkeiten des Kulturfortschritts in der Weltgeschichte zu erklären, noch die innere Geschlossenheit der Kulturanthropologie, die in gleichem Maße auf den Ergebnissen der Natur- und Sozialwissenschaften aufbauen sollte, zu demonstrieren. Auch die Herausbildung immer neuer Subdisziplinen auf den Grenzbereichen zu anderen Wissenschaften schuf keinen Wandel. In der Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus wurde die Forderung nach größerer Praxisrelevanz der kultursozial-anthropologischen Forschungen immer lauter und hartnäckiger erhoben. Um die Allgemeingültigkeit des dialektischen und historischen Materialismus als fragwürdig erscheinen zu lassen, wurden Themen und Gebiete ausgesondert, die die Unzulänglichkeit und Unzuständigkeit des historischen Materialismus dartun sollten. Dazu zählt, wie auf dem Symposium zum Ausdruck gebracht wurde, die Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den afrikanischen Ländern vor ihrer Eroberung durch die kapitalistischen Kolonialmächte. Hier wird die Stoßrichtung gegen die marxistisch-leninistische Auffassung vom Ursprung und Wesen des Staates besonders deutlich. Dagegen wiesen die diesbezüglichen Referate (Kubbel', Herzog) und Diskussionsbeiträge überzeugend den umfassenden Charakter und die uneingeschränkte Gültigkeit der marxistisch-leninistischen Theorie vom Ursprung und Wesen des Staates und somit auch die Unhaltbarkeit jener Konzeptionen nach,

Vorwort

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die dem afrikanischen Kontinent im Hinblick auf diese Grundfrage der Geschichts- und Gesellschaftsauffassung eine Exemtionsstellung reservieren möchten. Ein Grundzug des Kampfes der bürgerlichen Ideologie gegen den Vormarsch des Marxismus-Leninismus tritt auch in der bürgerlichen Ethnographie sichtbar in Erscheinung. Es ist der Versuch, für jene Bereiche in der Entwicklung der Natur und Gesellschaft mechanisch-materialistische, zumeist aber subjektiv-idealistisch bestimmte Erklärungen zu offerieren, die von der marxistisch-leninistischen Forschung noch nicht oder noch unzureichend erfaßt werden. Bekanntlich stellt der Marxismus-Leninismus ein in sich geschlossenes, monistisches System der Weltanschauung dar, das aber im Unterschied zu allen bürgerlichen Systemen auf Grund neuer Erkenntnisse und Einsichten der Einzelwissenschaften des ständigen Ausbaus und der Vervollständigung fähig ist. In den sozialistischen Staaten hat die marxistisch-leninistische Ethnographie verschiedene Stadien der Entwicklung durchlaufen und mußte den Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis entsprechend Prioritäten in der Reihenfolge der zu lösenden Aufgaben setzen. Die erste und für ihre weitere Gestaltung entscheidende Aufgabe bestand in der materialistischen Grundlegung der Disziplin im Gesamtsystem der Wissenschaften. Mit dem allmählichen Übergang zum Kommunismus, in dem das Gewicht des subjektiven Faktors als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung steigt und für die weitere Ausprägung der Vorzüge des real existierenden Sozialismus entscheidende Bedeutung erlangt, tritt auch die Objekt-SubjektDialektik in der Erforschung der Durchsetzung der Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung in den Mittelpunkt des Interesses. Damit werden auch an die Ethnographie wie an andere Gesellschaftswissenschaften höhere Anforderungen an das theoretische Niveau ihrer Forschungsergebnisse gestellt. Sie muß ihr Augenmerk stärker auf die Bereiche der Verhaltensweisen, Wertorientierungen und Einstellungen, auf die Traditionen in Sitte und Moral, kurz, auf die Probleme von Lebensweise und Kultur der ethnischen Gemeinschaften in den verschiedenen historischen Entwicklungsformen richten, um deren Rolle im Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion in der Weltgeschichte präziser bestimmen zu können. Auch darin erweist sich der Wert des Symposiums, d a ß die Notwendigkeit dieser Aufgaben ins Bewußtsein der Teilnehmer gerückt wurde.

III Die in diesen Band aufgenommenen Arbeiten zeigen an, daß die Ethnographen der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft ihr Hauptaugenmerk auf die Erscheinungen in der Geschichte der bürgerlichen Ethnographie richten, in denen sich Neues oder zumindest Neuartiges artikuliert. Dabei stehen Grundfragen der Theorie und Methodologie und die Diskussionen um die Bestimmung der Grundkategorien im Mittelpunkt des Interesses. Das ist legitim und entspricht einem aktuellen Bedürfnis, erwachsen daraus doch Problemstellungen, die auch die marxistisch-leninistischen Ethnographen nicht übersehen können. In der gegenwärtigen Epoche, die sich auch durch ein näheres Zusammenrücken der Völker und Nationen auf dem Erdball auszeichnet und mit den Problemen der Urbanisierung und der Umweltgestaltung auch neue Fragen der Kommunikation und des Kulturaustausches über die Grenzen der Staaten und Ethnien hinweg aufwirft, nimmt auch das Interesse der Wissenschaftler insgesamt an den

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Kulturprozessen zu. Ihre Beherrschung im Interesse der breiten Massen der Völker und Nationen erweist sich als ein Indikator, der Fortschritt und Reaktion in der gesellschaftlichen Entwicklung zuverlässig anzeigt. Lebensweise und Kultur erschließen neue Dimensionen im ideologischen Klassenkampf der Gesellschaftssysteme des Kapitalismus und des Sozialismus. Zugleich eröffnen sich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Meinungsaustausches zwischen den Ethnographen der sozialistischen und kapitalistischen Länder, die zum besseren Verständnis der jeweiligen Aufgaben und Positionen beitragen und damit der Sache der Völkerverständigung dienen. Die marxistischleninistischen Ethnographen stellen sich verantwortungsbewußt dieser Aufgabe, bietet doch der Meinungsstreit mit bürgerlichen Fachkollegen die Möglichkeit, die eigenen theoretisch-methodologischen Positionen in verschiedenen internationalen Foren und Begegnungen beweiskräftig zu vertreten und begründete Antworten auf anstehende Fragen zu geben. Auf diesem Feld kann insbesondere die sowjetische Ethnographie wertvolle Erfahrungen aufweisen. Auf einem gesicherten Fundus von originären, aus empirischen Forschungen zur ethnischen Geschichte, zur Geschichte der interethnischen Beziehungen und zur Ethnosoziologie aufbauend, bietet sie Ergebnisse an, in denen wichtige Seiten und Prozesse der sozialistischen Kulturrevolution im ersten sozialistischen Multinationalitätenstaat der Welt ihre theoretische Verallgemeinerung gefunden haben. Die steigenden Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis bei der weiteren Ausgestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und beim allmählichen Übergang zum Kommunismus führen folgerichtig auch zu neuen Kriterien und Maßstäben zur Bewertung der wissenschaftlichen Leistungen der einzelnen Disziplinen. Was gestern noch ausreichend erschien, erweist sich heute bereits als unzureichend. Die Erforschung der historischen Gesetzmäßigkeiten des Wandels der Lebensweise und Kultur der werktätigen Klassen und Schichten beim Aufbau, bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und beim allmählichen Übergang zum Kommunismus ist zwar fester Bestandteil der Forschungsprogramme der Ethnographie und Folkloristik der sozialistischen Länder, hat aber noch nicht überall zu Ergebnissen geführt, die eine Verallgemeinerung auf hohem theoretisch-methodologischem Niveau gestatten. In einigen Ländern wie auch in der D D R hat diese Arbeit eben erst begonnen. In diesem Zusammenhang breitet sich unter den Ethnographen die Erkenntnis aus, daß die Zeit herangereift ist, das System der Grundkategorien und Grundbegriffe der ethnographischen Wissenschaft im Hinblick auf ihre Effektivität für die Erforschung der Kulturprozesse in der Gegenwart kritisch zu überprüfen. Die Anstöße dazu kommen nicht nur aus den Bedürfnissen und Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis, sie erwachsen auch aus Erfordernissen, die der Wissenschaftsgeschichte immanent sind. Damit gewinnt die Arbeit auf theoretisch-methodologischem Gebiet zukünftig einen noch höheren Stellenwert und fordert zu verstärkter Diskussion im Kreis der Ethnographen und Folkloristen der sozialistischen Länder heraus. Unter den diskussionswürdigen Themen ist hier vor allem auf die Problematik des „Ethnos" und der ethnischen Gemeinschaften zu verweisen, die lange Zeit theoretisch unbearbeitet blieb und erst durch Arbeiten sowjetischer Ethnographen auf den Platz im Wissenschaftsverständnis der Ethnographie gestellt wurde, der ihr gebührt. Die schöpferische

Vorwort

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Initiative der sowjetischen Fachkollegen hat zwar in der D D R beifällige A u f n a h m e und allerseits Anerkennung gefunden, und die Notwendigkeit, sich dieser Problematik mit eigenständigen Arbeiten anzunehmen, wird nirgendwo bestritten. Dennoch kann aus den Reihen der Ethnographen der D D R , von Arbeiten von Mitarbeitern des Instituts für sorbische Volksforschung Bautzen abgesehen, auf keine eigenständige Arbeit verwiesen werden. Eines der Ergebnisse des Leipziger Symposiums bestand auch darin, daß es der Arbeitsgemeinschaft Ethnographie bei der Historikergesellschaft der D D R empfahl, diese Aufgabe als vordringlich in ihr Arbeitsprogramm aufzunehmen. Es kann nicht Aufgabe dieser einleitenden Bemerkungen sein, die vielen Anstöße und Anregungen zur Beschäftigung mit theoretisch-methodologisch relevanten Fragen zu verzeichnen, die im Verlauf der Beratungen artikuliert wurden. Neben und nächst der Thematik des Ethnischen trat das Bedürfnis hervor, der Problematik der marxistischleninistischen Kulturtheorie im Zusammenhang mit einer zu inaugurierenden marxistischleninistischen Kulturgeschichtsschreibung größere Beachtung zu schenken. Hier kann freilich auf erste Diskussionsbeiträge von Ethnographen und Kulturhistorikern der sozialistischen Länder verwiesen werden. Im Hinblick auf die Aufgabe, im Umfeld der historischen und der Kulturwissenschaften zur Lösung der ihnen gemeinsam aufgegebenen Probleme vielfältige Kooperationsbeziehungen herzustellen und auszubauen, erlangt die Beschäftigung mit der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie, die freilich eigenständige Beiträge aus der spezifischen Sicht der Ethnographie einschließt, wachsende Bedeutung. Gewisse Rückstände gegenüber den konkreten Anforderungen der kulturpolitischen Praxis, in der die Erforschung und Pflege der fortschrittlichen Traditionen in der Kultur und Lebensweise der Werktätigen einen wichtigen Platz einnehmen, sind auch bezüglich des Problemkomplexes „Novation - Tradition" zu verzeichnen. D a ß hier auf einige noch ungenügend erforschte und theoretisch-methodologisch unzureichend geklärte Problemkomplexe - sie stehen hier pars pro toto - verwiesen wird, entspricht dem Anliegen des Symposiums. D a s Ziel bestand, wie eingangs bemerkt wurde, darin, einem größeren Kreis von Ethnographen und Vertretern benachbarter Wissenschaftsdisziplinen Ergebnisse und Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Hauptrichtungen der bürgerlichen Ideologie auf dem Gebiet der Ethnographie vorzustellen und über die Diskussion einen neuen Abschnitt im Erfahrungs- und Meinungsaustausch und in der weiteren Zusammenarbeit unter den Ethnographen der beteiligten Länder einzuleiten. D i e Darstellung der gewonnenen Erkenntnisse war stets mit einer kritischen Bilanz des Erreichten verbunden, in der auch die weißen Flecken und die bisher nur unzureichend bearbeiteten Felder auf der Soll-Seite verbucht wurden. Mehrfach wurde prononciert zum Ausdruck gebracht, d a ß die Aufdeckung der bürgerlichen Beschränktheit in den Wissenschaftsauffassungen von Ethnographen der kapitalistischen Länder nur die eine Seite der Aufgabe darstellt. Es genügt nicht nachzuweisen, d a ß ihre Fragen und Antworten falsch sind, weil die Problemstellungen metaphysisch, idealistisch oder mechanisch-materialistisch gefaßt und aus dem dialektischen Entwicklungszusammenhang gelöst werden. Kritik bürgerlicher Wissenschaftsauffassungen und ihres Kategorienapparates heißt zugleich, auf der Grundlage des dialektischen und 2

K u l t u r u. E t h n o s

18

B. WEISSEL

historischen Materialismus echt weiterführende Probleme zu formulieren und theoretisch tief begründete Antworten zu finden. Geschieht dies, werden die Ethnographen der sozialistischen Länder zukünftig einen noch wirksameren Beitrag zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der Lebensweise und Kultur der Völker, ihrem Hauptarbeitsfeld, leisten und im Verein mit den Vertretern der Naturund Gesellschaftswissenschaften schöpferisch an der weiteren Ausarbeitung der Kategorien des dialektischen und historischen Materialismus mitwirken. Die Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen der bürgerlichen Ideologie auf dem Fachgebiet ist demnach kein Selbstzweck, kein Bereich, dessen Bearbeitung nur einigen Spezialisten mit Neigungen zur Arbeit auf theoretisch-methodologischem Gebiet aufgegeben ist. Sie ist immanenter Bestandteil der Arbeiten zur weiteren Ausgestaltung des Lehrgebäudes der marxistisch-leninistischen Ethnographie. Auch für unsere Disziplin wurde der Nachweis erbracht, daß viele weiterführende Anstöße aus dem Studium der Geschichte der eigenen Disziplin gewonnen werden. Lag auch das Schwergewicht der Referate und Beiträge des Symposiums auf der Analyse der Richtungen und Strömungen, in denen sich die Grundlagenkrise der bürgerlichen Ethnographie und die Versuche, veränderten Verhältnissen mit neuen Theorien und Konzeptionen zu begegnen, besonders deutlich widerspiegeln, so durften und dürfen - das wurde allgemein anerkannt - auch Vorstellungen und Auffassungen, die nach der Eigengesetzlichkeit der Tradition unreflektiert weiterwirken und in zahlreichen Arbeiten, vornehmlich auf der deskriptiven Ebene angesiedelt, zum Ausdruck kommen, nicht außer acht gelassen werden. Der unter großem publizistischem Aufwand besonders in den periodisch erscheinenden Fachorganen ausgetragene Streit der Vertreter der verschiedenen Richtungen um die führende Stellung bei der theoretischmethodologischen Umrüstung der bürgerlichen Ethnographie im Hinblick auf neue Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis darf nicht vergessen machen, daß in den kapitalistischen Ländern alljährlich nach wie vor zahlreiche, zumeist monographische Arbeiten herausgegeben werden, die theoretisch kaum befrachtet erscheinen und deutliche Züge der Abstinenz gegenüber allem aufweisen, was sich in Theorie und Methodologie als neuartig darbietet. Es wäre falsch, diese Arbeiten pauschal als konservativ abqualifizieren zu wollen. Manche dieser Arbeiten enthalten wertvolle Bausteine zur Erkenntnis in weiten Teilbereichen der Geschichte der materiellen und geistigen Kultur und leisteten beachtliche Beiträge zur Erschließung des kulturellen Erbes der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes. Vielen Laienforschern und Sammlern ist echtes persönliches Engagement für die schöpferischen Kulturleistungen aus der Mitte des Volkes zu attestieren. Ob und inwieweit ein konservatives Gesellschafts- und Menschenbild die Aufbereitung des Materials und seine historische Interpretation beeinflußt haben, kann jeweils immer nur im Ergebnis der konkreten Analyse ermittelt werden. Dieser Hinweis erschien mir notwendig, denn an den Diskussionen um neue Konzepte und Theorien, in denen sich die Sorge um die zukünftigen Schicksale der Disziplin manifestiert, beteiligt sich, soweit wir es übersehen, nur eine Minderheit von Wissenschaftlern. In der Öffentlichkeitsarbeit, d. h. in der Umsetzung der Forschungsergebnisse in die Erschließung und Aufbereitung von Quellenzeugnissen in die Museums- und Ausstellungspraxis und in die populärwissenschaftliche Vortragstätig-

Vorwort

19

keit, halten die Vertreter konservativer Richtungen starke Positionen. Sie prägen weitgehend auch das Bild in der Pflege regionaler und lokaler Kulturtraditionen, die politisch oft am reaktionären Flügel der politischen Kräfte angesiedelt sind. Sie üben einen nachhaltigen Einfluß auf die Vorstellungen interessierter Kreise vom Inhalt und von den Aufgaben der Ethnographie aus. In der B R D gehört die Klage über die „Dilettanten" zum festen Repertoire der Beschwerden über die Hemmnisse, die einer Erhöhung des gesellschaftlichen Ansehens der Disziplin im Wege stehen. Direkte und indirekte Unterstützung finden die Exponenten konservativ-heimattümelnder Tendenzen bei konservativen Hochschullehrern und staatlichen Dienststellen. Extrem reaktionäre, ultramontane Befürworter der Pflege „des Alten", „des Grundschichtigen" in der traditionellen Volkskultur begleiten ihre Plädoyers mit heftigen Attacken und Diffamierungen der marxistisch-leninistischen Ethnographie. D i e Rolle des Sturmbocks ist der antikommunistischen Totalitätsdoktrin zugedacht. Auf sie im Zusammenhang mit den zukünftigen Aufgaben der Auseinandersetzung zu verweisen, erscheint aus zwei Gründen als notwendig: Erstens ist das Gewicht dieser Kräfte in den letzten Jahren keineswegs geringer geworden. D i e allgemeine politische Atmosphäre in der B R D , die durch die Zunahme rechtsradikaler Aktivitäten, durch Berufsverbote für aufrechte Demokraten und eine Praxis der Verdächtigung und Gesinnungsschnüffelei gekennzeichnet ist, begünstigt ihr weiteres Vordringen. Zweitens blockieren diese Kräfte die notwendige wissenschaftliche Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern über die Grenzen der Gesellschaftssysteme hinweg, in dem sie ihre Fachkollegen im eigenen Land, die sich, von liberalen Positionen ausgehend, der Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus stellen wollen, der Absicht der „kommunistischen Unterwanderung" bezichtigen. Als besonders eifernde Gegner der Entspannung haben sich auf dem Territorium der B R D in den letzten Jahrzehnten die Exponenten der sogenannten Vertriebenenvolkskunde erwiesen. Meist aus den Reihen jener „Volks- und Volkstumsforscher" hervorgegangen, die im Rahmen der vom deutschen Imperialismus in der Zeit vom Ausgang des ersten bis zum E n d e des zweiten Weltkrieges betriebenen Propaganda und Politik der „europäischen Neuordnung" an der ideologischen Vorbereitung und Durchführung der Versklavung der Völker Mittel- und Osteuropas mitwirkten, halten sie in zahlreichen Schriften, Ausstellungen und Vorträgen die Legende von der angeblichen deutschen Kulturmission im Osten und Südosten Europas am Leben. Sie sprechen insbesondere den slawischen Völkern jede schöpferische Kulturleistung ab. Alle erhaltenswerten Kulturerrungenschaften werden mit dem Etikett „abendländisch-christlichdeutsch" versehen und als Werk der deutschen Kolonisation ausgegeben. D i e im E r gebnis der volksdemokratischen Revolutionen durchgeführte sozialistische Kulturrevolution wird als „Einbruch fremder Mächte" deklariert und diskreditiert. Soweit den Völkern Ost- und Südosteuropas überhaupt kulturschöpferische Fähigkeiten zugebilligt werden, bezieht sich dies nur auf traditionelle Bereiche der materiellen und geistigen Kultur. Sie werden daran gemessen und gewogen, inwieweit sie es vermögen, traditionelle, historisch überholte Lebensformen zu konservieren. Ihre Leistungen für den historischen und kulturhistorischen Fortschritt kommen nirgendwo ernsthaft in B e tracht. 2*

20

B. WEISSEL

Die Vertreter der „Vertriebenen-Volkskunde" in der BRD und in Österreich gliedern sich in die Aktivitäten der sogenannten „Landsmannschaften" ein. Diese sind Bestandteil des Aktionsprogramms der politischen Kräfte, die die Revision der im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstandenen Grenzen unverhüllt als ihr Ziel erklären. Der Hauptstoß ihrer Aktivitäten richtet sich besonders gegen die CSSR und die Volksrepublik Polen. Sie fungieren als mobile Hilfstruppe der Fraktion der Monopolbourgeoisie der BRD, die darauf spekuliert, durch Einschlagen eines „harten Kurses" gegenüber den sozialistischen Staaten die Entspannung rückgängig zu machen und auf dem Wege über die Konfrontation schließlich auch die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges zu ihren Gunsten zu korrigieren. Gewiß bezeichnet diese Richtung nur eine Stimme im Chor der BRD-Volkskunde, und es wäre falsch, aus ihren Auslassungen die für die Zukunft bestimmende Tendenz ablesen zu wollen. Ebenso falsch wäre es aber auch, sie im Hinblick darauf zu ignorieren, d a ß sich das, was sie an Produkten zu offerieren hat, bereits auf den ersten Blick betrachtet, als leicht durchschaubare Geschichtsklitterung für reaktionäre politische Propagandazwecke erweist. Die Notwendigkeit, die von der „Vertriebenen-Volkskunde" propagierten Auffassungen einer ständigen und bis auf den Grund reichenden Kritik zu unterziehen, besteht dennoch. Ihre Wurzeln reichen weit in die historische Vergangenheit zurück. Sie entspringen nationalistischen, extrem chauvinistischen, pangermanistischen Ideen, die reaktionäre Vorurteile gezüchtet und genährt und die Beziehungen des deutschen Volkes zu seinen Nachbarvölkern auf das schwerste belastet haben. Damit wird die marxistisch-leninistische Ethnographie auf Aufgaben verwiesen, die sie gemeinsam mit anderen geschichtswissenschaftlichen Disziplinen bei der weiteren Ausarbeitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes zu leisten hat. Für das tiefere Verständnis der Geschichte der Völker der sozialistischen Staaten ist die Kenntnis ihrer Kulturleistungen, Traditionen und der wechselseitigen Kultureinflüsse von hervorragender Bedeutung, und ein tieferes Geschichtsverständnis ist wiederum ein wesentlicher Faktor in den Prozessen der Annäherung der Kulturen der sozialistischen Nationen und Völker. Das wird auch der Auseinandersetzung mit nationalistischen Auffassungen neue Impulse verleihen. Die Entwicklungsperspektive der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft eröffnet auch der Ethnographie neue Möglichkeiten, die bisherigen Ergebnisse in der Erforschung der interethnischen Beziehungen und des Kulturaustausches in welthistorischer Dimension auszubauen. Auch auf diesem Gebiet hat die sowjetische Ethnographie Schrittmacherdienste geleistet. Zwischen den Ethnographen der D D R und der CSSR wurde eine Gemeinschaftsarbeit eingeleitet, die sich die Erforschung der wechselseitigen Kultureinflüsse und der interethnischen Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Periode der nationalen Wiedergeburt des tschechischen Volkes zum Ziel setzt. Auch der Hinweis auf diese Problemkomplexe erschien uns in diesem Zusammenhang notwendig, stellt doch das weite Feld der Erforschung der Geschichte der interethnischen Beziehungen einen wichtigen Abschnitt im Kampf zwischen dem MarxismusLeninismus und den verschiedenen Spielarten der bürgerlichen Ideologie dar. Das Problem des gleichberechtigten Neben- und Miteinanders der Nationen und Völker in einem Staatsgebilde, das die Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft beispiel-

Vorwort

21

gebend für die Menschheitsgeschichte gelöst haben, verleiht der Ethnographie der sozialistischen Länder, die an diesen Prozessen verantwortungsbewußt mitwirkt, jene Überzeugungskraft und moralische Autorität, die sie heute bereits in der Welt genießt und weitere Erfolge für Frieden und Fortschritt in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie erwarten läßt. Bernhard Weißel

Julian Vladimirovic Bromlej

Zur Frage nach dem Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie — Versuch einer vergleichenden Analyse der angloamerikanischen und der sowjetischen Standpunkte

In unserer Epoche, da zwischen den in den verschiedensten Gegenden der Erde lebenden Menschengruppen immer engere Kontakte hergestellt werden, tritt die Notwendigkeit enger Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern der verschiedensten Länder und Kontinente beim Studium des Menschen und der Menschheit immer offensichtlicher zutage. Das gilt in gleicher Weise auch für die Annäherung der ihrem Profil nach ähnlichen Disziplinen, die sich in den verschiedenen Ländern mit dieser Thematik befassen. Sie erlangt heute eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Das trifft auch in erheblichem Maße auf die Anthropologie und Ethnographie in allen ihren Zweigen und Ausprägungen zu, womit die Physische, Sozial- und Kulturanthropologie auf der einen und die Ethnologie, Volks- und Völkerkunde, die Laographie u. a. auf der anderen Seite gemeint sind. Die Aufgabe, die Auffassungen von der Anthropologie und Ethnographie einander anzunähern, wirft freilich sofort die Frage nach ihrem Platz im System der Wissenschaften auf. Dabei geht es letztlich um die zukünftigen Schicksale dieser Disziplinen. Gegenwärtig stößt man in der Literatur nicht von ungefähr immer häufiger auf Äußerungen von einer Krise der Anthropologie. 1 Man vernimmt auch Stimmen, die von einer allmählichen Verengung des Gegenstands der Ethnographie unter den modernen Bedingungen sprechen. Gleichzeitig nehmen in wachsendem Maße und in breiter Front Komplexdisziplinen ihre Arbeit auf dem Feld der anthropologisch-ethnographischen Forschungen auf. Diese Komplexdisziplinen reichen von der Kunstwissenschaft und Linguistik bis zur Geschichte und Soziologie. All das zeugt untrüglich von dem Ansehen der uns interessierenden Disziplinen, von ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Entwicklung der Gegenwart. Daraus kann sowohl auf die Haltung offizieller Kreise als auch auf das nicht weniger wichtige Interesse geschlossen werden, das ihnen die breite Öffentlichkeit entgegenbringt. Daraus erklärt sich auch die besondere Aktualität des zu behandelnden Problems. Nicht selten werden Ethnographie (Ethnologie) und Anthropologie (insbesondere Kultur/Sozialanthropologie) schlechthin gleichgesetzt oder doch als nahezu gleichwertig 1

Siehe C. Lévi-Strauss, La crise de l'anthropologie moderne, Le Courier UNESCO, Paris 1961, Nr. II; D. Lewis, „Anthropology and colonialism", in: Current Anthropology, 1973, Bd. 14, Nr. 6 ; I. R. Grigulevic, „Social'naja antropologija: est' Ii u nee buduscee?", in: Sovetskaja Étnografija, 2, 1975.

JU. V . B R O M L E J

24

eingestuft. Solchen Auffassungen begegnet man in der Literatur des Westens, 2 aber man trifft sie auch in der Literatur sozialistischer Länder, die Sowjetunion nicht ausgenommen. 3 Aber diese Identifizierung ist nur sehr bedingt statthaft und durchaus nicht überall gerechtfertigt. 4 Man darf darüber hinaus nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, d a ß sich darin Tendenzen zur Ausweitung der Divergenzen in den Vorstellungen vom Wesen und vom Gegenstand der Disziplinen artikulieren. Hinzu kommt, d a ß die Definition der einzelnen Disziplinen keineswegs von allen Wissenschaftlern anerkannt wird. Unterschiede in den Auffassungen bestehen nicht nur von Land zu Land, sondern selbst unter den Spezialisten innerhalb eines einzelnen Landes. All das erfordert, bei der Frage nach dem Verhältnis der Gegenstandsbereiche der uns interessierenden Disziplinen, der Begründung ihrer Abgrenzung dem System der entsprechenden Beweisführung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. D a ß die Bestimmung des Profils einer Wissenschaft nicht willkürlich erfolgen kann, darf als evident gelten und dürfte keinen Widerspruch hervorrufen. Solche Definitionen hängen von einer Reihe von Bedingungen ab, die obligatorischen Charakter tragen. Erstens führt die Aussonderung einer bestimmten Sphäre der objektiven Realität als Objekt der Forschung und ihrer spezifischen Wesensmerkmale - als Bewegungsformen der Materie - , deren Erkenntnis die Aufgabe der jeweiligen Wissenschaft darstellt, mit der Vertiefung der Kenntnisse über diese Wesensmerkmale unausweichlich auch zu veränderten Vorstellungen über ihren Gegenstand. Zweitens muß die Abgrenzung gegenüber den Komplexdisziplinen in Betracht gezogen werden. Drittens hängt die Bestimmung des Profils von der Bewertung der Traditionen und vom Erfahrungsschatz einer Wissenschaft ab. Schließlich erlangt auch die Benennung der Wissenschaft eine bestimmte Bedeutung. In dem uns interessierenden Zusammenhang wird den Traditionen gewöhnlich spezielle, bisweilen sogar entscheidende Bedeutung beigemessen. In der Regel bilden sich jedoch die Traditionen der einzelnen Wissenschaften ziemlich spontan heraus und bringen die Veränderungen bestimmter Bedürfnisse der Gesellschaft nur vermittelt zum Ausdruck. Die Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis des Gegenstandes der jeweiligen Wissenschaft zu den komplexen Disziplinen wird aber in der Praxis nur allzu häufig ignoriert. O f t vergißt man die „umgekehrte" Beziehung zwischen dem Gegenstand einer Wissenschaft und seiner Bezeichnung. Wie jeder spezielle Terminus, so ist freilich auch die Bezeichnung der wissenschaftlichen Disziplin bedingt, und es gibt im allgemeinen kein festes Verhältnis der Abhängigkeit zwischen ihr und dem Gegenstand. Einen anschaulichen Beweis liefern Geographie und Geologie. Dennoch ist die bestimmte semantische Beziehung in dieser Hinsicht so wesentlich, als d a ß man sie einfach ignorieren könnte. D a s trifft besonders dann zu, wenn die Bezeichnung der wissen2

D a v o n zeugt besonders anschaulich die Bezeichnung der 1 9 6 1 v o n G . P. Murdock

gegründeten

Zeitschrift: Ethnology. A n international journal of cultural and social anthropplogy. Siehe Ju. P. A v e r k i e v a , „Etnografija i kul'turnaja/sociarnaja antropologija na zapade", i n : Sovetskaja Etnografija, 5, 1 9 7 1 , S. 11. D i e s e n Fragen w u r d e bereits in der Spezialliteratur A u f m e r k s a m k e i t geschenkt. Siehe A . krantz, „American .anthropology' and European .ethnology' ", in: Laos, 2, 1 9 5 2 , S. 100.

Hult-

25

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

schaftlichen Disziplin keinen abstrakten Charakter aufweist. So wird niemand ernsthaft die Zoologie eine Disziplin nennen wollen, die die Pflanzen erforscht, oder die Genetik als die Wissenschaft bezeichnen, die sich mit Mineralien beschäftigt. Das erklärt sich daraus, daß im entgegengesetzten Falle eine krasse Nichtübereinstimmung des Terminus zu beobachten wäre, der zur Bezeichnung der Wissenschaft und der von ihr erforschten Eigenschaften der objektiven Realität verwendet wird. Anders ausgedrückt: eine bestimmte Übereinstimmung zwischen der Bezeichnung einer wissenschaftlichen Disziplin und der von ihr erforschten objektiven Realität ist notwendig. Dabei ist freilich keine Identität gefordert wie dies, wie sich am Wort „Geschichte" zeigt, übrigens auch gar nicht erstrebenswert ist. Anders wäre es äußerst schwierig, die notwendige Konventionalität und die sinnentsprechende Verwendung der Begriffe zu gewährleisten, die der wissenschaftlichen Disziplin und ihren spezifischen Funktionen den Namen geben. Bei der Anthropologie scheint, auf den ersten Blick betrachtet, direkte Übereinstimmung zwischen der Bezeichnung des Objekts der Wissenschaft und dem Eigennamen der Disziplin zu bestehen, bildet doch der Mensch, Anthropos, das Objekt, und die Anthropologie stellt sich allgemein die Aufgabe, den Menschen allseitig zu erforschen. Bereits im 18. Jahrhundert, als das Wort „Anthropologie" 5 eben erst aufkam, bezeichnet es den „Traktat von der Seele und vom Körper des Menschen". 0 Später wurde dieser Terminus konkretisiert und weiter aufgeschlüsselt. Die allseitige Erforschung des Menschen sollte sich sowohl auf seine biologischen als auch seine soziokulturellen Eigenschaften erstrecken. 7 So befaßt sich nach F. Boas die Anthropologie „mit den biologischen und geistigen Erscheinungen menschlichen Lebens". 8 Später bot M. Herskovits im Grunde dieselbe Definition: „Die Anthropologie, die ihre Aufmerksamkeit dem Menschen zuwendet, hat alle Phasen der menschlichen Existenz, die biologische und kulturelle, die vergangene und gegenwärtige im Auge." 9 Eine Definition jüngeren Datums von R. M. und F. M. Keesing lautet: „Die Anthropologen untersuchen sowohl die physischen (biologischen) als auch die kulturellen und sozialen Wesensmerkmale des Menschen." 10 Ähnliche allgemeine Definitionen 11 lösen jedoch unausweichlich die Frage Der Terminus „Anthropologie" taucht bereits im 1 6 . Jahrhundert auf. Siehe A . Bastian,

Die

Vorgeschichte der Ethnologie, Berlin 1 8 8 1 , S. 7. H

Siehe C. I. Poirier, Histoire de l'ethnologie, Paris 1 9 6 1 , S. 19.

7

Bei der Einbürgerung der Auffassung vom Profil der Anthropologie in den

angelsächsischen

Ländern spielte das 1 8 7 1 gegründete Anthropologische Institut Großbritanniens und Irlands, in das die bereits 1 8 4 3

in London gegründete Ethnische Gesellschaft eingegliedert wurde,

eine

bestimmte Rolle. Siehe Averkieva, a. a. O., S. 9. * F. Boas, Psychological problems in anthropology, 1 9 1 0 , S. 1. M. Herskovits, Man and his works, New Y o r k 1 9 4 9 , S. 5 ; siehe ferner A . Montague, Anthropology and Human nature, Boston 1 9 5 7 ; T. K . Penniman, A Hundred Years of Anthropology, London 1 9 6 5 , S. 1 3 - 1 4 . 1(1

R. M. Keesing/F. M. Keesing, New perspectives in cultural anthropology, New Y o r k

1971,

S. 5. 11

Die ideologische Grundlage der Auffassung von der Anthropologie als der Universalwissenschaft vom Menschen bildet der philosophische Anthropologismus,

der für die Anschauungen

vieler

26

JU. V. BROMLEJ

aus: Wodurch unterscheidet sich die Anthropologie von solchen Wissenschaftsdisziplinen wie Philosophie und Soziologie,12 die in diesem oder jenem Maße den Anspruch auf die Erforschung der Menschheit als Ganzes erheben? Gewöhnlich wird leider die Frage nach der differencia specifica der Anthropologie mit Stillschweigen übergangen. Sie zu ignorieren, ist jedoch schlechterdings unmöglich, denn sie ist selbst Realität, und dieser kann man nicht entgehen. Abstrakte Erörterungen, wonach die Aufgabe der Anthropologie im Studium der gemeinsamen Züge des Menschen und der Menschheit bestehe,13 führen nicht weiter. Eine solche Aufgabe stellen sich auch die vorhin erwähnten Disziplinen. Hier ist überdies anzumerken, daß die Anthropologie sich in der Praxis nicht auf die Erforschung des „allgemeinen" Charakters beschränkt, mit der Anthropologen den Leser übrigens eigentlich kaum behelligen. Auch die Behauptung, daß „der konkrete Beitrag, den die Anthropologie in die Wissenschaft vom Menschen einzubringen bestrebt ist, in der weiten Sicht auf die Sache, in der weiten Perspektive besteht, die Spezialkenntnisse anderer Disziplinen vereint und sie in Verbindung mit den eigenen direkten und unmittelbaren Beobachtungen des Anthropologen erforscht",14 vermag an diesem Sachverhalt nichts zu ändern. Die Weite der Sicht und Perspektiven nehmen beispielsweise die Philosophie und Soziologie für sich in Anspruch, und der Soziologie sind die Methoden der unmittelbaren Beobachtung und Feldforschung ebenfalls vertraut. Auf spezifische Methoden kann man sich anders als bei Hilfswissenschaften bei der Begründung des selbständigen Charakters der Grundwissenschaften wohl kaum berufen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Eingeständnis rvon Lévi-Strauss, daß „die Anthropologie sich von anderen ,Human'- und Sozialwissenschaften nicht durch einen ihr einzig und allein gehörenden Forschungsgegenstand auszeichnet".1'' Auch die Zuordnung Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts charakteristisch ist. D e r philosophische Anthropologismus war eine der Formen der Überwindung des Idealismus durch den vormarxschen Materialismus. Dieses Herangehen stand bekanntlich im Zentrum des Materialismus Ludwig Feuerbachs, der in seinen Schriften die Notwendigkeit einer Universalwissenschaft von der Gesellschaft, die Anthropologie, zu begründen suchte. Der fundamentale Fehler des philosophischen Anthropologismus war seine Auffassung vom Menschen als einem biologischen Wesen mit abstrakt seit eh und je ausgestattetem Potential und einem unveränderlichen Wesen (siehe Averkieva, a. a. O., S. 9 bis 10). In der Gegenwart werden in der bürgerlichen Wissenschaft Versuche eine philosophische Anthropologie

unternommen,

als eine Art „humanistisches" sozial-philosophisches

zu schaffen, das den angeblich „antihumanistischen" Traditionen der marxistischen entgegengestellt werden

soll

(siehe I. I. Antonovic,

System

Philosophie

Sovremennaja filosofskaja antropologija,

Kriticeskij ocerk, Minsk 1970). 12

Siehe

P. N .

Fedoseev,

„Problema

social'nogo

i biologiceskogo

v

iìlosofii i sociologii",

in:

Voprosy filosofii, 3, 1976, S. 65. So „strebt diè allgemeine Anthropologie", nach M. Harris, „danach, eine allgemeine Orientierung zu erreichen". Sie bezieht sich darauf, „wie die bedeutenden Fakten in der ganzen Menschheit, im maximalen Kontext der Zeit, des Raums und der Theorie zu bestimmen und zu werten sind". (M. Harris, Culture. Man and Nature. An Introduction to General Anthropology, York 1971, S. 5.) D . G. Mandelbaum, Anthropology as study as career, Berkeley 1965, S. 1. C. Lévi-Strauss, Anthropologie Structurale, Paris 1968, S. 37i8.

New

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

27

der „allgemeinen" Anthropologie zu den Naturwissenschaften, 16 wie sie unter der Einwirkung der Ideen des philosophischen Anthropologismus versucht wird, verheißt keine Befreiung aus dem Dilemma. Letztlich wäre sie dabei mit der physischen Anthropologie identisch und verlöre somit ihren Anspruch auf Allgemeinheit. Diese Frage verbleibt auch weiterhin Gegenstand der Diskussion, und zuweilen rechnet man die Anthropologie als Ganzes zu den Humanwissenschaften. 17 Wie bereits bemerkt wurde, erblickt man nicht selten die Hauptaufgabe der Anthropologie in einer Verbindung des Studiums der biologischen und soziokulturellen Aspekte des Menschen und der Menschheit.18 Eine solche Behandlung der Anthropologie stellt sich als äußerst verschwommen dar, bleibt doch das Studium der Wechselbeziehungen des Biologischen und Sozialen in der Tätigkeit des Menschen eine der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft insgesamt.19 Leider weisen derartige auf die Synthese zielenden Forschungen in der Anthropologie nur ein geringes Eigengewicht auf. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur die Thematik der Referate auf dem letzten Internationalen Kongreß in Chikago anzuschauen.20 Davon zeugt aber auch die in der Praxis der angelsächsischen Länder gültige Einteilung der Anthropologie in die Physische,21 die Kultur- und Sozialanthropologie, die sich wiederum in zahlreiche Subdisziplinen gliedern. In den USA und England werden das Verhältnis der einzelnen anthropologischen Disziplinen und ihr Platz im System der Wissenschaften durchaus nicht einheitlich bewertet. „Wie Lehre und Praxis auf den meisten Universitäten der USA zeigen, stellt die allgemeine Anthropologie ein Amalgam aus vier Bereichen bzw. Disziplinen dar, nämlich der Kultur anthropologie (manchmal auch Sozialanthropologie genannt), der Archäologie, der anthropologischen Linguistik und der Physischen Anthropologie dar." 22 10 17

10

Vl

2U

21

A. R. Radcliffe-Brown, A natural science of society, Glencoe 1957. R. Redfield, „Relation of anthropology to the social sciences and humanities", in: Anthropology Today, Chicago 1953, S. 728-738; derselbe, „Anthropology among the disciplines...", in: Current Anthropology, Bd. 4, 1963, Nr. 2. Siehe dazu die vorhin angeführten Definitionen der Anthropologie von Boas, Herskovits und Penniman, siehe auch Mandelbaum, S. 1, und Harris, S. 1. Die Notwendigkeit komplexen Herangehens an das Studium des Menschen wird in letzter Zeit von sowjetischen Wissenschaftlern mehrfach betont (siehe B. G. Anan'ev, Celovek kak predmet poznanija, Leningrad 1968). Dabei ist zu unterstreichen, daß die wichtigste Bedingung des dialektischen Herangehens an das Problem des Verhältnisses zwischen Biologischem und Sozialem darin besteht, daß die gegebenen Erscheinungen einerseits nicht miteinander identifiziert, andererseits aber auch nicht starr einander entgegengesetzt werden dürfen. (Siehe Fedoseev, a. a. O-, S. 65.) IX. International Congress of Anthropological and Ethnological Sciences. Plan of the Congress and Résumés of contributions, Chicago 1973, S. 1 - 1 4 7 ; siehe ferner Ju. P. Averkieva/ Ju. V. Bromlej, „IX. Mezdunarodnyj kongress antropologiceskich i étnologiceskich nauk", in: Sovetskaja Étnografija, 1, 1974, S. 3 - 1 5 . In der UdSSR wird wie in der Mehrheit der europäischen Länder zur Bezeichnung der Physischen Anthropologie gewöhnlich der Terminus „Anthropologie" verwendet, der nur in diesem Sinne gebraucht wird. Harris, S. 1. Die Hervorhebungen stammen vom Autor des Beitrags.

28

JU. V. B R O M L E J

Spricht man in den USA von den speziellen anthropologischen Disziplinen, so begnügt man sich gewöhnlich mit dem Hinweis auf die Physische und die Kulturanthropologie. In England pflegt man dagegen der Physischen Anthropologie die Sozialanthropologie gegenüberzustellen. Zwischen den „Kulturanthropologen" der USA und den englischen „Sozialanthropologen" ist seit vielen Jahren eine Polemik um das Verhältnis dieser beiden Wissenschaften zueinander im Gange. 23 Der Streit geht um das Wesen und das Verhältnis der Begriffe „Kultur" und „Gesellschaft". Die Mehrheit der amerikanischen Wissenschaftler vertritt die Auffassung, daß „Kultur" und „Gesellschaft" Begriffe von gleichem Rang seien und daß die soziale Struktur im Begriff „Kultur" einbezogen ist. Sie betrachten die Sozialanthropologie als Teil der Kulturanthropologie, der sich mit dem Studium der Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen und den ihnen entsprechenden Institutionen befaßt. 24 In ihrer Polemik mit ihren amerikanischen Kollegen vertreten die englischen Sozialanthropologen dagegen die Auffassung, daß die Kulturanthropologie einen Teil der Sozialanthropologie bilde. Sie berufen sich darauf, daß Kultur nur einer der Aspekte des sozialen Lebens sei.2" In jüngster Zeit wird jedoch zur Bezeichnung beider Spielarten der Anthropologie immer häufiger, insbesondere auf internationalen Foren, die „integrierende" Bezeichnung Kultur/Sozialanthropologie verwendet. 26 Von Integration kann hier freilich nur bedingt gesprochen werden. Das ergibt sich vor allem aus der außerordentlichen Verschwommenheit der theoretisch-ideologischen Positionen der angloamerikanischen Kultur/ Sozialanthropologen. 27 Das wirkt wiederum „umgekehrt" auf die Seite der Kultur- und Sozialanthropologie zurück, die uns hier besonders interessiert, nämlich auf die Vorstellungen von ihrem Gegenstand. Obwohl diese Vorstellungen, wie wir sehen, keineswegs einheitlich sind, ist nachdrücklich zu unterstreichen, daß es sich um eine Disziplin handelt, die heute in der westlichen Welt sehr „in Mode" ist.28 Die Frage nach ihrem Gegenstand und Platz im System der Wissenschaften taucht N ä h e r e s siehe bei A v e r k i e v a , a. a. O . , S. 1 2 - 1 3 . 24

E. A . Hoebel, M a n in the primitive w o r l d . A n introduction to anthropology, L o n d o n 1 9 4 9 , S. 5 ; Penniman, S. 1 5 .

2-'

A . R. R a d c l i f f e - B r o w n , A

structure and function in primitive society, 6. A u f l . , L o n d o n

1965,

S. 5. 27

Siehe Encyclopaedia Britannica, B d . 6, C h i c a g o - L o n d o n - T o r o n t o - G e n f

1 9 6 3 , S. 8 8 8 .

Z u r K r i t i k der Hauptrichtungen und -schulen der angloamerikanischen

Kultur/Sozialanthropologie

durch sowjetische Wissenschaftler siehe A n g l o a m e r i k a n s k a j a Moskau

1951;

Sovremennaja

Moskau 1 9 6 3 ; Averkieva, a . a . O . ; i Novejsaja zapada, „Der

Istorija,

5,

Etnologiceskie

1972; in

dieselbe,

der

imperializma,

napravlenija

i tendencii,

dieselbe, „Etnografija v S,?A i neokolonializm", in:

issledovanija

Neoevolutionismus

e t n o g r a f i j a na sluzbe

a m e r i k a n s k a j a etnografija. Teoreticeskie

za

Ob

otnosenii

rubezom.

gegenwärtigen

k marksizmu

Kriticeskie

ocerki,

Ethnographie

der

v

sovremennoj

Moskau USA",

in

Novaja

etnografii

1973; diesem

dieselbe, Band;

G r i g u l e v i c , a. a. O . 28

Einer besonders starken P o p u l a r i t ä t e r f r e u t sie sich in den U S A . In den J a h r e n nach dem zweiten Weltkrieg

wuchs

die

Mitgliederzahl

der

Amerikanischen

Anthropologie-Assoziation

F ü n f f a c h e und stieg auf einige Tausend an. D a b e i überwiegen die K u l t u r a n t h r o p o l o g e n mäßig. M a n

schätzt, d a ß

um

die Zahl d e r Wissenschaftler dieser Spezialisierungseinrichtungen

a l l e r übrigen L ä n d e r zusammengenommen übersteigt. (Siehe G r i g u l e v i c , a. a. O., S. 3 8 . )

das

zahlendie

G e g e n s t a n d v o n Kultur/Sozialanthropologie

und

29

Ethnographie

häufig auch in der ausländischen Literatur auf. Sie wird nicht nur in allgemeinen Überblicksdarstellungen aufgeworfen, sondern auch in Spezialarbeiter 2 0 Einen der ernsthaftesten Versuche in dieser Richtung unternahm vor nicht allzu langer Zeit M. Freedman in einer für die UNESCO bestimmten Ausarbeitung. Als ein Kapitel der Arbeit „Hauptforschungsrichtungen in den Sozial- und Humanwissenschaften" bietet sie unter der Überschrift „Sozial- und Kulturanthropologie" 30 einen speziellen Überblick. Dieser Überblick wurde als gesondertes Referat auf dem IX. Internationalen Kongreß der anthropologischen und ethnologischen Wissenschaften im Jahre 1973 in Chikago gehalten und zur Diskussion gestellt. 31 In vielen Ansichten der Tradition folgend, siedelt Freedman den Einsatzbereich der kultur/sozialanthropologischen Forschungen in der Grenzfläche zwischen den sogenannten „primitiven" Gesellschaften und der Gegenwart an. 3a Faktisch wird jedoch den „primitiven" Gesellschaften eindeutig der Vorzug gegeben; beim Studium der Gegenwart gilt das Interesse vorwiegend den kleinen Menschengruppen. 33 All das erweist sich freilich als das bereits Bekannte, aber es tritt hier sehr klar in Erscheinung. Das gilt jedoch nur insofern und insoweit wir davon absehen, den Charakter der Kultur/Sozialanthropologie in Beziehung zur Bezeichnung der Disziplin zu setzen. Als Objekt in diesem Sinne3'1 figurieren gewöhnlich: die Gesellschaft überhaupt oder die sozialen Gruppen, 35 die Kultur insgesamt, die Lebensweise oder die Kulturareale 38 und drittens die Völker. 37 Kann man in den ersten beiden Fällen noch von einer gewissen Übereinstimmung zwischen der Bezeichnung des Gegenstands und der Disziplin sprechen (Sozium - Soziale Anthropologie; Kultur - Kulturanthropologie), so läßt sich im dritten Fall eine solche Übereinstimmung schwerlich feststellen. Zugleich erhebt sich, wann immer von Gruppen (sozialen, kulturellen, ethnischen) die Rede ist, die „äußerlich betrachtet, formale", aber im Sinne der Logik unausweichliche Frage: Warum befaßt sich eine Wissenschaft, deren Bezeichnung vom Wort „Anthropos" abgeleitet ist und die man häufig genug als die Wissenschaft charakterisiert, deren Objekt der Mensch oder die Menschheit sei, nur mit einigen Teilen der Menschheit? Bereits darin kommt eine gewisse Willkürlichkeit zum Ausdruck. Man kann das hinnehmen, und gewöhnlich geschieht das auch. Aber das befreit sie nicht von anderen Unzulänglichkeiten und Widersprüchen ähnlicher Art. So stellt sich insbesondere die Frage: 211

Siehe „ A n t h r o p o l o g y among the diseiplines", i n : C u r r e n t A n t h r o p o l o g y , 4 , 1 9 6 3 , N r . 2.

30 M . F r e e d m a n , Social a n d Cultural A n t h r o p o l o g y . E x t r a c t f r o m Main

Social

and

Human

Sciences.

Trends

of Research

U N E S C O , to be publishcd in 1 9 7 3 — 7 4 , P a r i s - d e n H a a g ,

in

the

Mouton

(UNESCO). 31

Siehe A v e r k i e v a / B r o m l e j , a. a. O . , S. 6 - 7 .

32

F r e e d m a n , a. a. O .

33

Siehe E n c y c l o p a e d i a Britannica, B d . 2 0 , S. 8 6 2 ; Keesing/Keesing, S. 4 - 5 .

J4

Gewöhnlich

werden

Objekt

und

Gegenstand

innerhalb

der

Kultur/Sozialanthropologie

scharf begrenzt, und häufig geht es allgemein nur um ihren o b j e k t i v e n

nicht

Gegenstandsbereich.

M . T i t i e v , T h e Science of man, N e w Y o r k 1 9 5 6 , S. 4 . 3li

Siehe e b e n d a ; D . G . M a n d e l b a u m , Cultural A n t h r o p o l o g y , C a l i f o r n i a 1 9 6 5 , S. 2 ; A . H u l t k r a n t z ,

37

A . H a d d o n , History of anthropology, London 1 9 4 9 , S. V I I .

G e n e r a l Ethnological Concepts, Copenhagen 1 9 6 0 , S. 5 7 .

30

JU. V . B R O M L E J

Warum wendet diese Disziplin ihr Augenmerk in erster Linie den „primitiven" Gesellschaften zu? Ist etwa der Mensch in den hochentwickelten Gesellschaften kein Anthropos mehr? Soweit die Rede darauf kommt, beruft man sich gewöhnlich auf die Tradition. Wie bereits bemerkt wurde, reichen solche einzelnen Berufungen auf die Tradition nicht aus, um den objektiven Gegenstandsbereich einer Disziplin zureichend zu begründen, und in diesem uns interessierenden Fall sind sie völlig unzulänglich. 38 Die Hinweise, daß in hochentwickelten Gesellschaften kleine soziokulturelle Gruppen erforscht werden, können die Unzulänglichkeiten der Argumentation nicht beheben. Stellen etwa die großen Gemeinschaften und die großen Einheiten in der Gliederung des Menschengeschlechts in der Gegenwart, wie z. B. die Nationen, keine soziokulturellen Einheiten dar? Bei der Antwort auf diese Frage soll die Berufung darauf, daß sich die Kultur/ Sozialanthropologie von anderen Disziplinen durch die Methode der Feldforschung unterscheide, aus der Verlegenheit helfen. 39 Auch hier wird offenbar, daß die Methode allein keine ausreichende Begründung für die Gliederung und Aussonderung von Forschungsbereichen liefern kann. Das erklärt sich allein schon daraus, daß auch andere Wissenschaften, wie z. B. die Geologie, Feldforschungen betreiben. Andererseits, so bemerkt Freedman zutreffend, erhält die Kultur/Sozialanthropologie bei weitem nicht alle ihre Ergebnisse allein durch die Methode der Feldforschungen. 40 Hier ist vor allem die Aufmerksamkeit auf den Platz zu lenken, den die Kultur/Sozialanthropologie besonders der vergleichend typologischen Methode einräumt. 41 Die komplizierte Situation, in der sich die Kultur/Sozialanthropologie in unseren Tagen befindet, wird besonders offenkundig, wenn nach ihrem Verhältnis zu komplexen, „gemischten" Disziplinen gefragt wird. Das betrifft in erster Linie ihr Verhältnis zur sogenannten konkreten Soziologie. Diese Disziplin hat in den letzten Jahrzehnten in der ganzen Welt eine stürmische Entwicklung genommen. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten über die Bestimmung ihres Gegenstandsbereichs tritt sie letztlich mit dem Anspruch auf, die gegenwärtige Gesellschaft, soweit sie mit dem Mittel empirischer Untersuchungen erforscht werden kann, in ihrer Totalität zu erfassen. Man muß eingestehen, daß es nicht leicht fällt, diesem Druck zu widerstehen. Wenn Kulturanthropologen nach dem Verhältnis ihrer Disziplin zur konkreten Soziologie befragt werden, machen sie gewöhnlich geltend, sie unterscheide sich von dieser, wie sich kulturelle von den sozialen Erscheinungen im eigentlichen Sinne unterscheiden. Auch wenn man solcher Abgrenzung der gesellschaftlichen Erscheinungen zustimmt oder nicht zustimmt, beDieses Umstands waren sich auch einige führende westliche Anthropologen bewußt. So argumentiert Boas bei dem Versuch, das erhöhte Interesse der Anthropologen Gesellschaften

logisch

zu

begründen,

daß

die

„grundlegenden

an den

Besonderheiten

„primitiven" der

sozialen

Organisation dort deutlicher sichtbar werden dürften als in den entwickelten städtischen Gesellschaften" (Boas, S. 1). 311

Siehe Encyclopaedia Britannica, Bd. 20, S. 8 6 2 .

40

Freedman, a. a. O., S. 1 2 1 .

41

Haddon, S. VIII; Explorations in Cultural Anthropology, hsg. v. W . Goodenough, New York 1 9 6 3 , S. 2 ; Keesing/Keesing, S. 4 ; L. Despres, „Anthropological Theory, Cultural Pluralism and the Study of Complex Societies", in: Current Anthropology, Bd. 9, 1 9 6 8 , Nr. 1, S. 4.

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

31

deutet das noch nicht, daß man einer Vermischung von Anthropologie und Soziologie das Wort reden sollte. Hier erhebt sich jedoch unabweisbar die Frage nach der Abgrenzung der Kulturanthropologie sowohl gegenüber der allgemeinen Kulturwissenschaft als auch gegenüber den einzelnen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Sozialanthropologie wäre freilich nur schwer gegenüber den Prätentionen der Soziologie zu verteidigen, und dies um so weniger, als sie dem Studium kleiner Gruppen ihr Hauptaugenmerk schenkt. Nicht von ungefähr betrachten die Begründer der Sozialanthropologie ihre Wissenschaft als Subdisziplin der Soziologie.42 In der englischsprachigen Spezialliteratur der Gegenwart wird nicht selten die enge Bindung zwischen Sozialanthropologie und Soziologie anerkannt, und man hebt hervor, daß beide gleiche Ziele hätten.43 Freilich ist man sich auch der problematischen Natur der Grenzen zwischen der Anthropologie und Soziologie im ganzen genommen bewußt. In dieser Hinsicht ist die Bemerkung eines der führenden Soziologen der USA, T. Parsons', sehr aufschlußreich: „Es fällt schwer, die besondere Stellung zu kennzeichnen, die die Anthropologie einnimmt. In gewisser Beziehung hat sie sich eines größeren Bereichs als den der Soziologie bemächtigt, während sie in anderer Hinsicht ihr Augenmerk auf die schriftlosen Kulturen und Gesellschaften richtet."44 Zweifellos hat das Fehlen eindeutig fixierter Grenzen zwischen der Anthropologie und Soziologie eine Ursache auch in der für die jüngste Zeit zu beobachtenden Tendenz, an den Universitäten der USA Lehrstühle zu schaffen, die beide Disziplinen vereinen. Zusammenfassend sei gesagt: Das vorhin Ausgeführte dürfte deutlich erwiesen haben, daß die Bestimmung des Standorts der Kultur/Sozialanthropologie im System der Wissenschaften von erheblichen Schwierigkeiten begleitet ist. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Eingeständnis, das einer ihrer Vertreter in einem erweiterten Diskussionsbeitrag auf dem internationalen Symposium zum Thema „Der Platz der Anthropologie und der Ethnographie im System der Wissenschaften. Der westliche und der sowjetische Standpunkt" machte, das erst kürzlich, im Juli 1976, auf Burg Wartenstein in Österreich stattfand. In seinem Vortrag erklärt er: „Ich weiß sehr wohl, daß einige Kollegen meine Irritation teilen, die ich empfinde, wenn man mich ersucht, eine Definition der Anthropologie selbst unter Verwendung der akademisch gebräuchlichen Termini zu geben".45 Wenn wir nun zum Vergleich der Kultur/Sozialanthropologie mit der Ethnographie schreiten, so soll letztere vornehmlich im Lichte der sie auszeichnenden Kriterien, d. h. ihrer entwicklungsbestimmenden Traditionen, der Übereinstimmung von Name und Inhalt und der Grenzen zu den kombinierten Wissenschaften betrachtet werden. Bekanntlich wird der Terminus „Ethnographie" in den verschiedenen Ländern durchaus nicht in einem einheitlich festgelegten Sinn verwendet. In einigen Fällen verwendet 42 43 44

45

Hultkrantz, G e n e r a l . . . , S. 2 0 9 - 2 1 0 . Encyclopaedia Britannica, Bd. 20, S. 862. American sociology. Perspectives, problems, methods, hsg. v. T. Parsons, New York-London 1948. T. Dragadze, „A few notes toward understanding ,ethnos* theory", in: The place of anthropology amongst the sciences. The soviet and the western view. Paper prepared in advance for participants in Burg Wartenstein, Symposium Nr. 70, New York 1976, S. 1.

J U . V. B R O M L E J

32

man ihn im Unterschied zu Ethnologie,' , G die als theoretische, verallgemeinernde Wissenschaft betrachtet wird, zur Bezeichnung des deskriptiven N i v e a u s der Forschungen/" A n a l o g zur Kultur/Sozialanthropologie'* 8 wird die deskriptive E b e n e mit. Ethnographie bezeichnet, während sie doch folgerichtig „Anthropologie" genannt werden müßte. E i n e solche Gegenüberstellung der wissenschaftlichen Disziplinen ist jedoch nach unserer A u f f a s s u n g nicht stringent. Ihr liegt der Unterschied von griechisch „ g r a p h o " ich schreibe - und „ l o g o s " zugrunde, das Bedeutungen wie „Begriff", „ G e d a n k e " , „Vernunft", „ L e h r e " aufweist.'' 9 Bei solcher Begründung müßten Wissenschaften wie G e o graphie und D e m o g r a p h i e sich eigentlich auf das Sammeln und Beschreiben des Materials beschränken. Überdies ist die Grenze zwischen dem Sammeln und dem Verallgemeinern des Materials nur in einem bestimmten Sinn gültig. So erweist sich die in unserem L a n d e und in anderen europäischen L ä n d e r n traditionell gebräuchliche Verwendung des Terminus „Ethnographie", der beide Ebenen der Forschung, sowohl die sammelnd-deskriptive als auch die verallgemeinernde Tätigkeit, einschließt, als zureichend begründet. In der Praxis wird Ethnographie faktisch mit Ethnologie identifiziert. 50 Freilich wird der Terminus „ E t h n o l o g i e " relativ selten verwendet, d a f ü r gebraucht man häufiger sein russisches Synonym „ N a r o d o v e d e n i e " , w a s als „Volksforschung" im Deutschen wiederzugeben wäre. Wenn man sich mit der Bestimmung des Profils der Ethnographie (Ethnologie) befaßt, so ist nachdrücklich zu betonen, daß die Benennung der Disziplin unmittelbar auf das Ethnos als ihren Forschungsgegenstand verweist. Folglich hängt die Vorstellung von der Ethnographie weitgehend davon ab, welche Gemeinschaft wir mit dem Terminus „ E t h n o s " bezeichnen. Im Altgriechischen wurde d a s Wort „ E t h n o s " bekanntlich in vielfältiger Bedeutung gebraucht; es konnte V o l k , Stamm, Masse, Menschengruppe, die /,li

E s ist bekannt, daß „in Amerika Ethnologie in der Regel . . . das vergleichende Studium der primitiven Völker bezeichnet". (À. Hultkrantz, „Anthropology as a goal research some reflection", in: Folk, Bd. 7, 1965, S. 17.)

"

Äußerst aufschlußreich ist hier die Meinung, daß „die Ethnographie eine anspruchslose, beschreibende Disziplin ist und aus der M o d e k o m m t . . . Sie präsentiert sich allein mit der Sammlung von Fakten als Rohmaterial für die Ethnologie". (Hoebel, S. 6). Einen eigentümlichen, in der Verfahrensweise willkürlichen Versuch, eine gewisse hierarchische Ordnung unter den untersuchten Disziplinen herbeizuführen, unternahm Lévi-Strauss. Nach seiner Meinung „schließt die Ethnologie die Ethnographie als ihre voraufgehende E t a p p e in sich ein". Im

Verhältnis

von

Ethnologie

zur

Kultur/Sozialanthropologie

stelle

letztere

die

endgültige

E t a p p e der Synthese dar, „die als Grundlage die Ergebnisse von Ethnographie und Ethnologie in sich aufnimmt" (Lévi-Strauss, Anthropologie Strukturale, S. 388). ' ,,J Man muß freilich anerkennen, daß in etymologischer Hinsicht der Terminus „Ethnologie" einen bestimmten Vorzug genießt. E s versteht sich von selbst, daß für die gegenwärtige Wissenschaft eine Bezeichnung vorzuziehen ist, die ihre verallgemeinernden, nicht ihre deskriptiven Funktionen unterstreicht. (Siehe Ju. V. Bromlej, Ètnos i Étnografija, Moskau 1973, S. 181.) Auf die Rechtmäßigkeit ihrer Verwendung wurde in der sowjetischen Literatur mehrfach eingegangen. (Siehe V. N . Charuzina, Vvendenie v Ètnografiju. Opisanie i klassifikaeija

narodov

zemnogo sara, Moskau 1941, S. 16.) Bezeichnend in dieser Hinsicht ist, daß sich bei uns in der Praxis der Übersetzungstätigkeit ziemlich fest eingebürgert hat, die in fremdsprachlichen Texten vorkommende „Ethnologie" im Russischen mit dem Wort „Ethnographie" wiederzugeben.

33

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

Angehörigen einer Sprachgemeinschaft usw. bedeuten. Obwohl der Terminus „Ethnos" in der Wissenschaft der Gegenwart längst nicht mehr in so vielfältiger Bedeutung verwendet wird, wurde bis heute noch keine ausreichende Einheit in der Interpretation sowohl des Begriffs selbst als auch seiner grundlegenden Analogien „Ethnische Gemeinschaften" und „Ethnien" erzielt. Alle allgemeinen Deutungen lassen sich auf zwei hauptsächliche Gruppen zurückführen. Dazu gehören auf der einen Seite die Vorstellungen, daß Ethnos eine relativ kleine Gemeinschaft vorwiegend archaischen Charakters darstelle. 01 Dem steht die Auffassung gegenüber, die den Terminus als Äquivalent zum Wort „Volk" (narod) verwendet. Darunter werden nicht nur kleine, sondern auch Gemeinschaften begriffen, die nach vielen Millionen zählen, und zwar nicht nur in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Völker, sondern auch die Völker hochentwickelter Länder. 52 Seit ihren Anfängen hat die russische ethnographische Wissenschaft den Terminus „Ethnos" im Sinne von „Volk" gebraucht. 53 Eine solche Auffassung vom Terminus hat sich auch in der sowjetischen Ethnographie erhalten, wo er besonders in den letzten Jahrzehnten weite Verbreitung fand. 54 Für den Gebrauch des Terminus „Ethnos" im weiten Sinne des Wortes als Äquivalent für das Wort „Volk" bei der Bezeichnung des Forschungsobjekts der Ethnographie und Ethnologie gibt es nach unserer Auffassung um so mehr Gründe, da man dieses Objekt schwerlich auf einige in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Gemeinschaften begrenzen kann. Ethnien sind nicht nur die Hopi, Botokuden, Aleuten und ähnliche Gemeinschaften mit relativ geringem zahlenmäßigem Bestand, sondern auch die jeweils nach Millionen zählenden Völker wie die Russen, Engländer, Japaner, Franzosen usw. Daraus leitet sich die Vorstellung ab, daß die Ethnographen nicht nur zurückgebliebene, sondern auch in ihrer Entwicklung fortgeschrittene, sowohl „fremde" Völker als auch das eigene Volk erforschen. Solche Auffassungen sind bekanntlich nicht nur für die russischsprachige Literatur charakteristisch. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann sich in Europa das Interesse an der Erkenntnis der eigenständigen Kultur des eigenen Volkes zu regen, was seinen Ausdruck insbesondere in dem deutschen Terminus „Volkskunde" findet. Wir meinen, d a ß dieser Terminus ebenso wie „Völkerkunde" 55 besonders anschaulich zeigte, daß das Objekt 51

Siehe R. Naroll, „On Ethnic unit Classification", in: Current Anthropology, Bd. 5, Okt. 1 9 6 4 , Nr. 4.

52

Siehe Ethnic groups and boundaries. The Social Organisation of Culture Difference, hsg. v. F. Barth, Bergen 1 9 7 0 . Siehe N. M. Mogiljanskij,

Etnografija i ee zadaci,

Ezegodnik

Russkogo

antropologiceskogo

obscestva, Bd. 3, St. Petersburg 1 9 0 8 , S. 1 0 2 - 1 0 5 . ü'*

Siehe P. I. Kusner, „Nacional'noe samosoznanie kak etniceskij opredelitel", in: Kratkie soobscenija Instituta Etnografii A N S S S R , 8. Lieferung, 1 9 4 9 ; S. A . Tokarev, „Problemy typov etniceskich obscnostej", in: Voprosy filosofii, 1 1 , 1 9 6 4 ; V . I. K o z l o v , Dinamika cislennosti narodov, Moskau 1 9 6 9 ; Ju. V. Bromlej, „Etnos i etnosocial'nyj organizm", in: Vestnik Akademii nauk SSSR, 8, 1 9 7 0 ; K . V. Cistov, „ßtniceskaja obscnost', etniceskoe soznanie i nekotorye problemy duchovnoj Kul'tury", in: Sovetskaja Etnografija, 3, 1 9 7 2 ; Bromlej, Etnos i Etnografija.

55

Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Disziplinen zueinander verdient eine gesonderte Betrachtung. (Siehe W . Steinitz, „Volkskunde und Völkerkunde", in: Deutsches Jahrbuch Volkskunde, Berlin 1 9 5 5 , Bd. I, Heft 1/2, S. 2 7 0 - 2 7 5 . )

3

Kultur u. Ethnos

für

34

J U . V. B R O M L E J

der entsprechenden Disziplinen „narod" bzw. „das V o l k " darstellt. Hier haben wir, anders ausgedrückt, eine völlige Übereinstimmung zwischen den Bezeichnungen der Disziplinen und den Auffassungen von ihrem Objekt vor uns. Ähnlich verhält es sich in unserem Lande mit dem traditionellen Verständnis des Terminus „Ethnographie", denn dieser wird, wie bereits bemerkt wurde, bei uns seit eh und je in der Bedeutung von „Volk" verwendet. D i e Fixierung des Objekts einer wissenschaftlichen Disziplin bedeutet freilich eo ipso noch nicht, daß damit alle Fragen ihres Profils vorweg bestimmt wären. Der vorhin formulierten These entsprechend, daß alle Ethnien bzw. Völker das Hauptobjekt der Ethnographie bzw. Ethnologie bilden, sind deshalb Meinungsverschiedenheiten über ihren Gegenstand nicht ausgeschlossen. Das mußte sich insbesondere in der Periode der Herausbildung der sowjetischen ethnographischen Wissenschaft klar äußern. Damals herrschte auf der einen Seite die Tendenz vor, die Aufgaben der Ethnographie ausschließlich auf die Erforschung archaischer sogenannter „Relikt"erscheinungen festzuschreiben und andererseits die Ethnographie - genauer die Ethnologie - zu einer Art Superdisziplin zu deklarieren, die sich ähnlich der Anthropologie berufen fühle, im Grunde letztlich alle Komponenten der Lebenstätigkeit der Gesellschaft zu erforschen. Solche und ähnliche Meinungsverschiedenheiten in der Bestimmung des Gegenstands der Ethnographie blieben bis heute bestehen. D i e erstgenannte Tendenz impliziert offensichtlich eine Auffassung vom Gegenstand der Ethnographie bzw. Ethnologie, die insofern in gewisser Hinsicht an eine Art von Chagrinleder erinnert, als für die Gegenwart das Verschwinden des Archaischen aus dem Leben der Völker in stetiger Progression einen charakteristischen Zug darstellt. Trotz der Weite, die sich damit zu eröffnen scheint, erweist sich die zweite Tendenz für die Perspektive der Erforschung der ethnischen Gebilde für die Zukunft im Grunde kaum aussichtsreicher. Sie erzeugt unüberwindliche Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Aufgaben der Ethnographie in der Erkenntnis der Realität gegenüber den zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen, die die verschiedenen Seiten und Aspekte im Leben der Völker erforschen. Gegenwärtig treten diese Schwierigkeiten besonders deutlich im Zusammenhang mit der stürmischen Entfaltung der konkret-soziologischen Forschungen hervor, erheben diese doch den Anspruch, im Grunde alle Seiten im Alltagsleben der Gesellschaft zu erfassen. Nach unserer Auffassung könnten diese extremen Positionen leicht überwunden werden, sofern man sich bei der Definition des Gegenstands der Ethnographie nach denselben Kriterien orientiert, von denen man sich in der Regel bei Festlegung der Gegenstandsbereiche der Naturwissenschaften leiten läßt. Es geht um die spezifischen Qualitäten des Objekts, die von der jeweiligen Wissenschaft untersucht werden. In unserem Falle ist das Ethnos das entsprechende Objekt, unter dessen typenbildenden charakteristischen Wesensmerkmalen man die entsprechenden Kriterien herausfinden muß. 56 Zu diesen Wesensmerkmalen zählen zweifellos jene, durch die sich das Ethnos von den anderen Menschengemeinschaften heraushebt. Man hebt demnach jene Merkmale heraus, die einerseits die :>ti

Ausführlicher siehe dazu Ju. V. Bromlej, „Das ethnographische Studium der Völker. Zu einigen aktuellen Problemen der sowjetischen Ethnographie", in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, Neue Folge Bd. 3, Jg. 1 9 7 5 , S. 8 4 - 8 5 .

35

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

innere Integration der Angehörigen des jeweiligen Ethnos gewährleisten - man spricht hier von den ethnointegrierenden Funktionen - und jene, die die Abgrenzung gegenüber anderen ethnischen Einheiten bewirken. Man spricht hier von den ethnodifferenzierenden Funktionen. 07 Folglich ist die Untersuchung der Komponenten des Ethnos durch das Prisma der von ihm wahrgenommenen ethnischen Funktionen das Hauptkriterium für -Herausbildung des Gegenstandsbereichs der Ethnographie. Da aber die ethnodifferenzierenden Merkmale, die ethnischen Spezifika, der unmittelbaren Anschauung zugänglicher sind als die ethnointegrierenden, dienen sie in der Regel als Hauptmoment der Orientierung bei der Festlegung des Gegenstandsbereichs der ethnographischen Forschungen. Aber der Ethnographie (Ethnologie) obliegt die Aufgabe, das Wesen des Ethnos als Ganzes aufzudecken. Sie untersucht nicht nur die dem jeweiligen Ethnos eigentümlichen Besonderheiten, sondern auch jene Züge, welche allen ethnischen Gemeinschaften eigen sind. Die Bestimmung des Besonderen und Allgemeinen stellt stets einen einheitlichen Prozeß dar. So setzt das vergleichende Studium der Komponenten des Ethnos als Hauptmethode zur Erkenntnis seiner jeweiligen spezifischen Besonderheiten als unabdingbar die Herausarbeitung auch der Züge voraus, die es mit anderen ethnischen Einheiten gemein hat. Einige solcher Züge sind in allen Ethnien anzutreffen, sowohl in den im Verlauf der Geschichte aufgetretenen und verschwundenen als auch in den gegenwärtig existierenden, und sie besitzen allgemeinmenschlichen Charakter. Andere sind nur einer Gruppe ethnischer Gemeinschaften eigen, sind ihrerseits auch spezifisch. Die Betrachtung des Ethnos durch das Prisma der Wahrnehmung seiner ethnischen Funktionen ermöglicht es, das Hauptfeld der ethnographischen (ethnologischen) Forschungen abzustecken. Geht man so an die Aufgabe heran, so offenbart sich, daß der Kern der Ethnographie (Ethnologie) jene Schicht der Kultur - dies im weitesten Sinne verstanden - bildet, die ethnische Funktionen erfüllt. Hier ist vor allem die traditionelle, die Kultur des Alltags (Lebenskultur) gemeint. In den verschiedenen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung spielte die traditionelle Kultur des Alltags freilich eine sehr unterschiedliche Rolle. Die Parameter der Traditionen unterscheiden sich nach Wertigkeit und Zeit. In einer Reihe von Fällen handelt es sich hauptsächlich um althergebrachte, archaische Traditionen, andere sind neuen Ursprungs und erst im Prozeß der Herausbildung begriffen. In den Vorklassen- und frühen Klassengesellschaften erschöpft sich die Kultur in der in der Alltagspraxis ausgeübten traditionell-archaischen Form. Folglich treten auch alle Seiten im Leben des Ethnos, die materielle und sozionormative Kultur einbegriffen, in das Blickfeld der Ethnographen. In den entwickelten Gesellschaften nimmt die ethnische Spezifik in der Sphäre der geistigen Kultur und der psychischen Erscheinungen komplexeren Charakter an. Dementsprechend zeichnet sich auch der Kern des Gegenstandsbereichs der Ethnographie durch eine größere Komplexität der wissenschaftlichen Problematik aus. Besondere Bedeutung erlangt dabei das Studium des ethnischen Selbstbewußtseins. 58 Da das Ethnos aber ein dynamisches, sich in der Zeit veränderndes 57

Siehe Bromlej, Etnos i Etnografija, S. 2 7 - 1 1 3 .

38

Siehe Ju. V.

Bromlej,

„Sovremennaja

etnografija i ee perspektivy",

Mezdunarodnyj ezegodnik, 8. Lieferung, Moskau 1 9 7 5 , S. 2 5 4 - 2 6 0 .

y

in:

Buduscee nauki

-

36

JU. V. BROMLEJ

System darstellt, besteht die Hauptaufgabe der Ethnographie im Studium der ethnischen Prozesse, beginnend mit der Ethnogenese der Völker und endend mit den gegenwärtig ablaufenden ethnosozialen (nationalen) Prozessen. Zusammenfassend sei gesagt: Nach unserer Meinung gestattet diese Auffassung von den Aufgaben der Ethnographie nicht nur, eine vollständige Übereinstimmung der Bezeichnung der Wissenschaft mit ihrem Inhalt herbeizuführen, sondern auch die Ethnographie klar von den komplexen Disziplinen abzugrenzen. Das bezieht sich in erster Linie auf ihr Verhältnis zur Soziologie. Ich möchte es hier bei der bloßen Feststellung bewenden lassen und verweise die an dieser Frage Interessierten auf die entsprechende Literatur. 59 Ich möchte allgemein zwei Momente festhalten. Erstens eröffnen die genannten Kriterien der Abgrenzung der Ethnographie von den komplexen „Zweigdisziplinen auch die Möglichkeit, eine Reihe von Grenzdisziplinen (Ethnische Anthropologie, Ethnolinguistik, Ethnogeographie usw.), die für ein vertieftes Studium vieler ethnischer Erscheinungen außerordentlich wichtig sind, noch eindeutiger in ihrem Profil auszuprägen. Zweitens sei hier die Lösung der Frage nach den Beziehungen der Ethnographie zu solchen Wissenschaften wie Soziologie und Geschichte60 angedeutet, die sich die breite Erfassung der Gesellschaft zum Ziel setzen. Hier haben wir die auf der Grenzfläche angesiedelten Disziplinen Ethnosoziologie 61 und Ethnische Geschichte62 im Auge. Als Konsequenz unserer Darlegungen erhebt sich die Frage: Worin besteht gegenwärtig die Gemeinsamkeit der Gegenstandsbereiche der sowjetischen Ethnographie und der angloamerikanischen Kultur/Sozialanthropologie? Das Gemeinsame zeigt sich anschaulich beim Studium der in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Völker. Hier erforschen sowohl die Ethnographie als auch die Kultur/Sozialanthropologie die Lebensweise der entsprechenden Völker in allen ihren Seiten und Aspekten. Irgendwelche gra°'J S. I. Bruk/V. I. Kozlov/M. G. Levin, „O predmete i zadacach etnografii", in: Sovetskaja Etnografija, 1, 1963; Ju. V. Bromlej/O. I. Skaratan, „O sootnosenii istorii, etnografii i sociologii", in: Sovetskaja

Etnografija,

3,

1969;

Bromlej,

Etnos

i etnografija, S. 2 3 6 - 2 6 2 ;

V.

I.

Kozlov/

V. V. Poksisevskij, „Etnografija i geografija", in: Sovetskaja Etnografija, 1, 1973; V. V. Poksisevskij, „Vzaimoproniknovenie i vzaimodejstvie geografii i etnografii", in: Izvestija Akademii nauk SSSR, Serija geograficeskaja, 5, 1975. Siehe Bromlej/Skaratan, a. a. O. 81

Unter Ethnosoziologie versteht man das Studium ethnischer Prozesse in den verschiedenen Gruppen einerseits und der sozialen Veränderungen in den verschiedenen ethnischen Gemeinschaften. Hier denken wir an Forschungen, die sich auf die neuen Etappen des welthistorischen Prozesses und nicht nur auf die soziale Organisation „primitiver" Gesellschaften beziehen, wie man mitunter „Ethnosoziologie" im Westen versteht. Hier sei auf die Auffassung R. Thurnwalds verwiesen. Unter ethnischer Geschichte versteht man das Studium der Veränderungen der ethnischen Gemeinschaften in der Zeit. Hier geht es nicht nur um Veränderungen

einzelner Züge

dieser

Gemeinschaften, sondern um Veränderungen in ihrer Gesamtheit. Diese Behandlung der ethnischen Geschichte muß man deutlich von der Auffassung der Ethnohistorie in der westlichen Literatur abgrenzen, die gewöhnlich darunter nur die Geschichte schriftloser Völker versteht. (Hultkrantz, General. . . , S. 112; Freedman, a. a. O., S. 95.)

Gegenstand von Kultur/Sozialanthropologie und Ethnographie

37

vierenden Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung vom Forschungsobjekt treten hier nicht in Erscheinung, da hier das Ethnos und der soziale Organismus (die Gesellschaft) in der urgesellschaftlichen Formation im allgemeinen zusammenfallen. Wohl aus diesem Grunde waren viele unserer westlichen Opponenten auf der kürzlich stattgefundenen Begegnung auf Burg Wartenstein geneigt, dem Ethnos die Rolle des entscheidenden Objekts der Kultur/Sozialanthropologie zuzuerkennen. 63 Wie bereits bemerkt, ist eine solche Auffassung vom Objekt der Disziplin einzelnen ihrer Vertreter durchaus nicht fremd. Wie wir uns überzeugen konnten, sind jedoch die vorherrschenden Auffassungen vom Gegenstandsbereich der Kultur/Sozialanthropologie, insbesondere beim Studium der Völker der industriell entwickelten Länder, mit der Kultur und den sozialen, vornehmlich kleinen Gruppen verbunden. Hieraus könnte man schließen, daß sich vielleicht die Ethnographie der Gegenwart nach unserem Wissenschaftsverständnis zur angloamerikanischen Kultur/Sozialanthropologie ebenso verhält wie zum Komplex der kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf der einen und zur Soziologie auf der anderen Seite. Ein solcher Schluß wäre freilich eine allzu grobe Vereinfachung, denn die Antwort auf die Frage nach den Wechselbeziehungen der Kultur/Sozialanthropologie zu den kulturwissenschaftlichen Disziplinen, besonders aber zur Soziologie, läßt sich nicht auf einen Nenner bringen. Von dem offenkundigen Auseinandergehen der Positionen von Ethnographie und Kultur/Sozialanthropologie in den Auffassungen von den Einsatzbereichen beim Studium der Gegenwart zeugt besonders deutlich die Tatsache, daß ein solches „ethnographisches" Thema wie die interethnischen Beziehungen und die ethnischen Prozesse in der Gegenwart vorwiegend im Blickfeld der angloamerikanischen Soziologen und nicht der Anthropologen liegt.64 Gleichzeitig ist zu beachten, daß in der Kultur/Sozialanthropologie zwei Tendenzen auftreten, die sie ein Stück an die Ethnographie näherrücken lassen. Die erste äußert sich in einer besonderen Aufmerksamkeit der Kultur/Sozialanthropologie ebenso wie auch der Ethnographie gegenüber den im Alltagsleben wirksamen traditionellen Komponenten der Lebensweise der Menschen.65 Das zweite für die Kultur/Sozialanthropologie in der Gegenwart charakteristische Merkmal ist das Streben nach vergleichender Analyse, nach der Herausarbeitung von Varianten der kulturellen und sozialen Gemeinschaften. Auch für die Ethnographie ist das vergleichende typologische Herangehen eine sehr wichtige Bedingung für die Herausarbeitung der typischen Züge ihrer Hauptforschungsobjekte, der ethnischen Gebilde, aber auch der kulturellen Gemeinschaften. Andererseits darf man freilich eine gewisse Vertiefung der Unterschiede zwischen

03

Siehe V. I. Kozlov, „Metodologiceskie problemy etnografii", in: Sovetskaja Etnografija, 2, 1977, S. 1 1 7 - 1 3 2 .

G

'* I. P. Trufanov, „O nekotorych tendencijach v issledovanii etnosocial'nich processov v SSA", in: Sovetskaja Etnografija, 4, 1972, S. 1 8 0 - 1 8 4 . Man muß freilich unterstreichen, daß sich die Ursachen bei

der Ethnographie und

Kultur/

Sozialanthropologie wesentlich unterscheiden. Im Falle der Ethnographie erklären sie sich daraus, daß solche Komponenten die Hauptträger ethnischer Spezifik sind, im anderen Fall fügt sich dies in die vorherrschende Auffassung von der Bedeutung des Studiums „primitiver" Gesellschaften ein, wo diese Komponenten die dominierenden sind.

38

JU. V . B R O M L E J

den Gegenstandsbereichen der hier miteinander verglichenen Disziplinen nicht übersehen. Das erklärt sich in erheblichem Maße daraus, daß das Profil der Ethnographie, zumindest in einigen Ländern, eindeutiger bestimmt wird als das der Kultur/Sozialanthropologie. Diese erweist sich immer stärker als in sich aufgespalten und entspricht ihrer Namensbezeichnung immer weniger. Das macht die Markierung ihrer Grenzen gegenüber den Komplexdisziplinen nahezu unmöglich und erschwert in erster Linie ihre Verteidigung gegenüber dem Ansturm der Soziologie. Zieht man noch die Existenz von Krisenerscheinungen ideologischer Natur in der Kultur/Sozialanthropologie in Betracht, so wird verständlich, warum man heute in der westlichen Literatur auf Vorstellungen stößt, denen zufolge nicht die Bestimmung ihrer Perspektiven, 66 sondern auch die Forderungen nach einem neuen Profil als Unsinn denunziert werden. 6 ' Die Zukunft der Ethnographie, die sich als Wissenschaft von den ethnischen Gebilden versteht, bietet dagegen für Pessimismus keinen Raum. Solange die Ethnien bzw. die Völker existieren, behält die Ethnographie ihr Forschungsobjekt, und das bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die aktuelle Gegenwart. Wi

Keesing/Keesing, S. 4 0 2 . C. Lévi-Strauss, „Anthropology, its achievements and future", in: Current Anthropology, Bd. 9. 1 9 6 8 , S. 1 2 6 .

Juli ja Pavlovna Petrova-Averkieva

Der Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der USA

Nach dem zweiten Weltkrieg vollzogen sich in der theoretischen Orientierung der Ethnographen der USA tiefgreifende Veränderungen, die im Endergebnis zur Entstehung des Neoevolutionismus in der amerikanischen Ethnographie führten. Auch gegenwärtig ist der sogenannte Neoevolutionismus die auffälligste Erscheinung auf theoretischem Gebiet in der Ethnographie der USA. Der heutige Neoevolutionismus ist jedoch nicht eine Einheit theoretischer Konzeption, sondern unter dieser Bezeichnung wird eine Vielzahl von Ideenrichtungen zusammengefaßt, deren gemeinsames Merkmal das Bestreben zur Herausarbeitung einer historisch-philosophischen Konzeption ist, die die Geschichte der menschlichen Gesellschaft insgesamt erklären könnte. Das Auftreten des Neoevolutionismus wurde zweifellos durch das veränderte Kräfteverhältnis in der Welt nach dem zweiten Weltkrieg herrvorgerufen. Die gegenwärtige Epoche der wissenschaftlich-technischen Revolution, die stürmischen und tiefgreifenden sozialen Transformationen in allen Sphären des Lebens der Völker der Welt stellten die Gesellschaftswissenschaften mit besonderer Schärfe vor die verantwortungsvolle Aufgabe, die gegenwärtige und historische Lebenserfahrung der verschiedenen Länder und Völker empirisch zu untersuchen, die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der verschiedenen Gesellschaftssysteme zu formulieren und deren Zukunft vorauszusagen. Große Bedeutung gewann die soziologische und ethnologische Erforschung der gegenwärtigen Prozesse auf dem Gebiet der sozialen, nationalen und ethnischen Beziehungen innerhalb der verschiedenen Gesellschaftssysteme, und zwar besonders in den Ländern der „Dritten Welt". Der nationale Befreiungskampf der Völker kolonialer und halbkolonialer Länder, der zur Krise des Kolonialsystems führte und eine Reihe Länder Afrikas, Asiens und Südamerikas auf einen selbständigen Entwicklungsweg brachte, hat heute einen entscheidenden Einfluß auf die Beziehungen der einzelnen sozialen Kräfte sowohl innerhalb dieser Länder als auch im internationalen Maßstab. Es ist nicht verwunderlich, daß der Verlauf der sozialen Transformationen in den Ländern der „Dritten W e l t " heute die Aufmerksamkeit sowohl der progressiven Weltöffentlichkeit als auch der Kräfte des Imperialismus auf sich zieht. Die gesellschaftliche Orientierung, die Wahl des Weges der sozialökonomischen Entwicklung der jungen Staaten, erfolgt heute unter den Bedingungen eines scharfen Kampfes der Kräfte des Fortschritts und der des Imperialismus, der die antiimperialistische Front der für ihre nationale Freiheit kämpfenden Völker zu spalten und die revolutionär-demokratischen Kräfte dieser Front auf die Seite des Kapitalismus zu ziehen versucht.

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J U . P. P E T R O V A - A V E R K I E V A

Eine große Rolle im ideologischen Kampf um die Beeinflussung der Völker der „Dritten Welt" spielt die ethnographische Wissenschaft der USA, die sich bis in die jüngste Vergangenheit vorwiegend mit der Erforschung des gesellschaftlichen Lebens der Völker der kolonialen Welt befaßt hat. Es ist deshalb kein Zufall, daß eine Reihe von Ethnographen der USA erklären, der größte Beitrag innerhalb der gegenwärtigen internationalen Beziehungen könne von ihnen durch die Erforschung der Völker der „Dritten Welt" geleistet werden. Sie diskutieren aktiv die Methoden zur Erforschung solcher Völker, die sich nach ihrer Definition unter den Bedingungen einer „explosive Situation" entwickelt haben. Sie begreifen jetzt, daß, wie R. Cohen schreibt, „die schnellen Veränderungen in den nichteuropäischen Gebieten der Welt und die klaren evolutionistischen Ziele der neuen Nationen alle Gesellschaftswissenschaftler zwingen, in dynamischen Begriffen zu denken." 1 Der frühere Antihistorismus des ethnographischen Präsentismus in den Beschreibungen der Gesellschaft erwies sich nach Eingeständnis der Wissenschaftler selbst als ungeeignet für die heutige Epoche „der pragmatischen kulturellen Veränderungen". 2 Die neuen Bedingungen in der Welt, die sich im ungeahnten Tempo vollziehenden Umwälzungen im Leben der Völker zeigten überzeugend die Haltlosigkeit des früheren theoretischen Nihilismus und der Konzentration auf das empirische Sammeln von Fakten. Als unbefriedigend erwies sich auch die Konzeption des „kulturellen Wandels", die sich in den ersten Nachkriegs jähren entwickelt hatte; jene Konzeption fixierte lediglich das Vorhandensein von Veränderungen in den Erscheinungen und Objekten, zeigte jedoch nicht die Richtung der sich vollziehenden Veränderungen. Vor den Ethnographen stand jedoch ein sozialer Auftrag, der nicht einfach eine Fixierung von Veränderungen forderte, sondern eine Analyse der Kausalität und Richtung, eine Prognose des weiteren Verlaufs und vor allem die Klärung der Möglichkeiten einer Steuerung dieser Prozesse. Tatsächlich versuchten die Ethnographen, auf der Grundlage der gesammelten Daten ihre Empfehlungen zur „Planung" der praktischen Politik der führenden Kreise der USA in diesen Ländern zu formulieren. 3 Diesem Zweck diente das Buch „Einführung des sozialen Wandels. Ein Handbuch für Amerikaner in überseeischen Ländern", das von bedeutenden Wissenschaftlern der USA geschrieben worden w a r : dem Professor an der Columbia-Universität von New York C. M. Arensberg und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Zentrums zur Erforschung der menschlichen Ressourcen A. H. Niehoff/' Es waren gerade praktische Fragen der Politik der führenden Kreise der USA in den Ländern der „Dritten Welt", die die Notwendigkeit einer „Theorie der Dynamik 1

R. Cohen, „The strategy of social evolution", in: Anthropologica 1 9 6 2 , Bd. IV, Nr. 2.

2

F. Henry, „The role of

fieldworker

in an explosive political Situation", in: Current Anthropo-

logy, Bd. 7, 1 9 6 6 , Nr. 5 ; B. Nelson, „Anthropological debate: Concern over future of foreign research", in: Science, 1 9 6 6 , Nr. 1 5 4 , S. 1 5 2 5 - 1 5 2 7 . 3

Siehe M. Mead, Applied anthropology: Some uses of

anthropology

theoretical and

applied,

New Y o r k 1 9 5 8 ; Cultural patterns and technical change, hg. v. M. Mead, New Y o r k

1959;

The United States and Africa, hg. v. W . Goldschmidt, New York 1 9 5 9 . '' C. M. Arensberg/A. H. Niehoff, Introducing social change. A manual for Americans overseas, Chicago 1 9 6 4 .

41

Der Neoevolutionismus

des kulturellen Wandels" hervorriefen. Über diesen Zusammenhang von Theorie und Praxis schrieb ganz offen die uns wohlbekannte M. Mead: „Die angewandte Ethnographie hängt wesentlich von der Theorie des Wandels ab". 5 Das Thema einer Philosophie des Prozesses kultureller Wandlungen und seiner Dynamik wird in den fünfziger Jahren zum führenden Thema in der ethnographischen Forschung der USA. Von den Veränderungen und Korrekturen der Theorie in der Ethnographie der USA der fünfziger Jahre zeugt eine Vielzahl von Publikationen dieser Zeit. Für die Ethnographen der USA der fünfziger Jahre war nach den Worten eines ihrer führenden Theoretiker C. Kluckhohn „der Zustand des theoretischen Suchens" charakteristisch. 6 Dieses Suchen auf dem Gebiet der Theorie in der ethnographischen Wissenschaft der USA war ein Widerhall des Suchens nach einem „neuen System des Glaubens und der neuen Ideologie" in der Philosophie und Soziologie des Westens, wie der amerikanische Ethnograph und Philosoph D. Bidney schreibt.7 Obwohl man noch 1954 die Feststellung antreffen konnte, daß der Evolutionismus und Diffusionismus in der amerikanischen Ethnographie aus der Mode gekommene Phasen der Entwicklung des theoretischen Denkens seien, sprachen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre viele führende Ethnographen der USA bereits von einer Hinwendung der Wissenschaftler zum Evolutionismus. So konstatierte zum Beispiel R. Beals 1956 auf dem V. Internationalen Anthropologen- und Ethnographenkongreß in Philadelphia, daß „das wachsende Interesse an der kulturellen Evolution zur Hauptrichtung der gegenwärtigen Anthropologie der USA geworden ist."8 1957 schrieb Kluckhohn über die „Renaissance des Evolutionismus"; und nach den Worten von D. Bidney galt 1958 „die Theorie der Evolution als führende Konzeption der Gegenwart". Im Zusammenhang mit dem 1959 von den Ethnographen der USA begangenen hundertsten Jahrestages des Erscheinens von Darwins Buch „Die Entstehung der Arten" vollzog sich indessen - nach den Worten J. H. Stewards - eine „allgemeine Proklamation des Evolutionismus". Tatsächlich kann man in den Artikeln, die diesem Jubiläum gewidmet sind,9 einen allgemeinen Umschwung zum Evolutionismus deutlich erkennen. Die ab Ende der fünfziger Jahre führende moderne ethnographische Schule des Neoevolutionismus bildete sich in beträchtlichem Maße unter dem Einfluß der historischphilosophischen Konzeption von White heraus. Nicht zufällig schrieb ein Vertreter dieser Richtung, E. Wolf, im Jahre 1959: „Die theoretische Anschauung von White, sein Postulat, daß die kulturellen Ereignisse eine determinierende Kausalität besitzen, seine Theorie, daß man die materiellen Ursachen, die materielle Erklärung dafür suchen muß, stimmen mit den Hauptströmungen in der Anthropologie überein". 10 0

Mead, Applied anthropology . . .

8

C. Kluckhohn, „Developments in the field of anthropology in the twentieth Century", in: Cahier

7

D . Bidney, in: American Anthropologist, Bd. 60, 1958, Nr. 6, Teil 1, S. 1212.

fi

R. Beals, „Current trends in American ethnology", in: Men and cultures. Selected papers of the

d'Histoire Mondial, Paris 1957, Nr. 3, S. 767.

Fifth International Congress of anthropological and ethnological sciences, Philadelphia, 1960. " C. Kluckhohn, a . a . O . , S. 7 6 7 ; D . Bidney, a . a . O . ,

S. 1 2 1 2 ; J. H. Steward,

„Evolutionary

principles and social types", in: Evolution after Darwin, Bd. 2, Chicago 1960, S. 184. ,fl

E. Wolf, in: American Anthropologist, Bd. 62, 1960, Nr. 1, S. 149.

42

JU. P. PETROVA-AVERKIEVA

Die Hinwendung der Ethnographen der USA zu den Kategorien „Entwicklung", „Evolution" stellte sie zwangsläufig vor die Notwendigkeit, die Hauptprobleme der Philosophie der Geschichte zu lösen, nämlich die Gesetzmäßigkeiten und das Fortschreiten der Entwicklungsprozesse, die Dialektik der konkret-historischen und allgemeinen Formen der Entwicklung, die Beziehungen zwischen der Entwicklung der Bestandteile des Systems und der Entwicklung des Systems als Ganzes. Bekanntlich haben K. Marx, F. Engels und W . I. Lenin in ihren Werken das Problem der Entwicklung einer tiefgreifenden und allseitigen Analyse unterzogen. Sie schrieben über die Entwicklung als allgemeine Eigenschaft der Materie, über die Spezifik der Entwicklungsformen in der anorganischen und organischen Welt, in Natur und Gesellschaft, über die Triebkräfte und den Mechanismus des objektiven Entwicklungsprozesses, über die Einheit und den Kampf der Gegensätze als Quellen der Eigenentwicklung des Objekts. Die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus deckten überzeugend die Dialektik der quantitativen und qualitativen Veränderungen im Entwicklungsprozeß, in den evolutionären und revolutionären Formen dieses Prozesses auf. Wie werden nun diese Probleme vom Neoevolutionismus gesehen? Die allgemeine „Proklamierung" des Evolutionismus barg eine „Gefahr" für die Wissenschaftler der USA in sich. Sie konnte sich nämlich auch als „Proklamierung" des Marxismus erweisen. Tatsächlich geschah dies zum Teil. Viele amerikanische Ethnographen der jüngeren Generation wandten sich mit der Herausbildung des Evolutionismus immer häufiger dem Marxismus bei der Lösung von Kardinalproblemen der Wissenschaft über die Gesellschaft zu. Die Mehrzahl der Wissenschaftler bezeichnete sich in dem Bestreben, sich vom „Evolutionismus des 19. Jahrhunderts" abzugrenzen (dem, wie man weiß, auch der Marxismus zugeordnet wurde), als „moderne Evolutionisten" oder „Neoevolutionisten". (Es ist bezeichnend, daß der Terminus „Neoevolutionismus" ein Synonym des Begriffs „begrenzter Evolutionismus" war, mit dem R. Lowie die historischphilosophische Konzeption des Paters W. Schmidt charakterisiert hat.) Der Neoevolutionismus galt in den sechziger Jahren als die modernste theoretische Richtung innerhalb der Ethnographie der USA. Er war im Gegensatz zu White ein gemäßigterer Versuch, den krassen Antihistorismus und den relativistischen Empirismus der historischen Schule zu überwinden. Deshalb sprach sich auch White kategorisch dagegen aus, zu den Neoevolutionisten gezählt zu werden. Bei den Vertretern des Neoevolutionismus ist zweifellos ein gewisses Abrücken von den extremen Auffassungen des Antihistorismus und des theoretischen Nihilismus der Antievolutionisten zu beobachten. Aber je nach dem Grad des Abrückens gibt es mehrere Definitionen des Neoevolutionismus als Theorie der Entwicklung der Kultur und des Verständnisses der Evolution selbst. Wenn früher die Vertreter der historischen Schule in der amerikanischen Ethnographie, die die Idee des Fortschritts negierten, sich von dem Terminus „Evolution" lossagten und ihn durch den Begriff „Wandel" oder „Wachstum" ersetzten, so kann man jetzt eine umgekehrte Metamorphose beobachten: den Wandel begann man als „Evolution" zu bezeichnen und verlagerte oftmals in diesen Begriff die einstige metaphysische Auffassung von der Entwicklung: als quantitative Veränderung, Wachstum, Verminderung, Substitution. „Evolution" wurde sehr häufig als platter Evolutionismus verstanden, als kontinuierliche Differenzierung der Formen

43

D e r Neoevolutionismus

und Funktionen und als Komplizierung der Strukturen einer Erscheinung. Weite Verbreitung fand die Idee der Kontinuität der biologischen und sozialen Evolution, die Auslegung der kulturellen Evolution als unmittelbare Fortsetzung der biologischen Evolution. Damit stehen die Versuche im Zusammenhang, die Gesetzmäßigkeiten der biologischen Evolution auf die Gesellschaft zu übertragen, auch die Entstehung der Ideen des sozialen Darwinismus. Die Idee der Kontinuität der biologischen und sozialen Evolution gründete sich auch auf die Arbeiten angesehener Vertreter der historischen Schule, die sich als Vertreter des Evolutionismus erklärten. Charakteristisch sind in dieser Hinsicht zum Beispiel die Auffassungen von G. P. Murdock, der durch Arbeiten bekannt geworden ist, die eine Widerlegung der Interpretation der Geschichte der Urgesellschaft durch Morgan und Engels zum Gegenstand haben. 11 Der Hauptinhalt der historischen Konzeption Murdocks besteht in dem Versuch, die Ewigkeit des Privateigentums der Kleinfamilie biologisch zu begründen. In der gleichen Richtung interpretiert die Evolution auch einer der modernen Theoretiker der USA-Ethnographie, R. Naroll. Die soziale und kulturelle Evolution hat nach seinen Auffassungen „bestimmte formale Ähnlichkeiten mit der biologischen". Die Arbeitsteilung, die Verzweigung der Organisationsformen vergleicht er mit der „progressiven Entwicklung des Niveaus der Organisation der Zelle und ihrer funktionellen Differenzierung". 12 Die Vertreter der psychologischen Richtung in der amerikanischen Ethnographie zollen der allgemeinen Anerkennung der methodologischen Bedeutung der Evolution ihren Tribut und betonen ihr Interesse für die „behaviourale evolution". Dieses Interesse ist zweifellos durch die Ergebnisse der Forschung auf dem Gebiet der Ethologie der Tiere stimuliert. 13 In einer Reihe von Arbeiten der Vertreter der Kontinuität der biologischen und sozialen Evolution werden die Ideen des sozialen Darwinismus wiederbelebt. In ihnen wird der Versuch gemacht, die Ewigkeit der Normen der bürgerlichen Gesellschaft biologisch zu begründen durch die vererbten Eigenschaften der menschlichen Natur. Bei solchen Arbeiten handelt es sich um Versuche, die Kleinfamilie, das Privateigentum, die soziale Differenzierung aus der Ethologie der Tiere abzuleiten. Es gibt Arbeiten, in denen die Ewigkeit und Unausweichlichkeit der Kriege durch einen der Natur des Menschen eigenen Instinkt der Aggressivität begründet werden, Arbeiten, in denen Verhältnisse des Privateigentums aus dem von den tierischen Vorfahren ererbten angeborenen Instinkt der Individualität abgeleitet werden, des Instinkts der „Territorialität" 11

Sein Hauptwerk:

G.

P. Murdock,

Social structure,

New

York

1 9 4 9 ; vgl.

die

Kritik

seiner

Auffassung durch Ju. P. Averkieva, Indejcy Severnoj Ameriki, M o s k v a 1 9 7 4 , S. 2 1 - 2 5 . Zu seiner Evolutionsauffassung im besonderen vgl. den Aufsatz: G. P. Murdock,

„Evolution

in

Social

Organization", in: Evolution and anthropology: A centennial appraisal, Washington 1 9 5 9 . -

R. Naroll, „A preliminary index of Social development", in: American Anthropologist, Bd. 58,

1:!

Vgl. dazu: L. A . Fajnberg, „O nekotorych predposylkach vozniknovenija social'noj

1956, Nr. 1, S. 4. und die im Zusammenhang damit geführte Diskussion in: Sovetskaja S. 9 4 - 1 2 5 .

fitnografija,

organizacii", 1 9 7 4 , N r . 5,

44

J U . P. P E T R O V A - A V E R K I E V A

usw. Die Quellen der sozialen Ungleichheit der Menschen werden aus dem den tierischen Primaten eigenen Instinkt der Dominanz und des Strebens nach Prestige abgeleitet. White und solche Vertreter der historischen Schule wie F. Boas und A. L. Kroeber waren überzeugte Gegner der Versuche einer Biologisierung des sozialen Lebens der Menschen. Sie deckten die wissenschaftliche Haltlosigkeit und den reaktionären Charakter des sozialen Darwinismus auf. Es ist offensichtlich, daß die neoevolutionistischen Versuche einer Wiederbelebung derartiger Theorien ein Ausdruck von Bestrebungen waren, reaktionären Richtungen in der amerikanischen Ethnographie erneut stärker Geltung zu verschaffen. Zu Beginn der sechziger Jahre erschienen jedoch Arbeiten, in denen die Spezifik der kulturellen Evolution und ihr Unterschied zur biologischen Evolution hervorgehoben werden. 1960 veröffentlichte einer der führenden ethnographischen Theoretiker der USA, E. Vogt, einen Artikel, in dem er eingestand, daß die Entwicklung eine allgemeine Eigenschaft der Materie ist, und auch die Notwendigkeit des Übergangs betonte von einer statischen Auffassung der Kultur als System, das zum Gleichgewicht strebt, zu ihrer Erforschung als System, das sich im Zustand ständiger Veränderungen befindet. „Jede Erscheinung kann als eine Reihe sich vollziehender Prozesse begriffen w e r d e n . . . Der Wandel ist eine der wichtigsten Besonderheiten der Gesellschaft." 14 Die Vorzüge eines solchen Herangehens versuchte er mit den Erfolgen der Außenpolitik der UdSSR zu begründen, die sich seiner Meinung nach auf der Konzeption des sozialen Wandels aufbaut, was den Verlauf des Wandels vorauszusetzen erlaube. Vogt hat einen gewissen Beitrag zur Herausarbeitung der Entwicklungstheorie geleistet, wenn auch nur dadurch, daß er dazu aufrief, „die kurzzeitlichen Prozesse auf dem Niveau der Mikrozeit und die langzeitlichen Prozesse auf dem Niveau der Makrozeit" zu unterscheiden. Die ersten kann man seiner Auffassung nach als sich in der Zeit wiederholende periodische Prozesse bezeichnen, die zweiten dagegen als aufeinander folgende aufbauende Prozesse. E. Vogt erkennt den dialektischen Zusammenhang dieser beiden Prozesse an. Überzeugend findet sich die wissenschaftliche Haltlosigkeit des sozialen Darwinismus in der Arbeit des White-Schülers M. K. Opler dargelegt. Opler kritisierte die Spencersche Bestimmung der Evolution, die Konzeption der multilinearen Evolution und den Idealismus der behaviouristischen Auffassungen der Evolution der Kultur. An das Problem der Entwicklung ging Opler von einer materialistischen Position aus heran. Die Grundlage einer jeden Veränderung der Kultur sah er in der „materiellen Basis und im Charakter der sozialen Struktur der G e s e l l s c h a f t . . . Der erste Faktor ist zweifellos die Haupttriebkraft oder die Hauptursache des kulturellen Wandels." 1 5 Neben den zwei Hauptrichtungen hinsichtlich des Verständnisses der sozialen Evolution, wie sie in Arbeiten der USA-Ethnographen zu finden sind, kann man Übergangsformen bei der Auslegung der kulturellen Evolution feststellen. Sie zeigten sich zum 14

E. Vogt, „On the concept of structure and procress in cultural anthropology", in: American Anthropologist, Bd. 62, 1 9 6 0 , Nr. 1, S. 20.

15

M. K . Opler, „Cultural evolution and psychology of peoples", in: Essays in the science of culture, New Y o r k 1 9 6 0 , S. 3 5 6 f .

Der Neoevolutionismus

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Beispiel in den Ansichten von Kroeber am Ende der fünfziger Jahre. Er versteht die kulturelle Evolution im Geiste eines platten Evolutionismus als allmählichen kontinuierlichen Prozeß quantitativer Veränderungen. Die Vernachlässigung oder Ignorierung qualitativer Veränderungen und Unterbrechungen der Kontinuität verhinderte die Anerkennung einer fortschreitenden Entwicklung des historischen Prozesses durch Kroeber. Diese Auffassung der Evolution war die natürliche Folge der Herrschaft des Empirismus in der amerikanischen Ethnographie. Auf diese Inkonsequenz in der Behandlung der Evolution gründet sich auch der Neoevolutionismus von Steward, der als Haupttheoretiker des Neoevolutionismus gilt. Gerade in seinen Arbeiten hat diese Richtung ihre klassische Ausbildung gefunden. Er definierte die Theorie der kulturellen Evolution als „Suchen nach kulturellen Gesetzmäßigkeiten" und betonte, daß in der Wissenschaft drei Konzeptionen der kulturellen Evolution existieren: 1. der lineare Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, 2. die Konzeption der universellen Evolution (White und G. Childe), 3. die Konzeption der multilinearen Evolution (vertreten durch ihn selbst). Als linearen Evolutionismus bezeichnete er das „Schema der allgemeinen Stadien" von Morgan, das Schema „der Materialisten und Kommunisten, das von den sowjetischen Wissenschaftlern völlig geteilt wird." Er selbst lehnte es strikt ab. Als unannehmbar sah er auch den universellen Evolutionismus von White und Childe an, da er „keine Formulierungen hat, die eine beliebige Kultur und alle Kulturen erklären würden," Die Konzeption der multilinearen Evolution ist nach Steward die einzig fruchtbringende wissenschaftliche Theorie der kulturellen Evolution. Den Hauptwert dieser Theorie sah er darin, daß ihr Interesse auf die konkreten Kulturen gerichtet ist. Von relativistischen Positionen einer Verabsolutierung des Konkreten betrachtet Steward die Weltgeschichte als eine Summe paralleler und sich multilinear entwickelnder Kulturen. Er konzedierte die Kausalität und Gesetzmäßigkeit der Entwicklung eines jeden einzelnen Systems als eines bestimmten „kulturellen Typs" und stellte seine historische Konzeption der Idee der Einheit und fortschreitenden Entwicklung der Menschheit insgesamt entgegen. White charakterisierte die Position Stewards treffend als „stückweise Anerkennung der Evolution." Die Konzeption der multilinearen Evolution hielt Steward für die Grundlage des Neoevolutionismus und charakterisierte sie als „die neue Basis, auf der die modernen Evolutionisten eine Theorie errichten können, die die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft erklärt." 10 Sie wurde von ihm nicht nur dem „Evolutionismus des 19. Jahrhunderts" entgegengestellt, sondern auch dem von ihm darin eingeschlossenen Marxismus. - Die Konzeption der multilinearen Evolution war zweifellos ein Ergebnis der theoretischen Orientierung der historischen Schule in der amerikanischen Ethnographie. Am ausführlichsten versuchte Steward die Konzeption der multilinearen Evolution in seiner Arbeit „Theorie des Kulturwandels. Die Methodologie der multilinearen Evolution" darzulegen." Zur Verdeutlichung der Konzeption der multilinearen Evolution ist ,ö 17

J. H. Steward, „Cultural évolution", i n : Scientific American, Bd. 149, 1956, S. 73 f. J . H. Steward, Theory of culture change; the methodology of multilinear évolution, 1955.

Urbana

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JU. P. PETROVA-AVERKIEVA

die Erklärung Stewards interessant, d a ß er in diesen Begriff denselben Sinn lege, den Marx dem Begriff „Pluralismus" beigelegt habe. Der Marxismus versteht aber bekanntlich unter Pluralismus einen idealistischen Standpunkt, nach dem alles Existierende aus einer Vielzahl selbständiger, von einander unabhängiger Wesenheiten besteht. Diese Theorie der V i e l f a l t der Wahrheit ist dem Dualismus verwandt und dem materialistischen Monismus diametral entgegengesetzt. In der amerikanischen bürgerlichen Philosophie liegt der Pluralismus dem Pragmatismus von W i l l i a m James zugrunde, der der Theorie der Vielfältigkeit der objektiven Wahrheit entgegengesetzt liegt. Es ist offensichtlich, d a ß Steward seine Konzeption des Pluralismus nicht so sehr dem Evolutionismus gegenüberstellt als vielmehr dem Marxismus. Obwohl Steward im allgemeinen gegen eine Gleichsetzung des biologischen und sozialen Evolutionismus ist, verzichtet er zur Begründung der Theorie des Patriarchats nicht darauf, zu biologischen Analogien Zuflucht zu nehmen. „So wie eine einfache, einzellige Form des Lebens durch mehrzellige, in sich spezialisierte Formen abgelöst wird, so werden soziale Formen, die aus einzelnen Familien bestehen, durch mehrzellige Formen abgelöst". 1 8 Man sieht, auch Steward geht in seinen Anschauungen von der wie Engels seinerzeit schrieb - „absurden Voraussetzung aus", die besonders im 18. Jahrhundert als unantastbar und unumstößlich galt, „die monogame Einzelfamilie, die kaum älter ist als die Zivilisation, sei der Kristallkern, um den sich Gesellschaft und Staat allmählich angesetzt habe." 11J

Die „kulturelle Ökologie" Stewards Die Hauptaufgabe des Neoevolutionismus sah Steward in der ursächlichen Erklärung der verschiedenen Formen und Entwicklungslinien der menschlichen Kultur. Den historischen Materialismus hielt er für eine unannehmbare Erklärung, indem er ihn als „ökonomischen Materialismus" mißdeutete. Für anziehender hielt er den technologischen Determinismus von White. Als einen Mangel dieser materialistischen Konzeption von White sah er jedoch das zu hohe Niveau der Verallgemeinerungen an, die nicht die Einzelheiten und Abweichungen gegenüber dem Allgemeinen erklären könnten. Eine Erklärung für die letzteren vermittelt nach Stewards Überzeugung seine eigene „heuristische Konzeption der kulturellen Ökologie", die dem Wesen nach eine Determiniertheit durch Technik und Umwelt unterstellt, also eine gewisse Synthese von technologischem Determinismus und geographischem Determinismus ist. Den Begriff „kulturelle Ökologie" selbst erklärt Steward als Bezeichnung des Prozesses der Anpassung der jeweils gegebenen Kultur an das gegebene natürliche Milieu. „Die kulturell-ökologische Adaption ist eine der wichtigsten schöpferischen Prozesse des kulturellen Wandels". 2 0 Die ökologische Konzeption Stewards besteht in folgendem: Der Charakter des natürlichen Milieus bestimmt die Spezialisierung der Wirtschaft, die Spezialisierung wiederum bestimmt den Charakter der gesellschaftlichen Beziehungen. Bei den nomadi18 19 39

Ebenda, S. 13. K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1969, S. 100. Steward, Theory, S. 37.

Der Neoevolutionismus

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sierenden Sammlern wie den Schoschonen des Großen Beckens bildet sich im Ergebnis des „sozial-fragmentierenden" Einflusses des Milieus das „Familienniveau der sozialkulturellen Integration" heraus; die J a g d auf Wild, das in kleinen verstreuten Herden lebt, ergibt die patrilineare Gemeinschaft; bei der J a g d auf Tiere, die in großen wandernden Herden leben, entstehen völlig andere soziale Formen, usw. Wenngleich Steward seine Ökologie dem „geographischen Determinismus" entgegenstellt, so sehen wir zwischen beiden doch keinen wesentlichen Unterschied. Auch er selbst reduziert diesen Unterschied allein darauf, daß der geographische Determinismus die Gesamtheit der Besonderheiten des jeweiligen Gebietes berücksichtigt, während die kulturelle Ökologie nur die natürlichen Besonderheiten der Hauptnahrungsquellen in Betracht zieht: die Gewohnheiten der Tierherden, die gejagt werden, die Menge der Zedernbäume, deren Nüsse gesammelt werden, usw. So definiert Steward die Wechselbeziehung zwischen Umwelt und Gesellschaft als Prozeß der Anpassung der Kultur an die Umwelt, wobei die Kultur selbst als etwas von außen Gegebenes, in dieses Milieu Hineingetragenes begriffen wird. Eine solche Fragestellung ist in beträchtlichem Maße biologistisch. Davon zeugt auch der Begriff „Ökologie" selbst, der aus der Biologie entlehnt wurde, wo er die Wechselbeziehung zwischen dem Organismus und der Umwelt beinhaltet. Aber wenn man von einer Anpassung der biologischen Arten an die Umwelt sprechen kann, so bedeutet der Gebrauch dieses Terminus zur Charkterisierung der Wechselbeziehungen zwischen Natur und Mensch eine Übertragung der biologischen Gesetze auf die Gesellschaft, bedeutet es, daß die Menschen lediglich als biologisches Wesen aufzufassen seien. D i e Anpassung an die Umwelt setzt die dominierende Bedeutung ebendieser Umwelt voraus. E s ist offensichtlich, daß Steward bei seinen Überlegungen zur kulturell-ökologischen Anpassung als bestimmenden Faktor in der Entwicklung der Gesellschaft die zweite Seite der Wechselbeziehungen zwischen der Natur und dem Menschen ignoriert, die in der Einwirkung des Menschen auf die Natur besteht. Die Begründer des Marxismus-Leninismus lösten bekanntlich die Frage der Wechselbeziehungen des Menschen und der Natur dialektisch von der Position ihrer konsequent herausgearbeiteten Lehre vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen. Marx stellte fest, daß der Mensch stets als Subjekt auftrete, die Natur dagegen als Objekt, ferner, daß der Mensch sich nicht an die Umwelt anpasse, sondern vielmehr sie aktiv-produktiv nutze. „In der Produktion eignen. . . die Gesellschaftsglieder die Naturprodukte menschlichen Bedürfnissen an . . ." 21 An die erste Stelle stellt Marx somit die produktive Tätigkeit des Menschen und charakterisiert sie als einen „Prozeß zwischen Mensch und Natur, . . . worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert." 22 Durch den Charakter der Produktion, den Zustand der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse wird auch der Charakter der Nutzung der Umwelt durch den Menschen bedingt. Wie Marx schrieb, „ergibt sich aus einer bestimmten Form der materiellen Produktion erstens eine bestimmte Struktur - 1 K . Marx, „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie", in: K . M a r x / F . Engels,

Werke,

Bd. 13, Berlin 1964, S. 620. 'n

K . Marx, „ D a s K a p i t a l " , B d . 1, in: K . M a r x / F . Engels, Werke, B d . 23, Berlin 1969, S. 192.

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der Gesellschaft, zweitens ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Natur. Ihr Staatsaufbau und ihr geistiges Leben werden sowohl durch das eine als auch durch das andere bedingt. Folglich wird dadurch auch der Charakter der geistigen Produktion bestimmt."23 Die Ökologie Stewards steht ganz eng im Zusammenhang mit seiner Konzeption des Pluralismus. Denn gerade durch die Vielfalt der natürlichen Bedingungen erklärt er die Multilinearität der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die er, wie wir gesehen haben, ohne Erfolg dem Monismus des historischen Materialismus gegenüberzustellen versucht. Steward lehnte den Marxismus ab, ohne sein Wesen zu kennen, und folgte blind den verfälschenden Darstellungen des Marxismus durch seine Kollegen, insbesondere von K. Wittfogel, der voreingenommen und völlig aus der Luft gegriffen den Marxismus eines mechanischen, platten Evolutionismus bezichtigte. Der Mechanismus der Diskreditierung des Marxismus-Leninismus in solchen Arbeiten erinnert an die Methode der Verfälschung des Sozialismus, von der Lenin schrieb, daß der Sozialismus dadurch entstellt wird, daß ihm Absurdität unterschoben wird, um dann die Absurdität schlagend zu widerlegen. 24 Indem Steward die marxistische Periodisierung der Geschichte mit dem plattevolutionistischen Schema der allgemeinen Stadien identifiziert, versuchte er, ihr die Ansichten „der kulturellen Relativisten des 20. Jahrhunderts" entgegenzustellen, die „durch umfangreiches Material" bestätigt würden, das davon zeuge, daß „die konkreten Kulturen sich beträchtlich voneinander unterscheiden und nicht-lineare Stadien durchlaufen." 25 Hier erkennt man ein weiteres Beispiel der für die historische Schule der USA-Ethnographie charakteristischen, formal-logischen Methode des Urteils und des Unverständnisses der dialektischen Auffassung der Marxisten von der Wechselbeziehung des allgemeinen und konkreten historischen Prozesses. „Die Marxsche Dialektik", hob Lenin hervor, „erfordert eine konkrete Analyse der jeweiligen historischen Situation."26 Die Begründer des Marxismus-Leninismus, die die Erforschung der Geschichte der Gesellschaft dialektisch betrieben, kamen zu dem Schluß, daß einzelne Völker sich unter bestimmten Bedingungen entwickeln können auch unter Umgehung dieser oder ¡ener allgemeinen Stufen des menschlichen Fortschritts. Allgemein bekannt ist zum Beispiel die marxistische Voraussage des nicht-kapitalistischen Entwicklungsweges einzelner Völker. Den Ethnographen der USA ist der Sprung der Indianervölkerschaften aus der Urgemeinschaft in den Kapitalismus unter Umgehung der vermittelnden Stadien der allgemeinen Entwicklung der Menschheitsgeschichte gut bekannt. Die Konzeption der multilinearen Evolution war zweifellos ein Ausdruck der Krise der westlichen historischen Ideen. Sie hat diese Krise nicht nur nicht überwunden, sondern als ein Produkt dieser Krise selbst ihre Merkmale getragen. Wie die letzten 23

24 25 26

K. Marx, „Theorien über den Mehrwert", in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 26. 1, Berlin 1965, S. 257. W. I. Lenin, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 137. Steward, Theory, S. 28. W. I. Lenin, Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 322.

Der Neoevolutionismus

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Beiträge von Steward beweisen, fühlte er dies und versuchte, seine Konzeption aus der ideologischen Sackgasse herauszuführen. In seinen späteren Arbeiten unterzog er eine Reihe seiner grundlegenden Thesen einer Revision. Am entscheidendsten wich Steward vom Relativismus der multilinearen Evolution in seinem postum veröffentlichten Werk ab, das sich mit der Analyse und Einschätzung des wissenschaftlichen Erbes von Kroeber befaßt. 27 Die Revision seiner Standpunkte findet jedoch keine Beachtung. In der Geschichte der theoretischen Ideen in den USA wird sein Name bis heute mit der Konzeption der multilinearen Evolution in Zusammenhang gebracht, die er in einer Arbeit des Jahres 1955 dargelegt hat. Er wird weiterhin als der Begründer der enviromentalistisch-evolutionistischen Richtung in der westlichen Ethnographie charakterisiert. Stewards Konzeption der multilinearen Evolution mit ihrer Theorie der Determiniertheit durch Technik und Milieu hat einen starken Einfluß auf die theoretische Orientierung der Ethnographen und Archäologen der USA. Sie ist ihrem Wesen nach die methodologische Basis des Neoevolutionismus in der Ethnographie und Archäologie in den USA der siebziger Jahre. Besonderen Einfluß gewann die Stewardsche Konzeption der kulturellen Ökologie, die von ihren heutigen Vertretern als eine gewisse Synthese des ökologischen Determinismus Stewards und der energetischen Theorie Whites weiterentwickelt wird. 2 8 In dieser Form ist diese Konzeption die allgemeine methodologische Basis der historischphilosophischen Auffassungen der Neoevolutionisten unterschiedlicher ideologischer Orientierung. Es ist nicht verwunderlich, daß jeder von ihnen etwas Eigenes zu dieser Konzeption beisteuert. So versuchte z. B. Goldschmidt, der Theoretiker des Funktionalismus in der Ethnographie der USA, die „kulturelle Ökologie" mit seiner Konzeption des „comparativen Funktionalismus" zu verknüpfen und in dieser Verbindung die „Basis der modernen evolutionistischen Methode zur Erschließung der Kulturgeschichte" zu sehen.29 In den Arbeiten der Verfechter einer systematischen Methode zur Betrachtung der Kulturgeschichte tauchte der Begriff „Ökosystem" auf, der von den gegenwärtigen Forschern auf dem Gebiet der „ökologischen Anthropologie" viel gebraucht wird. Indem diese Vertreter das gesellschaftliche Leben eines bestimmten Volkes als System auffassen, analysieren sie es als Teil eines umfassenderen Systems, nämlich „eines Ökosystems". 30 Dieses Ökosystem im weiteren Sinne wird als System der Wechselbeziehungen zwischen lebenden Organismen und der unbelebten Umwelt in dem jeweiligen Areal definiert. Das philosophische Problem der Beziehung zwischen Mensch und Natur wird naturalistisch als Wechselverhältnis von Energie und Materie, von lebender und unbelebter Natur abgehandelt. Die Aufgaben der Ethnographie werden dabei als Studium der adaptiven Bindungen der menschlichen Population an das natürliche Milieu definiert. Die Analyse konzen21

J. H. Steward, A l f r e d Kroeber, New York 1 9 7 3 .

M

Vgl. die Übersicht von J. W . Anderson, „Ecological anthropology and anthropological ecology", in:

2!)

W . Goldschmidt, Comparative functionalism. A n essay in anthropological theory, Berkeley-Los

Handbook o£ social and cultural anthropology, hg. v. J. J. Honigmann, Chicago 1 9 7 3 . Angeles 1 9 6 6 , S. 1 2 4 . "" Siehe O. D. Duncan, „Social Organization and ecosystem", in: Handbook of modern sociology, hg. v. R. E. L. Harris, Chicago 1 9 6 4 . 4

K u l t u r u. E t h n o s

50

JU. P. P E T R O V A - A V E R K I E V A

triert sich auf die Aufdeckung der ursächlichen Einflüsse der natürlichen Ressourcen auf die Merkmale des gesellschaftlichen Lebens der jeweiligen Populationen. In den Arbeiten der Forscher dieser Richtung findet man viele Versuche zur Erklärung von Kriegen, des Vorhandenseins oder Fehlens sozialer Ungleichheit, der Ausbeutung, der Klassen, der religiösen Vorstellungen und Gebräuche durch die Spezifik der natürlichen Ressourcen des jeweiligen Milieus. Unter den Verfechtern dieser Interpretation gibt es jedoch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Grades des Milieueinflusses auf die sozialökonomische Struktur des einen oder anderen gesellschaftlichen Organismus. Gleichzeitig werden die Positionen der Verfechter der kulturellen Ökologie bzw. der ökologischen Anthropologie einer berechtigten Kritik seitens einer Reihe ihrer Kollegen aus dem eigenen Lande unterzogen. Die Haltlosigkeit der Konzeptionen der ökologischen Anthropologie wurde überzeugend gezeigt durch S. Cook, der hervorhob, daß die Grundlage dieser Konzeptionen eine Biologisierung des Menschen ist, eine Betrachtung der Menschen als eine Art lebender Organismen. Die Begründer des historischen Materialismus des 19. Jahrhunderts, so räumt Cook ein, zeigten überzeugend die Unrichtigkeit eines solchen Herangehens. Es „vertuscht", so sagt er, die wichtigste evolutionäre Tatsache, daß der Homo sapiens die einzige Art ist, die ihre Existenzbedingungen selbst schafft, indem sie unmittelbar auf sie einwirkt und die physische Natur durch eine organisierte soziale Tätigkeit umgestaltet. Mit anderen Worten betont er, daß die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse spezifisch sind für die menschliche Adaption und die Adaption des Menschen zu einem Prozeß machen, der sich wesentlich von der Anpassung aller anderen Arten in der Natur unterscheidet. Nur der Homo sapiens erreichte von allen Lebewesen auf der Erde einen solchen Grad der Adaption, durch den seine Population das Material der Natur in Produkte verwandelt, die für die Existenz notwendig sind, und deren soziale Beziehungen nicht genetisch programmiert sind sondern von Generation zu Generation weitergegeben werden und das Verhältnis zum „Anteil am Prozeß der Produktion" 31 widerspiegeln. Cook hebt die Wichtigkeit der Schlußfolgerung von Engels in dessen Arbeit „Die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen" hervor. In den Arbeiten einer Reihe von amerikanischen Ethnographen mit einer linksliberalen Orientierung - z. B. S. Mintz, E. Wolf, M. Fried, R. Carneiro, E. Service, M. Harris, M. D. Sahlins - wird der Versuch unternommen, eine Theorie des Neoevolutionismus herauszuarbeiten als eine Art neuer historisch-philosophischer Konzeption, wobei jedoch ihre Theorien in Wirklichkeit eine eigentümliche Synthese der Anschauungen von White und Steward sind. Sie verbinden den ökologischen Determinismus des letzteren mit der energetischen Theorie von White und versuchen, die Idee der multilinearen Evolution mit der Idee der Einheit des historischen Prozesses von White zu verknüpfen, gelegentlich auch mit den Konzeptionen des Diffusionismus und Funktionalismus alter Schule und in einzelnen Thesen sogar mit dem Marxismus. Wolf z. B. bestimmte den Neoevolutionismus als eklektische Verbindung der Ideen des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, des Diffusionismus, des Funktionalismus und der ökolo31

S. Cook, „Economic anthropology: Problems in theory, method and analysis", in: Handbook of social and cultural anthropology, S. 8 4 6 .

Der Neoevolutionismus

51

gischen Theorie, was seiner Meinung nach dadurch berechtigt ist, d a ß „die Begrenztheit der einen Methode durch die positiven Qualitäten anderer ergänzt wird". 3 2 Sahlins, Service und T. Harding gehen von der Anerkennung der Idee der Einheit der Weltgeschichte und des gesellschaftlichen Fortschritts aus und definieren den Gang der Evolution der menschlichen Gesellschaft als Gesamtheit zweier Prozesse: des Prozesses der spezifischen Evolution und des Prozesses der allgemeinen Evolution, die von ihnen als „zwei Seiten einer Erscheinung" verstanden werden, das heißt, des allgemeinen Verlaufs der Evolution. Diese Konzeption des Evolutionismus wurde in dem Artikel von Sahlins „Spezifische und allgemeine Evolution" in der kollektiven Monographie „Evolution und Kultur" formuliert sowie in den Artikeln anderer Autoren dieser Monographie ausgeführt. 33 Sahlins und Service unterzogen die in der Wissenschaft vorhandenen Definitionen der Evolution einer kritischen Analyse. Dabei wenden sie sich am entschiedensten gegen die Deutung des „ein-linearen Evolutionismus". Während die Vertreter der historischen Schule sowohl die Ethnographen des 19. Jahrhunderts als auch den Marxismus des ein-linearen Evolutionismus bezichtigten, so sind Sahlins und Service der Meinung, daß dieser Vorwurf nur dem Marxismus zukomme und die Ethnographen des 19. Jahrhunderts völlig ungerechtfertigt beschuldigt worden seien. „Von den evolutionistischen Ethnographen des 19. Jahrhunderts", betont Sahlins, „muß ein für allemal die Beschuldigung der Ein-Linearität genommen werden." Die Ein-Linearität des Marxismus sehen die Autoren in der marxistischen Auffassung des historischen Prozesses als eines progressiven Wechsels gesellschaftsökonomischer Formationen. Sahlins geht besonders auf den Feudalismus ein, indem er nur einen Sonderfall einer spezifischen Evolution zurückgebliebener Länder Europas sieht. Darin, daß der Feudalismus der unmittelbare Vorläufer der kapitalistischen Gesellschaftsformation wurde, sah Sahlins eine Äußerung des von Service entwickelten „Gesetzes des evolutionären Potentials". Überhaupt hat Sahlins behauptet, daß die antike Zivilisation weiterentwickelt war als die feudalen Länder Europas. In den Konzeptionen von Sahlins und Service wie auch anderer Neoavolutionisten in der amerikanischen Ethnographie sind Spuren der Biologisierung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft doch feststellbar. Sie zeigen sich in den Versuchen, Parallelen zwischen der sozialen und biologischen Evolution herzustellen, in der Überbetonung der Rolle der adaptiven Prozesse, wenn die Evolution der Kultur wie die Evolution der Organismen in der Biologie als Assimilationsprozeß behandelt wird. Der Naturalismus äußert sich auch in den Versuchen einer Messung des Fortschritts in Energiezertifikaten. Es ist ganz offensichtlich, d a ß ihre historische Konzeption gegen den Marxismus gerichtet ist. Der Neoevolutionismus wird von ihnen völlig richtig als theoretische Antithese zum Marxismus angesehen. Gewiß, einige Kritiker des Neoevolutionismus versuchen ihn mit dem Marxismus zu identifizieren, indem sie auf die reale Tatsache der Nähe zum Marxismus in der Anschauung einiger Wissenschaftler des Westens spekulieren, die für die Wiederbelebung des „Evolutionismus des 19. Jahrhunderts" eintreten, sich aber nicht als „Neoevolutio32

E. W o l f , „The study of évolution", in: Horizons of anthropology, Chicago 1 9 6 4 , S. 1 0 .

•w M. D. Sahlins, „Evolution: specific and général", in: Evolution and culture, Ann A r b o r S. 4 3 f. 4*

1960,

52

JU. P. PETROVA-AVERKIEVA

nisten" fühlen. Man kann auch eine gewisse geistige Nähe zu den Konzeptionen der marxistischen Soziologie in den Äußerungen einiger Neoevolutionisten über die Bedeutung der materiellen Produktion, der sozialen Ungleichheit und der Ungleichheit hinsichtlich des Eigentums für die Entwicklung der Gesellschaft feststellen, in ihrer Anerkennung von gesellschaftlichen Erscheinungen wie Basis und Überbau. Aber oft verbergen sich hinter einer marxistischen Phraseologie antimarxistische Konzeptionen, die nicht selten als „verbesserter" Marxismus ausgegeben werden. Typisch in dieser Hinsicht ist die Konzeption des „kulturellen Materialismus" von M. Harris.

Der „kulturelle Materialismus" von M. Harris M. Harris, Schüler von White und Steward, versuchte, den ihren Konzeptionen eigenen Naturalismus zu überwinden. In seiner grundlegenden Arbeit zur Geschichte der Theorie in der westlichen Ethnographie 34 unterzog er alle Richtungen in der Geschichte der bürgerlichen Ethnographie sowie die marxistische Geschichtsauffassung einer Kritik und versuchte, seine originelle historisch-philosophische Konzeption „des kulturellen Materialismus" zu entwickeln. Er kritisiert zu Recht die Vermischung der kulturellen und biologischen Evolution durch Sahlins und Service und betont die Spezifik der sozialen Evolution. Er kritisiert auch die multilineare Evolution von Steward und fragt ihn, wieviel Entwicklungslinien er wohl aufstelle. 35 Aber auch der kulturelle Materialismus von Harris ist im Grunde nur ein technisch-ökologischer Materialismus wie auch schon bei anderen Neoevolutionisten. Seine Überlegungen gehen in die gleiche Richtung: „Die Verwendung einer ähnlichen Technik in einer ähnlichen Umwelt hat die Tendenz, zu ähnlichen Formen der Organisation der produktiven Arbeit und Verteilung zu führen, und diese rufen ihrerseits ähnliche Formen sozialer Gruppierungen hervor, die die Tätigkeit durch ähnliche Systeme von Werten und Vorstellungen rechtfertigen und koordinieren." 36 Aber im Unterschied zu Sahlins und Service, die den Marxismus beschimpfen, versucht Harris seinen kulturellen Materialismus als „verbesserten Materialismus" darzustellen; er erkennt sogar Marx als Begründer des kulturellen Materialismus an, aber als solche sieht er gleichfalls White und Steward an. Er bezeichnet ihre Methode, an die Geschichte der Gesellschaft heranzugehen, als „kultur-materialistisch", die Konzeption von Steward als „ökologische Variante des Kulturmaterialismus" und wirft ihnen vor, daß sie „Marx nicht ihre Anerkennung gezollt haben", die ihm nach Ansicht von Harris unbestritten zukomme: „Es ist historisch unbestritten, daß keine Person des 19. Jahrhunderts, eingeschlossen die nichtmarxistische Soziologie des 20. Jahrhunderts, einen Einfluß gehabt hat, der auch nur annähernd an den von Marx und Engels heranreicht." In seiner Arbeit betont er wiederholt den Einfluß des Marxismus auf die amerikanische Ethnographie: „Die Kulturanthropologie entwickelte sich ganz und gar als Reaktion gegen den Marxismus." Harris versucht zu zeigen, daß der Marxismus einen positiven

36 36

M. Harris, The rise of anthropological theory, New York 1968. Ebenda, S. 656 f. Ebenda, S. 4.

D e r Neoevolutionismus

53

Einfluß auf die westlichen Sozialwissenschaften ausüben könne, wobei er freilich zwischen dogmatischem und schöpferischem Marxismus unterscheidet. Letzteren versteht Harris als Sozialwissenschaft ohne Dialektik und ohne Lehre von der proletarischen Revolution. Die Grundlage eines solchen Marxismus sieht er in der Lehre von Basis und Überbau, die nach Harris das Fundament auch für den Kulturmaterialismus bildet, für eine gewisse „universelle" Soziologie und sogar einen „Ersatz" für den „dogmatischen" Marxismus. Im Kulturmaterialismus sieht Harris „eine neue Strategie" der Erforschung theoretischer Probleme der Ethnographie. In Wirklichkeit jedoch ist es eine eklektische Theorie, in der der Versuch gemacht wird, die Konzeption des Neoevolutionismus mit einigen Ideen der marxistischen Soziologie zu vereinen. Sie ist erstaunlich ähnlich der „Philosophie des modernen Materialismus", die gegen den Marxismus entwickelt wurde, ein angeblich „verbesserter" Marxismus des revisionistischen amerikanischen Soziologen S. Hook. Im allgemeinen hat der Kulturmaterialismus von Harris die Begrenztheit des TechnikUmwelt-Determinismus nicht überwunden, und im ideologischen Bereich stellt er den Versuch einer Revision der marxistischen Auffassung von der Geschichte der Gesellschaft dar, indem einerseits Reverenzen an die Adresse von Marx gerichtet werden und sich andererseits Beschimpfungen auf die „dogmatischen" Marxisten, zu denen er auch Lenin zählt, nebst einer gehörigen Portion Antisowjetismus finden. Bei aller Vielfalt ist der Neoevolutionismus in der amerikanischen Ethnographie der letzten zwei Jahrzehnte insgesamt ganz zweifellos ein Beweis für das Suchen der Ethnographen nach einer neuen Methodologie, ein Versuch, aus der theoretischen Sackgasse herauszukommen, in welche die historische Schule sie geführt hat. Eine große Gruppe von Ethnographen der U S A ist nun wesentlich weiter als die Neoevolutionisten vom Relativismus und Agnostizismus der historischen Schule abgewichen und hat die Begrenztheit der Konzeption von White und Steward überwunden. Die Arbeiten der Verfechter des Neoevolutionismus zeugen ganz zweifellos davon, daß in der Entwicklung der Theorie im ethnographischen Bereich in den U S A materialistische Tendenzen festzustellen sind. Gleichzeitig jedoch kann man in der amerikanischen Ethnographie auch idealistische Tendenzen feststellen. A m deutlichsten äußert sich dies in der sogenannten „Ethno-Wissenschaft" oder „Ethno-Semantik" bzw. „Cognitive Anthropologie". 37 Die Vertreter dieser Richtung sehen es als ihre Aufgabe an, durch die Methode der Semiotik die nicht real wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen zu untersuchen und Beschreibungen (,Adäquate") von Vorstellungen der Menschen der jeweiligen Kultur von den Dingen und Erscheinungen ihrer Kultur zu geben, also eine Untersuchung der Erkenntnisprozesse der Umwelt durch diese Menschen. Ein Theoretiker der Ethno-Wissenschaft, W. Sturtewant, rechtfertigt diese Methode dadurch, daß sie angeblich die Voreingenommenheit, den Ethnozentrismus des Ethno:!7

Siehe W. Sturtewant, „Studies in ethnoscience", in: American Anthropologist. B d . 66, 1964, Nr. 2 ; Cognitive anthropology, hg. v. S. A . Tyler, N e w York 1 9 6 9 ; O . Werner, „Some new developments in ethnosemantic 1974.

fields",

in: Current trends in linguistics, hg. v. Th. Sebeok, B d . 12,

Hague

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J ü . P. PETROVA-AVERKIEVA

graphen bei der Beschreibung der Kultur des einen oder anderen Volkes ausschließe. Harris, der diese Richtung in der Ethnographie der USA kritisiert, kennzeichnet sie durchaus zutreffend als idealistische Richtung, die von den Ideen Diltheys ausgeht und die Unzulänglichkeit der atomaren Auffassung der Kultur bewahrt. 38 Neben der Erarbeitung und Verbreitung unterschiedlicher neoevolutionistischer, allgemein-methodologischer Konzeptionen kann man auf Grund zahlreicher Arbeiten und Vorträge von amerikanischen Ethnographen besonders der jungen Generation auf ein wachsendes Interesse an der marxistischen Geschichtsphilosophie und auf eine allmähliche Durchsetzung ihrer Ideen in den Forschungen schließen. Einen schlagenden Beweis dafür lieferte das aktive Auftreten amerikanischer Ethnographen in den auf ihre Initiative gebildeten speziellen Sektionen und in dem vorausgegangenen Symposium zum Thema „Probleme und Möglichkeiten der marxistischen Ethnologie" auf dem 1973 in Chikago veranstalteten IX. Internationalen Anthropologen- und Ethnographenkongreß. 39 Auf diesem Kongreß entstand auch die Idee zur Herausgabe einer speziellen Zeitschrift „Der marxistische Anthropologe", die seit 1975 unter dem Titel „Dialektik Anthropology" erscheint. Wie die Beiträge der Ethnographen der USA in den letzten Jahren zeigen, werden die Ideen der Begründer des Marxismus-Leninismus von ihnen in ausgedehnter Quellenarbeit studiert. Allerdings erfolgt dies nicht immer durch unmittelbares Studium der Arbeiten der Schöpfer des wissenschaftlichen Kommunismus. Oft dienen als Quellen einer Kenntnis des Marxismus voreingenommene Interpretationen in den Arbeiten von antikommunistischen Ideologen, in Lehrbüchern von „Marxkundlern" und ähnlichen. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die erwähnte grundlegende Untersuchung von Harris zur Geschichte der Ethnographie des Westens, worin den Klassikern des Marxismus breiter Raum eingeräumt w i r d ; doch hat Harris, wie der Text zeigt, seine Kenntnisse über den Marxismus von Wittfogel, M. Weber und anderen Marxkritikern bezogen. Die Folge eines derartigen Studiums des Marxismus ist eine falsche Vorstellung über die Anschauung seiner Begründer. Viele westliche Wissenschaftler befassen sich mit dem Marxismus auf Grund der Originalquellen. Die Ziele jedoch, die sie sich dabei stellen, sind unterschiedlich, und unterschiedlich sind deshalb auch die Einschätzungen der wissenschaftlichen Bedeutung der Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus. Die einen Wissenschaftler, solche wie Morris E. Opler zum Beispiel, lesen die Arbeiten von Marx, Engels und Lenin und machen sich mit den Arbeiten ihrer Nachfolger zu -dem Zweck bekannt, um sie im Sinne eines technologischen Determinismus, eines ökonomischen Determinismus oder aber als Dogmatismus zu interpretieren. Man findet auch Versuche einer Identifizierung des Marxismus mit dem Existentialismus. Andere suchen in den Werken der Klassiker des Marxismus Antworten auf sie bewegende Fragen über die wissenschaftliche Auffassung einer Geschichte der Gesellschaft (z. B. E. Leacock, H. Hickerson u. a.). Im Zusammenhang mit dem allgemeinen, breiten Interesse am Marxismus in den 38 38

Harris, S. 5 6 8 - 5 9 7 . Vgl. dazu Ju. P. Averkieva/Ju. V. Bromlej, „IX. Mezdunarodnyj Kongcess antropologiceskich i etnologiceskich nauk", in: Sovetskaja Etnografija 1974, Nr. I.

Der Neoevolutionismus

55

Kreisen der Wissenschaftler des Westens finden wir nicht selten auch Äußerungen über seine Bedeutung für die Entwicklung der westlichen Sozialwissenschaft und insbesondere für die Ethnographie. Negativ schätzt z. B. Morries E. Opler den Einfluß des Marxismus auf die amerikanische Ethnographie ein/10 während sein Bruder Marwin K. Opler bestrebt ist, seine Untersuchungen auf dem Gebiet der ethnischen und Sozialpsychologie auf den Thesen des historischen Materialismus aufzubauen. 41 Über einen positiven Einfluß des Marxismus selbst auf nicht-marxistische Ideen äußern sich Harris, Mead und sogar Murdock. Harris gibt zum Beispiel bei der Behandlung des Einflusses des Marxismus auf die Entwicklung der Sozialwissenschaften des Westens zu, daß „die Wissenschaft von der Gesellschaft in den USA durch ihre Isolation von den marxistischen Gedanken einen großen Schaden genommen hat." Er hebt die große Bedeutung des Marxismus für die theoretische Ethnographie des Westens hervor, wiederholt jedoch gleichzeitig die in der westlichen Soziologie verbreitete Ansicht, daß der Marxismus veraltet sei. „Veraltet" soll die von Marx gegebene Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und seine Lehre von der proletarischen Revolution sein. Harris schließt sich hierbei den Ideen westlicher Soziologen an, die zu beweisen versuchen, daß in der modernen kapitalistischen Gesellschaft ein Prozeß der „Deproletarisierung" und „Sozialisierung" vor sich gehe. Für unannehmbar hält Harris die dialektische Methode von Marx. Weite Verbreitung finden bei westlichen Wissenschaftlern auch Begriffe der marxistischen politischen Ökonomie, wie Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte, obwohl letztere oft noch mit Technologie gleichgesetzt werden und die Bedeutung der ersteren als ökonomische Struktur der Gesellschaft ignoriert wird. Einige Thesen des Marxismus werden von westlichen Ethnographen unter anderen Bezeichnungen gebraucht, so figuriert z. B. der Begriff „ökonomische Gesellschaftsformation" oft unter der Bezeichnung „soziokulturelles System". Die aus dem Marxismus entlehnten Ideen und Thesen werden oft in ganz unerwarteter Weise eklektisch mit Ideen der bürgerlichen Soziologie verflochten. Aber neben den Wissenschaftlern, die vom Marxismus nur einzelne Ideen übernehmen und sie zum Schaden nicht nur des Marxismus, sondern auch ihrer eigenen Wissenschaft verwenden, entwickelt sich in der Ethnographie der USA ein Flügel progressiver Wissenschaftler, die eine positive Einstellung zum wissenschaftlichen Erbe der Klassiker des Marxismus haben und ihre Forschungen von der Position des historischen Materialismus durchzuführen bemüht sind, womit sie den Einfluß der in der westlichen Wissenschaft vorherrschenden bürgerlichen Konzeptionen überwinden. Diese Wissenschaftler kritisieren mutig reaktionäre Anschauungen ihrer Kollegen und erläutern geduldig das Wesen des Marxismus. Sie treten aktiv gegen den Krieg, für den ',0 M. E. Opler, „Cultural evolution, Southern Athapaskans and chronology in theory", in: Southwestern Journal of Anthropology, Bd. 17, 1961, Nr. 1 ; derselbe, „Two converging lines of influence in cultural evolutionary theory", in: American Anthropologist, Bd. 64, 1962, Nr. 3, S. 1 ; derselbe, „Integration, Evolution and Morgan", in Currertt Anthropology, Bd. 3, 1962, Nr. 5 ; derselbe, „Morgan and Materialism", in: Current Anthropology, Bd. 3, 1962, Nr. 5, S. 479. '•' M. K. Opler, a. a. O.

56

JU. P. P E T R O V A - A V E R K I E V A

Frieden, gegen Rassismus, gegen die Benutzung der Wissenschaft für die Interessen des Imperialismus und Neokolonialismus ein.42 Für die moderne Ethnographie der U S A sind Unsicherheit und das Suchen nach neuen soziologischen Theorien charakteristisch. Viele ihrer kritisch eingestellten Vertreter sprechen dies offen aus, wenn sie von einer ideologischen Krise der Wissenschaft reden. Davon zeugen harte Diskussionen, der Kampf fortschrittlicher und reaktionärer historisch-philosophischer Konzeptionen in allen Bereichen und zu allen Problemen der Ethnographie. Ein Jahrzehnt der Versuche, „neue" Theorien zu schaffen, hat die Wissenschaftler von der Unfähigkeit der bürgerlichen Wissenschaft überzeugt, eine befriedigende soziologische Theorie zu entwickeln, die den Verlauf der Weltgeschichte zu erklären in der Lage wäre und dem Marxismus widerstehen könnte. Die Krise der bürgerlichen historischen Ideen festigt nur die Autorität des historischen Materialismus. D a s vergangene Jahrzehnt war eine Periode der ständigen Ausdehnung und Vertiefung des Einflusses des Marxismus auf die westliche Ethnographie und Soziologie. Aber die Hinwendung der modernen Ethnographen der U S A zum Marxismus ist ein komplizierter und vielschichtiger Prozeß. Auf der einen Seite zeugt er von der wachsenden Autorität des Marxismus. Aber in jedem einzelnen Fall hat die Hinwendung des einen oder anderen bürgerlichen Ethnographen zu den marxistischen Ideen unterschiedlichen Sinn und Bedeutung. In einer Zahl von Fällen ist die Hinwendung zu Marx ein Ausdruck der Bewegung eines progressiv eingestellten Wissenschaftlers auf den Marxismus zu. In anderen Fällen kommen Wissenschaftler zu den Ideen des Marxismus durch ihre wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit und ziehen Schlußfolgerungen, die ihrer sonstigen ideologischen Orientierung widersprechen. In einem Fall überwinden sie die antiwissenschaftlichen Konzeptionen alter Schulen, im anderen folgen sie ihnen blind. Gleichzeitig sind die verschiedenartigsten Versuche offenkundig, die erschütterten Positionen der bürgerlichen soziologischen Theorien durch die Ideen und die Autorität des Marxismus zu stützen. Allen Versuchen der Hinwendung zum Marxismus im Interesse der wissenschaftlichen Forschungen steht die Widerstandskraft reaktionärer Wissenschaftler entgegen, die die Ideen des Marxismus in Mißkredit zu bringen und seinen Einfluß zu neutralisieren suchen. D i e einen bemühen sich, sich als „Marxisten" zu verkleiden, jedoch als „neue Marxisten", die den Marxismus „verbessern" und die Thesen des Marxismus in präparierter und der bürgerlichen Ideologie angepaßter Form darlegen. Diesen Zweck haben denn auch verschiedene Varianten der Konvergenztheorie zur Annäherung des Marxismus an das bürgerliche soziologische Gedankengut. Ihre Vertreter sind bemüht, den Marxismus - um mit Lenin zu sprechen - in der Umarmung der bürgerlichen Wissenschaft zu ersticken. Andere führen einen offenen, heute jedoch wenig populären Kampf gegen den Marxismus. Der gesamte Verlauf dar Geschichte der theoretischen Ideen in der Ethnographie der V1

Vgl. „Social responsibility symposium", in: Current Anthropology, Bd. 5, 1968; War: anthropology of armed conflict and aggression, New York 1968.

Der Neoevolutionismus

57

USA überzeugt uns, daß die ehrlichen Wissenschaftler der USA den Widerstand der reaktionären Ideologie überwinden und erkennen werden, daß der Marxismus den einzigen Ausweg aus der Sackgasse darstellt, in die idealistische und relativistische Konzeptionen die bürgerliche Sozialwissenschaft geführt haben. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der gegenwärtigen ausländischen Ethnographie ist die Tatsache, daß Grenzprobleme der Geschichte der Gesellschaft, die sowohl in ethnographischen als auch historischen Untersuchungen aufgeworfen werden, fruchtbringend von einer ganzen Reihe marxistischer Historiker verschiedener kapitalistischer Länder bearbeitet werden. In den USA z. B. finden Fragen der Geschichte und Kultur der Völker Amerikas eine echte wissenschaftliche Darstellung in den Arbeiten von W. Foster, H. Aptheker, G. Hall, H. Winston u. a.

Irmgard S e l l n o w

Zur Rolle und Bedeutung psychologischer Theorien in der Ethnographie

Psychologische T h e o r i e n sind in der E t h n o g r a p h i e keine n e u e n Erscheinungen. Bereits einige Vertreter der evolutionistischen Schule, w i e z. B. W a i t z 1 oder Spencer 2 , hatten sich

in

erheblichem

Umfang

darauf

gestützt

und

mit

ihrer

Hilfe

gesellschaftliche

P h ä n o m e n e erklärt. V o r a l l e m aber fällt in d i e Z e i t der W e n d e v o m 19. z u m 20. Jahrhundert

die

Begründung

der V ö l k e r p s y c h o l o g i e

durch W u n d t . 3

Seine

Auffassungen

und A r b e i t e n hatten eine weitreichende und lang a n h a l t e n d e W i r k u n g , u n d seinen G e sichtspunkten schlössen sich n e b e n Bastian 4 auch Lazarus 5 u n d Steinthal 6 an. D e n n o c h ging nicht v o n W u n d t , s o n d e r n v o n F r e u d d i e A n r e g u n g für d i e E n t s t e h u n g der m o d e r neren psychologischen Richtungen in der E t h n o g r a p h i e aus. Diese Hinwendung

zu F r e u d hatte hinsichtlich T h e o r i e u n d

Methode

der

einge-

schlagenen D e n k r i c h t u n g erhebliche K o n s e q u e n z e n . W a r W u n d t v o n e i n e m dialektischen Verhältnis zwischen I n d i v i d u u m u n d G e s e l l s c h a f t a u s g e g a n g e n , 7 w u r d e d i e s e E r k e n n t -

1 1 3

1

B 7

Th. Waitz, Grundlegung der Psychologie, Hamburg-Gotha 1846. H. Spencer, System der synthetischen Philosophie, 2 Bde., Stuttgart 1875/76. W. Wundt, Grundriß der Psychologie, 8. Aufl., Leipzig 1907, insbesondere S. 381 ff. A. Bastian, Allgemeine Grundzüge der Ethnologie. Prolegomena zur Begründung einer naturwissenschaftlichen Psychologie auf dem Material des Völkergedankens, Berlin 1884. M. Lazarus, Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Berlin 1865. H. Steinthal, „An die Leser", in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, Bd. 1, Berlin 1891. Vgl. z. B. folgende Ausführungen: „In den geistigen Gemeinschaften und in den in ihnen hervortretenden Entwicklungen von Sprache, Mythus und Sitte treten uns dennoch geistige Zusammenhänge und Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesentlichen Beziehungen von dem Zusammenhange der Gebilde im individuellen Bewußtsein unterscheiden, denen aber darum doch nicht weniger wie diesem Wirklichkeit zuzuschreiben ist. In diesem Sinne kann man den Zusammenhang der Vorstellungen und Gefühle innerhalb einer Volksgemeinschaft als ein Gesamtbewußtsein und die gemeinsamen Willensrichtungen als einen Gesamtwillen bezeichnen." Und weiterhin polemisierte er direkt gegen diejenigen, die Individuum und Gesellschaft als einander gegenüberstehende Größen betrachteten: „Eine Nachwirkung dieser unpsychologischen und gegenüber den Problemen der Völkerpsychologie völlig ratlosen Auffassung ist es, wenn heute die Begriffe eines Gesamtbewußtseins und Gesamtwillens den gröbsten Mißverständnissen begegnen. Statt sie einfach als einen Ausdruck für die tatsächliche Übereinstimmung und die tatsächlichen Wechselwirkungen der Individuen einer Gemeinschaft zu betrachten, meint man hinter ihnen

60

I. S E L L N O W

nis von späteren Psychologen nicht weiter verfolgt. Dies hatte nicht nur eine metaphysische Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft bei den jüngeren Vertretern psychologischer Theorien zur Folge, wesentlicher noch waren die häufig einseitige Betrachtung des Individuums, die damit engstens verbundene Vernachlässigung der gesamtgesellschaftlichen Aspekte - insbesondere hinsichtlich der materiellen Grundlagen des Lebens - und die starke Hinwendung zur Psychiatrie. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Bekanntlich war die evolutionistische Schule ausgesprochen historisch orientiert, und ihre Vertreter bemühten sich zum Teil um die Erarbeitung umfassender Geschichtsbilder. Die stürmische Entwicklung in den Gründerjahren verführte zur Annahme einer stetigen Progression auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Dieser unbedingte Glaube an den unaufhörlichen Fortschritt der Menschheit erlitt jedoch ernsthafte Erschütterungen, als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Krisenzeichen bemerkbar machten. Der Evolutionismus wich anderen Schulen, die mit zunehmenden politischen Widersprüchen in stets höherem Maße einem Geschichtsagnostizismus verfielen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Folgeerscheinungen dieser Entwicklung einzugehen. Eine dieser Folgen jedoch ist im gegebenen Zusammenhang wesentlich: Die Hinwendung zu sekundären Fragen der Geschichtsentwicklung. Auch das Aufkommen psychologischer Schulen der Geschichtsbetrachtung resultierte unmittelbar aus diesen Veränderungen. Für sie stand nicht mehr die Frage nach den großen Entwicklungslinien der Menschheitsgeschichte im Mittelpunkt des Interesses; sie beschäftigten sich statt dessen mit einer Spezialfrage: mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Zweifellos ist dies ein Problem, das wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient und das keineswegs zufällig heute auch in sozialistischen Ländern immer häufiger aufgegriffen wird, hängt doch das Tempo des sozialistischen Aufbaus in wesentlichem Maße vom bewußten Handeln der Menschen ab. Es ist also nicht die Fragestellung als solche, an der sich die Auffassungen scheiden, es ist vielmehr die Betrachtungsweise. Die psychologischen Schulen der neueren Zeit begannen ihr Wirken mit einer Absage an die Grundsätze und Erkenntnisse der Völkerpsychologie. Indem man sich nunmehr auf die Individualpsychologie, insbesondere aber auf die Psychoanalyse, stützte, wollte man tiefere Einsichten gewinnen und die „geheimsten Triebfedern der Determiniertheit des Seelenlebens" aufdecken. 8 Freud, der Begründer der neuen Betrachtungsweise, sah als Haupttriebfeder menschlichen Handelns den Sexualtrieb an. Ödipuskomplex, Narzißmus - im Sinne „einer nicht erreichten erotischen Objektwahl" bzw. der daraus resultierenden „Selbstliebe" 9 Komplexe und Verdrängung waren die wichtigsten Schlagworte. Allerdings erwies es sich manchmal als sehr schwierig, den Kultur- und Geschichtsverlauf - auch wenn man nur Ausschnitte davon der Betrachtung unterzog irgendein

mythologisches

(Wundt, S. 3 8 4 - 3 8 5 ;

Wesen

oder

mindestens

eine

metaphysische

Substanz

zu

vgl. auch: Derselbe, Vorlesungen über die Menschen- und

3. Aufl., Hamburg-Leipzig 1 8 9 7 , S. 4 8 8 - 4 8 9 ) . s

G. Röheim, Spiegelzauber, Leipzig-Wien 1 9 1 9 , S. 2 6 3 .

,J

Ebenda, S. 24, 2 6 0 .

wittern". Thierseele,

61

Psychologische Theorien in der Ethnographie

diesen Prämissen unterzuordnen.10 Man mußte daher bald daran gehen, die von Freud aufgestellten Thesen zu revidieren. So erwies sich die Annahme von der überragenden Bedeutung des Ödipuskomplexes als unhaltbar.11 Weitere Überlegungen führten zu der Erkenntnis, daß die von Freud vertretene Individualpsychologie nicht die erhofften Ergebnisse erbringen konnte. Der Haupteinwand richtete sich gegen die Annahme von unveränderbaren Trieben als Ursache menschlichen Handelns. Diese Hypothese war ungeeignet zur Interpretation des Geschichtsverlaufs und zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Daher stellte Newcomb fest: „Wenn wir uns die verschiedenen Formen menschlichen Verhaltens, anstatt von unveränderlichen Instinkten, von erworbenen Trieben und Motiven bestimmt denken, sind sie - von unserem gegenwärtigen Standpunkt - besser verständlich. Die Triebspannungen, die Freud meinte, sind stark und allgemein verbreitet. Aber es handelt sich um Triebspannungen, d i e . . . im Verlaufe des Lernprozesses tiefgreifend modifiziert werden." 12 Die Abwendung von der Instinkttheorie und ihre Ersetzung durch die Lerntheorie führten notwendigerweise zur Einbeziehung der gesellschaftlichen Umwelt in die Analyse. Eine neue Art von Völkerpsychologie war das Resultat dieser Entwicklung. Als erste Richtung nach der Überwindung der Freudschen Einseitigkeit der Betrachtung etablierte sich jene Schule, die sich an der richtungsweisenden Arbeit von R. Benedict „Patterns of Culture" orientierte.123 Danach wurde es zum Hauptanliegen ethnographischer Forschungen, den Grund- bzw. Nationalcharakter einer jeden Kultur ausfindig zu machen. Diese Blickrichtung war nicht neu. Sie hatte vor allem in der Gestaltpsychologie Diltheyscher Prägung ihr Vorbild. Nach Dilthey war wissenschaftliche Erkenntnis nur auf „Erleben" begründet, und die innere Seite der Wissenschaft sollte nach seiner Auffassung durch „Wertgestaltung und das Reich der Zwecke" gekennzeichnet sein.13 Es blieb demzufolge einzig und allein dem individuellen Einfühlungsvermögen des Forschers überantwortet, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen, besser gesagt: zu erfühlen. Wissenschaftliche Erkenntnis wurde somit zum rein subjektiven Vorgang. Aber nicht nur der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß war bei dem Begründer der Gestaltpsychologie ein Subjektivismus par excellence, auch die Realität selbst wurde in subjektive Beweggründe aufgelöst. Zum beherrschenden Regulator des gesell10

Vgl. ebenda, S. 34 (Herleitung des Sehers bzw. Schamanen aus dem Narzißmus), S. 82 (Herleitung

des

Königtums

aus

der

gleichen

Quelle).

Die

gleichen

Grundauffassungen

vertrat

G . Röheim auch in seiner Arbeit: The Riddle of the Sphinx, London 1934, S. 138, 280 f., wo er den Totemismus auf sexuelle Ursachen zurückführte, und (ebenda, S. 111), wo er bei der Interpretation der Zeremonien in gleicher Weise verfuhr. In der zuletzt angeführten Untersuchung finden sich Ausführungen zur Bedeutung des Ödipuskomplexes folgt eine auch nur annähernd

akzeptable

(S. 31 f.). In keinem Falle er-

wissenschaftliche Beweisführung, so daß an

ihrer

Vgl. J.-C. Filloux, „Préface", in: R. Linton, L e fondement culturel de la personnalité,

Paris

Stelle die bloße Behauptung steht. 11

1965, S. X X I I I . 12

Th. M. Newcomb, Sozialpsychologie, Meisenheim am Glan 1959, S. 302.

J2a

R . Benedict, Patterns of Culture, N e w York 1934.

,:t

W. Dilthey, D i e geistige Welt, 2 Bde. ( = W. Dilthey, Gesammelte Schriften, B d . 5 und 6), Leipzig-Berlin 1924, Bd. 1, S. 4.

62

I. S E L L N O W

schaftlichen Zusammenlebens erklärte Dilthey das „Gefühls- und Triebleben" der Menschen. Zur bewegenden geschichtlichen Kraft erhob er den Nahrungs-, Geschlechtsund Schutztrieb. Aus ihnen leiteten sich nach seiner Meinung als Reflexe Hunger, Liebe und Krieg ab. 14 Diese Art psychologischer Geschichtstheorie ermöglichte es den späteren Anhängern Diltheys, seine Gedankengänge mit denen Freuds zu verbinden. Zunächst aber galt es, eine andere Frage zu beantworten: Wie kommt es, daß ganze Gruppen von Menschen eine (relativ) einheitliche Kultur eigener Prägung besitzen, und wie ist es zu erklären, daß diese Kulturen oft eine lange Konstanz aufweisen? Die Antwort auf diese Frage sollte mit Hilfe der Lerntheorie gefunden werden. Jeder Mensch, so argumentierte man, wird in eine bestimmte gesellschaftliche Umwelt hineingeboren und muß sich in einem Lernprozeß die kulturellen Traditionen aneignen. Dieser Lernprozeß garantiert nicht nur die Weitergabe der Kulturtraditionen von einer Generation an die andere, sondern bewirkt gleichzeitig ein gleichbleibendes gesellschaftliches Verhalten der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft (Behaviorismus). Der zuletzt angeführte Gesichtspunkt war zugleich von praktischer Bedeutung: bei der ethnographischen Feldforschung versuchte man - ausgehend vom konstatierbaren Verhalten - auf die zugrunde liegenden allgemeingültigen Wertvorstellungen, Verhaltensmuster bzw. patterns of culture zu schließen. 15 In dieses Lehrgebäude ließen sich, wie bereits angedeutet, ohne Schwierigkeiten auch wesentliche Grundgedanken Freuds (Ödipuskomplex, Verdrängung, Rolle des Unterbewußtseins, Rolle der Kindheit und Erziehung) einbeziehen. Die Gestaltpsychologie hatte sich gegenüber der Individualpsychologie Freuds als integrationsfähig erwiesen. Die Gestaltpsychologie wies insofern einen rationellen Kern auf, als sie vom Gesamtzusammenhang innerhalb einer Kultur ausging, den Zufallscharakter in der Kombination der einzelnen Elemente einer Kultur, wie es z. B. die Wiener kulturhistorische Schule annahm, also verneinte. 16 Nach Auffassung der Gestaltpsychologie weist jede Kultur eine spezifische Struktur auf, und aus dieser Struktur sollten jeweils bestimmte Verhaltensweisen und Aktionen ihrer Träger entspringen. 17 14

Ebenda, S. 2 0 8 f.

15

Diese enge Beziehung zwischen Gestaltpsychologie und Behaviorismus bzw. der culture-patternSchule wird nicht von allen Historiographen

geteilt. So möchte T. Parsons („Psychology and

Sociology", in: J. Gillin, For a Science o£ Social Man, N e w Y o r k 1 9 5 4 , S. 86) in den genannten Richtungen jeweils selbständige Schulen sehen. 16

Vgl. T. Gladwin, „Culture and Cultural

Anthropology,

New

Logical

Process", in: W .

H. Goodenough,

Y o r k - S a n Francisco-Toronto-London

1964,

S.

Explorations 170;

in

Parsons,

a . a . O . , S. 96 f . ; A . J. Hallowell, „Psychology and Anthropology", in: Gillin, S. 1 9 5 f.,

199;

A . Kardiner, Psychological Frontiers of Society, New Y o r k 1 9 4 6 , S. 9. " Vgl. L. Thompson, Culture in Crisis, New York ( 1 9 5 0 ) , S. 1 5 f . ; Filloux, a . a . O . , S. X X I I ; Goodenough,

„Introduction",

in:

Cultural Anthropology, S. 4 f . ; C. Kluckhohn,

Spiegel

der

Menschheit, Zürich 1 9 5 1 , S. 4 8 , 5 0 ; G. Gorer, „Theoretical Approach", in: M. Mead/M. W o l f e n stein, Childhood in Contemporary Cultures, 2. Aufl., Chicago 1 9 5 6 , S. 3 1 ; Parsons, a. a. O., S. 7 1 , 7 2 ; Newcomb, „Sociology and Psychology", in: Gillin, S. 2 2 7 ; A . Anastasi, Differential Psychology, New York 1 9 5 8 , S. 6 0 7 f . ; M. Mead, „Theoretical Setting", in: Mead/Wolfenstein, S. 14. Vgl. auch zahlreiche Definitionen des Kulturbegriffs in: A . L. Kroeber/C. Kluckhohn, Culture, Cambridge 1 9 5 2 , insbesondere S. 43, 4 7 , 48, 5 0 , 5 1 , 52, 53, 55, 5 6 , 58, 6 1 .

63

Psychologische Theorien in der Ethnographie

Kulturelle Besonderheiten sind bekanntlich seit jeher das wesentlichste Objekt ethnographischer Forschungen; in diesem Punkte wird es also wenig Meinungsunterschiede geben. Auch hinsichtlich des inneren, notwendigen Zusammenhangs der einzelnen Kulturelemente wird eine breite Übereinstimmung der Meinungen zu erzielen sein. Die Differenzen ergeben sich jedoch sofort, wenn man die Verbindung dieser Auffassung zur allgemeinen Geschichtstheorie herstellt. Für die Anhänger der culture-pattern-Konzeption steht der Gesichtspunkt des inneren Zusammenhangs der Kulturelemente im unmittelbaren Zusammenhang mit der These vom Auswahlprinzip als Grundlage jeder historischen Entwicklung. Sie gehen davon aus, daß jede Gesellschaft bei dem Versuch zur Lösung ihrer Probleme immer die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten hat. Keine der anderen ethnographischen Schulen, so argumentieren sie weiter, könne erklären, warum die Wahl der Mittel so und nicht anders ausgefallen sei.18 Bei dieser Theorie handelt es sich also um den Versuch, im Geschichtsverlauf eine gewisse Ordnung zu konstatieren, die sich aus der kulturellen Eigenart der betreffenden Völker herleiten sollte, die damit auf den Einzelfall begrenzt blieb. Wenn aber die Entwicklung jedes Volkes bzw. Stammes einem bestimmten Ordnungsprinzip folgte, dann konnte sie auch zumindest innerhalb gewisser Grenzen vorhergesehen werden. 19 Die wenigsten Anhänger dieser Schule stellten die Frage nach den universalhistorischen Zusammenhängen. Diejenigen, die diesem Problem nachgingen, taten es, um eine Erklärung für die zahlreichen Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen im Geschichtsablauf zu finden.20 Die Antwort lautete z. B. bei Kluckhohn folgendermaßen: „Wenn die Menschen nur lange genug sich selbst überlassen bleiben, (schreibt) ihre ererbte biologische Ausrüstung ihnen ungefähr dieselben aufeinanderfolgenden Stufen beim Aufbau ihrer Lebensweise v o r . . .".21 Aus der zitierten Formulierung wird deutlich, daß es sich bei dieser Auffassung nicht um die Definition oder Erklärung einer universalhistorischen Gesetzmäßigkeit handelte, sondern um eine Position, die Kluckhohn an anderer Stelle gemeinsam mit Kroeber wie folgt umschrieben hat: „. . . seeking continuities and connections rather than phenomenal identities or ,regularities' and yet ready to accept such ,regularities' and punctuating cultural ,revolutions' insofar as these are demonstrable. Such knowledge is important for gaining a timely and adequate insight into the process forming the future." 22 In dieser Auffassung lag insofern eine innere Logik als sie eine 18

Goodenough, a. a. O., S. 5.; Kluckhohn, Spiegel der Menschheit, S. 40, 83.

ly

J. J. Honigmann, Culture and Personality, N e w York 1954, S. 2 4 ; C. O. Frake, „A Structural Description of Subamun .Religious Behavior' ", in: Cultural Anthropology, S. 112; Kluckhohn, Spiegel der Menschheit, S. 53, 58. D a ß diese Bemühungen um Vorausschaubarkeit mit politischen Bedürfnissen zusammenhingen, hat besonders deutlich einmal Kluckhohn (ebenda, S. 51) ausgeführt, als er auf Fehlschläge der britischen Kolonialverwaltung und nordamerikanischer Indianerdienststellen hinwies.

2(1

Mit seiner Annahme eines „common denominator of cultures" steht daher G. P. Murdock (vgl. seinen Beitrag mit gleichem Titel in: R. Linton, The Science of Man in the World Crisis, N e w York 1946, S. 125) ziemlich allein.

21 22

Kluckhohn, Spiegel der Menschheit, S. 67. Kluckhohn/Kroeber,

in:

Evolution

Evolution, Chicago 1960, S. 210.

after Darwin,

Bd.

3,

Panel

Five:

Social

and

Cultural

64

I. S E L L N O W

direkte Fortsetzung des oben angeführten Gedankenganges bedeutete: So wie im Einzelfall jede Veränderung aus der Grundorientierung des Verhaltens der Menschen in einer gegebenen Kultur entsprang bzw. davon diktiert wurde, so sollten die großen Entwicklungslinien der Geschichte von der unveränderlichen biologischen „Ausrüstung" der Menschen abhängen. Aber, so muß ausdrücklich hinzugefügt werden, diese großen Linien bedeuteten niemals eine notwendige Aufeinanderfolge von Entwicklungsetappen.23 Im Gegenteil, auch in diesem Zusammenhang wird vom Prinzip der Auswahl zwischen jeweils mehreren Möglichkeiten ausgegangen, wird vor allem die Rolle des Zufalls überbetont. 2 '' So bleiben nur wenige große Einschnitte der Universalgeschichte übrig, wie z. B. nach Kluckhohn und Kroeber die Erfindung von Bodenbau und Viehzucht; die Periode um 3 0 0 0 v . u . Z . mit dem Aufkommen von Schrift, Metallurgie, Urbanisierung und Staat; 2 5 die Zeit um 600 u. Z. mit dem Übergang zum Feudalismus und um 1 600 u. Z. mit der Herausbildung des Frühkapitalismus. 26 Sofern also überhaupt der universalhistorische Entwicklungsverlauf einer Betrachtung unterzogen wurde, anerkannte man nur wenige Wendepunkte, denen eine gewisse allgemeine Bedeutung zukommen sollte und die man daher als „Regelmäßigkeiten" interpretierte. Völlig unbeachtet blieben dabei die wirklich verallgemeinerungsfähigen und entscheidenden Tatsachen: Eigentum, Ausbeutung und Wirksamkeit der gesellschaftlichen Widersprüche. D a also die Triebkräfte der historischen Entwicklung nicht berücksichtigt wurden, blieb die Untersuchung bei den Erscheinungen stehen und drang nicht zum Wesen der Sache vor. Die Vielfalt der Erscheinungen glaubte man nur in einem Punkte verallgemeinern zu können: mit der These, daß jeder Kultur eine bestimmte innere Ordnung innewohnt, die sich im Verhalten ihrer Träger ausdrückt. Ohne Analyse der historischen Kausalitäten wird es jedoch für die Anhänger dieser Richtung sehr schwer, die geschichtlichen Veränderungen zu erklären. Wenn das Individuum nichts weiter tun kann, als sich in einem Lernprozeß die kulturellen Traditionen anzueignen, und wenn weiterhin das Verhalten der Menschen ausschließlich 27 aus der Tradition abgeleitet wird, gibt es keinen Ansatzpunkt für die Erklärung der historischen 2:1

Vgl. Kroeber, Configurations of Culture Growth, Berkeley 1 9 4 4 , S. 7 7 7 f.: „Associated with this, or underlying it, really, is another question: namely, whether all activities regularly appear in each civilization, so that one can inter a ,must'. To this last query, the answer can only be a categorical No." Ebenda, S. 7 6 3 , 8 2 0 f t . ; M. J. Herskovits, „The Processes of Cultural Change", in: London, The Science of Man in the W o r l d Crisis, S. 1 6 9 .

23

In

dieser Aufzählung fehlt nicht zufällig

die Erwähnung

von

Privateigentum

und

Klassen

(Kluckhohn/Kroeber, in: Evolution after Darwin, S. 2 0 9 ) . 26

Ebenda; Kluckhohn, Spiegel

der Menschheit, S. 79. Andere, wie z . B . Linton, fügten diesen

Stufen noch eine weitere hinzu: die Erfindung des Feuers und der Werkzeuge (Linton, Tree of Culture, New Y o r k 1 9 5 5 , S. 63). 2'

Verschiedentlich

kam allerdings auch das vor, wie z. B. in der

Kluckhohn und Kroeber

(in: Evolution

after Darwin, S. 2 1 0 ) :

folgenden Feststellung

von

„The nearest counterpart in

anthropology and the social sciences to genetic evolutionary science appears to be carried on mainly under the name of .culture history' . . . and is naturalistic, empirical, holistic, seeking continuities and connections rather than phenomenal identities or .regularities' . . .".

65

Psychologische Theorien in der Ethnographie

Bewegung. 28 Bei Linton werden die großen geschichtlichen Wendepunkte daher folgerichtig als „Mutationen" bezeichnet.29 Dabei sieht gerade Linton in mancherlei Hinsicht durchaus reale Zusammenhänge, wie z. B . den zwischen der Entwicklung der Technik (d. h. der Produktivkräfte) und Veränderungen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sowie zwischen der Möglichkeit zur Erzeugung eines ständigen Mehrproduktes und dem Aufkommen von Krieg, Raub und Klassenbildung. 30 Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß das auslösende Moment selbst unerklärt blieb. Die Erklärung, es handele sich bei diesen entscheidenden historischen Veränderungen um „Mutationen", bedeutet, den unerklärlichen Zufall zum Demiurgen der Geschichte zu erheben. Eine Kritikerin des culture-pattern-Konzepts faßte ihre Einwände in folgender Weise zusammen: „1. stellt es ein Konstrukt dar, das die ideale Norm, die von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilte Verhaltenserwartung und Gleichförmigkeit des Verhaltens repräsentiert; 2. beinhaltet der Pattern-Aspekt die Annahme einer grundlegenden Wertkonsistenz oder Integration bei allgemein geteiltem Wertsystem; 3. ist das Kulturkonzept wesentlich relativistisch, d. h., jede Kultur wird als einzigartig gesehen und alle Kulturen in ihrer Verschiedenartigkeit gleichwertig nebeneinandergestellt. Das skizzierte Konzept ist als methodisches Werkzeug für das Studium von kleinräumigen Stammesgesellschaften entwickelt und betont die normative persistente Qualität dieser Kulturen. In dieser Form ist es zur Handhabung von Wandelphänomenen inadäquat . . .". 31 In diesem Punkte erfährt also diese Schule die gleiche Kritik aus bürgerlicher wie aus marxistischer Sicht. Die Kritiker sind sich einig darüber, daß die Erklärung historischer Veränderungen die schwächste Seite im culture-pattern-Konzept darstellt. Gegen diese Konzeption wurden jedoch auch noch andere Bedenken angemeldet. So z. B. nahmen manche Vertreter psychologischer Theorien gegen die Lerntheorie Stellung und griffen statt dessen wieder auf die Instinkttheorie zurück.32 Andere wiederum lehnten das Schablonenartige der Theorie ab und betonten demgegenüber die große Variabilität im Verhalten der Menschen.33 In diesem Zusammenhang wurde auch der Vorwurf erhoben, daß z. B . Benedict als die Begründerin der culture-pattern-Theorie nicht klar unterschied zwischen dem „Ideal" des Verhaltens und den tatsächlichen Verhältnissen, 34 weshalb Linton begrifflich zwischen dem „culture construct pattern" und dem „real pattern" unterschied.35 Die heftigste Kritik aber kam von psychiatrischer Abweichungen vom traditionellen Verhaltensmuster werden als „Nichtanpassung" und damit als krankhafte Abnormitäten angesehen. 2'J

Linton, „Present World Condition in Cultural Perspective", in: Derselbe, The Science of Man

:|U

Ebenda, S. 2 1 6 , 2 1 7 .

31

K.

in the W o r l d Crisis, S. 2 1 3 , 2 1 4 , 2 1 7 . D.

Knorr,

„Methodik

Arbeitsmethoden,

9.

der

Lieferung:

Völkerkunde", Methoden

der

in:

Enzyklopädie

Anthropologie,

der

geisteswissenschaftlichen

Anthropogeographie,

Völker-

kunde und Religionswissenschaft, München-Wien 1 9 7 3 , S. 2 9 9 . 32

Parsons, a. a. O., S. 88. R. Linton, Culture and Mental Disorders, Springfield 1 9 5 6 , S. 5, 17.

34 35

Kroeber/Kluckhohn, Culture, S. 1 6 2 . Linton, Culture and Mental Disorders, S. 6. Ähnlich verfuhr Goodenough, wenn er die „phenomenal Order" der „ideational order" gegenüberstellte („Introduction", a . a . O . , S. 11 f.).

5

K u l t u r u. E t h n o s

66

I. S E L L N O W

Seite. Kardiner, ihr prominentester Vertreter, zählte das culture-pattern-Konzept zu den „blind alleys" der psychologisch orientierten Schulen der Ethnographie. 36 Sein Haupteinwand richtete sich gegen das Unvermögen des Konzepts, die Ursachen für das Vorhandensein der culture pattern zu erklären. 1 ' Insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg gewann daher eine andere psychologische Richtung immer mehr an Einfluß, und sie wurde wiederum von der Individualpsychologie, genauer gesagt von der Psychoanalyse, beeinflußt. Es handelte sich dabei um eine Schule, deren Hauptvertreter Linton und Kardiner waren und die insbesondere in den USA für lange Jahre das absolute Übergewicht besaß. Ihre Grundorientierung war die „basic personality", was man vielleicht am besten mit „charakteristischer Persönlichkeitstyp" übersetzen kann. 38 Nunmehr war es nicht mehr die Aufgabe des Ethnographen, die Grundorientierung einer jeden Kultur herauszufinden, jetzt galt es, diejenigen Züge zu umreißen, die für die Menschen einer gegebenen Kultur charakteristisch sein sollten. Galt bei der culture-pattem-Konzeption die Aufmerksamkeit dem Gepräge einer ganzen Kultur, konzentrierte man sich nunmehr wieder ausschließlich auf das Individuum. Worin erblickten die Anhänger der neuen Richtung den Vorteil? Kardiner faßte die Antwort einmal kurz mit folgender Formulierung zusammen: „However early attempts based on too close analogies between society and the individual did not furnish a basis for a dynamic concept of society". 39 Es ging also mit anderen Worten gesagt darum, mit Hilfe der Individualpsychologie ein besseres Instrumentarium zur Erklärung historischer Veränderungen zu finden. Sammlung von Lebensläufen, Traumanalysen, Rohrschachtests und tiefenpsychologische Analysen von Kindheitserlebnissen wurden zu Hilfsmitteln der Forschung, erwiesen sich aber für den Ethnographen als zu kompliziert, so daß er ohne Mitwirkung des Psychiaters zu keinen Ergebnissen gelangen konnte. Dennoch waren die Anhänger der neuen Richtung vom Erfolg ihrer Bemühungen überzeugt, weshalb z. B. Honigmann ausführte: „. . . the culture and personality approach lifts the lid of social behavior and enables us to see culture as it is carried out on the level of individual thinking, feeling, and doing"/'0 Zunächst jedoch schien der Unterschied zum culture-pattern-Konzept gar nicht so gravierend. So z. B., wenn Linton von den Polynesiern behauptete, ihre Einstellung zum Leben sei eher „kinetic . . . than emotional" und wenn er weiterhin schlußfolgerte: „If one seeks for a single term to characterize their culture the best one would be manipulative"/' 1 Ein weiteres Beispiel für diese Feststellung biete eine Studie von Pinter, in derer aus unterschiedlichen „Erlebnishintergründen" von zwei verschiedenen Zuwanderergruppen in der Schweiz auf verschiedene Strukturen des „Überichs als Sitz des soziokulturellen Unbewußten" schloß und daraus wiederum verschiedene Grundhaltungen Kardiner, S. XV. Ebenda. 3 8 Kardiner selbst nahm die Gleichsetzung dieses Terminus mit „Nationalcharakter" vor (ebenda, S. 24) und bezog sich dabei auf alte Vorbilder: Herodot und Cäsar. 3 '' A. Kardiner, „The Concept of Basic Personality Structure as an Operational Tool in the Social Sciences", in: Linton, The Science of Man in the World Crisis, S. 108. ' l0 Honigmann, S. 18. ' , l Linton, Tree of Culture, S. 194. 36 37

67

Psychologische Theorien in der Ethnographie

gegenüber dem Gastland ableitete/' 2 Auch Goldsmith glaubte, bei den Yurok-Hupo solche durchgängigen Persönlichkeitsstrukturen feststellen zu können, die er mit den Begriffen Aggressivität, Feindschaft, Konkurrenzstreben, Einsamkeit und übertriebene Sparsamkeit umschrieb.43 Diese Übereinstimmungen zwischen dem culture-pattern-Konzept und der neuen Richtung ergaben sich aus dem Wesen der „Persönlichkeitsstruktur", das Linton so umrissen hat: „The basic personality type for any society is that personality configuration which is shared by the bulk of the society's members as a result of the early experiences which they have in common. It does not correspond to the total personality of the individual but rather to the projective systems which are basic to the individuals personality configuration. Thus the same basic personality type may be reflected in many different total personality configurations".4'1 Wenn also die Masse der Bevölkerung in den charakteristischen Grundzügen der Persönlichkeitsstruktur übereinstimmte, und wenn weiterhin diese Persönlichkeitsstrukturen als ausschlaggebend für das Handeln der Menschen angesehen wurden, mußten sich zwangsläufig übereinstimmende Grundverhaltensweisen unter allen Mitgliedern einer Gesellschaft herausbilden. 40 Im Unterschied zum pattern-Konzept ließ aber die neue Version eine größere Variationsbreite im menschlichen Handeln zu und - wie ihre Vertreter ganz besonders betonten - ein dynamischeres Geschichtsbild. Dieses Geschichtsbild wurde selbstverständlich primär von psychologischen Momenten bestimmt. Es ging von der Prämisse aus, daß sich so lange keine Veränderungen ergeben können, wie traditionelles Verhalten für jedes Mitglied einer gegebenen Gesellschaft die erwarteten Resultate erbringt und seine Bedürfnisse sowie Erwartungen erfüllt. 46 Sofern jedoch diese Bedingungen nicht mehr gegeben sind, müssen zwangsläufig neue Verhaltensmuster entwickelt werden, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. 47 Über den Prozeß der „Standardisierung" bzw. „Sozialisierung" verbreiteten sich diese neuen Normen immer weiter.48 Sie erlangten in dem Maße allgemeine Gültigkeit, wie mit ihrer Hilfe die erwarteten Wirkungen oder Reaktionen (rewards) erreicht wurden.411 Zusammenfassend zog Murdock die Schlußfolgerung: „It is difficult to escape the conclusion that cultural change depends upon conflict and survival in certain extreme ',J E. Pinter, „Psychische

Morbidität der südländischen

und osteuropäischen

Emigranten

in

der

Schweiz", in: Social Psychiatry, 3, 1968, S. 1 4 5 - 1 4 7 . 41

Zitiert nach A . Davis/R. J. Havighurst, „Social Class and Color Differences in Child-Rearing", in: C. Kluckhohn/H. A. Murray, Personality in Nature, Society and Culture, 2. Aufl.,

1955,

S. 585. Linton, „Foreword", in: Kardiner, S. VIII. Vgl. auch S. VII. v

' Vgl. hierzu Linton, Culture and Mental Disorders, S. 15.

w

E. Beaglehole, „Character Structure", in: Psychiatry, Jg. 1944, S. 149.

" Murdock, a. a. O., S. 131 f.; Newcomb, S. 2 7 8 ; Murray/Kluckhohn, „Outline of a Conception of Personality", in: Kluckhohn/Murray, S. 42. ' ,8 Honigmann, S. 201, 4 3 3 ; J. Dollard, „The Acquisition of N e w Social Habits", in: Linton, The Science of Man in the .World Crisis, S. 4 4 3 ; A. J. Hallowell, „Psychology and Anthropology", in: Linton, The Science of Man in the World Crisis, S. 212. w

5*

Murdock, a. a. O., S. 135, 137; Dollard, a. a. O., S. 4 4 2 ; Parsons, a. a. O., S. 91.

68

I. SELLNOW

instances".50 Diese außergewöhnlichen Umstände konnten durch Untergang einer Gesellschaft infolge kriegerischer Ereignisse oder fehlender Anpassung einer ganzen Kultur an die bestehenden Verhältnisse eingetreten sein.51 In der Regel jedoch wurden weit weniger dramatische Ursachen für den Kulturwandel verantwortlich gemacht: „Unbehagen" bzw. „Frustration", die bei entsprechender Intensität die Veränderungen im Verhalten der Menschen bewirken sollten. Da aber den Menschen diese Vorgänge nicht wirklich bewußt werden, sie folglich die Auswege jeweils suchen mußten, konnten sie nur „through successful trial and error arrive at new cultural adjustments". 52 So richtig es war, im Widerspruch bzw. Konflikt den Ausgangspunkt historischer Veränderungen zu sehen, so wenig konnte die psychologische Auflösung der Ursachen der vorhandenen Widersprüche eine überzeugende Erklärung für den Geschichtsverlauf bieten. Wie wenig dies der Fall war und ist, beweist wohl nichts besser als die Behauptung Murdocks, auch die Etablierung von Regierung und herrschender Klasse sowie die Praktizierung der Ausbeutung seien nichts weiter als ein „process of cultural change" im soeben erläuterten Sinne. Danach wäre also die Entstehung von Klassengesellschaft und Staat aus dem „Unbehagen" an den urgesellschaftlichen Verhältnissen erwachsen, wobei jedoch unklar blieb, bei welcher Bevölkerungsgruppe dieses Unbehagen entstanden sein sollte und welche Gründe es dafür gab. Wesentlich eindeutiger dürfte sich dagegen das Unbehagen erfassen lassen, das aus den neuen Verhältnissen erwachsen sein mußte, aber - so Murdock - „only the naive expect good government at no cost".53 In dieser Geschichtsinterpretation spielten also Veränderungen in der Produktion oder den Eigentumsverhältnissen sowie der Kampf der Klassen um die Durchsetzung ihrer verschiedenartigen Interessen keine Rolle. Im Gegenteil, über Versuch und Irrtum sollten angeblich die Menschen versucht haben, ein verlorengegangenes Gleichgewicht wieder herzustellen. Es wurde ihnen also die Fähigkeit abgesprochen, sich über ihre Lage Klarheit verschaffen und daraus entsprechende Maßnahmen ableiten zu können. Zweifellos war diese Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Erkenntnis ihrer Veränderbarkeit ein langer Entwicklungsprozeß. Erst mit dem historischen Materialismus erfuhr der Klassenkampf bekanntlich seine wissenschaftliche Fundierung. Dennoch traten schon sehr früh, bereits in der Auflösungsperiode der Urgemeinschaftsordnung, spontane Aktionen gegen Ausbeutung und Unterdrückung auf, und zwar in Form der Fluchtbewegungen, der Absetzung oder Tötung von Häuptlingen. Fluchtbewegungen blieben lange Zeit die vorherrschende Form der Klassenauseinandersetzung; regelrechte Aufstandsbewegungen gab es auch in den altorientalischen Staaten verhältnismäßig selten. Die Antike kannte jedoch bereits politische Parteien, die mit Nachdruck versuchten, die Interessen ihrer Anhänger durchzusetzen, und am Beginn des Feudalismus standen große, gut organisierte Bauernaufstände, die eine eigene Ideologie besaßen und verschiedentlich eine ernsthafte Erschütterung der politischen Verhältnisse herbeiführten. Sie bildeten die notwendige Vorstufe für die bürgerlichen revolutionären Bewegungen, die auf einer Einheit von ökonomischer, politischer und ideologischer 50 51 53 w

Murdock, a. a. O., S. 136, 183. Vgl. auch Beaglehole, a. a. O., S. 149, 152. Murdock, a. a. O., S. 135, 137. Ebenda. Ebenda, S. 135.

69

Psychologische Theorien in der Ethnographie

Auseinandersetzung beruhten und die von Anfang an den Kampf um die politische Macht mit einbezogen hatten. Auf den Erfahrungen des revolutionären Bürgertums aufbauend, konnte das Proletariat eine Gesellschaftstheorie entwickeln und vertreten, die die Aufhebung der Klassen zum Kernpunkt des Programms machte. Wenn es also ein weiter Weg von den ersten spontanen Fluchtbewegungen bis zum Kommunistischen Manifest war, so war aber jeder Schritt der aufbegehrenden Volksmassen von einem Erkenntniszuwachs begleitet. Diese Anreicherung der Erfahrungen hatte nichts mit „Versuch und Irrtum" zu tun, sondern war ein notwendiger Entwicklungsprozeß, der immer größere Zielstrebigkeit und wachsendes Durchsetzungsvermögen der Volksbewegungen hervorbrachte. Noch gravierender aber war die Tatsache, daß die Geschichtstheorie der hier behandelten psychologischen Richtung keine objektiven Grundlagen für den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß anerkannte. 54 Daher blieb dem Forscher nur übrig, nach jenen Gesichtspunkten zu verfahren, die Kardiner einmal zusammengestellt hat: „ . . . adaptation, its determinants, its modalities, and motivations, and . . . the mental and emotional phenomena that accompany the vicissitudes of adaptation. Psychology attempts to describe the minutiae of adaptation and to explain sequences of varying Orders which are not apparent to common sense".51" Dabei ergaben sich jedoch einige Schwierigkeiten, mit denen auch die führenden Vertreter dieser Schule nicht fertig werden konnten. So z. B. mußte Kardiner eingestehen, daß sich die Persönlichkeitsstruktur der Europäer im überschaubaren historischen Zeitraum nicht wesentlich verändert habe, und doch seien tiefgreifende Wandlungen auf vielen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens eingetreten. 56 Dieser innere Widerspruch ist für die Vertreter dieser Schule unlösbar. E r hängt mit der Tatsache zusammen, daß gewisse Eigenschaften und teilweise auch kulturelle Eigentümlichkeiten manchmal bei den betreffenden Völkern eine lange Konstanz aufweisen. Alle europäischen Völker sind in einer Periode entstanden, die zeitlich mit der Herausbildung des Feudalismus zusammenfiel. Sie haben sich bis heute in ihren nationalen Eigenarten erhalten, bewahrten also manche spezifischen Züge ihrer Kultur über lange Zeiträume, während sich auf anderen Gebieten, bedingt durch Veränderungen in der Sphäre der Produktion, tiefgreifende Wandlungen vollzogen haben. Dieses Verhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität der historischen Entwicklung, zwischen äußerer Gestaltung und sozialökonomischer Grundlage einer Kultur sowie zwischen Allgemeinem und Besonderem kann mit der von den Psychologen ausgebildeten Methode nicht verarbeitet werden; dazu bedarf es einer dialektischen Methode. Diese metaphysische Grundeinstellung und das damit verbundene Unvermögen, die 54

Gestützt auf

Gorer, wies zwar Beaglehole

(a. a. O., S.

153)

darauf

hin, daß es

objektive

Voraussetzungen für einen Kulturwandel gibt, wie z. B. optimale Bevölkerungsdichte oder ausreichende

Nahrungsgrundlagen.

Dennoch

meinte

er,

das

wesentlichste

Moment,

um

höhere

Formen der sozialen Organisation hervorzubringen, sei ein entsprechendes Ausmaß an Aggression. Als Illustration für diese These dienten ihm die Lepcha, die bei fehlendem keine höhere Form einer sozialen Organisation besaßen. 55

Kardiner, S. 5.

M

Ebenda, S. 433.

Aggressionstrieb

I. S E L L N O W

70

Widersprüchlichkeit der historischen Entwicklung zu analysieren bzw. zu erklären, drücken sich vor allem in den Vorstellungen über die Klassendifferenzierung aus. Die Klassenspaltung wird von den Vertretern dieser Schule anerkannt, jedoch als „Aspekt der Kultur" 57 aufgefaßt. Verschiedentlich geht man dabei so weit und sieht in ihr eine universale Komponente der Kultur. 58 Mit der zuletzt angeführten Auffassung stempelt man die Klassendifferenzierung zu einer ewigen Kategorie der menschlichen Gesellschaft, die durch keinerlei Maßnahme aufhebbar sein soll. Fragte man, auf welche Ursachen die Klassendifferenzierung zurückgeführt wird, dann meinte z. B. Linton, es gäbe eine Reihe von Ursachen dafür, wobei die wichtigsten Alter und Geschlecht seien. 09 Bei dieser Betrachtungsweise wurde eine Gleichsetzung jeder Form von Unterschied in der Gesellschaft mit der Klassendiflerenzierung vorgenommen und schließlich folgendermaßen verallgemeinert: „Indeed there is no such thing as a truly equalitarien society and it seems highly improbable that there ever has been or will be one". 60 Wenn es sich also bei der sozialen Differenzierung angeblich um eine allgemeingültige Erscheinung und damit um einen Bestandteil einer jeden Kultur handelt, und wenn weiterhin die Vertreter dieser Schule keine materiellen Grundlagen für die Klassendifferenzierung anerkennen, dann liegt schließlich auch die nachfolgend zitierte Schlußfolgerung Lintons nahe: „A modern nation is, after all, a more or less accidental aggregate of different local groups and social classes"/'1 Damit erübrigte sich jede weitere Frage nach den Ursachen für die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Sie wird zum immanenten Prinzip einer jeden Kultur erklärt und nur noch in ihren Auswirkungen wissenschaftlich untersucht. Die Auswirkungen der Klassendifferenzierung werden von den Vertretern dieser Schule relativ hoch bewertet, und zwar insbesondere deshalb, weil sich - nach Honigmann - die „Technik der Sozialisierung" in den verschiedenen Klassen unterschiedlich gestaltete, demzufolge in den Klassen auch ungleich Persönlichkeitstypen ausgebildet werden. 62 Wenn aber - wie vorher ausgeführt - ein unlösbarer Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstruktur und Kultur besteht, dann muß die Folge davon eine kulturelle Differenzierung sein. Die Anhänger dieser Schule sprechen daher von „Subkulturen", wenn sie die Auswirkungen der Klassendifferenzierung in der kulturellen Sphäre umreißen wollen. 6 ' 1 Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß in der Klassengesellschaft Linton, Culture and Mental Disorders, S. 4. Vgl. auch ebenda, S. 4 2 ; Anastasi, S. 6 2 3 f . ; Kardiner, S. 4 4 2 . 5S

Linton, Culture and Mental Disorders, S. 5 1 ; derselbe, Tree of Culture, S. 32.

~M Derselbe,

Culture and Mental

Disorders, S. 45.

Diese beiden

Hauptfaktoren wurden

nach

Linton noch durch weitere ergänzt, wie z. B. Familiensysteme, Assoziationen und Berufe (ebenda, S. 48, 49, 50). 110

Ebenda, S. 51..

01

Ebenda, S. 40.

('2

Honigmann, S. 3 1 5 .

w

V g l . E. C. Senay/F. C. Redlich, „Cultural and Social Factors in Neuroses and Psychosomatic Illnesses", in: Social Psychiatry, 3, 1 9 6 8 , S. 9 0 ; Anastasi, S. 5 0 8 ; Newcomb, Sozialpsychologie, S. 5 0 4 ; Honigmann, S. 3 1 9 , 4 3 6 f . ; Davis/Havighurst, a. a. O., S. 3 0 9 ; Linton, Tree of Culture, S. 33.

71

Psychologische Theorien in der Ethnographie

die Kultur immer von der herrschenden Klasse geprägt wurde, die unterdrückten Klassen stets nur Elemente einer eigenen Kultur ausbilden konnten. Vor allem aber wird die Klassendifierenzierung, die den Angehörigen der verschiedenen Klassen in höchst unterschiedlicher Weise Zugang zu den kulturellen Errungenschaften eröffnet, zum psychologischen Problem. Es ist die „Persönlichkeitsstruktür" und nicht die Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum, die für die Verteilung der Kulturgüter verantwortlich gemacht wird. Es ist daher kein Wunder, wenn die Beziehungen zwischen den Klassen unter Umständen zum reinen Idyll erhoben werden. Als Beispiel dafür sei eine Arbeit von Powdermaker angeführt, in der es u. a. heißt: „Psychologically, slavery is a dependency situation. The slave was completely dependent upon the white master for food, clothing, shelter, protection - in other words, for security. If he could gain the good will or affection of the master, his security was increased. In return for his security, the Negro gave obedience, loyalty, and sometimes love or affection. Within certain limitations, the situation of slave and master corresponds to that of child and parent. . . the slave's dependency is imposed on him by culture (! - I. S.) and has nothing to do with biological factors".64 So hat denn diese Schule sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, sie hätte Persönlichkeitsstudien im Hinblick auf die Kultur, nicht aber mit dem Ziel einer Analyse sozialer Strukturen betrieben.60 Auch bezweifelten manche die Möglichkeit, insbesondere differenziertere Gesellschaften mit einigen wenigen psychologischen Charakteristika in ihrem Wesen erfassen zu können.'® Um diese Mängel zu beheben, wurde ein neues Konzept entwickelt: das Rollenkonzept. Nach Newcomb, der in der Definition weitgehend Linton folgte, hat man unter einer „Rolle" folgendes zu verstehen: „Die von einer Person in einer bestimmten Stellung erwartete Verhaltensweise bildet die Rolle (oder ,soziale Rolle', wie viele Autoren beschreiben), die mit der entsprechenden Stellung verbunden ist. Nach Linton . . . stellt eine Rolle das Gesamt der gesellschaftlichen Verflechtungen dar, die mit einem besonderen Status verbunden sind. Sie beinhaltet daher auch die Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen, die von der Kultur jedem zugeschrieben werden, der einen solchen Status inne h a t . . . Eine Rolle ist der dynamische Aspekt eines Status". 67 Mit anderen Worten gesagt: das Rollenkonzept versucht, die Klassenspaltung in der Gesellschaft zu berücksichtigen. Nicht „die" Kultur oder „die" Persönlichkeitsstruktur sollten erforscht werden, sondern das Verhalten von Menschen in ganz bestimmten •-ozialen Situationen. Mit diesem Programm näherte sich die psychologische Schule zweifellos der gesellschaftlichen Realität. Wenn sie dennoch nicht zum Kern des Problems vorstieß, dann lag dies an der Tatsache, daß keine Kausalität zwischen dem |J''

H. Powdermaker, „The Channelling of Negro Aggression by the Cultural Process", in: Kluck-

,a

Davis/Havighurst, a. a. O., S. 5 8 4 .

,;li

Ebenda, S. 5 8 5 .

hohn/Murray, S. 599.

'" Newcomb,

Sozialpsychologie,

S.

214.

Vgl.

auch

Honigmann,

S.

35 f . ;

J.

Ruesch,

„Social

Technique, Social Status and Social Change in Illnes", in: Kluckhohn/Murray, S. 1 2 4 ; Newcomb, Sociology and Psychology, a. a. O., S. 248.

I. S E L L N O W

72

Rollenverhalten des Individuums und seiner Stellung im Produktionsprozeß angenommen wurde. Das heißt, die Verteilung der Rollen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wurde nicht aus den bestehenden Eigentums- bzw. den daraus resultierenden politischen Machtverhältnissen abgeleitet. Im Gegenteil, nach langen Analysen mit zum Teil realistischen Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge kam z. B. Newcomb zu dem Schluß: „Wir müssen bei unserer Behandlung dieser Fragen die kulturellen Merkmale einer Gesellschaft als Tatsachen hinnehmen. Die Auswirkungen allgemein verbindlicher Rollenvorschriften können wir auch ohne Kenntnis ihres Ursprungs studieren". 68 Daher wurden letztlich die unterschiedlichen sozialen Strukturen und die damit verbundenen Rollenverteilungen als kulturelle, nicht näher erklärbare Eigentümlichkeiten aufgefaßt. 69 Im Sinne der neopositivistischen Philosophie gab man sich schließlich mit der bloßen Konstatierung der Tatsachen zufrieden. Zufrieden gab man sich auch mit der bloßen Feststellung, daß das Vorhandensein verschiedener „Rollen" in der Gesellschaft häufig zu Konflikten führt. Dabei wurde die Ursache in dem Unvermögen bzw. aus der fehlenden Bereitschaft mancher Menschen (gruppen) gesehen, einem kulturell vorgegebenen Rollenverhalten zu entsprechen.70 Wie die Verteilung der Rollen in einer Gesellschaft, führte man auch das Ausbrechen aus dem „Rollenverhalten" auf subjektive Gegebenheiten zurück. Mangelndes Anpassungsvermögen, unerklärliche Aggressivität, Frustration und ähnliches waren die angebotenen Erklärungen. Der Widerspruch in der Gesellschaft konnte nicht geleugnet werden, aber er wurde zum psychologischen Problem und als solches häufig in ein Krankheitsbild eingeordnet. Daher suchte man die Lösung der Widersprüche nicht in der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern in geeigneten Wegen zur Anpassung der Menschen an die bestehenden Verhältnisse. Das Rollenkonzept gewinnt heute immer mehr Anhänger, und zwar insbesondere unter bürgerlichen Soziologen. Es erweist sich als ein gut geeignetes Mittel zur Verschleierung der bestehenden Klassenverhältnisse. Indem man versucht nachzuweisen, daß jeder Mensch gleichzeitig die verschiedenartigsten Rollen in der Gesellschaft spielen kann, z. B. einerseits als Familienoberhaupt oder als Vereinsvorsitzender Autorität ausüben und andererseits als Produktionsarbeiter und Staatsbürger sich in einer untergeordneten Position befinden kann, 71 soll die moderne bürgerliche Gesellschaft als „offen" und damit voller Aufstiegsmöglichkeiten für jedes ihrer Mitglieder charakterisiert werden. Es sei das „Ego-System", das für die Auswahl der zu übernehmenden Rollen verantwortlich ist.72 Innerhalb gewisser Grenzen ist dies zwar richtig, z. B. für die Fälle, in denen es um die Übernahme von Ehrenämtern u. dgl. geht, aber keine sub68

Newcomb, Sozialpsychologie, S. 352.

69

Vgl. ebenda, S. 213 f., w o die „Zuweisung von Stellungen" als kulturelle

Eigentümlichkeiten

angesehen wird. 70

Vgl. ebenda, S. 9, 338, 479 f.; Kardiner, S. 4 2 3 f.; T. Duster, „Patterns of Deviant Reaction: Some Theoretical Issues", in: Social Psychiatry, 3, 1968, S. 5 f.; Murray/Kluckhohn,

a.a.O.,

S. 41. 11

R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München

72

Murray/Kluckhohn, a. a. O., S. 18. Vgl. auch Newcomb, Sozialpsychologie, S. 390.

1961, S. 142.

73

Psychologische Theorien in der Ethnographie

jektive Entscheidung ändert in einer Klassengesellschaft etwas Prinzipielles an der ökonomischen oder politischen Stellung eines Individuums. Die wesentliche Seite der Rollenverteilung ist also durchaus objektiver Natur. Wenn - wie bereits oben ausgeführt - in einer Art Resignation vor der Schwierigkeit des Problems Vertreter dieser Schule schließlich darauf verzichten wollten, nach den Ursachen der Erscheinungen zu fragen, dann bedeutete dies zugleich das Eingeständnis der Unmöglichkeit, mit Hilfe der entwickelten Konzeptionen das hochgesteckte Ziel, ein dynamischeres Geschichtsbild, zu gewinnen. Es ist daher seit dem Ende der sechziger Jahre eine starke Abnahme der Aktivitäten in dieser Richtung psychologischer Theorienbildung zu verzeichnen. Man sucht zwar weiterhin nach psychologischen Erklärungen für jeweils bestimmte soziale Erscheinungen, verzichtet jedoch auf globale Theorien oder hohe Verallgemeinerungsstufen. 73 Fast schien es, als würde der Einfluß psychologischer Theorien in der Ethnographie stark an Boden verlieren. In den letzten Jahren ist jedoch eine neue Richtung entstanden, die sich als „Ethnoscience" bezeichnet und die zur Zeit Anhänger zu gewinnen scheint. Diese Richtung versucht aufs neue, verallgemeinerungsfähige Ergebnisse zu erreichen, sieht sich aber angesichts der Ergebnisse der Vergangenheit von vornherein genötigt, von formalen und abstrakten Gesichtspunkten auszugehen.74 Dabei bleibt aus der älteren Tradition eine Grundprämisse erhalten: das geordnete Zusammenleben einer Gemeinschaft setzt einen gemeinsamen Bestand an Werten, Vorstellungen und Regeln für Verhaltensweisen voraus.75 Um sich aber davor zu hüten, durch die Anwendung einer nichtadäquaten Begriffswelt die Fakten in ein System zu pressen, das die wirklichen Verhältnisse am Ende nur verzerrt wiedergibt, hat man die Devise von der „kulturellen Grammatik" herausgegeben.76 Das Ziel besteht jeweils in der Darstellung „kulturel7:!

Dies spiegelte sich z. B. deutlich auf dem VIII. Internationalen Kongreß der Anthropologischen und Ethnologischen Wissenschaften wider. Hier beschäftigte sich ein Symposium mit der Frage des

Kulturwandels

unter

dem

Aspekt

psychologischer

Anpassung.

Verschiedentlich

wurden

Stimmen laut, die die „Persönlichkeitsstrukturen" bzw. psychologischen Modelle der Vergangenheit als allzu einfach bezeichneten (R. J. Levy, „Personality Studies in Polynesia and Micronesia: Stability and Change", in: Proceedings VIII t h International

Congress of Anthropological

Ethnological Sciences 1 9 6 8 Tokyo and Kyoto, Bd. III: Ethnology and Archaeology,

and

Tokyo,

S. 3 9 4 ) und die daher das rasch geschwundene Interesse an Studien über den Nationalcharakter für eine begrüßenswerte Veränderung hielten (N. Glazer, „American Ethnic and Racial Groups: The Problem of Culture, Competence, and Political Conflict", in: ebenda, S. 3 9 6 ) . A n die Stelle globaler Theorien setzten die Referenten des Symposiums Detailstudien, in denen ein Problem immer wiederkehrte: die Suche nach einer (psychologischen) Erklärung der im Zusammenhang mit der modernen Entwicklung überall feststellbaren Widersprüche und konfliktreichen Auseinandersetzungen. In keinem der Beiträge wurde jedoch das Kernproblem aufgegriffen: die Analyse der sozialökonomischen Verhältnisse. So schien es schließlich, als liege die Ursache der Konflikte im Kulturwandel an sich. Nur einer (A. Inkeles, „The Effects of Modernizing Influences on the Psychic Adjustment of Individuais in Six Developing Countries", in: ebenda, S. 3 9 7 ) wies nach, daß dies nicht so sein konnte, ohne jedoch eine andere Beantwortung der Frage zu versuchen. 74

Vgl. Knorr, a. a. O., S. 3 0 4 .

73

Ebenda, S. 3 1 9 .

76

Ebenda, S. 3 2 1 .

74

I. S E L L N O W

len Wissens eines idealisierten Handelnden/Beobachters in einer kulturell völlig homogenen Kommunität" mit Hilfe und unter Verwendung der Begriffswelt der untersuchten Kultur. 77 Zumindest die eine Richtung der Ethnoscience sucht über die Begriffswelt nach der dahinter liegenden psychologischen Grundhaltung der untersuchten Völker. 78 Das eigentliche Ziel der Ethnoscience liegt aber noch in ferner Zukunft und soll einmal die universellen Gesetze des Wissens erschließen. 79 Es ist vielleicht noch zu früh, um über diese neue Richtung schon ein abschließendes Urteil zu fällen. Zweifellos ist es ein berechtigtes Anliegen, die Kulturen anderer Völker nicht durch eine Begriffswelt zu interpretieren, die den wirklichen Verhältnissen nicht gerecht wird. Andererseits kann ein wissenschaftliches Ergebnis nur in Begriffen ausgedrückt werden. Es ist daher nicht anzunehmen, daß die Verwendung einer kulturspezifischen Terminologie, die noch dazu mit einer ideographischen Methode gepaart ist, das geeignete Mittel darstellt, um die Unzulänglichkeiten psychologischer Forschungsergebnisse der Vergangenheit künftig zu vermeiden. Zusammenfassend sei folgendes festgestellt: Es ist nicht die psychologische Betrachtungsweise an sich Gegenstand der Kritik, sondern die spezifische Ausprägung, in der psychologische Theorien in der bürgerlichen Ethnographie wirksam geworden sind. Diese Theorien hatten bei allen Unterschieden im einzelnen eines gemeinsam: sie anerkannten keinen Zusammenhang zwischen der "Veränderung der Daseinsweise der Menschen und der Entwicklung ihres Denkens. Wenn von den Anhängern psychologischer Schulen überhaupt der Widerspruch bzw. der Konflikt in die Betrachtung einbezogen wurde, dann leitete man ihn aus rein subjektiven Reaktionen ab. Völlig außerhalb der Betrachtung blieb die Tatsache, daß der Mensch durch sein Wirken einerseits selbst Schöpfer der auftretenden Konflikte war und ist, andererseits aber auch durch seine Aktionen die Lösung der Widersprüche herbeiführt. Nicht in genügendem Maße bzw. nicht berücksichtigt wird weiterhin die Veränderbarkeit des menschlichen Denkens insbesondere durch den Zuwachs an Erkenntnissen auf vielen Gebieten, nicht zuletzt aber hinsichtlich der Kenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und Entwicklungsgesetze. Daraus resultierte bei den Anhängern der hier behandelten Schulen die Auffassung, der Mensch könne nur durch „Versuch und Irrtum" etwas an den bestehenden Verhältnissen ändern. Zwar glaubten und glauben die Psychiater noch immer, das Unterbewußtsein oder das Überich der Menschen analysieren zu können, aber sie glauben nicht an die Fähigkeit der Menschen, ihre eigene Lage erkennen und verändern zu können. Die vorherrschende metaphysische Betrachtungsweise führte dazu, daß Individuum und Gesellschaft, Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte, Konflikt und Übereinstimmung, Sein und Bewußtsein isoliert einander gegenübergestellt werden und dadurch der Blick für die Triebkräfte der historischen Bewegung versperrt wurde. 77

Ebenda, S. 3 1 9 .

78

Eine zweite Richtung hält diesen Versuch für verfrüht und möchte sich mit der bestehender Strukturen zufriedengeben.

79

Ebenda, S. 3 2 3 .

Feststellung

Sergej Aleksanderovic Tokarev

Kritik der strukturalistischen Methode von Claude Lévi-Strauss

In letzter Zeit ist immer häufiger von der Strukturanalyse und ihrer Anwendung in den verschiedenen Disziplinen - darunter auch in der Ethnographie - die Rede. Es gibt viele überzeugte Anhänger dieser Methode, die in ihren Untersuchungen auf die Strukturanalyse zurückgreifen. Wenn man jedoch genauer hinsieht, stellt man fest, daß sich hinter dem Begriff „Strukturalismus" recht verschiedenartige wissenschaftliche Auffassungen verbergen, und so wird der Begriff selbst unscharf und verschwommen. Speziell in der westeuropäischen ethnographischen Literatur lassen sich zumindest zwei unterschiedliche Richtungen ausmachen, die sich zwar beide „strukturalistisch" nennen, tatsächlich aber wenig miteinander gemein haben: Man könnte sie als englische (Radcliffe-Brown, Evans-Pritchard) und französische (Lévi-Strauss und seine Anhänger) Schule des Strukturalismus bezeichnen. Die englischen Strukturalisten will ich hier außer acht lassen und nur auf die Forschungsmethode von Lévi-Strauss eingehen. In den letzten beiden Jahrzehnten hat Lévi-Strauss mit seinen umfangreichen und originellen Arbeiten nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen - auch sozialistischen - Ländern großes Ansehen erworben. Er hat viele Anhänger, aber auch viele Gegner. Es ist in einem kurzen Vortrag unmöglich, das gesamte wissenschaftliche Werk von Lévi-Strauss kritisch zu analysieren. Ich beschränke mich daher auf einige wesentliche Seiten seiner Konzeption. Lévi-Strauss, geboren 1908, 1 ist ein Erbe der soziologischen Ideen E. Dürkheims; nach eigenem Eingeständnis ist er auch vom Marxismus beeinflußt. Seine ersten ethnographischen Arbeiten schrieb er über Lebensweise und Kultur der Indianer Brasiliens; dann untersuchte er die Struktur der Verwandtschaftsbezeichnungen. 2 Später wandte er sich der Religion, der Folklore und vor allem der Mythologie zu. Durch alle Arbeiten von Lévi-Strauss zieht sich als roter Faden die Idee von der Einheit der menschlichen Vernunft in allen Stadien der historischen Entwicklung. Diese 1

Ein Verzeichnis der Arbeiten von C. Lévi-Strauss sowie einige biographische Angaben über ihn siehe in: Current Anthropology, 7, 1 9 6 6 , 2. Im gleichen Heft finden sich von Lévi-Strauss die programmatischen, viele interessante Gedanken enthaltenden Aufsätze „The scope of logy" und „Anthropology, its achievements and future".

- C. Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, Paris 1 9 4 9 .

anthropo-

76

S. A. T O K A R E V

Idee ist L. Lévy-Bruhls Theorie vom „prälogischen" Denken des Urmenschen diametral entgegengesetzt. Für Lévi-Strauss sind alle menschlichen Handlungen und Bewußtseinsformen einer strengen, einheitlichen Logik unterworfen; im Bewußtsein der Menschen dominiere nicht das emotionale Prinzip, nicht das Unterbewußte (wie bei den Anhängern S. Freuds), sondern die Vernunft. Lévi-Strauss hat diese Auffassung in „La pensée sauvage" eingehend dargelegt. Der Grundgedanke des Buches besagt, d a ß die Erkenntnis der Umwelt durch den Menschen aus einem unabweisbaren geistigen Bedürfnis entspringe. Den Mystizismus, von dem Lévy-Bruhl spricht, gebe es nicht. 3 Der sogenannte W i l d e sei ein durch und durch vernünftiges Wesen, er lasse sich vor allem von seinem Interesse an der Erkenntnis leiten ; der praktische Nutzen der Erkenntnis sei sekundär. „Die Tier- und Pflanzenarten werden (vom Menschen, S. T.) nicht deshalb erkannt, weil sie nützlich sind: sie werden deshalb für nützlich oder interessant erklärt (décrétées), weil sie zuvor erkannt werden (parce qu'elles sont d'abord connues).'"5 Die Erkenntnis der Natur durch den Menschen entspringe nicht aus der Praxis. „Sie entspricht den geistigen Bedürfnissen eher, als daß sie - bzw. statt daß sie - materielle Bedürfnisse (besoins) befriedigt." 3 Seine Methode hat Lévi-Strauss konsequent auf die Untersuchung verschiedener Seiten der Lebensweise und Kultur angewandt. Jede von ihnen betrachtet er als selbständiges, in sich geschlossenes System, in jeder sucht er eigene logische Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. So „vergleiche i c h . . . eine bestimmte Anzahl von Strukturen, die ich da suche, wo man sie möglicherweise findet, . . . in den Systemen der Verwandtschaft, der politischen Ideologie, der Mythologie, des Rituals, der Kunst, der Höflichkeitsformen und - warum nicht? - auch der Küche" - all das hält er für partielle Ausdrucksformen der jeweiligen Gesellschaft. 6 Die am häufigsten auftretende Gesetzmäßigkeit ist nach Lévi-Strauss die „Binäropposition" - das sind Gegensatzpaare wie Oben - Unten, Himmel - Erde, Mann - Frau, Mensch - Tier, Natur - Kultur usw. Sein besonderes Interesse hat Lévi-Strauss zunächst den Systemen der Verwandtschaftsbezeichnungen gewidmet (die bekanntlich seit Morgan die Forscher beschäftigen) ; er behandelt dieses Thema in seiner ersten großen Arbeit „Les structures élémentaires de la parenté" (1949) im wesentlichen auf Grund des Verwandtschaftssystems der australischen Ureinwohner. Das Buch enthält viele interessante Gedanken. Sein Hauptmangel (auf den die Kritik bereits hingewiesen hat) besteht darin, daß den konkreten Formen der Ehe- und Verwandtschaftsverhältnisse bei den Australiern keine Beachtung geschenkt w i r d ; statt dessen werden abstrakte Modellschemata entworfen; den gleichen Fehler haben übrigens auch schon vorher einige Erforscher der Verwandtschaftsterminologie gemacht. Das Buch von Lévi-Strauss ist von dem sowjetischen Ethnographen N. A. Butinov 3 4 5 6

C. Lévi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962, S. 52. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 16. C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M. 1967, S. 100.

Zur strukturalistischen Methode von Lévi-Strauss

77

(„Lévi-Stross i problemy social'noj organizacii avstralijskich aborigenov") einer eingehenden Kritik unterzogen worden. Butinov macht u. a. darauf aufmerksam, daß LéviStrauss, der ursprünglich vorgehabt hatte, mit Hilfe seiner Methode auch jüngere und kompliziertere Verwandtschaftssysteme zu untersuchen, später wegen der zu großen Schwierigkeiten von seinem Vorhaben Abstand genommen hat.' Von seiner Vorliebe für einen abstrakten Formalismus ohne jeden konkreten Bezug läßt sich Lévi-Strauss mitunter zu weitreichenden, doch überaus befremdlichen Schlußfolgerungen verleiten. Sehr bezeichnend ist z. B. sein Versuch, das gesamte gesellschaftliche Leben der Menschen als Kombination verschiedener Kommunikationsformen aufzufassen (hier ist er offenbar von der allgemeinen Kommunikationstheorie in der Soziologie beeinflußt). Schon in einem seiner frühen Aufsätze (über die Sozialstruktur) hat Lévi-Strauss vorgeschlagen, alle Kommunikationsformen auf ein Schema von drei Varianten zurückzuführen, die in jeder Gesellschaft vorkommen: den Austausch von Frauen (Familie und Verwandtschaft), den Austausch von materiellen Gütern und Dienstleistungen (Wirtschaft) und den Austausch von Gedanken (Sprache). 8 Eine solche „Methode", die es gestattet, Frauen, Sprache und materielle Güter in einer taxonomischen Ebene anzuordnen, ist wohl kaum akzeptabel. Wollte man auf diesem Wege weitergehen, so könnte man Lévi-Strauss' drei Kommunikationsvarianten noch drei weitere hinzufügen: den Austausch von Kugeln und Geschossen (Krieg), den Austausch von Ämtern und Bestechungsgeldern (Staat), den Austausch von Gebeten und Wundern (Religion). Spaß beiseite: Eine rein formalistische Äquilibristik wie diese, die von der konkreten Wirklichkeit wegführt, dürfte kaum der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen. Marx hat nicht ohne Grund festgestellt: eine Form ohne Inhalt 9 muß formlos sein." Seit Anfang der sechziger Jahre hat Lévi-Strauss sein Hauptinteresse der Mythologie rückständiger Völker zugewandt, vor allem den Mythen der nord- und südamerikanischen Indianer. Sie sind für die nächsten Jahre das Thema seiner umfangreichen Arbeiten. Einen ersten Versuch, ein mythologisches Thema mit Hilfe der Strukturanalyse zu behandeln, hat Lévi-Strauss 1960 in seinem Aufsatz über Asdiwal vorgelegt. Die Arbeit, die heute schon als klassisch gelten darf, wurde zweimal in Französisch, später auch in Englisch und Deutsch abgedruckt. Bereits hier werden Vorzüge und Mängel der Arbeitsweise von Lévi-Strauss evident. Der größte Vorzug - das sorgfältige Eingehen auf die Details des Mythos, das Bemühen, die Zusammenhänge zwischen ihnen zu erfassen - wird jedoch verschenkt und schlägt in sein Gegenteil um, wenn auf rein formale Weise „Oppositionen" und alle möglichen anderen logischen Beziehungen ausfindig gemacht werden, die größtenteils gezwungen und künstlich wirken. In der mythologischen Erzählung von Asdiwal, die F. Boas in mehreren Varianten bei den Tsimshian-Indianern in Nordwestamerika aufgezeichnet hatte, geht es kurz um folgendes: Asdiwals Mutter, die von einer Hungersnot aus ihrer Heimat vertrieben 7

C. Lévi-Strauss, The elementary structures of kinship, London 1970, S. XXV.

8

Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, S. 322.

9

K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1969, S. 267.

S. A. TOKAS.EV

78

wurde, begegnet unterwegs einem mit übernatürlichen Kräften begabten Wesen, das der Vater ihres Sohnes wird. Asdiwal wird von seinem Vater mit magischen Gegenständen ausgestattet, die ihm Schutz und einen Überfluß an Nahrung sichern. Einmal, als er eine weiße Bärin verfolgt, gelangt Asdiwal in den Himmel. Die Bärin verwandelt sich in das schöne Mädchen Abendstern, die Tochter ihres Vaters Sonne. Nachdem er mehrere Prüfungen bestanden hat, heiratet Asdiwal das Mädchen. Doch er sehnt sich nach seiner Mutter, steigt gemeinsam mit Abendstern auf die Erde hinab und bringt den hungernden Menschen reichlich Nahrung. Später betrügt Asdiwal seine Frau, die erzürnt in den Himmel zurückkehrt. Asdiwal stirbt, wird aber von der Sonne wieder zum Leben erweckt. Es folgt ein abermaliger Besuch Asdiwals auf der Erde, der Tod seiner Mutter, seine Reise flußabwärts. Asdiwal heiratet eine Häuptlingstochter, macht sich wieder auf den Weg, gerät in Streit mit den Brüdern seiner Frau usw. Dann verwandelt sich Asdiwal in einen Vogel, eine Maus führt ihn in die unterirdische Behausung der Meerestiere. Schließlich kehrt Asdiwal in seine Heimat zurück. Auf der Jagd verirrt er sich und verwandelt sich in einen Stein, den man noch heute auf dem Gipfel eines Berges sehen kann. Diesen verwickelten Mythos unterzieht Lévi-Strauss nun der Strukturanalyse. Er unterscheidet zunächst vier verschiedene Aspekte : einen geographischen, einen ökonomischen, einen soziologischen und einen kosmologischen. 10 Sicher, im Mythos haben sowohl das geographische Milieu (die Gegend am Skeena-Fluß), die wirtschaftliche Tätigkeit der Tsimshian (Jagd, Fischfang), ihre sozialen Verhältnisse (patrilokale und matrilokale Elemente u. a.) wie ihre - phantastischen - kosmologischen Vorstellungen (Erde - Himmel - unterirdische Welt) ihren Niederschlag gefunden, doch die Entdeckung dieser vier „Aspekte" ist nicht eben neu und macht kaum irgendwelche komplizierten Überlegungen notwendig. Wesentlich ist dagegen, daß Lévi-Strauss besonderen Wert auf die verschiedenen „Oppositionen" legt, die er im Mythos ausfindig macht. Es beginnt mit den Ausgangsgegensätzen Mutter - Tochter, älter - jünger, flußabwärts flußaufwärts, Westen - Osten, Süden - Norden und wird fortgesetzt mit Oppositionen wie Oben - Unten, Erde - Himmel, Mann - Frau, Endogamie - Exogamie, Jagd im Gebirge - Jagd auf dem Meer, Erde - Wasser. 11 Mit solchen Oppositionen ist der ganze Aufsatz überfrachtet, viele sind in bisweilen recht verwickelten graphischen Schemata angeordnet. Das globale Schema der Struktur des Mythos sieht so aus : (Ausgangszustand)

(Endzustand)

Frau Achse Ost-West Hungersnot Bewegung

Mann Achse Oben-Unten Überfluß • Reglosigkeit 12

Ein - offen gesagt - klägliches Ergebnis ! lu

C. Lévi-Strauss, „The story of Asdival", in : The structural study of myth and totemism, London

11

Ebenda, S. 1 4 f.

1 9 6 7 , S. 1, 7, 13. " Ebenda, S. 2 1 .

Zur strukturalistischen Methode von Lévi-Strauss

79

Dann geht Lévi-Strauss zum „Sinn" (meaning) des Mythos über und vergleicht seine verschiedenen Varianten miteinander. Hier sieht sich der Leser wiederum den verschiedenartigen Antinomien gegenüber, die zum größten Teil künstlich sind : Opposition, Abschwächung der Opposition, 13 „Neutralisierung der mittleren Mediation", 14 „dialektische Regression", gleichzeitig aber auch „Progression", 15 „Sequenzen und Schemata", 16 die positive Daseinsweise als eine „Negation des Nicht-Seins" 17 usw. Neben diesen kaum verständlichen Phrasen äußert der Verfasser ab und an wieder vernünftige oder zumindest einleuchtende Gedanken, die jedoch zumeist nicht neu sind. So schreibt er, daß die Mythen oft nicht die Wirklichkeit in ihrer realen Form, sondern etwas Gegenteiliges widerspiegeln, 18 daß im Mythos eine Erklärung des Ursprungs der Heiratsbräuche enthalten sei, 19 daß es bei einem Mythos, der vom einen zum anderen Volk entlehnt wird, zu einer Verarmung des Ideengehalts komme 20 usw. Ziel und Ergebnis seiner Studie über Asdiwal sieht Lévi-Strauss in dem Nachweis, „daß auch das Feld des mythischen Denkens strukturiert ist" 21 - der Berg hat gekreißt und eine Maus geboren ! Doch gerade darin erblickt Lévi-Strauss den Wert seiner Untersuchungen auf dem Gebiet der Mythologie. Asdiwal war erst der Anfang, ein erster Versuch. Vier Jahre später veröffentlichte Lévi-Strauss den ersten Band seines gewaltigen Kompendiums „Mythologiques". Die vier Bände des Werkes sind - mit der für den Verfasser typischen Vorliebe für ausgefallene Titel - überschrieben: „Das Rohe und das Gekochte" („Le cru et le cuit"), „Vom Honig zur Asche" („Du miel aux cendres"), „Vom Ursprung der Tischsitten" („L'origine des manières de table") und „Der nackte Mensch" („L'homme nu"). Lévi-Strauss untersucht hier keinen einzelnen Mythos mehr, sondern eine große Anzahl von Mythen. Lévi-Strauss hat eine ganz eigentümliche Methode, Mythen zu behandeln - es ist schwer, sie mit anderen als den Worten des Verfassers zu beschreiben. Hunderte (buchstäblich: Hunderte!) mythologischer Texte werden zitiert oder referiert, die Varianten, Parallelen und inhaltlich verwandten Stoffe werden systematisch miteinander verglichen und zergliedert, strukturelle Analogien und „Oppositionen" werden herausgestellt. Der Inhalt der „Mythologiques" ist in groben Zügen folgender: Lévi-Strauss geht von einem Mythos der südamerikanischen Bororo-Indianer aus, welcher von einem jungen Mann handelt, der in Blutschande mit seiner Mutter lebt, mit Mühe dem Zorn seines Vaters entgeht und seinerseits den Vater rächt, aus dessen Leichnam später 13

Ebenda, S. 40.

14

Ebenda, S. 18.

15

Ebenda, S. 23.

16

Ebenda, S. 17.

17

Ebenda, S. 33.

Ja

Ebenda, S. 27.

20

Ebenda, S. 42.

21

Ebenda, S. 43.

Ebenda, S. 2 9 f.

80

S. A. T O K A R E V

Wasserpflanzen entstehen.22 Auf der Grundlage dieses Mythos läßt sich der Verfasser in längere Erörterungen ein, stellt ihm eine Vielzahl anderer Mythen verschiedener südamerikanischer Indianerstämme gegenüber, vergleicht alle Nuancen und Details der mythologischen Motive, konstatiert Beziehungen der einzelnen Motive zu diesem oder jenem Tatbestand aus dem Leben der Indianer. Mit diesen endlosen mythologischen Verknüpfungen verfolgt er das Ziel, auch eine Reihe von Bräuchen und anderen sozialen Erscheinungen, verschiedene Elemente der Kultur und selbst kosmische Phänomene zu erklären. 23 Allem aber liegt der generelle Gegensatz Natur - Kultur zugrunde. Dieser Opposition geht Lévi-Strauss auf den verschiedensten Gebieten nach: im Bereich der Nahrung, der Musik, der Heiratsbräuche usw. Besonderen Wert legt er auf Analogien zwischen der Mythologie und der Musik. Nach Ansicht des Verfassers spielen beide eine ähnliche Rolle: Beide überwinden die Schranken der Zeit, beide ahmen niemanden nach, beide haben eine eigene Codesprache usw. 24 Nach Lévi-Strauss war Richard Wagner nicht zufällig „der unbestreitbare Vater der strukturellen Mythenanalyse". 25 Selbst noch in der Gliederung von „ L e cru et le cuit" schlägt sich die „musikalisch-mythologische" Weltsicht des Verfassers nieder: E r teilt das Buch nicht, wie üblich, in Kapitel ein, sondern in musikalische Formen: Ouvertüre, Thema mit Variationen, Sonate, Symphonietta, Invention für drei Stimmen, Tokkata und Fuge, Pastoralsymphonie in drei Sätzen usw. Dieser Aufbau des Buches und ebenso sein Inhalt hinterlassen - obwohl es auch interessante Gedanken und Verallgemeinerungen enthält - den Eindruck wissenschaftlicher Artistik. Vieles erinnert an O. Wildes Paradoxa. Der Eindruck des Manierierten, Gekünstelten wird noch verstärkt durch die zumeist dichotomischen Schemata und Diagramme, mit denen der Band überladen ist. Weshalb hat sich Lévi-Strauss gerade auf die Erforschung der Mythologie verlegt? Weil er hier den überzeugendsten Beweis für das Vorhandensein von Gesetzmäßigkeiten im Leben der Menschen zu finden hoffte: „Wenn sich schon in den Mythen der menschliche Verstand als determiniert erweist, muß er doch allenthalben determiniert sein." 26 Auch eine Erscheinung wie den Totemismus betrachtet Lévi-Strauss vom Standpunkt seiner allgemeinen intellektualistischen Konzeption aus. Seine Ansichten zu diesem Thema sind schwer verständlich, da widersprüchlich. Einerseits neigt er zu der Auffassung, daß das ganze Totemismusproblem erdacht, konstruiert sei und mit der Wirklichkeit nichts zu tun habe, 27 andererseits äußert er über den Totemismus interessante wenn auch wieder sehr einseitige und bisweilen extravagante - Gedanken. Für LéviStrauss ist der Totemismus ein eigentümliches Verfahren, die Naturerscheinungen zu klassifizieren, und da jede beliebige Klassifikation immer noch besser sei als das Chaos, habe der Totemismus für den Menschen einen Schritt nach vorn in der Erkenntnis und 22 23 24 23 26 27

C. Lévi-Strauss, L e cru et le cuit, Paris 1964, S. 43-45. Ebenda, S. 306 f. Ebenda, S. 23-40. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 18. C. Lévi-Strauss, Totémisme aujourd'hui, Paris 1962, S. 7, 14, 66 fi.

Zur strukturalistischen Methode von Lévi-Strauss

81

Beherrschung der Natur bedeutet. Diese oder jene Tierart werde nicht deshalb als Totem gewählt, weil sie „gut zu essen" (bonnes à manger) ist, sondern weil man über sie „gut denkt" (bonnes à penser). 28 Mehr noch: Nach Lévi-Strauss unterscheidet sich die totemistische Klassifikation im Prinzip durch nichts von der Klassifikation, wie sie die mittelalterliche Wissenschaft angewandt hat, und nicht einmal von der der modernen Zoologie und Botanik. 2 9 D i e Logik der Klassifikation beruhe im totemistischen System ebenso wie in der heutigen Wissenschaft auf Ähnlichkeit und Ubereinstimmung. D a s System der Totemzeichen hält Lévi-Strauss für Codes zur Umwandlung der verschiedenen Ebenen der sozialen Wirklichkeit. 30 „Der Totemismus", schreibt er, „stellt die logische Äquivalenz zwischen der Gesellschaft der natürlichen Arten und der Welt der sozialen Gruppen her." 3 1 Nicht zufällig hat Lévi-Strauss sein erstes großes Buch über die Mythologie „Das Rohe und das Gekochte" genannt. Auf kulinarischem Gebiet sucht er die gleiche Widerspiegelung des allgemeinen Gegensatzes Natur - Kultur wie in den Mythen, was an sich legitim ist. E r hat einen speziellen Aufsatz über das „kulinarische Dreieck" geschrieben, in dem er mit Hilfe der Strukturanalyse das Verhältnis zwischen den verschiedenen Techniken der Speisezubereitung - Kochen, Braten, Backen, Räuchern, Schmoren usw. - untersucht. Jede dieser Techniken nimmt ihren Platz innerhalb des kulinarischen Dreiecks ein, - dessen drei Winkel „Rohes", „Gekochtes" und „Faules" bedeuten - , jede befindet sich außerdem in einem bestimmten Abstand von den beiden Polen „Natur" und „Kultur". 3 2 Auch in diesem Aufsatz finden sich viele neue und interessante Gedanken, besonders dort, wo der Verfasser versucht, eine Korrelation zwischen der Technik der Speisenzubereitung und bestimmten sozialen Erscheinungen herzustellen. So sei bei vielen Völkern Gekochtes hauptsächlich für die Familienmitglieder und Hausangehörigen bestimmt, während dem Gast Gebratenes vorgesetzt werde („Endo-Küche" und „Exo-Küche"). Kochen bedeute Bewahren aller Nährstoffe, also Sparsamkeit, einfaches V o l k ; Braten bedeute Verlust an Saft und Fett, also Verschwendung, Aristokratie; und wenn die Tschechen gekochte Speisen als Männernahrung betrachten, dann deshalb, weil das tschechische Volk demokratischer sei als die benachbarten Slowaken und Polen. Doch wenn der Verfasser seine Vergleiche bis in den Kosmos ausweitet - Kochen im geschlossenen Kessel sei „ein Symbol kosmischer Integrität"! 3 3 - , vermag man seinen kühnen Verallgemeinerungen kaum noch zu folgen. Ebensowenig wird man Lévi-Strauss darin zustimmen können, daß es eine Analogie zwischen seinem „kulinarischen Dreieck" und dem Vokaldreieck (a - u - i) bzw. dem Konsonantendreieck (k - p - 1 ) der Phonetik gebe. 34 An anderer Stelle werden übrigens die Begriffe Leben - Traum - T o d ebenfalls in einem Dreieck angeordnet. 35 28

Ebenda, S. 128.

29

Lévi-Strauss, La pensée sauvage, S. 57, 59.

30

Ebenda, S. 101, 120.

31

Ebenda, S. 138.

32

C. Lévi-Strauss, „Le triangle culinaire". in: L'Are, 26, S. 1 9 - 2 9 .

33

Ebenda, S. 24.

34

Ebenda, S. 19 f.

35

Lévi-Strauss, La pensée sauvage, S. 314.

6

Kultur u. Ethnos

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S. A. T O K A R E V

Lévi-Strauss' Vorliebe für diverse geometrische Figuren und graphische Schemata verleitet ihn dazu, die Beschäftigung damit als Selbstzweck zu betreiben. Generell muß gesagt werden, daß einige Ideen von Lévi-Strauss schon wegen ihrer Originalität und der neuen Art zu verallgemeinern Beachtung verdienen, daß man sich jedoch insgesamt mit seiner Darstellung des Urmenschen als einer erkenntnistheoretischen, logischen Maschine, die ihre materiellen Bedürfnisse erst in zweiter Linie befriedigt, kaum einverstanden erklären kann. Lévi-Strauss bezieht sich zwar gern auf Marx und betont seinen Respekt vor ihm, doch seine Auffassung von der menschlichen Natur ist purer Idealismus. Es konnte nicht ausbleiben, daß eine so originelle und prätentiöse wissenschaftliche Konzeption Kritik hervorrief, mitunter eine sehr heftige. Selbst diejenigen, die LéviStrauss im großen und ganzen wohlgesonnen sind, bemängeln, daß er so schwer zu verstehen sei. Dies liegt nicht einmal daran, daß seine Gedankengänge so verwickelt sind; Lévi-Strauss scheint sich absichtlich geschraubt und dunkel auszudrücken. Beanstandungen dieser Art werden in der Aufsatzsammlung „The anthropologist as hero" von einigen Autoren geltend gemacht. 36 E . Leach, einer der größten Verehrer von LéviStrauss, meint sogar, daß sich dessen Französisch nicht ins Englische übersetzen lasse. 3 ' Leach scheint gar nicht zu bemerken, daß er Lévi-Strauss mit dieser Bemerkung einen schlechten Dienst erweist: Wenn ein Gedanke Hand und Fuß hat, kann er in jeder beliebigen Literatursprache exakt ausgedrückt werden. Es finden sich jedoch auch Kritiker, die mit Lévi-Strauss weniger glimpflich umgehen. D i e radikalste Kritik an Lévi-Strauss und darüber hinaus am gesamten Strukturalismus haben R. und L. Makarius in ihren Aufsätzen geübt, die in einem Band mit dem provokanten Titel „Structuralisme ou etimologie" gesammelt vorgelegt worden sind. R. und L. Makarius halten die Auffassungen von Lévi-Strauss (die sie mit dem Strukturalismus als solchem gleichsetzen) nicht nur für wissenschaftlich steril, sondern auch für gesellschaftspolitisch schädlich. Wenn wir den gesellschaftspolitischen Aspekt einmal beiseite lassen, müssen wir die Kritik des Ehepaars Makarius an der wissenschaftlichen Methode von Lévi-Strauss als durchaus überzeugend anerkennen. In vielem wiederholen sie nur kritische Bemerkungen, die schon andere vor ihnen geäußert haben. Eine der wesentlichen Beanstandungen, die R. und L. Makarius vorbringen, ist die, daß Lévi-Strauss bewußt und konsequent statt der ethnographischen Fakten nur die Relationen zwischen diesen Fakten untersucht - dies ist ein essentielles Element seiner Methode. Dabei sucht sich Lévi-Strauss auf die Befunde der strukturellen Linguistik, genauer : auf die Ansichten ihres Begründers F. de Saussure zu stützen. Auf de Saussure geht bekanntlich die heute in der Sprachwissenschaft allgemein akzeptierte Auffassung zurück, daß die Grundbestandteile des Wortes, die Phoneme, als solche keine Bedeutungsträger sind, daß erst die Kombination der Phoneme im Wort eine bestimmte Bedeutung hat. Diesen Gedanken wendet Lévi-Strauss nun auf die Ethnographie an: Claude Lévi-Strauss. The anthropologist as hero, hsg. von E . und T . Hayes, London 1970. 37

The structural study of myth and totemism, London 1967, S. X V I f.

Zur strukturalistischen Methode von Lévi-Strauss

83

Nach Lévi-Strauss sollen die ethnographischen Phänomene als solche - wie die Phoneme im Wort - ohne Sinn sein; Sinn sei nur in ihren Verbindungen, ihren Relationen enthalten. Doch diese Analogie ist falsch: Die Bedeutung eines aus Phonemen zusammengesetzten Wortes ist stets willkürlich, während eine Kombination von Fakten (ethnographischen Phänomenen) immer eine streng determinierte Bedeutung hat. 33 Ein weiterer, nicht weniger gewichtiger Einwand, den R. und L. Makarius gegen die Methode von Lévi-Strauss vorbringen, ist der Vorwurf des Antihistorismus. Dieser äußert sich weniger in der statischen Auffassung des Untersuchungsgegenstandes (statischer Strukturen) als vielmehr darin, daß Lévi-Strauss keinen Unterschied zwischen den Geschichtsepochen macht: Erscheinungen aus verschiedenen historischen Perioden, Elemente unterschiedlicher sozialer Strukturen werden unbekümmert nebeneinandergestellt, ja mehr oder weniger miteinander identifiziert. So wird der Totemismus mit unseren Familiennamen auf die gleiche Stufe gestellt, das Tabu der Schwiegereltern mit der Hochachtung vor dem Präsidenten der Republik, die australischen Tschuringas mit unseren Archivakten usw. 39 Aus seinem Antihistorismus erklärt sich nebenbei bemerkt auch, daß Lévi-Strauss die Existenz von Erscheinungen bestreitet, die der ethnographischen Wissenschaft seit langem geläufig sind: E r negiert die historische Realität des Totemismus, der Exogamie u. a. - all dies sind für ihn künstlich konstruierte Begriffe. Von großem Gewicht ist auch die Kritik, die R. und L. Makarius - und mit ihnen andere - an Lévi-Strauss' Vorliebe für den Begriff „Opposition" üben. D i e Dinge, aber auch die Ideen lassen sich ja auf ganz unterschiedliche Art einander gegenüberstellen: Was dem europäischen Ethnographen als Gegensatz erscheint, muß vom amerikanischen Ureinwohner durchaus nicht auf die gleiche Weise begriffen werden. LéviStrauss hält z. B. die Opposition Natur - Kultur für den allgemeinsten, radikalsten und allumfassenden Gegensatz. E r ist es in unserm Bewußtsein, doch im Bewußtsein der lückständigen außereuropäischen Völker dürfte eine solche Opposition gar nicht existieren, für sie ist die Gegenüberstellung von Brauch und Verletzung des Brauches, Ordnung und Unordnung, Rein und Unrein usw. viel wichtiger.'50 D i e Kritik, die das Ehepaar Makarius an der Konzeption von Lévi-Strauss übt, erscheint uns allerdings generell zu vereinfachend und zu undifferenziert. D i e beiden bestreiten Lévi-Strauss überhaupt jedes wissenschaftliche Verdienst, mehr noch: Sie machen keinen Unterschied zwischen den Auffassungen von Lévi-Strauss und dem Strukturalismus im ganzen, den sie ohne Zögern in den schwärzesten Farben malen. D i e hundertjährige Geschichte der ethnographischen Wissenschaft seit Morgan betrachten sie als unaufhaltsamen Abstieg und den Strukturalismus als Tiefpunkt dieses Abstiegs. Man kann ihnen hierin schwerlich zustimmen. Mögen die methodologischen Fehler von Lévi-Strauss (oder anderen modernen Ethnographen) auch noch so groß sein, die Kritik darf sich nicht auf den Standpunkt des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts zurückbegeben. 38

R. u. L. Makarius, Structuralisme ou ethnologie, Paris 1973, S. 30 f.

39

Ebenda, S. 27 f.

/l0

Ebenda, S. 330, 332, 337, 343.

6*

84

S. A. T O K A R E V

Die Kritiker mögen sagen, was sie wollen - Tatsache bleibt, daß Lévi-Strauss großes wissenschaftliches Ansehen genießt und zahlreiche Anhänger hat. Die Arbeiten von Lévi-Strauss sind übrigens so stark von der markanten, unverwechselbaren Individualität ihres Autors geprägt, in ihnen sind Elemente der wissenschaftlichen Analyse so eng mit Wesensmerkmalen des künstlerischen Schaffens verknüpft, daß es schwerfällt, von einer eigentlichen „Methode" des Lévi-Strauss zu sprechen. Die wissenschaftliche Methode ist ein Instrument der Erkenntnis, das jeder handhaben kann, der es erlernt hat. Erlernen läßt sich die Methode von Lévi-Strauss jedoch ebensowenig, wie sich das Spiel eines Klaviervirtuosen nachahmen läßt. Es gibt ein aufschlußreiches Beispiel dafür, wie erfolglose Versuche, die Methode von Lévi-Strauss auf die Untersuchung eines schlecht bekannten Gegenstandes anzuwenden, zur Diskreditierung der Methode selbst führen: einen Aufsatz von M. Freilich, der unter der Überschrift „Myth, method and madness" kürzlich in „Current Anthropology" erschienen ist und die ersten drei Kapitel des Buches Genesis analysiert. 41 Die Schöpfungsgeschichte betrachtet der Verfasser als Mythos (womit er Recht hat), den er aufmerksam untersucht, wobei er auf eine ganze Reihe von Widersprüchen und Unklarheiten stößt: Weshalb wird z. B. zweimal und auf unterschiedliche Weise von der Erschaffung der ersten Menschen gesprochen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Umstand, daß Adam allein ist, und dem, daß er die Tiere benennt? Warum konnte Gott, der doch die ganze Welt aus dem Nichts geschaffen hat, nicht Eva auf die gleiche Weise erschaffen? Wieso geht die Schlange so unlogisch vor? Weshalb sind Gottes Gebote und Verbote so unlogisch? usw. usf. Der Verfasser unternimmt nun den Versuch, diese zahlreichen Unklarheiten und Widersprüche mit Hilfe der Strukturanalyse aufzulösen: Er bildet künstliche Begriffe (z. B. „Strategie der Vernunftwidrigkeit im Mythos"), kombiniert sie willkürlich miteinander, findet im Bibeltext - wie auch ander?! - eine ganze Reihe von „Binäroppositionen", „Vermittlungen", „Transformationen" und teilt schließlich den einen Adam in vier verschiedene Personen auf (Adam 1, Adam 2, Adam 3, Adam 4). W i r wären vermutlich um diese staunenswerte äquilibristische Darbietung gekommen, hätte der Verfasser die Textgeschichte des Buches Genesis gekannt, und die ist mittlerweile recht gut erforscht. Er weiß nicht, daß die Bibelwissenschaft seit Astruc - also seit Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Forschungen vor allem deutscher Gelehrter wie De Wette, Graf, Reuß, Hupfeld, Wellhausen u. a. vorangebracht, den Text der Genesis in seine einzelnen Elemente (Jahwist, Elohist etc.) zerlegt und dadurch zahlreiche Widersprüche und dunkle Stellen - wenn auch natürlich noch nicht alle - aufgeklärt hat. Freilich ignoriert die zweihundertjährige Forschungsgeschichte, er kennt sie gar nicht (die obengenannten Namen fehlen in seinem Literaturverzeichnis); statt dessen wartet er mit wenig überzeugenden und völlig willkürlichen „strukturalistischen" Darlegungen auf. Damit hat er nicht nur sich selbst blamiert, sondern auch der strukturalistischen Methode und ihrem Protagonisten Lévi-Strauss einen Bärendienst erwiesen. Der Hauptfehler der wissenschaftlichen Methode von Lévi-Strauss aber bleibt offenbar, wie er die Kategorie „Sozialstruktur" begreift und wie er sie bei der Analyse des 41

M. Freilich, „Myth, method and madness", in: Current Anthropology, 16, 1975, 2.

Zur strukturalistischen Methode von Lévi-Strauss

85

Faktenmaterials verwendet. Lévi-Strauss ist nicht nur nicht bereit, diesen Begriff mit historischem Inhalt zu füllen, er faßt ihn geradezu als Gegensatz zur Geschichte auf. Darüber hinaus stellt er den Begriff der Sozialstruktur den konkreten sozialen Verhältnissen entgegen. Um daran auch nicht den geringsten Zweifel zu lassen, formuliert Lévi-Strauss diesen Gedanken sehr kraß: „Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht."42 In der Tat: Die konkrete ethnographische Wirklichkeit ersetzt Lévi-Strauss durch komplizierte, verworrene Modellschemata, deren graphische Darstellung das Verständnis nicht erleichtert, sondern noch mehr erschwert. Ich muß es mir hier versagen, die ideengeschichtlichen Wurzeln des Strukturalismus von Lévi-Strauss zu behandeln - sie sind weit verästelt: Die Durkheimsche Tradition ist mit der linguistischen Konzeption de Saussures, der (allerdings sehr subjektiv reflektierte) marxistische Einfluß mit den Gedanken der russischen Volkskundler Jakobson, Propp und Bogatyrev eine Verbindung eingegangen. Doch das ist nicht unser Thema. Wir wollen hier lediglich prüfen, welchen wissenschaftlichen Wert die Methode von Lévi-Strauss hat. Obwohl wir bei Lévi-Strauss eine Reihe interessanter Gedanken finden konnten, ist das Ergebnis unserer Prüfung doch insgesamt negativ ausgefallen. Ungeachtet der Kritik an den methodologischen Auffassungen von Lévi-Strauss soll hier doch erwähnt werden, daß in vielen seiner Äußerungen eine ablehnende Haltung gegenüber dem Kolonialismus und ein aufrichtiger Respekt vor den unterdrückten Kolonialvölkern spürbar sind. Lévi-Strauss hat mehr als einmal über das Recht der Völker auf eine eigenständige Kultur geschrieben, er hat es begrüßt, daß ethnographische Forschung auch von Wissenschaftlern der außereuropäischen Völker betrieben w i r d / 3 In seinen „Tristes tropiques" und in anderen Arbeiten spricht er mit großer Sympathie von den Stämmen Südamerikas, bei denen er gelebt hat. In meinem Vortrag habe ich mich nur über die Methodologie von Lévi-Strauss und ihren wissenschaftlichen Wert geäußert; die gesellschaftspolitische Seite der Ansichten von Lévi-Strauss zu untersuchen, war nicht mein Ziel. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, S. 301. r,i

C. Lévi-Strauss, „Anthropology, its achievements and future", in: Current Anthropology, 7, 1966, 2, S. 125 f.

Ursula Schienther

Die Ethnographie in der BRD und ihr Verhältnis zur Geschichtswissenschaft, zur Kulturgeschichte und Soziologie

Um die heutige Situation der Ethnographie 1 in der B R D einschätzen zu können, erweist sich ein Exkurs in die Geschichte der Ethnographie, der Entwicklung ihrer Theorien als notwendig. Eine neue Epoche der Wissenschaft begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auf der positivistischen Philosophie basierend, entwickelte sich der Evolutionismus, der die Erkenntnisse der Naturwissenschaften ohne Modifizierung auf die Entwicklung der Gesellschaft übertrug. Nach den von Vertretern des Evolutionismus aufgestellten Entwicklungsreihen - besonders auf dem Gebiet der Religion, der Familie, der sozialen Organisation und der Wirtschaft - entstand das Höhere aus dem Niederen, allerdings wurden nur quantitative, nicht aber qualitative Veränderungen aufgezeigt. Der Drang nach vermehrter Ausbeutung der Kolonien führte zu einer engeren Berührung mit Völkern, die noch in der Urgesellschaft lebten, und die zunächst und für lange Zeit als alleiniges Forschungsobjekt der späteren Wissenschaft Ethnographie angesehen wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es unter dem Deckmantel philanthropischer Motive gegen den Sklavenhandel zur Gründung ethnographischer Gesellschaften (in Frankreich, England, Deutschland, Rußland und in den USA), die ihre Mitglieder mit gezielten Aufträgen in die Kolonialgebiete schickten. Dazu gehörten u. a. Erkundungen wichtiger Rohstoffquellen, Möglichkeiten ihres Abbaues und Transportes sowie ethnographisch-demographische Angaben über die einheimische Bevölkerung. Außerdem brachten die Reisenden zahlreiche Ethnographika mit, die A n l a ß zur Gründung völkerkundlicher Museen waren, die „die Texte für die schriftlosen Völker geben sollten". 2 Der Eintritt des Deutschen Reiches in die aktive Kolonialpolitik bildete für die Museen einen guten Nährboden. Von Anfang an gab es in Deutschland immer eine enge Verbindung zwischen den völkerkundlichen Museen und den Universitäten in Berlin, Leipzig und Hamburg. Die Direktoren der Museen und ihre Mitarbeiter waren gleichzeitig Hochschullehrer, Dozenten und Professoren. Das führte dazu, daß die Ergebnisse praktischer Feldforschungen im Vordergrund der Lehre standen „unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Schutzgebiete". 3 Die Verflechtung mit ande1

Der Terminus „Ethnographie" bezieht sich im Folgenden auf die außereuropäische Ethnographie ( = Völkerkunde) und steht auch für den heute in der B R D gewöhnlich verwendeten Begriff „Ethnologie".

- A . Bastian, D i e Vorgeschichte der Ethnologie, Berlin 1 8 8 1 . 3

Vgl. U. Schienther, „Zur Geschichte der Völkerkunde an der Berliner Universität von 1 8 1 0 bis

88

U. S C H L E N T H E R

ren Disziplinen (Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften) erklärt, daß ethnographische Vorlesungen ein und desselben Hochschullehrers z . B . in den alten Vorlesungsverzeichnissen der Berliner Universität in verschiedenen Fachrichtungen erscheinen. So wurden A. Bastians ethnographische Vorlesungen unter „Geschichte und Geographie", seine Vorlesungen zur Anthropologie unter „Naturwissenschaften" angekündigt. Noch 1923 wurden ethnographische Vorlesungen unter „Botanik, Zoologie, Völkerkunde" aufgeführt, und erst 1925 erschien im Rahmen der Philosophischen Fakultät die Völkerkunde in einer eigenen Rubrik, während 2ur gleichen Zeit Vorlesungen von A. Vierkandt, W. Cunow und Eduard Hahn unter den „Staats-, Kamerai-, Gewerbewissenschaften" erscheinen. Besonders heftige Kontroversen gab es unter den deutschen Ethnographen durch die Postulierung der Kulturkreislehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre Vertreter, besonders B. Ankermann, F. Graebner, W. Foy, kämpften von Anfang an gegen den Evolutionismus und die These von der fortschreitenden Entwicklung. D i e Aufgabenstellung der Ethnographie formulierte Graebner: „So bleibt denn als erstes und Grundproblem der Ethnologie wie der ganzen Kulturgeschichte die Herausarbeitung der Kulturbeziehungen."'* Der Verzicht auf die Erforschung historischer Gesetzmäßigkeiten führte dazu, daß ein zweitrangiges Problem zum theoretischen Fundament erhoben wurde: die Frage der Wanderung von Kulturelementen. 5 Zentrum des Meinungsstreites um die Kulturkreislehre wurde die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte6, dagegen sprachen besonders die Vertreter der amerikanischen Archäologie und Ethnographie. Einer Theorie zuliebe vergewaltigten sie nicht die Fakten, die sich aus ihren Spezialforschungen ergaben. An der Berliner Universität fand, bedingt durch die Überzahl von Amerikanisten, die Kulturkreislehre nie Zugang, und als sich z. B. G. Tessmann als einer ihrer Verfechter in Berlin habilitieren wollte, wurde seine Habilitation verhindert. 7 Mit den Arbeiten „Uber den Ursprung der afrikanischen Kulturen" (1898) und „Kulturformen Ozeaniens" (1900) von L. Frobenius hatte die Kulturkreislehre begonnen. In diesen Arbeiten wurden die von F. Ratzel entwickelten Formenkreise zu Kulturkreisen erweitert. Aber während der Streit um das Für und Wider der Kulturkreise weiterging bzw. durch den Ausbau der Theorie durch P. W. Schmidt und P. W. Koppers eine konfessionell-katholische Richtung (Wiener kulturhistorische Schule) entstanden war, hatte Frobenius inzwischen seine Paideuma-Lehre vorgestellt und leitete das seit 1925 in Frankfurt am Main bestehende Forschungsinstitut für Kulturmorphologie. Dieses Institut wurde zu einer der wenigen ethnographischen Schulen in Deutschland, dort wurden die theoretischen Überlegungen von Frobenius von seinen Schülern weiterge1945",

in:

Wissenschaftliche

Zeitschrift

der

Humboldt-Universität

zu

Berlin,

Beiheft

zum

Jubiläumsjahrgang IX, 1959/60, S. 6 7 - 7 9 . 4

F. Graebner, Methode der Ethnologie, Heidelberg 1911, S. 107.

5

D i e philosophisch-historischen

Grundlagen

dieser Richtung -

hier als bekannt vorausgesetzt. 8

Vgl. die Abhandlungen in Zeitschrift für Ethnologie ab 1905.

7

Vgl. Schienther, a. a. O., S. 77.

der Neukantianismus

-

werden

D i e Ethnographie in der B R D

89

führt. Publikationen von heutigen Mitarbeitern des Institutes enthalten noch viele kulturmorphologische Gedanken. Es läßt sich für die Zeit der Entfaltung der Ethnographie als eigene Wissenschaft eine relativ einheitliche Auffassung über Gegenstand und Aufgaben nachweisen: Im Vordergrund stand die Erforschung der rezenten sogenannten Naturvölker. In ahistorischer Betrachtungsweise wurden aber keine gesellschaftswissenschaftlichen Verallgemeinerungen gezogen; nicht berücksichtigt wurden die Entstehung und Verrvollkommnung neuer Produktionsweisen, nicht die Weiterentwicklung der Produktivkräfte oder die qualitativen Veränderungen der Produktionsverhältnisse. Das ständig anwachsende ethnographische Material, die Entwicklung neuer Methoden und Theorien führten immer mehr zu einer Differenzierung in Spezialgebiete. Die ursprüngliche Einheit der Ethnographie, wie sie noch von Bastian oder von F. von Luschan vertreten wurde, fand ein Ende mit dem Aufkommen der Soziologie (und der Psychologie), die die Ethnographie nur als Hilfswissenschaft, als Teilgebiet der Soziologie betrachtete. Das führte z. B. dazu, daß an der Berliner Universität die Philosophische Fakultät die Ethnographie in eine philosophisch-historische und eine naturwissenschaftliche Richtung teilte, wobei unter naturwissenschaftlich der soziologisch-psychologische Zweig verstanden wurde.® Die soziologische Richtung wurde seinerzeit von E. Dürkheim im bewußten Gegensatz zur marxistischen Theorie entwickelt. Charakteristisch für die Vertreter der Soziologie ist, daß sie theoretische Lehrgebäude ablehnen. Nach ihrer Auffassung ist auch das Wesen historischer Entwicklungsprozesse nicht oder „noch nicht" zu erkennen. So begnügt man sich, die Funktion bestimmter Erscheinungen festzustellen; einige Vertreter (u. a. B. Malinowski) lehnen historische Untersuchungen gänzlich ab und sind bestrebt, jede Kultur nur aus ihrer gegenwärtigen Struktur zu interpretieren. 9 Die Entwicklung der Soziologie steht in Verbindung mit einer Erweiterung des Forschungsgegenstandes und der Aufgaben der Ethnographie, die zu einer angewandten, praktischen Wissenschaft (applied anthropology) wird und der kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaft Grundlagen zu verstärkter kolonialistischer und neokolonialistischer Ausbeutung liefert. So werden fast gar nicht mehr die sogenannten Naturvölker untersucht (die auch schon gar nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gesellschaftsordnung und Wirtschaft leben), sondern Fragen des Kulturkontaktes behandelt sowie Untersuchungen zu speziellen ethnisch-sozialen Problemen in den Entwicklungsländern durchgeführt. Wenden wir uns der Ethnographie in der BRD zu, so läßt sich zunächst feststellen, daß es keine einheitliche Auffassung über den Gegenstand und die Aufgaben gibt und daß auch keine Schule im eigentlichen Sinne existiert, etwa wie die Wiener kulturhistorische Schule oder die der Diffusionisten in Göteborg. Eine gewisse Ausnahme bilden lediglich das Frobenius-Institut in Frankfurt am Main und - mit Einschränkungen das Institut für Soziologie und Ethnologie der Universität in Heidelberg. Ferner ist kennzeichnend, daß es kaum Kooperationen zwischen den ethnographischen Institutionen * Ehe A. Vierkandt zum a. o. Professor ernannt wurde, verlangte die Fakultät von ihm, die Abgrenzung der Völkerkunde und den Zusammenhang mit der Philosophie (Psychologie, Logik und Ethik) zu präzisieren. Über das Ergebnis liegen keine Unterlagen vor. Vgl. Schienther, a. a. O., S. 74. ,J

Vgl. die diversen Arbeiten von B. Malinowski und seiner Schüler.

90

U. S C H L E N T H E R

gibt, abgesehen von einem Arbeitskreis um H. Trimborn „Zur Geschichte des Eigentums".10 Besonders die Vertreter der älteren Generation von Ethnographen halten daran fest, daß die Ethnographie die Wissenschaft von den schriftlosen Völkern und Kulturen sei. H. Baumann stellte 1962 fest, daß Untersuchungen über die Lebensweise der Afrikaner in den neuen Staaten nichts mit den Aufgaben der Völkerkunde zu tun haben, sondern der Soziologie zu überlassen seien.11 Seit den sechziger Jahren ist unter den Ethnographen in der BRD sowie unter den österreichischen Vertretern der außereuropäischen Ethnographie ein Meinungsstreit im Gange, ob die Ethnographie ihren Platz unter den Geschichtswissenschaften (im weitesten Sinne) hat oder mehr zur Soziologie tendiere. Unter anderem wurde dieses Problem 1965 auf einem Symposium in Wien „Historische Ethnographie - heute" heftig diskutiert. 12 Diese Diskussion ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Ordinariate für Ethnographie bestehen mit quantitativ guter Besetzung an allen Universitäten der BRD. Bemerkenswert ist, daß einige frühere „Institute für Völkerkunde" umbenannt wurden in „Institute für Ethnologie". 13 Einige Institute sind schon vom Namen her eng mit der Soziologie verbunden, so das Ordinariat für Soziologie und Ethnologie in Heidelberg, und seit 1975, mit der Berufung von G. Grohs auf einen Lehrstuhl für Soziologie (insbesondere der Soziologie der Entwicklungsländer Afrikas) am Institut für Ethnologie, ist an der Universität Mainz ebenso eine enge Zusammenarbeit der Disziplinen gewährleistet. 14 Es ist kein Zufall, daß es gerade das Institut in Mainz ist; der Ordinarius E. W. Müller ist Schüler und später Mitarbeiter von W. Mühlmann (Heidelberg) gewesen. Beachtlich ist die große Anzahl von Studenten, die sich mit Ethnographie und Soziologie beschäftigen, unter ihnen viele progressive Elemente, was J. Stagl lakonisch und falsch interpretiert: „Noch heute ist das Ethnologie-Studium so neu und ungeregelt, daß es besonders für solche Studenten attraktiv wirkt, die die akademische Routine und Disziplin scheuen."15 Vergleicht man die Vorlesungsverzeichnisse der sechziger Jahre 10

Dazu gehören Arbeiten von W. Nippold, D i e Anfänge des Eigentums bei den Naturvölkern und Entstehung des Privateigentums, s'Gravenhage 1954; G. Koch, „Das Eigentum auf Kaledonien", in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, 61, 1957; R. Schott, „Die Eigentumsrechte der Trobriand-Insulaner", in: Anthropos, 61, 1958.

" H. Baumann, „Grundeinsichten der Ethnologie in die neuen afrikanischen Entwicklungen", in: Zeitschrift für Ethnologie, 87, 1962, Braunschweig, S. 250 ff. 12

Ein Teil der Beiträge ist in den Mitteilungen zur Kulturkunde, Frankfurt/M. 1966, Bd. 1, ver-

13

Analog etwa der Umbenennung in „Europäische Ethnologie"; vgl. K. Henke, Volkskunde - eine

öffentlicht. D i e Zeitschrift ist die Nachfolgerin von „Paideuma". „Konjunktur-Wissenschaft" in der B R D ? spätbürgerliche Volkskunde am Beispiel

über

die

des jetzigen Fachgebietes Europäische Ethnologie

Eine wissenschaftstheoretische Betrachtung

im

Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Philipps-Universität zu Marburg, Dipl.-Arbeit, Humboldt-Universität, Sektion Geschichte, Bereich Ethnographie, Berlin 1974. 14

Heute heißt es „Institut für Ethnologie und Afrika-Studien".

15

J. Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Wege zu einer Wissenschaft. München 1974, S. 98. Der Titel des Buches ist irreführend; über die Gesellschaft wird kein Wort gesagt.

91

Die Ethnographie in der B R D

mit denen von 1975, so läßt sich erkennen, daß an den ethnographischen Instituten heute moderne ethnographische und soziologische Probleme im Mittelpunkt der Lehre stehen und zunehmend Auseinandersetzungen mit der materialistischen Geschichtsauffassung geführt werden. Dazu gehören heute auch Diskussionen in den Seminaren, in denen Publikationen von DDR-Ethnographen behandelt werden.

Zu einigen Auffassungen über das Verhältnis der Ethnographie zur Geschichtswissenschaft und zur Kulturgeschichte Wenn beide Disziplinen hier gemeinsam behandelt werden, so darum, weil beiden vieles gemeinsam ist und zum Teil ineinander übergehen. Zur Analyse wählte ich Monographien, Festschriften und Beiträge auf Symposien. Die Auswahl ist insofern vertretbar, weil z. B. die Auswertung einiger Zeitschriften)ahrgänge (wie Saeculum) über den Stand der Diskussion nur ein subjektiv gefärbtes Bild ergeben hätten, da die Beiträge von der Schriftleitung gezielt angefordert werden. Schon seit dem 19. Jahrhundert steht die Frage nach einer historischen Ethnographie, die verstärkt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgegriffen wurde. Zwei Meinungen stehen sich dabei gegenüber, so vertritt A. R. Radcliffe-Brown die Ansicht, d a ß die Historisierung der Ethnographie meist nur eine hypothetische Rekonstruktion bedeute und spricht in diesem Zusammenhang von einer „conjecturel history". 16 H. Petri vertritt einen anderen Standpunkt, wenn er glaubt, daß „innerhalb überschaubarer Räume ( = Kulturgebiete)" geschichtliche Ereignisse zu rekonstruieren sind. Dazu benutzt er folgende Kriterien: Daten der physischen Anthropologie, der Urgeschichte, der Linguistik, der oralen Traditionen und Genealogien, der C 14-Methode. 17 Zunächst fällt an diesem Katalog auf, daß die C 14-Methode gesondert aufgeführt ist; diese ,Methode' ist jedoch keine Methode im eigentlichen Sinne, sondern ein Datierungsverfahren der Urgeschichte. Nicht zustimmen kann man Petri, wenn er meint, der Ethnographie mehrere Methoden zuschreiben zu müssen, wobei das Interesse des Wissenschaftlers die Wahl der Methode bestimme: „Interessiert mich die Sozialstruktur einer ethnischen Gruppe, dann werde ich mich bei der Untersuchung nach Möglichkeit an methodologische Richtlinien halten, die die Sozialwissenschaften für solche Zwecke erarbeiteten. Beschäftigt mich die gleiche Gruppe unter dem Gesichtspunkt ihrer geschichtlichen Vergangenheit, werde ich methodische Verfahrensweisen berücksichtigen, die die Historiker oder Archäologen entwickelten. Wirtschaftswissenschaftliche Methoden muß ich beachten, wenn es mir darauf ankommt, die ökonomische Situation einer so oder so gearteten menschlichen Gemeinschaft in mein Forschungsvorhaben einzubeziehen." 18 Petri verwechselt hier Methode mit Arbeitsweise und anerkennt nicht, daß die Ethno10

A . R. Radcliffe-Brown, Method in social anthropology, Chicago 1 9 5 8 , worin er die Auffassung vertritt, daß ein Geschichtsbegriff denkbar wäre, der neben der Beschreibung des

Historisch-

Faktischen die Erfassung von Regelmäßigkeiten enthalte. 17

H. Petri, „Gibt es eine .historische' Ethnologie?" in: Kölner Ethnographische Mitteilungen, 4,

,8

Ebenda, S. 1 9 3 .

1 9 6 5 , S. 1 8 1 ff.

92

U. S C H L E N T H E R

graphen dort, wo es notwendig ist, Materialien oder Ergebnisse anderer Wissenschaften (Ökonomie, Soziologie, Historie) übernehmen müssen und zu bestimmten nichtethnographischen Problemen selbst gar keine Grundlagenforschung betreiben können. Primitiv wirken Versuche einiger Ethnographen in der B R D , wenn sie darlegen, was sie unter einer marxistischen Ethnographie verstehen. So schreibt F. Deltgen: „Ein marxistischer Ethnologe wird danach streben, jede erfaßbare, konkrete soziale und/ oder kulturelle Situation in das von F. Engels entwickelte auf L. Morgan zurückgehende marxistische Evolutionsschema einzuordnen. Dieses Schema impliziert - wie jedes konsequente evolutionistische Konzept - eine Trendaussage über den Geschichtsprozeß als ganzen . . . Der historische Materialismus behauptet einen absoluten Trend der Entwicklung der Geschichte, der, weil als von keinen Randbedingungen abhängig verstanden, als .Gesetz' mißverstanden wird . . . Die Behauptung eines absoluten Trends des Geschichtsprozesses in der marxistischen Geschichtsphilosophie liefert den marxistischen Ethnologen ein chronogenes Axiom, das - wie wir sahen - ein weniger zur Geschichtsschreibung als zur Geschichtsklitterung geeignetes Instrument ist." 19 Aus diesem Zitat geht hervor, daß der Autor - ganz im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft - historische Gesetzmäßigkeiten leugnet und die dialektische Methode ablehnt bzw. gar nicht kennt. Darüber hinaus polemisiert er dagegen, daß die Wissenschaft ein Mittel oder Instrument des Klassenkampfes ist. M. Erdheim legt auf knapp anderthalb Seiten die „marxistische und strukturalistische Position" dar und stellt ihr eine eigene „ethnologische Position" gegenüber. E r behauptet u. a. „daß der Strukturalismus wesentlich zu einer Annäherung zwischen Marxismus und Existentialismus beigetragen und damit der Entwicklung einer marxistischen Theorie der Subjektivität vorangetrieben habe". 20 Man kann dem Autor bescheinigen, daß er sich weder mit dem Strukturalismus noch mit dem Existentialismus und schon gar nicht mit dem Marxismus sehr intensiv befaßt hat. Der Existentialismus als kleinbürgerliche Ideologie verabsolutiert das Krisenerlebnis des einzelnen Menschen. E r ist ideologischer Ausdruck für die Gefährdung des Menschen durch Kriege und Krisen. Letztlich verteidigt er die spätbürgerliche Gesellschaft und ist gegen den Marxismus gerichtet, bedeutet also keine „Annäherung". Stellt man sich die Frage, von welchen ideologischen oder theoretischen Positionen westdeutsche Ethnographen ausgehen, so ist festzustellen, daß Vertreter der älteren Generation sich meist nur auf Fakten stützen - ganz im Sinne eines Neopositivismus - , häufig wird die „Ideologie der Ideologielosigkeit" propagiert. So schreibt Baumann, daß es weniger daran liegt, das Augenmerk auf Philosophie und schon gar nicht auf scholastische oder materialistische zu lenken, sondern auf die Fakten der Kulturgeschichte. 21 Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß gerade durch die Konfrontation und die divergierenden Auffassungen die Diskussion über die Aufgaben der Ethnographie neu 19

F . Deltgen, „ G i b t es eine historische Ethnologie?", in: Festschrift H . Petri, Köln 1973, S. 67 ff.

20

M. Erdheim, Prestige und Kulturwandel. Eine Studie zum Verhältnis subjektiver und objektiver Faktoren des kulturellen Wandels zur Klassengesellschaft bei den Azteken. Kulturanthropologische Studien, 2, Zürich 1973, S. 12 f.

21

Baumann, a. a. O., S. 254.

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D i e Ethnographie in der B R D

belebt wurde. Besonders deutlich wird das zwischen den Verfechtern einer kulturhistorischen Ethnographie und denen einer Sozialanthropologie amerikanischen Typs. Dabei ist man sich uneinig über die Auswahl des zu bearbeitenden Stoffes, die heranzuziehenden Quellen und ihre Interpretation. Eine dritte Gruppe von Ethnographen, die sich sozusagen resignierend in die beschreibende Ethnographie zurückgezogen haben und sich ausschließlich mit musealen Ethnographika und deren detaillierter Beschreibung beschäftigen, soll hier unberücksichtigt bleiben. Die kulturhistorische Ethnographie bestand bisher zum großen Teil im Aufstellen von Kulturtypologien, die je nach der Position des Ethnographen mit evolutionistischen oder zyklischen Dogmen verbunden waren. Erinnert sei an die Stufentheorien über die Entwicklung der Wirtschaft, an die Kulturmorphologie von Frobenius oder an die Kulturkreisschemata. 22 D i e Ansicht, daß sich die Ethnographie in erster Linie mit der Kultur und erst in zweiter Linie mit dem sozialen Verhalten zu beschäftigen habe, ist an sich nicht neu. Schon E . Tylor führte eine - allerdings wenig brauchbare - Kulturdefinition ein, und L. White hatte vorgeschlagen, die ganze Disziplin „Kulturologie" zu nennen, wobei er die Kultur unabhängig von ihren menschlichen Trägern untersuchen möchte und sich damit den Auffassungen von Frobenius nähert. War es in der älteren Ethnographie üblich, sich auf die Untersuchungen der sogenannten Naturvölker zu beschränken, so hat sich das weitgehend geändert. So führen englische Ethnographen Untersuchungen in Spanien, aber auch in Wales und in Londoner Stadtteilen durch; Studenten der Ethnographie der Universitäten von Köln und Heidelberg fahren seit Jahren zu Feldforschungen nach Südeuropa (Spanien, Sardinien, Sizilien, Griechenland), Wiener Studenten forschen im Burgenland und im Wiener Wald, Mainzer Ethnographen machen Untersuchungen im Westerwald. Man kann Müller zustimmen, wenn er schreibt: „Eine Untersuchung eines mehr oder weniger unbekannten Stammes, etwa in Afrika oder Australien, unterscheidet sich nun ganz wesentlich von einer gleichgerichteten Untersuchung in Europa. D i e Gemeinden in Wales oder Spanien, die der Ethnologe untersucht, sind Teile einer großen Kultur- und Sprachgemeinschaft, deren ästhetische, rechtliche und moralische Werte in einer großen Anzahl von Dokumenten materialisiert sind und in mehreren Wissenschaften untersucht werden. D i e Religion gehört zu den Buchreligionen mit eigener historischer und exegetischer Forschung; die Techniken sind ebenfalls scientifiziert. Damit entfällt ein erheblicher Teil der üblichen ethnologischen Forschung." 23 Soweit kann man Müller zustimmen, allerdings vermißt man bei ihm (und bei anderen) die Schlußfolgerung, daß sich die Ethnographie mit Kultur und Lebensweise als Inhalt (oder Ausdrucksform) der ethnischen Entwicklung zu beschäftigen hat und dieses ihr eigentlicher Gegenstand ist. Man vermißt auch eine Definition, was eigent22

D a ß die Kulturkreise noch immer in der ethnographischen Literatur auftauchen, geht aus der Arbeit von A . Schneider, Musikwissenschaft und Kulturkreislehre, Bonn/Bad G o d e s b e r g

1976,

hervor, wo der Autor in einer „vergleichenden Musikwissenschaft" mit den von Graebner, aber auch von Baumann aufgestellten Kulturkreisen operiert. 23

E . W. Müller, „ D i e Ethnologie und das Studium komplexer Gesellschaften", in: H. Petri, S. 385.

Festschrift

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U. S C H L E N T H E R

lieh unter Kultur zu verstehen ist. D a s ist um so erstaunlicher, weil in steigendem Maße Probleme der „Kulturwandelforschung" oder der Akkulturation angesprochen werden und - als eine Erweiterung der sogenannten Community studies - Urbanisierungsprozessen in E u r o p a und Übersee steigende Aufmerksamkeit geschenkt wird. D a m i t steht in enger Verbindung das Studium „komplexer Gesellschaften' 1 . Differenzierungen, die bis dahin als Unterschiede in der „Kulturhöhe" dargestellt wurden, werden jetzt als Unterschiede in der Kompliziertheit der sozialen Struktur, etwa das Rollensystem und/oder Verschiedenheiten der Effizienz der technischen Ausrüstung, aufgefaßt. 2 4 Letztlich wird damit von der bürgerlichen Wissenschaft weiterhin ein „ N a t u r v o l k " von einem „ K u l t u r v o l k " getrennt. E s kommt darin die imperialistische und teilweise rassistische Anschauungsweise zum Ausdruck, die die rückständigen und unterdrückten Völker als minderwertig betrachtet und deren Studium zur A u f g a b e einer besonderen Wissenschaft macht. Nach dieser Ansicht hat die Geschichtswissenschaft die Aufgabe, die „höheren Kulturvölker" Europas, Asiens und Amerikas zu erforschen, während das Studium der „niederen V ö l k e r " A u f g a b e der Ethnographie sei. D i e Bauernschaft und alle unterdrückten Klassen der kapitalistischen Länder werden in diesem Sinn den „primitiven" Völkern gleichgestellt. Ich glaube, daß unter diesem Aspekt auch die oben von Müller dargestellten Forschungen betrachtet werden müssen. Abschließend noch einige Bemerkungen zu W. D . Schmied-Kowarzik, einem Vertreter der kulturhistorischen Richtung, der folgende Forderung aufstellt: „ D i e Ethnologie bedarf der philosophischen Grundlagenbestimmung, um ihre Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen abzustecken. Völkerkunde ist eine Erfahrungs- und Einzelwissenschaft. Zum Gebiet ihrer Forschung gehören eigentlich alle Kulturen. D a s Fernziel der Ethnographie muß sein, Kulturanthropologie zu werden, d. h. alle Kulturen der Menschheitsgeschichte unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten systematisch zu begreifen. G e r a d e weil die Ethnologie sich noch nicht zur Kulturanthropologie emanzipiert hat, machen ihr die Nachbardisziplinen (so die Soziologie als die Wissenschaft von der Gesellschaft und die Historie als die Wissenschaft von der Geschichte) nicht nur ihren eigenen Platz streitig, sondern leugnen sogar die Existenz von Kultur als einem eigenen Erfahrungsgebiet und Forschungsgegenstand. So wird Kultur entweder aus der Sozialstruktur oder der Tradition eines Volkes und aus dem Zusammenwirken beider verstanden." 2 5 D i e von Schmied-Kowarzik geforderte Emanzipierung zur Kulturanthropologie wird das vor der westdeutschen Ethnographie stehende Problem nicht lösen, sondern widerspiegelt einmal mehr die unterschiedlichen Auffassungen. D i e Kulturanthropologie und damit als Aufgabenstellung verbunden die Kulturwandelforschung umfassen nicht d a s Gesamtgebiet der Ethnographie. Zumal unter „ K u l t u r w a n d e l " oft die historische Entwicklung verstanden wird. So verwendet Erdheim den Terminus „Kulturwandel"

24

Vgl. L . A . Despres, „Anthropological

theory, cultural pluralism and the study

of

complex

societies", in: Current Anthropology, 9, 1968, S. 3 f£. 2j

W. D . Schmied-Kowarzik, „Philosophische Besinnung auf die Grundlagen der Völkerkunde als einer eigenständigen Wissenschaft", in: Mitteilungen zur Kulturkunde, 1, 1966, S. 41.

D i e Ethnographie in der B R D

95

für „Geschichte" als solche.26 Damit bleibt das Verhältnis der Ethnographie zur Geschichte (und Kulturgeschichte27) in einem Kernbereich - den Beziehungen zwischen den subjektiven und objektiven Faktoren des Geschichtsprozesses - problematisch. Geschichte wird von bürgerlichen Ethnographen und Historiographen meist als Resultat des Handelns „großer Individuen" verstanden, also als ein subjektiver Prozeß betrachtet; dabei wird außer acht gelassen, daß die Menschen die Geschichte machen, die Gesellschaft im Kampf mit ihrer Umwelt (Natur) die Lebensbedingungen schafft.

Zu einigen Auffassungen über das Verhältnis Ethnographie - Soziologie Einer der Hauptvertreter der engen Bindung der Ethnographie an die Soziologie ist Mühlmann, für den die Ethnographie auch nur ein Teilgebiet der Soziologie, zu der er auch die Sozialbiologie und Sozialpsychologie rechnet, ist. Für Mühlmann ist Geschichte Wirklichkeitswissenschaft, Soziologie dagegen eine „logische Disziplin vom objektiv Möglichen." Damit sei verbunden, daß der Historiker in Individualitäten denke, der Soziologe dagegen Typen bilde. Damit deutet sich an, daß Mühlmann den Unterschied nicht im Untersuchungsgegenstand, sondern in den Untersuchungszielen sieht. Er selbst spricht von einer soziologischen und einer historischen Betrachtungsweise, die methodologisch zu unterscheiden seien, jedoch in der Problemstellung dort zusammentreffen, wo der soziale Prozeß als eine typische Phase des historischen Wandels begriffen wird. 28 Hinter dieser Aussage steht Mühlmanns Konzeption einer Geschichts- und Kultursoziologie, worunter er folgendes versteht: Die Soziologie sei in einen funktionellen und einen strukturellen Zweig zu gliedern. Ersterer faßt die faktischen Geschehnisse ins Auge und sucht aus dieser Typik und Regelhaftigkeit die Verläufe zu erschließen. Letzterer sei identisch mit Kultursoziologie, die es in erster Linie mit den Kulturformen menschlicher Gruppierungen bzw. menschlichen Gruppenhandelns zu tun habe, wobei sie vor allem Institutionen in (räumlich und zeitlich) verschiedenen Kulturen vergleichend untersuche. Dazu Mühlmann: „Eine vergleichende Geschichte und ein vergleichendes historisches Studium von Institutionen sind im strengen Sinne nicht möglich, da das Vergleichen bereits eine kultursoziologische Aufgabe i s t . . . Es gibt eigentlich keine historischen Prozesse, sondern nur soziale Prozesse."29 Die traditionelle Unterscheidung von „Naturvölkern" und „Kulturvölkern" ändert Mühlmann in „Ethnien" und „Völker", wobei Ethnie für ihn ein Kollektiv handelnder 26

Erdheim, Prestige und Kulturwandel. Aus dem Untertitel (siehe Anmerkung 20) geht bereits der theoretische Fehlschluß hervor. Damit steht Erdheim nicht allein, nur allzuoft werden historische Entwicklungsprozesse mit oder durch „Kulturwandel" erklärt.

27

Vgl. dazu die Studie von P. Schuppan, „Kulturgeschichte und Geschichtsbild. Tendenzen

der

Kulturgeschichtsschreibung in der BRD", in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 18. Bd. (N. F. Bd. 3) 1975, S. 51 ff. 28

W. Mühlmann, Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne Ethnologie. Neuwied/Berlin 1964.

29

W. Mühlmann, „Geschichts- und Kultursoziologie", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 4, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1965, S. 408 ff.

96

U. SCHLENTHER

Menschen und der Begriff der Kultur erst in zweiter Linie wichtig ist. 30 Die Ethnographie, so schlußfolgert Mühlmann, könne keine Methode entwickeln, um ihr Material positiv zu historisieren. Ihre Aufgabe sei vielmehr, Prozesse und Institutionen als Typen herauszuarbeiten. Die Tatsache, daß die meisten Gruppentypen, mit denen sie es zu tun hat, nicht durch einen territorialen, sondern durch einen sozialen Zusammenhang gekennzeichnet sind, unterstreiche ihren Charakter als soziologische Disziplin. Es soll hier nicht weiter auf die - zum Teil in sich widersprüchlichen - Auffassungen von Mühlmann eingegangen werden, sie bieten sich für eine Diskussion an. Sie zeigen jedoch deutlich den durchgehenden ideologischen Zug der bürgerlichen Ideologie: Die Negierung der marxistisch-leninistischen Erkenntnis von den grundlegenden Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft. „Die objektiven Gesetzmäßigkeiten werden entweder ignoriert oder durch relativierende Gesetzesformulierungen kulturanthropologischen Charakters, etwa von einem verschwommenen .sozialen Wandel' - immer mit freilich nachweisbaren und keineswegs völlig unbedeutenden Einzelheiten illustriert - ersetzt", schreibt K. Braunreuther. 31 Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre erlebte die Diskussion um M. Weber sowohl in der B R D als auch in den USA eine starke Wiederbelebung. Neben dem Problem der Werturteilsfreiheit war es die Definition der Soziologie als einer verstehenden Wissenschaft, die auf besonderes Interesse stieß. Sein Satz: „Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen - den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-andersgeworden-Seins andererseits" 32 wurde zu einer Art Programm deklariert. Auch der von Weber entwickelte „Idealtypus" wird als ein Beitrag zu einer „verstehenden Soziologie" gewertet. Diese Soziologie leugnet die Existenz objektiver Entwicklungsgesetze und „ordnet" das empirische Material nach konstruierten Idealtypen, die sich durch einseitige Hervorhebung und Verabsolutierung sozialer Erscheinungen auszeichnen. Letztlich dient die „Weber-Renaissance" der Rechtfertigung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Unter dem oben angeführten Aspekt läßt sich auch eine wachsende Bedeutung soziologischer Forschungen in den Entwicklungsländern beobachten. Als Beispiel sei dafür ein Zitat von H.-J. Krysmanski angeführt. Er schreibt: „Fährt man nun durch die Quellgebiete jener sich trübenden Gewässer, die Baranquilla umgeben, so vergeht der Gesamteindruck der Tristesse am Bild der in den tropischen Hügeln verborgenen Ursprungsdörfer. Dort liegt ein Kern von Lebensmöglichkeiten offen, die Industriegesellschaft und suburbanes Glück vergessen machen . . . Die wirtschaftliche Basis dieser Dörfer kann dürftiger nicht gedacht werden. Dennoch ist die in ihnen entwickelte Lebensform dem Lande angemessener und im Ansatz keiner menschlichen Natur zuwider . . . Beispielsweise sind ja dort Gleichheit und Eigentumslosigkeit angelegt. So W . Mühlmann, „Bewegung, Kulturwandel, Geschichte", in: Zeitschrift für Ethnologie, 87, 1 9 6 2 , S. 1 6 3 ff. 31

K . Braunreuther, Probleme der Geschichte der bürgerlichen Soziologie, Berlin 1 9 7 5 , S. 4 1 . M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Köln/Berlin 1 9 6 4 .

Die Ethnographie in der B R D

97

wäre der Drang nach unnötigem Haus und Gerät durch den Kulturtrieb des Stoizismus ersetzbar. Nur so ließe sich Bildung ohne Ökonomie möglich machen."33 Was an dieser romantisch-exotischen Beschreibung, von der hier nur ein Auszug erfolgte, so gefährlich ist, ist die (Erst-)Veröffentlichung in einer großen westdeutschen Tageszeitung und damit die Beeinflussung eines weiten Leserkreises, der von den tatsächlichen Gegebenheiten in Kolumbien kaum eine Vorstellung hat. Schon immer wurde die Kunde von fremden Völkern, die Schilderung ihrer Lebensweise und Kultur dazu benutzt, die eigene bestehende Gesellschaftsordnung zu legalisieren und/oder zu rechtfertigen. Daran hat sich mindestens seit Herodot nichts geändert. Hinzugekommen sind jedoch seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts neue Aspekte, die von Ethnographen und Soziologen zu berücksichtigen sind: 1. daß man es nur noch in den seltensten Fällen mit Lokalgruppen und Stämmen zu tun hat, die in der reinen Urgesellschaft leben, 2. daß die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen in den Ländern der dritten Welt zu einer Vereinigung und zum gemeinsamen Kampf der einzelnen Klassen und Schichten sowie unterschiedlicher Ethnien führten, 3. daß die moderne Technik weitaus mehr Möglichkeiten bietet, diese Völker mit der BRD bekannt zu machen, und 4. daß durch gezielte Untersuchungen und Analysen bestehender Verhältnisse die sogenannte Entwicklungshilfe bewußt gesteuert werden kann. Das sind meines Erachtens die wichtigsten Aspekte, ohne daß hier im einzelnen darauf eingegangen werden soll. Auf eine Tatsache sei jedoch noch hingewiesen, wenn sie auch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit unserem Thema steht: Bei der Materialsammlung für eine Diplomarbeit „Auswirkungen des westdeutschen Tourismus auf die Bevölkerung einiger Länder Westafrikas" 34 konnte festgestellt werden, daß in vielen westdeutschen Zeitschriften und Zeitungen Journalisten und Publizisten auf die zum Teil verheerenden Folgen des Tourismus nachdrücklich hinwiesen, daß jedoch jedenfalls bisher - kein Ethnograph, gleich welche Richtung er vertritt (Kulturanthropologie oder Soziologie), sich zu diesem Problem geäußert hat. Auch in Massenmedien wie dem Fernsehen der BRD melden sich dazu Ethnographen selten zu Wort. Die Frage nach dem „Warum nicht?" bleibt offen, es sei denn, man unterstelle den Ethnographen, sie enthielten sich jeglicher Einmischung in die Politik und Wirtschaft des eigenen Landes und anderer Länder. Daß dem nicht so ist, beweist u. a. das sogenannte Puebla-Tlaxcala-Projekt in Mexiko, getragen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stiftung Volkswagenwerk. Im Raum Puebla war jahrelang ein Team von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, darunter viele Ethnographen, tätig, um genaue Analysen u. a. über Bevölkerungsstrukturen, ethnische Besonderheiten, Bildungsstand usw. anzufertigen. Das Ergebnis waren gute Detailuntersuchungen und reiches Faktenmaterial; in mehreren Sendungen strahlte 1976 das BRD-Fernsehprogramm ZDF darüber Filme aus. Man vermißte dabei allerdings den Hinweis, daß die kostenaufwendigen Forschungen dazu gedient hatten, zu erkunden, ob das Gebiet um Puebla für • u H.-J. Krysmanski, „Zwischen Baranquilla und Cartagena", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, N. 275, 1 9 6 6 ; vgl. derselbe, Soziologische Politik in Kolumbien, Arbeitsunterlage 1 3 zur Lateinamerikaforschung (COSAL), Münster o. J. 34

7

Angefertigt im Bereich Ethnographie der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Kultur u. Ethnos

98

U. SOHLEN THER

die Errichtung eines Volkswagenwerkes geeignet sei. 33 Die ethnographisch-soziologischen Forschungen in Puebla entsprechen einer „applied anthropology" und zeigen einmal mehr, daß die Ethnographen in der B R D dazu beitragen, die Politik des Monopolkapitalismus mit den Mitteln ihrer Wissenschaft zu unterstützen. Es läßt sich bei einer Analyse ethnographischer Arbeiten auch nicht übersehen, daß der philosophisch- theoretische Ausgangspunkt ein Positivismus reinster Prägung ist. Man ist bestrebt, möglichst viele Fakten und möglichst wenige Interpretationen vorzustellen. Dazu bedient man sich manchmal recht fragwürdiger Methoden, wie z. B. W . Dieball in Briefbefragungen. Darunter versteht er, „daß in einem oft viele tausend Kilometer entfernten Forschungsgebiet ein Netz von Informanten aufgebaut wird, daß diese in einer möglichst kontinuierlichen Briefverbindung auf genau festgelegte Fragen antworten und darüber hinaus auch andere Personen veranlassen, sich zu den behandelten Problemen zu äußern." 36 Informanten können (gegen geringes Entgelt!) von der Botschaft des betreffenden Landes dann gewonnen werden, wenn sie Lehrer oder Angestellte sind; Adressen von Geistlichen sind über die Kirchen und Missionsgemeinschaften zu erhalten usw. Im sogenannten follow-up-System hatte Dieball 5 Briefe entworfen und verschickt, um sich über Megalithen auf Madagaskar informieren zu lassen. Übrigens war dem 5. Brief ein Werbeprospekt über die Bundesrepublik Deutschland beigefügt. Nach Auffassung von Dieball ergab die Auswertung der Briefe (in Fragebogenform) ein Gesamtbild über die „megalithische Situation" auf Madagaskar, wie er selbst es an Ort und Stelle nicht hätte besser und schneller erarbeiten können. Diese Arbeitsweise erscheint mir mehr als fragwürdig, zumal wenn nicht nur nach dem Vorkommen von Megalithen, sondern auch nach bestimmten Sitten und Gebräuchen gefragt wird. Völlig außer acht bleibt die historische Tiefe; es interessiert Dieball auch nicht, welche ethnische Einheit des polyethnischen Madagaskars Erbauer der Megalithen war, ganz zu schweigen von der Frage eines gesellschaftlichen Mehrproduktes, das die Errichtung von Megalithen ermöglichte. Das Beispiel mag ein Einzelfall sein, verdeutlicht jedoch besonders die positivistische Grundhaltung, einschließlich der Negierung der Geschichte anderer Völker.

Zusammenfassung 1. In der Geschichte der Ethnographie läßt sich noch ein relativ einheitliches Geschichtsbild ablesen, das von bestimmten theoretischen Ausgangspositionen (wie Evolutionismus, Kulturkreislehre, Kulturmorphologie) geprägt war. Die philosophische Grundlage war der Positivismus. Abgelehnt wurde unter dem Eindruck der immer offener zutage tretenden Krise der bürgerlichen Gesellschaft die historische Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der Gesellschaft. 2. Heute ist in der Ethnographie der B R D ein Anwachsen der Tatsachenforschung auf der Basis des Neopositivismus zu verzeichnen; die Auswahl der Fakten wird durch weltanschauliche Bedingungen bestimmt. Eine Konzeption ist oft nur mittelbar zu erschließen. 35

Inzwischen ist im Raum Puebla eine Zweigfabrik des Volkswagenwerkes entstanden.

36

W . Dieball, „Ethnologische Feldforschung durch den Brief", in: Festschrift H. Petri, S. 9 9 ff.

D i e Ethnographie in der B R D

99

3. Eine Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ethnographie kann nicht isoliert auf Kontroversen mit einzelnen Fachvertretern beruhen, sondern es muß das gesamte Gesellschaftssystem beachtet werden. Ähnlich wie in der heutigen bürgerlichen Historiographie gibt es auch in der bürgerlichen Ethnographie kein einheitliches Geschichtsbild mehr. 4. E s gibt keine einheitliche theoretisch-methodologische Ausgangsposition. Vertreter einer Zuordnung der Ethnographie zur Geschichte (und Kulturgeschichte) und Vertreter der Zuordnung zur Soziologie stehen sich gegenüber. 37 E s gibt meines Wissens keine Diskussionen zwischen Vertretern der „Europäischen Ethnologie" und Vertretern der „außereuropäischen Ethnologie" zu Fragen der Kulturanthropologie. E s gibt aber auch keine einheitliche Auffassung über den Gegenstand der Ethnographie (ethnos oder demos). Ubereinstimmung herrscht, wenn es um Fragen einer applied anthropology geht, sei es durch Untersuchungen der Lebensweise von Gastarbeitern in der B R D oder durch Untersuchungen eines „lenkbaren Kulturwandels" in den Entwicklungsländern. Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Gesellschaft werden negiert oder mit „Regelmäßigkeiten" interpretiert. Dabei wird keine Gelegenheit außer acht gelassen, den Antimarxismus und Antikommunismus herauszukehren, was meist in verschleierter Form geschieht. Besonders in den Publikationen der Vertreter der soziologischen Richtung häufen sich Zitate aus den Werken von Marx (aus den Werken von Lenin wird kaum zitiert), wobei das Bemühen deutlich wird, Marx mit Marx zu widerlegen. Progressive Kräfte unter den jüngeren Wissenschaftlern sind zahlenmäßig relativ schwach und haben wenig Einfluß. 5. Während bei den Vertretern der „Europäischen Ethnologie" sich deutlich Schulen herauskristallisieren, trifft das für die Vertreter der außereuropäischen Ethnographie nicht zu. Bei letzteren läßt sich jedoch ein Hinwenden zu US-amerikanischen Richtungen erkennen, was u. a. zur Übernahme psychologischer Methoden und Erkenntnisse führte. 3

' An der Heidelberger Universität existieren zwei Institute : D a s „Institut für V ö l k e r k u n d e " und das „Institut für Soziologie und Ethnologie".

7*

Bernhard Weißel

Zur Stellung und Rolle der kulturanthropologischen Orientierung in der BRD-Volkskunde

Es kann nicht das Anliegen dieses Beitrags sein, allen Einflüssen der spätbürgerlichen Ideologie auf Theorie und Methodologie, auf die Gegenstandsbestimmung und auf die Forschungsprogramme der offiziellen bürgerlichen Volkskunde in der BRD nachzugehen und ein vollständiges Bild von den Komponenten entwerfen zu wollen, die heute ihr Profil prägen. Unsere Zielstellung muß insbesondere aus drei Gründen wesentlich bescheidener sein: Erstens wurde einer umfassenden Analyse aller ihrer Richtungen und Tendenzen noch zu wenig durch detaillierte Einzeluntersuchungen vorgearbeitet. 1 Zweitens ist vieles noch im Fluß, gestattet noch keine abschließende Wertung und, soweit am publizistischen Ausweis der Forschungen ablesbar, scheint nach Jahren bewegter theoretischer und methodologischer Diskussionen um Grundfragen des Wissenschaftsverständnisses und damit des Standorts der bürgerlichen Volkskunde im Gefüge der bürgerlichen Sozialwissenschaften eine Periode relativer Ruhe eingekehrt zu sein.2 Drittens standen und stehen den Volkskundlern der D D R nicht alle Materialien aus den Diskussionen von BRD-Volkskundlern um Fragen der Wissenschaftskonzeption und ihrer Selbstverständigung über die theoretischen und praktischen Aufgaben ihres Fachs zur Verfügung. Das gilt namentlich für Veranstaltungen, die um die Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren zwischen den regulären Kongressen der Gesellschaft für Volkskunde durchgeführt wurden. 3 1

Hier sei insbesondere auf die Beiträge von B. Weißel „Zum Gegenstand und zu den Aufgaben volkskundlicher Wissenschaft in der DDR" und von H. Strobach „Positionen und Grenzen der .kritischen Volkskunde' in der BRD" im Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 16. Bd. (Neue Folge Bd. 1), Jg. 1973, S. 9 - 4 4 und S. 4 5 - 9 1 , herausgegeben vom Zentralinstitut für Geschichte der AdW der DDR, Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde, verwiesen.

2

Diesen Eindruck gewinnt man nach der Lektüre der letzten Folgen der „Zeitschrift für Volkskunde" und anderer Periodika der BRD-Volkskunde. Das Zurücktreten von Beiträgen, in denen sich gesellschaftskritische, auf die Realität in der BRD bezogene Elemente artikulieren, ist offensichtlich. Es fehlt nicht an Äußerungen, die gesellschaftskritische Positionen als Versuche „kommunistischer Unterwanderung" von Universitäten und Hochschulen zu diskriminieren.

J

Siehe neben der unter Anm. 1 angegebenen Literatur auch: B. Weißel „Volkskunde zwischen Kulturanthropologie und empirischer Kulturanalyse. Zur Diskussion um ihre Standortbestimmung in der BRD mit ihren Konsequenzen für die Erforschung der Kultur und Lebensweise der Arbeiterklasse", in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. I, Berlin 1976, S. 379-414.

102

B. WEISSEL

Somit legen uns die als gesicherte Quellenbasis verfügbaren Materialien und der Stand unserer eigenen Arbeit zur Wissenschaftstheorie und -geschichte Beschränkungen auf. Wir konzentrieren unsere Aufmerksamkeit hier auf die Stellung und Wirksamkeit der kulturanthropologischen Richtung in der offiziellen Volkskunde der BRD. Unsere Wahl fiel aus mehreren Gründen auf sie: Erstens bezeichnet die spätbürgerliche Anthropologie in der gegenwärtigen Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus eine besonders einflußreiche Strömung innerhalb der bürgerlichen Ideologie. Ihre Einflüsse lassen sich als Ingredienzen in vielen bürgerlichen philosophischen Lehren und Wissenschaftsauffassungen nachweisen.4 Zweitens treten die Repräsentanten der spätbürgerlichen philosophischen Anthropologie, die darauf prätendieren, die Wissenschaft von dem Menschen zu repräsentieren, mit einem so stark prononcierten Allgemeingültigkeitsanspruch ihrer Thesen auf, daß sie zunehmend Widerspruch im Lager der bürgerlichen Ideologieproduzenten provozieren. Die um die Rolle und Funktion der Anthropologie innerhalb des Wissenschaftsgefüges der BRD entbrannten Diskussionen im Lager der bürgerlichen Wissenschaftler der BRD eröffnen wertvolle Einblicke in den Wirkungsmechanismus des Systems der pluralistischen bürgerlichen Ideologieproduktion. Die partiell richtige Kritik ihrer Gegner im Streit 5 sollte die marxistisch-leninistischen Ethnographen dazu veranlassen, ihre Kritik an den theoretisch-methodologischen Grundpositionen der spätbürgerlichen Kulturanthropologie noch qualifizierter mit der konstruktiven Darstellung ihrer Positionen zu den aufgeworfenen Fragen zu verbinden. Drittens gelangt der fortschrittsfeindliche Charakter der spätbürgerlichen Ideologie mit ihrem Antihistorismus, ihrer Abkehr von den Traditionen der humanistischen, im Bekenntnis zur Vernunft gegründeten Menschenauffassung der klassischen bürgerlichen Philosophie und ihrem Absinken in den Irrationalismus hier in selten gesehener Deutlichkeit zum Ausdruck. In den imperialistischen Strategien und ihrem ideologischen Ausdruck, dem Antikommunismus im Kampf gegen Frieden, Fortschritt und Sozialismus in der Welt, ist der philosophischen Anthropologie eine besonders aktive Rolle zugewiesen.6 Viertens lassen sich aus der Rezeption der angelsächsischen Kultur- und Sozialanthropologie als einer Spielart der spätbürgerlichen Anthropologie in der BRD seit 4

Eine gedrängte Übersicht enthält der von M. Buhr verfaßte Beitrag „Anthropologie", in: Philosophisches Wörterbuch, hg. v. G. Klaus und M. Buhr, Bd. 1, 6. Aufl., Berlin 1969, S. 7 7 - 8 3 . Mit anthropologischen und ethologischen Konzeptionen in der Erklärung der „Lebensweise" setzt sich auch J. Filipec, D i e Lebensweise im gegenwärtigen ideologischen Kampf, Berlin 1976, S . 1 7 - 3 2 , auseinander. Angesichts der Spannweite der Thematik muß auf einen vollständigen bibliographischen Nachweis verzichtet werden. Wir verweisen wegen ihrer paradigmatischen Bedeutung auf den Aufsatz von U. Jeggle „Beharrung oder Wandel? Fragen an eine kulturanthropologisch ausgerichtete Ethnologie", in: Zeitschrift für Volkskunde, 67. Jg., 1/1971, S. 2 6 - 3 7 (als Antwort auf den Aufsatz von I.-M. Greverus „Kulturanthropologie und Kulturethologie: „Wende zur Lebenswelt" und „Wende zur Natur", in: ebenda, S. 1 3 - 2 6 ) sowie auf W. Lepenies/H. Nolte, Kritik der Anthropologie. Marx und Freud, Gehlen und Habermas über Aggression, München 1971.

6

Vgl. Anm. 4. Siehe ferner: A. Schischkin „Ethologie und Ethik" in dem von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebenen Periodikum „Gesellschaftswissenschaften", 1, 1976, S. 2 0 3 - 2 1 8 .

Kulturantliropologie in der BRD-Volkskunde

103

den fünfziger Jahren, die durch die Restauration des deutschen Militarismus geprägt waren, wichtige Einblicke in die Mechanismen gewinnen, die den wachsenden Einfluß der spätbürgerlichen Ideologie vornehmlich US-amerikanischer Provenienz in der offiziellen ideologischen Landschaft bewirkten und zur Neuadjustierung der Einzeldisziplinen im Gefüge der bürgerlichen Wissenschaften führten. Das gilt auch für die Volkskunde und Völkerkunde. Hier spielte die Sozial- und Kulturanthropologie die Rolle eines Katalysators. 7 Fünftens nimmt sich die kulturanthropologische Richtung sehr intensiv und mit weitgespannten Prätentionen der interethnischen Beziehungen als ihres besonderen Anliegens und Arbeitsgebiets an, um an ihnen die Gültigkeit ihrer Grundauffassungen zu exemplifizieren. Die aus Anlaß des 60. Geburtstags von G. Heilfurth, dem damaligen Direktor des Instituts für mitteleuropäische Volksforschung an der Universität Marburg, von seinen Mitarbeitern herausgegebene Festschrift „Kontakte und Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- und Sozialforschung" 8 weist in der Titelgebung auf ein Programm hin, das I.-M. Greverus, Schülerin und engste Mitarbeiterin von Heilfurth und heute Professor an der Universität Gießen, dann auch in ihrem Beitrag „Grenzen und Kontakte. Zur Territorialität des Menschen" 9 theoretisch begründet und erläutert. Mit dieser groben Gliederung in dem Bemühen, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, sollte auch der Rahmen für die folgenden Ausführungen abgesteckt werden. Dabei können aus den eingangs genannten Gründen, aber auch deshalb, weil sie die Kompetenz des Volkskundlers übersteigen, nicht alle in diesen Punkten implizierten Fragen aufgeworfen, geschweige denn in der erforderlichen Argumentations- und Belegdichte beantwortet werden. Das besondere Augenmerk soll der Frage der sogenannten „Territorialität des Menschen" und des Interpretaments der interethnischen Beziehungen durch die Kulturanthropologie gelten, hat diese Problematik doch in den Arbeiten der kulturanthropologisch inspirierten oder beeinflußten Volkskundler der BRD einen so dichten literarischen Niederschlag gefunden, daß wir sie als geschlossenes System von Aussagen, Ansprüchen und Forschungsperspektiven qualifizieren können, von dem aus bündig auf den theoretisch-methodologischen und politisch-ideologischen Standort ihrer Autoren geschlossen werden kann.10 Vom Begriff der „Territorialität des Menschen" 1

Kulturanthropologie, hg. von W. E. Mühlmann und E. W. Müller, Köln-Berlin(West) 1966. Auf diese Problematik beziehen sich insbesondere die von beiden verfaßte Einführung (S. 9 - 1 3 ) sowie der Beitrag von

Mühlmann

„Umrisse und

Probleme

einer Kulturanthropologie"

(S. 1 5 - 4 9 ) ;

außerdem M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur: Geschichts- und s

Sozialanthropologie, München-Basel 1961; ders., Philosophische Anthropologie, Berlin(West) 1964. Kontakte und Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- und Sozialforschung. Festschrift für Gerhard Heilfurth zum 60. Geburtstag, hg. von seinen Mitarbeitern, Göttingen 1969.

ö 10

Ebenda, S. 1 1 - 2 6 . Hier kann freilich nur eine Auswahl geboten werden. Als repräsentativ erscheinen uns: G. Heilfurth, Volkskunde jenseits der Ideologien. Zum Problemstand des Faches im Blickfeld empirischer Forschung, Marburg 1 9 6 1 ; ders., „Volkskunde", in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, hg. v. R. König, 2. Auflage, Stuttgart 1967, S. 5 3 7 - 5 5 0 . Neben den bereits erwähnten Beiträgen von Greverus seien folgende Arbeiten aus ihrer Feder angeführt: „Heimweh und Tradition", in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 61, 1965, S. 1 - 3 1 ; „Zu einer nostalgisch-retrospektiven

104

B. WEISSEL

ausgehend, plädierten sie auch im Streit um die Neubestimmung des Standorts der offiziellen Volkskunde für eine durchgehend kulturanthropologische Neuorientierung des Fachs und gaben ihre Antwort auf die Frage „Wem nützt Volkskunde?", d. h. nach ihrer politisch-ideologischen Funktion und ihrem gesellschaftlich-praktischen Einsatzbereich in der kapitalistischen Gegenwart der BRD zu Protokoll. 11 Der anmaßende und von Maßlosigkeit in den theoretischen Aspirationen zeugende Anspruch der Kulturanthropologen, die Fragen nach dem Wesen des Menschen beantworten zu wollen und zu können, tritt hier wie in allen Arbeiten und bei allen Themen zutage. Als ein neues, spezifisches Moment in der Entwicklung der kulturanthropologischen Orientierung ist die Anlehnung an die moderne bürgerliche biologische Umweltlehre, wie sie in den zwanziger Jahren von J. von Uexküll begründet wurde, an die Phänomenologie E. Husserls, an die Lebensphilosophie W. Diltheys und an die Ethologie bzw. Verhaltensforschung in ihrer Ausprägung durch K. Lorenz, O. Koenig und I. Eibl-Eibesfeldt charakteristisch.12 Bevor wir versuchen, die Aussagen der kulturanthropologischen Richtung zu den vorhin genannten Fragen im Kontext auf ihren wissenschaftlichen Gehalt und auf ihre weltanschaulich-politische Funktion detaillierter zu untersuchen, seien einige uns als unabdingbar erscheinende Bemerkungen über ihren Platz, ihre Bedeutung und ihre Rolle im Gesamtsystem der offiziellen bürgerlichen Volkskunde der BRD gestattet. Daß dies nur in gröbsten Umrissen geschehen, nur erste Annäherungen an die komplizierte Struktur des theoretisch-methodologischen Gefüges, der Wissenschafts- und ideologischen Traditionen der bürgerlichen deutschen Volkskunde erbringen kann und sehr viele Fragen offenläßt, bedarf wohl kaum der Erörterung. Unter diesem Vorbehalt glauben wir, folgende Gruppierungen herausarbeiten zu dürfen. 13 Neben einer großen Anzahl von Vertretern einer konservativen, theoretisch wenig reflektierten, zum Teil erklärt reaktionären Richtung, die unter Weglassen allzu belasteter Termini aus der Periode der hitlerfaschistischen Diktatur und Austausch durch neue, weniger wertbefrachtet erscheinende, an den Forschungstraditionen der Volkskunde aus den präfaschistischen Perioden festhält, heben sich, an der Ausprägung eigener neuartiger Forschungsprofile und der theoretisch-methodologischen Begründung ihrer Arbeitsprogramme als Kriterien gemessen, drei Richtungen voneinander ab. Erstens die historisch-archivalische Richtung, die auch vielfach verknappt als historische

Bezugsrichtung der Volkskunde", in: Hessische Blätter für Volkskunde, Bd. 60, 1969, S. 1 1 - 2 8 ; „Anpassungsprobleme ausländischer Arbeiter. Ziele und Möglichkeiten ihrer volkskundlichen Erforschung", in: Populus

revisus. Beiträge

zur Erforschung

der Gegenwart,

Tübingen

1966,

S. 1 2 3 - 1 4 3 ; D e r territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt/M. 1972. 11

Siehe Literaturangaben unter Anmerkung 1.

12

Auf sie wird nachdrücklich in den hier aufgeführten Arbeiten von Greverus verwiesen. Siehe ferner

13

Siehe die unter Anmerkung 1 angeführten Literaturangaben. D i e folgenden Darlegungen knüpfen

die vorhin zitierten Arbeiten von Landmann. an

den

Beitrag

a. a. O., an.

„Volkskunde

zwischen

Kulturanthropologie

und

empirischer

Kulturanalyse",

105

Kulturanthropologie in der BRD-Volkskunde

Volkskunde deklariert wird. Diese Richtung, durch die Namen von K.-S. Krämer, J. Dünninger, H. Moser repräsentiert, bietet sich dem Betrachter als eine Gruppe dar, die sich in ihren theoretischen Ambitionen mit Aussagen „mittlerer Reichweite" bescheidet. Ihr Historismus ist einseitig und rückwärts gewandt, macht vor der Erkenntnis halt, daß der Sozialismus das gesetzmäßige Resultat der Geschichte ist. Anzeichen einer Gesellschaftskritik, wenn auch nur partiell, sind nicht zu vernehmen. Zweitens: Größere theoretisch-methodologische Ambitionen und eine gesellschaftskritische Attitüde, die auch die Vorstellungen über die „Erneuerung" und die „Neubesinnung des Fachs" im Hinblick auf ihre theoretischen Grundlagen, ihr methodologisches Instrumentarium und ihr praktisches Wirkungsfeld in der Gesellschaftsstruktur der B R D mit bestimmt, verrät dagegen die mit dem Namen von H. Bausinger verknüpfte „Tübinger Schule". Ihr gehören namentlich Vertreter der jüngeren und mittleren Volkskundlergeneration an. Das prägende Moment besteht im starken gesellschaftskritisch-politischen Engagement. Es äußert sich in der Forderung nach einer radikalen Neubewertung aller theoretischen und ideologischen Traditionen. Dabei wird nicht selten der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. 14 Bei den meisten von ihnen ist eine Orientierung auf die Frankfurter Kritische Schule (Th. W . Adorno, J. Habermas, H. Marcuse, M. Horkheimer) und auf die Spezifik ihrer Kapitalismuskritik erkennbar. Charakteristisch, aber nicht ausschließlich für sie, ist eine große Adaptionsbereitschaft gegenüber verschiedenen Schulen der spätbürgerlichen empirischen Sozialforschung. Zumindest für einige Autoren ist das Bestreben charakteristisch, aus dem Studium des historischen Materialismus gewisse Einsichten für die Kritik an der imperialistischen Massenkultur fruchtbar zu machen. Eine unzureichende Kenntnis der Probleme der Arbeiterkulturbewegung hindert sie jedoch daran, die Frage nach der „Verbürgerlichung" der Arbeiterkultur im Zusammenhang mit der historischen Mission der Arbeiterklasse richtig zu stellen und den politischen Inhalt reformistischer Konzeptionen zu durchschauen. In der letzten Zeit ist es, zumindest soweit es am publizistischen Ausweis ablesbar ist, um diese Richtung merklich still geworden. 13 Als dritte in sich geschlossene, fest konturierte Gruppe mit eindeutigem Programm, das in allem wesentlichen der spätbürgerlichen philosophischen Anthropologie im allgemeinen und der angelsächsischen Kultur- und Sozialanthropologie im besonderen verhaftet ist und ihren Ehrgeiz darin setzt, als ein Moment der Integration zwischen ihnen zu wirken, müssen die Volkskundler um Heilfurth angesehen werden. Ihr theoretischer Wortführer und engagiertester Vertreter ist die bereits erwähnte Greverus. Zu dieser Gruppierung ist in gewissem Sinne auch I. Weber-Kellermann, gleichfalls Professor am Institut für mitteleuropäische Volksforschung an der Universität Marburg tätig, zuzurechnen. Ihre Position, auf das Ganze ihrer Publikationen und wissenschafts14

Siehe dazu auch die Rezension des Sammelbandes „Abschied vom Volksleben" durch U. Bentzien in Bd. 1, Jg. 1 9 7 3 ,

der Neuen

Folge des Jahrbuchs für Volkskunde und

Kulturgeschichte,

S. 2 2 9 - 2 3 2 . 1,1

Dazu äußert sich speziell der BRD-Soziologe G . Wurzbacher in einem Artikel

„Studentische

Protestbewegung und etablierte Gesellschaft in der Bundesrepublik", in: Kontakte und Grenzen, S. 2 1 5 - 2 2 9 .

106

B. W E I S S E L

organisatorischen Aktivitäten betrachtet, zeichnet sich gegenüber der rigiden Haltung und den in sich geschlossen wirkenden wissenschaftskonzeptionellen Auffassungen von Greverus mehr durch Eklektizismus und durch eine größere Rezeptionsbereitschaft gegenüber den gängigen Wissenschaftskonzeptionen 'verschiedener Schulen und Richtungen aus. 16 Soweit wir es überschauen, ist die kulturanthropologische Richtung in der B R D gegenüber anderen zahlenmäßig schwach. D a letzteres Kriterum aber kein Synonym für einflußarm darstellt, kann auch die Frage nach der theoretisch-ideologischen Wirksamkeit nicht im Sinne einer einfachen Rechnung beantwortet werden. In den Diskussionen um die theoretisch-methodologische Neuprofilierung der Volkskunde in der B R D erzielten ihre Vertreter dank dem leidenschaftlichen Engagement und der in sich geschlossenen Argumentation eine Wirkung, die weit über ihr zahlenmäßiges Gewicht hinausging. Bei der Untersuchung des jeder Richtung Eigentümlichen darf niemals außer Betracht gelassen werden, daß sie alle trotz der stets beschworenen pluralistischen Vielfalt und der oft erbitterten Konkurrenz unter ihnen als Ausdrucksformen der typischen Existenzweise der bürgerlichen Ideologie dieser in allem wesentlichen verhaftet bleiben. 17 So bestehen tiefe Gegensätze zwischen den Exponenten der kulturanthropologischen und den an utopischen Gesellschaftsentwürfen der Frankfurter Soziologenschule orientierten Anhängern in vielen wissenschaftsstrategischen und taktischen Fragen. Das gilt auch für den Bereich der Gesellschaftsauffassung, sowohl für das, was als bewahrenswert, als auch für das, was der Reform bedürftig erachtet wird. Die Gemeinsamkeiten beider bestehen in der Gegnerschaft zur historisch aufsteigenden Welt des real existierenden Sozialismus und zum Marxismus-Leninismus, der Theorie und Weltanschauung, von der sich die revolutionäre Arbeiterklasse und ihre Parteien bei der Verwirklichung ihrer welthistorischen Mission leiten lassen. Das schließt aber nicht aus, daß sich ihre Vertreter, darin einem allgemeinen Entwicklungstrend bürgerlicher Sozialwissenschaften folgend, der wiederum auf indirekte Weise von seiner wachsenden Anziehungskraft zeugt, einzelner Aussagen des MarxismusLeninismus zur Stütze der eigenen Auffassungen bedienen. Gemeinsam ist diesen beiden, den am engagiertesten und vehementesten für eine Revision der bis dahin ungebrochen dominierenden Wissenschaftstraditionen und für eine Neubestimmung des Standorts der Volkskunde eintretenden Richtungen wie allen anderen Richtungen und Strömungen in der offiziellen bürgerlichen Volkskunde der BRD, daß sie in ihren Vorstellungen letztlich immer, wie kritisch-engagiert auch die Forderungen von AngeIn einer ihrer letzten Arbeiten zur Thematik der interethnischen Beziehungen glaubte die Autorin bei dem von ihr geleiteten Forschungsunternehmen

durch Anleihen bei der Systemtheorie zu

weiterführenden Erkenntnissen zu gelangen (Interethnik und sozialer Wandel

in einem mehr-

sprachigen Dorf des rumänischen Banats, hg. v. A . Schenk und I. Weber-Kellermann unter Mitarbeit von M. Motzer und W . Stolle, Marburg 1 9 7 3 ) . Siehe dazu auch die Rezension von Weißel im Bd. 4, Jg. 1 9 7 6 ,

der Neuen Folge des Jahrbuchs für Volkskunde und

Kulturgeschichte,

S. 2 3 8 - 2 4 2 . 17

Als ein in der Erkenntnis dieser Problematik weiterführender Beitrag sei der Aufsatz von Erich Hahn, „Theoretische Fragen des ideologischen Kampfes", Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 9, 1 9 7 5 , S. 1 1 4 1 - 1 1 6 2 , genannt.

Kulturanthropologie in der BRD-Volkskunde

107

hörigen der Tübinger Schule nach „Gegenentwürfen" gegen die real existierende kapitalistische Gesellschaftsordnung und nach einer „gelungenen Ordnung" immer vorgetragen werden, die kapitalistische Gesellschaftsordnung als endgültig verstehen und den unausweichlichen welthistorisch gesetzmäßigen Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus leugnen. Ihnen allen bleibt, weil sie die Schranken bürgerlicher Weltsicht nicht zu durchstoßen vermögen, die Welt des real existierenden Sozialismus ein verschlossenes Gebiet. Als die „Geburtsurkunde" der kulturanthropologischen Richtung angloamerikanischer Provenienz innerhalb der BRD-Volkskunde kann die Antrittsvorlesung gelten, die Heilfurth am 11. Januar 1961 im Rahmen des Studium generale an der Universität Marburg hielt. 18 Dort bezeichnete er die Volkskunde als einen Zweig der Anthropologie, der sich „mit Struktur und Funktion der Grundformen sozialkulturellen Lebens befaßt . . ,"19 Als Leitbild und Modell der zu inaugurierenden empirischen Kulturforschung pries er die US-amerikanische und englische cultural anthropology, „die uns, die wir uns überall mit der Last festgefahrener Schemata, Einteilungen und Geleise herumplagen müssen, in ein befreiendes Erstaunen setzt." 20 In seinem Beitrag „Volkskunde", den er, damit demonstrativ die Bereitwilligkeit zu interdisziplinären Kooperationen mit anderen bürgerlichen Sozialwissenschaften und Adaptionsbereitschaft gegenüber gängigen Modernisierungstendenzen bekundend, zu dem von den Soziologen R. König und H. Maus herausgegebenen „Handbuch der empirischen Sozialforschung" beisteuerte, erneuerte er sein Bekenntnis zur cultural anthropology und rückte den auf R. Benedict zurückgehenden Begriff der „patterns of culture" in das Zentrum der theoretisch-methodologischen Arbeiten zur erstrebten Neuprofilierung der BRD-Volkskunde. Ihm galt es als Axiom, „daß man Volkskunde im gegenwärtigen Stadium, ob es sich um die Untersuchung bestimmter kultureller Erscheinungen oder einzelner regionär ler oder sozialer Komplexe handelt, stets nur unter dem Gesamtaspekt der ,patterns of culture' betreiben kann". 21 Heilfurth war der Fachwelt bis dahin durch eine Reihe kleinerer und größerer Arbeiten bekannt geworden, deren Thematik um die bergmännische Lebenswelt im Montanbereich insbesondere im sächsischen Erzgebirge kreiste. Für seine frühe und mittlere Schaffensperiode sind keine theoretischen Prätentionen zu erkennen, die besonderer Erwähnung wert wären. Forschungsansatz und Zielstellung halten sich in dem Rahmen, den das damals vorherrschende Selbstverständnis der Volkskunde gesteckt hatte. Als auszeichnendes Merkmal seiner Haltung, die besonders in der über die engere Forschungsarbeit hinausgreifenden publizistischen Tätigkeit zum Ausdruck gelangt, kann bestenfalls seine enge konfessionelle Bindung an die protestantische Kirche angesehen werden. Die Wende zur „Lebenswelt" 22 und die Op18

Heilfurth, Volkskunde jenseits der Ideologien.

1!)

Ebenda, S. 6. Auf die Herausbildung der kulturanthropologischen Richtung geht auch A . Niederer, Zürich, in seinem Beitrag „Zur gesellschaftlichen Verantwortung der gegenwärtigen Volksforschung" in der bereits erwähnten Festschrift für Heilfurth ein (a. a. O., S. 1 - 1 0 ) .

20

Heilfurth, Volkskunde jenseits der Ideologien, S. 1 2 - 1 3 .

- l Heilfurth, Volkskunde, a. a. O., S. 5 3 8 . 22

Dazu: Greverus, Der territoriale Mensch, S. 1 9 ff. Siehe auch: Dieselbe, Kulturanthropologie und Kulturethologie. . ., a. a. O., S. 1 3 - 2 6 .

108

B. WEISSEL

tion für die cultural anthropology als Modell und Vehikel zukünftiger volks- und völkerkundlicher Forschungen vollzog Heilfurth erst in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg. D a aussagefähige Belege fehlen, die es gestatten würden, seine Mauserung vom Forscher herkömmlich-traditioneller Art zum Protagonisten und engagierten Wortführer der Kulturanthropologie chronologisch nachzuvollziehen, muß es beim bloßen Verzeichnen der Tatsache sein Bewenden haben. 23 In der Bewertung des Entwicklungsstandes, den die bürgerliche Volkskunde in der BRD beim Zusammenbruch der hitlerfaschistischen Diktatur erreicht hatte, enthielt sich Heilfurth aller Äußerungen, die als radikaler Bruch mit den bis dahin vorherrschenden Wissenschaftsauffassungen innerhalb der Fachdisziplin hätten verstanden werden können. Es ist daher eine Deutung ex post facto, die keiner Nachprüfung durch die Fakten standhält, wenn Greverus ihrem Lehrer eine für sein gesamtes Schaffen durchgängige kulturanthropologische Orientierung zuschreibt.24 Die Arbeiten, in denen Heilfurth seinen wissenschaftstheoretischen Standort in ausgeprägt anthropologischem Sinne reflektiert, stammen sämtlich aus späterer Zeit. Ein charakteristisches Merkmal besteht freilich darin, daß er in ihnen den Einzugsbereich der theoretischen Quellen seiner Wissenschaftskonzeption um die spätbürgerliche Philosophie Husserls, Diltheys und M. Schelers erweitert 25 und damit seinerseits auf den Prozeß der Annäherung zwischen der spätbürgerlichen philosophischen Anthropologie und der der Sozial- und Kulturanthropologie verweist. D a die weitere Ausgestaltung und Systematisierung der kulturanthropologischen Ansätze Greverus anvertraut war, deren Darlegungen als eifrige Propagandistin der Kulturanthropologie in weiten Kreisen das Bild von dem geprägt haben und als kompetent dafür gelten, was diese sei und sein sollte, wenden wir uns im folgenden ihren Äußerungen zu, soweit sie die Problematik der von ihr apostrophierten Problematik der „Territorialität des Menschen" und ihre Umsetzung in der Erforschung interethnischer Beziehungen betreffen. Über ihren Lehrer hinausgehend,21' ist Greverus nicht bei der Proklamation von Imperativen und von Modellentwürfen stehengeblieben. Sie leitete ihre Aufgaben aus dem anspruchsvollen Ziel ab, zu der von ihr als notwendig erklärten weiteren Annäherung von philosophischer Anthropologie und cultural anthropology beizutragen, „um über die fächergebundene Analyse des Menschen zu einer Synthese des Wesens Mensch zu gelangen".27

23

Siehe die Literaturangaben unter Anmerkung 1.

24

Kontakte und Grenzen, S. X V - X V I I I .

23

D a s läßt sich anhand der von Ch. Oberfeld im Anhang (ebenda, S. 5 2 7 - 5 4 4 ) der zitierten Fest-

28

Heilfurths umfangreichste aus langjährigen Forschungen erwachsene Arbeit: D a s Bergmannslied.

schrift zusammengestellten Veröffentlichungen des Jubilars nachweisen. Wesen, Leben, Funktion. Ein Beitrag zur Erhellung von Bestand und Wandlung sozialkultureller Elemente im Aufbau der industriellen Gesellschaft, Kassel und Basel 1954, kann nur begrenzt als kulturanthropologisch klassifiziert werden. D i e Verwendung solcher Vokabeln wie „urtümlich", „grundschichtig" zur Charakterisierung der Kultur und Lebensweise verweist auf psychologisierende Tendenzen in Wissenschaftskonzeptionen der bürgerlichen Volkskunde, die schon in den zwanziger Jahren Eingang gefunden hatten. 27

Greverus, Grenzen und Kontakte, a. a. O., S. 24.

Kulturanthropologie in der BRD-Volkskunde

109

Dieser anspruchsvollen anthropologischen Zielstellung sollten sich auch folgerichtig die volkskundlichen Forschungsvorhaben unterordnen, und unter diesem Aspekt wurde auch die Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde nach ihren Ergebnissen befragt. Bei ihrer rigoros verfolgten Zielsetzung geriet selbst W . H. Riehl unversehens in die Rolle eines historischen Zeugen für die längst herangereifte Notwendigkeit, eine empirische Kulturanthropologie zu kreieren. Selbst J. G. Herder, Repräsentant eines fortschrittsoptimistischen, humanistischen Welt- und Menschenbildes, wie es die klassische bürgerliche Philosophie auszeichnet, entgeht nicht dem Schicksal, in die Ahnengalerie der empirischen Kulturanthropologie eingereiht zu werden. „In dieser pragmatischen Anthropologie (die Autorin meint hier J. Hillebrandts 1822 erschienene Anthropologie als Wissenschaft - B. W.) - in der allerdings noch die Idee einer stetigen .Vervollkommnung' des Menschen und nicht die Erkenntnis der jeweiligen Wertimmanenz der Kulturen im Blickfeld steht - wird immer wieder die Zusammenführung von Empirie und Philosophie als theoretische Besinnung gefordert. Hier steht Herders empirischer Ansatz in der Erforschung volkstümlicher Kultur als Beitrag zur Gewinnung eines kulturvariablen Menschenbildes innerhalb seiner Philosophie zur Geschichte der Menschheit. Und hier soll auch der Satz des Empirikers Riehl stehen: ,Die Volkskunde als Wissenschaft wird darum nicht bloß einen statistisch berichtenden, sondern auch einen philosophischen Inhalt haben: indem sie die Zustände des Völkerlebens in ihrer Besonderung schildert, hat sie dieselben zugleich auf ihre allgemeinen Gesetze zurückzuführen'". 28 Hier wird der flagrante Verstoß gegen die Prinzipien des Historismus als ein auszeichnender Zug der Kulturanthropologie sichtbar. Die Ereignisse und Erscheinungen werden nicht im konkret-historischen Kontext untersucht. Aus den entwicklungsbestimmenden Zusammenhängen gerissen und ihrer inneren Widersprüche als Quelle der Entwicklung entkleidet, werden sie in Leitlinien historischer Entwicklung eingeordnet, die a priori durch die subjektive Auffassung der Autorin gesetzt sind. Das antihumanistische und fortschrittsfeindliche Wesen der Kulturanthropologie offenbart sich im Kulturrelativismus, in der „jeweiligen Wertimmanenz der Kulturen" und in der Absage an die Idee einer stetigen Vervollkommnung des Menschen, wie sie Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" verkündet hatte. Der für sein aufklärerisches humanistisches Menschheitsideal getadelte und von den Positionen des spätbürgerlichen Kulturrelativismus dafür mit negativen Zensuren bedachte Herder wird gleichzeitig als Initiator „in der Erforschung volkstümlicher Kultur als Beitrag zur Gewinnung eines kulturvariablen Menschenbildes" in den Zeugenstand gerufen. D a ß Herders großartiger, in die Zukunft weisender Gedanke von der Vergleichbarkeit der Kulturen auf der Idee der Einheit des Menschengeschlechts beruht und eben darum der Kulturgeschichtsschreibung in vielen Ländern schöpferische Impulse verlieh, gilt der spätbürgerlichen Anthropologie als Makel. Der radikale Bruch mit den Traditionen des aufklärerischen Humanismus tritt hier besonders augenfällig hervor. D a ß Riehls Auffassung von Inhalt und Zielsetzung des Studiums der Volkskultur in einer der bürgerlichen Aufklärung entgegenstehenden Traditionslinie in der Geschichte der politischen Ideen steht, die der Konservierung und Befestigung historisch überlebter Greverus, Zu einer nostalgisch-retrospektiven Bezugsrichtung in der Volkskunde, a. a. O., S. 22.

110

B. WEISSEL

Gesellschaftszustände in der Epoche der zur Herrschaft aufgestiegenen Bourgeoisie diente und darum als politisch reaktionär qualifiziert werden muß, wird rundweg verschwiegen. „Den philosophischen Inhalt" seiner Lehre wiederzugeben, hätte freilich bedeutet, seinen Standort in der Auseinandersetzung zwischen Fortschritt und Reaktion seiner Zeit zu bestimmen. Davor hat sich Greverus zu bewahren gewaßt, und darum wählte sie eine Formulierung, die in ihrer Verschwommenheit dem I.eser die Auffassung suggeriert, Riehl sei an der Aufdeckung objektiver Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Kultur und Lebensweise der Völker im Verlaufe der Weltgeschichte interessiert gewesen. Aus guten Gründen hat Greverus Herder und Riehl in ihrem Exkurs zur Vorgeschichte der Kulturanthropologie an hervorragender Stelle plaziert. In der Geschichte der Herausbildung der Volkskunde als wissenschaftlicher Disziplin nehmen die Auffassungen beider als Knoten- und Kontrapunkte der Entwicklung bedeutende Plätze ein. In ihrem Namen zu sprechen und sich ihres Beistands zu versichern, erhöht das Gewicht der eigenen Position. Die reaktionäre Zielsetzung ist mit einer entsprechenden Methode verbunden. Das „Theoriedefizit", der „Mangel an wissenschaftlicher Theorienbildung" gehört zum festen Repertoire der Klagen und Beschwerden bürgerlicher Volkskundler, die den Entwicklungsstand ihrer Disziplin im Gefüge der bürgerlichen Sozialwissenschaften einschätzen. Sehr oft werden als Schlußfolgerungen Empfehlungen zur Anleihe bei gängigen Theorien und Konzeptionen benachbarter Disziplinen unterbreitet. Wofür die einzelnen optieren, hängt von ihrem Verhältnis zu den Forschungstraditionen ab, wird letztlich aber durch ihre Auffassungen vom Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, von ihrem politischen Standort bestimmt. Auch darin bildet Greverus keine Ausnahme. Um dem Mangel an theoretischer Besinnung abzuhelfen, verordnet sie der Volkskunde direkte Zubringerdienste zur Anthropologie und gesteht ihr lediglich gewisse Möglichkeiten freier Entscheidung bei der Bemessung des Umfangs der Themen zu. „Diese Kulturanthropologie als Erfahrungswissenschaft ist eine Forderung geblieben, der sich erst neuerdings wieder, herkommend von der Ethnographie als empirischer, weitgehend statistischer Wissenschaft, unter Einbeziehung der Erkenntnisse einer philosophischen Anthropologie wesentlich deutscher Provenienz, die amerikanische cultural anthropology zugewandt hat. Sie nimmt ihr empirisches Material vor allem aus den sogenannten primitiven Kulturen, baut diese aber in das allgemeine anthropologische Kulturverständnis vom Menschen als einem Wesen mit natürlichem Potential und kulturellen Manifestationsmöglichkeiten ein. Unseren Beitrag sehe ich darin, die Muster kultureller Normen und Formen und kulturellen Verhaltens innerhalb der differenzierten europäischen Zivilisationswelt zu untersuchen. W o wir die Einsätze finden, ob bei Gruppen, wie Volk, Stamm, Dorf, Verein, Familie, oder bei Ausdrucksformen, wie Erzählung, Lied, Tanz, Kunst, Gerät, oder bei Verhaltensnormen, wie Geselligkeit, Gesittung, Frömmigkeit, ist dabei von sekundärer Bedeutung und der Forscherneigung überlassen. Das primäre Anliegen dürfte die Erhellung eines bestimmten Kulturmusters sein, als variable und als solche in ihrer räumlichen, geschichtlichen, sozialen und psychischen Bedingtheit zu -erfassende Manifestation menschlicher Anlagen. W i r würden damit innerhalb einer allgemeinen Anthropologie als Dachdisziplin an den Erkenntnissen der empirischen physischen, psy-

Kulturanthropologie in der BRD-Volkskunde

111

chischen und sozialen Anthropologie konzipieren und unsererseits einen Beitrag als kulturelle Anthropologie leisten."29 Diese Ausführungen sind in vieler Hinsicht bemerkenswert. Sie lassen die Ingredienzien erkennen, die in ihrer Gesamtheit zur Ausprägung einer „empirischen" Kulturanthropologie auf dem Boden der BRD geführt haben. So verhalten sich die US-amerikanische cultural anthropology und die spätbürgerliche philosophische Anthropologie wesentlich deutscher Provenienz komplementär zueinander. Das „anthropologische Kulturverständnis vom Menschen als einem Wesen mit natürlichem Potential und kulturellen Manifestationsmöglichkeiten" soll den Eindruck erwecken, als sei der für bürgerliche Kulturtheorien charakteristische Dualismus Natur - Kultur in einer höheren Einheit, die zugleich die Einheit von Natur- und Gesellschaftswissenschaften konstituiert, aufgehoben. Damit soll, den Intentionen der Autorin zufolge, der konsequent wissenschaftliche Charakter der Kulturanthropologie erwiesen werden, die sowohl die Ergebnisse naturwissenschaftlicher als auch sozialwissenschaftlicher Disziplinen in einer Synthese verarbeite. Die empirische Forschung wird dem Ziel untergeordnet, den Thesen der spätbürgerlichen philosophischen Anthropologie einen festen Unterbau empirisch erforschter Daten und Angaben zu liefern, der ihr wiederum zu größerer Anziehungskraft verhelfen soll. So sind die empirisch verstandene Kulturanthropologie und die philosophische Anthropologie in ihrer Entwicklung stets wechselseitig aufeinander bezogen oder sollten es zumindest nach Wunsch oder Willen der Autorin sein. D a ß Greverus darauf verzichtet, die Kategorien und sozialen Entwicklungs- und Existenzformen in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft nach ihrer Relevanz und Wertigkeit im konkreten Geschichtsverlauf zu bestimmen und die Wahl der Themen und Gegenstände dem Belieben der einzelnen Forscher überläßt, dürfte zwei Gründe haben. Erstens galt es, den potenziellen Adepten einer empirischen Kulturanthropologie im Lager der bürgerlichen Volkskundler der BRD den Zugang zu der zu inaugurierenden Forschungsrichtung zu erleichtern. Neben diesem pragmatischen Aspekt ist der zweite von entscheidender Bedeutung. Er offenbart das Unvermögen der Kulturanthropologen, die Fragen nach dem Inhalt der Weltgeschichte als naturgeschichtlichem Prozeß und damit nach den Ursachen und Gründen des Aufsteigens vom Niederen zum Höheren in der gesetzmäßigen Abfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen im Verlaufe der welthistorischen Entwicklung zu beantworten. Der Kulturrelativismus, die These von der „jeweiligen Wertimmanenz der Kulturen", von der sich die empirischen Kulturanthropologen in ihren Forschungen leiten lassen, versteht sich, was von verschiedenen angloamerikanischen Kulturanthropologen auch unmißverständlich bekundet wurde, als schroffe Ablehnung jedes Evolutionsgedankens. Eine echte historische Entwicklung ist nach dieser Konzeption ausgeschlossen. Greverus dürfte sich der Tatsache bewußt geworden sein, daß ein einseitiges Beharren auf den Positionen der „cultural patterns", wie sie einst Benedict formuliert hatte, die Wirkungsmöglichkeiten der cultural anthropology im Gefüge der bürgerlichen Sozialwissenschaften von vornherein eingrenzt. Die Einbeziehung biophysischer Momente aus den Lehren bürgerlicher Ethologen (Lorenz, Koenig usw.) erschien ihr als das 28

Ebenda, S. 2 2 - 2 3 .

112

B. W E I S S E L

geeignete Mittel, um die kulturanthropologische „Sicht vom Menschen", von seinen „Anlagen" und „Manifestationsmöglichkeiten" auch nach der naturwissenschaftlichen Seite abzustützen. 30 Hilfe floß ihr aus der Kategorie „Territorialität des Menschen" zu. Die von ihr in zentralen Rang erhobene „Territorialität des Menschen" definiert sie in folgender Weise: „Territorialität bedeutet Satisfaktion der Schutz-, Aktions- und Identifikationsbedürfnisse in einem Territorium, d. h. Kongruenz von Umwelt und Umweltverhalten - also Sicherheit des Verhaltens im Sinne von Harmonie als Ubereinstimmung". 31 Hier wird die enge Anlehnung an die bürgerliche biologische Verhaltensforschung sichtbar, auf deren Positionen sie sich mehrfach nachdrücklich beruft. 32 Als „Harmonie" bezeichnet sie die „unreflektiert hingenommene Einordnung als Selbstverständlichkeit des territorialen Schemas". 33 Innerhalb der von den bürgerlichen Biologen (v. Uexküll, Lorenz, R. Ardrey) formulierten „Grundbedürfnisse" mißt sie dem Identifikationsbedürfnis entscheidende Bedeutung bei. So bemerkt sie, ihre Ausführungen über die aus der Übereinstimmung mit der Umwelt gewonnene Verhaltenssicherheit resümierend, wobei sie bezeichnenderweise die Gültigkeit ihrer Thesen vor allem an „den geistig immobilen und besonders traditions- und an ein enges Milieu gebundenen Menschen 34 „verifizieren" möchte und sich dabei auf Arbeiten über den „disloziierten Menschen und seine Anpassungsschwierigkeiten" 3 '' beruft: „Bereits hieran können wir sehen, daß die Identifikationskomponente - . der Mensch benötigt, daß man ihn .kennt, erkennt, anerkennt' - für die menschliche Territorialität von weitaus ausschlaggebenderer Bedeutung ist als die Schutz- und Aktionskomponente, die man der Identität vielleicht sogar verhältnismäßig zwanglos zuordnen könnte." 36 Greverus scheint also der biologische Reduktionismus in seiner rigorosen Übertragung auf den Bereich des gesellschaftlichen Lebens noch nicht konsequent genug, und so wirkt sie, die drei Komponenten auf letztlich eine einzige zurückführend, auf ihre Weise einheitstiftend. Werden somit gesellschaftliche Zustände an der von ihr apostrophierten „Harmonie" gemessen und wird das Kriterium ihres Wertes in den subjektiv-psychologischen Bereich verlegt, was eine besonders rigide Form des Relativismus und der Feindschaft der cultural anthropology gegenüber dem Evolutionsgedanken darstellt, 37 30

Die Unhaltbarkeit der Versuche bürgerlicher Ethologen, die Rolle des biologischen Potentials bei der Bewertung des Wesens des gesellschaftlichen Lebens zu erhöhen, ist von marxistisch-leninistischen Wissenschaftlern mehrfach erwiesen worden. (Siehe J. Filipec, a. a. O., S. 1 7 ff.).

31

Greverus, Grenzen und Kontakte, a. a. O., S. 16. Eine weitere Definition, wonach sich „menschliche Territorialität . . . theoretisch . . . auf ein beliebig großes Territorium ausdehnen" lasse, „solange (sich) darin die Basisbedürfnisse nach Identifikation, Schutz und Aktion befriedigt werden" (ebenda, S. 22), weist den subjektiv-idealistischen Charakter dieser Konzeption noch eindeutiger aus.

32

Ebenda, S. 1 5 ff.; Greverus, Kulturanthropologie und Kulturethologie, a. a. 0 . ; S. 20 ff.

3:1

Greverus, Grenzen und Kontakte, a. a. O., S. 17.

31

Ebenda, S. 1 6 .

;lr>

Ebenda, S. 1 5 - 1 6 .

36

Ebenda, S. 1 7 .

37

Diese Problematik soll hier nicht weiter expliziert werden. W i r verweisen auf die

Arbeiten

sowjetischer Ethnographen, die sich dieser Thematik bereits seit vielen Jahren angenommen haben. Genannt seien hier: I. R. Grigulevic, „Social'naja antropologija: est' Ii u nee buduscee?", in:

Kulturanthropologie in der BRD-Volkskunde

113

so soll die Berufung auf die „Lebenswelt" im Sinne Husserls 38 eine zusätzliche Absicherung gegenüber materialistischen Forschungsansätzen schaffen. Denn diese „Lebenswelt" oder „gelebte Welt" wird nicht danach befragt, ob und in welcher Weise das Bewußtsein die objektive, unabhängig von ihm existierende Realität widerspiegelt. In ihrer Ausprägung durch Husserl sollte die Phänomenologie die Grundfrage der Philosophie unterlaufen. Greverus bemerkt: „Wenn wir .Lebenswelt' als operationalen Grundbegriff benutzen, dann bedeutet dies den Versuch, die Beziehungen zwischen dem Subjekt Mensch und seinem Objekt Umwelt zu erforschen. Das darf weder die biologische Bedingtheit der Beziehung ausschließen noch die Kenntnisnahme der realen Umwelt mit ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Erst diese Kenntnisnahmen ermöglichen es, das Spezifische der jeweils entkulturierten selektiven Umweltorientierungen, die eine ,gelebte Welt', eine Lebenswelt in ihrer Konfiguration ausmachen, zu analysieren." 39 Die hier apostrophierten „Beziehungen zwischen dem Subjekt Mensch und dem Objekt Umwelt" sind nicht aus der grundlegenden Relation „Sein Bewußtsein" abgeleitet, sondern werden subjektiv-idealistisch und psychologistisch gedeutet. An anderer Stelle belehrt sie ihre Leser im Sinne der „Lebensphilosophie", 40 daß das Territorium „kein vorgegebener Raum, sondern ein Lern- und Erfahrensraum" sei. „Daraus resultiert weiter, wenn wir ihn als den Raum der Verhaltenssicherheit bezeichnen, daß seine Grenzen sich sowohl im biologischen Lernalter erweitern müssen als auch nach dem Grad der intellektuellen Aufnahmefähigkeit differieren." 41 Wer aber die imperativisch gehaltene Formulierung von der Notwendigkeit der „Kenntnisnahme der realen Umwelt mit ihren ökonomischen und realen gesellschaftlichen Bedingungen" als Ausweis einer realistischen wissenschaftlichen Haltung werten möchte, die sich trotz der Gebundenheit bürgerlicher Forscher an unwissenschaftliche Konzeptionen Geltung verschafft, wird sogleich eines anderen belehrt. Gegen die Vertreter einer Orientierung der BRD-Volkskunde gewandt, die Volkskunde in Anlehnung an die linksbürgerliche Kapitalismuskritik der Frankfurter Soziologenschule in eine „kritische Sozialwissenschaft" umwandeln wollten, bemerkt sie indigniert und damit zugleich auch ihren reaktionären politischen Standort offenbarend: „Wenn in dem programmatischen Tübinger .Abschied vom Volksleben' unter Berufung auf Habermas das Erkennen von Problemen gefordert wird, die sich aus der .Hermeneutik der sozialen Lebenswelt' ergeben, dann kann diese Forderung nur unterstrichen werden. Allerdings sollte diese ,neue Sensibilität' sich nun tatsächlich der .Verletztheit der Einzelnen' in der jeweiligen Sovetskaja Etnografija, 2, 1 9 7 5 , S. 3 7 - 5 0 , sowie der vom Institut f ü r Ethnographie „N. N. Miklucho-Maklaj" bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR

herausgegebene

Sammelband

„Etnologiceskie issledovanija zarubezom Kriticeskie ocerki", Moskau 1 9 7 3 . D e r Leser sei auch auf die Rezension dieses Bandes von I. Sellnow im Bd. 3 der Neuen Folge des Jahrbuchs für Volkskunde und Kulturgeschichte, Jg. 1 9 7 5 , S. 2 0 8 - 2 1 3 , hingewiesen. Vgl. dazu den von Buhr verfaßten Artikel „Phänomenologie" in: Philosophisches Wörterbuch, • Bd. 2, 6. Aufl. Berlin 1 9 6 9 , S. 8 2 5 - 8 2 7 . ;!

M. Sahlins, „Political Power and the Economy in Primitive Society", in: Essays in the Science of Culture, hsg. von G. E. Dole, R. L. Carneiro, N e w York 1960, S. 408.

„Ökonomische Anthropologie" und Marxismus

199

In „Stone Age economics" offenbarte Sahlins die heterogene Herkunft seines Konzepts der D M P in konzentrierter und prägnanter Form. In bezug auf eine nach seiner Auffassung besonders charakteristische Eigenschaft der DMP, der nur teilweisen Ausschöpfung sowohl der Arbeitskraft als auch der natürlichen Ressourcen, schrieb er: „In brief, to explain the observed disposition toward underproduction in the primitive economies, I would reconstruct the independent domestic economy' of Karl Bücher and earlier writers - but relocated now somewhat chez Marx, and redecorated in a more fashionable ethnography." 96 In seinem Beitrag für „Studies in Economic Anthropology" (1971) erklärte Sahlins die Notwendigkeit der „Wiederentdeckung" Büchers: „But when Malinowski formulated his ,Tribal Economy' by opposition to C. Bücher's independent Domestic Economy' the latter was effectively put aside before its theoretical usefulness had been exhausted (Malinowski, 1921)." 97 Man geht allerdings wohl kaum fehl in der Annahme, daß das zeitweilige Zurücktreten dieser „Independent Domestic Economy" Büchers im Bewußtsein der angloamerikanischen Kultur- und Sozialanthropologen nicht nur eine Frage der Dominanz bestimmter Richtungen und „Schulen" war. Sahlins bemerkt dazu selber: „It seems no accident that the basic laws of domestic economy were first revealed by peasant studies." 98 Das Konzept der „peasantry", „peasant economy" oder „peasant society" wird bekanntlich von bürgerlichen Historikern und Sozialwissenschaftlern sowohl auf Gesellschaften angewendet, die das Niveau der „tribal society" überschritten hatten, als auch - und nicht zuletzt - auf relativ rückständige Enklaven in entwickelteren, vor allem in kapitalistischen Gesellschaften (wobei je nach dem Grad der Einbeziehung der relativ rückständigen und isolierten Gruppen in die entwickelteren Gesellschaften bestimmte „types of peasantry" unterschieden werden). 9 9 Sahlins entnahm zahlreiche Anregungen und umfangreiche Materialien für die Ausformung seines Konzepts der D M P aus dem Werk Cajanovs über die Landwirtschaft im zaristischen Rußland unmittelbar vor der Oktoberrevolution 100 und stellte weiterhin fest, daß sein Konzept der „domestic mode of production" die gleichen Einsichten gewähre wie das - von marxistischen und bürgerlichen Ökonomen und Soziologen wiederholt kritisierte - Konzept der kolonialen „dual economy" Boekes. 101 So läßt Sahlins die Frage weitgehend offen, welcher sozialökonomischen Formation die D M P zuzurechnen ist; Semenov hat bereits auf diesen Mangel hingewiesen. 102 Besonders bedenklich ist, daß Sahlins indirekt Marx als Zeugen für seine alle vorkapitalistischen ökonomischen und sozialen Verhältnisse überspannende „domestic mode of production" benannt hat: „Even with exchange, the domestic mode is cousin to

^ Sahlins, Stone A g e economics, S. 76. 87

Sahlins, The Intensity of Domestic Production, a. a. O., S. 30.

99

Vgl. dazu die zum Teil in ihren theoretischen Positionen sehr unterschiedlichen Arbeiten

Ebenda, S. 33. Firth, Redfield oder W o l f . 100

Sahlins, Stone A g e economics, S. 87.

101

Ebenda, S. 85.

,H2

Semenov, Sovetskaja Etnografija, 4, 1 9 7 4 , S. 1 7 1 .

von

200

D. TREIDE

Marx' ,simple circulation of commodities', . . . .Simple circulation' is of course more pertinent to peasant than to primitive economies. But like peasants, primitive peoples remain constant in their pursuit of use values, related always to exchange with an interest in cosumption, so to production with an interest in provisioning. And in this respect the historical opposite of both is the bourgeois entrepreneur with an interest in exchange value." 103 Der einzige direkte Hinweis auf die universalhistorische Stellung der DMP, den Sahlins gab, kann wegen seiner theoretischen und methodischen Unzulänglichkeit schließlich auch nicht weiterhelfen: „The household is to the tribal economy as the manor to the medieval economy or the corporation to modern capitalism; each is the dominant production - institution of its time. Each represents, moreover, a determinate mode of production, with an appropriate technology and division of labor, a characteristic economic objective or finality, specific forms of property, definite social and exchange relations between producing units - and contradictions all its own."104 Diese Aufzählung von ökonomischen und sozialen Erscheinungen, die nach Sahlins offensichtlich eine „mode of production" konstituieren und charakterisieren sollen, zeigt mit großer Deutlichkeit, daß er in dieser auch von ihm in ihrer zentralen Bedeutung erkannten Frage Marx nicht konsultiert hat. Sahlins betont zwar die Beziehungen zwischen ökonomischen, sozialen und politischen Erscheinungen und verwendet ausführlich den Begriff des „Widerspruchs", unterstellt aber als Folge der eigenen Unfähigkeit zur Anwendung der Dialektik den Marxisten, die Theorie der Basis-Überbau-Beziehungen auf „primitive societies" nicht anwenden zu können: „The determination of the main organization of production at an infrastructural level of kinship is one way of facing the dilemma presented by primitive societies to Marxist analysis, namely, between the decisive role accorded by theory to the economic base and the fact that the dominant economic relations are in quality superstructural, e. g., kinship relations . . ,"105 Sahlins erwähnt im Zusammenhang mit seinen mehr beschreibenden Versuchen einer Bestimmung dessen, was eine „mode of production" ist, nicht Marx, vielmehr Terray mit dessen Auffassung er sich teils identifiziert, teils aber auch nicht - und C. Meillassoux.106 Die Nennung dieser Autoren gibt die Gelegenheit, abschließend auf die im allgemeinen wenig beachtete Tatsache hinzuweisen, daß die Auffassungen und Arbeitsergebnisse der Vertreter der „ökonomischen Anthropologie" in die Arbeiten Godeliers lo:!

Sahlins, Stone Age economics, S. 83.

10

'' Ebenda, S. 76.

105

Ebenda.

m

Ebenda.

Von

grundlegender

Bedeutung

für die

Auseinandersetzung

mit

den

Auffassungen

Terrays ist der Aufsatz Semenovs in der Sovetskaja Etnografija, 4, 1975. In einer seiner jüngsten Arbeiten setzte sich Meillassoux kritisch sowohl mit den Auffassungen Terrays als auch Sahlins' auseinander

(C. Meillassoux,

D i e wilden Früchte der Frau. Über häusliche Produktion

kapitalistische Wirtschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 1 6 - 1 8 ,

und

48). Anmerkungen zu dieser Arbeit

Meillassoux' finden sich in D . Treide, Zu einigen aktuellen Fragen der ethnographischen Wirtschafts- und Sozialforschung (Manuskript); eine umfassende Stellungnahme zu den dieses Autors steht noch aus.

Konzepten

„Ökonomische Anthropologie" und Marxismus

201

Eingang gefunden haben. Godelier hat sich sowohl mit den Konzepten der „Formalisten" als auch der „Substantivisten" kritisch auseinandergesetzt. In einer Reihe von Einzelfragen läßt sich nachweisen, daß Godelier „substantivistischen" Auffassungen nahestand. 1973 stellte er dann eine Gruppe von „Anthropologen" vor, zu der er Sahlins, J. Friedman, Godelier, E . Terray und andere rechnete. Diese Gruppe weise das „formalistische" Konzept zurück und halte das „substantivistische" für unzureichend. Ihre Vorstellung sei, diese Unzulänglichkeit durch die Anwendung der von Marx geschaffenen Grundbegriffe der „sozialökonomischen Formation" und der „Produktionsweise" konstruktiv zu überwinden. 107 Am Beispiel der Arbeiten von Sahlins wurden konkrete Ergebnisse dieses Vorsatzes vorgestellt. Eine entsprechende Analyse der Ergebnisse Godeliers und Terrays - die über die Bewertung ihrer Aussagen zur „asiatischen Produktionsweise" hinausgehen muß - steht noch aus. Wenn eingangs festgestellt wurde, daß die Bezugnahme einer zunehmenden Zahl von „ökonomischen Anthropologen" vor allem auf Marx keinesfalls von einer einheitlichen Position aus erfolgte und erfolgt, so konnte das im Vorangehenden konkretisiert und politische, ideologische wie „theoretische" Gründe dafür aufgezeigt werden. Ohne Zweifel wird sich auch künftig - Ausdruck der ständig wachsenden K r a f t des realen Sozialismus, der weltweiten Offensive des Marxismus-Leninismus auf der einen Seite und der Krise, der historischen Defensive der bürgerlichen Ideologie auf der anderen Seite - eine wachsende Zahl bürgerlicher Philosophen, Historiker, Ökonomen, Soziologen und Anthropologen mit dem Marxismus-Leninismus befassen. E . Jiilier hat in seiner Untersuchung „Marx-Engels-Verfälschung und Krise der bürgerlichen Ideologie" wesentliche Motivationen der Beschäftigung mit dem Marxismus-Leninismus analysiert. 108 Besondere Aufmerksamkeit wird künftig auch bei der Analyse der Auffassungen bürgerlicher Anthropologen, die sich vorrangig mit ökonomischen und sozialökonomischen Sachverhalten befassen, die Unterscheidung revisionistischer Auffassungen, als marxistisch „verkleidete" Auffassungen von subjektiv ehrlichen Bemühungen um eine Annäherung an den Marxismus-Leninismus, um die schrittweise Aneignung des Marxismus- Leninismus erfahren. Die - notwendigerweise kurz gehaltene und bei weitem nicht alle relevanten Fragen berührende - Behandlung einiger theoretisch-methodischer Konzepte Sahlins' konnte den Umfang und die Kompliziertheit der dabei zu behandelnden Probleme andeuten. Weiterzuführen ist die kritische Analyse der vielfältigen Einflüsse bürgerlicher (einschließlich revisionistischer) Ideologie, die Sahlins aufgenommen und verarbeitet hat. Zugleich sind seine Bemühungen um die Anwendung von theoretisch-methodischen Prinzipien, die er dem Werk von Marx entnommen hat, auf Verhältnisse der Vorklassengesellschaft, der Auflösung der Vorklassengesellschaft und der Herausbildung und Entwicklung der Klassengesellschaft in gewissem Sinne eine Herausforderung an die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften, die Bemühungen um die weitere Ausarbeitung der theoretischen und methodischen Grundlagen der Forschung zu intensivieren. D a s betrifft sowohl allgemeinere, schon oft diskutierte Probleme wie etwa die Frage der Entwicklung der Produktionsweisen in den präkapitalistischen Formationen 107

Godelier, S. 26 ff.

108

E . Julier, Marx-Engels-Verfälschung und Krise der bürgerlichen Ideologie, Berlin 1975.

202

D. T R E I D E

einschließlich bisher nicht ausreichend analysierter wesentlicher Sachverhalte, etwa der konkreten Untersuchung des Verhältnisses der Produktivkraftentwicklung zur Entwicklung der Produktionsverhältnisse. D a s betrifft auch die konsequentere Anwendung der Kategorie der sozialökonomischen Struktur- und Entwicklungsform (obscestvennoèconomiceskij uklad), 1 0 9 die von besonderer Wichtigkeit für die Erforschung der Übergangsverhältnisse von einer ökonomischen Gesellschaftsformation zu einer anderen ist, 110 und damit spezielle Bedeutung für die Behandlung der sozialökonomischen Strukturen und Entwicklungen besitzt, die auch von den „ökonomischen Anthropologen" erfaßt wurden und werden. D a s gilt schließlich auch für die Anwendung und Erprobung solcher Kategorien wie der „ökonomischen Zelle" (chozjajstvennaja jacejka) und des „ökonomischen Organismus", die von Semenov in jüngster Vergangenheit in die Diskussion gebracht worden sind. 111 Ioa

Ju. I. Semenov, „Znacenie kategorii .obscestvenno-ékonomicsekij

uklad' dlja analiza social'no-

ékonomiceskogo stroja obscestva", in: Naucnye doklady vyssej skoly,

filosofskie

nauki, Nr. 3,

Moskau 1976, S. 3 9 - 4 8 ; darin auch Literaturangaben zur gleichen Thematik. " , J Vgl. W. Küttler, „Zur Frage der methodologischen Kriterien historischer Formationsbestimmung", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X X I I . Jg., H e f t 10, Berlin 1974, S. 1 0 4 6 ;

derselbe,

„Theoretische Grundlagen und Methoden historischer Analyse von Gesellschaftsformationen", in: Deutsche

Zeitschrift

für Philosophie,

24.

Jg.,

1976,

Heft

9;

derselbe,

„Formationsanalyse,

Typologie und Revolutionsgeschichtsforschung im Werk Lenins", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, X X V . Jg., 1977, H e f t 7. Semenov, Znacenie kategorii, a. a. O., S. 43 ff.

Solomon Il'ic Bruk

Ethnodemographische Probleme in der Welt nach 1945 und ihre Interpretation in der bürgerlichen Wissenschaft

I In den mehr als 30 Jahren, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges vergangen sind, vollzogen sich Ereignisse von welthistorischer Bedeutung, die entscheidenden Einfluß auf den Verlauf ethnodemographischer Prozesse in der Welt sowie auf die gesamte Bevölkerungsentwicklung besaßen. Besonders hervorzuheben sind unter diesen historischen Ereignissen in erster Linie die Herausbildung des sozialistischen Lagers sowie der Zerfall des Kolonialsystems des Imperialismus und, damit verbunden, die Entstehung Dutzender neuer selbständiger Staaten. Die äußerst schnelle Zunahme der Bevölkerungszahl der Erde ist das Hauptphänomen in den demographischen Prozessen der Nachkriegszeit. In der ausländischen sozial-ökonomischen Literatur, die sich Problemen der Bevölkerungsentwicklung gewidmet hat, und ebenso in rein demographischen Arbeiten werden die Ursachen für dieses Phänomen ausführlich analysiert. Zur Charakterisierung der demographischen Prozesse, die sich in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen haben, wird dabei immer öfter der Terminus „demographische Explosion" gebraucht. Die Analyse des statistischen Materials für einen längeren Zeitraum widerlegt jedoch die in vielen ausländischen Untersuchungen anzutreffende Auffassung von einer „Bevölkerungsexplosion" und von einem „unkontrollierten" Bevölkerungszuwachs in der Nachkriegsperiode, obwohl sich bedeutsame qualitative und quantitative Veränderungen in den demographischen Prozessen vollzogen haben. Tatsächlich hat sich mit der Entwicklung der Produktivkräfte das Wachstumstempo der Weltbevölkerung immer mehr beschleunigt. Während die Weltbevölkerung im Jahre 1820 ungefähr 1 Milliarde Menschen betrug, war sie etwa 100 Jahre später, im Jahre 1927, auf 2 Milliarden, weitere 33 Jahre später, im Jahre 1960, bereits auf 3 Milliarden angewachsen. 1976 erreichte die Weltbevölkerung eine Zahl von 4 Milliarden Menschen. Wenn man den derzeit bestehenden Mittelwert des Wachstumstempos der Weltbevölkerung von 1,8 Prozent pro Jahr zugrundelegt, so müßte sich die Weltbevölkerung in 40 Jahren verdoppelt haben. Wann setzte der starke Sprung in der Zunahme der Weltbevölkerung ein? Womit war er verbunden? Welche Faktoren waren bei diesen demographischen Prozessen bestimmend? Auf alle diese Fragen kann eine Antwort gegeben werden, wenn man die Bevölkerungsdynamik auf einen längeren Zeitraum hin untersucht. Die Bevölkerungsdynamik der gesamten Welt wird von ihrer natürlichen Bewegung, d. h. der Wechselbeziehung von Geburtenzahl und Sterblichkeit bestimmt. In einer Reihe von Ländern und Kontinenten wirken auf die Veränderung der Quantität der Bevölke-

204

S. I. BRUK

rung auch Migrationsprozesse ein (in gewissen Zeitabschnitten z. B. war in Irland, Australien, Kanada, USA u. a. der Einfluß der Migration auf die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung sogar bedeutender als der Einfluß der natürlichen Bevölkerungsbewegung). In dem langen Zeitraum von vielen Hunderttausenden von Jahren nahm die Weltbevölkerung außerordentlich langsam zu. Das muß aus dem niedrigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der großen Abhängigkeit des Menschen von der Natur erklärt werden. Mit der Höherentwicklung der Gesellschaft verringerte sich die Bedeutung der natürlichen Bevölkerungsbewegung. Im Altertum und im Mittelalter war die Geburtenzahl im allgemeinen sehr hoch und näherte sich dem biologisch Möglichen. Ebenfalls sehr hoch war aber auch die Sterblichkeit, die durch die periodisch auftretenden Epidemien, die unhygienischen Lebensbedingungen sowie durch die zahlreichen Hungersnöte und Kriege hervorgerufen wurde. Die Geburtenziffer lag insgesamt nicht sehr viel höher als der Sterblichkeitsgrad. Obwohl in bestimmten Gebieten der Erde zeitweilig für eine geringe Sterblichkeitsrate günstige Bedingungen bestanden, so war doch die Abweichung von den Durchschnittswerten des sehr geringen natürlichen Bevölkerungswachstums aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besonders groß. Seit dem 16. Jahrhundert beschleunigte sich das Tempo des Bevölkerungswachstums. Das resultierte aus der Weiterentwicklung der Produktivkräfte im Rahmen des Kapitalismus. Der Anstieg der Industrieproduktion in einer Reihe von Ländern wurde von einem Aufschwung in der Landwirtschaft, von der Erhöhung der Nahrungsgüterproduktion wie auch von den Erfolgen in der Medizin (besonders im Kampf gegen die Epidemien) begleitet. All das konnte sich auf die demographischen Prozesse auswirken. Ein starkes Wachstum der Bevölkerung setzte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Es fällt zeitlich mit der industriellen Revolution in einer Reihe westeuropäischer Länder zusammen. In dieser Zeit erfolgte die erste sogenannte „demographische Explosion." Während sich bis dahin die Bevölkerung um durchschnittlich 0,1 Prozent jährlich vermehrt hatte, wuchs sie in den folgenden 150 Jahren (bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) durchschnittlich um 0,5 Prozent an. Der Charakter der demographischen Prozesse war in den einzelnen Ländern sehr stark differenziert entsprechend dem unterschiedlichen sozial-ökonomischen Entwicklungsniveau. In den entwickeltsten Ländern kam es zu einem Absinken der Sterblichkeit (wobei betont werden muß, daß dieser Prozeß in äußerst langsamem Tempo und über viele Jahrzehnte hinweg verlief). Trotz des gleichzeitigen Rückganges der Geburtenzahl war das Tempo des natürlichen Bevölkerungszuwachses hier doch bedeutend höher als in den Ländern, die in koloniale oder halbkoloniale Abhängigkeit geraten waren. Der seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte Rückgang der Geburtenzahl in verschiedenen Ländern wurde aber noch von der ebenfalls sinkenden Sterblichkeitsziffer übertroffen. Das führte zu einem gewissen Rückgang des natürlichen Bevölkerungswachstums. Einmal läßt sich das durch die oft auftretenden ökonomischen Krisen, die Unsicherheit vor dem morgigen Tag, zum anderen durch die sich schnell vollziehende Urbanisation, durch die Zunahme des Anteils der Frauen am gesellschaftlichen Produktionsprozeß wie auch durch andere Faktoren erklären, die entscheidenden Einfluß auf die Höhe der Geburtenzahl ausübten.

205

Ethnodemographische Probleme

In den gleichen Jahren lag in den Ländern Asiens und Afrikas die Sterblichkeit bedeutend höher als in anderen Erdteilen, und der natürliche Bevölkerungszuwachs war in beiden Kontinenten trotz der hohen Geburtenziffer äußerst niedrig: 0,3 bis 0,8 Prozent jährlich. Die hohe Geburtenrate (sie nahm jährlich um 40 Menschen je tausend Bewohner zu) basierte hierbei in bedeutendem Maße auf der früh vollzogenen Eheschließung und wurde auch durch das Streben nach Kinderreichtum hervorgerufen. Letzteres wiederum war mit einer sehr hohen Kindersterblichkeit verbunden, die sogar die Gefahr in sich barg, daß die Eltern ohne Nachkommen blieben. (In der Mehrzahl der afrikanischen Länder starben ein Viertel, in einigen Ländern Afrikas ein Drittel oder sogar die Hälfte der Kinder, ohne das erste Lebensjahr erreicht zu haben.) Sehr hoch war die Sterblichkeit dabei im Jugendalter und im mittleren Alter. Hungersnöte und Seuchen forderten jährlich Zehn- bis Hunderttausende von Menschenleben. Als Beispiel dafür sei die Tragödie Indiens angeführt, als es sich unter britischer Kolonialherrschaft befand. Noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und anfangs des 20. Jahrhunderts verhungerten hier ca. 25 Millionen Menschen. Mehr als 5 Millionen Menschen wurden von der Cholera hinweggerafft. Auf die Gesamtdauer des Geschichtsverlaufs gesehen läßt sich eine allgemeine Tendenz feststellen: schrittweiser Rückgang der Sterblichkeitsrate und in bestimmter Weise damit verbunden langsamerer Rückgang der Geburtenzahl, der in der Endkonsequenz zu einer Tempobeschleunigung im Bevölkerungswachstum führte. An Abhängigkeit vom Wechselverhältnis zwischen der Höhe der Geburtenzahl und dem Grad der Sterblichkeit kann man einige Typen der Reproduktion der Bevölkerung bestimmen, die sich mit der Veränderung der sozialökonomischen Bedingungen wandeln. Der Typ der Reproduktion neigt in jedem konkreten Land zu relativ schnellen Veränderungen. Wenn der höchste Bevölkerungszuwachs bei hoher Geburtenzahl und für diese Zeit niedriger Sterblichkeit im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts lag, so ist diese Erscheinung nur für die Länder Europas charakteristisch. Dieser Typ der Bevölkerungsreproduktion machte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schon in der Mehrzahl der Länder Lateinamerikas bemerkbar. In Europa war zu gleicher Zeit der Rückgang der Geburtenzahl schon bedeutsamer als der Rückgang der Sterblichkeit. Um die Veränderungen in den ethnodemographischen Prozessen der Periode nach dem zweiten Weltkrieg analysieren zu können, sollen einige Angaben über die Bevölkerungsstärke und das Bevölkerungswachstum vorherliegender Perioden, mit dem Jahr 1920 beginnend, angeführt werden. In den vergangenen 55 Jahren vermehrte sich die Weltbevölkerung um das 2,2fache (obwohl in diesen Zeitraum der blutigste Krieg der Menschheitsgeschichte fiel),1 wobei sie in den 20 Jahren vor dem zweiten Weltkrieg um 26,7 und in den 30 Jahren nach 1945 durchschnittlich um 65 Prozent (1950 bis 1975 um 58,8 Prozent) anwuchs. 2 In den Jahren 1

Die tatsächliche Zahl der menschlichen Verluste

im zweiten Weltkrieg beträgt 6 0

Millionen

Menschen. W a s die indirekten Verluste in Verbindung mit der sinkenden Geburtenzahl und der Erhöhung der Sterblichkeit betrifft, so waren sie mindestens um das Doppelte höher als die direkten Verluste (unter Verwendung von Interpolationsmethoden kann man vermuten, daß der W e l t im Resultat des zweiten Weltkrieges maximal 1 7 5 Millionen Menschen fehlen). 2

In allen demographischen Quellen wurde die Bevölkerungszahl für die Jahre 1 9 4 0 und 1 9 5 0 errechnet.

Da

zuverlässiges Zahlenmaterial

über

die Bevölkerungsstärke

im

letzten

iCriegsjahr

S. I. B R U K

206

vor dem zweiten Weltkrieg betrug der durchschnittliche Jahreszuwachs der Weltbevölkerung gleichbleibend 1,2 Prozent, das heißt, die Bevölkerung der Erde vermehrte sich jährlich um 25 Millionen Menschen. Für die letzten 25 Jahre beträgt die Zuwachsrate 1,9 Prozent, das sind 58 Millionen Menschen, und für die letzten 10 Jahre sind es mehr als 67 Millionen Menschen. Die genannten Zahlen zeugen unbestreitbar von einer rasanten Beschleunigung des zahlenmäßigen Anwachsens der Weltbevölkerung; besonders beeindruckend sind dabei die absoluten Zahlen. In den letzten 55 Jahren wuchs die Bevölkerung Lateinamerikas und Afrikas am schnellsten an, während die Bevölkerung Nordamerikas, der UdSSR und besonders Europas (ohne den europäischen Teil der Sowjetunion) am langsamsten zunahm. Aber gerade diese Tendenzen blieben auch in den letzten 25 Jahren bestehen, wenn sich auch die Proportionen etwas verschoben haben. So beginnt Afrika mit dem Tempo seines Bevölkerungswachstums Lateinamerika einzuholen. (In den vergangenen 5 Jahren hat Afrika wahrscheinlich Lateinamerika schon eingeholt und sogar überflügelt.) Sehr hoch war auch der Bevölkerungszuwachs in Asien, in Europa blieb er weiter zurück. Das ungleichmäßige Bevölkerungswachstum in verschiedenen Erdteilen wurde insbesondere durch Migrationen aus Ländern Europas nach Amerika und Australien sowie durch die Folgen zweier Weltkriege mitbedingt. Letztere wirkten sich besonders einschneidend auf die Bevölkerungsstärke der UdSSR und der übrigen europäischen Länder aus; aber die entscheidende Rolle spielt hier der ungleiche natürliche Bevölkerungszuwachs. Im Ergebnis all dessen veränderte sich der Anteil, den bestimmte Gebiete der Welt an der Gesamtbevölkerung der Erde haben, ganz entscheidend. (So verringerte sich seit 1950 der Anteil der Bevölkerung Europas von 15,8 auf 12 Prozent, der Afrikas hingegen wuchs von 8,7 auf 10,2 Prozent an). Schon für die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts war ein relativ hoher Bevölkerungszuwachs charakteristisch, der sich in fast allen Teilen der Erde feststellen läßt, außer in dem hochurbanisierten Europa, das zudem eine bedeutende Anzahl Auswanderer nach Amerika und Australien abgab. Das jährliche Bevölkerungswachstum von 1,5 Prozent in Asien, Afrika und Amerika zeugt von einer allgemein vorherrschenden hohen Geburtenzahl, wobei aber zur gleichen Zeit die Sterblichkeit durchschnittlich um das Zweifache höher lag als in der Gegenwart. Mit vollem Recht kann man von einer zweiten „demographischen Explosion" sprechen, die nach dem ersten Weltkrieg einsetzte. Diese „Explosion" führte zu einer starken Tempobeschleunigung des Bevölkerungswachstums. Besonders schnell wuchs die Bevölkerung Asiens und Afrikas, in denen das natürliche Bevölkerungswachstum in Vergleich zu den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts um das Mehrfache zunahm. Die Weltwirtschaftskrise am Beginn der dreißiger Jahre, die gespannte politische Lage in verschiedenen Teilen der Welt, die Vorbereitung des Krieges durch die reaktionären faschistischen Regime in Deutschland, Italien und Japan und danach auch der Ausbruch kriegerischer Konflikte in Äthiopien, China und Spanien mußten sich ebenfalls auf die demographischen Prozesse auswirken. Der mittlere jährliche Bevölkerungs( 1 9 4 5 ) fehlt, werden die Bevölkerungswerte vom Jahre 1 9 7 5 mit den entsprechenden Werten für das Jahr 1 9 5 0 verglichen.

Ethnodemographische Probleme

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Zuwachs ging in den dreißiger Jahren auf 1 Prozent zurück, und in einigen entwickelten kapitalistischen Ländern begannen sich deutliche Symptome einer Depopulation abzuzeichnen. Schon 1935 hatte in Frankreich die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten überschritten. Stark ging der Bevölkerungszuwachs im mächtigsten Land der kapitalistischen Welt, in den USA, zurück. Fast um ein Drittel verringerte sich das Tempo des Bevölkerungswachstums in Asien. Im Gegensatz zu dieser Tendenz wiesen die Länder Lateinamerikas ein durchschnittliches Bevölkerungswachstum auf, das sich sogar noch auf 1,8 Prozent jährlich vergrößerte. Der über die Völker der Sowjetunion hereingebrochene zweite Weltkrieg brachte ihnen auf allen Gebieten Elend und große Verluste: sehr hoch waren die Verluste an Menschenleben sowohl in den Reihen der Armee als auch unter der Zivilbevölkerung. Die Geburtenzahl sank stark ab und der Sterblichkeitsgrad nahm zu. (In vielen Ländern war während der Kriegsjahre die Geburtenzahl niedriger als die Sterblichkeit). In den vierziger Jahren fiel der durchschnittliche Zuwachs der Weltbevölkerung insgesamt auf 0,8 Prozent und in Europa sogar auf 0,3 Prozent. (Erst 1947 überschritt die Bevölkerungsstärke dieser Teile der Welt wieder den Vorkriegsstand). In der Sowjetunion, die die Hauptlast des Krieges zu tragen hatte und die größten Opfer an Menschen bringen mußte, verringerte sich die Bevölkerung in dem genannten Jahrzehnt um 15 Millionen Menschen. Der Vorkriegsstand wurde erst 1955 wieder erreicht. Das Tempo des Bevölkerungswachstums ging auch in Asien und Afrika zurück. Jedoch in den Ländern Amerikas, die nicht direkt vom Krieg berührt wurden, sowie auch in Australien begann die Bevölkerungszahl in beschleunigtem Tempo zu wachsen. Besonders trifft diese Feststellung auf Lateinamerika zu, wo der mittlere Bevölkerungszuwachs 2,4 Prozent im Jahr erreichte (eine bis dahin noch nie dagewesene Wachstumsrate!). Man muß dazu jedoch feststellen, daß ungefähr ein Drittel dieses Zuwachses von Immigranten ausgemacht wurde, die in den ersten Nachkriegs jähren aus verschiedenen Ländern Europas einströmten. Die Zunahme der Geburtenzahl in der Periode nach dem zweiten Weltkrieg, die mit der Entlassung der Männer aus den Armeen und mit der Wiederherstellung unterbrochener Familienbeziehungen zusammenhing sowie mit der Wiederbelebung der Wirtschaft verbunden war, erwies sich in verschiedenen kapitalistischen Ländern als bedeutsamer und länger anhaltend als erwartet. Sie war in jedem Falle größer als nach dem ersten Weltkrieg. Das Ansteigen der Geburtenzahl wurde von einem starken Sinken der Sterblichkeit, besonders der Kindersterblichkeit, begleitet. Das resultierte aus den Erfolgen in der Medizin, vor allem durch das Erscheinen der Antibiotika. All das führte zu einem bedeutsamen Bevölkerungszuwachs in Europa, genau so wie in den entwickelten kapitalistischen Ländern in anderen Teilen der Welt. Seit Mitte, in einigen Ländern sogar seit Beginn der sechziger Jahre wandelte sich diese allgemeine Tendenz in der Mehrzahl der entwickelten L ä n d e r e s setzte ein Rückgang der Geburtenzahl ein, der die sinkende Sterblichkeitsrate überholte und zu einer allmählichen Verlangsamung des Tempos des natürlichen Bevölkerungszuwachses führte. Dieser Prozeß setzt sich bis zur Gegenwart fort. Anders gestaltete sich die demographische Situation in den Entwicklungsländern, die

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sich nach und nach aus der kolonialen und halbkolonialen Abhängigkeit befreiten. D i e Tempobeschleunigung des Bevölkerungswachstums in diesen Ländern war in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem durch ein ganz wesentliches Sinken der Sterblichkeit, unter Beibehaltung einer hohen Geburtenzahl, gekennzeichnet. In einigen Ländern wuchs die Geburtenzahl sogar dank der Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung an. D i e sinkende Sterblichkeit hing vor allem mit dem Rückgang der Sterblichkeit im Kindes- und Jugendalter infolge der Entwicklung des Geburtshilfewesens und der Durchsetzung elementarer Grundsätze des Gesundheitsschutzes und der Hygiene als auch mit der sinkenden Sterblichkeit der alten Menschen zusammen. D i e Verbesserung allgemeiner sanitär-hygienischer Bedingungen und energische Maßnahmen im Kampf gegen Seuchen und gegen gefährliche Infektionskrankheiten, die in vielen Ländern mit Hilfe internationaler Organisationen durchgeführt wurden, führten in kurzer Zeit zu einer Verringerung des allgemeinen Sterblichkeitskoeffizienten um das Zwei- und Mehrfache. In Verbindung damit wird der jährliche natürliche Zuwachs in den Entwicklungsländern im Durchschnitt gegenwärtig 2,2 Prozent betragen. D a s bisher Festgestellte bedeutet nicht, daß die Entwicklungsländer (vielleicht mit Ausnahme Lateinamerikas) den hauptsächlichsten demographischen Merkmalen nach schon mit den industriell entwickelten Staaten zu vergleichen wären. So besteht vor allem noch ein großer Unterschied in der Lebenserwartung (der Anteil von Personen im Alter von 60 Jahren und älter ist in den Entwicklungsländern um das 1,5- bis 2fache niedriger als in den entwickelten Ländern), in der allgemeinen Sterblichkeit (in den Entwicklungsländern insgesamt ca. 15, in den übrigen Ländern 9 Sterbefälle auf 1 000 Menschen jährlich) und besonders in der Kindersterblichkeit (durch letztere wird in der Hauptsache die relativ hohe allgemeine Sterblichkeit in den Entwicklungsländern bestimmt). Das Verhältnis der Kindersterblichkeit (bis zum 1. Lebensjahr) beträgt gegenwärtig in der Welt insgesamt ca. 80 Sterbefälle auf 1 000 Neugeborene (in den Entwicklungsländern im Durchschnitt hingegen ca. 100 Sterbefälle auf 1 000 Neugeborene; in den übrigen Teilen der Welt ca. 25 Sterbefälle auf 1 0 0 0 Geburten). In einer Reihe von Ländern Afrikas sterben von 1 000 Säuglingen 150 bis 200. Man kann für den Zeitraum vieler Jahre eine weltweite relative Stabilisierung des durchschnittlichen Wertes der Geburtenzahl konstatieren. E r verringerte sich nur in Nordamerika, in Europa und in der Sowjetunion. Erst in den zurückliegenden 5 Jahren begann sich die Geburtenzahl schließlich auch in Asien und Lateinamerika zu verringern. Dafür blieb jedoch die Sterblichkeitsquote in den entwickelten Ländern unverändert, während sie sich in den beiden jüngstvergangenen Jahrzehnten um das Anderthalbfache in allen anderen Gebieten der Welt verringerte. Diese Erscheinung führte zu einem gewissen Anstieg des relativen Bevölkerungszuwachses von durchschnittlich 1,6 jährlich in den Jahren 1953 bis 1957 auf 2 Prozent in den Jahren 1965 bis 1973. Erst in den letzten Jahren ging der Bevölkerungszuwachs auf 1,8 Prozent zurück. In der gleichen Zeit vertiefte sich die Diskrepanz zwischen den demographischen Werten der entwickelten Länder und der Entwicklungsländer, und es erhöhte sich der Anteil der Entwicklungsländer am allgemeinen Bevölkerungszuwachs relativ stark. So entfielen 1975 von der 70-Millionen-Bevölkerungszunahme allein 43 Millionen auf Asien (ohne die U d S S R ) , 12 Millionen auf Afrika, 8 Millionen auf Lateinamerika. Auf alle übrigen Gebiete der E r d e ent-

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fielen nur 7 Millionen Menschen. Ihr Anteil am Gesamtzuwachs verringerte sich von 20 Prozent um die Mitte der fünfziger Jahre auf 10 Prozent in der Gegenwart. Somit kann man von einer völlig entgegengesetzten Tendenz in der Bevölkerungsdynamik der entwickelten Länder sprechen. D a s Niveau von Geburtenzahl und Sterblichkeit wie auch ihre Wechselbeziehung in den Entwicklungsländern finden ihren Ausdruck in einer regional ziemlich großen Variabilität. In den letzten Jahren war die Geburtenrate in Afrika am höchsten, ca. 47 Promille, jedoch läßt sich doch auch hier die höchste Sterblichkeitsrate feststellen, nämlich 19 Promille. In Asien und Lateinamerika ist die Höhe der Geburtenzahl ungefähr gleich, jedoch ist die durchschnittliche Sterblichkeitsrate in Asien fast um das l,5fache höher als in Lateinamerika, wenn auch nicht so hoch wie in Afrika. Im Endergebnis sind die Werte des natürlichen Zuwachses in Afrika und Lateinamerika am höchsten. Asien hat insgesamt eine etwas niedrigere Zuwachsrate. Trotz der allgemeinen Verringerung des natürlichen Bevölkerungszuwachses in den entwickelten kapitalistischen Ländern sind auch hier wesentliche Schwankungen zwischen unterschiedlichen Gruppen von Ländern festzustellen. Am stärksten sank der natürliche Bevölkerungszuwachs in den Ländern West- und Nordeuropas sowie in den U S A . Zur gleichen Zeit stieg das Bevölkerungswachstum in Japan und in den I,ändern Südeuropas sogar etwas an. Was die sozialistischen Länder betrifft, so ist in der Sowjetunion die Geburtenzahl etwas höher und die Sterblichkeit niedriger als in den kapitalistischen Ländern Europas und in den USA. D a s führt im Endergebnis zu einem höheren natürlichen Bevölkerungszuwachs in der Sowjetunion. D i e übrigen sozialistischen Länder Europas zeichnen sich durch niedrige Geburtenzahl, niedrige Sterblichkeit wie auch durch ein niedriges Tempo des natürlichen Bevölkerungszuwachses aus. In der Mongolischen Volksrepublik, der Koreanischen Volksdemokratischen Republik und in der Sozialistischen Republik Vietnam hielt die hohe Geburtenzahl bei stark fallender Sterblichkeit an. Auf K u b a sichern eine hohe Geburtenzahl und eine niedrige Sterblichkeit den hohen natürlichen Bevölkerungszuwachs. Obwohl offizielle Angaben aus China fehlen, schätzen ausländische Experten den natürlichen Bevölkerungszuwachs in diesem Land auf 1,4 bis 1,8 Prozent jährlich. E r ist damit niedriger als in anderen Ländern Asiens außer Japan und Israel. In Afrika gibt es kein Land, in dem der natürliche Bevölkerungszuwachs niedriger als 1,5 Prozent jährlich liegt. In Asien gibt es ebenfalls kein Land mit einem natürlichen Zuwachs von weniger als 1 Prozent. Zur gleichen Zeit weisen in Europa von 28 Ländern nur 4 Länder einen natürlichen Bevölkerungszuwachs von mehr als 1 Prozent auf. E s sind dies Albanien, Island, Rumänien und Spanien. Der höchste Zuwachs ist in Kenia, Libyen, Honduras (mehr als 3,5 Prozent), der geringste (weniger als 0,3 Prozent) in der B R D , D D R , Österreich, Finnland, Großbritannien, Belgien und einigen anderen Ländern Europas zu verzeichnen, wobei in der B R D und einigen anderen Ländern Europas in den letzten Jahren die Sterblichkeit höher lag als die Geburtenzahl. Eine Analyse demographischer Prozesse zeigt, daß die Veränderungen in der natürlichen Bevölkerungsbewegung in der Gegenwart insbesondere von der Dynamik der Geburtenzahl abhängen, da die Reserven zur Senkung der Sterblichkeit besonders in den entwickelten Ländern schon relativ erschöpft sind. (4

K u l t u r u. E t h n o s

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Die Sterblichkeit in diesem oder jenem Land ist eng verbunden mit dem sozialökonomischen Entwicklungsniveau, mit dem Wohlstand der Bevölkerung und einem gut ausgebauten Gesundheitswesen. Der Prozeß sinkender Sterblichkeit vollzog sich nicht zufällig zuerst in Europa, das in seiner ökonomischen Entwicklung andere Teile der Welt überflügelte. Nicht zufällig ist auch, daß sich die Sterblichkeit in der U d S S R , wo der Gesunderhaltung des Menschen ungewöhnlich große Aufmerksamkeit geschenkt wird, im Vergleich zum Vorkriegsstand um die Hälfte verringerte. Jedoch muß man im Blick behalten, daß mit der Verringerung der Sterblichkeit langsam der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung anwächst. Unter ihnen ist die Sterblichkeit am höchsten. Im Ergebnis solcher Wandlungen in der Altersstruktur der Bevölkerung nimmt mit der Zeit die allgemeine Sterblichkeit etwas zu (das heißt zahlenmäßig, in bezug auf die Gesamtbevölkerung). Komplizierter gestaltet sich das Problem der Geburtenzahl. Die demographischen Prozesse werden einerseits von einem ganzen Komplex sozialökonomischer Faktoren und andererseits von der ihnen eigentümlichen bekannten Selbständigkeit und ihrem großen Beharrungsvermögen beeinflußt. D a s demographische Verhalten in bezug auf die Geburtenzahl ist sehr konservativ, und in vielem ist es abhängig von den unter den Völkern existierenden Traditionen und Einstellungen. Selbst diese Traditionen erhalten oftmals ihre Kraft auch dann noch, wenn sich die sozial-ökonomischen Bedingungen, die sie hervorgebracht haben, grundlegend gewandelt haben. Deshalb haben in letzter Zeit Wissenschaftler, die die Probleme der Dynamik der Geburtenzahl der Bevölkerung erforschen, besondere Aufmerksamkeit der Untersuchung ethnischer Besonderheiten der Völker, ihren Traditionen, ihrer Lebensweise, den Sitten und Bräuchen wie auch der Analyse der sozialpsychologischen Aspekte geschenkt, ebenso wie den Ansichten, Haltungen und Vorurteilen. Unter den Ursachen, die einen Rückgang der Geburtenzahl hervorrufen, muß in erster Linie die Urbanisierung genannt werden, die breitere Einbeziehung der Frauen in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, der Anstieg ihres Bildungs- und Kulturniveaus, die Abnahme der Kindersterblichkeit, die Erhöhung des Heiratsalters u. a. Was die Entwicklungsländer betrifft, so sind in ihnen die genannten Faktoren noch nicht ausreichend entwickelt; in bestimmtem Maße „werden sie gelöscht" durch die Traditionen des Kinderreichtums. (In den vergangenen historischen Epochen wurden diese Traditionen zur gesetzmäßigen Reaktion auf die bis dahin sehr hohe Sterblichkeit und sie widerspiegeln so das instinktive Bestreben des Volkes, „zu überleben"). In vielen Agrarländern, in denen die Kinder schon in jungen Jahren zur Arbeit herangezogen werden, wird eine große Kinderzahl immer noch als einer der Faktoren angesehen, der den Wohlstand der Familie sichert. Die Traditionen des Kinderreichtums sind in bedeutendem Maße auch mit einigen in den Entwicklungsländern verbreiteten Religionen verbunden. Sie waren auch die Widerspiegelung der sozial-erniedrigenden Lage der Frau, der bis in die jüngste Vergangenheit hinein die Rolle einer Haussklavin zugewiesen wurde, die dem Mann zu dienen, den Haushalt zu führen und Kinder zu gebären hat. Auf die Höhe der Geburtenzahl hatten die in diesen Ländern überall verbreiteten Traditionen der frühen Eheschließungen großen Einfluß. D i e sozialökonomischen Umgestaltungen konnten vorläufig noch nicht entscheidend auf die in den Entwicklungsländern

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herrschenden Traditionen einwirken, und trotz der angenommenen Zahlenwerte ist die Geburtenzahl hier nach wie vor noch hoch.

II D i e sich stark verändernden Parameter der Reproduktion der Erdbevölkerung hatten großen Einfluß auf alle demographischen Indizien, und es vertieften sich die Unterschiede zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern weiter. In den vergangenen Jahrzehnten setzte eine zunehmende Nivellierung im Hinblick auf den Zeitpunkt der Eheschließung ein. In Gebieten der E r d e mit bisher vorherrschenden früh geschlossenen Ehen werden jetzt Braut und Bräutigam erwachsener, in E r d regionen mit bisher überwiegend spät geschlossenen Ehen sind die Eheschließenden jetzt jünger. D i e sozial-kulturellen Umgestaltungen, die Entwicklung des Bildungswesens, besonders dessen Zugänglichwerden für Frauen, die zunehmende Durchsetzung eines Familienmodells, das sich nur aus Eltern und Kindern zusammensetzt (das erfordert in der Regel ein eigenes Verfügen über Existenzmittel), führten dazu, daß in den Ländern mit traditionell frühzeitiger Eheschließung nun der Eintritt in die Ehe in reiferem Alter erfolgt. In Städten, wo alle die bereits genannten Faktoren besonders stark ausgeprägt sind, setzt die Eheschließung in der Regel später ein als in ländlichen Gebieten. Der Anteil der Personen, die keine Ehe eingehen, variiert in den verschiedenen Ländern zwischen I bis 2 Prozent und 10 bis 12 Prozent. E r kann sogar 15 bis 20 Prozent und mehr betragen. Besonders bemerkenswert ist hierbei wieder der Unterschied zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern. So waren in Europa zu Anfang der siebziger Jahre in acht Ländern mehr als 10 Prozent der Frauen im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ledig. In Irland waren es sogar 21 Prozent, in der Schweiz 17 Prozent und in Norwegen 16 Prozent. Für die Männer im gleichen Alter lag der entsprechende Anteil Unverheirateter etwas niedriger (es überwiegt also die Zahl lediger Frauen gegenüber der lediger Männer), jedoch ist er trotzdem relativ hoch. In Asien und Afrika ist der Anteil unverheirateter Männer und Frauen bedeutend geringer (2 bis 4 Prozent), wobei in einigen Ländern mit starkem Überwiegen lediger Männer der Prozentsatz unverheirateter Frauen sogar auf 0,5 bis 0,7 absinkt (Indien und Pakistan; der Prozentsatz unverheirateter Männer beträgt hier 3,2 bzw. 2,2). In den entwickelten Ländern geht die Zahl der Eheschließungen zurück, wobei ein bedeutendes zahlenmäßiges Übergewicht lediger Frauen zu konstatieren ist. In diesen Ländern wurde die kontinuierlich ansteigende Zahl von Ehescheidungen zu einem großen sozialen Problem. (In einigen Ländern werden 30 bis 50 Prozent aller geschlossenen Ehen wieder geschieden). Auch die Familienstruktur ist in den einzelnen Ländern stark unterschieden. In den entwickelten Ländern überwiegt die aus Mann und Frau mit ihren Kindern bestehende Familie, die Kleinfamilie. In den Entwicklungsländern hingegen ist die patriarchalische Familie (Eltern, ihre Söhne und deren Frauen sowie die Enkel) vorherrschend. Die Durchschnittsgröße einer Familie ist in den europäischen Ländern am geringsten. D i e Familien zeichnen sich hier durch eine niedrige Geburtenzahl aus und sind zu einem 14*

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großen Teil Einkindfamilien. 3 - In Großbritannien, Ungarn, Norwegen, Frankreich und in der CSSR beträgt die Durchschnittsgröße einer Familie 3,1 Personen, in der B R D 2,9 und in Schweden nur 2,8 Personen. In einigen Entwicklungsländern liegt die Durchschnittsgröße einer Familie um das Doppelte höher: auf den Philippinen 5,6 Personen, in Kostarika 5,7, in Honduras 5,6 Personen usw. In der U d S S R beträgt die Durchschnittsgröße einer Familie 3,3 Personen, wobei diese Zahl in den Sowjetrepubliken Mittelasiens und in Aserbaidshan bedeutend höher, in den übrigen Gebieten der Sowjetunion hingegen niedriger liegt. Zu bemerken ist dazu auch, daß sich dieser Unterschied in den vergangenen 15 Jahren noch verstärkt hat. E s lassen sich zwei Haupttypen der Altersstruktur der Bevölkerung herauskristallisieren. D i e Mehrzahl der Entwicklungsländer (mit großer Geburtenzahl, hoher Sterblichkeit, geringer durchschnittlicher Lebenserwartung) gehört zum ersten Typ, der sich durch einen sehr hohen Prozentsatz der Bevölkerung im Kindesalter und einen kleineren Anteil alter Menschen auszeichnet. Die Länder Europas, Nordamerika, Japan, Australien und Neu-Seeland stellen den zweiten Typ dar, mit einer niedrigen Geburtenzahl, mit niedriger Sterblichkeit und einer langen Lebenserwartung. Für diese Länder wiederum sind ein kleiner Anteil Kinder sowie ein hoher Prozentsatz alter Menschen an der Gesamtbevölkerung charakteristisch. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen von Ländern wird noch dadurch unterstrichen, daß der Anteil der produktiven Altersstufen an der Gesamtbevölkerung in den Entwicklungsländern, wo also mehr Kinder als alte Menschen leben, abnimmt. In bestimmten Ländern ist dieser Prozentsatz sogar stark fallend. Im ganzen gesehen wird fast die gesamte Periode nach dem zweiten Weltkrieg durch eine Verjüngung der Gesellschaft in der ersten Ländergruppe und durch seine Veralterung der Gesellschaft in der zweiten Gruppe von Ländern charakterisiert. Der Anteil von Kindern bis 15 Jahre in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas überschreitet gewöhnlich 40 Prozent der Bevölkerung. In einer Reihe von Entwicklungsländern macht dieser Anteil fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. In den entwickelten Ländern hingegen bewegt sich der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung zwischen einem Fünftel und einem Viertel. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Unterschied des im Kindesalter befindlichen Bevölkerungsanteils zwischen den Entwicklungsländern und entwickelten Ländern weiter ausgeprägt. D a s zeigt sich insbesondere in der anhaltend hohen Geburtenzahl, bei einem starken Rückgang der Kindersterblichkeit in den Ländern der ersten Gruppe und dem Rückgang der Geburtenzahl und der Verlängerung der Lebenserwartung in den Ländern der zweiten Gruppe. Was die alten Menschen (älter als 60 Jahre) betrifft, so ist ihr hoher Anteil kennzeichnend für Länder mit einem niedrigen Prozentsatz an Kindern. Den höchsten Anteil älterer Leute (18 bis 22 Prozent) an der Gesamtbevölkerung weisen die D D R , Österreich, Schweden, England, Frankreich, Belgien sowie andere Länder Europas auf. Der niedrigste Prozentsatz alter Menschen findet sich in den Ländern Afrikas, Asiens und 3

D e r Anteil der „Familien", die nur aus einem Menschen bestehen, macht bis zu einem Fünftel aller Familien Schwedens, der B R D , der D D R , Frankreichs und einiger anderer Länder Europas aus.

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Lateinamerikas vor. In einigen dieser Länder machen die Menschen im höheren Lebensalter insgesamt nur 3 bis 5 Prozent der Bevölkerung aus. D i e Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung führt im Endergebnis in den beiden Gruppen von Ländern zu einer Verringerung der produktiven Altersgruppe. Während sich in entwickelten Ländern ein Zuwachs des spezifischen Anteils der alten Menschen ergibt, kommt es andererseits in den Entwicklungsländern zu einem schnelleren Anwachsen des Anteils der Kinder und auch zu einer langsamen Zunahme des Anteils von Personen im höheren Lebensalter. Alle diese Vorgänge rufen eine Reihe von ökonomischen, sozialen und medizinischen Problemen hervor. D i e sogenannte „demographische Belastung", d. h. das Verhältnis zwischen der zahlenmäßigen Stärke der Kinder und alten Menschen und der quantitativen Größe der Personen im arbeitsfähigen Alter, das sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich manifestiert, wird im allgemeinen fast überall größer. D i e Geschlechterstruktur der Bevölkerung wurde in großem Maße durch die Kriege beeinflußt. D i e Verluste an Menschen waren in den Kriegen unter den Männern immer am höchsten. Bei der Herausbildung regionaler Disproportionen in der Geschlechterstruktur spielen Migrationen eine wichtige Rolle, in denen in der Regel die Zahl der Männer überwiegt. In der Nachkriegsperiode hatte vor allem der Altersunterschied in der Lebenserwartung bei den Männern und Frauen einen stärkeren Einfluß auf die G e schlechterstruktur. Wie auch bei anderen demographischen Merkmalen, so unterscheidet sich auch die Geschlechterstruktur in den Entwicklungsländern und in den entwickelten Ländern sehr stark voneinander. Sehr hoch ist die Zahl der Männer in Asien. Diese besonders starke Disproportion unter den Geschlechtern läßt sich vornehmlich in Südasien (30 Millionen mehr Männer) und in China (20 Millionen mehr Männer) feststellen. Hinzugefügt sei, daß nur in diesen Ländern die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen niedriger liegt als die der Männer. In der zweiten Gruppe (entwickelte Länder) wird die Zahl der Männer von der der Frauen überflügelt. Das hängt damit zusammen, daß der Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung zugunsten der Frauen besonders groß ist. Bei Frauen ist hier eine fast 5 Jahre längere Lebenserwartung anzutreffen. Unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution wächst der Urbanisierungsgrad der Gesellschaft beständig an. Im Jahre 1940 lebten 25 Prozent der B e völkerung in Städten, 1950 waren es 29 und in der Folgezeit wurden es ca. 4 0 Prozent. Der Anteil der Stadtbevölkerung vergrößerte sich im Jahresdurchschnitt um ein halbes Prozent. Es ist natürlich, daß sich vor allem die Entwicklungsländer, besonders Asiens und Afrikas, in denen der Anteil städtischer Bevölkerung noch sehr gering ist, durch ein relativ hohes Tempo der Urbanisierung auszeichnen. In einer Reihe von Entwicklungsländern übertraf der Zustrom der Landbevölkerung in die Städte (besonders in die Großstädte, in erster Linie in die Hauptstädte) den Bedarf an Arbeitskräften. D a s wiederum läßt das Heer der Arbeitslosen und der nur gelegentlich Beschäftigten anwachsen. Dennoch ist der Urbanisierungsgrad in Asien und Afrika um vieles geringer als in anderen Kontinenten. In Europa nimmt der Anteil städtischer Bevölkerung nicht wesentlich zu, in einigen Ländern verringert er sich sogar.

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Viele demographische Faktoren beeinflussen die Wandlungen in der ethnischen Struktur der Bevölkerung. Insbesondere veränderten Migrationsprozesse in der Nachkriegszeit ganz entscheidend die ethnische Zusammensetzung in einigen Gebieten der Erde. Einen noch größeren Einfluß auf die Dynamik der ethnischen Struktur übte das ungleichmäßige Tempo des natürlichen Bevölkerungszuwachses bei den einzelnen Völkern der Welt aus. Große Einwirkungen auf die ethnische Struktur der Weltbevölkerung gingen von sozialökonomischen Faktoren wie auch von vielen politischen Ereignissen der Nachkriegsperiode aus. Wir besitzen keine Möglichkeit, die Veränderungen der ethnischen Struktur der Bevölkerung für die gesamte Nachkriegsperiode nach 1945 zu analysieren, weil bis zu Beginn der sechziger Jahre im allgemeinen irgendwelche umfangreichere Zahlenangaben über die zahlenmäßige Stärke und die Verbreitung der Völker der Welt fehlen. Die vollständigsten Angaben (für 1961) wurden im „Atlas der Völker der Welt" (Atlas narodov mira) publiziert. Im Laufe von 14 Jahren (von 1961 bis 1975) vermehrte sich die Weltbevölkerung fast um 1 Milliarde Menschen, das heißt um ein Drittel. Jedoch war das Bevölkerungswachstum in verschiedenen Gebieten der Welt recht ungleichmäßig: die zahlenmäßige Zusammensetzung einzelner Völker nahm um mehr als das Anderthalb-^ fache, ja sogar um das Doppelte zu. Andere Völker wiederum vergrößerten sich nur sehr unbedeutend. Innerhalb dieses Zeitraumes erhöhten von 257 großen Völkern mit mehr als 1 Million Menschen je Volk 102 Völker (die hauptsächlich in Entwicklungsländern leben) ihre zahlenmäßige Stärke um mehr als das Anderthalbfache und weitere 60 Völker um mehr als ein Dittel. In der gleichen Zeit nahm die Personenzahl der europäischen Völker um weniger als 15 Prozent zu, die vieler Völker Nord- und Westeuropas nur um 2 bis 7 Prozent.

III Nach den Prognosen der Demographen der UNO, die auf Angaben aus der Mitte und dem Ende der sechziger Jahre basieren, wird sich das Wachstum der Bevölkerung im kommenden Jahrzehnt im wesentlichen nicht verändern. Die in allen Ländern sinkende Geburtenzahl wird durch das ungefähr gleiche Sinken der Sterblichkeit in den Entwicklungsländern kompensiert. Von den Experten wurde errechnet, daß die „Spitze" des Bevölkerungswachstums schon erreicht wurde bzw. in den kommenden Jahren erreicht sein w i r d : in Europa 1950 bis 1955, in der UdSSR, in Nordamerika und Australien 1955 bis i960, in Ostasien in den Jahren 1960 bis 1965, im übrigen Asien 1970 bis 1975, in Lateinamerika 1975 bis 1980, in Afrika 1985 bis 1990. Man nimmt an, daß im laufenden Jahrzehnt das Wachstum der Erdbevölkerung am intensivsten sein wird. Laut diesen Einschätzungen beginnt sich das Tempo des Bevölkerungswachstums ab 1985 zu verlangsamen. Der natürliche Bevölkerungszuwachs wird sich am Ende dieses Jahrhunderts von 2 auf 1,7 Prozent verringern. Es ist anzunehmen, daß die Geburtenzahl in der gesamten Welt von 34 auf 25 Prozent absinken wird. Gleichzeitig wird die Sterblichkeit von 14 auf 8 Prozent zurückgehen. Die wahrscheinliche Bevölkerungszahl der Erde wird im Jahre 2000 zwischen 5,5 und 7 Milliarden liegen. Ein Großteil der Experten rechnet mit einer sehr wahrscheinlichen Zahl von 6,5 Milliarden Menschen. Dabei

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vollzieht sich ein gewaltiger Wandel des Anteils der Erdteile an der Gesamtbevölkerung. Es wird angenommen, daß sich der Anteil Asiens an der Weltbevölkerung von 56,8 auf 58,2 Prozent, Afrikas von 10,2 auf 12,6 und Lateinamerikas von 8,1 auf 10 Prozent vergrößern wird. In gleicher Zeit wird sich der Anteil Europas von 12 auf 8,8 und Nordamerikas von 6 auf 5,1 Prozent verringern. Die neuesten statistischen Angaben erlauben es, diese Berechnungen zu korrigieren. Die Anfang der siebziger Jahre einsetzende Tendenz eines sinkenden natürlichen Bevölkerungswachstums in fast allen Gebieten der Erde wird sich in der Folgezeit noch weiter verstärken, wenn man die sinkenden Geburtenzahlen in Asien und Lateinamerika berücksichtigt. Man kann schon jetzt feststellen, daß der Höhepunkt des Bevölkerungswachstums der Erde bereits Ende der sechziger Jahre erreicht war. Was Afrika- anbetrifft, so ist das der einzige Kontinent, in dem sich das Tempo des Bevölkerungswachtums noch weiterhin beschleunigen wird. In nicht mehr als 5 bis 10 Jahren wird sich dann auch dort die gleiche Erscheinung wie in der übrigen Welt vollziehen. Die Faktoren, die auf das Sinken des natürlichen Bevölkerungszuwachses einwirken, werden sich weiter entwickeln und man kann konstatieren, daß am Ende unseres Jahrhunderts der Bevölkerungszuwachs maximal nicht mehr als 1,5 Prozent jährlich betragen wird. Wenn man diese unserer Meinung nach maximale Größe des jährlichen natürlichen Bevölkerungswachstums von 1,8 Prozent für das laufende Jahrzehnt, 1,7 Prozent für die achtziger Jahre und 1,6 Prozent für die neunziger Jahre (mit einer Verringerung zu Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Prozent) zugrunde legt, so wird die Bevölkerungszahl der Erde im Jahre 1980 4,3 Milliarden, 1990 5,1 Milliarden und im Jahre 2000 etwas weniger als 6 Milliarden Menschen betragen. Nach den Prognosen einiger sowjetischer Wissenschaftler wird es im 21. Jahrhundert zu einer starken Verringerung des Tempos des Bevölkerungswachstums kommen. Nach den Berechnungen des bekannten sowjetischen Wissenschaftlers Urlanis wird Mitte des 21. Jahrhunderts die Gesamtzahl der Erdbevölkerung ungefähr 9 Milliarden und in der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts 11 bis 12 Milliarden Menschen betragen. Auf dieser Stufe kann der Stillstand des Bevölkerungswachstums oder doch nur ein unbedeutender Zuwachs erwartet werden. 4

IV Im Jahr 1798 begründete der englische reaktionäre Priester T. R. Malthus in seinem Buch „Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz" die Theorie einer absoluten Überbevölkerung, nach der die Bevölkerung in geometrischer Progression, die Existenzmittel aber nur in arithmetischer Progression zunehmen würden. „ . . . Wenn der Bevölkerungsvermehrung kein Hindernis in den Weg gelegt wird, so wird sie sich alle 25 Jahre verdoppeln und in geometrischer Progression zunehmen". Im Endresultat tritt eine „absolute Überbevölkerung" ein. 5 '' Vgl.

B.

Urlanis:

„Das

Bevölkerungswachstum

der

Erde",

in:

Marksistsko-leninskaja

narodonaselenija, Moskau 1 9 7 4 , S. 2 3 7 f. - T. R. Malthus, Opyt o zakone narodonaselenija, Teil I, St. Petersburg 1 8 6 8 , S. 99.

teorija

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Indem sie sich auf diese erdachte Gesetzmäßigkeit stützen, versuchen die Malthusianer den werktätigen Schichten einzureden, daß an ihrer Armut und ihrem Elend die unabänderlichen Naturgesetze schuld sind, und sie selbst müßten daran interessiert sein, auf frühe Eheschließungen und die Zeugung von Nachkommen zu verzichten. Der Gesamtverlauf der sozialökonomischen Entwicklung der Menschheit bewies die wissenschaftlich völlige Unhaltbarkeit dieser inhumanen Theorie, nach der Seuchen, Kriege und andere Katastrophen, die großen Menschenmassen das Leben kosten, angeblich die Übereinstimmung zwischen der zahlenmäßigen Stärke der Menschen und den vorhandenen Existenzmitteln wieder herstellen würden. Der Malthusianismus wurde von den Klassikern des Marxismus-Leninismus entlarvt, indem sie aufzeigten, daß die Bevölkerungsentwicklung nicht nur von Naturgesetzen abhängt, sondern letztlich von den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt wird. Die neue demographische Situation, die nach dem zweiten Weltkrieg entstand, wurde von den Ideologen der Bourgeoisie zu neuen Attacken gegen den Marxismus, zur Rechtfertigung und Verteidigung des Kapitalismus ausgenutzt. Gegenwärtig kann man die bürgerlichen Wissenschaftler in zwei Gruppen einteilen: in die äußerst reaktionären Neomalthusianer und die sogenannten Liberalen. Sie und andere versuchen die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu verteidigen und zu rechtfertigen, während sie die Bedürfnisse der heranwachsenden Generation nicht befriedigen können. Während die ersteren Kriege als Mittel für die Lösung sozialer Probleme, die mit dem Bevölkerungswachstum verbunden sind, über die Maßen loben, suchen die Liberalen nach anderen Mitteln zur Erhaltung des Kapitalismus. Die Neomalthusianer propagieren eine Doktrin, deren Wesen in folgendem besteht: mit Hilfe der Geburtenkontrolle können alle grundlegenden sozialökonomischen Widersprüche des Kapitalismus überwunden werden. Ihrer Meinung nach ist erstens der Prozeß der Geburtenzahl ein rein biologischer Prozeß und nicht von sozialen Faktoren zu beeinflussen und zweitens dominiert die Reproduktion der Bevölkerung über die ökonomischen und sozialen Prozesse. Die Neomalthusianer behaupten auch, daß die Ressourcen der Erde begrenzt seien, die Fruchtbarkeit der Menschen hingegen unbegrenzt wäre. Sie lobpreisen die Vergangenheit, als die Fähigkeiten zur Vermehrung des menschlichen Geschlechts durch eine ganze Reihe nivellierender Faktoren kompensiert wurden: durch Hungersnöte, Epidemien und Kriege. Der bekannte amerikanische Demograph, der Neomalthusianer W. S. Thompson schreibt: „Das einzige zuverlässige Mittel, den Bevölkerungsdruck sowie die Spannungen und Unruhen, die er hervorruft, zu dämpfen, ist die Bevölkerungskontrolle . . . Eine Alternative zu einer solchen Kontrolle kann die Wiederherstellung der hohen Norm der Sterblichkeit - durch Hungersnöte, Elend und Armut, wie auch durch Krankheiten und möglicherweise auch durch einen heißen Krieg in nicht allzuferner Zukunft - sein".6 Ein anderer überzeugter Malthusianer, der französische Soziologe G. Bouthoul schreibt: „Es ist unmöglich, Harmonie unter den Nationen zu erreichen, wenn ihre zunehmende biologische Expansion - die Hauptquelle aller Aggressivität - nicht ausgeglichen wird . . . es ist nicht länger möglich, ernsthaft über Abrüstung zu sprechen, ohne eine demoW. S. Thompson, Population and Progress in the Far Hast, Chicago 1959, S. 399.

Ethnodemographische Probleme

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graphische Abrüstung." 7 Der frühere Ideologe des faschistischen Deutschlands, K. H. Pfeffer, propagiert nicht nur malthusianische, sondern auch rassistische Ideen. In einer seiner Arbeiten 8 vertritt er eine Theorie, nach der die Europäer nicht zulassen dürften, daß die Eingeborenen der Kolonialländer Bildung erhalten können, da sie dadurch ihre menschliche Würde empfänden. Er spricht davon, daß der soziale Fortschritt und die Entwicklung der Medizin den Entwicklungsländern nur Schaden zugefügt hätten: sinkende Sterblichkeit, keinen Rückgang der Geburtenzahl; während nur die Begrenzung der Geburtenzahl, nach Auffassung von Pfeffer, der einzig mögliche Weg einer progressiven Entwicklung für diese Länder sei. Er bedauerte, daß die grausamen und groben Mittel der Begrenzung des Bevölkerungswachstums - die jedoch „für die Gesellschaft Rettungsmittel sind" - nicht mehr angewandt werden und „daß der ganzen Welt die Gefahr droht, in der ungeordneten Masse von Eingeborenen unterzugehen". Gegenwärtig gibt es nur noch wenige Wissenschaftler, die rein biologische Positionen zur Erklärung der Wechselbeziehung von ökonomischer Entwicklung und Bevölkerungsentwicklung beziehen. Auch nur wenige unter den bürgerlichen Wissenschaftlern negieren dabei die sozialen Faktoren. Die Scheidung zwischen Malthusianern und Antimalthusianern beginnt, wenn es darum geht, die Überbevölkerung als etwas Natürliches und Unvermeidliches oder aber als durch die sozialökonomische Struktur unter verschiedenen konkret-historischen Bedingungen Hervorgerufenes anzuerkennen sowie als Ursache für die große Armut die hohe Zahl von Werktätigen oder vielmehr deren Ausbeutung verantwortlich zu machen. Die liberale Richtung in der gegenwärtigen bürgerlichen Wissenschaft vertritt der französische Soziologe und Demograph A. Sauvy. E r ist der Meinung, daß die physiologische Fruchtbarkeit (Fertilität) eine feste Größe sei. Das bedeutet, daß Veränderungen im Wachstumstempo der Bevölkerung das Ergebnis von den Veränderungen sein können, denen die soziale Fruchtbarkeit unterworfen ist.9 Durch sozialökonomische Ursachen bedingt, erklärt er den Rückgang der Geburtenzahl in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Nach Meinung von Sauvy trägt die Überbevölkerung relativen Charakter. „Wenn es viele arme Länder mit großer Überbevölkerung gibt, mit einer Bevölkerung, die unterernährt ist, die nur ungenügend beschäftigt werden kann, die verarmt ist, so erklärt sich daraus, daß die Ressourcen und die Möglichkeiten der heutigen Technik schlecht ausgenutzt werden . . . Man meint, es gäbe übermäßig viele Menschen, also wird die Notwendigkeit hervorgehoben, seine Zuflucht in demographischen Mitteln zu suchen: Emigration, Schwangerschaftsverhütung (und einige könnten sogar auf den Gedanken kommen: würden nicht Epidemien die Bevölkerung stärker dezimieren?), obgleich sich bei einer Konzentration der Aufmerksamkeit auf die technische Rückständigkeit Vorschläge für eine völlig andere Ordnung ergeben: die Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, Bildung und Aufklärung usw.".10 7 8

10

G. Bouthoul, La Sur population, Paris 1964, S. 5. K. H. Pfeffer, Die Sozialen Systeme der Welt, Düsseldorf 1961, S. 248, 289. A. Sauvy, Malthus et les deux Marx, Paris 1963, S. 81. Ebenda, S. 121 f.

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S. I. BRUK

Trotz dieser im Grunde richtigen Ideen dramatisiert Sauvy ungerechtfertigt die Probleme der Bevölkerungsentwicklung und bezeichnet unsere Zeit als die „Epoche der demographischen Revolution". Er schlägt den führenden Ländern vor, ihre Streitigkeiten zu begraben und sich zusammenzuschließen, um „mit dem Problem der Geburtenbegrenzung fertig zu werden". Die sowjetischen marxistischen Wissenschaftler haben großen Anteil an der Entlarvung des Malthusianismus. Seine Menschenfeindlichkeit, sein tief reaktionärer Charakter, wurde sehr überzeugend in den Arbeiten sowjetischer Ökonomen, Soziologen, Demographen und Ethnographen aufgezeigt. Dies führte zu einer zunehmenden Isolierung, in die schließlich die eifrigsten Malthusianer gerieten. Die Marxisten betrachten die Bevölkerung als eine sozial-biologische Kategorie unter dem Primat des Sozialen: demographische Prozesse hängen in erster Linie vom ökonomischen System und der sozialen Struktur der Gesellschaft ab, deshalb kann eine solche Maßnahme wie die Geburtenkontrolle nur eine Hilfsfunktion im Hinblick auf gründliche soziale und ökonomische Veränderungen in den Entwicklungsländern haben. Tatsächlich erschweren in diesen Ländern die noch erhalten gebliebenen Reste der vorkapitalistischen Agrarökonomie, das niedrige Nationaleinkommen, die Massenarbeitslosigkeit, das Analphabetentum und das schnelle Wachstum der Bevölkerung die soziale und ökonomische Entwicklung. Nicht ohne Grund werden in mehr als dreißig dieser Länder Programme zur Geburtenkontrolle durchgeführt. Jedoch ist eine gründliche Lösung dieser Frage mit tiefgehenden sozial-ökonomischen Umwandlungen, mit der Befreiung der nationalen Wirtschaft von ausländischer Abhängigkeit, mit der industriellen Entwicklung und dem Wachstum der Städte, der Entwicklung von Volksbildung und Wissenschaft, mit Agrarreformen, mit der Liquidierung archaischer Überbleibsel in der Lebensweise u. a. verbunden. Die natürlichen Ressourcen der Erde unter den Bedingungen ihrer rationellen Nutzung sind in der Lage, eine bedeutend höhere Anzahl Menschen zu ernähren als die in der Gegenwart. Es ist interessant festzustellen, daß die Mehrzahl der Vertreter von Entwicklungsländern auf der 1974 in Bukarest stattgefundenen Weltbevölkerungs-Konferenz unterstrichen hat, daß die Lösung der mit der Bevölkerungsentwicklung verbundenen Probleme die wirtschaftliche Entwicklung einschließen muß und nicht nur in den Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung bestehen kann. Auf die Möglichkeiten einer Stabilisierung der zahlenmäßigen Stärke der Weltbevölkerung unter den Bedingungen der Herrschaft neuer gesellschaftlicher Beziehungen wies schon F. Engels hin: „Die abstrakte Möglichkeit, daß die Menschenzahl so groß wird, daß ihrer Vermehrung Schranken gesetzt werden müssen, ist ja da. Sollte aber einmal die kommunistische Gesellschaft sich genötigt sehn, die Produktion von Menschen ebenso zu regeln, wie sie die Produktion von Dingen schon geregelt hat, so wird gerade sie und allein [sie] es sein, die dies ohne Schwierigkeiten ausführt." 11 11

K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 35, Berlin 1967, S. 151.

Tibor Bodrogi

Grundzüge der Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

Die philosophischen Grundlagen der Theorien von C. Lévi-Strauss werden gewiß häufiger erörtert als seine fachwissenschaftlichen Aktivitäten, obschon auch diesbezügliche Kritiken keineswegs selten sind. Es ist der Unbewandertheit der Philosophen in der Fachwissenschaft zuzuschreiben, daß z. B. der ungarische Philosoph J. Kelemen, der sich mit dem französischen Strukturalismus befaßt und ihn in ideologischer Hinsicht negativ einschätzt, folgendes behauptet: „In den Fachwissenschaften, das heißt, bei der Darstellung eines aus dem System der Zusammenhänge herausgegriffenen Gebietes der Wirklichkeit, kann die Anwendung der Elemente der strukturalistischen Methode zum Erfolg führen." 1 Um diese Frage klarstellen zu können, müssen wir jene Arbeit von Lévi-Strauss analysieren, die nicht bloß zur Schilderung seiner Theorie und seiner Methode geeignet ist, sondern auf dem Wege eines konkreten Beispiels zu einem Ergebnis gelangt, dessen Richtigkeit oder Irrtümlichkeit den Wert des ganzen Systems bestimmt. Diese Arbeit ist - gegenüber dem allgemein gehaltenen Werk „Social Structure" 2 - die Abhandlung „Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie", die zuerst im Jahre 1945 in der Zeitschrift „Word" erschienen ist. 3 Lévi-Strauss beginnt mit der Feststellung, die Linguistik sei die höchstentwickelte, ja, sogar die einzige Gesellschaftswissenschaft^ die eine positive Methode zustande gebracht habe und die den Kern der ihrer Analyse unterzogenen Fakten kenne. Es sind vor allem die vier Grundschritte der phonologischen Methode, die von der Ethnologie methodologisch genutzt werden können. Unter den vier Grundschritten meint der Verfasser folgendes: 1. Die Phonologie schreitet von den bewußten sprachlichen Erscheinungen in Richtung der unbewußten inneren Struktur weiter; 2. die Ausdrücke behandelt sie nicht als unabhängige Entitäten, sondern betrachtet vielmehr die Verbindungen zwischen den Ausdrücken als Grundlagen ihrer Analyse; 3. sie führt den Begriff des Systems ein; 4. sie setzt sich die Entdeckung allgemeiner Gesetze zum Ziel, die sie entweder auf induktivem Wege oder durch logische Deduktion findet, und die infolgedessen einen absoluten Charakter gewinnen. 1

J. Kelemen, „Marxizmus és ,Strukturalizmus'", in: Magyar Filozófiai Szemle, XIII, 1 9 6 9 ,

4,

S. 7 0 9 - 7 1 5 . L

C. Lévi-Strauss, „Social Structure", in: Anthropology To-Day, hg. v. A . L. Kroeber, Chicago 1 9 5 3 , S. 5 2 4 - 5 5 3 ; derselbe, Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M. 1 9 6 7 , S. 2 9 9 - 3 4 6 .

:i

Ebenda, S. 4 3 - 6 7 .

220

T. BODROGI

Auf dem Gebiet der Soziologie finden wir vor allem bei den Verwandtschaftsproblemen eine Situation, die der Form nach den vom phonologischen Sprachwissenschaftler untersuchten Problemen analog ist: den Phonemen ähnlich sind auch die Verwandtschaftsbezeichnungen Bedeutungselemente, die erst mit ihrer Einstufung in das System ihre Bedeutung erhalten. Sowohl die verwandtschaftlichen als auch die phonologischen Systeme werden auf der Ebene des unbewußten Denkens geschaffen. Schließlich führt die Wiederholung der Verwandtschaftsformen, der Eheregeln und gewisser Verhaltensweisen bei bestimmten Verwandtschaftssystemen in entfernten Gebieten und bei höchst unterschiedlichen Gesellschaften zu der Vermutung, daß die beobachteten Erscheinungen vom Wirken allgemeiner, jedoch latenter Gesetze herrühren. Das Problem ist also folgendermaßen zu formulieren : Die verwandtschaftlichen Erscheinungen sind in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit typengleich als die sprachlichen. Darf aber die Soziologie die Methode der Phonologie anwenden, um im eigenen Bereich vorwärtszukommen? Die Frage möchte Lévi-Strauss durch die Analyse eines konkreten Falles erläutern. Er stellt fest, daß der Begriff, der im allgemeinen als „Verwandtschaftssystem" bezeichnet wird, eigentlich zwei verschiedene Ordnungen zum Inhalt hat. Es gibt vor allem Termini, in denen die verschiedenen verwandtschaftlichen Beziehungen zum Ausdruck kommen. Die Verwandtschaft wird jedoch nicht nur in der Nomenklatur ausgedrückt, vielmehr fühlen sich die Einzelpersonen oder die Klassen der Individuen, die sich dieser Ausdrücke bedienen, zu einem gegenseitig bestimmten Verhalten verpflichtet (oder auch nicht), wie Respekt oder Vertraulichkeit, Recht oder Pflicht, Sympathie oder Antipathie. Neben dem „Benennungssystem" gibt es also noch ein zweites System psychologischer und gesellschaftlicher Art, welches „Haltungssystem" genannt wird. Dem letzteren obliegt die Funktion, die Kohärenz und das Gleichgewicht der Gruppe zu sichern, doch wissen wir nicht, wie die Verbindung zwischen den verschiedenen Verhaltensweisen ist. Beim Benennungssystem kennen wir also das System, aber nicht die Funktion, während beim Haltungssystem, gerade umgekehrt die Funktion bekannt und das System unbekannt ist. Hier sei bemerkt, daß Lévi-Strauss den Standpunkt, wonach das Benennungssystem das Haltungssystem widerspiegelt - ich würde übrigens statt Haltungssystem lieber „interpersonelles Haltungssystem" sagen - , mit dem einfachen Argument zurückweist, die verwandtschaftlichen Ausdrücke spiegelten das gesellschaftliche Verhalten nicht genau wider. Das stimmt zweifellos; denn 1. ist die ideale Verhaltensnorm nicht in jedem Fall mit dem tatsächlichen Verhalten identisch, ist also kein Gesetz, sondern bloß eine Tendenz; 2. die verwandtschaftlichen Termini bezeichnen zum Teil kein verhaltensbedingtes, sondern ein genealogisches Verhältnis ; 3. es gibt Termini, die in einem gegebenen System nur Überreste („survivals") sind und ein effektiv nicht mehr funktionierendes Verhältnis bezeichnen. Die Widerspiegelung ist also in der Tat nicht genau, doch bleibt davon das Wesentliche unberührt, da wir kein Beispiel dafür haben, daß sich für ein effektiv funktionierendes verwandtschaftliches Verhältnis kein adäquater Terminus entwickelt hätte. Offenbar kann also die Kenntnis des terminologischen Systems die Kenntnis des Verwandtschaftssystems nicht ersetzen, doch ist meines Erachtens die Feststellung von Lévi-Strauss unzutreffend, wonach es zwischen diesen beiden einen tiefgründigen Unterschied geben soll. Mit dem, was Lévi-Strauss des weiteren über die unklaren, nicht ausdrücklichen und institutionalisierten Verhaltensarten schreibt, sind wir im übrigen

Zur Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

221

einverstanden, wobei wir allerdings bei unserer Ansicht bleiben, daß das Verhalten ebenso die Konsequenz der in gesellschaftlicher Kooperation manifestierten effektiven gesellschaftlichen Verhältnisse ist, wie deren sprachliche Bezeichnung: der Terminus, Träger eines bestimmten Inhaltes. In Weiterführung seines Gedankenganges behauptet Lévi-Strauss, zwischen dem terminologischen und dem Verwandtschaftssystem bestünden wechselseitige Beziehungen, doch seien wir aufgrund methodologischer Überlegungen berechtigt, die dem einen oder dem anderen System angehörenden Probleme getrennt zu behandeln. Untersuchen wir also ein Problem, welches mit Fug und Recht als Ausgangspunkt der „Verhaltenstheorie" gelten kann, nämlich das Verhältnis zwischen dem Onkel mütterlicherseits (avunculus) und dem Sohn der Schwester, zumal wir dieses Verhältnis bei zahlreichen primitiven Gesellschaften vorfinden. Die Fragestellung ergibt sich aus einer mit der Sprachwissenschaft analogen Situation. Ebenso wie jede Sprache aus der Menge der möglichen Laute nur einen bestimmten Teil auswählt, selektiert auch der Mensch für Verhaltenszwecke nur einige der möglichen interpersonellen Beziehungen. Nebenbei bemerkt: Der Kreis der möglichen Beziehungen und Kombinationen ist beschränkt, während die „Wahl" kausal determiniert ist. Für die ehelichen Beziehungen zwischen Mann und Frau gibt es z. B. nur vier mögliche Modalitäten : ein Mann - eine Frau, ein Mann - mehrere Frauen, eine Frau - mehrere Männer, mehrere Männer - mehrere Frauen. Es kann also gefragt werden, was der tiefere Grund der Auswahl ist and nach welchen Gesetzen die Kombinationen entstehen. Vor einer Untersuchung der Frage führt Lévi-Strauss die Avunkulatstheorie von Radcliffe-Brown an. Laut Radcliffe-Brown umfaßt das Avunkulatsverhältnis zwei entgegengesetzte Verhaltensgruppen, ein Gegensatzpaar: Ist der Neffe dem Onkel gegenüber vertraulich, so verhält er sich unfreundlich zum Vater, und umgekehrt. RadcliffeBrown erklärt das Gegensatzpaar mit der Abstammung: Im Falle einer patrilinearen Abstammung verkörpert der Vater die Autorität der Sippe, der Onkel ist also gleichsam eine „männliche Mutter", wogegen bei matrilinearer Abstammung der Onkel mütterlicherseits die Autorität der Sippe repräsentiert; das Verhalten ihm gegenüber ist also formell und steif. Laut Lévi-Strauss läßt aber diese Erklärung zwei Fragen auch weiterhin offen. Zum einen kommt das Avunkulat nicht in jedem patrilinearen und matrilinearen System vor, zum anderen umfaßt das Onkelverhältnis eine Beziehung von vier Termini und nicht von einem. Es genügt also nicht, das Verhältnis Vater - Sohn und Onkel - Schwesterssohn zu untersuchen, denn diese wechselseitigen Relationen sind Aspekte eines umfassenden Systems, in dem vier Beziehungstypen miteinander verbunden sind : Bruder - Schwester, Gatte - Gattin, Vater - Sohn, Onkel mütterlicherseits - Schwesterssohn. Betrachten wir nun diese vier Beziehungen in verschiedenen patrilinearen und matrilinearen Gesellschaften, so zeigt sich, daß das gegenseitige Verhalten der in den einzelnen Beziehungen vorkommenden zwei Personen entweder von Innigkeit, Intimität, Liebe usw. oder von Feindseligkeit, Schroffheit, Steifheit usw. geprägt ist, und zwar so, daß je zwei der vier Beziehungen als negativ bzw. als positiv zu bezeichnen sind. Diesem Zusammenhang ist folgendes Gesetz zu entnehmen : Die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe verhält sich zur Beziehung Bruder - Schwester wie die Beziehung Vater - Sohn zur Be-

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T. BODROGI

ziehung Gatte - Gattin. Ist also das eine Beziehungspaar bekannt, so kann daraus das andere jederzeit abgeleitet werden. Die negativen und positiven Beziehungen sind freilich nicht auf die erwähnten Verhaltenstypen reduzierbar, genauer formuliert: die elementaren Verhaltensweisen bedeuten freiwillige Gegenseitigkeit ( = ) , erzwungene Gegenseitigkeit ( + ) , Recht ( + ) und Pflicht (—). D a wir aber die Grundbeziehung zwischen den Gegensatzpaaren sowohl bei patrilinearer als auch bei matrilinearer Abstammung finden, ist es evident, daß die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe einem System angehört und daß dieses in seinem vollen Zusammenhang betrachtet werden muß, damit die Struktur bemerkbar wird. Diese Struktur beruht auf vier Mitgliedern (Bruder, Schwester, Vater, Sohn), die von zwei aufeinander bezogenen Gegensatzpaaren zusammengehalten sind, und zwar so, daß in jeder der beiden betroffenen Generationen eine positive und eine negative Beziehung vorhanden ist. Also:

+ oder

usw.

Diese Struktur ist die denkbar einfachste Verwandtschaftsstruktur, die es nur geben kann: es ist das eigentliche Verwandtschaftselement. Seine Behauptung untermauert Lévi-Strauss mit einem logischen Argument: Damit eine Verwandtschaftsstruktur überhaupt existieren kann, müssen drei Typen der Beziehungen zusammentreffen: Blutsverwandtschaft, Ehe, Abstammung. W i e ergibt sich aber daraus das weiter nicht mehr reduzierbare Verwandtschaftselement? Lévi-Strauss leitet dies vom allgemeinen Bestehen des Inzestverbots ab, was soviel bedeutet, d a ß ein Mann in der menschlichen Gesellschaft eine Frau nur von einem anderen Mann erhalten kann, der ihm diese Frau - seine Tochter oder Schwester - überläßt. Es bedarf also keiner besonderen Erklärung, wieso der Onkel mütterlicherseits in der Verwandtschaftsstruktur vorkommt: „ . . . er erscheint nicht, sondern ist zwangsläufig zugegen, denn er ist die Voraussetzung des Daseins des Verwandtschaftselements". Ich glaube, es muß nicht ausführlicher dargelegt werden, welche Bedeutung dem Endergebnis des Gedankenganges bzw. der Ableitung von Lévi-Strauss zukommt. Wollte man ihm folgen, so hätte die Sozialanthropologie (im weiteren Sinne: die Soziologie) erstens in der phonologischen Methode ein objektives Instrument von fast naturwissenschaftlicher Exaktheit zur Erschließung der gesellschaftlichen Gesetze gefunden. Zweitens würde durch die Anwendung dieser Methode die Aufstellung automatisch funktionierender struktureller Gesetze (die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe verhält sich zu . . . wie . . . usw.) ermöglicht. Im vorliegenden Falle fände nicht nur das Problem des Avunkulats eine befriedigende Lösung, sondern auch für das weiter nicht mehr reduzierbare Verwandtschaftselement, die einfachste Struktur aller menschlichen Beziehungen, die elementare Zelle der Gesellschaft. Nur: treffen die Prämissen zu und

Zur Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

223

fügen sich die anscheinend fest zusammengeschmiedeten Glieder der logischen Kette tatsächlich ineinander? Es läßt sich vor allem darüber streiten, ob es zulässig ist, von einem avunkularen Verhältnis in solchen Fällen zu sprechen, wenn die Beziehung Onkel mütterlicherseits Neffe „verschwommen, nicht ausdrücklich" ist, wenn sie also kein institutionalisiertes Verhältnis darstellt und folglich gesellschaftlich ungeregelt ist. W i r wollen immerhin Lévi-Strauss das Recht einräumen, auch die „nicht ausdrückliche" Beziehung in Betracht zu ziehen und kommen auf die Frage zu sprechen: Darf man - wie Lévi-Strauss es tut den Zusammenhang zwischen der Abstammung und der Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe außer acht lassen? Das Problem wurde von Homans und Schneider in ihrer Arbeit - erschienen 1955 - erörtert. Sie untersuchten die bekannten Fälle der präferenziellen asymmetrischen ehelichen Querverbindungen zwischen Geschwisterkindern (vorgeschriebene oder empfohlene Ehe mit der Tochter des Onkels mütterlicherseits bzw. der Tante väterlicherseits) und gelangten zur Feststellung, daß „in 22 der 26 Gesellschaften, wo die Ehe mit der Tochter des Onkels mütterlicherseits die präferierte Form darstellt, eine patrilineare Abstammungsordnung herrscht, während in 5 von 7 Gesellschaften, die die Ehe mit der Tochter der Tante väterlicherseits präferieren, die Abstammung matrilinear ist". 4 Obschon die Korrelation nicht hundertprozentig ist, läßt sich dennoch eine so starke Korrelationstendenz zwischen der mütterlichen oder väterlichen Seite der Präferenz und der Abstammung nachweisen, daß sie nicht mehr ignoriert werden kann. Können wir außerdem die These von Lévi-Strauss akzeptieren, wonach die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe das Verhältnis zwischen vier Mitgliedern (Bruder, Schwester, Schwager, Neffe) umfaßt? Die Feststellung von Radcliffe-Brown wird von Lévi-Strauss nicht erwähnt und folglich auch nicht widerlegt: „Nach unseren gegenwärtigen Angaben ist überall, wo wir den Onkel mütterlicherseits für wichtig halten, auch die Tante väterlicherseits von Bedeutung, wenn auch auf andere Art. Der Brauch, wonach sich der Sohn der Schwester seinem Onkel mütterlicherseits Freiheiten herausnehmen darf, scheint im allgemeinen mit besonderem Respekt und Gehorsam der Tante väterlicherseits gegenüber einherzugehen". 5 Pflichten wir dieser Feststellung bei - und wir können ja nicht anders, denn es sind uns zahlreiche Beispiele dieser Tendenz bekannt - , so müssen wir die vier Beziehungstypen auch mit der Beziehung Tante väterlicherseits Bruderssohn ergänzen, und zwar nicht nur wegen dem tatsächlichen Vorhandensein des institutionalisierten Verhaltens, sondern auch wegen der bereits erwähnten Präferenz der patrilateralen ehelichen Querverbindungen der Geschwisterkinder. Hier könnte man noch fragen, warum im elementaren Beziehungspaar die Beziehung Vater - Tochter und Onkel mütterlicherseits - Schwesterstochter fehlen, denn außer den bekannten, wiewohl nicht häufigen Fällen einer Ehe Onkel mütterlicherseits - Nichte auch die Verbindung des Onkels mit der Tochter seiner Schwester (ähnlich oder gleich wie die Beziehung zum Neffen) beachtenswert ist. Als Beispiel wollen wir die zentralen Bantu-Stämme anführen, wo „der Khazi (Onkel mütterlicherseits, T. B.) erscheint, wenn der Sohn oder '' M. Harris, The Rise of Anthropological Theory, New York 1 9 6 8 , S. 5 0 2 . 5

A . R. Radcliffe-Brown, Structure and Function in Primitive Society, London 1 9 5 2 , S. 1 7 .

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T. B O D R O G I

die Tochter seiner Schwester krank i s t . . . E r bestreitet die Heiratskosten der Söhne . . . E r nimmt die für die Töchter bezahlte Summe entgegen". 6 Betrachten wir nun das nächste Kettenglied, die Gegensatzpaare des Verhaltens und das Gesetz, das sich auf ihr Verhältnis bezieht. Hier können gleich zwei Gegenargumente vorgebracht werden. Das eine stellt die Frage: Haben wir es im Falle dieser Struktur tatsächlich mit einem .Verwandtschaftselement zu tun? Wenn ja, dann müßten wir diesen Verhaltensbeziehungen und Gegensatzpaaren in jedem Verwandtschaftssystem begegnen. Auf diese Einwendung kommt auch Lévi-Strauss zu sprechen und beantwortet sie mit der Voraussetzung zweier Stufen: D i e der ersten angehörenden Verwandtschaftssysteme sind aus der Superposition elementarer Strukturen entstanden, hier bleibt die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe stets sichtbar; die zweite ist ebenfalls eine einheitliche Konstruktion des Systems, enthält aber schon eine komplexere Ordnung, hier verschwindet bereits die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe im differenzierteren Rahmen. D a Lévi-Strauss die Verwandtschaftssysteme weder der ersten noch der zweiten Stufe determiniert, ist seine Hypothese meritorisch schwerlich zu behandeln; dennoch glauben wir, in der Voraussetzung der zwei Stufen einen Widerspruch zu erkennen. Wenn man die Einfachheit oder Komplexität der Struktur als Scheidelinie betrachtet, so müßte die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe in den „einfachen" Verwandtschaftssystemen, vor allem also im System der sogenannten zivilisierten Gesellschaften vorhanden sein, ist es aber nicht; sie ist hingegen gerade in jenen Gesellschaften zu finden, wo infolge der Primitivität des allgemeinen Organisationsniveaus die Verwandtschaft eine große Bedeutung hat, weshalb auch die Organisation differenziert und komplex ist. Doch nehmen wir an, daß die Beziehung Onkel - Neffe bzw. das erwähnte Verwandtschaftselement für die primitiven Gesellschaften charakteristisch ist. In diesem Falle kämen wir zum logischen Schluß, daß die Gegensatzpaare bzw. die sich daraus ergebenden Gesetze, wenn auch nicht überall, so doch in vielerlei Gesellschaften, in den allerprimitivsten jedoch schlechthin immer existieren müßten. Hier stellt sich aber das Problem, daß es höchst schwierig oder gar unmöglich ist, die fraglichen Verhältnisse nach dem von LéviStrauss angegebenen Schema zu charakterisieren. 7 Kontrollhalber unternahm ich den Versuch, die Verhältnisse eines der bestbekannten australischen Verwandtschaftssysteme, des Murngin, auf diese Weise zu charakterisieren. D i e Beziehung Bruder - Schwester ist infolge des starken Vermeidungstabus eindeutig negativ, ebenso auch die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe, doch die Beziehungen Vater - Sohn und Gatte - Gattin lassen sich mit diesen Kategorien kaum charakterisieren. Um aber bei unserem Beispiel zu bleiben: es zeigte sich auch hier, daß es neben der Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe auch die institutionalisierte Beziehung Tante väterlicherseits - Neffe gibt, und daß die als negativ geltende Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe eine Folge der matrilateralen ehelichen Querverbindungen der Geschwisterkinder ist: der Onkel ist nämlich ein potenzieller oder gar effektiver Schwiegervater, dem der Sohn als Ablöse '' Zitiert nach T.

Bodrogi, „A néprajzi terminología kérdéséhez. Társadalomszervezet:

vérségi

kapcsolatok", in: Ethnographia, Bd. 68, 1957, S. 1 5 - 1 6 . 7

W. L. Warner, A Black Civilization. A Study of an Australian Tribe, New York 1958, S. 52 bis 124.

Zur Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss

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für die Braut regelmäßige Geschenke gibt. D i e Fälle der von Lévi-Strauss analysierten fünf Gesellschaften sind zur Generalisierung bzw. zur Anerkennung der Gültigkeit des Gesetzes unzureichend. Nehmen wir nun das letzte Kettenglied, das Inzestverbot, infolgedessen der Onkel mütterlicherseits in die Verwandtschaftsstruktur nicht eintritt, sondern zwangsläufig in ihr zugegen ist. W i r wollen die logische Gültigkeit der Behauptung nicht bestreiten, wonach ein Mann eine Frau nur dann bekommen kann, wenn ein anderer Mann - Vater oder Bruder - auf diese Frau verzichtet. Darin liegt aber die Möglichkeit von zwei B e ziehungen: zum einen die Beziehung zum Bruder der Gattin, woraus sich durch die abstammungsbedingte Verbindung die Beziehung Onkel mütterlicherseits - Neffe ergibt, und zum anderen die Beziehung zum Vater der Gattin, der auf seine Tochter verzichtete. In den Gesellschaften mit Präferenz für die matrilaterale Geschwisterkinderehe sind die beiden Personen freilich identisch, mit dem selbstverständlichen Unterschied, daß der betreffende Mann einmal auf seine Schwester, das andere Mal auf seine Tochter - diesmal zugunsten des Sohnes seiner Schwester - verzichtet. Trotz ihrer Häufigkeit ist aber die matrilaterale Geschwisterkinderehe doch nicht universell, und so müßte es aufgrund der Logik (falls wir die sich aus dem Inzestverbot ergebende Schlußfolgerung akzeptieren) auch ein Verwandtschaftselement anderen Typs geben, welches sich neben den Beziehungen Vater - Sohn und Gatte - Gattin auch auf die Beziehungen Gatte Schwiegervater und Großvater - Enkel erstreckt. Wenn man so will, kann man auch hier Gegensatzpaare aufstellen, denn der institutionalisierte Charakter der Beziehungen zum Schwiegervater und zur Schwiegermutter (in Querverbindung: des Schwiegersohnes zur Schwiegermutter und der Schwiegertochter zum Schwiegervater) sind ja allgemein bekannt, was beispielsweise in der strengen Vermeidungspflicht oder im sexuellen Recht des Schwiegervaters zur Schwiegertochter (z. B . ius primae noctis) zum Ausdruck kommt. Weniger institutionalisiert, doch vielerorts sehr prägnant ist die Beziehung G r o ß v a t e r Enkelsohn, was sich z. B . in Australien auch darin zeigt, daß sich beide Personen mit demselben Terminus anreden. Ich glaube mit dem Gesagten hinreichend illustriert zu haben, daß die von LéviStrauss durchgeführte Analyse, m i t . d e r er einerseits die Anwendbarkeit der phonologischen Methode in der Untersuchung des Verwandtschaftssystems und, im weiteren Sinne, des Gesellschaftssystems beweisen und andrerseits die Existenz des Verwandtschaftselements und des sich daraus ergebenden strukturellen Gesetzes feststellen wollte, ihr Ziel nicht erreicht hat. D a ß es sich hier in der T a t um eine fundamentale Frage handelt, zeigt sich auch darin, daß Lévi-Strauss für notwendig hält, sich zum Schutz des von ihm erschlossenen Verwandtschaftselements mit Radcliffe-Brown auseinanderzusetzen; die auf die elementare Familie basierte Theorie des letzteren bezeichnet er als höchst gefährlich und vertritt in bezug auf die Verwandtschaftsbeziehungen eine grundlegend verschiedene Ansicht. Laut Lévi-Strauss setze sich nämlich das Verwandtschaftssystem nicht aus den objektiven Banden der Abstammung oder der Blutsverwandtschaft zwischen den Individuen zusammen, sondern bestünde nur im Bewußtsein der Menschen; es sei ein willkürliches System der Vorstellungen und nicht die spontane Entwicklung einer tatsächlichen Situation. Mit dieser Feststellung meinen wir nicht diskutieren zu müssen, vielmehr wollen wir den englischen und amerikanischen Anthro15

Kultur u. Ethnos

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T. B O D R O G I

pologen das Wort geben. Leach vertritt die britische Meinung über die Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss, indem er dessen Generalisierungen als „allzusehr umfassend" und seine elementaren Strukturen als einen „recht lockeren Boden für eine allgemeine Theorie" bezeichnet.® Für Leach sind „die interessantesten gedanklichen Elemente von Lévi-Strauss durchweg idealistischer Natur", während der Amerikaner Harris in seinem Überblick über den französischen Strukturalismus, als er das Verhältnis von Lévi-Strauss und Marx behandelt, folgendes schreibt „ . . . in all seinen wesentlichen Mitteilungen, in jeder Auswahl der Hypothesen, in all seinen bisherigen Analysen schöpft (Lévi-Strauss) seine grundlegenden Gedanken aus den Hauptströmungen des französischen und deutschen Idealismus . . . Er fand Comte, Dürkheim und Mauss auf den Kopf gestellt und schloß sich ihnen an". 9 s

E. Leach, „Claude Lévi-Strauss - Anthropologist and Philosopher", in: Theory in Anthropologe hg. v. R. O. Manners/D. Kaplan, Chicago 1 9 6 8 , S. 5 4 6 .

9

Harris, S. 5 1 3 .

Brigitte Emmrich

Zu einigen Arbeiten der bürgerlichen Volksliedforschung in der BRD. Ein kritischer Literaturbericht zum deutschen Volkslied nach 1789 1

Historische Volkslieduntersuchungen in dem Sinne, daß Liedgut der Vergangenheit Untersuchungsgegenstand ist, sind in der bürgerlichen Volksliedforschung ziemlich zahlreich. Bislang überwogen historisch-philologische Untersuchungen, mit denen die bürgerliche Volksliedforschung wertvolle und umfangreiche Materialdokumentationen vorgelegt hat und zu wesentlichen Ergebnissen in der Analyse gekommen ist. Dabei hing es zweifellos zunächst von der Quellenlage ab, ob das Liedgut einer bestimmten Periode untersucht wurde oder nicht. Entscheidend war jedoch letztendlich die ideologische Position der Volksliedforscher, was in besonders starkem Maße natürlich auf die Untersuchung des die Zeitereignisse reflektierenden Liedes zutrifft, und zwar gleichermaßen des progressiv-revolutionären wie des regressiv-reaktionären. Die im wesentlichen auf bürgerlichen Positionen beharrende Volksliedforschung der BRD (bzw. der Schweiz und Österreichs) ist in theoretisch-methodologischer Hinsicht ziemlich heterogen. Ausgesprochen homogene Richtungen oder gar Schulen, die in der unmittelbaren Nachfolge der wechselnden Theorien der bürgerlichen Philosophie und Historiographie stehen, lassen sich kaum feststellen. Als Trends schlugen bzw. schlagen sich allerdings die internationalen bürgerlichen Wissenschaftskonzeptionen auch in der Volksliedforschung der BRD nieder. In neuerer Zeit dominiert die neopositivistische Orientierung, sofern es sich um Untersuchungen des älteren, traditionellen Volksliedes handelt. Das gilt in der Regel auch für Arbeiten mit stark soziologischem Einschlag, die von Vertretern der Nachbarwissenschaften (Publizistik, Rechtswissenschaft) im Rahmen der Volksliedforschung verfaßt wurden. 2 Die genannten Richtungen berücksichtigen im allgemeinen, zumindest in Teilaspekten, den konkreten sozial-historischen Hintergrund. 1

Die folgenden Ausführungen sind im Zusammenhang mit einer Literaturerschließung zum deutschen Volkslied

nach

1789

(bis etwa

1815)

entstanden.

Sie können

demzufolge

gesamte Spektrum der bürgerlichen Volksliedforschung erfassen. Theoretisch

nicht

relevante

das

Werke

der allgemeinen Volksliedforschung wurden selbstverständlich herangezogen. 3

G.

Kieslich,

Das

„Historische Volkslied" als publizistische

Erscheinung.

Untersuchungen

zur

Wesensbestimmung und Typologie der gereimten Publizistik zur Zeit des Regensburger Reichstages und des Krieges der Schmalkaldener gegen Herzog Heinrich den Jüngeren von

Braun-

schweig 1 5 4 0 - 1 5 4 2 , Münster/Westfalen 1 9 5 8 ; J. M. Rahmelow, Die publizistische Natur und der historiographische W e r t deutscher Volkslieder um 1 5 3 0 , Diss., Hamburg 1 9 6 6 ; derselbe, „Das Volkslied

als publizistisches

forschung, 14, 1 9 6 9 , S. 1 1 - 2 6 . 15»

Medium

und

historische

Quelle",

in:

Jahrbuch

für

Volkslied-

228

B. E M M R I C H

Dieser wird jedoch nicht als ein Moment des gesamthistorischen Prozesses erkannt und deshalb nur scheinbar objektiv interpretiert, falls es nicht überhaupt bei der Deskription bleibt. Deutlicher wird die Abstinenz von der sozial-ökonomischen Basis bei einigen Forschern, die ziemlich unvermittelt an überkommenen - und zwar auch für die bürgerliche Forschung überholten - volkskundlichen Vorstellungen festhalten, welche ihrerseits wiederum von vornehmlich psychologischen und anthropologischen Anschauungen überlagert werden. Von einem idealistischen Volksbegriff ausgehend, in dem das Volk mit „Mutterschicht", „Grundschichten" bzw. „Unterschichten" (hier keineswegs sozial verstanden) identifiziert wird, 3 werden die Volkslieder in einem psychisch-anthropologischen Bereich angesiedelt und damit gewissermaßen „zeitlos" gemacht. In den Fällen, wo „Grundschichten" u. ä. nicht ausschließlich psychologisch definiert werden, sind Bildungsfaktoren zu ausschlaggebenden Kategorien gewählt worden. So sucht Danckert die „Mutterschicht" im „heutigen Mitteleuropa" im Landvolk; die Stadtzivilisation habe das Volkslied vernichtet. 4 Dabei wird die als „Mutterschicht" apostrophierte Bevölkerungsgruppe als fruchtbar im Hinblick auf Volksliedproduktion angesehen. Aus dem Angeführten wird deutlich, daß die Erklärungen ganz an der Oberfläche der Erscheinungen - im geistig-bildungsmäßigen Bereich - bleiben. Strukturelle Untersuchungen haben in verschiedenen Bereichen der Volksdichtungsforschung (z. B. in der Märchen- und Sprichwortforschung) zu beachtlichen Ergebnissen geführt, und zwar stets dort, wo sie sich nicht zu einer exklusiven Methode mit philosophischem Anspruch, dem Strukturalismus, verstiegen. In der Volksliedforschung der B R D wurde der Strukturalismus lange Zeit nur sporadisch und eklektisch angewandt. Bei einer solchen Arbeitsweise wurden in der Synthese Dinge miteinander identifiziert, die historisch nicht die gleiche Funktion erfüllen bzw. nicht von gleicher Wertigkeit sind. Ein extremes Beispiel aus der jüngsten Zeit und zugleich die erste umfassende strukturalistische Untersuchung in der Volksliedforschung der B R D ist das 1973 erschienene Buch „Ideologie im Lied. Lied in der Ideologie. Kulturanthropologische Strukturanalysen" des seit 1968 in der B R D lebenden V. Karbusicky. 5 Von der funktionalen Polyvalenz der Lieder ausgehend, ist Karbusicky bestrebt nachzuweisen, „ . . . daß die Methoden der ideologischen Manipulation in typologischer Hinsicht die gleichen sind, obwohl es sich um scheinbar scharf entgegengesetzte Ideologien handelt". 6 Mit dieser Sentenz, die zugleich Prämisse und Resultat seiner Untersuchung ist, stellt sich Karbusicky auf die Basis einer betont antikommunistischen Gleichsetzung u. a. von faschistischer und marxi3

V o r allem bei W . Danckert, Das Volkslied im Abendland, Bern/München 1 9 6 6 , S. 23, 27, 4 1 ; auch schon in derselbe, Grundriss der Volksliedkunde, Berlin 1 9 3 9 , und in anderen Arbeiten als verbindliche Terminologie; schwächer bei E. Klüsen, z . B .

in: Volkslied. Fund und

Er-

findung, Köln 1 9 6 9 , S. 45, und in W . Wioras Arbeiten. 4

Danckert, Das Volkslied im Abendland, S. 27, 49.

5

V.

Karbusicky,

Ideologie im Lied. Lied

in der

Ideologie.

Kulturanthropologische

Struktur-

analysen, Köln 1 9 7 3 . In dieser Arbeit werden Text und Melodie gleichermaßen untersucht.

-

In der Musikethnologie hat die Strukturforschung eine längere Tradition und eine solide Basis, so daß die Gefahr eines Zur-Philosophie-Werdens nicht in gleichem Maße bestand wie in der Textforschung. * Karbusicky, S. 1 5 .

229

Zur bürgerlichen Volksliedforschung in der B R D

stisch-leninistischer Ideologie. Er abstrahiert von den sozial-ökonomischen Grundlagen des gesamthistorischen Entwicklungsprozesses bzw. von bereits erkannten und verifizierten Gesetzmäßigkeiten in diesem Bereich und degradiert den historischen Prozess zu einem fatalistischen Wechsel von Perioden der „Indoktrination" („durch totalitäre Ideologien") und der „Freiheit". Dies ist die Ursache dafür, weshalb die scheinbar verblüffenden Ergebnisse der mit philologischer, textologischer und musikologischer Akribie durchgeführten Liedanalyse keineswegs der Wahrheit entsprechen. Eine ausreichende Kritik der Auffassungen Karbusickys ist allerdings auf folkloristisch-ethnologischer Grundlage allein nicht möglich. Entgegentreten kann man dieser Konzeption nur auf der Basis einer uneingeschränkten Anerkennung der objektiv verifizierbaren historischen Mission der Arbeiterklasse. Übrigens ist auffallend, daß bei Karbusickys Beweisführung - entgegen sonst üblichen bürgerlichen Praktiken - psychologische und sozial-anthropologische Faktoren kaum eine Rolle spielen. Die Heranziehung dieser Faktoren hätte seine DetailErgebnisse formal vermutlich zum Teil bestätigt, insgesamt aber in einem anderen Licht erscheinen lassen, da es schließlich nicht unwichtig ist, ob die herausgearbeiteten Formalia (stilistisch und inhaltlich) typisch für bestimmte Ideologien oder (nur) für bestimmte Techniken der Propaganda (als gesellschaftlicher Erscheinung) sind. Ganz abgesehen davon, daß die Wechselbeziehungen und die Eigengesetzlichkeit der verbalen Kommunikation und der Wortkunstwerke - als legitimes Feld der Strukturforschung sowie ihr Funktionskontext in dieser Arbeit Karbusickys gänzlich außer Betracht bleiben. Es ist sicher kein Zufall, daß sich unsere Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Volksliedforschung im deutschen Sprachgebiet auf die ideologisch exponierte Arbeit des in die BRD emigrierten tschechischen Folkloristen orientiert. Die Arbeiten der deutschen bürgerlichen Volksliediotschet sind weit weniger theorienträchtig. Strukturalistische Forschungen im umfassenden Sinne finden sich nur bei Vertretern der Nachbarwissenschaften (wie oben bereits angeführt bzw. im musikwissenschaftlichen Bereich). Allgemeine Abhandlungen enthalten gelegentlich strukturalistische bzw. strukturelle Ansätze. 7 - Es sei hinzugefügt, daß Karbusickys etwas formalistische, fast ausschließlich auf das quantitative Moment orientierte Forschungen auch in der BRD Kritiker gefunden haben.8 Ein nicht unwesentlicher Teil der Volksliedforscher in der BRD zeigt - besonders in den letzten Jahren - eine verstärkte Hinwendung zum sozialen Kontext des Liedguts sowie Bestrebungen, verbotenes, unerwünschtes oder - wie E. Klüsen sagt9 - apokryphes Liedgut aufzufinden und zu dokumentieren.10 Was darunter verstanden wird, erfährt man 7

Das trifft auf Arbeiten von L. Röhrich, M. Lüthi und L. Petzoldt zu. A u ß e r d e m : D . Sauermann, Historische Volkslieder des 1 8 . und 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Volksliedforschung und zum Problem der volkstümlichen Geschichtsbetrachtung, Münster 1 9 6 8 . Im musikwissep ¿chaftlichen Bereich handelt es sich um die Fortführung schon älterer Traditionen.

a

Siehe Bose, Brednich und Klüsen in der Diskussion zu Karbusicky, „Die Inhaltskategorien des volkstümlichen

und

patriotischen

Liedes

des

19.

Jahrhunderts",

in:

Kultureller

Wandel

im

1 9 . Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1 9 7 2 , S. 19. ,J

E. Klüsen, „Das apokryphe Volkslied", in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1 0 , 1 9 6 5 , S. 8 5 bis 1 0 2 .

10

Dabei

wird auch Liedgut aus der Zeit nach

1789

erfaßt

(Hinweis

auf

Liedverbotslisten).

Originales Liedgut wurde bereits auf der Arbeitstagung der Kommission für Lied-, Musik- und

230

B. E M M R I C H

u. a. im Protokollband der Arbeitstagung zum Thema „Soziale Implikation - ein Aspekt der Volksmusikforschung", die von der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 29. September bis 2. Oktober 1974 in Neuss durchgeführt wurde. 11 Es wird eine stärkere Berücksichtigung der Liedträger und ihrer sozialen Bedingungen und letztlich sogar eine „soziale Verantwortlichkeit der Volkskunde" gefordert. 12 Man ist bemüht, vom Lied' als Objekt weg zum sozialen Träger des Liedgutes zu kommen. D a ß der Klassencharakter - also die wirkliche soziale Dimension - der Lieder bis zu einem gewissen Grade in Betracht gezogen wird, zeigen u. a. R. W. Brednichs Ausführungen in der Diskussion über den Quellenwert von Kontrollisten der Liedzensur, in denen er die Ansicht äußert, daß die Liedzensur auch dann eine politische Funktion erfüllt, wenn nach moralischen Aspekten geurteilt wird. 13 Insgesamt bleiben die Beiträge des Bandes jedoch auf dem Boden neopositivistischer Forschung, und soziale Verantwortlichkeit erschöpft sich weitgehend in „gemeindlicher Volkskulturpflege" (besonders von Klüsen angestrebt). 14 Eine Ausnahme bildet - neben einigen Diskussionsbeiträgen von H. Lixfeld' 3 - der Beitrag von S. Schutte über „Das .Marburger Studentenlied' von H. Eisler. Ein Beitrag zur Kritik des deutschen Nationalismus" 16 , der sich marxistischen Positionen annähert. 17 Schon hier wird deutlich, daß die linkesten Positionen nicht im Kreis der eigentlichen Volksliedforschung (der B R D ) zu finden sind. 18 In der literaturwissenschaftlichen, mit einem ausführlichen Vorwort und Kommentaren versehenen Dokumentation „Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner" von H. W. Engels 19 werden marxistische Positionen erreicht, Das hier dargebotene LiedTanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 2 3 . - 2 5 . März 1 9 7 2 in Wetzlar behandelt. Siehe Protokollband, Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, hsg. von R. W . Brednich, Freiburg i. Br. 1 9 7 2 . II

Soziale Implikation -

ein Aspekt der Volksmusikforschung. Protokoll der Arbeitstagung,

ver-

anstaltet von der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V., vom 29. September bis 2. Oktober 1 9 7 4 in Neuss, hsg. von E. Klüsen, Neuss 1 9 7 4 . )a

R. W . Brednich, „Einführung in den Problemkreis", in: Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 13, Diskussion zu H. Glagla, „Über den Quellenwert von Kontrollisten der Liedzensur", in: Ebenda, S. 8 - 1 3 .

14

Ebenda, S. 5. Im übrigen werden soziale Zielsetzungen in der Volksliedforschung der B R D oft schon durch die Terminologie verwässert; Brednich und W . Suppan sprechen z . B . von Parteinahme für „unterprivilegierte Schichten" in R. W . Brednich, W . Suppan, Die Ebermannstädter Liederhandschrift geschrieben um 1 7 5 0 von Frantz Melchior Freytag, Schulrektor zu Ebermannstadt (Staatsbibliothek Bamberg Msc. misc. 5 8 0 a), Kulmbach 1 9 7 2 , S. 23.

13

Soziale Implikation - ein Aspekt der Volksmusikforschung, S. 4 1 , 70 ff.

16

Ebenda, S. 1 5 - 2 2 .

17

Die

Heinemann-Zitate

am Anfang und Schluß

des Beitrages scheinen

mehr

Rechtfertigungs-

charakter zu haben. 1(i

Initiativen zur Untersuchung des antifaschistischen Liedes (Kolloquien) gingen allerdings vom Institut für musikalische Volkskunde an der Pädagogischen Hochschule Neuss aus. Siehe Soziale Implikation - ein Aspekt der Volksmusikforschung, S. 6.

III

H. W . Engels, Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner, Stuttgart 1 9 7 1 ( = Deutsche revolutionäre Demokraten, I).

231

Zur bürgerlichen Volksliedforschung in der B R D

gut ist auch für die Volksliedforschung von Interesse, da es ja immer Wechselbeziehungen zwischen der sogenannten Hochkultur und der Volkskultur gab, ganz besonders aber dann, wenn - wie im gegebenen Fall - die kulturellen Repräsentanten in ihren Werken auf seiten der Unterdrückten und Ausgebeuteten standen. 20 Schon für die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ist für den Volksgesang eine starke Interferenz von Liedgut verschiedener Provenienz nachgewiesen; die Flugblattliteratur bestätigt dies auch für den Beginn des 19. Jahrhunderts. 21 Ein eindeutiges Bekenntnis zur Klassengebundenheit des Liedes und eine entsprechende praktische Zielsetzung (Liederbuch für die Gewerkschaftsjugend) verfolgt die vom Arbeitskreis Progressive Kunst initiierte und von A. Stern herausgegebene Anthologie „Lieder gegen den Tritt. Politische Lieder aus fünf Jahrhunderten", 22 in der auch Lieder aus der Zeit während und nach der Französischen Revolution enthalten sind. In die bürgerlichen Volksliedanthologien ist allerdings sozial intendiertes oder sozialkritisches Liedgut in der Regel kaum eingegangen. Auch Abhandlungen, die die Entwicklung des Volksliedes oder seine Gattungen behandeln, beachten solches Liedgut nicht oder ungenügend. 23 In diesem Zusammenhang muß freilich daran erinnert werden, daß das revolutionäre oder sozial intendierte Liedgut ja keineswegs immer in inhaltlicher Beziehung progressiv zu sein braucht; vielmehr w a r die Funktion der Lieder entscheidend. D a die Funktion der Lieder in späterer Zeit jedoch häufig nur mit Mühe oder gar nicht mehr zu erschließen ist, ergeben sich daraus zwangsläufig Rückschlüsse auf die Zahl und Verläßlichkeit der Quellen. Das ist letztlich aber gewiß nicht der entscheidende Grund, weshalb progressives Liedgut bei bürgerlichen Volkslieduntersuchungen bisher so vernachlässigt wurde. Wenn wie bei Klüsen Kampflieder lediglich als Resultate von Aggressionen angesehen 24 oder - wie neuerdings von Karbusicky - aus ästhetischen Gründen (schlechter Reim, banale Idiome der Melodik usw.) 2(1 abgelehnt werden, dann zeigen sich hier ganz deutlich die ideologischen Schranken. Es ist daher nicht überraschend, daß die bürgerliche Volksliedforschung das die ZeitEngels (ebenda) bringt Nachweise zur Entstehung, Verbreitung und Tradierung vieler Lieder. Im Zusammenhang mit einer Studie wurden u. a. die Flugblätter der „Meusebachsammlung" der Deutschen Staatsbibliothek Berlin durchgesehen. Ti

A . Stern, Lieder gegen den Tritt. Politische Lieder aus fünf Jahrhunderten, 2. verb. Aufl., Oberhausen 1 9 7 4 .

- ' Bei W . Suppan, Volkslied. Seine Sammlung und Erforschung, Stuttgart 1 9 6 6 , findet man lediglich kurze Hinweise auf „historisches Lied", Zeitungslied und Bänkellied. In dem 1 9 7 3 in München erschienenen

Handbuch

des Volksliedes,

Bd.

I:

Die

Gattungen

des

Volksliedes,

hsg.

von

R. W . Brednich, L. Röhrich und W . Suppan, werden solche Liedgattungen behandelt, allerdings von neopositivistischen Positionen, zum Teil sogar von einem ausgesprochenen

antikommunisti-

schen Standpunkt. Vgl. D. Sauermann, Das historisch-politische Lied, S. 2 9 3 - 3 2 2 ; E. Klüsen, Das sozialkritische Lied, S. 7 3 7 - 7 6 0 . Dazu die Rezension von H. Strobach in: Deutsche Literaturzeitung, 96, 1 9 7 5 , H. 3, S. 2 2 8 - 2 3 3 .

Ähnliches läßt sich zum 1 9 7 5 publizierten Bd. II,

Historisches und Systematisches — Interethnische Beziehungen -

Musikethnologie, sagen. In der

älteren Arbeit von A . Sydow, Das Lied. Ursprung, Wesen und Wandel, Göttingen 1 9 6 2 , wird historisches und politisches Liedgut kurz referierend behandelt. 24

Klüsen, Volkslied, S. 48.

25

Karbusicky, S. 9.

232

B. E M M R I C H

ereignisse betreffende Lied - und das bezieht sich auch auf das Lied nach 1789 - im allgemeinen nur in der Form des sogenannten „historischen Volksliedes" untersuchte, d. h. anhand von Zeugnissen, die 1. nur selten VoZ&slieder,26 häufig nicht einmal Lieder sondern Gedichte - sind, und 2. in der Regel die Intentionen der herrschenden Klassen (wenn auch in konkurrierende Lager gespalten) widerspiegeln. Für diese Art Liedgut gibt es eine große Zahl umfangreicher, mit minutiöser Akribie verfaßter Arbeiten, so z. B. von L. Schmidt (zu verschiedenen Flugblattliedern) 2 ' und von Sauermann. Dieser hat sich in seiner Monographie „Historische Volkslieder des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Volksliedforschung und zum Problem der volkstümlichen Geschichtsbetrachtung" die Aufgabe gestellt, „die Frage nach Eigenart und Herkunft des volkstümlichen Geschichtsbildes aufzuwerfen". 28 In diesem Sinne versteht er seine Arbeit auch als eine Brücke von der Volkskunde zur Geschichtswissenschaft29 - ein etwas fragwürdiger Anspruch, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er Geschichte nur als chronologische Aufeinanderfolge von Begebenheiten ansieht,30 einen historischen Entwicklungsprozeß aber offensichtlich leugnet. Am markantesten kommen seine recht unhistorischen Anschauungen bei der Darstellung des - absolut statisch verstandenen - Geschichtsbilds des Volkes zur Geltung. Er geht ausschließlich von bestimmten Erscheinungsformen im Denken und Handeln (Reagieren) des Volkes aus, ohne deren soziale Dimension auch nur anzudeuten. Volk selbst erscheint quasi als eine geistesgeschichtliche Kategorie (Bildungsfaktor). Zudem kommt Sauermanns Definition für das von ihm als „historisches Volkslied" bezeichnete Liedgut nur einer Arbeitshypothese gleich.31 Aus diesem Grunde werden auch einige seiner liedkundlichen Schlußfolgerungen - von den ideologischen Prämissen ganz abgesehen - in Frage zu stellen sein. Die Aufgabe der Volksliedforschung besteht also nicht nur darin, unbekanntes Liedgut (darunter sozialkritisches) für die Zeit nach 1789 zu erschließen, sondern auch darin, das bereits eruierte im Hinblick auf seine Funktion und seinen Trägerkreis zu untersuchen selbstverständlich unter Berücksichtigung der durch den gesamthistorischen Entwicklungsprozeß vorgegebenen sozialen Dimensionen. 20

Nach Sauermann, Liedguts

dar. D i e

Historische Volkslieder, Prozentangabe

S.

72,

stützt sich auf

stellen

sie ca. 3 Prozent

die Sammlungen

des

gesungenen

und Untersuchungen

zum

historischen Volkslied des 18. und 19. Jahrhunderts. Siehe auch ebenda S. 56. Zur Problematik ferner: H. Strobach, „Die Bauern sind aufrührig worden. Lieder aus dem Bauernkrieg",

in:

Der arm man 1525. Volkskundliche Studien, Berlin 1975, S. 2 3 7 - 2 7 3 , besonders S. 266 ff. 27

L. Schmidt, Volksgesang und Volkslied. Proben und Probleme, Berlin 1970. In diesem Band sind u. a. mehrere Arbeiten Schmidts zum historischen Volkslied enthalten: Flugblattlied

und

Volksgesang, S. 1 0 8 - 1 1 3 ; Niederösterreichische Flugblattlieder. Einführung und Katalog, S. 114 bis 179; Linzer Flugblattlieder des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 1 8 0 - 2 1 5 ; D a s volkstümliche Biedermeierlied in Tirol, S. 2 3 8 - 2 7 4 ; Eine Mondseer Liederhandschrift von 1827, S. 2 7 5 - 3 0 7 ; Das geistliche Lied im funktionell gebundenen Volksgesang, S. 3 4 1 - 3 4 6 . Ferner: L. Schmidt, Historische Volkslieder aus Österreich vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Wien 1971. 28

Sauermann, Historische Volkslieder, Vorwort.

29

Ebenda.

30

Ebenda, S. 130 ff.

:)1

Ebenda, S. 15.

Konrad Irmschler

Zur Übernahme von Fragestellungen einer „historischen Anthropologie" durch die bürgerliche Geschichtswissenschaft der BRD

An die Referate von U. Schienther und Ju. V. Bromley anknüpfend, in denen sowohl auf Tendenzen einer Annäherung der bürgerlichen Ethnologie bzw. Kulturanthropologie an andere bürgerliche Sozialwissenschaften als auch auf Versuche einer Aufnahme anthropologisch-ethnologischer Forschungen durch sogenannte „Komplexdisziplinen" wie die bürgerliche Soziologie und Geschichtswissenschaft hingewiesen wurde, möchte ich als Historiker in meinem Beitrag aufzeigen, daß es gegenwärtig auch innerhalb der BRDGeschichtswissenschaft Bemühungen gibt, anthropologische Fragestellungen in die Erforschung von Problemen der Neueren und Neuesten Geschichte einzubeziehen. Diese Versuche sind in die umfassendere Aufgabenstellung einzuordnen, die bürgerliche Geschichtswissenschaft in eine „historische Sozialwissenschaft" zu verwandeln, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Besonders hervorgetreten ist in der genannten Hinsicht der Münchener Historiker T. Nipperdey, der in drei geschichts-theoretisch angelegten Aufsätzen seine Auffassungen dazu ausführlich dargelegt hat. Er geht davon aus, daß sich die menschlich-historische Welt in einem „Dreiecksverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Person" konstituiert, daß gesellschaftliche, kulturelle und personale Strukturen in einem „Verhältnis wechselseitiger Interdependenz" stehen und daß diese Interdependenz über die abstrakten Modelle der Soziologie hinaus historisch aufgehellt werden müsse.1 Weil ein soziales und kulturelles System angeblich „auf die Person bezogen ist, sie formt und von ihr her zu interpretieren ist",2 kennzeichnet Nipperdey seinen Erklärungsansatz als einen „anthropologischen", was in enger Anlehnung an die vor allem in den USA etablierte „Kulturanthropologie" geschieht. In diesem Sinne müssen seine anthropologischen Fragestellungen systematisch zwischen Soziologie und Psychologie eingeordnet werden. Weil sich die Soziologie mit der sozialen Welt, der Gesellschaft und ihrer Struktur, die Psychologie mit der Person, dem Ego und dessen Struktur und Entwicklung befasse, erscheint es Nipperdey aber 1

T. Nipperdey,

„Die

anthropologische

Dimension

der

Geschichtswissenschaft",

in:

Geschichte

heute. Positionen, Tendenzen und Probleme, hg. v. G. Schulz, Göttingen 1973, S. 244. Vgl. auch: Derselbe, „Bemerkungen zum Problem einer historischen Anthropologie", in: D i e

Philosophie

und die Wissenschaften. Festschrift für S. Moser zum 65. Geburtstag, Meisenheim/Glan derselbe, „Kulturgeschichte,

1967;

Sozialgeschichte, historische Anthropologie", in: Vierteljahresschrift

für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 55, 1968, H e f t 2. - Derselbe, D i e anthropologische Dimension, a. a. O., S. 244.

234

K . IRMSCHLER

angebrachter, „für den . . . Bezug von Person und sozialen und kulturellen Institutionen einen einzigen Terminus zu wählen". 3 Aber selbst unter bürgerlichen Historikern und Sozialwissenschaftlern gibt es Vorbehalte, ob man die von Nipperdey herausgestellte „neue Dimension" der Geschichtswissenschaft als eine anthropologische bezeichnen kann. So verweist beispielsweise der BRD-Soziologe W . Lepenies in seinem 1975 veröffentlichten Aufsatz „Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschafts-historischen Einschätzung eines aktuellen Disziplinenkontakts" darauf, daß von Nipperdey Tatbestände als anthropologisch bezeichnet werden, „die bereits kulturell und historisch überformt sind und sich nur schwer auf anthropologische Daten reduzieren lassen dürften". 4 Weitaus wesentlicher ist jedoch, was Nipperdey inhaltlich unter einem anthropologischen Herangehen versteht. Anthropologie fragt nach seiner Auffassung „aufgrund empirischer Analysen nach Grundstrukturen und -kategorien des menschlichen Daseins, nach menschlichen Verhaltens-, Handlungs-, Denk- und Antriebsformen, nach ihrer Prägung durch soziale Institutionen und nach dem wechselseitigen Geflecht und dem Entstehungszusammenhang von Institutionen, Kultur und Person"." Eine so verstandene „systematische" Anthropologie müsse aber „historisiert" werden. Es wird darauf verwiesen, daß es möglich und notwendig sei, „prinzipiell von einer Historizität des Anthropologischen, von anthropologischen Strukturen und ihrem Wandel in der Geschichte, von einer anthropologischen Dimension in der Geschichtswissenschaft zu sprechen". 6 All das, was anthropologisch erfragt wird, gehöre „zu dem Frage- und Gegenstandsbereich.. ., der heute etwas unscharf als Strukturgeschichte oder - noch unschärfer - als Sozialgeschichte bezeichnet wird". 7 Als konkrete „Objektfelder" eines anthropologischen Herangehens an historische Probleme benennt Nipperdey den ganzen Komplex von „Modellen für Aktion und Reaktion in je spezifischen Situationen", die Analyse von „Mentalitäten, . . . in denen Anschauungs- und Denknormen wurzeln" 8 sowie das Herausarbeiten von „personalen Strukturen . . . , die die Form des Handelns historisch bestimmen". Das Ziel dieser Untersuchung von „Handlungsstrukturen und Verhaltensdispositionen" 9 bestünde dann darin, „das Ganze von gruppen- und zeittypischen Sozialcharakteren zu ermitteln", von denen ausgehend sich auch „das Ganze einer sozialen und kulturellen Welt mit ihren Institutionen und Interpretationen" einheitlicher als bisher begreifen ließe. 10 Ich möchte noch einmal auf den bereits genannten Lepenies zurückkommen. Seine Auffassungen über den Disziplinenkontakt zwischen bürgerlicher Geschichtswissenschaft und Anthropologie sind deshalb interessant, weil er als Soziologe sich nicht nur über die

:!

Ebenda, S. 2 2 8 f.

'* W . Lepenies, „Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschaftshistorischen Einschätzung eines aktuellen Disziplinenkontakts", in: Geschichte und Gesellschaft, 1. Jg., 1 9 7 5 , Heft 2/3, S. 3 3 6 f. ° Nipperdey, Die anthropologische Dimension, a. a. O., S. 2 4 6 . 6

Ebenda, S. 2 2 7 .

7

Ebenda, S. 2 2 9 .

8

Ebenda, S. 2 4 5 .

9

Ebenda, S. 2 4 6 .

10

Ebenda, S. 2 5 0 .

Zur „historischen Anthropologie"

235

„Historisierung der Anthropologie", sondern gleichfalls über eine „Anthropologisierung der Geschichte" äußert und weil sich seine Vorstellungen darüber in bestimmter Hinsicht von denen Nipperdeys unterscheiden. Erstens wendet sich Lepenies dagegen, die „Historisierung als anthropologisch geltender Tatbestände" wahllos zu betreiben; es sollten nur solche Phänomene ausgewählt werden, die einerseits „tief" genug in der eigentlichen Anthropologie verankert sind, „zum anderen zu ihrer vollen Entfaltung aber einer kulturellen Uberformung und/oder einer historischen Auswicklung bedürfen". 11 Zweitens vertritt er die Auffassung, daß es sich im Bereich der historischen Anthropologie „weitgehend um eine Anthropologisierung der Geschichte handelt", 12 worunter Lepenies eine „Instrumentalisierung" der Anthropologie für historische Zwecke versteht. 13 Drittens wären in der Perspektive einer solchen Instrumentalisierung anthropologischer Tatbestände „die Kompetenzen der Geschichte für die Ausarbeitung einer historischen Anthropologie vermutlich angemessener beschrieben als mit dem ideologiekritisch belasteten Programm einer Historisierung und damit Relativierung anthropologischer .Konstanten' " 14 und viertens sollte eine historische Anthropologie nicht nur den Kontakt mit der bereits weitgehend historisierten Kulturanthropologie, sondern auch und gerade mit anthropologischen Disziplinen suchen, die sich - wie z. B. die Verhaltensforschung - einer Historisierung am stärksten widersetzen. Dies sei deshalb notwendig, weil nur „die wechselseitige Störung ,starker' Disziplinen" fruchtbar sein könne.15 Abschließend möchte ich darauf verweisen, daß die genannten Beispiele einer historischen Anthropologie keinesfalls den gegenwärtigen Gesamtstand der Diskussion auf diesem Gebiet in der BRD repräsentieren können. Auch sind die marxistischen Forschungen zu dieser Problematik noch nicht abgeschlossen, besonders was vergleichende Betrachtungen mit ähnlichen Entwicklungen in den USA, Großbritannien und Frankreich betrifft. Es zeichnet sich jedoch ab, daß die marxistische Kritik dieses Forschungsansatzes in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft nicht nur eine Aufgabe der Historiker sein kann, wenn sie überzeugend und wirksam sein soll. Vor allem hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den bürgerlichen anthropologischen Theorien selbst ist die Hilfe der marxistischen Soziologen und Ethnographen unverzichtbar. Die Hauptaufgabe der marxistischen Historiker wird vor allem darin bestehen, Zielstellung und Konsequenzen herauszuarbeiten, die mit der Anwendung anthropologischer Theorieansätze in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft verfolgt werden bzw. verbunden sind. Es müßte deutlich gemacht werden, daß die Übernahme von Methoden der empirischen Sozialforschung, die Durchführung demographischer Untersuchungen und die Analyse von Bewußtseinsstrukturen mit dem Ziel erfolgen, im Rahmen einer „moder11

Lepenies, a. a. O., S. 338.

12

Ebenda.

n

Ebenda, S. 339.

14

Ebenda.

15

Ebenda, S. 341. Vgl. auch: W. Lepenies, Soziologische

Anthropologie. Materialien,

München

1971; W. Lepenies/H. Nolte, Kritik der Anthropologie. Marx und Freud, Gehlen und Habermas, München 1971.

236

K. IRMSCHLER

nen" Sozialgeschichte in zunehmendem Maße historisch-hermeneutische Methoden mit sozialwissenschaftlich-analytischen Methoden zu verknüpfen. Damit soll die bürgerliche Geschichtswissenschaft in die Lage versetzt werden, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse im Sinne der Machtinteressen der Monopolbourgeoisie besser als bisher deuten zu können. An das „anthropologische Herangehen" knüpfen bürgerliche Historiker besondere Hoffnungen. Mit seiner Hilfe versuchen sie, vor allem Erklärungen für das politische Verhalten sozialer Klassen und Schichten in der Geschichte zu finden. D a dies besonders solche Zeitabschnitte betrifft, in denen sich große Teile bestimmter Bevölkerungsgruppen angeblich anders verhalten hätten als es ihre sozialökonomische Lage erfordert, wird die eigentliche Stoßrichtung dieser Bemühungen deutlich. Diese besteht darin, die von den sozialökonomischen Grundlagen letztlich abhängigen ideologischen und psychologischen Momente in den Vordergrund zu stellen und als eigentlichen Schlüssel für die Erklärung historischer Ereignisse und Prozesse hochzuspielen. In letzter Konsequenz wird auf diese Weise die idealistische Geschichtsauffassung in einer nach außenhin „wissenschaftlich" erscheinenden Form gewissermaßen durch die Hintertür wieder hereingeholt.

Rudolf Quietzsch

Arbeit und Gerät der Bauern in der bürgerlichen Volkskundeforschung der BRD

Aus der jeweiligen sozial-ökonomischen Basis erwächst nicht nur der konkrete Ausdruck von Lebensweise und Kultur überhaupt, sondern auch in den gesellschaftlichen und materiellen Bedingungen der Produktion selbst sind wesentliche Elemente eingeschlossen, die von der Volkskunde hinsichtlich ihres Erkenntniszieles, der historischen Erforschung von Lebensweise und Kultur der werktätigen Klassen und Schichten, interpretiert werden müssen. Auf dieser methodologischen Grundlage aufbauend wurde die Beschäftigung mit den im Produktionsbereich unmittelbar eingebetteten Objektivationen von Lebensweise und Kultur („Arbeit und Wirtschaft")4 in der DDR-Volkskunde seit ihrer Begründung programmatisch und mit praktischen Ergebnissen bewußt vorangetrieben. Diese Forschungen wurden seit der Neuprofilierung des Faches seit 1970 historisch vertieft betrieben und dadurch auf eine qualitativ höhere Stufe gehoben werden. In der BRD zeigte sich nach dem Krieg und bis heute wirkend eine „in den theoretischen und methodologischen Grundpositionen ungebrochene Kontinuität der bürgerlichen Volkskunde über die Zeit zwischen 1933 bis 1945 hinweg.. .".2 Hier hatte deshalb die Beschäftigung mit den materiellen Grundlagen der Volkskultur zunächst keinen anerkannten Platz finden können. Eine solche Forschung vermochte wenig beizutragen zu den bevorzugten ahistorischen Erkenntniszielen: Zur Untermauerung eines vorwiegend psychologisch verstandenen Volksbegriffes, zur Bestätigung der sich daraus ergebenden kulturellen Kontinuitäten oder zur Herausstellung national allgemeiner Erscheinungen. Im Gegenteil, dieses gehütete Kulturbild wäre von einer historisch betriebenen Sachforschung erheblich korrigiert worden, so daß gegen eine solche sich abwehrende Stimmen meldeten.3 Auch im Nachklang der von H. Maus an die Volkskunde gerichteten Forderung, die Arbeit „als wichtigste soziale Kategorie zu begreifen"/' wobei er sich auf K. Marx berief, mögen die führenden Fachvertreter ideologische Einbrüche in eine angestrebte 1

Das Verdienst der Einführung dieses Begriffspaares in die volkskundliche Terminologie

der

D D R gebührt vermutlich W. Jacobeit durch seinen Aufsatz „Zur Erforschung der bäuerlichen Arbeit und Wirtschaft in der deutschen Volkskunde", in: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde, 8. Bd., 1962, S. 303 ff. 2

H. Strobach, „Positionen und Grenzen der .kritischen Volkskunde' in der B R D .

Bemerkungen

zu Wolfgang Emmerichs Faschismuskritik", in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 16. Bd. (Neue Folge, Bd. 1), 1973, S. 47. 3

Entsprechende Beispiele bringt Jacobeit, a. a. O., S. 304 f.

4

H. Maus, „Zur Situation der deutschen Volkskunde", in: D i e Umschau. Internationale Revue, 1,

R. Q U I E T Z S C H

238

„Entideologisierung" des Faches 0 befürchtet haben. Zumal verlauteten auch aus der D D R seit Anfang der fünfziger Jahre marxistisch begründete Erklärungen, in denen W. Steinitz und H. Kothe die Erforschung von Arbeit und Gerät fest in eine neue, demokratische Volkskunde eingebaut hatten. 6 Dies und erste Ergebnisse auf diesem Weg nährten zusätzliche Verdächtigungen und erzeugten eine mindestens passive Resistenz gegen solche Forschungen unter derjenigen Mehrheit der Volkskundler in der Bundesrepublik, deren bürgerlich-idealistischer Standort das Fach dort noch immer beherrschte. Fast als Einzelgänger in der akademischen Nachkriegsvolkskunde der B R D war es W.-E. Peuckert, der die ökonomische Seite der Volkskultur in sein zur Ethnologie und Geschichte hin offenes Wissenschaftsbild einrückte.7 D i e Ergebnisse dieser Wissenschaftsauffassung spiegeln sich dann auch in mehreren beachtenswerten Dissertationen zur materiellen Volkskultur aus Peuckerts Schule wider. 8 Dabei handelt es sich um Untersuchungen zur Entwicklung und Verbreitung einzelner Produktionsinstrumente, worin freilich die Fragen nach den typologischen Veränderungen noch überwogen, wobei eine relative oder absolute Chronologie der hervorstechendste historische Aspekt blieb. Weitere Anregungen zur Beschäftigung mit den ökonomischen Realien durch die Volkskunde in der B R D kamen zwangsläufig aus den Bereichen und Bedürfnissen der „Praxis", in die sich die Vertreter einer kulturhistorischen Betrachtungsweise seit Jahrzehnten vor allem zurückgezogen hatten: Aus den Museen und landesgeschichtlichen Einrichtungen, eingeschlossen die volkskundlichen Landesstellen. D i e historische Untersuchung hinsichtlich der Einordnung des Materials in seine sozial-ökonomischen Bedingtheiten ist jedoch kein allgemein angestrebtes Ziel dieser Interessenten an der materiellen Volkskultur. Vielmehr soll die eigenständige historische Dimension wirtschaftlich-kultureller Realien aus der vereinzelt geforderten „allseitigen" Betrachtungsweise der Volkskultur sogar ausgeschlossen bleiben, wenn z. B. „Geräteforschung nur auf Grund nüchterner Bestandsuntersuchung das Material bereit(zu)stellen (habe) für die geistesgeschicht1946, S. 349 ff.; siehe hierzu auch W. Jacobeit, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Volkskunde, Berlin 1965, S. 144. 3

G . Heilfurth, Volkskunde jenseits der Ideologien. Zum Problemstand des Faches im Blickfeld empirischer

Forschung,

Marburg

1961.

10 Jahre

„betont herausfordernd und apologetisch,

später bewertet Heilfurth seine Schrift als

eigenwillige persönliche

„Studieneinführung in die Volkskunde/Volksforschung",

Perspektive"

in: Heimaterzähler,

(G.

Heilfurth,

Heimatbeilage für

das Schwandorf er Tagblatt und die Burglengenfelder Zeitung, 22, 1971, S. 62). s

W. Steinitz, „Aufgaben und Ziele der volkskundlichen Arbeit in der D D R " , in: Wissenschaftliche Annalen, 2, Berlin 1953, S. 6 ; derselbe, D i e volkskundliche Arbeit in der D D R , Leipzig 1955, S. 2 3 ; H . Kothe, „Zur Verbreitung und Geschichte landwirtschaftlicher Arbeitsgeräte in Deutschland", in: Wissenschaftliche Annalen, 2, 1953, S. 739 ff.; derselbe, „ D i e vordringlichsten Aufgaben der Ethnographie in der D D R " , in: Völkerforschung. Vorträge der Tagung für Völkerkunde an der Humboldt-Universität Berlin vom 2 5 . - 2 7 . April 1952, Berlin 1954, S. 83 f.

7

Vgl. Jacobeit, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft, S. 144 f.

8

H. Kothe, Zur Verbreitung und Geschichte des Pfluges, Phil. Diss., Göttingen 1 9 4 7 ; W. Jacobeit, D a s Joch. Entwicklung, Alter und Verbreitung, dargestellt vornehmlich für den mitteleuropäischen Raum, Phil. Diss., Göttingen 1 9 4 8 ; A. Lühning, D i e schneidenden Erntegeräte. Entwicklung

und

Verbreitung

Diss., Göttingen 1951.

unter

besonderer

Berücksichtigung

Technologie,

Nordwestdeutschlands,

Phil.

239

Arbeit und Gerät der Bauern

liehe V o l k s k u n d e , d i e mit ihren M e t h o d e n das T h e m a dann a u f g r e i f e n und w e i t e r k l ä r e n muß". 9 E i n großer Teil d e r V e r t r e t e r volkskundlicher Praxis, besonders die Museologen und V o l k s k u n d e - A r c h i v a r e , w i d m e n sich mit g r o ß e m E r n s t solcher D o k u m e n t a t i o n im Sinne v o n „Rettung". 1 0 D i e grundsätzliche N o t w e n d i g k e i t dieser Vorarbeit

wird

mit

solcher W e r t u n g v o n uns w e d e r v e r k a n n t noch unterschätzt, jedoch darf die D o k u m e n t a tion der äußeren Erscheinung nicht einzige A u f g a b e bleiben, w o r a u f e t w a E . Schlee d i e volkskundliche

Museologie reduzieren möchte. 1 1 S a m m l u n g und D o k u m e n t a t i o n

materiellen V o l k s k u l t u r , wenngleich dezentralisiert betrieben, hat heute in d e r

der BRD

einen beachtlichen Stand erreicht, jedoch erst geringe wissenschaftliche Ergebnisse h e r v o r gebracht. A b e r sicherlich k a m aus dieser Richtung auch einer d e r a m stärksten w i r k s a m e n A n s t ö ß e zur Legitimierung d e r „Arbeits- und Geräteforschung" („Wirtschaft" übrigens w i r d in den terminologischen K o n s t r u k t i o n e n w e i t g e h e n d v e r m i e d e n 1 2 ) durch d i e V o l k s kunde in d e r B R D . Auch die ersten bibliographischen Zusammenstellungen .kleinere regionale Übersichten und inhaltliche Sondierungen zur Sachforschung stammen v o r w i e g e n d aus der F e d e r jener kulturhistorisch orientierten P r a k t i k e r . 1 3 Neben der vereinzelten B e h a n d l u n g d e r materiellen V o l k s k u l t u r durch die a k a d e mische V o l k s k u n d e und d e r beschreibenden D o k u m e n t a t i o n durch die V o l k s k u n d e - P r a x i s erwuchs ein dritter wesentlicher Strang f ü r die Erforschung bäuerlicher A r b e i t

und

G e r ä t e in d e r B R D nach dem K r i e g e durch die neukonzipierte W e i t e r f ü h r u n g

des

„ A t l a s d e r deutschen V o l k s k u n d e " unter M . Z e n d e r u n d G . W i e g e l m a n n . Fragen mit ergologischem Inhalt und ebensolcher Zielsetzung w u r d e n d a m a l s erstmals gleichberechtigt in dieses A t l a s w e r k eingeschlossen. 14 F ü r d i e Interpretation d e r neu entstandenen 11

1IJ

11

12 13

14

T. Gebhard, „Möglichkeiten der Geräteforschung in Deutschland", in: Zeitschrift für Volkskunde, 56, 1960, S. 103. Arbeit und Gerät in volkskundlicher Dokumentation. Tagungsbericht der Kommission für Arbeitsund Geräteforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Schleswig 5.-8. April 1967, hsg. von W. Hansen, Münster 1969. Vgl. auch die Rezension dieses Buches durch U. Bentzien, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 16. Bd. (Neue Folge, Bd. 1), 1973, S. 255 f., und Anmerkung 21. Siehe W. Jacobeit, „Volkskundliche Museen in der BRD. Ein Literaturbericht", in: Forschungen und Berichte, Staatliche Museen zu Berlin, 17, 1976, S. 242. Darüber äußert sich auch neuerdings und sicher zutreffend Jacobeit, ebenda, S. 248. J. M. Ritz, „Bäuerliche Geräteforschung", in: Bayrisches Jahrbuch für Volkskunde, 1952, S. 1 4 ; E. Schlee, „Volkskunde der Sachsen", in: P. Ingwersen, Methodisches Handbuch für Heimatforschung, Schleswig 1 9 5 4 ; Gebhard, a. a. O.; M. Zender, „Bibliographische Hinweise", in: Zeitschrift für Volkskunde, 57, 1961, S. 309 ff.; G. Wiegelmann, „Zur Sachforschung im bäuerlichen Bereich", in: Zeitschrift für Volkskunde, 58, 1962, S. 99 ff. Hierher gehören auch regional enger begrenzte Arbeiten von M. Bringemeier und A. Wurmbach für Westfalen, von Hansen für Lippe, von Lühning für Schleswig-Holstein u. a. G. Wiegelmann, „Zur Erfassung bäuerlicher Sachgüter und Arbeitsverfahren. Möglichkeiten und Probleme eines Fragebogens", in: 3. Arbeitstagung über Fragen des Atlas der deutschen Volkskunde . . . vom 27. bis 29. April 1961. Protokollmanuskript, hsg. von der Arbeitsstelle des Atlas der deutschen Volkskunde, Bonn 1961, S. 19 ff.; derselbe, „Zur Sachforschung im bäuerlichen Bereich", a. a. O.; derselbe, „Erste Ergebnisse der ADV-Umfragen zur alten bäuerlichen Arbeit", in: Rheinische Vierteljahresblätter, 33, Bonn 1969, S. 208 ff.

240

R. QUIETZSCH

Kartenblätter zur materiellen Kultur wurde die kulturgeographische Deutung der Befunde bevorzugt, wofür das methodisch-theoretische Rüstzeug vor allem aus der skandinavischen Forschung bezogen wird. 1 5 In der historischen Vertiefung dieser Kartenblätter, die vorwiegend Zustände des 19. und 20. Jahrhunderts repräsentieren, gelangte Wiegelmann allerdings dadurch zu Fehleinschätzungen, daß er seine Kartenbilder über mehrere Jahrhunderte statisch rückprejizierte, wie das kürzlich U. Bentzien nachwies. 16 In seinen früheren Arbeiten zur Innovations- und Reliktraumforschung schenkte Wiegelmann den Aussagen agrarhistorischer Quellen, auch den sozialgeschichtlichen Befunden weit größere Aufmerksamkeit, so daß auch die Ergebnisse entsprechend überzeugender waren. 17 Neuerdings aber - vermutlich in Anpassung an kulturanthropologische Entwicklungstendenzen seines Faches - sucht er unterschiedliche räumliche Erscheinungen sozial-ökonomisch relevanter Phänomene vor allem aus unterschiedlichen Bewußtseinshaltungen der jeweiligen Trägerschichten zu erklären. t s Das aber ist zweifellos ein methodologischer Schritt nach rückwärts. Bisher wurde deutlich, daß nach dem Kriege aus allen Bereichen der Volkskunde in der BRD, also aus Lehre, Praxis und Forschung, Bestrebungen kamen, den Forschungsgegenstand durch die Aufnahme der Sachforschung zu erweitern. Dies aber konnte gegen konservative Auffassungen vom Inhalt des Faches nur sehr langsam durchgesetzt werden. Anfang der sechziger Jahre war eine Zusammenfassung entsprechender Forschungsergebnisse nicht nur hinsichtlich des bis dahin erschlossenen Materials möglich, sondern sie war auch herangereift. Sie erfolgte 1962 durch J. Dünninger unter dem Titel „Hauswesen und Tagewerk". 1 9 Bezeichnenderweise kam diese Zusammenfassung zwar aus der Feder eines Volkskundlers, erschien jedoch damals nicht in einem volkskundlichen Handbuch, sondern in einem philologischen. Die Titelwahl geht auf das ohne Nachfolge gebliebene, bereits 1927 erschienene Werk W . Bomanns zurück („Bäuerliches Hauswesen und Tagewerk im alten Niedersachsen"). Dünninger wollte darin „eine Einheit (ausdrücken), zu der sich die einzelnen Phänomene zusammenfügen und von der aus sie ihre besondere G. Wiegelmann, „Die räumliche Methode in der Geräteforschung", in: Arbeit und Volksleben. Deutscher Volkskundekongreß 1965 in Marburg, Göttingen 1967, S. 140; derselbe, „The Atlas der deutschen Volkskunde and the Geographical Research Method", in: Journal of the Folklore Institute, 5, Bloomington 1968, Nr. 2/3, S. 187. 16 U. Bentzien, „Arbeit und Arbeitsgerät der Bauern zur Zeit des deutschen Bauernkrieges", in: Der arm man 1525. Volkskundliche Studien, hsg. von H. Strobach, Berlin 1975, S. 36 ff. 17 G. Wiegelmann, „Zum Problem der bäuerlichen Arbeitsteilung in Mitteleuropa", in: Aus Geschichte und Landeskunde. Forschungen und Darstellungen. Franz Steinbach zum 65. Geburtstag gewidmet, Bonn 1960, S. 637 ff.; derselbe, „Reliktzonen und moderne Gebiete in der bäuerlichen Sachkultur der Neuzeit", in: Kulturraumprobleme aus Ostmitteleuropa und Asien. Festschrift Herbert Schienger, hsg. von G. Sandner, Kiel 1964, S. 23-36. 1H G. Wiegelmann, „Innovationszentren in der ländlichen Sachkultur Mitteleuropas", in: Volkskultur und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag, hsg. von D. Harmening u. a„ Berlin (West) 1970, S. 120 ff. Vgl. auch die Rezension dieses Aufsatzes durch R. Weinhold, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 16. Bd. (Neue Folge, Bd. 1), 1973, S. 223 f. 1'J J. Dünninger, „Hauswesen und Tagewerk", in: Deutsche Philologie im Aufriss, hsg. von W. Stammler, Bd. 3, Berlin(West) 1962, Sp. 2781-2884. J,j

241

Arbeit und Gerät der Bauern

Bestimmung erfahren", „das von der Sitte zusammengefügte Lebensganze". 20 Unter dieser „ganzheitlichen" Blickrichtung konnte der historische Aspekt allerdings keinen gleichberechtigten Platz finden und wurde daher auch nur ungenügend berücksichtigt. Die „historische Reife" sowie der inzwischen von außen wirkende Druck eines gewaltigen Nachholebedarfs gegenüber der entsprechenden Forschung in den übrigen kapitalistischen Ländern (darunter besonders Österreich, die Schweiz und die skandinavischen Länder) und in den sozialistischen Ländern führten schließlich dazu, daß die volkskundliche Beschäftigung mit „Arbeit" 1965 auf dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Marburg endlich auch allgemein anerkannt wurde. Durch W. Hansen wurde damals innerhalb der Gesellschaft auch die „Kommission für Arbeits- und Geräteforschung" begründet. 21 Entdeckt wurde in Marburg nicht allein der gerechtfertigte fachverbindende Aspekt einer solchen Kongreßthematik, sondern vor allem auch ein angeblich ideologie- und klassenüberwindender Inhalt solcher Forschungen, nämlich „das progresssive Ineinandergreifen der menschlichen Arbeit (heute) und der daraus resultierenden Leistungen über die Erde hin, trotz aller politischen und ideologischen Grenzen, Konflikte und Auseinandersetzungen". 22 Die Absicht der Marburger Kongreßveranstalter zielte also auch auf eine Verwertung der Ergebnisse im Sinne der modernen Kultur- und Sozial-Anthropologie. In diesem Zusammenhang war die Diskussion allgemeinmenschlicher Verhaltensspezifika erwünscht, jedoch wurde über den Klassencharakter und die materiell-sozialen Wurzeln der Arbeit kein Wort verloren. Es sei hier noch auf eine weitere Richtung in der Volkskunde der BRD hingewiesen, die zwar Arbeit und Gerät der Bauern bisher nur am Rande betrachtet hat, sich aber ausdrücklich als „historische Volkskunde" proklamiert. 23 Einer ihrer führenden Vertreter ist K.-S. Kramer. Sein Geschichtsbild ist bürgerlich-konservativ geprägt. Er begreift Geschichte vor allem als eine Abfolge kriegerischer und anderer katastrophaler Ereignisse, denen das Volk ausgesetzt sei. „Volk" erscheint demnach bei Kramer nicht als eine aktive geschichtsbewegende Kraft, so daß in seinen Untersuchungen die KlassenEbenda, S. 2781 f. 21

W. Hansen, „Aufbau und Zielsetzung einer Kommission für Geräteforschung", in: Arbeit und Volksleben,

S. 100 ff.; derselbe, „Die Kommission für Arbeit und Gerät in der

Deutschen

Gesellschaft für Volkskunde", in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde, 14, Münster 1967, S. 2 3 3 ff.; derselbe, „Vorwort", in: Arbeit und Gerät in volkskundlicher

Dokumentation,

S. IX ff.; M. Bringemeier, „Kommission für Arbeit und Gerät", in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde, 13, Münster 1966, S. 219 f. 22

G. Heilfurth, „Die Arbeit als kulturanthropologisch-volkskundliches

Problem", in: Arbeit

und

Volksleben, S. 1. 33

K. Kramer, „Historische Methode und Gegenwartsforschung in der Volkskunde", in: Populus Revisus. Beiträge zur Erforschung der Gegenwart, Tübingen diese Richtung am deutlichsten. Zur Gesamteinschätzung,

1966, S. 7 ff. Hier äußert sich

besonders von Kramer,

siehe

auch

B. Weißel, „Zum Gegenstand und zu den Aufgaben der volkskundlichen Wissenschaft in der D D R " , in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 16. Bd. (Neue Folge, Bd. 1), 1973, S. 17 f.; H. Strobach, „Einleitung", in: Der arm man 1525, S. 9 f . ; Weinhold, a . a . O . , S. 224, und den Beitrag von Weinhold in diesem Band. 16

K u l t u r u. E t h n o s

242

R. QUIETZSCH

auseinandersetzungen im Spiegel der Kultur und Lebensweise auch keine Rolle spielen. Das Untersuchungsziel Kramers ist die Herausarbeitung sogenannter „Lebensstile", die sich als „lebendige geistige Kraft" relativ beharrender „Gemeinschaften" in jeweils bestimmten geographischen Räumen ausdrücken. 24 Nicht nur der Geschichtsbegriff, auch der Kultur- und Volksbegriff wird so durch Kramer verdunkelt. Ganz folgerichtig beurteilt Kramer das 18. Jahrhundert hinsichtlich der kulturellen Auswirkungen dann auch als negativ, da Merkantilismus und Aufklärung die überlieferten Ordnungen und Werte, eben jene tradierten „Lebensstile", zerstören, so d a ß sein historisches Interesse dort ebenfalls erlischt. Kramers Methode wäre allerdings zutreffender als „volkskundlich-archivalisch" zu charakterisieren. - Aber dennoch, Kramer hebt, soweit ich sehe, als einziger Volkskundler in der B R D das 18. Jahrhundert als historische Übergangsperiode heraus. Allein dieser Erkenntnis gebührt immerhin Beachtung, zumal erst zwei Jahre vor dem Erscheinen des Kramerschen Buches über das Volksleben in den Gebieten Bamberg/ Coburg von anderer Seite der Vorstoß ins 19. Jahrhundert gelungen war. - I. WeberKellermann hatte mit der Vorstellung einer heilen bäuerlichen Welt des 19. Jahrhunderts gebrochen, indem sie den landwirtschaftlichen Lohnarbeiter als Träger von Erntebräuchen untersuchte, wobei sie bemüht war, diese Trägerschicht auch in der sozialökonomischen Gebundenheit darzustellen. 25 Die Periode der industriellen Revolution aber rückte eigentlich erst später und nun akzentuierter in das Licht der BRD-Volkskunde. Der 18. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Trier befaßte sich 1971 ausschließlich mit dieser Thematik, um aus dieser Zeit vor allem „den tiefgreifenden Wandel unserer Zeit adäquat (zu) fassen". 26 Mit dieser Absicht leistet die Volkskunde in der B R D auch ihren Beitrag zur Stützung der bürgerlichen Industriegesellschaftstheorien. Die einseitige, undifferenzierte positive Wertung einer „Verbürgerlichung" der Volkskultur im 19. Jahrhundert, eingeschlossen die bäuerliche Kultur, ist dann zum Beispiel die Untersuchungsabsicht von U. Bauche und B. Denecke. 27 Keine Verbürgerlichung im 19. Jahrhundert, sondern vielK. Kramer, Volksleben im Hochstift Bamberg und im Fürstentum Coburg

1500-1800.

Eine

Volkskunde auf Grund archivalischer Quellen, Würzburg 1 9 6 7 , S. 2 8 0 ff. 25

1. Weber-Kellermann,

Erntebrauch in der ländlichen

Arbeitswelt

des

19. Jahrhunderts.

Auf

Grund der Mannhardtbefragung in Deutschland von 1 8 6 5 , Marburg 1 9 6 5 . Vgl. auch dieselbe, „Volkskundliche Betrachtungen zum ländlichen Großbetrieb im 1 9 . Jahrhundert. Im Zusammenhang mit den Mannhardt-Fragebogen von 1 8 6 5 , in: Marburger Universitätsbund. Jahrbuch, 1 9 6 3 , S. 5 0 1 ff.; dieselbe, „Landarbeiterbräuche im Deutschland des 19. Jahrhunderts", in: Sociologus. Zeitschrift

für

Berlin(West)

empirische

1965,

Soziologie,

sozialpsychologische

S. 4 4 f f . ; dieselbe, „Arbeitsbräuche

und

ethnologische

und Arbeitsfeste

Forschung,

15,

der Drescher",

in:

Arbeit und Volksleben, S. 3 6 2 f f . ; dieselbe, „Betrachtungen zu Wilhelm Mannhardts Umfrage von 1 8 6 5 über Arbeitsgerät und bäuerliche Arbeit", in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 14, Frankfurt/M. 1 9 6 6 , 4 5 ff. 28

G. Wiegelmann,

„Vorwort", in: Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert. Verhandlungen

des

18. Deutschen Volkskunde-Kongresses in Trier . . . 1 9 7 1 , Göttingen 1 9 7 3 , S. 5. 27

U. Bauche, „Rezeption städtisch-bürgerlicher Formen und regionale Sonderung in den Elbmarschen", in: Kultureller Wandel im 1 9 . Jahrhundert, S. 72 f f . ; B. Denecke, „Fragen der Rezeption bürgerlicher Sachkultur bei der ländlichen Bevölkerung", in: Ebenda, S. 5 0 ff.

Arbeit und Gerät der Bauern

243

mehr Proletarisierung in Kultur und Lebensweise am Beispiel der Landarbeiter kann dagegen der genannten Darstellung von Weber-Kellermann entnommen werden. Diese Seite der Kulturentwicklung blieb freilich 1971 auf dem Trierer Volkskunde-Kongreß ausgeklammert. Wie diese Betrachtung zeigen sollte, ist die bürgerliche Volkskunde in der B R D , soweit sie sich mit bäuerlicher Arbeit und Wirtschaft befaßt, von folgenden Grundzügen gekennzeichnet: Sie verwendet hauptsächlich einen klassenindifferenten, teilweise noch psychologisch definierten Volksbegrifl. Bei der Interpretation des gewonnenen Materials bleibt die sozialökonomische Basis weitgehend ausgeschlossen, obwohl die betreffenden Forschungsgegenstände gerade dort ihre primäre Erscheinung und eigentliche historische Wurzel haben. Allen anderen Deutungen und Bezügen steht dagegen ein weiter Spielraum offen. Abgesehen davon, daß ein historischer Aspekt in den Untersuchungen völlig fehlen kann, ist die Historisierung der Forschung graduell unterschiedlich ausgeprägt, so daß Kulturbeharrung über mehrere Jahrhunderte durchaus eingeschlossen werden kann. D e r historischen Forschung ist aber insgesamt gemeinsam, daß Geschichte nie als gesetzmäßiges Nacheinander jeweils sich ablösender herrschender und unterdrückter Klassen begriffen wird. Verstärkt wird auch die Arbeits- und Geräteforschung innerhalb der Volkskunde der B R D von soziologischen Fragestellungen durchdrungen. In der soziologisierten sogenannten „kritischen Volkskunde" der Tübinger Schule fehlt jedoch Arbeits- und Geräteforschung völlig, da sie den gegenwartsbezogenen, auf Anwendung zielenden Absichten dieser Schule um H. Bausinger nicht nutzbar gemacht werden kann. D i e Forschungen zur materiellen Volkskultur innerhalb der BRD-Volkskunde bieten aus den genannten Gründen keine für uns verwertbaren methodologischen Konzepte an. Wohl aber sind einige der Yotsümngsmethoden auch für uns durchaus verwertbar. Auch zeichnet sich die Mehrzahl dieser Arbeiten durch pröblemreiche Fragestellungen aus, denen wir uns nicht verschließen sollten. Beachtlich ist ebenfalls die große Materialfülle der Arbeiten, die durch den zumeist empirischen Forschungsansatz bedingt ist und die wir für unsere Interpretationen ebenfalls nutzbar machen sollten.

16*

Hans-Jürgen Räch

Bemerkungen zu Wolfgang Emmerichs Buch „Proletarische Lebensläufe"

In seinem Beitrag „Zur Stellung und Rolle der kulturanthropologischen Orientierung in der BRD-Volkskunde" hat B. Weißel u. a. darauf verwiesen, daß sich „neben einer großen Anzahl von Vertretern einer konservativen, theoretisch wenig reflektierten, zum Teil erklärt reaktionären Richtung" im wesentlichen drei Richtungen voneinander abheben, die sich um die Ausprägung eigener neuartiger Forschungsprofile und um eine theoretisch-methodologische Begründung ihrer Arbeitsprogramme bemühten. Es seien dies erstens die historisch-archivalische Richtung, zweitens die kulturanthropologische Richtung und drittens die kritisch-sozialwissenschaftliche Richtung, d. h. die sogenannte „Tübinger Schule" um H. Bausinger. 1 Wenn sicher auch noch nicht als vierte Richtung zu bezeichnen, so verdienen aber doch einige weitere Vertreter der Volkskunde bzw. mit ihr verbundener Disziplinen unbedingt unsere Aufmerksamkeit. Gemeint sind solche Wissenschaftler, die sich zunehmend um marxistische Positionen bemühen bzw. diese bereits eingenommen haben. Ich denke an D. Kramer, dessen polemischer Aufsatz „Wem nützt Volkskunde?" aus dem Jahre 1970 2 ebenso wie seine weiteren Arbeiten 3 dieses Bemühen verdeutlichen und dessen Buch „Freizeit und Reproduktion der Arbeitskraft" 4 kürzlich in den „Weimarer Beiträgen" von E. Heckel ausführlich rezensiert und uneingeschränkt positiv beurteilt wurde. 5 Es heißt dort z. B . : „Das Buch ist in dreifacher Hinsicht von Bedeutung: Erstens wird ein 'wirksamer Beitrag zur Begründung der kulturpolitischen Strategie der Arbeiterbewegung geleistet. Zweitens erfolgt eine Auseinandersetzung mit denjenigen bürgerlichen Kulturauffassungen rechter wie ,linker' Prägung, die darauf zielen, die Arbeiterklasse kulturell zu entmündigen. Drittens gewinnt der Autor aus der Analyse realer Prozesse neue Einsichten für die Weiterführung der marxistischen kulturtheoretischen Forschung". 6 Ich würde dieser Gruppe aber auch W . Emmerich zurechnen, dessen erstes Buch „Germanistische Volkstumsideologie" zunächst noch weitgehend - wenn nicht sogar völlig 1

In diesem Band, S. 1 0 4 f.

2

D. Kramer, „Wem nützt Volkskunde?", in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 6 6 , 1 9 7 0 , S. 1 - 1 6 .

3

D. Kramer, „Probleme der gesellschaftlichen und beruflichen Praxis in der Kultursoziologie und europäischen Ethnologie", in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 6 7 , 1 9 7 1 , S. 2 2 8 - 2 4 3 . D. Kramer, Freizeit und Reproduktion der Arbeitskraft, Köln 1 9 7 5 .

5

Weimarer Beiträge, 23. Jg., 1 9 7 6 , Heft 8, S. 1 7 9 - 1 8 3 .

« Ebenda, S. 1 7 9 .

246

H.-J. R Ä C H

den Intentionen der Bausinger-Schule entsprach, in deren Reihe „Volksleben" es ja auch 1968 erschien, 7 das aber in der überarbeiteten Fassung von 1971 8 schon wesentlich über die erste Fassung, die zugleich Dissertationsfassung war, hinausging, wenngleich Emmerich auch hierin noch - wie H. Strobach in einer ausführlichen Analyse nachwies - trotz der Übernahme marxistischer Einzelaspekte oder gerade wegen der Aufnahme nur einzelner Prinzipien des Marxismus-Leninismus letztlich doch auf bürgerlichen Positionen beharren würde. 9 Sein politisches, antiimperialistisches Engagement verstärkend, dokumentiert Emmerich in seiner letzten mir vorliegenden Arbeit seinen inzwischen errungenen marxistischen Standpunkt. Es handelt sich um eine zweibändige Anthologie „Proletarische Lebensläufe", der er den Untertitel gab „Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland". 10 Allein die Quellenaufbereitung stellt ein bemerkenswertes Verdienst dar. Der westdeutsche marxistische Kulturtheoretiker K. Maase schreibt bezüglich des ersten Bandes (Anfänge bis 1914): „Nirgends bin ich bisher so umfassend und eindrucksvoll, so frisch und spannend über Arbeit und Freizeit, Gedanken und Kämpfe der Arbeiterfamilien dieser Zeit unterrichtet worden." 11 Und U. Münchow schreibt hinsichtlich des zweiten Bandes (1914 bis 1945), daß die besondere Attraktivität dieses Bandes überhaupt darin beruhe, daß er die Leser der B R D auf Schriftstellerpersönlichkeiten aufmerksam mache, deren Bücher dort nur schwer zugänglich sind. 12 Doch Emmerich bietet mehr als nur eindrucksvolles Anschauungsmaterial. Seine den beiden Bänden jeweils vorangestellten Einleitungen und die Einführungen zu den einzelnen, historisch-chronologisch gegliederten sieben Teilen (1740-1848, 1849-1870, 1871 bis 1890, 1891-1914, 1914-1918, 1918-1933 und 1933-1945) enthalten eine Fülle von Anregungen und konstruktiven Überlegungen zur Erfassung der verschiedensten Phänomene in der Kultur und Lebensweise des Proletariats. Zunächst aber sei darauf verwiesen, daß Emmerich - und das kennzeichnet seine gewachsene politische Reife - sich scharf von nostalgischen Verklärungen und Idyllisierungen der Arbeiterklasse und -bewegung abgrenzt, aber auch nicht den „traditionellen Strategien bürgerlicher Sozialkritik von Mitleid und Philanthropie" folgen will. 1 3 Im Gegenteil: Er schließt sich einer Forderung des österreichischen Schriftstellers M. Scharang an, der gefordert hatte, daß eine Dokumentation über das Zeigen des „Authenti7

W . Emmerich, Germanistische Volkstumsideologie.

Genese und Kritik der Volksforschung im

Dritten Reich, Tübingen 1 9 6 8 . 8

Derselbe, Germanistische Volkstumsideologie, Frankfurt/M. 1 9 7 1 .

9

H. Strobach, „Positionen und Grenzen der .kritischen Volkskunde' in der BRD. Bemerkungen zu Wolfgang Emmerichs Faschismuskritik", in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 1 6 (Neue Folge, Bd. 1), Berlin 1 9 7 3 , S. 4 5 - 9 1 , besonders S. 60.

lu

W.

Emmerich,

Proletarische

Lebensläufe.

Autobiographische

Dokumente

zur

Entstehung

der

Zweiten Kultur in Deutschland, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1 9 7 4 und 1 9 7 5 . 11

Marxistische Blätter. Für Probleme der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, 13. Jg., 1 9 7 5 , Heft 3,

12

Weimarer Beiträge, S. 1 5 6 .

la

Emmerich, Proletarische Lebensläufe, Bd. 1, S. 37.

S. 93.

Zu Emmerichs Buch „Proletarische Lebensläufe"

247

sehen" hinausgehen und vielmehr verdeutlichen müsse, „daß es veränderbar ist, verändert werden muß. Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung, die Hauptphänomene der Klassengesellschaft, nicht unter dem Aspekt von deren Aufhebung zu zeigen, ist zynisch".14 Ausdrücklich formuliert der Herausgeber dieser Anthologie sein Anliegen als ein praktisches, als einen Beitrag für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit unter den „abhängig Arbeitenden", zumal die Führung in der Sozialdemokratischen Partei der B R D sich zunehmend von ihrer eigenen revolutionären Tradition distanziert und, wie z. B. E. Engelberg in einer Rezension zu einer 1958 im SPD-Hausverlag erschienenen, um zwei Drittel gekürzten Ausgabe von A. Bebels Autobiographie „Aus meinem Leben" feststellt, „aus dem feurigen und klarsichtigen Kämpfer . . . einpn zahnlosen alten Onkel, der seine Anekdötchen erzählt", macht. 13 Emmerich dagegen möchte, daß seine Anthologie zwar auch ein „Lesebuch" ist, aber mit dem Erkenntnisziel, „die Entstehung des Proletariats als Klasse, die Entfaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung und die Herausbildung von Ansätzen einer zweiten Kultur . . . als einen zusammenhängenden historischen Prozeß . . . sichtbar zu machen." 16 Hervorhebenswert scheint mir ferner zu sein, d a ß Emmerich sich unter ausdrücklichem Hinweis auf Marx' „Deutsche Ideologie" darum bemüht, sowohl in seinen theoretischen Ausführungen 17 und Kommentaren als auch in der Auswahl der Texte den engen Zusammenhang von Produktionsweise und Lebensweise zu verdeutlichen. Auch das Bekenntnis zum „weiten Kulturbegriff", der die „produktive Arbeit des Menschen als zentralen Akt des kulturschöpferischen Prozesses auffaßt" 1 8 , verdeutlicht das tiefere Eindringen in marxistische kulturtheoretische Positionen. Besonders bemerkenswert aber scheint mir sein Exkurs über die Theorie von den zwei Kulturen in der Klassengesellschaft zu sein. 19 Im Anschluß an Lenins grundlegende Äußerungen dazu und unter Einbeziehung verschiedener Arbeiten der marxistischen Volkskunde in der D D R entwickelt er seinen Standpunkt. Emmerich unterstreicht Lenins Feststellung, d a ß die Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, der zweiten Kultur, sich zwar nicht automatisch, aber doch gesetzmäßig aus den Lebensbedingungen der werktätigen und ausgebeuteten Masse entwickeln. Er weist ferner darauf hin, daß diese zweite Kultur nicht unbedingt an eine klassenspezifische, proletarische Trägerschicht gebunden sein muß, daß vielmehr ihr sozialer und politischer Inhalt, nämlich das Aufzeigen der „Perspektive einer demokratischen und sozialistischen Veränderung der bestehenden Produktions- und Herrschaftsverhältnisse" 20 , ausschlaggebend sei. Im Verhältnis zur herrschenden Kultur der Bourgeoisie bleiben es jedoch nur Ansätze, und es wäre „pure Illusion zu glauben, die Ansätze demokratischer und sozialistischer Kultur könnten unter weiterhin kapitalistischen Produktions- und Herrschafts11

16 17 18

20

Ebenda. Zitiert nach ebenda, S. 11. Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 12 ff. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 3 0 - 3 5 . Ebenda, S. 34.

248

H.-J. R Ä C H

Verhältnissen jemals zur herrschenden Kultur werden". 21 Dennoch sei sie keine „Subkultur", wie sie von der gegenwärtigen bürgerlichen Sozialforschung (z. B. von G. Roth, R. Schwendter u. a.) oft, zum Teil sogar für die gesamte Arbeiterbewegung, genannt wird, sondern eher eine „Gegenkultur", insofern sie die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung und deren Kultur - sofern sie nur Klassenkultur ist - überwinden will. 22 Damit sind weiterführende, diskussionswürdige Fragen angeschnitten, die über einen im Vorwort einer Anthologie enthaltenen Exkurs hinausgehen und deren Erörterung wohl auch nicht in den Vorspann dieser Texte-Dokumentation gehören muß. Dennoch sei auf einen Aspekt noch kurz eingegangen: Lenin schrieb in seinen „Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage", daß es in jeder nationalen Kultur Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur - und seien es auch nur unentwickelte - gibt. 23 Ja, er sagt einige Seiten später sogar, daß es in jeder nationalen Kultur „zwei nationale Kulturen" gäbe 24 , und nennt für die russische zweite Kultur stellvertretend die Namen Tschernyschewsky und Plechanow. Es wird deutlich, daß die „zweite Kultur" keineswegs auf die schöpferischen Leistungen des Proletariats - wenn sie auch einen wichtigen, vielleicht sogar den wichtigsten Platz in ihr einnehmen - beschränkt ist. Zu ihr gehören daher wohl unbestritten die von Emmerich zu Recht in die Anthologie mit einbezogenen progressiven Schriftsteller wie L. Frank, B. H. Bürgel u. a. Die Kritik Münchows, daß sie „wenig zur Entstehung der zweiten" und sie setzt „proletarischen" Kultur hinzu - beigetragen hätten, 25 scheint mir nicht richtig, denn die „zweite Kultur" reduziert sich eben nicht auf die proletarische! Lenin sprach ausdrücklich von „demokratischen" und „sozialistischen" Elementen; erstere können sogar vom Bürgertum in seiner Aufstiegsphase und auch von anderen werktätigen Klassen und Schichten, etwa den Kleinbauern, den Handwerkern und der kleinbürgerlichen Intelligenz, noch in der Spätphase des Kapitalismus geschaffen sein, und die Arbeiterklasse ist berufen, diese zu bewahren und zu pflegen und vor Verfälschungen seitens der Bourgeoisie in ihrer Verfallsphase zu schützen. Lenin sagte: „ . . . so entnehmen wir jeder nationalen Kultur nur ihre demokratischen und ihre sozialistischen Elemente; entnehmen sie nur und unbedingt als Gegengewicht zur bürgerlichen Kultur". 26 Andererseits widerspricht sich auch Emmerich, wenn er z. B. in Frage stellt, ob jene Arbeiter, die „als Parlamentsabgeordnete, Redakteure der sozialdemokratischen und Gewerkschaftspresse, als Verwaltungsfunktionäre in Genossenschaften, Gewerkschafts- und Parteisekretariaten . . . nicht nur für die Arbeiterbewegung lebten, sondern auch von ihr", 27 noch Beiträge zur „zweiten Kultur" geleistet hätten. Hier hat Münchow recht, wenn sie darauf verweist, daß doch „gerade im 19. Jahrhundert und auch noch in der Weimarer Zeit proletarische Journalisten in der täglichen Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen und imperia-

21

Ebenda.

22

Ebenda.

23

W . I. Lenin, Werke, Bd. 2 0 , Berlin 1 9 6 8 , S. 9.

34

Ebenda, S. 1 7 .

25

Weimarer Beiträge, S. 1 5 4 .

26

Lenin, S. 9.

27

Emmerich, Proletarische Lebensläufe, Bd. 1, S. 25.

Zu Emmerichs Buch „Proletarische Lebensläufe"

249

listischen System der deutschen Bourgeoisie wahre Heldenleistungen vollbracht und dem Bild des Arbeiters wesentliche Züge verliehen" hätten. 28 E s gäbe weitere, diskussionswürdige und -bedürftige Aspekte im Buch Emmerichs. Hier und heute aber sollte nur gezeigt werden, daß infolge der härteren Klassenauseinandersetzungen der letzten Jahre in der B R D ein Neubedenken auch bei der Volkskunde und ihr verwandten Disziplinen eingesetzt hat und neben der reaktionären „Modernisierung" eben auch progressive, in ihren besten Vertretern sogar marxistische Tendenzen zu vermelden sind, zu denen ohne Zweifel auch Emmerich zu rechnen ist. 2S

Weimarer Beiträge, S. 154.

Helmut Reim

Zu den theoretischen und methodischen Positionen des Culture Area-Konzepts — Ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs zur „kulturellen Ökologie" J. H. Stewards

In ihrem Beitrag über den Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der USA charakterisierte Ju. P. Petrova-Averkieva die von J. H. Steward vertretene „heuristische Konzeption der kulturellen Ökologie" als eine „gewisse Synthese von technologischem Determinismus und geographischem Determinismus." 1 „Vertreten" und nicht „begründet" muß man wohl deshalb sagen, weil Stewards Konzeption ihr Vorbild und ihre Vorläufer in einer Schule der amerikanischen Völkerkunde findet, die dem alten „klassischen" wie dem Neoevolutionismus (und natürlich auch dem Marxismus) gegenüber eine gegensätzliche Position bezieht: die Lehre von den culture areas. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß die Stewards „kultureller Ökologie" eigene Tendenz, „nur die natürlichen Besonderheiten der Hauptnahrungsquellen in Betracht" zu ziehen2 sowie „die Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Gesellschaft als Prozeß der Anpassung der Kultur an die Umwelt" 3 zu interpretieren, bereits deutlich genug bei O. T. Mason und - vor allem - bei C. Wissler, einem der prominentesten Vertreter des culture area-Konzepts und des sogenannten „amerikanischen Diffusionismus" zum Ausdruck kommen. Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts, als sich an mehreren Universitäten Europas und Nordamerikas eine als Ethnographie, Ethnologie, Völkerkunde, Social und/oder Cultural Anthropology bezeichnete Wissenschaft als selbständiges akademisches Lehrfach zu etablieren begann, schickte man sich auch an, die während des 19. Jahrhunderts gewaltig angeschwollene Flut ethnographischer Nachrichten zu ordnen, d. h. die Völker der Erde ihrer Kultur nach zu klassifizieren. Innerhalb weniger Jahre unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwende entstanden gleich drei theoretisch-methodische Richtungen der bürgerlichen Völkerkunde, die sich unabhängig voneinander dieser Aufgabe annahmen: Erstens das Konzept der „Wirtschaftsformen", unter Einführung dieses Begriffs 1892 begründet von Eduard Hahn'* und 1896 zu einem regelrechten 1

Siehe Ju. P. Petrova-Averkieva, „Der Neoevolutionismus in der gegenwärtigen Ethnographie der USA", in diesem Band.

2

Ebenda.

a

Ebenda.

'* Siehe Eduard Hahn, „Die Wirtschaftsformen der Erde", in: Petermann's Mitteilungen, Bd. 38, Gotha 1892.

252

H. REIM

„System" der Völkerklassifikation ausgebaut durch E. Grosse 3 ; zweitens die Lehre von den „Kulturkreisen", sozusagen „aus der Taufe gehoben" von F. Graebner und B. Ankermann auf der denkwürdigen Sitzung der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" vom Dezember 1904 6 ; schließlich drittens eine Forschungsrichtung, die sich der Gliederung des amerikanischen Doppelkontinents in sogenannte „culture areas" verschrieben hatte. In einen etwas weiter gespannten wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, offenbart sich die letztgenannte Richtung als eine spezifisch neuweltliche Spielart jener allgemeinen Strömung in der bürgerlichen Ethnographie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Absage an den Evolutionismus motiviert wurde. Ihre Anfänge gehen nach A. L. Kroebers und F. Boas' Meinung auf die Ordnung von Museumskollektionen „on natural geographical lines instead of evolutionistically schematic ones" zurück. 7 Inwieweit dieser Darstellung im Hinblick auf den musealen Ursprung des culture areaKonzepts zuzustimmen ist, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Fest steht indessen, daß gleich der ursprünglichen Konzeption der „Wirtschaftsformen" durch Hahn, mit der ja „eine Art Urteil über die Höhe und die zeitliche Folge der Entwicklung der Wirtschaftsform" ausdrücklich vermieden werden sollte, 8 und vor allem der de-facto-Begründung der später so bezeichneten „kulturhistorischen Schule" durch F. Ratzel 9 auch hier der Anstoß von geographischer Seite kam. Denn es war der - als was er sich selbst begriff - „Technogeograph" Mason, der in einem 1894 erschienenen Artikel erstmalig von „culture or inventional areas" sprach, worunter er unverwechselbare geographische Milieutypen verstand, deren spezifische Bedingungen und Ressourcen zu bestimmten Techniken, Erfindungen und Gewerben ihrer Bewohner geführt hätten. 10 Das jedoch nicht unter einem kausalen Zwange, sondern als „Gelegenheit", diese Dinge zu schaffen. 11 Für eine Erörterung des methodengeschichtlichen Standortes des culture area-Konzepts ist es zudem nicht uninteressant, daß Ratzel dieses erste Anzeichen einer neuen, ihm sympathischen Richtung in der amerikanischen Völkerkunde als ein literarisches Zeugnis der „anthropogeographischen Methode in der Ethnologie" registrierte. 12 Doch erscheint 5

Siehe E. Grosse, Die Formen der Familie und die Formen der Wirthschaft, Freiburg i. Br./

s

F. Graebner,

Leipzig 1 8 9 6 . „Kulturkreise und Kulturschichten in Ozeanien"; B. Ankermann,

„Kulturkreise

und Kulturschichten in Afrika", beide in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 37, Berlin 1 9 0 5 . ' A . L. Kroeber, „Cultural and Natural Areas of Native North America", in: University

of

California Publications in American Archaeology and Ethnology, Bd. 38, Berkeley 1 9 3 9 , S. 4 ; vgl. auch F. Boas, General Anthropology, Boston 1 9 3 8 , S. 6 7 0 f. 8

Hahn, a. a. O., S. 8.

,J

D a ß Ratzel nicht nur als Vorläufer, sondern in theoretisch-methodischer Hinsicht als der eigentliche Begründer der Lehre von den „Kulturkreisen" zu gelten hat, geht aus P. Lesers Kommentar zu R. Heine-Gelderns „One Hundred Years of Ethnological Theory in the

German-speaking

Countries", in: Current Anthropology, Bd. 5, 1 9 6 4 , S. 4 0 7 ff., hervor (ebenda, S. 4 1 7 ) . 10

O. T. Mason, „Technogeography or the Relation of the Earth to the Industries of Mankind", in: American Anthropologist, Bd. 7, 1 8 9 4 , S. 1 4 8 f.

11

O. T. Mason, „Influence of Environment upon Human Industries or Arts", in: Annual Report

13

F. Ratzel, Anthropogeographie, Bd. I, Stuttgart 1 8 9 9 , S. 5 8 1 .

of the Board of Regents of the Smithsonian institution to July, 1 8 9 5 , Washington 1 8 9 6 , S. 6 6 2 .

253

Die „kulturelle Ökologie"

dieser Anspruch nur teilweise gerechtfertigt, da zu dieser Zeit (1899) in den völkerkundlichen Arbeiten Ratzels die Verschmelzung, ja Identifikation von „Anthropogeographie" und Diffusionismus längst vollzogen war. 13 Davon kann aber bei Mason nicht die Rede sein. Die Frage nach den Ursachen kultureller Parallelen, nach eventuellen „Kulturbeziehungen", „Urheimaten" und dergleichen berührte ihn überhaupt nicht. Was ihn im Gegenteil faszinierte, waren die Unterschiede bzw. Eigenheiten der Kulturen, die seiner Ansicht nach in Gestalt „of great isolated parts or patches" zu erfassen seien. 14 Diesem Ziele folgend entwarf er auf der Grundlage der physiographischen Gliederung des amerikanischen Doppelkontinents ein Schema der wirtschaftlich-kulturellen Klassifikation der indianischen Völker, das jahrzehntelang (bis zu seiner Revision durch Kroeber bzw. G. P. Murdock) wissenschaftlich unangefochten blieb und populärwissenschaftlich noch heute allgemein verbreitet wird. Damit tritt aber auch der grundlegende Unterschied in der Bedeutung Ratzels für die „kulturhistorische" Schule auf der einen und Masons für das culture area-Konzept auf der anderen Seite offen zutage: So begründet Ratzel nahezu das gesamte methodische Instrumentarium, das Graebner zur Aufstellung der sogenannten Kulturkreise dienen sollte 10 , ohne nur einen davon exemplifiziert oder als solchen bezeichnet zu haben. Demgegenüber antizipierte Mason, von Details abgesehen, sänitliche culture areas Wisslers unter eben diesem von ihm eingeführten Generalnenner; jedoch völlig unbekümmert um jegliche ethnographische Methode. 16 Ungeachtet dieser nicht unerheblichen Nuancen in der Gründerzeit beider Richtungen kam es in der nachfolgenden Etappe der wissenschaftlichen Profilierung und Schulenbildung zu einer gewissen „reservierten" Annäherung des culture area-Konzepts an die Positionen der Kulturkreislehre. Denn durch Wissler fanden die als „environments" vorgefertigten culture areas im nachhinein ihre methodische Begründung mit Hilfe eines 13

W . Schmidt und W . Koppers, die prominentesten Vertreter der sogenannten „Wiener

kultur-

historischen Schule", sehen ihre eigene Richtung als die Fortführung einer - wie sie sie nennen „Migrationstheorie" Ratzels, die deren „Urheber. . . zum ersten Male in einer Untersuchung der afrikanischen Bögen vorführte" (W. Schmidt/W. Koppers, Völker und Kulturen, Erster Gesellschaft und Wirtschaft der Völker, Regensburg 1 9 2 4 , S. 3 2 f.). Dieser längeren

Teil: Arbeit

Ratzels („Die afrikanischen Bögen, ihre Verbreitung und Verwandtschaften", in: Abhandlungen der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Bd. XIII, Nr. III, Leipzig 1 8 9 1 ) ,

die im Untertitel

bezeichnenderweise als „eine

Classe,

anthropo-

geographische Studie" apostrophiert wird, ging ein kürzerer Aufsatz desselben Verfassers „Über die Stäbchenpanzer und ihre Verbreitung im nordpazifischen Gebiet" (in: Sitzungsbericht

der

philosophisch-philologischen

der

und

historischen

Klasse

der

Königlich

Bayrischen

Akademie

Wissenschaften, Jg. 1 8 8 6 , München 1 8 8 7 ) voraus, der als die erste diffusionistische Distributionsstudie auf völkerkundlichem Gebiet anzusehen ist. 14

Mason, Technogeography, a. a. O., S. 1 4 8 .

15

Jedenfalls sind die methodischen Erwägungen, die in den für Graebner und seine Schule so eminent wichtigen Kategorien des „Form-", „Quantitäts-" und „Kontinuitätskriteriums" explizite Gestalt annahmen, schon in der ersten Auflage des zweiten Bandes von Ratzels

„Anthropo-

geographie" (Stuttgart 1 8 9 1 , S. 6 0 3 - 6 0 6 , 646, 6 6 9 - 6 7 7 , 6 8 9 - 6 9 2 ) nachzulesen. (Vgl. hierzu auch F. Graebner, Methode der Ethnologie, Heidelberg 1 9 1 1 , S. 1 0 7 - 1 1 1 ; auch Leser, a. a. O.) Vgl. dazu Mason, Influence of Environment, a. a. O., S. 6 5 6 - 6 6 1 .

H. R E I M

254

„gemäßigten" oder „kontinentalen" Diffusionismus, wie man dieses richtungsspezifische Gegenstück des „extremen" oder „globalen" Diffusionismus Graebners und seiner Anhänger nennen könnte. D a ß sich Wissler hierbei trotz der angedeuteten Unterschiede von einer im Prinzip diffusionistischen Methode leiten ließ, bekunden insbesondere die von Kapitel zu Kapitel variierten Grundgedanken seines Buches „The Relation of Nature to Man in Aboriginal America". Von der simplen Feststellung ausgehend, daß die Zeugnisse menschlicher Kultur in geographischer Verbreitung auftreten, erörtert Wissler zunächst einmal den Standort der Völkerkunde im Gefüge der Wissenschaften, wobei er zu der Auffassung gelangt, daß gleich der Geologie und Biologie „anthropology is one of the earth sciences, or those whose data have geography, or distribution". 17 D a nun diese „Erdwissenschaften", wie er weiter meint, „ . . . deal with things that are segregated in patches over the earth, whereas chemistry, physics, mathematics, etc., deal with processes that are the same wherever they may be", 18 gipfelt das Ganze in der methodischen Maxime: „ . , . with the earth sciences the most important matter in distribution." 10 Nun wäre ja die akzentuierte Forderung nach Distributionsstudien allein noch kein Beweis für das diifusionistische Denken Wisslers. Jedoch zum A und O einer als „Erdwissenschaft" verstandenen Völkerkunde erhoben und damit abgeleitet aus einer - auch schon in den zwanziger Jahren - antiquierten Trennung der „beschreibenden" von den „exakten" Naturwissenschaften 20 ergibt sie auch ohne explizite Polemik gegen den Evolutionismus eine Ausgangsposition, die sich bis ins Detail mit jener deckt, die Graebner im „historisch-kritischen Teil" seiner „Methode der Ethnologie" bezieht. Unter einem allerdings wesentlich höheren Aufwand an Gelehrsamkeit - und im Vergleich zu Wisslers straightaway-Argumentation ist das keineswegs ironisch gemeint - kritisiert Graebner nämlich „ . . . die Erscheinung, daß in der älteren ethnologischen Methodik neben spezifisch biologischen Begriffen Prinzipien der sogenannten exakten Naturwissenschaften in den Vordergrund treten", 21 was „vor allem die verhältnismäßige Vernachlässigung der Einzeltatsache und ihrer besonderen Kausalbeziehungen" zur Folge gehabt hätte. 22 Wie aber Wisslers Untersuchungen zahlreicher Kulturelemente und ihrer Verbreitung "

C. Wissler, The Relation of Nature to Man in Aboriginal America, N e w York 1926, S. X I I I .

18

Ebenda.

19

Ebenda.

20

Nach kompetentem Urteil beruhte die Gegenüberstellung der Zoologie und Botanik als „beschreibende" zur Physik und Chemie als „ e x a k t e " Naturwissenschaften auf methodischen Unterscheidungen, die bis etwa zur Mitte des vorigen Jahrhunderts Gültigkeit besaßen, „in neuerer Zeit" jedoch „nur noch bedingt berechtigt" seien ( D . v. Denffer, in: E . Strasburger, Lehrbuch der Botanik für Hochschulen, Stuttgart 1958, S. 5). Den im Grunde gleichen Zusammenhang betreffend, heißt es in bezug auf die Geologie: „ D i e Formen der Landschaft, die Beschaffenheit des Ackerbodens, die Art der Gesteine . . . sind vorübergehende Erscheinungsformen

zeitloser

Gesetze. Überall auf der E r d e gelten diese Gesetze, und überall können sie sich uns e r s c h l i e ß e n . . . Darum können wir, wo es auch sei, vom Häuslichen ausgehen, um vorzustoßen zu den letzten Fragen

des

Werdens

unserer

Heimatplaneten. . . "

Leipzig/Jena/Berlin 1962, S. 7). 21

Graebner, Methode der Ethnologie, S. 77.

22

Ebenda.

(K.

v.

Bülow,

Geologie

für

jedermann,

D i e „kulturelle Ö k o l o g i e "

255

bekunden, ist es gerade das ethnographische Detail und seine Zusammenhänge, womit er sich sowohl in „The Relation of Nature to Man in Aboriginal America" als auch in „The American Indian" in extenso beschäftigt. 23 D a er obendrein die Völkerkunde in den Kreis der „Erdwissenschaften", sprich „beschreibenden" Naturwissenschaften veralteter Klassifikation stellt, scheint eine Betrachtung der, wie es bei Graebner mit polemischer Spitze gegen die „ältere Schule" heißt, „Gesamtkultur der Menschheit als eine mehr oder weniger homogene Masse mit ebenso mehr oder weniger einheitlicher Entwicklungstendenz" 24 von vornherein ausgeschlossen. Von dieser mit Graebner geteilten Grundposition aus bewegt sich Wisslers Denken durchaus folgerichtig in unverkennbar diffusionistischen Bahnen - und das selbst dann, wenn er von der „Evolution der Kultur" spricht, ja sogar ein diesbezügliches „Gesetz" formuliert. So besteht ebendieses „law in the evolution of culture" seiner Meinung nach darin, daß „. . . all traits of culture that lead to the making of material objects or to the development of mechanical processes, first appear in simple form and are them diffused from one tribe to another, but that later, in some central spot, changes will be made by elaborating the object or process which will be diffused in turn. This will continue indefinitely, but at any given time a cross-section of these distribution will show the more complicated ones to have a restricted central position." 23 Dieses „Gesetz", das sich bei Wisslers betont empirischer Darstellungsweise 2 " zunächst allein auf technisch-materielle Objekte und Prozesse bezieht (z. B. Tipi, Reifen- und Ballspiele, Mokassins, Auslegerboote 27 ), wird nach weiteren Studien zur Verbreitung sozialer, kultischer und künstlerischer Erscheinungen (in Wisslers Reihenfolge z. B . des Federmosaiks, des Lippen- und Nasenpflocks, der Altersklassen, des Sonnentanzes, des Schwiegermutter-Tabus und gewisser Opferbräuche 28 ) auf offenbar alle Elemente menschlicher Kultur ausgedehnt, wenn gesagt wird: „In short, all true culture-complexes are distributed in one and the same way", 29 d. h. näher erläutert, „. . . the structural units in a trait-complex will fall into a zoned distribution around a common center." 30 D a aber diese Form der Distribution für Wissler ein Phänomen von „offensichtlicher Universalität" ist, 31 leitet er daraus ein zweites Gesetz ab. Dieses, wie er es nennt, „law of diffusion" besteht darin, „that anthropological traits tend to diffuse in all directions from their centers of origin."' 2 Wenn wir nun weiter erfahren, Von den 222 Seiten Text von „The Relation of Nature to Man in Aboriginal America" sind 116 der Beschreibung und Verbreitung ausgewählter Kulturelemente vorbehalten;

desgleichen

beansprucht die Darstellung der indianischen Kultur in all ihren Zügen (traits) ebenfalls etwa die Hälfte des Textes von „The American Indian" (New York 1922). 21

Graebner, Methode der Ethnologie, S. 77.

25

Wissler, The R e a k t i o n , S. 41.

28

Ebenda, S. X I - X V I I , 180 ff.

27

Ebenda, S. 1 - 4 0 .

28

Ebenda, S. 4 6 - 7 6 , 8 0 - 1 1 2 .

29

Ebenda, S. 116.

:w

Ebenda, S. 181.

31

Ebenda, S. 182 f.

32

Ebenda, S. 183.

H. REIM

256

- daß „culture areas . . . are generalizations . . . based upon facts of coincidence in distribution", 33 - daß z. B. „the California culture area is defined by the limits to a large number of separate traits distributions with approximately coincident centers",34 - daß „between two contiguous culture centers will be found many other social units with intermediate cultures", 35 und - daß „these (die letztgenannten, H. R.) relations are so consistent that one can almost predict the culture of a given unit when its geographical position with respect to the established centers is known", 36 wird vollends deutlich: Unter den methodischen Intensionen Wisslers nahmen die culture areas den Charakter diffusionistischer Konstruktionen an. Und daß es sich um „Konstruktionen" in einem geradezu geometrischen Sinne handelt, geht aus Wisslers Äußerungen zur Art ihrer kartographischen Darstellung hervor, wenn es heißt: the culture areas we have designated serve to differentiate culture centers. This is why we have used straight and angular boundaries for our maps instead of more definite curved contours. These boundaries, in fact, are merely diagrammatic, serving to indicate the loci of the points where culture stands half way between that of the contiguous centers."37 Reflektiert aber einerseits die Form der Wisslerschen Karte 38 die diffusionistischen Ideen ihres Autors, so andererseits ihr Inhalt das „environmentalistische" Erbe Masons. Dieses Erbe in Gestalt der 1896 aufgestellten „American Indian environments or culture areas" 39 und seine bis auf Nebensächlichkeiten pauschale Übernahme durch Wissler sind es aber auch, die dem Diffusionismus des culture area-Konzepts seine besondere Note verleihen, die ihn von vorherein zur „Mäßigung" zwingen. Wie sollte denn auch die Beibehaltung und methodische Untermauerung von immerhin achtzehn (bei Mason) bzw. fünfzehn (bei Wissler) amerikanischen culture areas mit einer Lehre vereinbar sein, die (wie die „kulturhistorische" Schule Graebners und Schmidts) die unabhängige parallele Entstehung analoger Kulturformen prinzipiell ablehnt 40 und infolgedessen die Entfaltung der Menschheitskulturen von den Anfängen bis zur Entstehung der ältesten Staaten auf 33

Ebenda, S. 208.

34

Ebenda.

35

Wissler, The American Indian, S. 258.

36

Ebenda.

37

Ebenda.

38

Ebenda, Fig. 58, S. 219.

38

Mason, Influence of Environment, a. a. O., S- 6 5 6 - 6 6 1 .

40

Vgl. M. G. Lewin/S. A. Tokarev, „Die .Kulturhistorische Schule' in einer neuen Etappe", in: Sowjetwissenschaft, Folgenden

eine

Gesellschaftswissenschaftliche

Probe dieser extrem

Abteilung,

Jg.

1954,

diffusionistischen Denkungsart

Heft

4,

S.

im originalen

613.

Im

Wortlaut:

„Nicht einzeln gestreute Objekte, sondern ein ganzer geschlossener Kulturkomplex war es, den wir seinem wesentlichsten Bestände nach in allen fünf Erdteilen in charakteristischer Verbreitung wiedergefunden haben. . . Ein Teil

der Bestandteile . . . zeigte dabei die engsten

formellen

Übereinstimmungen, zu deren Erklärung die Annahme selbständiger Entwicklung . . . meines Erachtens versagen oder wenigstens als unfruchtbare Negation erscheinen muß." (F. Graebner, „ D i e melanesische Bogenkultur und ihre Verwandten", in: Anthropos, Bd. IV, 1909, S. 1031.)

257

Die „kulturelle Ökologie"

einige wenige rein individuelle und unwiederholbare Bildungen - die sogenannten „Kulturkreise" - reduziert? 41 Da Wissler offensichdich nicht bereit war, seinen diffusionistischen Neigungen ein Konzept zu opfern, das seiner eigenen Darstellung zufolge „anthropologists generally recognize",42 blieb ihm nur eines: Zurückhaltung oder, wenn man so will, „Kompromißbereitschaft" in der Frage, ob ähnliche Kulturerscheinungen bei mitunter weit voneinander entfernt lebenden Völkern aus Wanderungen bzw. Entlehnungen oder aus unabhängigen Parallelentwicklungen zu erklären sind. Zu dieser Frage, die unter dem Schlagwort „Diffusion oder Konvergenz" in der bürgerlichen Wissenschaft zum Kernproblem der völkerkundlichen Forschung aufgebauscht wurde, 43 nahm Wissler in verschiedenen Phasen seiner Arbeit an den culture areas auf zunehmend explizite Weise Stellung: 1. Als er 1912 erstmals eine Karte der nordamerikanischen culture areas vorlegte, 44 die übrigens bei genereller inhaltlicher Übereinstimmung mit der von 191745 noch keine Winkel und Gerade zur Markierung der Grenzen benutzte, ließ er es bei der Behauptung bewenden, daß kulturelle Ähnlichkeiten „are nearly always found among neighbors and not among widely scattered tribes".46 2. In „The American Indian" geht er direkt auf Graebners „Methode der Ethnologie" ein und distanziert sich von „the extreme view that independent invention is practically impossible".47 Statt dessen schlägt er als „ideale Methode" vor, „to proceed empirically", d. h., „to treat each case according to its own data and not to assume diffusion from a single locality until we have some good, specific reasons for so doing." 48 3. In „The Relation of Nature to M a n . . . " finden wir schließlich den interessanten Versuch, Graebner (obgleich ohne Namensnennung) mit den eigenen Waffen zu schlagen. Während nämlich Graebner von der „Unmöglichkeit" spricht, „objektive Kriterien für das Vorhandensein unabhängiger Parallelentwicklungen zu finden",49 ist es das erklärte Ziel Wisslers, qaeh einer Verbreitungsform von Kulturelementen zu suchen „that can be correlated with independent invention."50 Diese glaubt er darin gefunden zu haben, daß „the traits with disconnected distributions are surrounded by similar traits or conditions, 41

S. A . Tokarev, „Zum heutigen Stand dec Wiener Schule der Völkerkunde", in: EthnographischArchäologische Zeitschrift, 1. Jg., Heft 2, Berlin 1 9 6 0 , S. 1 2 3 . In der Zeit ihrer stärksten Entfaltung teilte die „Wiener Schule" Menschheit und Menschheitsgeschichte von

der

„exogam-

monogamen Urkultur" der Pygmäen bis zu den „Hochkulturen" der alten und neuen W e l t in ganze neun „Kulturkreise" (W. Schmidt, Ursprung und Werden der Religion, Münster S. 2 3 4 ) . 4J

C. Wissler, North American Indians of the Plains, N e w Y o r k 1 9 1 2 , S. 12.

43

Lewin/Tokarev, Die „Kulturhistorische Schule", a. a. O., S. 6 1 5 .

44

Wissler, North American Indians of the Plains, S. 1 1 .

45

In der ersten Auflage von „The American Indian".

m

Wissler, North American Indians of the Plains, S. 1 5 .

47

Wissler, The American Indian, S. 3 7 6 .

/,s

Ebenda, S. 3 7 7 .

49

Graebner, Methode der Ethnologie, S. 1 0 7 .

50

Wissler, The Relation, S. 45.

17

Kultur u. Ethnos

1930,

258

H.REIM

or are, in other words, determined by like causes",51 woraus er in Verbindung mit der einfachen Erfahrungstatsache, daß „one thing grows out of another", 52 den Schluß ableitet: „. . . when we have the satne broad substratum . . . one may anticipate parallel local devclopments". 53 - Wie das Ganze zu verstehen ist, läßt sich am besten an dem von Wissler gewählten Beispiel der (seinen Quellen zufolge) fünf verschiedenen Praktiken der Pfeilauslösung beim Bogenschießen nachlesend'1 Hier soll nur kurz auf den Kern der Sache eingegangen werden. Er besteht darin, daß die „mongolische" Form der Fingerhaltung beim Einlegen des Pfeilendes in die Sehne und dem gleichzeitigen Spannen des Bogens nach Wisslers Darstellung in zwei getrennten Verbreitungsgebieten auftritt. Einer breiten vom Pazifik bis nach Kleinasien und Arabien reichenden Zone, die über Äthiopien und Äquatorialafrika in einem schmalen geschwungenen Keil ausläuft, steht ein sehr begrenztes Areal im nördlichen Kalifornien gegenüber. Da jedoch beide Gebiete eine zentrale Position inmitten des weiter verbreiteten „mediterranen" Typs der Pfeilauslösung einnehmen und dieser wiederum von noch weiter verbreiteten „primitiven" Formen umgeben ist, folgert Wissler, daß „the appearance of this ('the Mongolian', H. R.) release in California . . . looks like a case of independent invention". 53 Bei dem eben geschilderten Versuch, den Diffusionismus sozusagen „homöopathisch" von seinen Auswüchsen zu kurieren, bleibt allerdings zu befürchten, daß er sich unversehens in das Gegenteil dessen verkehrt, was er bezweckt. Für Graebner ist nämlich die „Theorie, daß besonders enge und ins Einzelne gehende Übereinstimmungen (an verstreut oder nesterhaft' vorkommenden Kulturelementen, H. R.) durch gleichartige Kulturverhältnisse hervorgerufen werden" 56 (und genau das meint ja Wissler), noch lange kein Beweis für kulturelle Parallelentwicklungen. Denn in solchen Fällen „steigt die Bedeutung der Hilfskriterien", 57 d. h., es wird mit dem „Kriterium des Verwandtschaftsgrades" und dem „Kriterium der rudimentären Verbreitung" operiert, 58 die ja, bekannter unter den kürzeren Namen „Verwandtschafts-" bzw. „Kontinuitätskriterium", 59 im Verein mit dem „Form-" und „Quantitätskriterium" die kennzeichnenden Elemente der „kulturhistorischen" Methode sind. Auf die von Wissler so sorgsam erarbeitete Verbreitungsform der verschiedenen Arten der Pfeilauslösung angewendet, hätte das zur Folge, daß einerseits das Vorkommen des „mongolischen Typs" in Kalifornien mit Hilfe des sogenannten „Verschlagungsgedankens" 60 gedeutet werden könnte, während andererseits das 51

Ebenda, S. 77.

52

Ebenda, S. 208.

53

Ebenda.

M

Ebenda, S. 3 0 - 4 0 .

55

Ebenda, S. 39. Graebner, Methode der Ethnologie, S. 146.

57

Ebenda.

•">s Ebenda. 5!l

Ebenda, S. 119 f., 135, 144.

00

Der, wie ihn Graebner nennt, „Thileniussche Verschlagungsgedanke" (F. Graebner, „Melanesische Kultur in Nordostaustralien", in: Ethnologica, Bd. 2, H e f t 1, Köln/Leipzig 1913, S. 23) ist in das

„Verwandtschaftskriterium"

Formen

. . . verwandtschaftlicher

eingeschlossen

und

dient

Kulturzusammenhänge",

zur der

Bestimmung Form

der

einer

der

„Entlehnung".

„zwei Die

259

Die „kulturelle Ökologie"

(laut Wissler) „breite Substratum" der „primitiven Typen" im Sinne des „Kontinuitätskriteriums" als „Kulturbrücke zwischen den getrennten Gebieten"61 auszulegen wäre. Ob man tatsächlich das Auftreten dieser ostasiatischen Technik des Bogenschießens in Kalifornien aus der Verschlagung potentieller Überträger (z. B. japanischer Fischer, deren gestrandete Fahrzeuge an der Westküste Nordamerikas gefunden wurden, 62 ) zu erklären suchte, entzieht sich meiner Kenntnis. Sicher ist jedoch, daß für Graebner „gerade solche zerstreuten, aber auffallenden Gleichungen die frühere Existenz gleichartiger Kulturen in den betreffenden Gebieten postulieren",63 und daß er nicht zuletzt ostasiatisch-nordwestamerikanische Analogien zur Begründung seiner weltweiten „Bogenkultur" heranzog.64 Demnach ergibt sich: So offensichtlich es nicht in Wisslers Absicht lag, diese, nach dem Urteil eines dem Diffusionismus gewiß nicht fernstehenden Gelehrten,65 vermessenste Konstruktion im Ensemble der Graebnerschen Kulturkreise im nachhinein zu stützen, so offensichtlich zeigt sich aber auch die Brauchbarkeit der bisher beschriebenen Grundzüge seiner Methode für eben diese extrem diffusionistischen Zwecke. Denn wem könnten Wisslers Art des Herangehens an das, wie er sagt, „puzzle of disconnected distributions"66 und die daraus folgende Darstellung der Verbreitung und Verbreitungsformen der „arrow releases" wohl gelegener kommen als Graebner mit seiner These, daß „die Elemente der Bogenkultur im westlichen Nordamerika und Ostasien verhältnismäßig stärker auftreten als in Polynesien"? 67 Da Wissler aber bestrebt war, das culture area-Konzept zu halten und methodisch zu untermauern, dürfte ihm die diesbezügliche Schwäche seines konzilianten Diffusionismus auch selbst aufgegangen sein, wie überhaupt manches dafür spricht, daß dieser im Grunde als ein Tribut an den „Zeitgeist" der bürgerlichen Ethnographie zu verstehen ist.68 Denn andere ist die der „Urverwandtschaft" (Graebner, Methode der Ethnologie, S. 1 2 1 f.). Seiner Substanz nach geht dieser „Verschlagungsgedanke" auf zwei von Graebner herangezogene Arbeiten des ethnographischen Südseeforschers G. Thilenius zurück (zitiert bei Graebner,

Methode

der Ethnologie, S. 164, Anmerkung 1). 61

Ebenda, S. 1 2 0 . So berichtet C. Wilkes, Kommandeur der U. S. Exploring Expedition von 1 8 3 8 - 1 8 4 2 von einer japanischen Dschunke, die 1 8 3 3 bei Point Grenville im heutigen Staate Washington an Land gezogen wurde. Drei Mitglieder ihrer Besatzung überlebten den Schiffbruch, wurden von ortsansässigen Indianern gefangengenommen und schließlich von einem Agenten der Hudson Bay Company

freigekauft (C. Wilkes,

Narrative

of

the United States Exploring

Expedition. .

Bd. IV, Philadelphia 1 8 4 5 , S. 2 9 5 ) . Graebner, Methode der Ethnologie, S. 1 4 6 . 61

Graebner, D i e melanesische Bogenkultur, a. a. O., S. 1 0 2 4 .

05

Heine-Geldern, a. a. O., S. 4 1 2 f.

66

Wissler, The Relation, S. 4 5 .

67

Graebner, Methode der Ethnologie, S. 1 4 6 f.

68

Wohin sonst deutete wohl die ironische Bemerkung Wisslers, mit der er seine Gedanken über die unabhängige Parallelentwicklung des „mongolischen Typs" der Pfeilauslösung in Kalifornien wie folgt kommentiert: „Of course, for an anthropologist to say such a thing now, puts him in the way of losing his union card, or of being sent to a sanitarium, but if these studies of distribution go on to reasonable completeness, the indications are that many of the dogmas now so cherishcd by the orthodox will be sorely put to it to hold their own." (The Relation, S. 40.)

17*

H. REIM

260

nach seiner Anabasis in diffusionistische Gelilde zieht er sich auf den letzten Seiten von „The Relation of Nature to M a n . . . " hinter die alten Linien der Masonschen environments zurück. Dort nimmt er, um in diesem militärischen Bilde zu bleiben, eine „taktische Umgruppierung der Kräfte" vor, d. h., die culture traits werden dem „Kommando" des geographischen Milieus unterstellt. Und daß „Kommando" keine allegorische Übertreibung ist, sondern Wisslers Bekenntnis zum geographischen Determinismus indiziert, wird schon an der Fragestellung deutlich, mit der er dieses „Rückzugsgefecht" einleitet. Um was es Wissler nämlich geht, ist „some underlying cause, some dominant factor, that imposes this (die konzentrische, H. R.) form (der Verbreitung, H. R.) upon all human traits."®9 Diesen „dominierenden Faktor" sucht er anhand der Kausalreihe Sumpfland - Anophelesmücke - Malaria, also mittels schematischer Übertragung natürlicher auf gesellschaftliche Zusammenhänge, in der Ökologie, 70 wie übrigens dieser ganze letzte Abschnitt seines Buches unter dem Titel „The Ecological Basis" steht.71 Um die, wie Wissler meint, „große Ähnlichkeit" des „Mechanismus" zu demonstrieren, der zur Ausbreitung der Malaria auf der einen und menschlicher Kulturelemente bzw. -komplexe auf der anderen Seite führt, 72 werden zunächst einige culture areas als, sagen wir, „kulturgeographische Kausaltriaden" interpretiert, in denen das „environment" das Hauptnahrungsmittel und dieses wiederum den Kulturtyp hervorbringt. 73 Als beweiskräftigstes Beispiel hierfür wie für alle weiteren Schlüsse und Argumente dieser Art dient ihm, wie könnte es anders sein, seine „altbewährte" Erstlingsarea, in diesem speziellen Zusammenhang also die Sequenz oifenes Grasland - Bison - „plains culture". 74 Nun ist es allerdings unbestreitbar, daß die sogenannten „Prärieindianer" und ihre Kultur in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu dem biogeographischen Komplex Plains - Bison standen. Nur war eben dieses Verhältnis kein einfach kausales, sondern ein durch die Produktivkraft Pferd vermitteltes. Denn erst der Besitz des Pferdes und nicht zu vergessen - die schließlich virtuos beherrschte Kunst des Reitens gestattete den „Präriestämmen" die wirtschaftliche Nutzung ihres geographischen Milieus auf eine dermaßen einseitige Art und Weise, daß man ihre Kultur der „klassischen" Zeit von etwa 1750 bis 1850 ihrer extremen Spezialisierung wegen als eine „jägerische Monokultur" bezeichnen könnte, was natürlich in einem weiteren, nicht unmittelbar auf „Agrikultur" zu beziehenden Sinne zu verstehen ist. Ebensowenig ist Wisslers Schluß zuzustimmen, daß „each distinet geographical area did, in aboriginal times, Support a different type of Indian culture",' 3 weil er eine Reihe wesentlicher Tatsachen ignoriert. So z. B., daß sich die seßhaften, intensiven Bodenbau treibenden Pueblostämme mit den schweifenden Jägerhorden der Apatschen in die 89

Ebenda, Ebenda, 71 Ebenda, 7 - Ebenda, 7:1 Ebenda, 7i Ebenda. 7 "' Ebenda, 70

S. 211. S. 211 f. S. 211-222. S. 211. S. 213 f., 216. S. 213, 215-218. S. 213.

Die „kulturelle Ökologie"

261

prinzipiell gleichen Steppen- und Halbwüstenformationen Arizonas und New Mexicos teilten, oder daß die höchstentwickelten indianischen Kulturen gleichermaßen im ariden und semiariden Hochland von Mexiko und Peru wie im humiden Tiefland der Halbinsel Yukatan zu Hause waren. Als Ergebnis des voranstehenden methodengeschichtlichen Exkurses bleibt demnach festzustellen: War das environment für Mason noch die „Gelegenheit", mit anderen Worten, das gebotene Kann zur Entwicklung eines Kulturtyps, so wurde es bei Wissler zum zwingenden Muß, zum, wie er selbst sagt, „determiner" 76 seiner Ausbreitung und Ausbreitungsform,77 das demzufolge die culture areas als eine Art „erdgebundener Kulturkreise" erscheinen läßt. Darüber hinaus erweisen sich am Beispiel Wisslers der Diffusionismus und der geographische Determinismus einmal mehr, d. h. analog zu den „anthrogeographischen" Ideen Ratzels, als die beiden Seiten ein und desselben theoretisch-methodischen Konzepts der spätbürgerlichen Völkerkunde, das einer universalgeschichtlichen Wertung und Ordnung des ethnographischen Materials weiter entfernt war als je zuvor die so heftig kritisierten Evolutionisten und mit ihnen vor allem L. H. Morgan. Es zeigte sich aber auch, wo der Ursprung einiger wesentlicher theoretischer Positionen von Stewards „kultureller Ökologie" letztlich zu suchen ist. 76 77

Ebenda, S. 214. Ebenda, S. 2 1 6 - 2 2 0 .

Mihäly Sarkäny

Leslie White und die Revolution der Kultur

„ ,The Evolution of Culture' von White ist in jeder Hinsicht ein modernes Äquivalent für die .Ancient Society' von Morgan, der einzige Unterschied findet sich im einigermaßen modernisierten ethnographischen Material und in der konsequenten Durchführung des kulturell-materialistischen Gedankenganges" - schreibt M. Harris in seinem Werk über die Entwicklungsfolge der anthropologischen Theorie. 1 Wenn man obendrein an einen seiner Gegner, M. Opler, denkt, der die Hauptkomponente der Whiteschen Theorie spöttisch in den „etwas abgenützten Sicheln und Hammern" sah,2 wird vollkommen klar; Whites Vorstellungen sollen innerhalb der amerikanischen Kulturanthropologie als revolutionär gelten, jedenfalls im Verhältnis zu den unter den gegebenen wissenschaftshistorischen Bedingungen wirkenden Bestrebungen. Beide Möglichkeiten erregten mit Recht die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler aus den sozialistischen Ländern für die kulturologische Theorie Whites. Die bisherigen Überprüfungen schlössen eindeutig mit der Folgerung, daß manche seiner grundlegenden Äußerungen über Wesen und Entwicklung der Kultur, als die für den Menschen charakteristische, spezifische Erscheinung, von der Auffassung des historischen Materialismus wesentlich abweichen und nachweisbar falsch sind.3 Markarjan bemerkt: „Je weiter wir die Gegenüberstellung der Ansichten Whites mit der Gesellschaftsauffassung des historischen Materialismus führen, desto offenbarer werden ihre fundamentalen Unterschiede"/' Gleichzeitig gelangte White mit seinem Bestreben, die Idee der einheitlichen Entwicklung der menschlichen Kultur den in der amerikanischen Anthropologie herrschenden relativistischen Ansichten gegenüberzustellen, eindeutig in die erste Reihe der

' M. Harris, The Rise of Anthropological Theory, New Y o r k 1 9 6 8 , S. 6 4 3 . - M. Opler, „Cultural Evolution, Southern Athapaskans, and Chronology in Theory" in: Southwestern journal of Anthropology, 1 9 6 1 , S. 1 3 . Opler wurde wegen dieser olfenbar argwilligen Bemerkung heftig angegriffen (siehe R. A . Manners, „The History of Ethnological Thought", in: Current Anthropology, 1 9 6 5 , S. 3 2 0 ) . 3

S. N. Artanovskij,

„Marksistskoe

ucenie ob obscestvennom

progresse i ,evoljucija

kul'tury'

L. Chajta" [L. White], in: A . V. Efimov/Ju. P. Averkieva, Sovremennaja amerikanskaja etnografija, Moskau 1 9 6 3 , S. 5 3 - 6 3 ; E. Mokrzycki, „Some Remarks on the Concept of Culture", in: The Polish Sociological Bulletin,

1 9 6 5 , 2, S. 1 8 - 2 1 ;

E. S. Markarjan,

„Kul'turologiceskaja

teorija Lesli Chajta i istoriceskij materializm", in: Voprosy lilosofii, 1 9 6 6 , 2, S. 7 8 - 8 8 . 4

Markarjan, a. a. O., S. 85.

264

M. S Ä R K Ä N Y

Gelehrten der bürgerlichen Anthropologie.5 Es lohnt demnach, seine Theorie einer weiteren Analyse zu unterziehen, hält sich doch in Kreisen der amerikanischen Anthropologen unverändert die Meinung, wie sie die eingangs zitierte Einschätzung von Harris bestätigt, daß seine Gedanken in einem engeren Verhältnis zur marxistischen Geschichtsauffassung ständen. In den Werken seiner Anhänger - hier sind insbesondere Service und Sahlins zu erwähnen - sind ebenso wie bei ihrem Lehrer Eklektizismus und Vereinfachungen festzustellen, 6 auch wenn sie über diesen bei der Ausarbeitung einiger Stufen der soziokulturellen Integration hinausgingen.7 Im folgenden will ich versuchen, die bisher von marxistischen Ethnographen geübte Kritik zu ergänzen. Zuerst behandle ich die Denker, deren Ideen auf White einen starken Einfluß ausübten. Dann werde ich die Auffassung Whites von der Kultur und ihrer Entwicklung sowie über das Wesen der kulturellen Gesetzmäßigkeiten mit den Ansichten seiner Gegner konfrontieren. Auf diese Weise wird einer der wichtigsten Aspekte seines Denkens sichtbar werden. Wie gegen 1920 jeder amerikanische Anthropologe, so wurde auch White während seines Studiums durch Vermittlung seines Lehrers A. Goldenweiser mit der Anthropologie F. Boas' bekannt. Boas trat mit dem Anspruch auf globale Erkenntnis des Menschen auf, praktisch beschritt er allerdings den Weg des historischen Partikularismus. Er hielt die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten des kulturellen Daseins für wichtig, doch meinte er, diese wären durch die psychischen Eigenartigkeiten der Völker ergreifbar. Die Einbeziehung anderer Faktoren in die Untersuchung hielt er für überflüssiges Theoretisieren. Dagegen plädierte er für das Sammeln von Daten und Angaben auf breiter Grundlage. Besonders heftig setzte er sich mit zeitgenössischen evolutionistischen Ansichten auseinander, die sich damals von der Realität tatsächlich weit entfernt hatten.8 Er betrachtete sogar die kritiklose Behandlung der Daten einzelner Wissenschaftler als Fehlgriff der Theorie. Nach seiner Promotion ging White 1927 an die Universität von Buffalo, wo er sich, einem Forschungsauftrag entsprechend, mit der Kultur der Irokesen beschäftigte. Hier wurde er erstmals mit den Werken von Morgan bekannt. Dieses Erlebnis führte zum Ausbruch aus dem Kreis der Lehrmeinungen von Boas. Die kritische Beschäftigung mit dessen Auffassungen war damit freilich noch nicht abgeschlossen. In

J

M. G. Levin, „Istorija, evoljucija, diffuzija", in: Sovetskaja etnografija, 1 9 4 7 , S. 2 4 0 ; Artanovskij, a. a. O., S. 5 6 ; Markarjan, a. a. O., S. 88. Siehe D. Treides treffende Einschätzung über Sahlins in diesem Band. Unter diesem Gesichtspunkt wäre der Versuch von Sahlins und Service, die Ansichten von W h i t e und Steward miteinander zu versöhnen, eine detaillierte Analyse wert. (M. D. Sahlins/E. R. Service, Evolution and Culture, Ann A r b o r 1 9 6 0 . )

' E. R. Service, (ungarische Übersetzung:) Vadäszok, Budapest 1 9 7 3 ; M. D. Sahlins, Tribesmen, Englewood Cliffs 1 9 6 8 . s

Harris vermittelt einen guten Überblick über das wissenschaftliche Niveau der Zeitgenossen von Boas (Harris, S. 2 5 3 - 2 5 8 ) . Es ist bemerkenswert, wie konsequent Boas auf seinen widerspruchsvollen Ideen von Anfang bis Ende seiner Tätigkeit beharrte (F. Boas, „The Aims of Ethnology", in: F. Boas, Race, Language and Culture, New Y o r k 1 9 4 0 , S. 6 2 6 - 6 3 8 ; derselbe, „History and Science in Anthropology: a Reply", in: Ebenda, S. 3 0 5 - 3 1 1 ) .

265

Kulturtheorie bei Leslie White

ihrem Ergebnis entstand eine in nicht jeder Hinsicht objektive Monographie. 9 An Morgans Werk zog ihn der Gedanke der Evolution an, wie er in der „Ancient Society" zum Ausdruck kam. E r bewog ihn nach mehreren Jahrzehnten der Vorbereitung, dieselbe Aufgabe in der „Evolution of Culture" zu erfüllen. 10 D a s Studium der Werke Morgans weckte sein Interesse am Marxismus, und 1929 fand White Mittel und Wege für eine mehrmonatige Reise in die Sowjetunion, in russische und grusinische Gebiete. Dort lernte er, wie sein Freund H. E . Barnes berichtet 11 , die Schriften von Marx und Engels über das Wesen der Gesellschaft kennen. Morgan und die Klassiker des Marxismus übten seither einen wesentlichen Einfluß auf seine Ideenwelt aus, obzwar er die letzteren in seinen Werken nicht anführt. Ihren Einfluß in den Werken von White schätzt Harris als grundlegend und tiefgreifend ein. Wenn White sich selbst als „ . . . in Morgans Spuren wandelnden Evolutionisten" bezeichnet, so schreibt er, dann soll man „an den im ,Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats' von Engels umgedeuteten Morgan denken". 12 Unter den Forschern der Menschheitsentwicklung zogen die britischen Evolutionisten die Aufmerksamkeit Whites an sich. E r sah in Tylor den ersten Vertreter der Kulturologie. 13 1943 äußerte White erstmals jene Auffassung, wonach die Entwicklung der Kultur im Zusammenhang mit der auf eine Person entfallenden Energieverwendung und mit der Wirksamkeit der verwendeten technischen Mittel zum Ausdruck gelange. Diesen Aufsatz betrachtet Carneiro als einen Meilenstein; von hier datierte er die Neubelebung des kulturellen Evolutionismus in den Vereinigten Staaten. 1 4 In dieser Abhandlung tritt der Einfluß der Philosophie des Energetismus, vor allem W . Ostwalds, auf White zutage. Diesen Lehren entnahm er außer Maßstab und Grundgesetz der Evolution auch die Idee, nach der die Kultur als thermodynamisches System aufzufassen sei. 15 Diese Idee wurde durch den sowjetischen Ethnographen Artanovskij einer eingehenden Kritik unterzogen. 16 Beließe man es bei dem Gedanken, daß die kulturelle Entwicklung auch einen Zusammenhang zwischen Energie und Technik erkennen läßt, so wären, glaube ich, diese Kriterien in einer bestimmten Hinsicht anwendbar. Was Marx über die Arbeits'' L. A . White, The Ethnology and Ethnography of Franz Boas, Austin 1 9 6 3 . Iu

So sah White die Aufgabe,

die sich Morgan

gestellt hatte:

„The task

...

was

twofold:

to

provide a chronological account of what took place in the man-culture complex from the origin of man to Grecian and Roman times, and to explain these events by means of concepts and principles"

(L. A. White, Introduction to Morgan,

L. H . : Ancient Society, Cambridge,

Mass.

1 9 6 4 , S. X X ) . 11

H.

E.

Barnes,

„Foreword",

in:

Essays

in the

Science

of

Culture,

hsg. von

G.

Dole

und

R . Carneiro, N e w Y o r k 1 9 6 0 , S. X X V I . 12

Harris, S. 6 4 1 .

I?

L. A . White, The Science of Culture, N e w Y o r k 1 9 4 9 , S. X I X .

1,1

L.

A.

White,

S. 3 3 5 - 3 5 6 ;

„Energy R. L.

and

Carneiro,

the Evolution „The

of

Four Faces

Culture",

in:

American

of Evolution",

Anthropologist,

in: Handbook

of

Social

1943, and

Cultural Anthropology, hsg. von J. J. Honigmann, Chicago 1 9 7 3 , S. 8 9 . 1;>

White, The Science of Culture, S. 3 6 7 f.; derselbe, T h e Evolution of Culture, N e w Y o r k S. 3 3 - 5 7 .

,e

18

Artanovskij, a. a. O., S. 5 7 f. K u l t u r u. E t h n o s

1959,

M. S Ä R K A N Y

266

geräte sagte, könnte mutatis mutandis auch für sie gelten, nämlich, daß sie „nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft" sind, „sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird." 17 Daraus folgt aber noch keineswegs, wie E. S. Markarjan beweist, daß die Gesellschaftssysteme einfach Funktionen der technologischen Systeme wären, wie White sie verstanden hatte. 18 Außer den hier genannten mögen noch zwei intellektuelle Traditionen erwähnt werden, die bei der Einschätzung der wissenschaftsgeschichtlichen Positionen von White meist übergangen werden. Es geht um den Freudismus und um den Soziologismus von E. Dürkheim. Mit seiner Phantasie und mit seinen genialen Ahnungen übte S. Freud eine faszinierende Wirkung auf White aus. White zitiert und übernimmt von ihm Gedankengänge, die zu ähnlichen Ergebnissen führten. In der Beschreibung der Menschwerdung stecken nach Whites eigenen Worten „Freudsche Phantasmagorien" 19 über die Ermordung des Urvaters, worauf sich White hinsichtlich des Ursprungs des Inzests und der Moral berief. Er berief sich darauf, daß auch Freud verkündet hatte: Um die Kultur zu erschaffen, muß der Mensch erst von der ursprünglichen Sexualmotivation auf die Arbeitsmotivation abgelenkt werden, denn die menschliche Gesellschaft wird grundlegend durch wirtschaftliche Faktoren bewegt. Später resümierte er: „Der Fakt, daß Freud, von ganz anderen Prämissen ausgehend und einem ganz anderen Gedankengang folgend, zu denselben Folgerungen kam als wir, scheint uns bedeutend und ermutigend." 2U Man könnte die Wirkung Freuds als mehr oder minder zufällig ansehen. Behält man jedoch im Auge, daß das Hauptwerk Whites, die „Evolution of Culture", nur Untersuchungen von zwei revolutionären Umwandlungen enthält, nämlich wie erstens aus der anthropoiden Gesellschaft die menschliche Gesellschaft wird und wie zweitens die agrikulturelle Revolution ihren Einfluß auf alle Bereiche der Kultur ausübt, dann wird die wahrhaftige Rolle der im Hintergrund gebliebenen Freudschen Gedanken im Gedankensystem Whites erkennbar. Im Unterschied zu Freud ist der Einfluß Dürkheims viel augenfälliger. Die Kulturologie Whites ist eigentlich das Gegenbild des Soziologismus Dürkheims. Seine außergewöhnlich starke intellektuelle Sympathie für Dürkheim hinterließ viele Spuren. So ist dieser der einzige Franzose unter den angeführten Verfassern, dessen Werke White auch in französischer Ausgabe studierte. In den wichtigsten Zusammenfassungen seiner Theorie verweist er auf Dürkheim als einen Geistesverwandten, der die Eigengesetzlichkeit der 17

K . Marx/F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1 9 6 9 , S. 1 9 5 .

19

White, The Evolution of Culture, S. 6 9 - 1 0 0 , besonders S. 8 8 - 9 1 . Es ist zu bemerken,

Markarjan, a. a. O., S. 79 f. daß

Service Whites Vorstellungen über die Assoziationsformen der Primaten übernahm, und z w a r : der

Geschlechtstrieb

regelt

die Assoziationsformen;

eine Primatenfamilie

besteht

aus

einem

herrschenden Männchen, aus mehreren Weibchen und aus ihren Sprößlingen, wobei die jungen Männchen am Rande der Gruppe bleiben (Service, S. 3 6 - 3 8 ) . Die neueren Beobachtungen über Schimpansen, die unter natürlichen Bedingungen ausgeführt wurden, unterstützen diesen Gedanken nicht (J. van Lawick-Goodall,

(ungarische Übersetzung:) A z ember arnyekäban, Budapest

1975). 20

White, The Evolution of Culture, S. 97.

Kulturtheorie bei Leslie White

267

gesellschaftlichen (kulturellen) Faktoren, ihren vom menschlichen Bewußtsein unabhängigen Charakter klar erkannt hätte. 21 Es ist nicht auszuschließen, daß der französische Soziologe einen wesentlichen Anteil an der Ausprägung der simplifizierenden, mechanistischen Denkweise Whites hat. E s muß aber hervorgehoben werden, daß beide die Probleme der Entwicklung grundverschieden beurteilten. Wenn Dürkheim die Entwicklung bloß einzelner Gesellschaften, nicht aber der Menschheit als Ganzes sah, 22 vergaß White nie die Einheit in der Entwicklung der menschlichen Kultur. E r begriff, was Dürkheim nie vermochte, daß die Veränderungen, die qualitativ neue Systeme hervorbringen, die Einheitlichkeit der menschlichen Entwicklung nicht ausschließen. D i e Vorstellungen Whites über die Kultur sollen im Folgenden zuerst mit der Kulturauffassung der kulturellen Relativisten konfrontiert werden. In der amerikanischen Kulturanthropologie, genauer in Kreisen der Boas-Anhänger, hat sich parallel mit der Entwicklung der Wissenschaft die Auffassung festgesetzt, wonach Kultur nicht einfach eine begriffliche Wiedergabe der vom Menschen geschaffenen und ihn umgebenden Erscheinungswelt, sondern eine Abstraktion von hohem Grad sei, die statt der einzelnen Eigenarten der kulturellen Erscheinungen ihre gemeinsamen substantiellen Züge hervorhebe. Diese Äußerung wurde sowohl für die Kultur einzelner Gesellschaften als auch für die Kultur als Ganzes für gültig anerkannt. In der Monographie von A. L. Kroeber und C. Kluckhohn 23 läßt sich die Entfernung von der erfaßbaren Erscheinungswelt und der Verzicht, das innerste Wesen der Kultur zu verstehen, gut beobachten. White nahm die Rezension dieses Buches zum Anlaß, um seinen Rückgriff auf den in der USA-Anthropologie außer Gebrauch gekommenen Kulturbegriff der konkreten Kultur zu begründen. E r postulierte, daß die durch Begriffe vermittelten wahrnehmbaren Dinge und Ereignisse den Gegenstand jeder Wissenschaft, unter anderem auch den der Kulturologie, bilden2'*. E s ist nicht besonders schwer nachzuweisen, wo sich White grundlegend irrt. E r sieht nicht ein, daiß jede Begriffsbildung selbst eine Abstraktion ist und daß diese auf verschiedenen Stufen ausgeführt werden kann. Des weiteren erkennt er nicht, daß die Schwierigkeiten nicht aus der Abstrahierung, der Interpretierung der Fakten dieser Art entspringen, sondern daraus, daß den Ergebnissen der Abstraktion dieselbe konkrete Realität zugeschrieben wird wie den Gegenständen der Wirklichkeit selbst. In der T a t abstrahiert White selbst auch, noch dazu auf hoher Stufe, wenn er über die Kultur der Menschheit im allgemeinen spricht, wenn er sie als System auffaßt, das aus sich selbst zu erklären ist. 25 Das Verständnis für das logische Problem entgeht ihm. Infolgedessen steht er auch Kroeber und Kluckhohn verständnislos gegenüber, die folgendermaßen formulieren: „Es ist vollkommen wahr, was auch Nadel betont, nicht nur die Kultur be-

21

White, The Science of Culture, S. 8 8 - 9 0 ; derselbe, The Evolution of Culture, S. 1 5 ;

derselbe,

Preface to the Second Edition of „The Science of Culture", N e w Y o r k 1 9 6 9 , S. X X I - X X I I . 22

E . Dürkheim, (ungarische Übersetzung:) A szosiolögia mödszere, Budapest 1 9 2 4 , S. 3 0 - 3 1 .

23

A . L . Kroeber/C. Kluckhohn, Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. Vintage Books, N e w Y o r k 1 9 5 2 .

24

L . A . White, „On the Concept of Culture", in: Theory in Anthropology, hsg. von R. A . Manners/

25

White, The Evolution of Culture, S. 1 7 - 2 9 .

D . Kaplan, Chicago 1 9 6 8 , S. 18.

18»

268

M. S A R K Ä N Y

stimmt die Individuen, sondern auch sie wird von den Individuen determiniert." 26 „Diese These, die vielen Anthropologen offenbar als gültig oder berechtigt erscheint, wäre vom Verfasser der Rezension mit einem Fragezeichen versehen, wenigstens für störend oder beirrend erklärt worden." 27 Solches und ähnliches aus seinen Gegenbemerkungen könnte beliebig zitiert werden. Was White nicht versteht, ist offenbar die Dialektik. Aus diesem Grunde nennt ihn E. Wolf einen Aristoteliker ebenso wie A. R. Radcliff-Brown und macht auf die scharfe Differenzierung unter den verschiedenen Sektionen der Erscheinungen aufmerksam, die den fundamentalen Materialismus seiner Theorie deformieren. Als Beispiel zieht er die scharfe Differenzierung Whites zwischen tierischer und menschlicher Kommunikation heran, deren Analyse er ausgezeichnet fand. White bleibt bei der Klärung der Differenz stehen und übergeht die in den beiden Systemen der Kommunikation vorhandene Kontinuität. Daraus folgt, daß die Symbole schaffende Fähigkeit des Menschen als deus ex machina erklärt wird, und das bedeutet die Einführung eines idealistischen Elementes in den theoretischen Rahmen des Materialismus. 28 Während White bei der Beurteilung des Charakters des Begriffs der Kultur mit den zeitgenössischen Anthropologen in Konflikt geriet, standen seine Auffassungen über den Systemcharakter der Kultur mit der Meinung der Boas-Anhänger in vollem Einklang. Seine Kulturologie, nach der die kulturellen Erscheinungen in ihren eigenen Verhältnissen erklärbar wären, traf sogar auf Unterstützung aus diesem Kreis.29 Die Einschätzung der verschiedenen Seiten der Kultur beschwor jedoch einen scharfen Streit zwischen White und den Boas-Anhängern herauf. Die Mehrheit der Kulturanthropologen mißt den Komponenten innerhalb einer Kultur oder innerhalb der Kultur im allgemeinen die gleiche Bedeutung bei. Eine kleinere Gruppe, darunter hauptsächlich den „Patterns of Culture" 30 von R. Benedict folgend, neigte dazu, das Wesen und die Determinanten der Kultur einer bloß geistigen Komponente, dem Wertsystem, zuzuschreiben.31 Ihnen gegenüber bildete sich ein ausgesprochen

28

Kroeber/KIuckhohn, S. 213.

27

White, On the Concept of Culture, a. a. O., S. 19.

28

E. Wolf, „Review of L. A. White: The Science of Culture", in: American Anthropologist, 1960, S. 149. An dieser Stelle greift ihn auch Markarjan heftig an unter Betonung, daß White durch die Hervorhebung

der Symbole

wichtigen Komponenten

schaffenden

Fähigkeit

des Wirkungsmechanismus

des

Menschen

bloß

einen

unter

den

eines gegebenen Systems beleuchtete; aber

das Zustandekommen des Systems kann nicht aus diesem Grunde, sondern aus der produktiven Arbeit erklärt werden, die ein qualitativ neues Verhältnis zu der Umwelt repräsentiert

(Mar-

karjan, a. a. O., S. 8 1 - 8 4 ) . Ä

Selbst White rechnet Kroeber, R. Lowie und C. Wissler zu den Pflegern der Wissenschaft der Kultur (White, The Science of Culture, S. XIX).

3(1

R. Benedict, Patterns of Culture, N e w York 1934. Eine unter den amerikanischen Anthropologen im allgemeinen anerkannte Definition der Kultur wurde von Kroeber und Kluckhohn folgendermaßen konzipiert: „Culture consists of patterns, explicit and implicit, of and for behavior acquired and transmitted by symbols, constituting the distinctive achievement of human groups, including their embodiments in artifacts; the essential core of culture consists of traditional (i.e., historically derived and selected) ideas and especially

Kulturtheorie bei Leslie White

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materialistischer Kreis heraus, dessen Mitglieder die Determinanten der Kultur in der materiellen Existenz suchten. Die leitenden Persönlichkeiten dieses Kreises waren J. H. Steward und White. White bezeichnete seine Theorie als technologischen Determinismus. Der technologische Determinismus bietet, wie Markarjan betont, keine zu unterschätzenden Erkenntnismöglichkeiten an. Er ist brauchbar, „ . . . wenn wir uns vornehmen, die allgemeine Tendenz der sukzessiven Entwicklung der Menschheit festzulegen." 32 Für White ist es aber nicht das einzige Ziel, das ihn bestimmte, den Standpunkt des kulturellen Determinismus einzunehmen. Er betrachtet die Technologie als Determinante der ganzen Kultur, wodurch auch andere Seiten der Kultur direkt und auch durch das Gesellschaftssystem indirekt determiniert werden. Dabei grenzt er die Technologie nicht von anderen Sphären der Kultur ab. Die ideologische Komponente, das Gesellschaftssystem wirken innerhalb der Kultur auch auf die Technologie. 33 In der „Evolution of Culture" findet man bezeichnenderweise die Spuren der Konzeption des technologischen Determinismus nur an den Stellen, wo ihr Verfasser den Zusammenhang der Erscheinungen nicht anders erklären kann. Eine Ausnahme bildet die Behandlung der agrikulturellen Revolution. Das Buch hat keinen Teil, der die Entwicklung der Technologie beschreibt. Von den technischen Kenntnissen ist nur im Kapitel über die Philosophie der primitiven Kultur die Rede. Die agrikulturelle Revolution, die Auswirkungen des Ackerbaus und der Viehhaltung sind nach White nicht nur dadurch zustande gekommen, daß die Menschen imstande waren, mehr Lebensmittel als das für den eigenen Lebensunterhalt Nötige zu erzeugen. Sie sei auch das Werk eines speziell herausgebildeten Mechanismus, des Staates, der sie direkt zwang, einen Überfluß zu produzieren. 34 In den Partien über die primitive Kultur nehmen die Darlegungen des Verwandtschaftssystems einen breiten Raum ein. White bemerkt: „Das Wirtschaftssystem der primitiven Gesellschaft ist eigentlich mit ihrem Verwandtschaftssystem identisch." 35 Diese Vorstellungen sollen darauf hinweisen, daß er bei der Analyse der inneren Konstruktion der Kultur als System eher die ökonomischen Verhältnisse als die technologischen als determinierend erkannte. In der Tat handelt es sich aber nicht darum. Er versucht seine Theorie grundsätzlich „frei von der Dialektik" aufzubauen. Dieses Bestreben zeigt sich im ersten Kapitel, wo er die Verbindungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Komponenten der Kultur theoretisch analysiert. Wo aber historisch ablaufende Prozesse, d. h. Erscheinungen innerhalb ihres Milieus untersucht werden, anerkennt er ohne zu zögern die realen Verhältnisse, was allerdings die Anerkennung einer unbewußten Dialektik erfordert. So erklärt sich der Widerspruch, daß er in theoretischer Hinsicht die Technologie zum Determinanten der Kultur erklärt, dagegen in der konkreten Analyse der Erscheinungen auf die betheir attached values; culture systeras may, on the one hand, be considered as products of action, on the other as conditioning elements of further action." (Kroeber/Kluckhohn, S. 357.) 32

E. Sz. Markarjan, (ungarische Übersetzung:) A marxista kultüraelmelet alapvonalai, 1 9 7 1 , S. 1 2 4 .

33

White, The Evolution of Culture, S. 1 8 - 2 8 .

34

Ebenda, S. 293.

35

Ebenda, S. 2 4 7 .

19

Kultur u. Ethnos

Budapest

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deutende Rolle der ökonomischen Verhältnisse hinweist. So wird auch verständlich, warum Harris, als er sich der nicht vollkommenen Eindeutigkeit der Auffassung Whites bewußt wurde, dessen technologischen Sektor als technisch-ökonomisch bezeichnete.36 White entwickelte seine Evolutionstheorie über die menschliche Kultur in endlosen Polemiken im Milieu des kulturellen Relativismus. Er lebte in einer Umwelt, in der man sehr schnell als Exponent des „Egozentrismus" oder „Europazentrismus" denunziert werden konnte. Solange es nur um das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer kulturellen Entwicklung ging, verlief der Streit in konventionellen Bahnen. D a aber White die Gesetzmäßigkeit der kulturellen Entwicklung nicht nur nachdrücklich anerkannte, sondern weiter zur Frage vorstieß, worin diese zum Ausdruck komme, zog er wie kein anderer die Kritik seiner Forscherkollegen auf sich. Sein Evolutionismus enthielt ein Element, das einem Teil seiner Kollegen unannehmbar erschien. Wegen dieses Elements versuchte Opler - wie bereits erwähnt - , in einer der wissenschaftlichen Diskussionen unwürdigen Art und Weise White zu diskreditieren. Das von White für die Messung der Entwicklung, genauer der Progression, ausgearbeitete Kriterium ist die auf eine Person entfallende Energiemenge und ihre Verwendungsart. Er fand also im technologischen Bestandteil der Kultur einen objektiven Maßstab, mit dessen Hilfe die Kulturen vergleichbar wären. Dagegen fand er manche anderen Elemente der Kultur, wie z. B. die Familienorganisation, die Moral und die Verhaltensregeln, die vom Gesichtspunkt der Evolution nicht nebeneinandergestellt werden können. Soweit gerieten seine Ideen mit denen der anderen Richtungen noch nicht in einen größeren Konflikt. Die Möglichkeit der technischen Entwicklung wurde sogar von einem so typischen Relativisten wie Boas angenommen. 37 White ging aber noch einen Schritt weiter, wenn er die Kultur als System betrachtete. Dieses Prinzip wandte er durchgehend bei der Evolution der Kultur an. Seiner Meinung nach kann nur im Falle der Systeme von einer Evolution die Rede sein. Also ist nicht nur die Evolution der Technik die ausschließlich mögliche Evolution, sondern auch die Kulturen als System entwickeln sich.38 Damit ließ er es jedoch noch nicht bewenden, sondern gelangte in konsequenter Weiterentwicklung seiner Gedanken bis zur Konzeption von zwei Arten der Evolution. Die quantitative Veränderung innerhalb des Systems bezeichnete er als Evolution, dagegen nannte er die qualitative Veränderung, in deren Ergebnis ein System zu einem anderen wird, Revolution. 39 Diese Äußerung stieß auf scharfen Widerspruch, und aus diesem Grunde brachte Opler die Whitesche Theorie mit den Namen von Marx, Engels und Bucharin in Zusammenhang. 40 Für die Mehrheit der Forscher ist diese Haltung jedoch nicht kennzeichnend. Sie nahmen zuerst seine Aussagen zu Einzelproblemen unter die Lupe, um danach seine allgemeinen Thesen und Konzepte einzuschätzen. Abgesehen von denjenigen, welche die

36

Harris, S. 637.

38

White, The Evolution of Culture, S. 30.

'" F. Boas, (ungarische Übersetzung:) Népek, nyelvek, kultürak, Budapest 1975, S. 86. 39

Ebenda, S. 281.

40

Opler, a. a. O., S. 18.

Kulturtheorie bei Leslie White

271

evolutioneilen Forschungen für vollkommen überflüssig erklärten, weil sie sich - ihrer Ansicht nach - um die Lösung aus Mangel an geeignetem Quellenmaterial unlösbarer Probleme bemühten, kann im allgemeinen festgestellt werden, daß seine Thesen von der Fachwissenschaft zumeist angenommen wurden. Selbst Steward, der ihn sonst oft kritisierte, anerkennt ihre Gültigkeit. Es wurde aber stark bestritten, ob auf dieser Stufe der Verallgemeinerung die Formulierung von Gesetzen überhaupt einen Sinn habe. Mehrere leugnen es, weil sie meinen, die konkreten Ereignisse seien durch die von White festgestellten Zusammenhänge nicht zu erklären, sie können zu ihnen geradezu in Widerspruch stehen. Zu den Vertretern dieses Standpunktes gehört W . Rudolph, der die Abstraktionsstufe Whites für berechtigt hält, aber betont, d a ß sie das Verständnis des Konkretums nicht ermöglicht/'1 Als Beispiel führt er den Feldzug der Mongolen vom Jahr 1220 gegen Khoresm an. Seines Erachtens überstiegen die Energiequellen der Mongolen die des Staates Khoresm nicht, ihr kulturelles System stand nicht unter dem Niveau von Khoresm, trotzdem gewannen die Mongolen den Krieg. Ihr Vorteil ergab sich nicht aus dem Ganzen der Kultur, sondern aus dem besser organisierten Heer und aus der besseren Taktik. Die Einwände Rudolphs sind der Beachtung würdig, denn sie scheinen auf die Lücken des Gedankensystems von White hinzudeuten. Es ist wahrscheinlich nicht mehr möglich zu entscheiden, ob die auf eine Person entfallende Energieverwendung in der mongolischen oder in der khoresmischen Gesellschaft größer war. Es ist aber klar, d a ß die Energie, die zur Verfügung stand, verschiedenartig verwendet wurde. Solange sie in Khoresm den Schah und die Nobilität bereicherte, wurde bei den Mongolen die Armee dadurch entwickelt. Ferner bot die auf Pferdehaltung basierende Kriegführung der Mongolen Möglichkeiten, die Energiekräfte auf jene Art zu konzentrieren, die es in Khoresm nie geben konnte. Dieser Unterschied der Energieverwendung erwies sich für die Mongolen als ausreichend, Khoresm im Sturm zu nehmen. Die Art und Verteilung der Energieverwendung hängen nach White von der technologischen Basis ab, die in dem als Grundgesetz der Evolution aufgefaßten Zusammenhang durch die Geräte vermittelt werden. Obendrein kehrt die Formel in den Schriften von White ständig wieder, daß er unter Technologie nicht nur Techniken der Lebensmittelproduktion, sondern auch die Technologie des Lebensunterhalts und der Verteidigung gegen die Naturelemente und die Feinde versteht. Unter Beachtung dessen scheint der Einwand von Rudolph, d a ß die allgemeinen Zusammenhänge die Einzelerscheinungen nicht zu erklären vermögen, in keiner Weise stichhaltig. Gewiß sind sie ungeeignet, ihre Einzelzüge zu erklären. Doch das Allgemeine innerhalb des Einzelnen drücken sie vollständig aus. Die zahlreichen Einzelheiten werden durch ihre allgemeinen Züge vergleichbar. Seine Zweifel drückt Steward in allgemeinerer Form als Rudolph aus: „Gewiß ist es eine wertvolle Zielsetzung, die allgemeinen Gesetze des kulturellen Wandels zu erforschen. Es muß aber betont werden: jedes bisher festgestellte Gesetz bezieht sich ausschließlich darauf, daß die Kultur sich wandelt - d a ß sich jegliche Kulturen wandeln - , es kann also die Einzelzüge der einzelnen Kulturen nicht erklären . . . Gleicherweise sagt das Gesetz der Energieverwendung von White über die Entwicklung der Eigenartigkeit

41

19*

W . Rudolph, D e r kulturelle Relativismus, Berlin 1 9 6 8 , S. 2 3 6 .

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der Kulturen nichts".42 Auf dieser Ansicht beharrte Steward noch 1960 unverändert, obwohl White inzwischen folgende Antwort gab: es sei selbstverständlich, daß sich die Eigenartigkeit des Einzelnen durch die Allgemeingesetze nicht deuten läßt. „Eben das ist charakteristisch für die Generalisierung oder für die Gesetze . . . genau aus diesem Grund besitzen das Gesetz der Schwerkraft, oder die Gesetze irgendwelcher anderer Wissenschaften einen W e r t : denn sie sind allgemeingültig, sagen also nichts über die einzelnen Eigenarten als einzelne Eigenart aus.'"13 Es bedeutet aber nicht, daß die Allgemeinzüge des Einzelnen die Allgemeingesetze nicht ausdrückten. Man muß nur erkennen, daß die einzelne Erscheinung allgemeingültige wie individuelle Merkmale zugleich an sich trägt. Diese Plänkeleien zeigen richtig, auf viewiel Unverstand White in seiner Umwelt stieß. Bei der Beurteilung seiner Vorstellungen dürfen wir diese Umwelt nie vergessen. Gewiß hat Markarjan recht, als er behauptet: „Das Beispiel Whites beweist erneut, daß sich jede materialistische Tendenz innerhalb der Gesellschaftswissenschaften, wenn sie vom theoretischen Weg abweicht, den Marx einst bahnte, unvermeidlich als inkonsequent und eklektisch erweist." 44 Gewiß handelt White eklektisch und inkonsequent, wenn er so grundverschiedene Auffassungen zu einer einheitlichen Theorie zusammenfassen will, die unter anderem von Marx, Engels, Morgan, Tylor, Dürkheim oder Ostwald stammen. Ein solches Vorhaben konnte nicht anders als auf nur mechanistischer Grundlage, durch Eliminierung der Dialektik gelöst werden. Wir müssen aber darauf aufmerksam machen, daß White sah, daß die bürgerliche Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts die Grenzen ihrer Wachstumsmöglichkeiten erreichte. Seit dieser Zeit geriet sie in eine Krise. Eine der Erscheinungsformen dieser Krise ist das Vorherrschen der reaktionären, regressiven, idealistischen Strömungen innerhalb der kulturellen Anthropologie. 45 Er erkannte außerdem, die Wissenschaft der Kultur wird erst dann ihre richtige Pflege erfahren, wenn die Entwicklung der Kultur als Ganzes klar gesehen wird. Die determinierenden Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung wollte er in dem materiellen Sein des Menschen auffinden, wenn auch mit der einseitigen Hervorhebung der Rolle der Produktionsmittel und der technisch-ökonomischen Zusammenhänge. Es liegt auf der Hand, seinen technologischen Determinismus als mechanistischmaterialistische Theorie aufzufassen, den mechanistischen Charakter klar zu erkennen, aber auch nicht außer acht zu lassen, d a ß er sich in dem Kampf gegen die Pseudodialektik des kulturellen Relativismus ausprägte. Diese Qualifizierung bedeutet zugleich, seine Auffassung gegen die fruchtlosen positivistischen Bestrebungen des zwanzigsten Jahrhunderts abzugrenzen. Es sollte ebenfalls festgestellt werden, daß White jenes sozio-

' a J. H. Steward, „Evolution and Process", in: Anthropology Today, hsg. von A . L.

Kröchet,

Chicago 1 9 5 3 , S. 3 1 7 f . ; derselbe, „Review of L. A . W h i t e : The Evolution of Culture", in: American Anthropologist, 1 9 6 0 , S. 1 4 5 f. r,i

L. A . White, „Review of J. H. Steward: Theory of Culture Change", in: American Anthropo-

11

Markarjan, Kul'turologiceskaja teorija Lesli Chajta, a. a. O., S. 87.

logist, 1 9 5 7 , S. 5 4 1 . White, The Science of Culture, S. 1 0 9 f . ; Ju. P. Averkieva, „Sovremennye tendencii v razvitii etnografii SSA", in: Efimov/Averkieva, S. 9.

Kulturtheorie bei Leslie White

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kulturelle System, in d e m er lebte, nicht als an d e r Spitze der E n t w i c k l u n g s t e h e n d ansah. 4 6 W a s d e n w e i t e r e n wissenschaftlichen Fortschritt betrifft, so n e h m e n w i r i n n e r h a l b der amerikanischen A n t h r o p o l o g i e

in den letzten

f ü n f z e h n Jahren eine

Verbreitung

marxistischer G e d a n k e n wahr. D i e s w a h r z u n e h m e n sollte zugleich b e d e u t e n , in W h i t e einen der Bahnbrecher zu sehen. '