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German Pages 121 [128] Year 1935
ALBERT VON TRENTINI
Erziehung zur Persönlichkeit Ein Zyklus in acht Betrachtungen Nach dem Tode des Dichters veröffentlicht
MÜNCHEN-BERLIN 193 5
VERLAG R.OLDENBOURG
Druck von R. Oldenbourg, München.
Inhaltsverzeichnis. I. Die Persönlichkeit von heute.................................
Seit«
1
II. Die Stimme des Innern .......................................... 11 III. Liebe zum Wesentlichen.............................................. 13 IV. Mut zum Alleinstehen.................................................. 16 V. Die Verteidigung des Geheimen................................. 27 VI. Wachsen am Widerstand............................................... 52 VII. Das Erleidnis der Schuld..........................................78 VIII. Einheit von Leben und Werk.................................... 97
I.
Die Persönlichkeit von heute Es gibt heute — geschichtlich gesehen — keine Probleme des Einzelnen mehr, geschweige denn der Persönlichkeit, son dern nur solche des Kollektivs. Die eigentliche Ursache dieser Erscheinung ist in dem Rhythmus zu suchen, mit dem sich die Entwicklung der Mensch heit notgedrungen zu vollziehen scheint: im Wechsel zwischen Epochen individualistischer Artpflege und solchen kollektivisti scher Gattungspslege. Die letzte Epoche der Artpflege hatte ihren vorläufigen Gipfel erreicht; nach der notwendig ein getretenen richtungslosen Übergangszeit wurde die Artpflege zurückgestellt und es setzte die Gattungspflege ein, die man cherorts in ihrer Heftigkeit nahezu einer letzten Gattungs rettung glich. Drei Gruppen von Menschen sehen wir die Grundlage dieser neuen Epoche bilden: 1. Die Masse jener Vielen, die im Augenblick des Epochen wechsels ihre nächsten äußeren Lebensnotwendigkeiten noch nicht gedeckt sahen, überdies in einem Zustand zwischen noch nicht bindendem Kollektiv und inhaltsleerem Individualismus dahin vegetierten und vom Epochenmotto der Individualisierung noch so weit erfaßt waren, daß sie es für ihr gutes Recht hielten, die Deckung ihrer Lebensnotwendigkeiten als ihren Individual anspruch geltend zu machen. 2. Jene Einzelmenschen oder gar Persönlichkeiten aus der abgelösten Epoche, die — sei an sich selbst, sei an anderen, oder auf dem Wege abstrakten Schliehens — die gattungs-
gefährdenden Folgen der übersteigerten Artpslege erfahren hatten und darum, unter Zurückstellung ihrer persönlichen Sonderziele, wohl aber durchwegs in Beharrung auf ihrer Indi vidualität, die Sorge für die Pflege der Gattung auf sich nah men und von Führerstellungen aus verwirklichten. 3. Der Großteil der „jungen Generation", der bereits in der neuen Epoche Geborenen und Wurzelnden.
Sämtliche heute zur Frage stehenden Probleme der Ehe, des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern, aller Bezie hungen zwischen Mann und Frau, zwischen Geschlechtsgenossen, der „Bevölkerungsbewegung", der verschiedenen Formen und Grade der Schule, der Freundschaft, der Beziehungeverhältnisse aus Arbeitsgabe und -nähme, der Gestaltung von Volk, Nation, Völker-Derband und von Menschheit, des Staates, der Verwaltung und der kirchlichen Gemeinschaften — alle diese und alle anderen Probleme von heute beschäftigen sich nicht mit dem Einzelnen, sondern mit dem Kollektivum, mit der gefügten Gesamtheit. Mit welcher Erscheinung, wahr scheinlich unbewußt, völlig zusammengeht: a) die neue «subjektive Wissenschaft, z. B. insbesondere die neue Physik und die ametaphysische Erkenntnis theorie mit ihrer Anstrengung, aus der Spezialisie rung in ein Totales und aus der Fachterminologie zur Allgemeinverständlichkeit hinüberzufinden, b) die Tatsache, daß der allein seiner Inspiration, sei nem Wahrheitsdrang, seiner Heiligung hingegebene Künstler, Philosoph und Religiöse als typische Gipfel punkte jeder Artpflege-Epoche täglich mehr Boden und Echo verlieren; ganz im allgemeinen jedoch, daß Probleme der Erziehung, Bildung, Entwicklung, gar aber der Werdensweg des Einzelnen zur Persönlich keit keine die Allgemeinheit bewegenden Fragestel lungen mehr sind.
Daß die Probleme des Kollektivs, als der gefügten Men schengemeinschaft, nicht solche der Vertikale — der Höhe und Tiefe —, sondern solche der Horizontale — der Breite —, damit aber auch Probleme der Oberfläche und, indem sie eben nicht den Einzelnen und dessen Privates zum Gegenstand haben, solche der Masse und der Öffentlichkeit sind, entspricht nur ihrem Wesen. Die Ursache ihres heutigen Auftretens liegt je doch — da seit der Renaissance die Pflege der Gattung zugunsten jener der Art vernachlässigt worden ist — darin begründet, daß diese Probleme heute noch vor allem solche der Lebenssicherung und nicht schon solche der seelischen und geistigen Vervollkomm nung sind. Bevor dies Kollektiv, das heute noch in einer Art von Früh- und Äbergangsform, nämlich in der Massenform, lebt, auch nur daran denken kann, sich jene Ziele zu setzen, die früher zur Zeit der Artpflege für den Einzelnen galten, muß es seine ungeteilte Kraft vorerst der Erfüllung seiner ersten und dringendsten Notwendigkeit widmen: der Sicherung seines kör perlichen Bestandes in gesunder Physis und in tauglichem Intel lekt. Daß die heutige Kollektivpflege sich mit fast fanatischer Ausschließlichkeit auf das Leisten nicht kultureller, sondern einzig zivilisatorischer Werke wirft und daß sie, verglichen mit den Einzelleistungen ehemaliger Artpflege, geradezu barbarisch an mutet, ist also keineswegs verwunderlich. Was der Einzelne einst auch gewesen war, das primitive, brutale Kind mit seinem rein äußerlichen und völlig wertjenseitigen Sein- und Habenwollen, das sich aber inzwischen seit langem schon zur vollen und runden körperlich-seelisch-geistigen Persönlichkeit entwickelt hatte, das sieht er jetzt auf einmal wiedergekommen in millionenköpfi ger Masse. Es ist sehr begreiflich, daß alles, was die Kollektivpflege heute tut, von ihren Führern ebenso wie von ihren Empfängern einzig danach beurteilt wird, ob es der Erfüllung des Kollektiv zweckes — der soliden physisch-intellektuellen Fundamentierung des erwarteten und ersehnten neuen Kollektivs dient oder nicht. Der Standpunkt des Einzelnen spielt selbstverständlich hiebei
keine Rolle) ebenso verständlich indes, daß er um so entschei dender seine Kritik am Kollektiv bestimmt. Wie, fragt er nicht ohne Grund, bedeutet denn diese ganze Kollektivpslege nicht ein Späteres im gleichen Sinn, in dem schon eine Ehe, ein Verein, ein Staat oder eine Kirche ihrem selbstverständ lichen Früheren und Ersten, dem Einzelnen gegen über ein Späteres und Zweites bildet? Zn der Tat, die Kol lektivpslege baut ein Haus, bevor sie dessen zukünftigen Be wohner herangepslegt hat. Das Haus ist ihre erste, der Be wohner aber ihre zweite — falsch! nicht einmal ihre zweite Sorge ist er: denn um ihn, für den und um dessentwillen allein, wie man meinen möchte, sie das Haus baut, kümmert sie sich oft überhaupt nicht. Es wäre möglich, daß die Kollektivpflege diesem Vorwurf mit folgender Antwort begegnete: „Du irrst! Dieses Haus ist keineswegs für den Menschen von früher — für „Einzelne", geschweige denn für „Persönlichkeiten" bestimmt, sondern für Menschen der endlich herangereiften, nächsthöheren und über geordneten Wertigkeit: für das Menschenkollektiv, das in seiner Art ebenso eine „Individualität" darstellt wie der Ein zelne von einst. Diese neue Einheit „Mensch" jedoch ist bereits da! Ja, sie wohnt sogar schon im Hause! Du siehst sie nur nicht! Weil Du noch zu jenen wenigen überholten „Einzelnen" des veralteten Typus gehörst, von denen schon in den nächsten Jahren kein einziger mehr da sein wird!" Gleichwohl! Selbst wenn diese Erwiderung den Tat sachen entspräche, auch dann noch stünde unumstößlich fest, daß die Ar-und Grundzelle jedwedes vorstellbaren Menschengefüges, also sogar eines imaginären einheitlichen Individuums „Men schenkollektiv", der einzelne Mensch ist. Um diese Wahrheit kommt auch die fanatischeste, blind leidenschaftlichste Kollektivpflege nicht herum. Ohne Einzelmenschen keine Men schengemeinschaft, ja nicht einmal eine Ehe. Und wer denn wäre da, um Leben, Schicksal und Wirken des Kollektivs zu erleben und zu erleiden, wenn nicht jeder Einzelne an sich?
Unwidersprechbar folgt daher aus dieser Tatsache, datz die Grenzen des einzelnen Menschen auch die des Kollektivums sind. Über die letzten Möglichkeiten der Menschennatur hinauszu gehen, ist auch das Kollektivum nicht imstande. Und so kann auch das Werdegesetz des Kollektivums, jener Wahrheit zufolge, kein anderes fein, als jenes, das für den Einzelnen gilt; auch das Kollektiv darf nichts wesentlich Anderes werden wollen als der Einzelne. Vor allem aber darf es nicht weniger wer den wollen als seine Grundzelle, der Einzelne, der zukrast eben jener unzerreißbaren, naturbedingten Abhängigkeit, ja Ange wiesenheit des Kollektivs auf ihn dessen alleiniger Maßstab ist. Mit vollem Recht geschieht es also, wenn der Einzelne die äußere und innere Gemäßheit all dessen, was die Kollektivpflege heute leistet, einzig an jenem größten Maße und an jenem höchsten Grade selbstgewirkter Vollendung mißt, die er, der Einzelne, zu erreichen vermag. Maß und Grad, die ihm sowohl an den großen Beispielen der Geschichte, die uns allen voranleuchten, wie in der unverwüstlichen inneren „Idealvor stellung" von seinem eigenen möglichen und darum auch ge forderten letzten Gelingen offenbar und vertraut sind. Aus diesem Grund ist es gar nicht verwunderlich, daß der Einzelne glaubt das Zukunstsschicksal der heutigen Kollektivpflege mit voller Bestimmtheit schon jetzt voraussagen zu können. Unentrinnbar, so folgert er, werde es davon ahhängen, in wel chem Maße sich im Zukunstsmenschen der Gipfel der Kollek tivpflege — (die leidenschaftlich erwartete, aber dennoch unbe kannte Individualität „Menschenkollektiv") — und der Gipfel der angeblich gestürzten Artpflege — (also der wohlvertrauten und bestens bewährten „Einzelpersönlichkeit")—vereinen lassen wird. Weshalb der Einzelne automatisch umso entschiedener die Kollektivpflege ablehnen muß, je völliger sie die Pflege des Einzelnen außer acht läßt. Daß er damit aber nicht eine persönliche Gegnerschaft zum Ausdruck bringt, sondern die einzig maßgebende Stimme der Schöpfung selber, die im ein zelnen Menschen Grundstock und Maßstab jedes übergeord-
neten Gattungsgefüges bildet, diese ausdrückliche Feststellung zu machen, wird ihm hiebei nicht erspart bleiben. Wohl könn ten diese Folgerungen des Einzelnen als richtig gelten, wenn er nicht unentwegt von jener Artpflege und jener „Persönlich keit" her spräche, die einer Zeit vor dem Epochenwechsel zu gehört; einer Zeit, deren Versagen eigentlich den Epochen wechsel nach sich zog. Haben wir nicht nach dem Eintritt dieses Epochenwechsels — nach dem Kriege — die Entdeckung gemacht, daß auch die denkbar höchstvollendete Persönlichkeit, ohne ihr organisches Ein gebunden- und Eingeordnetsein in das Gemeinschastskollektiv aller, nichts bedeutet? Die ausschließlich selbstzentrierte, best gelungene Persönlichkeit stellt ohne Zweifel eine Höchstblüte, aber nur eine solche eben der Artpotenz des Menschlichen dar. Weil diese Blüte aber nur aus dem Wege einseitiger Überzüch tung— eben der Artpotenz—Zustandekommen konnte, und nur dadurch, daß sie die Wachstumzone ihres Artstammes durchbro chen und überschritten hat, ist sie, vom Stamme her gesehen, zu gleich auch Symptom der Degeneration, der Dekadenz. Denn das naturgegebene Gesetz des Gleichgewichtes zwischen Art und Gattung kann ungestraft nicht übertreten werden! Ist die Art in ihrer letzten Vollendung der Dynamik des Geistprinzipes zugekehrt, so die Gattung der Statik des Le bensprinzipes zugebunden. Wo daher Artgeist die ernäh rende Nähe zum Gattungsleben verliert, erfährt der Einzelne ein nur scheinbar höheres Leben, in Wahrheit aber: das Sterben des Lebens am lebensabtrünnigen Geiste. Wo sich aber solches Geschehen an vielen Einzelnen zu gleicher Zeit ereignete, da müßte das Leben auch der Gattung in Gefahr geraten. Nun gehört gewiß keine Prophetengabe dazu, vorauszu sagen, daß der eben erlebte Epochenwechsel im Prozesse der Menschheitsentwicklung nicht der letzte sein wird. In gleicher automatischer Reaktion, mit der zu Beginn des Jahrhunderts die übersteigerte Artpflege von der heutigen Kollektivpflege entthront wurde, könnte wieder eine übersteigerte Kollektiv tz
pflege von einer Epoche neuerlicher Artpflege gestürzt werden. Gleichwie der höchstgezüchtete Einzelne nichte ist ohne sein Ein gefügtsein ins Kollektiv, ebenso ist auch das höchstentwickelte Kollektiv nichte ohne seinen höchstvollendeten Einzelnen. Richtet einseitig überbetonte Artpslege — lebensverleugnender Geist — zuerst die Art und dann die Gattung zugrunde, ver dirbt auch einseitig betonte Gattungspflege — geistverleugnen des Leben — mit der Gattung zuletzt auch die Art. Nichts kann gewisser sein, als daß die blinde Vernachlässigung des Einzelnen, in der sich die heutige Kollektivpflege oft bis zur besessenen Verneinung von Existenzwert und Existenzsinn jeder Persön lichkeit gefällt, ein Zurückschnellen des Pendels zu neuerlicher Artpflege endlich wird herausfordern müssen. Was also erwartet uns? Datz mit der Zeit die über steigerte Kollektivpflege zusammenbrechen und an ihrer Statt wiederum eine Epoche übersteigerter Artpflege einsetzen wird? Was nichts anderes bedeutete, als daß eine völlige Wiederein setzung in den vorigen Stand geschähe und das alte Spiel von neuem begänne? Hier, an diesem Punkte steht wahrlich die betroffene Menschheit vor einem Scheidewege entscheidenden Ranges. Mit geringen Ausnahmen hat sie sich bisher, unbe wußt oder bewußt — und das heißt unschuldig oder schuldig — darein gefügt, die automatische Periodik des Epochenwechsels, ohne auch nur den allergeringsten sreiwillentlichen Ein griff in das Rad dieser Automatik, über sich ergehen und ab lausen zu lassen. Niemand je versuchte, eine übersteigerte Art-, noch eine ebensolche Kollektivpslege in eine „gemäße" zu überführen.WeshalbjenePeriodik,vomMenschengleicherweiseunterstützt wie nicht gestört, allein und ohne ihn walten mußte; den Menschen aber, dieses langsam begreifende und träge Wesen, mählich erraten ließ, daß er, in seiner Art wie in seiner Gattung, von der immer beschleunigteren Folge von lauter Übersteige rungen dieses ständig wiederkehrenden Epochenwechselö zugrun degewechselt, zerrieben und ausgetilgt werde, wenn er ihrem fast mechanischen Ablauf niemals eigentätig in den Arm fiele.
Und tatsächlich, der Mensch hat es endlich erfaßt. Daß der Mensch, wie alles Irdische, einmal seine unauf schiebbare letzte Stunde erreicht haben und damit ebenso natur gemäß von seinem Schauplatz, wie er einst angetreten ist, ab treten wird, das wußte er stets. Der Heutige weiß aber auch, daß er unwiderruflich schon vor diesem natürlichen Zeitpunkt wird verschwinden müssen, wenn er sich nicht rechtzeitig dagegen zur Wehr setzt und sich selbst hilft. Sieht man ihn nun etwa schon bei dieser Abwehr und Selbsthilfe? Nein, er läßt sich sogar — die vielen „Kulturmorphologien" der letzten Jahrzehnte, die er gerne aufgenommen und dankbar verschlungen hat, sind Be weise hievon — lieber einreden, daß er dazu nicht imstande sei, als daß er die Selbsthilfe auch nur ein einzigesmal versuchte. Widerstandslos, trotz aller Erfahrung, duldet er, daß ihn Welle auf Welle des Epochenwechsels wie ein wehrloses Objekt mit sich trägt, und tröstet sich bei dieser demütigenden Rolle teils mit dem Gedanken, daß ein vorzeitiger Tod nicht so bald bevor stehe, teils mit der bequemen Verantwortungslosigkeit, die ihm diese Rolle ermöglicht. Immerhin: Inhalt und Richtung dieser Selbsthilfe liegen so klar zutage, daß wohl nur ein Bewußt-Verblendeter länger säumen könnte, sich für sie zu entscheiden. Nichts kann heute, da eine mißverstandene Kollektivpslege sich in einseitigster Ausschließlichkeit auslebt, naturgerechter sein als der Aufruf zur Pflege der Einzelpersönlichkeit, die Voraussetzung und Vollendung jedweder Menschheit ist. Hat denn, wer so entrüstet und unduldsam diesen Ruf erhebt, schon völlig vergessen, daß die Vergottung der unbedingten „Persönlichkeit" in der vorangegangenen Periode die Gattung Mensch bereits vor die nackte Gefahr des Auseinanderfallens gebracht hatte? Ist heute unter der Herrschaft der extremen Gattungsgeltung der Einzelne vogelfrei, so war es seinerzeit unter der Ägide der extremen Artgeltung das Kollektiv. Wer also — soserne er vom Niederbruch beider Extreme weiß — dürste wagen, blind genug zu sein, das Heil von neuem in einem Extrem—diesfalls wieder in einer extremen Artpflege — suchen
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zu wollen? Ist es wirklich noch immer nicht offenbar genug geworden, daß der Mensch in seinem Geschaffen- und Berufen sein weder einseitig den Einen oder Anderen — entweder Ein zelnen oder Kollektivum—, noch etwa die Summe dieser beiden darstellt, sondern eine unlösbare und unteilbare Ein heit: das organische Ineinander von „Einzelnem" und „Kollektivum", von Blüte und Stamm, von Geist und Leben ist? Der Mensch, der bisher lieber das mechanische Hin und Her zwischen diesen extremen Polen erduldet hat, als daß er jeweils freiwillig die erforderte Synthese vollzogen hätte, erklärte in den Epochen ausschließlicher Artpslege: „Die Mensch heit ist: der Mensch!", in den Epochen ausschließlicher Gattungs pflege aber: „Der Mensch ist: die Menschheit!" Niemals hin gegen noch scheint er wirklich erfaßt zu haben, daß die Wahr heit einzig in beiden Sähen beschlossen ist. Trotz alledem also: „Erziehung zur Persönlichkeit?" Ja, gewiß! Zu welcher aber? Zu einer, die zukrast dieser Wahrheit — nie und nimmer mehr die ehemalige anti- und akollektive sein darf. SUfo kein Mensch, der ausschließlich für sich selber lebt, sondern einzig und allein ein solcher, der kollektiv erfaßbar, im Kollektiv lebensfähig und im Gefüge des Ganzen fürs Ganze fruchtbar sein kann: der Mensch, der für die Menschheit lebt. Was also von heute an unter dem Titel „Einzelpslege" allein noch Anspruch auf Betätigungsraum hat, ist die zärtliche Sorge um Erstehen und Gedeihen der „kollektivfähigen" Persönlichkeit! Streben nach Persönlichkeit an sich, also nach Eigen vollendung ohne Bedacht aus die Vollendung der Gesamt heit, genügt heute objektiv nicht mehr; selbst dort nicht, wo es sich subjektiv als glühendstes, reinstes, ja heroischestes Leben erweist. Aus den bewundernden Beifall der Mitwelt sollte solches Beginnen heute nicht mehr rechnen dürfen. Die selbstzentrische Persönlichkeit von ehedem darf keine Beispiels gewalt mehr haben. Wenn auch die notwendige Erziehung zur
„kollektivsähigen" Persönlichkeit in ihrem Kampfe gegen die noch vorhandene persönlichkeitefeindliche Kollektivpflege von ihren Jüngern Innerlichkeit anstatt Äußerlichkeit, Tiefe anstatt Oberfläche, Mut zum Alleinstehen anstatt Untergehen in der Masse fordert, so kann sie damit niemals zu dem Mißverständnis Anlaß geben: das, was seinerzeit die antikollektive Persönlich keitspflege angestrebt hat, sei das gleiche wie das, was sie selbst anstrebt. Denn sie wird bei allem, was sie tut, auch nicht den leisesten Zweifel darüber aufkommen lassen, daß tiefste Tiefe nichts bedeutet, wenn sie nicht gleichfalls auch an der Oberfläche zu wirken imstande ist. Geht sie doch von der richtigen Erkennt nis aus, daß der Mensch nicht als Einzelner, sondern vielmehr als Einheit von Einzelnem und Kollektivum, Persönlich keit zu werden habe. Und ihr gilt daher auch der höchstvollendete Einzelne erst dann als wahrhaft gelungen, wenn er tauglich ge worden ist, sich aus jeder hierarchisch geordneten Stufe des Kollek tiven — von Ehe und Familie angefangen bis über die Ge sellschaftsformen des Volkes, der Nation und des Staates, hin aus in das letztübergeordnete Gefüge religionsbestimmter Ge meinschaft empor — kollektiv ersassen und verwenden zu lassen. Was nichts anderes heißt, als in dieser Eigenschaft, und damit eben als „Persönlichkeit, an der Vollendung des Kollek tivums mitzuwirken. Einzig diese tollektivsähige Persönlich keit ist es daher, die uns als Ziel „heutiger" Persönlichkeit^ erziehung vorschwebt und deren Voraussetzungen und Einsatzpunkte, sowie die Wege zu ihr, hier aufgezeigt werden sollen.
II.
Die Stimme des Innern*) Bei völliger Weltoffenheit hat die Persönlichkeit jeder, auch der gegenwärtigsten und heftigsten Außenstimme gegen über aus der Befragung der eigenen inneren Stimme zu be stehen und Sinn und Geltungsrecht jener am Urteil dieser zu bestimmen. Nur aus solche Weise wird der ganze, immerfort veränder liche und bewegliche Umkreis der Außenwelt auf ein immerfort gleiches und stetes Zentrum gebracht. Dieses Wirken eines beweglichen Außen auf ein unveränderliches Innen vermag allein den lebendigen „Kreis" zu zeugen. Ebenfalls nur auf solche Weise aber wird im Menschen selbst — in seiner innersten Person drin — jener entschei dende Kern gebildet, der die Voraussetzung der „Persönlich keit" ist. Endlich jedoch erringt sich auch das „Selbst" eines jeden Menschen seine „Freiheit gegenüber der Außenwelt und seine „Unabhängigkeit" von ihr, wie auch seine „eigenpersönliche Innenwelt" allein auf solche Weise. Ihr Gehalt wie ihre *) Leider konnte der Dichter diese Betrachtung nicht mehr ebenso aus arbeiten wie die übrigen. So war es ihm auch nicht mehr gegönnt, die Stimme des Inneren, wie er sie verstand, genauer zu umschreiben gegenüber den inneren Stimmen der Selbsttäuschung, des Starrsinns und Irrsinns. Die späteren Ausführungen des Dichters lassen aber deutlich erkennen, was er unter der „Stimme des Inneren" verstanden hat: die demütig-wagende Selbstschau des Menschen, der sich seiner vom Schöpfer verliehenen Eigenart und Eigenwertigkeit bewußt ist.
Masse stehen in genauem Verhältnis zur Unbeirrbarkeit und Unbestechlichkeit, mit der er der inneren Stimme vor jeder äußeren das Recht zur Entscheidung zuspricht. Alles Außen, das ein Mensch derart in sein Innen hinein an- und aufnimmt, „gehört" ihm wirklich, aber auch alles, was er sol cherart verwirft, hat er trotzdem fruchtbar „erlebt".
III.
Liebe zum Wesentlichen Wesentlich für das Leben des Menschen ist: die bestim mungsgerechte Erfüllung der menschlichen Natur. Diese Natur stellt sich als ein Kollektiv von Leib und von Seele dar. Aber auch diese beiden sind ihrerseits Kollektiva; der Leib das seiner verschiedenen Organe, die Seele das ihrer verschiedenen Vermögen. Zwei Prinzipien durchwalten dieses System: 1. Das Prinzip der hierarchischen Rangord nung der Kollektivglieder. Bestimmende Instanz für das Oberkollektiv — also die menschliche Natur — ist die Seele. Innerhalb des Unterkollektivs „Leib" ist das Gehirn als jenes Organ, das vor allem den Unterschied des Menschen gegenüber dem Tier begründet, diese Instanz; innerhalb des Unterkollektivs „Seele" hinwiederum: der Geist, als jenes oberste seelische Vermögen, das alle übrigen — wie das rational-intellektuale der Wirklichkeitserkenntnis (Wissen), das irrational-intuitive der Überwirklichkeitserspürung (Glauben) und das beiden zugeordnete und beide zur Tat führende Ver mögen des Fühlens und Wollens (Herz) — zur Fähigkeit umfassender Zusammenhangschau vereint. 2. Das Prinzip der unzertrennlichen Einheit der Kollektivglieder. Solange der Mensch lebt, bilden Leib und Seele eine Einheit. Selbst bei angeborenen oder durch Krankheit oder Unglücköfall erworbenen Funktionsgebrechen, oder gar Fehlen einzelner Körperorgane, ergänzen sich die übrigen gesunden wie von selber zu einem einheitlichen Leib.
Wissen ohne Glauben, Glauben ohne Wissen, beide ohne Füh len, Wollen und Tat, und umgekehrt, bleiben für uns unvor stellbar. Abgesehen hievon jedoch: so wie im Oberkollektiv die Seele ihren Lebensboden verliert, wenn ausschließlich oder überbetont „Leib" gelebt wird, und umgekehrt, hat auch in den beiden Unterkollektiven jede einseitige Betätigung ausschließlich des einen oder anderen Körperorgans, beziehungsweise des einen oder anderen Seelenvermögens, Entartung oder gar Sterben zur Folge. Es gibt mithin eine Erfüllung der menschlichen Natur einzig und allein im — hierarchisch bestimmten — Zusammen spiel aller Kollektivglieder, nicht aber im Einzel spiel nur der einen oder der anderen. Ein Leib, der, wenn das überhaupt möglich wäre, nur Muskel oder nur Darm oder nur Auge benützte, stellte keinen Menschenleib dar. Eine Seele, die nur erkennte, oder nur glaubte, oder nur das „Herz" wirken ließe, wäre keine „Menschenseele" mehr; und ein Mensch, der ausschließlich Leib oder ausschließlich Seele lebte, kein Mensch schlechthin. Einzig vielmehr, wer die Ganzheit seines Leibes und die Ganzheit seiner Seele zur ungeteilten und rang gerechten Einheit des Lebens zu integrieren vermag, erfüllt bestimmungsgemäß die menschliche Natur. Nach alledem möchte es also scheinen, als wäre für das Leben des Menschen vor allem wesentlich: daß er als ganzer Mensch lebe und restlos die volle Fülle (Quantität) seiner leib lichen und seelischen Potenzen — dahingewidmet dem Geiste, also dem höchsten Rang (Qualität) dieser letzteren — aus schöpfe und auswirke. Indessen gewährleistete selbst ein solches Leben noch keines wegs die bestimmungsgerechte Erfüllung der menschlichen Natur. Wohl aber vermag es zu dieser zu führen. Als sicherste Brücke zu ihr dient ebenderselbe Geist der unmittelbaren Zusammen hangschau, der die „bestimmende Instanz" des „ganzen" Men schen darstellt; diesem Geist allein ist es gegeben, sie zu er fahren. Denn, wie immer auch die Ergebnisse der jeweiligen Be-
tätigung des Geistes nach Ort und Zeit im Einzelnen von einander verschieden sein mögen, schon gar aber mit welchen Worten immer erste auszudrücken vermag: im allgemeinen erspürt er doch stets und überall dasselbe. Es wird ihm überall und stets nur von neuem offenbar, daß das Sein des Men schen kein in sich oder für sich selbständiges oder unabhängi ges ist, sondern eine Ableitung aus dem Willen einer über sinnlichen Existenz, die Urgrund und Letztziel des Menschen bildet. Aus diesem nachgebildeten, also mittelbaren, erst durch die Existenz eines Schöpfers möglichen, daher geschöpflichen Charakter des menschlichen Seins aber folgt von selbst, daß die Menschennatur sich nicht schon in einer selbsttätigen Aus wirkung ihrer gesamten Menschlichkeit zu erfüllen imstande sein kann, sondern erst in der gehorsamen Verwirklichung ihrer Geschöpflichkeit! Nicht in der Ausübung eines selbstherrlichen Rechts, sondern im Vollzug einer ihr auferlegten, verpflichtenden Bestimmung. Dieser Vollzug aber kann, schon dem Wesen jener Bestimmung gemäß, nicht anders geschehen denn in einem Leben immer eifrigerer und restloserer Erspürung jenes Willens, als des sen Beauftragten sich der Mensch erfahren hat: also in einem Le ben immer vollkommeneren Zusammenklangs mit diesem Willen. Wesentlich daher für das Leben des Menschen ist, daß er mit seinem „ganzen" Menschen als Geschöpf lebe, das heißt: als menschlicherVollzieherdesSchöpferwillens. Daß, wer „Persönlichkeit" werden will, einzig und allein der Verwirklichung dieses Schöpferwillens dient und damit eben dem „Wesentlichen" der Menschennatur hingegeben ist, entspricht vollinhaltlich gerade dem Inbegriff der Persönlich keit; hat diese doch kein anderes Bestreben, als in sich selber Wesen und Art der gesamten Gattung „Mensch" zu vertretungs gültigem Ausdruck zu bringen. Je unbedingter aber diese Hin gabe, umso selbsttätiger auch die Entschiedenheit, mit der die Persönlichkeit alles Unwesentliche so lange zu übersehen und zu übergehen sich gezwungen fühlen wird, bis sie zuletzt auch noch den letzten Rest eines „Organs" dafür verloren hat.
IV.
Mut zum Alleinstehen Persönlichkeit ist der vertretungsgültige Einzelausdruck -er gesamten menschlichen „Wesensnatur". Sowohl die restlos volle Fülle der gegebenen menschlichen Anlage wie der ge samte Sinngehalt der menschlichen Bestimmung müssen in ihr, als im einzigen Musterexemplar der Gattung „Mensch", ver tretungsgültige Einzelgestalt werden. Es kann darum für die Persönlichkeit, die sich der objektiven Richtigkeit ihrer Stellung nahme klar bewußt ist, keine andere Wahl geben als die: in vollkommener Unabhängigkeit davon, in welcher Art und Weise ihre „Zeitgenossen" — selbst die etwa gleichgesinnten — das Leben erfassen und vollziehen, zu leben. Zu leben, als ob es der Erfüllung der menschlichen Bestimmung gegenüber aus schließlich auf sie allein ankäme, einzig und allein sie für die ganze Menschheit verantwortlich wäre. Die Fähigkeit zu solchem Alleinstehen bildet also die eigent lichste Probe auf Gehalt und Echtheit — unverrückbare Unbe dingtheit — einer Persönlichkeit. Das Wesen ihres Kernes, dessen Dichte, Widerstandskraft und Durchsetzungsgewalt finden ihre Bewährung erst im einsamen Schwimmen ohne Gefolg schaft gegen die Ströme des Unwesentlichen. Wer nicht im stande und bereit ist, im Notfall Schicksal und freie Tat der ganzen Menschheit aus seine eigensten Schultern zu nehmen, und sich innerhalb seiner persönlich gesetzten Grenzen die nie bedankte Frucht eines völlig einsamen und ebenso völlig un beachteten Lebens abzuringen, der wird weder je „ganzer Mensch" noch „Geschöpf Mensch", geschweige denn Stellver treter der menschlichen Geschöpslichkeit schlechthin.
Unzertrennbar von dieser Fähigkeit, ja sogar in genauem inneren Zusammenhang mit ihr, sind Hang wie Kraft zur Ein samkeit. Innerhalb der physischen Welt aber, gegenüber ihrem Eigenwillen und ihrer Gesetzlichkeit, gilt der einzelne Mensch, selbst die Persönlichkeit: Nichts. Hier ist jeder nicht nur ersetzlich und vertretbar, sondern sogar völlig entbehrlich. Innerhalb des Gefüges der geistigen Welt hingegen — die des Menschen Be stimmung ist — bedeutet jeder: Alles. Denn eben von dieser Bestimmung her ist jeder Mensch Vollzieher des Schöpferwil lens im Bereich des Menschlichen; und darum jeder höchstper sönlich als er selber, und nur als er selber, ausgerufen. Kommt nun hier, damit dieser besondere Strahl von Schöpferwillen nicht unverwirklicht bleibe, einerseits alles daraus an, daß der Mensch seinen Auftrag aus sich nehme und richtig vollziehe, und darauf, daß er dem Sinn dieses Bezogenseins der mensch lichen Existenz aus ein Zentrum hin gerecht werde, so steht auf der anderen Seite fest, daß er diese Rolle niemandem über tragen, aus niemanden abwälzen könne: unabwendbar und un erbittlich er selbst, und zwar mit dem restlosen Einsatz seines ganzen Menschen, hat er sie auszuführen! Auf welche andere, natürliche Weise aber als auf dem Wege der abgründigsten und hingegebenstenBersenkung in die Wurzeltiefe des eigenen Selbst, ließe sich sonst die ungeheuere Sinnsülle dieser Bestimmung ersassen? Unweigerlich und einzig nur in diesem eigenen Selbst, das, sobald es einmal sich selber und damit die Wesensnatur des Menschen überhaupt erdrungen hat und nun den Schöpfer und seine Schöpfung, wie auch das Thema des dramatischen Zwieprozesses, in den es sich hineingestellt entdeckt, ebenfalls zu erspüren imstande ist, läßt sich diese „Sinnsülle" finden. Einzig jene leere Stille aber, jene eifersüchtig verteidigte Samm lung und rücksichtslose Ausschließlichkeit des Betrachtens, die zu solchem Erbringen und Erspüren erfordert sind, vermögen das Sein in der Einsamkeit zu gewährleisten; als eben ein Sein in der dichtesten Selbstabschließung der Seele gegenüber aller veräußerlichenden Ablenkung, die ihr immer erneut von der
aufdringlichen, selbstherrlich begehrlichen Außenwelt wider fährt. Der Drang nach Einsamkeit ist daher ebenso natürlicher Aus druck des Persönlichkeit-Erstrebenden, wie der höhnische Schau der vor ihr die Haltung des Persönlichkeit-Derachtenden. Denn: muß alles reinÄußerlich-Oberflächlich-Unwesentliche die Einsam keit als seinen ärgsten und gehaßtesten Widersacher empfinden, so alles Innerlich-Tiefe-Wesentliche diese als seinen zuständigsten und zuverlässigsten Freund und Helfer. Gleichwohl, sie wäre völ lig mißverstanden, wenn nur ihre Seligkeit und nicht auch ihre Hölle erlebt und gepriesen würde. Verleiht die reine, jeden Zwi schenträgers ledige Unmittelbarkeit, mit der die einsame Seele sich selber plötzlich dem Schöpfer und seiner Schöpfung gegen übergestellt spürt, ihr jene Wonne uferlosen Entzückens, die von keiner anderen irdischen übertrosfen werden kann, so muß sie sich dafür auch in das umso hilflosere persönliche Derlassensein und damit oft genug in eine Verzweiflung, die an den Irrsinn reicht, gestürzt empfinden, sobald ihr in diesem nackten Anblick das tragische Mißverhältnis aufdämmert, das, anscheinend un ausgleichbar, zwischen ihr und dem Erschauten klafft. Trotzdem: ohne sich dem Noviziat gerade dieser Einsamkeit einmal bis an dessen äußerste Grauensgrenze hin unterworfen zu haben, und ohne es in immer noch entschiedenerem Ertragensmut immer wieder von neuem zu bestehen, ist es der Seele nicht gegeben, die Früchte der Einsamkeit zu pflücken. Die Ernte dieser Früchte umspannt den gesamten Bereich der menschlichen Existenz: 1. Daß der Mensch ist, lebt, fühlt, will und tut. Das in Worten nicht einsangbare, einzig nur bestaunbare Wunder der Tatsache seiner Existenz, die ebenso oft unheimlich-sonderbar wie geheimnisvoll wirkt, die nach rückwärts keinen weiteren An schluß als den der Ahnenreihe erkennen läßt, der nach vorne aber der jähe Absturz in das dunkle Loch des Todes bevorsteht: dieses Wunder kommt erst dem Einsamen zu unaufhörlich unausschöpflichem Bewußtsein.
2. Was er ist, was er soll, und was er werden kann. Auch die Problematik dieser „Dreiheit" seines wesensbestimmten Seins enthüllt sich dem Menschen erst in der Einsamkeit. Erst sie zeigt ihm erstens das ganze Rüstzeug und den vollen Fassungsbereich seiner körperlich-seelischen Einheit; zweitens sein Gerufen- und Berusensein an sein oberstes Ziel; drittens die gesamte, freilich unablässig von außen her be drohte und von innen her bezweifelte Fülle seiner Fähigkeit dazu, die Quantität jenes Rüstzeugs und jenes Fassungs bereichs in die Qualität dieses obersten Ziels zu überführen. Aber auch die Reichweite dieser Fähigkeit und ihr Gerichtet sein tun sich erst dem Einsamen auf. Freudig überrascht ent deckt er in sich den hellgeordneten Gipfelbezirk schafsendenVatergeists,der gerade seinen zielbewußtesten Höhen drang unwiderstehlich zu siegreichem Aufschwung emporzureitzen scheint; bange verblüfft aber gewahrt er gleichzeitig auch die dunkelchaotische Tiefe gebärenden Mutterblutö, die ihn mit all seiner unbewußtesten Tiesenverbundenheit so unwiderstehlich, als müßte er auf ewig wehrlos ihr verhaftet bleiben, hinabzuziehen droht. Auch mit dieser Erleuchtung aber ist es noch nicht genug! Stellte sich dem Menschen in solcher Einsamkeit die ganze Ver tikale seines Fähigkeitsdurchmessers — sowohl der nach Oben wie der nach Unten gerichtete Radius — dar, so tut sich ihm mit dem unmittelbar darauf folgenden Einblick auch der ganze Durchmesser der Horizontale seiner Fähigkeiten auf. Er wird gezwungen zu begreifen, daß seine ihm anvertrauten Gaben nicht dann schon restlos und richtig angewendet worden sind, wenn er,um sich an die geist-lichte Daterstirn hinaufzuschwingen, das körper-trübe Mutterblut in sich drin etwa erstickte; nicht Flucht vom Vater zur Mutter hin, auch nicht den Vater von der Mutter zu „befreien" gilt es! Sondern ungleich Mehr und Anderes! Es gilt: auf der ganzen Ebene des Menschlichen
die Mutter als Lebensträgerin vom Vater empfangen und durchtränken zu lassen, um damit das Blut zur blühenden Magd des Geistes zu machen. Es kann also, nicht etwa nur bildhaft oder gar gleichnishaft gesprochen, behauptet werden: der Ein same entdeckt und erkennt in diesen Blickrichtungen als das Grundzeichen seiner Natur: —\— das Kreuz. 3. Was jeder andere Mensch der Erde seinem Wesen nach ist, offenbart sich dem Einsamen aus dieser Erfassung seiner selbst wie von selber. 4. Ebenso auch das, was rings um die Menschheit herum da ist als wahrnehmbare Welt. Desgleichen geht auch die wahre ganze Vielheit und unerschöpfliche Vielfalt des außermensch lichen Seins auf der Erde und außerhalb der Erde einzig dem Einsam-darein-Versenkten auf. Gleichwohl! In der Empfängnis dieses Lichts bleibt es für ihn keineswegs beim Erlebnis der Wirklichkeit dieser Welt; der Wirklichkeit eines Blitzes, eines Windstoßes, eines Steins, eines Baums, eines Tiers, eines Sternnebels! Im Gegenteil! Gerade je unwiderleglicher diese Wirklichkeit in der fast individuell scharf und schroff abgegrenzten und ver schiedenartigen Bestimmtheit wie Eigenheit ihrer Gestalten sich ihm aufdrängt und erweist, umso unaufhaltsamer wird er aus dem Erkennen dieser Leibhaftigkeit der Welt zur Erdringung ihrer geistbestimmten Transparenz weitergetrieben. Ebenso wie ihm bei Erfahrung des eigenen Ich dessen oberstes Bestimmungsziel und seine Fähigkeiten, es zu erklimmen, als die Aberwirklichkeit des Menschen offenbar geworden sind, erspürt er jetzt die Überwirklichkeit auch von allem Äußermenschlichen — und damit die absolute Gemeinsamkeit und die relative Gleichheit der Bestimmungen. So wie sich selbst erfaßt er nun auch Blitz, Wind, Stein, Baum, Tier und Sternnebel als Ausdruck des Schöpferwillens. And er fuhr er soeben den Menschen als den bewußten Vollzieher dieses Schöpferwillens, so errät er nun diese als die unbe wußten.
Indes auch noch eine zweite und noch bedeutsamer tiefe Einsicht zwingt demEinsamen der Blick in die Überwirklichkeit der Welt aus. Warum denn geschah es ihm bisher, daß er beim An blick jedweder Wirklichkeit — ob nun der eigenen oder einer frem den, und ob sie ihm nun als Freundliches oder Feindliches, als Gemäßes oder Ungemäßes, als Schönes oder Häßliches, als Freude oder Schrecken erschien — mit seiner ganzen Seele, mit all ihren Fähigkeiten ohnmächtig davor versagen mußte? Hilf los davor erliegen, wie vor etwas, das, mochte er selbst seinen lebendigsten Geist dawider rühren oder daran schmiegen, sich den noch nie und nimmer mit ihm verschmelzen, schon gar nicht aber von ihm verarbeiten ließ? Demgegenüber es nicht einmal das Hilfsmittel einer „Auseinandersetzung", sondern schlechthin nur „Hinnahme" gab? Jetzt endlich entdeckt er den Grund dieses Nichtvermögens. Fiel ja dies in jenem Augenblick jäh von ihm ab, in dem er — endlich nicht mehr getäuscht von der scheinbar so selbstverständlichen Selbstgewachsenheit und brücken losen Unvermitteltheit, mit der die Wirklichkeit sich ihm darbot — die Uberwirklichkeit durch sie hindurchscheinen, sie wie ihren nicht ablösbaren Stamm- und Wesenshintergrund durchschimmern und durchstrahlen sah. Solange er die Wirklich keit als solche allein, also ohne diesen Hintergrund, betrachtete, mußte sie, diesem Nichtvermögen zufolge, als harmloses oder furchtbares Gespenst und damit als Widersinn auf ihn wirken; wogegen sie ihm mit einem Schlag völlig zugänglich, lebbar und erlebbar wurde, sobald er sie nicht mehr als solch wider natürlich getrennte Hälfte, sondern in ihrer natürlichen Ganzheit, also ergänzt von ihrer Überwirklichkeit, erschaute. Und wiede rum ist der Grund dieses Grundes: daß nichts, was zusammen gehört, geschieden werden, daß nichts, was eine Einheit ist, aus einem Teil erfaßt werden kann. Läßt es sich zwar teilweise auch in Teilen „wahrnehmen" und „beurteilen": schauenundbegreisenläßtes sich nur als Ganzes. Kurz: nur der Ganze vermag das Ganze zu fassen, aber eben auch nur das Ganze; alle Teile hingegen nur vermittels dieses Ganzen.
5. Daß der Einsame, nachdem ihn die Versenkung bis an die gemeinsame Quelle alles Geschöpflichen und also bis an die Aberwirklichkeit getragen und aus dem Bereiche weltlichen Ge gebenseins in die Zone überweltlichen Bestimmungssinns ge führt hat —, daß dieser Einsame nun nicht mehr haltmachen und rasten kann, sondern unvermeidlich zur Versenkung in den Inbegriff dieser Aberwirklichkeit, in das Absolute als in den Hintergrund jeder Wirklichkeit, vorstürmen muß, ist selbstver ständlich. Daß er sich von nun an allen anderen Versenkungen nur in Verbindung mit dieser, ja einzig von dieser aus widmen wird, ist ebenso natürlich, wie daß von allen gegebenen Ver senkungen zuerst und am gewissesten gerade diese dem Einsamen vorbehalten ist und allein nur ihm gelingen kann. Denn dort, wo das Unausbleibliche sich ereignet und der Mensch dem Schöpferwillen einsam gegenübertritt, darf diese Begegnung von Keinem, nicht einmal vom „Bruder" gestört werden. Es scheint wohl unleugbar, daß der Frucht dieser letzten Versenkung für den Einsamen die Bedeutung der Lebens entscheidung schlechthin zukommen müsse. Was denn anderes könnte für ihn ähnlich entscheidend sein wie diese Begeg nung! Allein die Hauptrolle hiebei wird nicht so sehr das spielen, was er etwa als das Wesen des Absoluten, des „Inbe griffs" erdrungen haben mag und was, den Früchten anderer gegenüber, zwar nicht in seinem Allgemeinen, wohl aber in seinem Besonderen, je nach der Persönlichkeit des sich Versen kenden und je nach Ort und Zeit der Versenkung, stets ver schieden sein wird. Ebenso wird auch dem Namen, den er diesem Absoluten etwa beilegte, kein Erstgewicht zufallen können. Der Religiöse versucht den Inbegriff „GOTT" zu nennen; ein Denker wie Kant hieß ihn das „Ding an sich"; während Goethe, ein Riesengeist der Zusammenhangschau, sich mit dem einfachen Ausdruck „Das Anerforschliche" begnügte. Nein! der Rang entscheidender Lebenswichtigkeit wird wohl nur jener Dersenkungsfrucht zugemessen, die über das Wesen des Bezogenseins zwischen „Inbegriff" und Mensch aussagt.
Der Oberflächliche, soferne er sich überhaupt mit dem „Inbegriff beschäftigte, wird gerne geneigt sein, ein Ver hältnis grundsätzlicher Identität zwischen diesem und dem Menschen zu entdecken; Schöpfer und Geschöpf, wie denn sollten sie im letzten Grunde nicht wesensgleich sein? Dem einsam Versenkten hingegen kann es nicht lange verborgen bleiben, daß es sich höchstens um eine Ähnlichkeit handeln könne, etwa im Sinne einer Analogie zwischen des Menschen Wollen und des Schöpfers Können, zwischen der menschlichen Sehnsucht nach Erfüllung und dem göttlichen Ruhen im Ersülltsein. Weshalb denn der Einsame, bei allem Erschüttert sein, das ihm dabei widerfährt, kaum überrascht sein wird, wenn er endlich darauskommt, daß die praktische Auswirkung selbst dieser bloßen Ähnlichkeit, bei aller „Gnade", die ihm hiezu vom Schöpfer herab auch zufließen mag, zuletzt doch einzig von seiner, des Menschen, Entscheidung abhängt. Gewiß ist es, vom „Inbegrifft her betrachtet, des Menschen Bestimmung, Vollzieher des Schöpferwillens zu sein; er kann, und er soll es sein. Aber in genauem Gegensatz zum Außermensch lichen: er muß es nicht sein. Nichts hindert das mensch liche Dorstellungsvermögen daran, die Schöpfung einzig als das Ergebnis eines ebenso bewußten wie beabsichtigten Wil lens des Schöpfers anzusehen; eines Willens aber nicht nur nach Bildverwirklichung und Selbstoffenbarung, sondern regel recht darnach: von einem anderen Wesen als von jenem, das der Schöpfer in sich selbst darstellt, bemerkt, verspürt, begriffen und daraufhin, mit der Kraft vollgültiger Bestätigung seines Seins und Wirkens — bejaht zu werden. Ein „Ja" nun, dem eine solche Kraft eignete, vermag dem Schöpfer erst einzig und allein jenes Geschöpf darzubringen, dem es, vom Schöpfer selbst her, fteisteht, Ihn entweder zu bejahen oder zu verneinen. Dieses Geschöpf ist, innerhalb des menschlich überschaubaren Schöpsungsbereichs: der Mensch. Er allein kann des Schöpfers An-Ruf und An-Spruch auch mit „Nein" beantworten; und nur, weil er dies kann, eignet seinem
„Za" jene vollgültige Kraft der Bestätigung, aus die es dem Schöpfer ankommt. Dieser Einblick in die Beziehung zwischen dem „In begriff" und dem Menschen ist es, dem für den einsam Ver senkten die Bedeutung der Lebensentscheidung zukommt. Der Mensch, wahlbesähigt dazu, die restlose Erfüllung seiner We sensnatur im frei bejahenden Vollzug des Schöpferwillens zu erwirken, ist gleicherweise imstande, in sreiwillentlicher Verneinung des Schöpferwillens von seiner Bestimmung und deren Erfüllung abzufallen und sich damit vom Kreis der Schöpfung einseitig loszusagen. Wie oft in den letzten Jahren wurden allenthalben „Schicksal" und „Freiheit" -es Menschen einander als „Polaritäten" gegenübergestellt 1 Mitnichten, denn just das Schmieden seines allereigensten Schicksals, die Entschei dung über die Art seines Bezogenseins zum „Inbegrifft, ist dem Menschen völlig in die eigene Hand, in die Hand eben seiner „freiwilligen Entscheidung" gegeben. Mit der Ernte seiner Einsamkeit bringt der Versenkte daher zwei entscheidende Früchte heim: die Bilder von Schöpfer und Schöpfung, die fteilich unteilbar und sinnvoll zusammen gehören. Das eine, erste, zeigt ihm Schöpfer und Schöpfung so, wie sie ihm erscheinen, wenn er sie von sich selber, vom Men schen her, betrachtet. Bei solcher Betrachtung, hieß es oben, entdecke der Mensch zunächst als „Grundzeichen seines Wesens" ein: f — Kreuz; das Kreuz, das von der Vertikale und der Hori zontale seiner Fähigkeiten gebildet ist. Nun jedoch, nachdem er sämtliche Stufen der Versenkung erklommen und von ihnen aus in den „Nebenmenschen", in die Welt des „Außermensch lichen", in die durch jede Wirklichkeit seiner selbst und dieser beiden hindurchschimmernde „Aberwirklichkeit" und zuletzt auch noch in deren „Inbegriff" hineingeschaut hat ..., nun erblickt er sich selber, sein Kreuz, eingefügt in das Ganze von Schöpfer und Schöpfung — in Gestalt einer Kugel: ©. Mittelpunkt dieser Kugel ist wieder er selber: eben jener Schnittpunkt seines Kreuzes, das mit seinen zwei Balken das Achsengerüste der
Kugel bildet. Was als Kugelinhalt um dieses Zentrum und dieses Gerüst herum, und rund um beide, allseitig den ganzen Kugelraum ausfüllt, ist die Welt aller anderen Ge schöpfe. Die äußere Kugeldecke aber, jene Hülle, die, ebenso unnachgiebig wie elastisch, diesen Inhalt zur einheitlichen Kugel zusammenhält, das ist: die Überwirklichkeit, Unaufhörlich, von jedem Punkt dieser äußersten Hülle aus, schießt Strom auf Strom von Schöpferwillen — ewige Flut gleichgerichteter Ra dien — in das Zentrum hinein; und ebenso unaufhörlich Strahl auf Strahl menschlicher Schöpferbejahung — frei bejahenden Vollzugs von Schöpferwillen — von diesem Zentrum her, und durch alle Wesen der Welt hindurch, nach der einhüllenden Decke hinaus. Diese Wechselflut ist, vom Menschen her gesehen, nichte anderes als: der aktive Tatbezug zwischen Schöpfer und Mensch. Anders das zweite Bild. Dieses ist nicht mehr vom Stand ort des Menschen her geschaut, sondern zeigt die Gesamtheit vom Überwirklichen her betrachtet in der Art eines Sonnensystems von unzähligen Globen jeglicher Größe und Kleinheit. Globen, die, obgleich jeder von ihnen seine Eigenbewegung besitzt, mit anderen nicht nur in Zusammenhänge zu treten, sondern sogar Nebenbindungen zweiter Ordnung zu bilden imstande sind; allesamt aber doch, und zwar mit planetenartiger Dahngenauig keit und Bewegungstreue, ihren gemeinsamen Brennpunkt — den Schöpfer — als dessen Geschöpfe umkreisen. Der Wechsel slutbezug zwischen Schöpferwille und geschöpflichem Willens vollzug bleibt aber auch hier der gleiche wie im ersten Bild. *
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Weil es hier vor allem darum ging, die wesentlichste und zugleich lebeneentscheidendste Frucht der einsamen Versen kung darzuzeigen — nämlich die geistige Zusammenhangschau in Bezug auf Schöpfer und Schöpfung, zu der allein die Men schenseele fähig macht —, wurde aus ihre übrigen Gewinne nur nebenbei hingewiesen. Zudem: ist es nicht selbstverständlich,
-aß ausnahmslos jedes „Erlebnis" der menschlichen Seele, auch wo es seinem Wesen nach nicht nur in einer Begegnung des Menschen mit sich selber oder mit dem unsichtbaren Schöp fer, sondern mit jedwedem Geschöpf besteht — insbesondere aber mit dem Menschen —, die Totalität sowohl seiner Inhalts sülle wie seiner Wirkungsintensität erst in der einsamen Ver senkung finden kann? So wie allein der einsam Sichversenkende für ein solch „totales" Erlebnis richtig vorbereitet sein kann, ebenso ist auch allein er nach solchem Erlebnis zu dessen Wider strahlung fähig. Also nicht nur zum Doll- und Ganzerlebnis der »geistigen Zusammenhangschau", sondern auch zu dem des „Erkennens" und „Glaubens", des „Fühlens" und „Wollene" macht die einsame Versenkung den Menschen erst fähig. Wie es, endlich, auch einzig ihr gegeben ist, ihn jeweils zu jener „Tat" gültig vorzubereiten und auszurüsten, die dem seelisch inneren Gesamterlebnis vollinhaltlich entspricht. Mit Fug und Recht darf man daher sagen: Persönlichkeit kann ohne „Mut zum Alleinstehen" ebensowenig werden, wie ein Kind ohne Mutter nicht zum Leben kommen kann. Wie wenig trotzdem Einsamsein die Persönlichkeit zu schuldhaft be schränkter Egozentrik verführt, erweisen wohl die zwei vorum schriebenen Bilder der „Rugel" und der „sonnensystemartigen Anordnung der Globen" am besten. In diesen Bildern ist die Persönlichkeit von Anfang bis zu Ende auf das Ganze von Schöpfer und Schöpfung — also auch auf alle übrigen, gleich „berufenen" Geschöpfe — bezogen, und es hängen Maß und Grad ihrer individualen Bestimmungserfüllung einzig davon ab, wie sie sich in diesem Gefüge auszuwirken weiß.
V.
Die Verteidigung des Geheimm Insolange sich der Mensch — freiwillig oder in einseitiger Flucht — nicht der sinnlichen Welt allein übergibt, umrauschen ihn immer wieder die unsterblichen Fragen: „Woher komme ich? Warum und wozu bin ich da? Wohin gehe ich?" Die Antworten, die er — bisher — darauf zu geben pflegte, tragen wohl alle das Siegel „Persönlichkeit". Denn die Antwort kann nur vom Wesentlich-Menschlichen her gegeben wer den, also aus der integralen Erbringung menschlicher Natur; und nur die Persönlichkeit stellt eben jenen Menschen dar, der diese Erbringung tatsächlich leistet und der erst durch sie zum vertretungsgültigen Individualausdruck der Gattung heran wächst. Bei aller Verschiedenheit, die zwischen den Antworten der einzelnen Persönlichkeiten auch bestehen muß — Ver schiedenheit der Zeit, des Ortes, der persönlichen Prägung —, ist ihnen trotz allem ein Gleiches gemeinsam: daß nämlich in jedem Einzelindividuum die repräsentative Stimme des We sentlichen der Gattung gleicherweise ertönt. Was daher dieses Wesentliche aussagt, ist im Prinzip immer und überall dasselbe: der Mensch ist etwas „Mittelbares", Nachgebildetes, Bedingtes, ein irdisch-sinnliches „Geschöpft',' und das, woher er kommt, warum und wozu er da ist, und wohin er geht, das ist das „Un mittelbare", Erste, Letzte und Unbedingte — der überirdisch übersinnliche „Schöpfer". Grundsätzlich beziehen also alle Ant worten den Menschen, sowohl mittelbar wie unmittelbar, auf ein Geheimnis. Und geben damit notwendigerweise zu — denn was von einem Geheimnis stammt, muß wohl ebenfalls
Geheimnis sein —, daß auch die ganze Schöpfung dieses Schöp fers, also auch der Mensch und sein Leben, Geheimnis ist. Alles Sinnlich-Irdische wie Übersinnliche, ist Geheimnis. Gott, die Welt, der Fragesteller — und der Antwortgeber auch. And bleibt Geheimnis. Ist und bleibt für Menschen unentschleierbares Geheimnis. And unsere Sinne? Entschleiern sie nicht unentwegt und bis zur völligen Eindeutigkeit, ja bis zur geheimnislosesten Offenbarheit? And unser „Wissen", unser „Glaube" und unsere ein heitlich-geistige „Zusammenhangschau" —, was denn anderes vollziehen auch sie, als: Entgeheimnissung des Geheimen? And mit stetig wachsendem Erfolg? Es scheint wohl nur so 1 Denn diese ganze Entschleierung und Entgeheimnissung bleibt doch nur Enthüllung von Enthüllbarem, Erklärung von Erklärbarem, vermeintliche Enträtselung von Enträtselbarem; dem Geheim nis selbst, seinem unauszehrbaren Wesensgehalt kommt sie nicht nahe, kommt sie nie bei. Nie! Die Sinne nehmen nur die äußere Erscheinung des Ge heimnisses wahr; und das Wissen weiß nur um die Merkmale und Zusammenhänge dieser Erscheinung. Indes Glauben und „Zu sammenhangschau", mögen sie zwar in eine noch so nahe Nähe zum Geheimnis vorstoßen, so nahe, daß sie geradezu den An schein zweiter, höherer Sinne und eines zweiten und noch ge wisseren Wissens erreichen, eines Wissens, das nicht mehr nur deutet, sondern bereits bestimmt, in Wirklichkeit können sie immer nur das Eine aussagen: daß das Geheimnis ist. Ja, sogar die Wahrheit der geoffenbarten Religionen ist nichts an deres als die vom Geheimnis selbst verkündete Wahrheit: daß das Geheimnis ist. Kurz, es ist dem Menschen unmöglich, das Geheimnis von Schöpfer und Schöpfung für sich zu entschleiern. In diesem Nicht und Niemals aber, in diesem Unvermögen, das Ge heime je aus Eigenem offenbar zu machen, liegt die eigentliche, die bestimmungshafte Grenze der mensch lichen Seele. Hier ist der menschlichen Natur eine unüber-
steigbare Schranke gesetzt. Die menschliche Natur mag „wol len", sich anstrengen, sich in heldenhafter Kühnheit und Preis gabe ihrer Lebensruhe und ihres „Erdenglücks" übersteigern, ja vergewaltigen: an dieser Mauer zerschellt sie. Allerdings, es bedarf immer wieder der Erfahrung, der verwegensten und tod bereitesten Hingabe an diesen trotzigen Überschreitungswillen und seine zerschmetternden Niederlagen, um die Menschheit stets von neuem zur ergebungsvollen Einsicht in die Unübersteiglichkeit dieser Gtenze zu bringen. Noch jede „Nachwelt" ward bisher gezwungen — soferne sie den Mut des unbestech lich offenen Auges besah — die Lorbeerkränze, die eine voran gegangene Mitwelt den falschen Propheten ums Haupt ge wunden hatte, diesen wieder wegzureißen. Warum aber neigt trotz allem der Mensch, solange er die äußere Erfahrung noch nicht gemacht hat, also „unbefangen" in seiner Natur lebt, so gerne, ja fast unwillkürlich und ge radezu wie von dieser unbefangenen Natur her dazu, den Sinn seines Lebens in der Entschleierung des Geheimnisses zu sehen? Warum hält er es, unbelehrt, so gerne für ent schleierbar? Und muß ihm immer wieder jene Erfahrung wer den, ehe er von dieser Hoffnung absieht? Auch dies ist „Geheim nis", das Geheimnis eben der „Grenze". Ein um so größeres Geheimnis zwar, als derselbe Mensch, dächte er nur jeweils ein wenig nach, wissen müßte, daß es just und allein das Gesetztsein dieser Grenze — die Unentschleierbarkeit des Geheimnisses — ist, die ihm die Erfüllung seiner Natur ermöglicht. Ist sie doch die grundlegende Bedingung dafür, daß er — der keineswegs als ein gegebenes lebenslanges Sein, sondern als ein auf getragenes lebenslanges Werden geschaffen ist — sich mäh lich zu dem entfalte, was er werden kann und darum auch werden soll! Der Mensch, als ein zum Werden Ausgerufener, ist undenk bar ohne diese Grenze! Oder vermag sich auch nur Einer vor zustellen, daß in einer Welt völlig entschleierten Geheimnisses Menschenleben überhaupt möglich wäre? Keiner! Gleichgültig,
ob man annähme, daß der Mensch aus einer menschlichen Fä higkeit heraus das Geheime offenbar zu machen imstande wäre, oder daß sich ihm das Geheime aus sich selbst heraus offen baren würde; in beiden Fällen müßte die eingetretene restlose Offenbarheit des Geheimen, also sein Wegfall, das Ende der Menschheit bedeuten. Im ersten Fall ein Ende, das sich die Menschheit selbst, im zweiten ein Ende, das ihr der Schöpfer bereitete. Nähme in diesem zweiten Fall der Schöpfer den Menschen „zurück", holte ihn heim, wie einen, dessen Rolle endlich ausgespielt ist, so sägte der Mensch im ersten den Ast seiner Existenz selber ab. Oder hätte es vielleicht für den Menschen doch noch einen Sinn zu leben, wenn ihm die Gabe, das Geheime bis auf seinen lehten Urgrund hin zu durchdringen und offenbar zu machen, tatsächlich eignete? Alle seine Fähig keiten wären ja dadurch mit einem Male nicht nur überflüssig, sinn- und nutzlos, ja geleugnet, sondern auch gelähmt! Was denn gäbe ihm eine solche Welt noch zu erstreben? Was denn wüßte er noch „zu beginnen" in ihr? Nichts mehr! „Abtreten! Es liegt ja die Schöpfung nun völlig offenbar!" riefe sie ihm notwendig zu. Seine Rolle als Mensch wäre damit endgültig zu Ende gespielt und was das Geheimnis dann noch schleierlos erblicken dürste, wäre auf keinen Fall mehr ein — Mensch. Trotz alledem, wie fest herrscht in den Köpfen der Men schen die Meinung, ja sogar hartnäckige Überzeugung davon, daß der Mensch das Geheimnis endlich doch einmal werde ent schleiern können! Und wie kommt es, daß gerade derjenige, der dazu geboren ist, daß er das „Dunkle" niemals ganz verliere — daß just dieser sich zur Eroberung des innersten Lichtkerns berufen wähnt? Aber noch mehr als berufen, geradezu, und zwar wie von seiner Wesensnatur her, dazu verpflichtet wähnt er sich. Dies aber hieße nach dem Vorigen: verpflichtet dazu, sich durch eigene Tat ein Ende zu sehen. Die Plattform seines Wesensgrundes freiwillig zu verlassen, sich außerhalb der Schöpfung zu stellen und ins Platzlose hinabzusinken. Und das sollte nicht Wahnsinn sein?
Es entspricht durchaus dem Schöpferwillen, dah der Mensch von seinem gegebenen Ist „frei" zu seinem ausgegebenen Soll — vom anscheinend und nur vermeintlich „wirklichen Men schen" zum bewußt überwirklichen „Geschöpf Mensch" — hinan werde. Angesichts der Verwirklichung dieses Schöpferwillens in jedem Menschen können wir uns nicht vorstellen, daß der Mensch als fertiges „bewußtes Geschöpf" geboren werde und ihm damit all jenes „Werden" erspart sein könnte. Der Mensch ist für uns einzig von seiner Möglichkeit her, sich frei zum bewußten Geschöpf zu entfalten, verständlich. Eine Menschen welt aber, in der von „Ansang" an nur Menschen lebten, die — weil sie sich als vom Schöpfer abhängige Geschöpfe er faßten — von der Un entschleierbarkeit des Geheimnisses über zeugt wären und an ihr zu rütteln gar nicht mehr wagten, könnten wir uns ebenfalls nicht vorstellen. Die ideengemäße, rein „wirkliche" Grundlage des Menschen in seiner Anfangs stufe ist vielmehr so stack in jedem von uns angelegt — im Gegensatz zum Überwirklichen seines Entsaltungsziels- und -endes: des bewußten „Geschöpf Mensch" —, daß sie von uns wie ein Vonjeher-Gegebenes empfunden und geradezu als die schöpfungsgerechte Legitimation des Menschen angesehen wird. üntersuchen wir nun aber erst einmal dieses Kapital seiner Anfangsgrundlage, den Menschen als solchen, wie er geboren wird, dann wird uns bewußt, was von jeher im Unbewußten uns gewiß war: der Mensch wächst erst zum „bewußten Geschöpf Mensch" heran und wird erst in diesem Wachsen von der Unentschleierbarkeit des Geheimnisses überzeugt. Auf die Welt ge kommen ist er vielmehr, vorläufig und für lange noch, ein kläg lich und erbärmlich von der drohend-unberechenbaren Umwelt und von der erahnten Überwelt begrenztes und beschränktes Wesen. Ein Wesen, das aber gleichzeitig unabhängig und selb ständig, Herr seiner selbst ist. Hierin, in dieser Erfassung seiner Eigengesetzlichkeit als einer inneren Unabhängigkeit von jedweder Macht und nicht als einer inneren Freiheit zu frei-
willigem Gehorsam gegenüber dem Schöpfer, liegt der Wesenscharakter seiner Anfangsstufe — der Wesenscharakier des rein „wirtlichen" Menschen im Gegensatz zum bewußt „über wirklichen" Geschöpf Mensch. Das Bewußtsein dieser seiner „Unabhängigkeit" ist in ihm so wurzelties und wurzelverhaftet, trotz all seiner Schwäche, Ausgesetztheit, ja Preis gegebenheit, daß es selbst dann noch, einer einmal ange fangenen Bewegung gleich, in ihm und von ihm her nach außen weiterwirkt, wenn er den Schöpfer und damit die Unentschleierbarkeit schon zu erfassen begonnen hat. Selbst als bereits religiös gerichteter Mensch, also Gott gegenüber, denkt und schafft er lange noch für seine sogenannte „Unab hängigkeit", für sein „freies" Ich; und nicht als Geschöpf in Gehorsam für den Schöpfer. So daß er sogar Religionen, be ziehungsweise Konfessionen schafft, in denen er selbst, als ein gestanden tnechthaftestes Geschöpf, erstes und letztes Gewicht darauf legt, daß eindeutig zum Ausdruck komme, daß er selbst es sei, der in selbsteigener innerer Unabhängigkeit diese Haltung eines unwürdigen Knechts ersaßt, einbekannt und auf sich ge nommen habe. Daß es demnach, wohl als „konsequenteste" Auswirkung dieses Unabhängigkeitsbewußtseins, sogar unter den subjektiv religiösesten Menschen fanatische Bekenner des Glaubens an die Entschleierbarkeit, ja an die Pflicht zu einer Entschleierung des Geheimnisses gibt, darf also nicht verwun dern. Der Mensch, der sich als „armer Teufel", ja als „armer Sünder" bekennt, und sich trotzdem gleichzeitig als den einzig sich selber verantwortlichen Herrn seiner selbst, und also auch der Welt, fühlt und gebärdet, ist schwerer auszurotten als Ratte, Wanze, Feldmaus. Was aber folgt aus dieser „Anfangsgrundlage" des Men schen? Daß die Seele durch ihre Unfähigkeit, die Grenze des Geheimen aus eigener Kraft zu überschreiten, anstatt zur Entfal tung ihrer Vermögen und Energien zwecks Geschöpfwerdung, zu immer betonterer Menschwerdung herausgefordert wird. An statt auf dem Überwirklichen liegt hiebei der Akzent: auf dem
rein Wirklichen. Anstatt auf der bejahenden Hinnahme der Grenze und auf dem fruchtbaren Wirken innerhalb ihrer: auf der Grenzüberschreitung. Nicht die Vergeheimnissung der eigenen Individualität und ihres Lebens, son dern die Entgeheimnissung schlechthin wird Ziel. Freilich leidet die Seele, ganz und gar nur Eigenbewußtsein, „Freiheitsdrang" und „Stolz", unter dem Zwang dieser Grenze. Empört sich gegen diese, lehnt sich auf wider sie. Wo zu denn Geheimnisse, vermeint sie? „Sie verhindern ja die Menschwerdung, die Entwicklung zum „ganzen", „runden" Menschen. Sie demütigen ihn, rauben ihm seine Würde — indem sie seine „Freiheit" beschränken, ja verneinen wollen. Also weg mit ihnen, im Namen dieses Entwicklungsgebots!" Ein ganzes Heer unaufrichtigster Beweise wird zur Begrün dung dieses „Weg!" herangeführt. Kein Wunder! Wo der Schöpfer zu einem Attribut des Menschen, zum Objekt der Befriedigung, Stillung, Erfüllung menschlicher Bedürfnisse gemacht und damit in die Zone des rein Wirklichen herabgezogen wird, da gehört nicht mehr viel dazu, auch die Entschleierung des Geheimnisses, den allseitigen Kampf gegen das Geheim nis, als gottbefohlen zu beweisen. Wie denn auch sollte ein Menschengott, ein Gott also, den sich der Mensch eigens für sich, für sein Selbstgefühl erdacht hat, Menschen bil ligen können, die Geheimnisse — noch dazu angeblich unentschleierbare! — duldeten! In dieser Beweisführung liegt der Ursprung und Urgrund all jener Werke menschlicher Zivilisation und Kultur, von denen man mit Recht sagen darf, sie stammten vom rein „wirklichen Menschen"; im Gegensatz zu jenen anderen, von denen sich eben so berechtigt sagen läßt, sie stammten fürwahr vom „bewußten Geschöpf Mensch". Ohne Zweifel ist das Werk der menschlichen Zivilisation und Kultur: Kind der Grenze. Zwischen jedem ein zelnen Werk aber und den Tendenzen, denen es entspringt, besteht ein grundsätzlicher Unterschied; daß nämlich der rein „wirkliche" Mensch mit dem, was er schafft, bewußt oder un-
bewußt die Unentschleierbarkeit des Geheimnisses und also auch die Unübersteigbarkeit der Grenze leugnet; indes das vom bewußten Geschöpf geschaffene Werk die Unentschleier barkeit anerkennt. Den einen gelten die ersteren Werke als Geheimnisentlarvungen, die zweiten den anderen als Ge heimnisbestätigungen. Es darf uns, da wir das Leben des Menschen eben für eine Spannung zwischen Ist und Soll und damit für ein mög liches und aufgegebenes Entfaltungswerden halten, nicht einfallen, hier ein Werturteil auszusprechen. Wir erleben es ja selber, wie gewaltig, wie fast unheimlich und unglaubwürdig großartig sich die Zivilisation-Kultur selbst einer Menschheit aufzutürmen vermag, der der wahre Auftrag, das „bewußte Geschöpf Mensch" zu werden, verloren gegangen ist. Und er leben es nicht nur in Bezug auf heute, sondern auch in der Kultur geschichtlicher Vergangenheiten, wie ein solches Riesenwerk trotz allem, „unbefriedigend" und zur Verzweif lung treibend, relativ rasch verwest und zerfällt. Es hat zwei felsohne einen geheimen Grund, warum wir gerade unsere heu tige Kultur „Zivilisation" nennen. Wir fühlen instinktiv ihrer kalten, hochmütigen, bravourös verstandesmäßigen Menschhaftigkeit gegenüber den Mangel an warmer, demütiger, geheim nisgläubiger Geschöpfhaftigkeit; sie könnte wahrlich groß sein und verehrungswürdig, wenn sie nicht dem Willen eines Pro metheus, sondern dem wahren Schöpferwillen entstammte! Prometheus bleibt, vom Menschen her gesehen, immer und überall ein Heros; vom Schöpfer und damit auch vom bewußten Geschöpf Mensch her aber ist dieser Heros und seine ganze Zivili sation-Kultur stets von neuem zur Niederlage verdammt. Dies zu verstehen fällt um so leichter, als auch der rein „wirkliche Mensch", die Prometheusnatur, ja eingestandenermaßen an ihr leidet, in ihr Angeheuerliches, geradezu Heldisches leistet und gerade dadurch Wunsch und Sehnsucht nach einem entschei denden Schritt zur Geschöpfwerdung hin, also einer „besseren Zukunft" entgegen, wachhält. Weniger leicht hingegen ist es
zu begreifen, wieso diese heutige Zivilisation-Kultur, bei soviel differenzierter, ja raffinierter Verstandesleistung, ebensowenig wie ihre geschichtlichen Vorgänger nicht endlich begreift, daß sie, mag sie noch so viel „enthüllen", „erklären" und „enträt seln", dennoch nicht das bescheidenste Geheimnis zu entgeheimnissen imstande ist! Versuchen wir aber einmal diese starre Uneinsichtigkeit zu verstehen 1 Schon die menschliche Zivilisation-Kultur beginnt als eine Zwangsausgabe gegen das Geheimnis. Wie denn könnte es der Mensch auch nur physisch eine Zeitlang in jenem Um kreis bedrohender und schreckhafter Dunkelheiten und Nebel, in deren Mitte er sich hineingestellt sieht, aushalten, ohne mit ihnen kämpfen zu wollen? Kaum aber ist diese ewige Notwen digkeit jeweils erfüllt, und schon hebt er sich aus der Zwangs arbeit empor; was bis dahin nur als Muß gegolten hat, gilt von nun ab als frei-aktives „Wollen" und — weil dieser Zwang ihn seine Kräfte, Fertigkeiten und Fähigkeiten erkennen ließ und damit sein Selbstgefühl erweckt hat — sehr bald schon auch als freigewolltes „Sollen". Da er gelernt hat, sich kämpfend gegen die Finsternisse seines Innern und seiner Außenwelt zu behaupten, zieht er nun auch ohne zwingende Notwendigkeit gegen das Dunkel zu Felde; fühlt sogar, daß er diesen Krieg zu führen hat — als eben der „Freie" führen soll, der er ist. Und hierin nun, in diesem Durchbruch aus dem äußerlichen Müssen in das innere Wollen und Sollen, in diesem immer un widerstehlicher entbrennenden Ausruf zur Finsternisbekämpfung zeigt sich erst recht das „Geheimnis" der Grenze. Dem Menschen, dem es bestimmungsgemäß, vom Schöpfer her, ver sagt ist, ins letzte Licht — eben in den Schöpfer selbst — vor zudringen, ist vom selben Schöpfer her der unsterbliche Drang nach endgültigem Lichtmachen, nach Erlichtung bis zum Zer teilen auch noch des letzten Dunkels, eingeboren. Dem Menschen, der vom Schöpfer her „Schöpsersohn" sein sollte, dem hat der selbe Schöpfer den Funken des Prometheus in die Brust gesenkt.
Es hieß in den Betrachtungen schon früher einmal, daß der Mensch seiner geschaffenen Bestimmung nach ein Held zu sein habe. Der prometheische Mensch muß zum „Schöpfer sohn" werden, sich aus einer Zivilisation-Kultur vermeint licher Geheimnislosigkeit zu einer solchen der bewußten Ge heimnisanerkennung — der durch alles Offenbare hindurch leuchtenden Geheimheit — hinanentsalten. Gerade dieser Schritt aber wird ihm verzweifelt schwer gemacht! Und zwar eben dadurch, daß es von Haus aus just Prometheus ist, und nicht der Schöpfersohn, den sein Werk, das freigewählte wie das zwangsmäßige, aufzurufen und zu bestätigen scheint. Die Waffe nämlich, die er schon bei seiner Zwangs-Aus gabe notwendig braucht und die dann auch—ja erst recht! — in der freiwilligen von Schlag zu Schlag immer stärker, tauglicher, stählerner und schmiegsamer wird und sich damit von Erfolg zu Erfolg als immer unerläßlichere, unersetzlichere, ja geradezu als einzig richtige rechtfertigt, ist der Intellekt. Und zwar: der Intellekt als „gewollte" und „gesollte" Waffe. Nicht etwa, als ob eine Zivilisation-Kultur des „Geschöpf Mensch" nicht auch, und ebenso unerläßlich, dieses selben Intellektes bedürfte! Die Reden vom „irrationalen Menschen", das heißt von einem Menschen, der ausschließlich aus dem Irrational-Äberrationalen heraus wirken und schaffen sollte und könnte, sind unsinnig. Aber die Konsequenzen, die jeder Erfolg dieser Waffe im Zu sammenhang mit dem eingeschasfenen Drang nach völliger Ossenbarheit im Menschen nach sich zieht, die sind wahrlich ernst zu nehmen! Mit beinahe teuflischer Ironie zeigen sie jene fast dämonische Möglichkeit aus, daß der prometheische Mensch den Schöpsersohn in seinem Innern besiegt, bevor dieser die Waffe seines Intellekts zur richtig rechten noch umzuschmieden vermag. Und all dies nur deshalb, weil Zwang wie Drang dem Prometheus einzig nur diese Waffe als nächste mtb beste auf drängen. Zwar vermag der Mensch, wenn er seine ersten Schlachten gegen das Dunkle schlägt, noch keineswegs zwischen dem, was ewig unentschleierbares Geheimnis ist, und jenem
zu unterscheiden, was sich „enthüllen", „erklären", „enträtseln" läßt. Hat er aber einmal in solcher Schlacht einen Sieg er rungen, dann bedeutet ihm dieser Sieg — obgleich er nur darin bestehen kann, daß ohnehin Enthüllbares enthüllt wurde — be greiflicherweise vor allem den Triumph: enthüllt zu haben! Ist doch damit einer der vielen Vorhänge gesunken und der Mensch gewahrt nunmehr, wenn nicht mit seinen Sinnen, so doch wenigstens mit dem Verstände das, was der Vorhang bisher verborgen hatte. Von diesem Augenblick an aber muß notwendigerweise jede neue Schlacht seine Geschicklichkeit im „Vorhangzerreißen" vervollkommnen und sein Bewußtsein im „Dochzerrissenhaben" stärken; so lange schärfen und stärken, bis ihm endlich — wir reden hier summarisch von tausendjährigen Zeiträumen — das „Enthüllen" zur Gewohnheit und das ver meintliche „Enthüllenkönnen" zur Gewißheit geworden ist. Selbstverständlich ist jede Menschenseele nicht allein prometheisch, sondern „schöpsersohnhast" zugleich. Richtiger: sie muß es sein. Das wahre unenthüllbare Geheimnis, wenngleich es der Mensch vom enthüllbaren auch noch nicht unterscheiden kann oder will, zwingt ihn einfach immer wieder dazu, es als unentschleierbares zu erkennen. Immerhin, was hilft all diese Erkenntnis gegenüber der Macht jener Gewohnheit und Gewißheit, die er sich in den vermeintlichen Siegen über das Dochenthüllbare geholt hat? Wiede rum überschauen wir tausendjährige Zeiträume, wenn wir ant worten: nicht viel. Abgesehen davon, daß jene Macht es ist, die dem Menschen das Erfassen des Unterschieds von Ent hüllbarem und Geheimnis selbst dann noch erschweren wird, wenn er endlich erkannt hat, daß er die bisher entschuldbar ge wesene Verwechselung von Geheimnis und Enthüll barem von nun ab als unverzeihliche fortsetzt, ist es eben falls sie, die durch die Gewalt jener Gewohnheit und Ge wißheit, je tiefer sich beide in ihm verwurzeln, umso un widerstehlicher zum Überwiegen des Prometheischen in seiner Seele verführt; und er muß in den Aussagen seiner Mythen,
Religionen und Grenzwissenschaften an erster Stelle das auf suchen und werten und sich an das halten, was darin zu „er klären", zu enträtseln, „verständlich zu machen" erscheint. Von hier aber, von diesem ausschließlichen Prometheustrieb, auch dort Geheimnis zu enthüllen, wo eingestandenermaßen Geheimnisanerkennung geboten wäre, ist bis zum unverhohlenen Feldzug gegen das Geheimnis, und zwar mit der erprobten Waffe des Intellekts, ebenso nur noch ein Schritt, wie von diesem Scheinwissen bis zur hartnäckigen Überzeugung: auch das Geheimnis sei enthüllbar; nur noch ein kleiner Schritt bis zur entschiedenen und völligen Leugnung des Geheimnisses an sich und damit auch zur Leugnung von Schöpfer und Geschöpf Mensch. Auf den Intellekt als auf die Waffe schlechthin gewiesen und von ihr mit Erfolg ohne Zahl, Enthüllung ohne Ende be lohnt, ja gekrönt, hatte der prometheische Mensch zuletzt über dem verführerischen Gefunkel dieser Waffe Unterschied, An erkenntnis und sogar alle bösen Erfahrungen vergessen, be ziehungsweise über Bord geworfen, und war damit aus dem Herrn seiner Waffe — deren Sklave geworden. Dadurch aber schwand der Ehrgeiz, vonPrometheus zumSchöpfersohn, vomrein „natürlichen Menschen" zum „bewußten Geschöpf Mensch" zu werden, und es blieb allein: der Prometheus, der nichts anderes will, als der „natürliche Mensch" in seiner reinsten Ausprägung zu sein. Dies jedoch heißt: es gibt keine „Entfaltung" mehr, sondern nur noch eine „Entwicklung", keine aufgetragene Äberwirklichkeit, sondern nur eine gegebene Wirklichkeit des Men schen, also auch keinerlei Spannung mehr; Anfang und Ende fallen in Eines zusammen; der Mensch wird Selbstzweck. Die eingeborene Tendenz des Menschen zur „Egozentrik" hat also über die Tendenz zur „Theozentrik" gesiegt. Zukrast eigener freier Entscheidung gilt dem Menschen nur noch er selber. Er hat sich selbstherrlich „frei" auf den Thron Gottes gesetzt und glaubt damit: das Geheimnis gestürzt zu haben. Wie die geheimnislose Welt dieses geheimnislos gewor-
denen Menschen aussieht, zeigt uns keine Vergangenheit so deutlich wie unsere Gegenwart. Zutiefst gilt unser Abscheu und Schrecken vor dem russischen Bolschewismus und seinen allsei tigen Helfern nicht den Hekatomben seiner Schlacht- und Folter opfer und der Angst davor, ebenfalls einmal von ihm überfallen zu werden, sondern der Tatsache, daß er für sich und seine Be kenner das Geheimnis einfach „abgesetzt" hat. Denn wir be greifen nur zu wohl, daß er es absetzen mußte, um seine Taten überhaupt vollziehen zu können, und daß er gar nicht anders konnte, als sie vollziehen, nachdem er das Geheimnis abgesetzt hatte und damit als nicht existent erklären wollte. Wie stark das Geheimnis aber trotz dieses wahrhaft luziferischen Anschlags unversehrt und unentschleiert weiter waltet, erweist sich am schlagendsten darin, daß unser Schrecken sich langsam in ungläubiges Staunen zu lösen beginnt. Das apo kalyptische Antlitz des russischen Bolschewismus wird mählich von geheimnisvoll verzerrten Zügen umwittert. Für den Bol schewismus und seine Bekenner gibt es wohl kein Geheimnis mehr, aber für alle übrigen herrscht es unerschüttert fort, und zwar mit solcher Gewißheit, daß ihnen der Bolschewismus und seine Bekenner selbst als übervoll von Geheimnis, ja geradezu als die gegenwärtige Manifestation des Geheimen erscheinen. Um der menschlichen Natur die Wahrheit endlich zu beweisen, daß der letzte Schleier des Geheimnisses niemals gelüftet wer den kann, und daß jeglicher Glaube daran sich letzten Endes als Irrtum erweisen müsse, dazu hätte ihr keine bessere Lehre gegeben werden können als just die des bolschewistischen Prometheus. Aber ist denn die Grenze, die dem Menschen in der Unentschleierbarkeit des Geheimnisses gesetzt ist, vom Bolschewismus tatsächlich überschritten worden? Wohl! Aber kein Mensch mehr zweifelt heute auch nur einen Augenblick lang noch da ran, daß dieser Schritt zurückgenommen, daß das Geheimnis wieder auf seinen Thron zurückgesetzt werden muß, wenn nicht der Bolschewismus in Norm erstarren, vom „Tod" ereilt, son dern ins „Leben" zurückgeführt werden soll.
Endlich — auch dazu fordert der Bolschewismus heraus — müssen mir, ob wir wollen oder nicht, über Sinn, Bedeutung und Vorhandensein dieser Grenze einmal nachzudenken beginnen. Den Ursachen, denen der psychologische Irrtum, das Geheimnis sei entschleierbar, entsprang, sind wir bereits nachgegangen. Aber war es denn wirklich so schwer, diesen Irrtum zu er kennen und zu überwinden? Allerdings, überblickt man die Summe allen bisherigen Zivilifations- und Kulturwerks der Menschheit, dann wird man staunend zum Bekenntnis hinge rissen: diese Menschheit hat es im Lichtmachen wahrlich weit gebracht 1 Wie sollte heute noch jemand die Behauptung wagen dürfen angesichts dieses gigantischen Werkgebäudes, das von oben bis unten und von zuinnerst bis zuäußerst hell glänzt und funkelt, daß es im Laufe der Kulturzeiten nicht immer lichter geworden wäre? Und daß es eben darum gar nicht voraus zusehen sei, ob es nicht endlich einmal doch, ganz zuletzt, völlig und vollständig gelingen werde, auch noch das ge heimnisvollste Dunkel zu erlichten? Wo denn steckt noch das Dickicht, von dessen Finsternis wir auf Grund der bisherigen Erfahrungen voraussagen müßten, sie werde niemals gebrochen und erhellt werden können? Verheißt denn nicht jede neue Zukunft noch weitere Erhellung? Trotzdem: jede nur mögliche Erlichtung, deren wir selbst im „besten Fall" fähig sind, besteht einzig darin, daß wir dem Geheimnis seine unwesentlichen Schleier abzureißen vermögen — nicht und nie aber seinen wesentlichen; jenen Schleier, der daraus gewebt ist und darin besteht, daß das Geheimnis, seinem Wesen nach, Geheimnis ist und bleibt. Und dies gilt nicht nur etwa für die Sphäre des Schöpfers, son dern auch für die Zone der Schöpfung. In demselben Maße und Grade also, in dem das äußerliche wie innerliche, körper liche wie seelisch-geistige Sehvermögen des menschlichen Auges, dem steigenden Wachstum des ganzen Menschen entsprechend, zunimmt, nimmt auch das Dunkel des Geheimnisses ab; aber nur im selben Sinne ab, in dem eine Blüte ihre fallreifen, über-
flüssig gewordenen Blätter, alle ihre unwesentlichen Schleier — einen nach dem anderen — vor diesem sehenden Auge ent blättert und dafür immer deutlicher, schärfer und eindeutig gewisser sichtbar macht: den wesentlichen Schleier; den eigent lichen, den wir freilich nimmer und niemals werden durch brechen können! Denn: Ohne Schleier kein Geheimnis! Dom Wesen des Geheimnisses her gesehen, also gerade von der Bestimmung der menschlichen Natur her, ist die erreich bar letzte Grenze der Entschleierung des Geheimen durch den Menschen: das Vordringen bis an den wesentlichen Schleier. Das letzte und höchste „Licht", das der Mensch von sich aus er reichen kann, ist: der vom Geheimnis durchleuchtete Schleier. Aber soviel Schleier mutz eben auf immer vor unserem Auge verbleiben, als das Geheimnis von sich her bedarf, um ganz und gar Geheimnis sein und auf uns und in uns als Geheimnis wirken zu können. Bis auf diesen letzten und wesentlichen Schleier können und dürfen wir, sollen wir sogar das Geheim nis „entschleiern"; es wird sich nie dagegen wehren. Aber auch wenn wir schon knapp vor diesem letzten Schleier stehen, können und dürfen wir, sollen sogar darnach streben, immer wesensverwandter, immer schärfer die Züge des Geheimnisses, die durch diesen letzten dünnsten Schleier hindurchscheinen, zu erahnen. Unmöglich bleibt nur Eines: die Entgeheimnissung des Geheimnisses, das völlige Zerreißen des wesentlichen Schleiers. Auf eine völlige Entschleierung des Geheimnisses hingegen, die uns durch das Geheimnis selber geschähe, können wir nur — warten. Sie ließe sich hier „unten" höchstens vorbereiten, da mit etwa zuletzt — gleichgültig in wievielen Menschen — eine Kultur erstehe, die fähig wäre den Schleier endlich bis zur aller letzten, allerfeinsten Hauchdünne zu zerblicken und dabei vom Antlitz des Geheimnisses, das durch ihn hindurchleuchtet, das am entsprechendsten geahnte Bild zu gewinnen. Der Glaube an die Möglichkeit einer Entgeheimnissung des Geheimnisses durch den Menschen konnte ernstlich über-
Haupt nur dort entstehen, wo der Schöpfer — also das Geheim nis selbst—entweder nicht geglaubt, oder geleugnet wird; oder auch dort, wo er zwar geglaubt, aber das Wesen seines Wesens — eben der unzerreißbare letzte Schleier — noch nicht erkannt ist. Trotzdem! Selbst in diesem zweiten Fall, in dem sich noch heute eine Unzahl an sich „Gläubigster" befinden, bleibt solche Haltung nahezu unverständlich. Müßte doch dem Menschen schon die unvoreingenommene Betrachtung all seiner Entschleie rungswerke bange machen. Er brauchte doch nur dem tatsächlichen Erfolg, dem Endergebnis all seiner Werke, von innen und außen her einmal schonungslos offenen Auges auf den Grund zu schauen, um zu erkennen, daß sogar seine höchsten und tiefsten, also „wesentlich keitsnächsten" Religionen das Geheimnis als unentschleierbar empfinden und daß sie nicht nur in ihren übersinnlichen Sym bolen, sondern selbst in ihren notgedrungen verstandesmäßigen Auslegungen und Kultregeln ausnahmslos auf diesen Schleier als auf ihr Alpha und Omega verweisen. Unfehlbar müßte er ebenfalls erkennen, daß auch seine übrigen Erlichtungswerke, und bedeutete ihr Inhalt und ihre Form zwar den höchsten Gipfel der wissenschaftlichen Erdringung (Philosophie) oder Erscheinungsersorschung (Natur - Geistes - Seelen - Wissenschaft) oder der angewandten Naturwissenschaft (Technik aller Art) oder der Kunst, das Geheimnis ebensowenig zu entgeheimnissen imstande sind. Und wenn auch scheinbar diese Menschen-Werke dem Geheimnis jeweils einen Schleier zu entreißen vermögen, so taucht unentrinnbar ein neuer Schleier auf, und immer wieder ein neuer. Mit unverrückbarer Folgerichtigkeit und Unumstoßbarkeit waltet das Gesetz von der Erhaltung des Schleiers, laut welchem auch die anscheinend geglückteste Ent schleierung stets und immer wieder einen noch ungelösten Schleierrest übrig läßt: den Wesensschleier eben des Geheim nisses ! Was ist denn im Grunde alles Licht-Machen der Mensch heit? Worin besteht eigentlich der Wesenscharakter und der
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Erfolg all ihrer Belichtungswerke? Diese Werke stellen sich ja alle, ohne Ausnahme, ob sie nun ihren Ursprung im Wissen, im Glauben oder in der „geistigen Zusammenhangschau" haben, keineswegs als Angriffe gegen das Geheimnis, sondern viel mehr als Antworten auf es dar. Damit aber setzen sie das Ge heimnis als Seiendes ebenso voraus, wie sie es zugeben. Freilich wollen die Menschen Licht machen, Licht sogar um jeden Preis, und bis in den äußersten und letzten Winkel hinein Licht! Was sie aber an Licht zustandebringen, ob es ihnen nun bewußt wird oder nicht, ist keineswegs der Lichttern des Geheimnisses selbst, sondern ihr eigenes, durch das Ge heimnis entfachtes Menschenlicht. Der Menschheit ganzes heißes Streben geht dahin, die Schöpfung in Nachahmung des Schöpfers neu zu „erschaffen", von sich aus neu zu „schöpfen". Sie glaubt dieses Ziel einzig deshalb anstreben zu müssen, weil sie vermeint, sich anders durch die Dunkelheit der Schleier, die für ihre hilf- und rat losen Augen um das Geheimnis wehen, nicht „auskennen", nicht „zurechtfinden" zu können, ja überhaupt nicht „leben" zu können. Allerdings, sie erreicht ihr Ziel trotz allem nicht und kommt niemals über den stets neu zu beginnenden und stück haften Versuch beständigen Nachzeichnens und Nachgestaltens alles dessen hinaus, was das Geheimnis — der Schöpfer — ist, will und wirkt; so daß die Prüfung des Gesamtwertes der Menschheit auf seinen tatsächlichen Erlichtungeersolg hin nur denjenigen gemeinsamen Wesenscharakter aller menschlichen Werke, der persönlich-innerlichsten wie der gegenständlich äußerlichsten, erkennen läßt: sie alle miteinander sind nichts anderes als ein unbeholfenes „Nach" gegenüber einem voll kommenen „Vor", ein ähnliches Zweites gegenüber einem ab soluten Ersten — kurz, der menschliche Widerschein des gött lichen Geheimnislichtes, der notgedrungene Versuch einer menschlichenKopie des ewigen Geheimnisses. Wie jede Nachahmung, kann auch diese, wenn auch noch so „einfühlende", natürlich nur aus dem unvermeidlich gewaltsamen Wege der
Überführung der Ebene des Originals in die Ebene des Nach ahmers, hier also der Sphäre des Geheimnisses in den Bereich des Menschen, Zustandekommen. Die Stummheit des Geheim nisses muß, um ihr überhaupt „beikommen" zu können, in menschliche Sprache, ihre Unsichtbarkeit in menschliches Bild und in menschliche Gestalt, und ihre Grenzenlosigkeit in menschliche Systematik gebracht werden. Kann demnach ausnahmslos jedes Werk menschlicher Zivilisation und Kultur tatsächlich nichts anderes bedeuten als eine Anerkennung des Geheimnisses, so muß aus demselben Grunde jenes Werk das „richtigste", das „bestimmungsgemäßeste" sein, welches das Wesen des Geheimnisses, den wesentlichen Schleier, am bewußtesten wahrt und ihn als „gewahrten" und „zu wahrenden" am eindeutigsten bekennt. Der Preis gebührt also nicht, wie es dem Menschen oft erscheinen mochte und wie er irrend glaubte und glauben machte, jenem Werk und Tun, welches auf Entgeheimnissung gerichtet ist, diese also für menschenmöglich hält, sondern — gerade umgekehrt — einzig jenem, welches zwar alle zum Fallen reisen, daher unwesent lichen Schleier vom Geheimnisse ablöst, sich aber vor dem unzerreißbaren letzten, dem wesentlichen, in bewußter und be kennender Demut beugt. Je völligeres und tieferes Zeugnis eine Kultur von der ünentschleierbarkeit des Geheimnisses ab legt, je unversehrter und bejahter also sie den wesentlichen letzten Schleier offenbar macht, aber vor seiner Grenze sich beugt, umso bestimmungsgemäßer, bestimmungsgerechter ist sie. Da nun „Persönlichkeit" der vertretungsgültige Einzelaus druck eben dieser bestimmungsgerechten Menschennatur ist, so kann niemand Persönlichkeit werden, dem diese Wahrheit nicht geworden ist. „Verteidigung des Geheimen", das heißt un bedingte Leugnung jeder Möglichkeit seiner völligen Entschleie rung und unbedingte Bejahung und Anerkennung des Ge heimnisses als ein im letzten Wesen unentschleierbares, ist der Persönlichkeit ur- und weseneeigen. Ihr ist der Schutz des Geheimnisses anvertraut. Weiß sie doch, wie sehr die
Menschheit des Geheimnisses bedarf. Nicht den Menschen vom Geheimen ablösen ist die Losung der Per sönlichkeit, sondern ihn bewußt dem Geheimen verweben. Nicht das Leben, grenzüberschreitend, des Gehei men entleeren, sondern es, grenzbewahrend, immer voller mit dem Geheimen anfüllen! Nicht die „Entwicklung" der Men schennatur in deren Abschnürung von der Geheimniswurzel suchen, sondern ihre Entfaltung in einer immer lebendigeren Verbindung mit ihr! Nicht sich wehren gegen das Geheim nis, sondern es erbitten! Nicht es verfolgen, sondern ihm nachpilgern! Nicht die Grenze zu einem gehaßten „Nein" machen, sondern zu einem geliebten „Ja"! Nicht ein ge heimnisloser „Mensch" werden wollen, sondern ein geheim nisvolles, dem Geheimnis eben durch Geheimnis verbun denes „Geschöpf! Daß die Persönlichkeit demnach lieber zuviel des Geheimnisses verteidigt als zu wenig, ja sogar un wesentliche Schleier lieber in Schuh nimmt als jegliche Entgeheimnissungsabsicht, ist nur verständlich; gibt es doch nichts, was ihr im letzten Sinn nicht als Geheimnis gälte! Nicht nur das Geheimnis, daß der Mensch ist, verteidigt sie also, son dern auch das Geheimnis, das er hat. So etwa das „Unbe wußte", das „Gewissen", das körperliche und seelische „Scham gefühl", den „Eros", die „Liebe", das „Gemüt", den „geistigen" Drang, vor allem aber den Drang zum Übersinnlichen, die „Phantasie" und das Mysterium des „Schaffens". Allein auch dabei macht die Persönlichkeit noch keineswegs halt. Jeder Mensch hat zuerst in seinem Wissen um sich selber sein eigenstes Geheimnis und die Persönlichkeit kann nicht anders als es schützen und verteidigen. Das zweite, entschei dendste, eigentlichste Geheimnis des Menschen aber ist jenes, das er in dem Maße und Grade besitzt, als es ihm in Schöpfer und Schöpfung offenbar wurde. Ist doch gerade dieses das Geheimnis des „bewußten Geschöpfes Mensch" und damit das Geheimnis, sein Geheimnis schlechthin! Die Persönlichkeit stand noch in jeder Zeit allein. Aber
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so mutterseelenallein wie in dieser unserer Zeit, deren Motto „Entgeheimnissung" lautet! — und damit notwendig „Tod der Persönlichkeit" bedeutet —, hat sie noch nie gestanden. Die Fahnenträger und millionenfachen Mitläufer dieses Zeitgeistes, die samt und sonders mit allen Waffen der Indiskretion, Ex hibition und Prosanation, und über alle Stufen der Geheimnis plünderung, Geheimnisschändung und Geheimnismordung hin weg sich jenem Motto blind preisgaben, halten es für unum gänglich, alle Magie, alles Wunder, jede Weihe und jeden Nimbus zu Ruinen zu zerschießen, ja sogar das Geheimnis aller Geheimnisse — Gott den Schöpfer — bewerfen sie mit den Bomben grünjungenhafter Blasphemie. Sie belieben ihre Haltung als eine geistige zu legitimieren, mit dem tri umphierenden Hinweis daraus, daß dem Mittelalter, also einer Zeit vorherrschenden „Glaubens", unsere aufgeklärte Neuzeit, also eine solche des vorherrschenden „Wissens", den Normen menschlichen Naturgesetzes gemäß habe folgen müssen. Sie übersehen selbstzufrieden, daß nach einer Epoche einseitig überbetonten Glaubens — Mittelalter — und nach der darauf folgenden Epoche einseitig überbetonten Wissens — Neuzeit —, also nach Epochen, in denen jeweils die „schöpfersohnhaste" oder die „prometheische" Seele des Menschen im Vorder grund waltete, nunmehr eine Zeit zu kommen hätte, in der, durch die Synthese beider zu einer ganzen und ungeteilten Seele, die Menschen endlich zum „bewußten Geschöpf" Hin anwachsen könnten. Diese Synthese und dieses Geschöpfwerden allein, und nicht die Heranzüchtung des „rein wirklichen" Menschen in der Selbstherrlichkeit der Geheimnisleugnung, war der heutigen Zeit möglich und ausgetragen. Sie hat diesen Auftrag nicht erfüllt und wird es zu verantworten haben! Immerhin, die Frage, die sich unwiderstehlich aufdrängt: „Mußte gerade unsere Zeit diesen Irrweg gehen?", bleibt trotz aller Überlegung bestehen. Ebenso wie sich die psychologischen Wurzeln aufdecken ließen, denen der Irrtum der Verwechslung
von Geheimnis und Enthüllbarem entsprang, läßt sich auch den jenigen der heutigen Entgeheimnissungswut nachgehen. Die heutige Zeit stellt in ihrer grundsätzlichen Richtung eine Reak tion aus die Einseitigkeit der vorangegangenen dar; sie entgeheimnißt aus dem Gefühl zwangsläufigen Grollens, Grollens gegen den überspitzten Individualismus von einst; gegen einen Individualismus, der jedem Einzelnen ebenso erlaubte wie nahelegte, sich zum kunstvollen Behälter seines „PrivatGeheimnisses" zu machen und vermöge dessen sich schon von vornherein von allen übrigen Menschen — gleichsam als ein Auserwählter, Eigener, Eigentümlicher — nicht nur abzuheben, sondern in gewollter und bewußter Abkehr von ihnen, in eine durchaus antikollektive, gemeinschastsfeindliche Sondersphäre hinauszustellen. Kein Wunder, daß sich unsere Zeit gegen jede Enteignung des Geheimnisses für Privat- und Sonderzwecke wendet und sich immer entschiedener dagegen auflehnt, da ihr nun klar ge worden ist, daß eine solche Enteignung keine bestimmungshaste Berechtigung in der menschlichen Natur hat, sondern im Ge genteil ihr ausdrücklich widerspricht. Bedauerlicherweise geht sie aber dabei — wie das so oft geschieht — zu weit und er klärt, wiederum in einseitigem Verrennen, „Geheimes" und „Distanz" und sich abschließende Eigenbrödelei schon an sich für versehmt. Und so wird unsere aktuellste Gegenwart nicht nur Feind jeder zu stark betonten persönlichen Eigenart, sondern gleichzeitig Verfechterin und begeisterte Bejaherin des Kollek tivistischen und seiner sorgfältigen Pflege. Der Ruf nach „Gleichheit aller" muß daher ebenso Forderung der heutigen Zeit sein, wie der Ruf „Jeder Einzelne für sich" derjenige der vergangenen war. Wo aber Einzelart und „Geheimheit" schlechtweg in Acht und Bann verfallen, kann Gleichheit nur in dem Sinne allgemein gleicher, distanz- und abschließungsfreier Geheimnislosigkeit verstanden und gewährleistet werden. Die neue kollektivistische Zeit ist zudem auch noch eine Zeit neuer, gerade hochgekommener „Klassen". Eine kollektivistische
Zeit aber muh, da sie sich vom Einzelnen weg und an die Ge samtheit aller wendet, schon allein diesem ihrem inneren Gesetze gemäß in erster Linie den bisher Zukurzgekommenen gehören und als Rückhalt dienen. Diese bisher Zukurzgekommenen for dern nun aber keineswegs vom Heute „Kultur", sondern zunächst nur einzig und allein das, was ihnen eben abgeht: außer der Sicherung ihres Lebens auch die Befriedigung von dessen ständig steigendem Anspruch nach äußerlicher Wohlfahrt. Die Pflege, der sich also das Menschenkollektiv des Heute zuvörderst wohl hingeben muß, ist diejenige des Leibes, der „Sinne" und dar über hinaus höchstens noch diejenige des „Intellektes", mit einem Wort: der „Zivilisation". Erstes, gegebenstes Werkzeug einer solchen Pflege ist nun naturgemäß just derselbe Intellekt, den wir schon einmal auch als den geborenen Wegbereiter jeder Entgeheimnissungstendenz kennen gelernt haben. Für den Intellekt aber, weil er aus nahmslos auf „Wahrnehmung" angewiesen ist, daher ohne Wahr nehmung gar nicht zu einer Erkenntnis gelangen kann, gibt es, gar wo er in Reinkultur auftritt, überhaupt nichts „llncntschleierbares". Wie unübertrefflich muß er sich also als „Entschleierer" erst in einer Zeit bewähren, welche die „Entgeheimnissungsabsicht" schon von vornherein stolz aus ihrem Panier trägt und die ihm darum mit offenen Armen und geradezu als ihrem vorsehungsgesandten Bundesgenossen entgegenkommt! Daß aber durch das Zusammentreffen gleich so vieler und so bestimmend günstiger Gesamtumstände auch die alte Mr- und Erzsünde — „Erbsünde" — der Menschheit, der Hochmut, die Selbstüberhebung, die ewige Sucht nach Grenzüberschreitung, sich wieder mutig aus ihrem Versteck hervortraute und sich nun überall, „Morgenluft" atmend, selbstherrlich breitmacht, ist das so verwunderlich? Wann schon hatte der Mensch, gar nach einem Krieg, der samt und sonders alle Arten von Grenzen verwischte und nichts als animalischen Lebenshunger zurückließ, eine „bessere" Gelegenheit gehabt, sich, von einer ganzen Welt beglaubigt, von den hemmenden Störungen und Warnungen
des Gewissens zu befreien? Und wann einen legitimeren An laß, nach dem täglich triumphvolleren Sieg der durch den Krieg nicht nur geförderten, sondern herausgeforderten Tech nik auf alle „Wunder", alles Geheime, dessen Maß und Inhalt nicht der Mensch wäre, verächtlich herabzusehen? Nie mals noch 1 Folge davon: das merkwürdige, oft unverständliche, sich widersprechende Antlitz unserer Gegenwart. Ein Chaos, in welchem übertriebene Verachtung alles Klaren und Offenbaren mit dem Hochmut und der Sicherheit des Intellekts als der siegreich bewährten Waffe gegen das Dunkel und Geheime um endgültige Entscheidung ringt. Es ist ein erbitterter und folgen schwerer Kampf, der da gekämpft wird. Von seinem Aus gang hängt unser Schicksal ab. Wieder einmal ist heute der Mensch ausgerufen zu entscheiden, ob er nur rein „wirklicher Mensch" bleiben oder „bewußtes Geschöpf Mensch" werden wolle. Die eigentliche, die bedeutsamste psychologische Ursache der Geheimnisstürmerei von Heute liegt aber in einer ungleich konkreteren und tieferliegenden Schuld der Menschheit früherer Zeiten, als es die gerade oben angedeuteten Gründe: hoch gezüchteter Individualismus, Krieg usw. sind. Es gäbe auch heute noch keine Herostratentat der Entgeheimnissung, wenn nicht schon in der Zeit vor uns die angebliche Anerkennung des Geheimnisses allgemein nur Lüge und aufgezogene Fassade gewesen wäre. Selbst das sogenannte Privatgeheimnis der selbstherrlichen Persönlichkeit — welches wahrlich kein Geheim nis des „bewußten Geschöpfes Mensch", sondern ein solches des „rein wirklichen Menschen" in letzter und höchster Ausprägung war — hätte keinen Schaden anrichten können, wenn nicht allenthalben mit falschem Gehaben vorgegeben worden wäre, daß Schöpfer und Schöpfung als Geheimnis anerkannt, bewahrt und verehrt werden, indes hinter der Maske dieser ge schickt und kunstgerecht aufgezäumten Ausmachung, „im Ge heimen" also, ein leicht zu überführendes Gesicht bewußter und gewußter Geheimnisleugnung, oder zumindest Verleugnung,
hochmütig und verzweifelt gegrinst hätte. Daß man also über das Geheimnis Gottes und der Welt „im Geheimen" anders dachte und fühlte, als man öffentlich mimte; daß man damit diese geheime Sünde gegen das Geheimnis Gottes und der Welt zum einzigen Inhalt des eigenen Privat geheimnisses machte und dadurch der tieferschauenden Mit- und Nachwelt Anlaß gab, das Wort „Geheimnis" stets und immer mit dieser geheimen Sünde gleichzustellen, das ist das voll gerüttelte Schuldmaß unserer Vorkriegskultur. Und wenn von einem Baum das Wort gilt: „An seinen Früchten sollt ihr ihn erkennen", dann ist sie dieser Daum. Nachdem das Geheimnis nun bereits nach allen Seiten hin und bis zu einer allgemeinen, alles verachtenden Skepsis herab gesetzt worden war, bekam die kunstvolle Maske ihrer Verlogen heit durch den Weltkrieg endlich einen entscheidenden Riß; was dahinter ans Licht trat, stank zum Himmel. Und da sollte man es den Zeugen dieser Katastrophe, den Soldaten und anderen Opfern des Krieges oder deren Kindern übelneh men, wenn sie nun darangingen, die gesprungene Maske end gültig zu zertrümmern? So rücksichtslos und endgültig, daß keiner der gerissensten und gewandtesten Lügner sie je noch zusammenflicken könnte? Nein! Das darf man der Gegenwart wohl nicht übelnehmen, das muß man verstehen! Sie machte allerdings schonungslose und ganze Arbeit, ja beinahe Metzger arbeit ! Bis nicht der letzte Fetzen abgerissen ward und, was sich „geheim" dahinter verbarg, den Augen aller Welt entblößt her vorstarrte, stülpten sie immer wieder diese Maske um und hängten sie zuletzt an den Pranger. Aber nicht nur die geheime Sünde gegen das Geheimnis war damit gerichtet und vernichtet worden, sondern auch das Geheim nis selbst. Und das muß ebenfalls richtig verstanden werden! Die Menschen von heute sagen sich: „Wir wollen lieber in aller Öffentlichkeit und kurzerhand eingestanden kein Geheimnis als eine Welt von nichts als im geheimen verleugneten Geheimnissen. Ja wir ziehen sogar eine
Welt mit offensichtlichen Gottesleugnern einer solchen von nichts als heuchlerischen Gottesverrätern vor 1" And so machten sie denn reinen Tisch. Einen reinen Tisch, der allerdings mit seiner fast erschreckend geheimnislosen Glattheit und Plattheit dem Auge des „bewußten Geschöpfes Gottes" zunächst einen höchst peinlichen Anblick entbietet. Liest man z. B. in einem der zahllosen siegesberauschten Heeresberichte aus der Zeit spanne des ersten sowjetistischen Fünfjahresplanes schlechter dings von nichts anderem als von: Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit, und Tag und Nacht und ohne Unterlaß nur Arbeit, einer endlosen Kette von Arbeit im Dienste der Aus stattung und Befriedigung des endlich erstandenen „rein wirk lichen Menschen" letzter und höchster Ausprägung, dann wird man ganz still und lächelt leise; „wissend" geworden ahnt man sehr wohl, warum Rußland heute seine Menschen zu solch rast loser und überhitzter Robot antreiben muß. Sich selbst über lassen kämen sie ja unweigerlich zu sich, zu einer Einkehr in ihre Seelen, und unfehlbar käme damit wieder — das Ge heimnis. Gleichwohl! Das Geheimnis Gottes und seiner Welt bleibt trotz der Sowjets unversehrt. Hinter dem Eitelnennen Gottes und seiner unzähligen Geheimnisse während der liberal individualistischen Epoche steckte persönliche Lüge, hinter der Gottesleugnung der Sowjets steckt zumindest persönliche Wahr haftigkeit. Vielleicht aber ist es das Geheimnis selber gewesen, das aus den scheinheiligen Lobgesängen, Weihrauchopsern und Staatsprozessionen seiner feigen geheimen Leugner eben durch seine unerschrocken offenen Gegner zuletzt freiwillig in die rohe Verbannung geflohen ist; um aus diesen neuzeitlichen Kata komben dereinst wunderbar aufzuerstehen, in eine demütige Menschheit, die den Kniefall vor ihm bettelnden Herzens erfleht.
VI.
Wachsen am Widerstand Wachsen, zum Zwecke und mit dem Ziel der Vollendung, ist der Persönlichkeit erstes und unablässiges Streben. Wachs tum bedeutet für sie einerseits Gewinnung möglichster Breite, also seelisches Aufnehmen, Verarbeiten, Bewältigen und Be herrschen von je mehr „Welt" — worunter ausnahmslos alle Teile des ganzen Ineinanders von Schöpfer und Schöpfung verstanden sind —, andererseits Erreichen von möglichster Höhe und Tiefe im eigenen Menschenmaß. Das erstere, weil es durchwegs auf die Weltwesenheiten als auf Objekte bezogen ist, erfordert die Fähigkeit zu beständiger, schmiegsamer An passung an die Objekte der Welt. Hier bedeutet die Fähigkeit zur Einfühlung, zur beinahe unpersönlichen Versenkung in das „Du", als welches das Objekt der Persönlichkeit gegenüber tritt, Allee. Liebe zum Anderen, sei dies Andere nun Mine ral, Pflanze, Tier, Mensch (menschliche Natur), Menschenwerk (körperliches oder seelisches), Energie, Schwingung oder Welle, Liebe zu Gott: Liebe, die nicht nur das Ich, sondern sogar das Selbst für die Erbringung und Erringung des Du aufzugeben bereit ist, ermöglicht allein dieses horizontale Wachsen. Im Gegensatz hiezu ist das Wachstum in Höhe und Tiefe, das Streben nach Vertikale, stets auf eine persönliche Verwesentlichung des ins Horizontale Gewachsenen, das heißt also aus den Mut zu unaufhörlicher und wagesroher Selbstverwand lung angewiesen. Der Liebe zum eigenen Selbst als zur gott gegebenen Anlage einer Menschwerdung, die dem Schöpfer willen entspricht, entspringt daher dieses zweite, vertikale Wachstum.
Eine Persönlichkeit ohne unermüdlich erarbeitete und un ablässig erweiterte und verdichtete seelische Vorstellung von der ganzen, ihr potentiell erlebbaren Welt ist un denkbar. Andererseits verhilft selbst die vollkommenste seelische Umfassung der Welt nicht zur Persönlichkeitswerdung, wenn Unzahl, Gestalt- und Sinnverschiedenheit der seelisch bereits besessenen Objekte und ihre gegenseitige Beziehung nicht in der vertikalen Gewachsenheit der wertenden und ordnenden Individualität ihre verknüpfende Bannung erfahren. Selbst die üppigste Fülle von Zweigen macht ohne Zusammen fassenden Stamm keinen Baum aus; ebenso vermag auch ein Stamm ohne die ihm gemäße Fülle von Zweigen den Baum nicht darzustellen, der er sein könnte und darum auch sein sollte. Die Bezeichnung „die ihm gemäße Fülle" sagt schon in einem aus, daß jedes persönliche Wachstum nur als ein orga nisches Geschehen möglich ist. Fertig geboren wird nur das Genie. Zur Persönlichkeit hingegen kann und muß der Mensch erzogen werden. Allerdings: sowohl die horizontale wie die vertikale Reich weite des persönlichen Wachstums ist von der jeweils indivi duellen Anlage des Menschen abhängig. Breiter, höher und tiefer als diese Anlage es erfordert, ermöglicht und erträgt, kann niemand wachsen. Bloßer Wille dazu genügt nicht und vermag nur Scheinwachstum zu erzeugen. Es löst sich im selben Augenblick vom Stamm der individuellen Geschaffenheit, wie nie gewesen und nie erworben, wieder ab, in welchem ein neuer unausweichlicher Wachstumsdrang den Stamm in Breite, Höhe und Tiefe hin durchschwellt. Wer ins allein richtige — organische — Wachsen kommen will, der „erkenne" zuerst sich selbst, die Maßgrenzen seiner persönlich bedingten Geschaffenheit. Die zahllosen Bäume sinnwidrigen Wachstums im Walde der Menschheit stünden nicht da, wenn diese grund legende Voraussetzung gemäßen Wachsens stets erfüllt wor den wäre. Wachsen als Selbstzweck schafft seelische Krüppel,
Sonderlinge, Zerrbilder, Größen- wie Kleinheitswahnsinnige, aber nie Menschen, geschweige denn Persönlichkeiten. Die Oberflächlichen nun lausen Gefahr, der Meinung zu verfallen: Wachsen bedeutete schon seinem Wesen nach — weil es ja ein Sichausdehnen des Menschen, ein Inbesitznehmen des Raumes in allen seinen 3 Dimensionen beinhaltet — die Er füllung eines natürlichen Expansionsdranges, und damit nur ein Vergnügen. Und gelänge eben restlos nur dort, wo sich ihm vom Hause aus und auch während des ganzen WachstumsProzesses keine äußerlichen Hindernisse in den Weg stellten. Indessen trifft genau das Gegenteil und zwar so allge mein und so unbedingt zu, daß ein Mensch, der trotz Fehlens aller äußerlichen Wachstumshindernisse noch zu wachsen im stande wäre, geradezu ein Wunder an Persönlichkeitsenergie darstellte. Denn Wachstum ist durchaus vom Vorhandensein von Hindernissen abhängig und das Wissen von dieser Gesetz lichkeit ist uns a priori zu eigen; abgesehen davon, daß wir es täglich im Bereich des kompliziertesten Organischen wie des primitivsten Anorganischen erfahren. Es ist für uns undurchsichtig, ob und welchen Hindernissen, welchen Widerständen der Schöpferwille, der für den Menschen „Wachstumswille" zu bedeuten hat, innerhalb der ganzen Reihe der Geschöpfe bis hinauf zum Menschen begegnet; Hin dernissen, die vom bloßen Gesetz der Kausalität bis zum Wider stand jedweden „Stoffs" gegen eindeutig feste Gestaltwerdung und elastisch gefügige Gestaltbewahrung reichen. Und nun erst beim Menschen selbst! Das einzige uns erfahrbare Geschöpf, dem es gegeben ist, sich dem Schöpferwillen mit entschiedenstem und bewußtestem „Rein" entgegenzustellen, ihm im wahren Wortsinn zu „trotzen", ist der Mensch. Die Größe, das Gewicht und die Wirkung dieses Widerstandes läßt ein einziger Blick auf die „Weltgeschichte" erkennen. Kaum nähert sich der Schöpferwille der Erfüllung, widersteht ihm der Mensch in starrer „Verstocktheit", die zwingender als alles Andere der menschlichen Vorstellung den Begriff der „Grenze" aufdrängt.
Und trotzdem geht dieser Menschheit mit jedem neuen, noch reicher, ja vermessentlich üppiger ausgestatteten Saeculum ihres teuflisch vernunftbestimmt aktiven, aber auch ihres trieb haft dinghast passiven Widerstande gegen den Schöpfer, dessen Antlitz und Wille immer noch höher, noch heiliger, noch bezwingender aus. Heratleitos hat diese Wahrheit in dem Satz formuliert: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge". Wer die Weisheit der konfuzianischen Chinesen, geschweige denn den Taoteking kennt; wer in das unwahrscheinliche Wachsen Buddhas, das gerade dadurch unheimlich erscheint, weil er (Buddha) seinem Wachstumswillen, seinem eigentlichsten Lebensast in unbeugsamem Widerstand bewußt volle Auflösung und damit Lebensver neinung entgegensetzte, je Einblick gewann; wer auch nur jemals Gandhis Leitsatz der „non violence“ psychologisch analysiert hat, der weiß, daß der Spruch des Heratleitos innerhalb des Bereiches geistiger Waffen noch gewisser und wirksamer gilt als innerhalb der Jone leiblicher und ding fester. Denn das Nicht-Kriegführen gegen den Widerstand, also die geistige Aushebung der Position des widerstands vollen Gegners, ist die sicherste, die überlegenste, die unüber windlichste Waffe — ist erst der eigentliche Krieg. Gegen diese Waffe kann der Widerstand nicht an; sie zerschmilzt ihm die seinige. Auch Jesus sagte, daß der Mensch dem Übel und dem Bösen nicht widerstehen solle, und fügte hinzu: „Wer mir nach folgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir." Obgleich also, mit der Zeit, die Art und Weise des Kampfes gegen den Widerstand aus der Ebene des Körper lich-Greifbaren in die des Seelisch-Angreifbaren und damit aus der Zone der Bekämpfung des gegnerischen Außen völlig in die des eigenen Inneren hinüber verlegt wurde, bleibt der Widerstand als solcher auch in dieser neuen Sphäre erst recht Voraussetzung und Vater allen Wachstums. Wenn der Schöpfer das Geschöpf „Mensch" zu dem Ende emporgerufen hat, damit ein ftei wählen könnendes, frei entschei-
dungsfähiges geschöpfliches Wesen — eines also, das zu ihm auch „Nein" zu sagen imstande wäre — ihn durch sein „Ja" unanfechtbar anerkenne; wenn der Schöpfer, weil er dies „Ja" noch nicht bekommen oder weil ihm das empfangene aus irgend einem Grunde noch immer nicht als entscheidende Bestätigung anerkennender Liebe erschiene, wenn dieser Schöpfer sich mm irdisch inkorporierte, um von sich selbst — in Menschen gestalt — die Antwort zu erlangen, die ihm vom Menschen noch nicht voll gegeben ward; und wenn er nun diese Inkorpo ration seiner selbst von allen Teufeln „versuchen", Schimpf und Spott erleiden und zum Schluß noch von den erbitterten „Gegnern" ans Kreuz schlagen und von allen „Jüngern" ver lassen wie ein Schlachtopser verseufzen lassen muß, so frage ich: welcher wahrhaftig reingeistige, heroisch erduldete Kampf gegen den Widerstand reicht noch an diesen heran? Kommt denn nicht gerade in diesem Sinne der „Auferstehung", über deren glaubensmäßige Wahrheit hinaus, die Bedeutung eines den Menschen gegebenen Gleichnisses und Symbols für triumphales „Wachsen am Widerstand" zu? Jedem Wachstum stemmt sich von Natur her Widerstand entgegen; erstens in der Tatsache der geschöpslichen Unvoll kommenheit und zweitens in der seines Hineingestelltseins in die Schöpfung. Nennen wir nun diejenigen Widerstandsfaktoren, die ihren Bestand nicht von einer bewußten Absicht, Widerstand zu leisten, also nicht vom Willen des Menschen herleiten, ob jektive, die anderen aber subjektive. Das, was wir als „Übel" in der Welt bezeichnen, macht die Summe der ersteren, das, was hingegen das „Döse" in der Welt genannt wird, — gleich gültig, ob es in einer wachsenwollenden Persönlichkeit oder in einer der übrigen Existenzen seinen gewollten Ursprung hat — die des zweiten aus. Dem einen völlig auszuweichen ist ebenso unmöglich wie dem anderen. Was der Mensch „Schicksal" nennt, das unsichtbare und ungreisbare Äberhangensein seines Lebens von einer geheimen und unverrückbaren höheren Macht, die ihn bis in die klarsten Beschlüsse seiner Bewußtheit hinein zu
bestimmen scheint, auch wenn sie dieselben in scheinbar uner gründlicher Sinnwidrigkeit durchkreuzt, lähmt oder vernichtet, — was also der Mensch „Schicksal" zu nennen sich gewöhnt hat — ist ein großes Unbekanntes. Ein Unentfliehbares und Un entrinnbares. Selbst seine gesammelteste und klarste Willens und Tatleistung, es in eigener Lebens-Deutung, Lenkung und Handlung siegreich zu meistern, wie auch etwa sein Glaube an die Unüberwindlichkeit des Schicksals und darum seine Ergebung darein, lassen sich in dem nur dunkel geahnten, vage umrissenen Wesen eben dieses „Unbekannten" unschwer unterbringen. Ein gleiches, ebenso unvermeidbares Rätsel ist der „Zufall". Ob nun als der technische Bote und Vollzieher des Schicksals, oder als die „Ausnahme von der Regel" der „Naturgesetze", oder aber gerade als das Dokument ihres unverrückbaren Waltens betrachtet: dem „Ziegelstein", der Zufall heißt, dieser unablässig wie ein Damoklesschwert über uns hängenden Gefahr, vermag der Mensch nie und nimmer völlig zu entgehen. Ganz abgesehen vom Tode, vor dem jedes natürliche Leben, zugestandenermaßen oder nicht, kaum daß er in seiner Vorstellung erscheint, eine so unbändige Furcht empfindet, daß es in der Tat fortzudauern gar nicht imstande wäre, wenn „Leben" nicht zugleich, seinem Wesen nach, vom Tod keine Kenntnis nehmen und damit die Furcht vor ihm niederringen hieße. Ganz abgesehen hievon ist das körperliche wie das seelische Leben des Menschen wahrhaftig zu jeder Sekunde und von jeder Seite her von gezückten Dolchen ohne Zahl umringt und damit stets und immer von „Widerständen" an- und herausgefordert. Die Wirkung dieses Begrenzt-, Beschränkt-, Gehemmt-, Umstritten-, Umdroht- und Bekämpft seins des menschlichen Lebens bleibt nun für den Einzelnen völlig gleich, ob er die Schuld daran dem „Schicksal" oder dem „Zufall" gibt. Denn nicht nur sein unbeabsichtigter Zusammen prall mit den Gesetzlichkeiten, die das Universum und die Erde durchwalten, mit den Kräften der Erdnatur, mit ihren Ele-
menten, mit Pflanze, Tier und Mensch, sondern auch die von ihm selbst gewollte und gesuchte, freundliche oder feindliche Begegnung mit einem dieser vielen Teilhaber an der Schöp fung erscheint dem Verwirrten, Geschreckt-Verzweifelten zuletzt schon als „schicksalhaft" oder gar als schicksalhast-zufällig bedingt. Ja selbst seine letzte, rettende Vorstellung: es habe diese grauen volle Schicksalsgegebenheit im Willen des Schöpfers seinen Urgrund, ist in den Wesensinhalt der großen „Rätsel" miteinbezogen. Es scheint: der Schöpfer selbst käfigte den Menschen in „Schicksal" und „Zufall" ein 1 Sowohl die Leistungs- wie die Genußfähigkeit eines jeden Körpers hat ihre unüberschreitbare letzte, äußerste Grenze. Vor Erkrankung oder vor Verwundet-, Verkrüppelt-, Derstümmeltwerden durch Schicksal und Zufall ist keiner gefeit. In unserer fünften Betrachtung „Verteidigung des Geheimen" ist darge legt worden, welch unüberschreitbare, undurchdringliche Grenze sich nicht nur dem Geiste, sondern auch dem Erkenntnisvermögen entgegenstellt, wenn sie zur Entschleierung des Geheimnisses ausziehen. Die Möglichkeiten der fühlenden Seele hingegen finden ihre Schranken ebenso in ihrer mitbekommenen Weite und Tiefe und in ihrer Qualität wie im hemmenden Wider stand des Leibes, ihr ungestraft übermäßige Verwirklichung ein zuräumen. Abgesehen hievon widerstreitet im Menschen, der Ganzheit erstrebt, die Glaubenskomponente jedem Sichübernehmen der Erkenntniskomponente, wie umgekehrt, und nur allzuoft diesen beiden das Begehren des Leibes, das natürliche Bedürfen des Gefühles und die zu schwache — oder überaktive — Willenskraft und Tatendurstigkeit. Wohin sich der Mensch auch wendet: überall Hindernisse, Hemmnisse, Schranken, Widerstände 1 Aber erst nach Außen hin! Schlechterdings keine einzige Konstellation und kein einziges Wesen in der „Natur", das ihm, ganz unabhängig von der beständig im Hinter halt liegenden Tücke des Zufalls, nicht sein Veto, sein „Halt!", sein „Hände weg!“ zuriefe, ja ihm für den Fall einer Kampf ansage Schaden, Mißlingen, Verderben, Tod androhte.
Jedes persönliche Wachstum des Menschen ist, trotz und gegen diese Widerstände, von der Schlange angefangen, die aus dem einladend freundlichen Nahrungsgras hervor ungeachtet aller Vorsichten, Beschwörungen und Gegengifte tötet, bis hinauf in die Unberechenbarkeiten der Atmosphäre, der Stratosphäre, die den vermeintlich „völlig gesicherten" Flieger trotz all seinem gesammelten und für absolut befundenem Wissen überfallen, über ein Meer von Blut und Tränen zustandegekommen. Gleichwohl! Alle diese Abgründe, Blitze, Wasserhosen, Wirbel, Wogentürme, Gifte und Raubtiere der sogenannten „Natur", in der wir Menschen, verblendbar wie kein anderes Geschöpf, sobald sie uns ausnahmsweise einmal ihre Zähne verbirgt, den seligsten und himmelnächsten aller „Frieden" zu finden wissen, — alle diese Widerstände heißen Nichts gegen jene, die der Mensch seinem Mitmenschen aufrichtet; besser gesagt, die in jedem Menschen allen übrigen gegenüber aufgetürmt sind! Selbst noch der Geliebteste, Vertrauteste, ja Angebetetste: als welcher Fels, nichts als schroffer, feindlicher Fels, ausgerichtet gegen das Wachstum des Liebenden, Vertrautesten, des Auchanbetenden, steht er da! Steht er — unbewußt, ahnungslos, ohne Absicht da! Und ruft schlaflose Nächte, fassungslose, sprachlose, ja bis zum Irrewerden entsetzte Tage, ganze Ewig keiten im anderen ebenso hervor wie sie unweigerlich auch in ihm selber hervorgerufen werden; bis ihm in diesen einander toll jagenden und dennoch wie gefesselt dahinkriechenden Stun den auch noch das letzte Fetzchen Mark aus Knochen und Seele herausgerissen wird. Das furchtbare Dilemma: Nachgeben oder Widerstehen? Er werden oder ich bleiben? Ihn wachsen lassen oder mich? Wie ist es zu lösen? Es wird, lange bevor die Entscheidung noch gefallen und lange nachdem jede Mög lichkeit eines gneinanderverfließens wie ein fadenscheiniges Trugbild zerflattert wäre ..., es wird gewöhnlich mit der endgültigen Zerbrochenheit des einen oder des anderen Menschen, mit der vollständigen Umbiegung oder gar Ver nichtung der einen oder der anderen Wesenheit, zumeist aber
mit dem grauen, ohnmächtig dahinsiechenden Verfall Leider gelöst! Und die Macht des „Blutes"? Für Kinder bedeuten Vater oder Mutter, oder oft beide, den starren, eisernen Reifen, der ihr Wachstum unerbittlich knebelt. Eine Tatsache, die zwar vom Verstände her bestens erklärbar ist und dennoch ebenso ewig un verständlich bleibt wie die von „Blut" an sich. Aber auch umge kehrt gehen oft am Wachstum der sogenannten „Lieblinge", trotz wirklichster „Liebe", die Leben von Vater und Mutter, unwider ruflich abgeschnürt, zugrunde. „Also werden des Menschen Hausgenossen seine Feinde", heißt es bei Matthäus. Wenn es nun schon zwischen Blut und Blut aus derselben Quelle wahre Dramen und Romane abwürgender Gegensätzlichkeit, fressendsten Neides, mordlustigster Eifersucht und verzweifelten Hasses gibt — von den kaum begreifbaren täglichen gegenseitigen Miß verständnissen zu schweigen; und wenn diese Tragödien wie Tragikomödien zu alledem nicht einmal mit „Absicht" oder gar bewußt-gewollt heraufbeschworen sind, sondern im Gegenteil zwanghaft vom Blute her geschehen: wie wird es dann erst zwischen Fremden und bei fremdem Blute sein? Ein oft gehörtes Wort: „Am leichtesten, also am besten und fruchtbringendsten, versteht man sich mit dem Fremdesten!" Aber kratze dem „Fremden" nur erst den oberflächlichen Firnis dieser Fremdheit ab und du begreifst, nicht nur „befremdet", sondem oft gerade zu abgestoßen, daß dich das Fremde, soweit eben diese erste Oberfläche hinabreichte, als „Polarität" befreite, anregte und bereicherte, die fremde Tiefe aber — das Wesen des fremden Blutes — dir Widerstände entgegentürmt, von denen weg du dich nach dem Blut, nach der „Nähe", ja Heimat selbst deiner ekelhaftesten Großtanten verzweifelt zurücksehnst! Bei der anscheinend naturbedingten und darum unüberwindlichen gegenseitigen „Feindschaft" aller Völker, die umso eindeutiger ausscheint, je unaufhaltsamer und unwiderstehlicher diese aus ihrer tierhaften Grundnatur in eine hochgezüchtete Kultur, aus dem Muß ihres Blutes in das Soll ihrer Seelen, aus dem
Wachstum ihres Leibes in das Wachstum ihres Geistes hin aufgerissen werden, kann dies ebensowenig anders sein. Je bewußter also die Völker zu erfassen lernen, daß sie mählich in ein durchaus neues, anderes, zweites Leben hinüber- oder hinauszuwachsen haben, von dem es ihnen aber — trotz aller Verlockung, ja Verheißung, die es bietet — heute noch erscheint, als ob es ihren Untergang, ihr Ende als „Natur", als „Blut", einen Tod also, ein „Verlieren des Lebens" bedeuten müßte, vor dem ihnen begreiflicherweise graut, desto stärker werden sie auch von diesen gerade unsere Gegenwart so tief be wegenden Fragen erfaßt werden müssen. Der Behauptung der Rassengegensätze entgegenzutreten, geschweige denn diese Ge gensätze zu leugnen, zeigt daher von wenig Verständnis. Wo schon Vater und Sohn sich gegenseitig am Wachstum zu hindern, wo ein Gatte am anderen erbärmlich zugrundezugehen und die Geliebte den Geliebten durch die bloße Tatsache ihres wachsen den Wesens ins Grab zu stampfen vermag, wie sollte da der Franzose am Deutschen, der Christ am Juden, der Weiße am Schwarzen und beide nicht am Gelben in schicksalsträchtigen Gegensatz geraten? Zu all diesem gar nicht gewollt ausgesuchten Widerstand aber, von dem es im Vaterunser steht: „... und erlöse uns von dem Übel!", kommt nun erst noch der „gewollte"; jener, der von der bewußtenAbsichtunseressogenannten„Nebenmenschen" uns zu seinen Gunsten zwecke eigenen Wachstums zu hemmen, zu schädigen, unterzukriegen, ja zu vernichten ausgeht; und dessent wegen dasselbe Vaterunser ebendenselben Menschen beten heißt: „.... und führe mich nicht in Versuchung!" Unbegreiflich ist dieses Böse! Daß, wo nicht nur Fremdes das Fremde, sondern sogar Verwandtestes das Verwandteste aus innerem Muß, also absichtslos, zu gegenseitigem Krieg zwingt; ja, wo innerhalb jedweder Form menschlichen Zusammenseins so oft die bloße Tatsache, daß der A da ist genügt, um den B am Wachstum zu hindern; wo also beinahe raffiniert vielfältig dafür gesorgt ist, daß das menschliche Leben sich nur ja um keinen Preis in
Frieden, in einem sich von selbst vollziehenden, ungestörten Wachstum, sondern vielmehr in einem einzigen und unab lässigen Sichwehrenmüssen, einem unaufhörlichen, verbitterten Faust- und Ringkamps abspiele: da bleibt noch immer Platz für eine weitere Armee von Hindernissen, und zwar von aller härtesten, allergrausamsten Hindernissen! Wie vollendet ein Mensch den anderen körperlich zu quälen und zu morden versteht, ersehen wir aus der endlosen Chronik dieser Martyrien. Aber noch schrecklicher — weil in der Stille, ganz unsichtbar, unblutig, ja, bei aller innerlich offenbarsten Absicht gleichsam blind, mit lächelnder Miene und süßestem Worte — weiß der Mensch Seele und Geist des anderen zur Verzweiflung, durch die Verzweiflung zur völligen Verwir rung, Lähmung und Selbstpreisgabe und damit, teils in plötzlichem Sturme, teils mählich wie eine schleichende Jfrantheit, zu endgültiger Vernichtung zu bringen. Nicht nur die ganz große Persönlichkeit, heiße sie Philosoph, Künstler, For scher, Erfinder, Staatsbildner, Religionsstifter oder gar „Hei liger", und wäre sie auch aus weitestem und tiefstem Seelen raum her der Liebefähigste, der Menschlichste, weiß von der Grausamkeit dieser seelischen Teil- und Totalmorde zu berichten. Nein, auch das gewöhnlichste, banalste Streben des einfachsten Alltagsmenschen muß sie erdulden! Daß dem Übel keine Grenzen gesetzt sind, das vermag der Mensch, sobald er sein Auge austut und das Kampffeld seines „Wandelns und Wir kens" überschaut, in das er sich — anscheinend unrettbar — wie ein pein- und todgeweihter Kämpfer hineingestellt sieht, not gedrungen noch halbwegs zu begreifen. Im Angesicht des gegebenen Soseins seiner „Umwelt" als des Schauplatzes seines Lebens bleibt ihm nichts anderes übrig als festzustellen und anzuerkennen, daß sie, die nicht er gemacht hat und — nur Schwachköpse und Größenwahnsinnige glauben es anders! — die er auch nicht ändern kann, ist wie sie eben ist. Nur, daß dazu das Böse kommen konnte, gar aber, daß es beständig, lebendig und wirksam sein könne, das muß ihm wohl wider-
sinnig erscheinen; desto widersinniger, je sicherer er das „Döse" als das Ergebnis der freien Entscheidung seines Nebenmenschen erkennt und je lediger, indem er es eben im Nächsten erspäht, er sich selber davon meint. Wie endlich aber auch ihm einmal der Schnee dieser Entdeckung unter der unbarmherzigen Sonne der Erfahrung zerschmelzen muß, daß nicht nur der Nächste, sondern auch er selbst böse sein, „in Versuchung kommen" und „schuldig" werden kann, das muß einer späteren Betrachtung vorbehalten bleiben. Die Menschheit, immer geschreckter von dem Riesenheer -es Übels und des Bösen, das im selben Maße an Größe, Dernichtungswut und Waffengüte anschwoll, in welchem ihr Be wußtsein und ihr Vermögen, ihre angelegten Fähigkeiten zu gebrauchen und damit Widerstände zu besiegen, anwuchs — die Menschheit hat immer wieder von neuem „Theodizeen" ent worfen. Obgleich ihr langsam klar werden mußte, daß das ganze Werk ihrer Zivilisation und Kultur einzig und allein Frucht ihres Kampfes gegen die Widerstände des Übels und des Bösen ist und daß sie daher ohne diesen Kampf, das heißt ohne diese Widerstände, gar nicht zu ihrer jetzigen Höhe ge kommen wäre, hat sie immer wieder versucht, den „Gott", den sie trotz allen Übels und Bösen als den Schöpfer ihrer Welt zu erraten glaubte, auch in seiner — anscheinend unleugbaren — Widergöttlichkeit zu „rechtfertigen". Da niemand bereit ist, sich einen Schöpfer vorzustellen, dessen Welt von Übeln, und einen Menschen, dessen Inneres von Bösem wimmelt, muß das Übel und das Böse aus der Schöpfung weggezaubert oder zumindest so umgedeutet werden, daß der klaffende innere Widerspruch aufgehoben erscheine. Doch vergeblich! Dieser Widerspruch bleibt; denn er bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eben: die naturbedingte Stellung, die dem Menschen in dieser Welt zugewiesen ist! Auch der angestrengteste, tief sinnigste Umfärbungsversuch von Übel und Böse in Licht und Güte muß da versagen, wenn er auch bei jenem Seltenen Erfolg haben mag, der sich zufällig in halbwegs erträglichem
Zustand befindet, oder ein geborener Leidensbejaher ist und überdies so beeinflußbaren, ausweichenden oder starren We sens, daß das Böse nur schwer in ihn dringen kann. Wer, mag er bis dahin noch so geduldig und einsichtig gewesen sein, plötz lich unverschuldet seine gesamte Habe verliert, seine Liebsten preisgeben muß oder sein Lebenswerk durch mutwilligen Pöbel, stures Mißverständnis der vermeintlich berufensten Empfänger zerstört sieht oder wer endlich, auch nur von der nächsten lebens gefährlichen Krankheit angefallen, das — so objektiv unpersön liche — Messer des Operateurs und daraufhin die Legion lebendig Verfaulender links und rechts von seinem Krankenbett erfährt, der kann für keine „Theodizee" mehr empfänglich sein. Sondern er muß unfehlbar erkennen, daß der Schöpfer, scheinbar unheimlich unbekümmert um jenen entnervenden, unbegreiflichen Widerspruch, seinem Menschen in der Tat alles zumutet, was das Gegenteil eines „Paradieses" ist. Das genaue Gegenteil dessen, was der Mensch allein für gott entsprechend, für gottgemäß zu halten vermeint. Leiden also, dieser erste und letzte Begriff, der das Menschenlos — ja das Menschliche schlechthin — richtig kenn zeichnet, ist unverhinderbares, ist unausweichliches, unbedingtes Muß! Ein Muß, das dem Menschen keine andere Wahl offen läßt als: entweder ablehnende, Nein! sagende Empörung gegen dieses Muß oder demütiges, passives Sichergeben darein. Oder noch als Letztes: seine bejahende und aktive Auf sichnahme. Der erste Fall bietet keine Möglichkeit menschlichen Sieges, das heißt menschlichen Wachstums über das „Leiden". Gegen den Strom seiner „Bestimmung", die auch das Widerstand erfahrenmüssen in sich schließt, schwimmt keiner dauernd mit Erfolg; zuletzt verschlingt und ertränkt ihn der Strom. Im zweiten Fall verzichtet der Mensch, von Schreck, Schmerz und Schwäche gelähmt, ebenfalls auf jene Siegesmöglichkeit; der Strom nimmt ihn, ohne daß er sich wehrte, einfach als sein Ding mit sich. Einzig im dritten Fall ist Sieg — Wachstum —
sicher. Zeuge davon nicht nur das gesamte Werk menschlicher Zivilisation und Kultur, sondern schon die Tatsache, daß die Menschheit trotz allem Übel und Bösen, das sich in Widerstand ihr entgegensetzt, heute noch lebt und... sich dev Lebens noch immer freut 1 Wer das Leiden bejahend auf sich nimmt, sein bekämpfbares Teil nicht nur instinktiv, sondern bewußt „tätig" bekämpft, das ünbekämpfbare aber in der felsenfesten Gewißheit erträgt, durchhält und durchsteht, daß es, selbst wenn es zuletzt nur mit dem Tode zu überwinden sein sollte, dennoch seine Wesensbestimmung — also sein Aufgerufenem zum akti ven Vollziehen von Schöpserwillen — weder schwächen, schädi gen oder vermindern, noch gar zerstören könne, sondern es im Gegenteil nur noch stärken, vermehren, verdichten, kurz: zum Wachsen bringen müsse, allein derjenige, der so handelt, nimmt dem Leiden gegenüber die echte, einzig richtige und menschliche, die bestimmungsgemäße Haltung ein. Er ersaßt es gleich jenen Wachstumsmöglichkeiten des Lebens, die ihm ohne Widerstand gelingen, als eine Aufforderung des Schöpfers zum Dollausnützen des menschlichen Kraftfeldes und folgt dieser Aufforderung! Stellt sich ihr als Gegenspieler. Tritt in das Drama — in die Passion — als Mitspieler ein. Nimmt die ihm zugeteilte Nolle an. Und zwar ohne dabei den zwi schen dem Schöpfer und seinem Geschöpf, das am Wider stand „leiden" muß, bestehenden Widerspruch etwa zu lösen oder die Hoffnung zu wagen, daß er ihn werde lösen können, sondern in bewußter Hinnahme seiner Unlösbarkeit vom Men schen her. Allerdings aber auch in der Ahnung davon, daß gerade diese seine bewußte Hinnahme am zwingendsten er weise, wie jeder Widerspruch nur für das beschränkte, begrenzte Geschöpf, nicht aber für den unabgrenzbaren Schöpfer und dessen von uns völlig verschiedene Ebene einen Widerspruch bedeutet, — daß er also im Letzten nur ein scheinbarer Widerspruch sei. Daß die „Persönlichkeit" weder die erste, noch die zweite, sondern allein diese dritte Haltung einnehmen kann, versteht sich also wohl von selber. Ihrer Einsicht in das Wesentliche des
Menschenlebens und ihrer Liebe zu diesem Wesentlichen gemäß, bejaht sie die Schöpfung des Schöpfers so wie sie ist. Der Mensch hat seine Bestimmung innerhalb dieser Schöpfung zu erfüllen, den in dieser und durch diese Schöp fung ausgedrückten Schöpferwillen zu vollziehen und nur Eines zu verneinen: den Menschen, der sich weigert, sie so hinzu nehmen, wie sie ist! Mit dieser Bejahung erledigt sich auch das Gerede von dieser „besten aller Welten"; sie ist dies nach menschlicher Dorstellungsfähigkeit keineswegs. Die Qualen, die der Mensch über das für ihm unentschleierbare Geheimnis „Welt" und über sein Leidenmüssen an Übel und Bösem erduldet, sind nicht eingebildete! Aber sie ist eben diejenige Welt, die da ist und mit der allein wir zu rechnen haben. Wer das Leiden bejaht, muß tapfer sein; hievon weiß die Persönlichkeit am meisten; sie ist wahrlich tapfer. Die Tapferkeit hat sich im Kampf zu erweisen; die Persönlichkeit ist von Anfang bis zu Ende auf freudige Bejahung des Kämpfens eingestellt. Aber nicht nur dieser Kamps, sondern auch das zu Bekämpfende wird von der Persönlichkeit bejaht, als Schöpferwille anerkannt; daher ist er kein Krieg zwischen Feind und Feind, nicht Aufruhr oder Streit, kein Sicherwehren eines Gegners, sondern ein von beiden Seiten her positives, williges Messen der gegenseitigen Kräfte aneinander, das nicht auf den Triumph eines siegreichen Überwältigers oder die Schmach eines besiegten Unterlegenen ausgeht, sondern aus den Sieg der beiden Seiten. Zwar scheint es, als ob die Persönlichkeit diesen Kamps nur dort aufzunehmen hätte, wo sie mit der Möglichkeit rechnen könnte, ihre bewußt gerichteten Kräfte gegen den bekämpsbaren Teil des Wider standes erfolgreich zu gebrauchen. In Wahrheit aber kämpft sie auch dort, wo einzig bejahendes Ertragen, Durchhalten und Durchstehen des unbekämpfbaren Teils geboten wäre; ja kämpft gerade hier am bewußtesten, am hartnäckigsten und am heftig sten. Kämpft eben aus jener Ahnung heraus, daß der Wider spruch zwischen Schöpfer und zu Leid geborenem Geschöpf aus
der Ebene des Absoluten gar nicht bestehe, und mit ihrer felsen festen Gewißheit dessen, daß sie, auch wenn sie aus diesem Kampfe mit zerfleischter Seele, verkrüppeltem oder verstüm meltem Leibe, selbst tot von der Walstatt getragen werden müßte, dennoch siegreich, weil gewachsen, aus dem Kampf hervorgegangen wäre! Wie richtig, wie „bestimmungsgemäß" aber sowohl jene Ahnung wie diese Gewißheit sind, beweist eindeutig, daß keine einzige wahre Persönlichkeit von beispiel gebendem Rang und Maß ohne beständiges WiderstandBekämpfen geworden, und nicht nur trotz aller Leiden, aller Widerstände, die sie überwinden, gegen die sie sich durchsetzen mußte, sondern einzig kraft dieses „Dennoch!" geworden ist. Das Unwahrscheinliche, daß ein Mensch am Widerstand wächst, wie läßt sich dies bei der oft grausamen, unerträglich, ja unüberwindlich erscheinenden Härte des Widerstandes noch begreifen? Es gibt für diese Tatsache nur eine Erklärung: allein das unbeirrbare und unerschütterliche Festhalten und Bestätigen jener Ahnung durch die Persönlichkeit, daß der Widerspruch zwischen Schöpfer und geplagtem Geschöpf bloßer Schein sei, kann in Wirklichkeit diesen Widerspruch lösen. Denn nur indem die Persönlichkeit nicht mehr in seinem Bann, in seiner Fessel lebt, sondern ihn überwächst, verliert er auch seine Geltung für sie. Gleicherweise ist auch allein jene felsenfeste Gewißheit vom schließlichen Wachstumsiege, wie sie von der das Leid bejahend auf sich nehmenden Persönlichkeit innerlich erkämpft, getragen und — wider jedes nur äußerlich-irdische Argument — bewahrt und bestärkt wird, imstande, die unnachgiebige, diamantene Härte des Widerstandes in formbare, dem Wider stehenden sich beinahe wesensgleich anpassende Nachgiebigkeit, Weichheit und dadurch in „Wachstumshilse" zu verwandeln. Ein östlicher Spruch sagt: „Nur das Allerweichste besiegt das Allerhärteste". In westlichem Aussassungsverstande sind es jene Ahnungen und jene Gewißheiten, die in diesem selben Sinne die gleichen unbezwingbar harten Waffen bilden, denen
der Schöpserwille aus der Ebene des Menschen begegnen kann. Menschentat aus Glaube wandelt selbst den Granit des Schöpfers zu freundlich nachgiebigem Wachs. Die Persönlichkeit weiß dies; erfährt sie es doch mit jeder neuen Station ihres Weges stets gewisser. Sie ist sich völlig der wunderbaren Gnadenkrast bewußt, die aus dem „Wider stand" aus sie herab- und über sie niederstießt. Verdankt sie doch ihr Wachstum zuvörderst ihm. Freilich gleicht dieses Wachstum dem mühsamen, stufenweisen Erklimmen eines schmalen, ge fährlichen, steilen Steigs und nicht dem gemächlichen Wandern auf breitem, sicherem Wege. Schwindel, Angst, Zweifel, Heim weh nach bequem gebahnter Straße — tausende Male müssen sie im Angesicht schaurigster Abgründe, schroffer Gipfel, urgewaltiger Gewitter in letztem, verzweifeltestem Verlassen- und Alleinsein niedergekämpft und überwunden werden. Nirgends Blumen freundschaftlichen Trostes, Geländer hilfreichen Bei standes, Weisen gläubiger Ermunterung, die in Augenblicken der Verzagtheit, des Nichtmehrweiterkönnens das schaudernde Herz zu kräftigen und mit Hoffnung zu stärken vermöchten! Nirgends idyllische oder romantische Ausblicke, nichts, gar nichts rundum auf diesem Weg! Einzig und allein die unerbittlich nüchterne Tragik der ebenso unerbittlich nüchternen Wirklich keit überfällt hier von allen Seiten die Persönlichkeit. Trotzdem liebt und preist die Persönlichkeit diesen Weg! Ja, liebt ihn so leidenschaftlich, so glühend und überzeugt, daß es ihr nicht genügt, sich von den „Widerständen", die ohne ihr Dazutun völlig in der Weise passiven Geschehens ihr ent gegentreten, jeweils auf ihn hinaufreißen zu lassen und ihn entlang zu wandeln. Aus eigener, freiwilliger Aktion zieht sie ihn der hindernislosesten, widerstandssreiesten Straße vor, sucht ihn bewußt aus und betritt ihn von selber 1 Sie wartet nicht, bis Gott sie aus diesen Weg hinbesiehlt, damit sie sich Ihm be jahend stelle, sondern ruft sich selber aus zu seinem Deschreiten. Sie geht ihn gerne, diesen Weg, denn sie weiß, was er ver spricht und —hält. Nein, nicht die „Güter der Welt"! Keine
einzige dieser „vanitates“ erblüht ihr hier als Lohn oder Ver geltung ! Auch keine sogenannte Befriedigung erwartet sie dort. Ein noch so tapfer gegangener Kreuzweg bleibt trotzdem ein Kreuzweg 1 Wer ihn zu gehen begonnen, dem ist jedes Organ für den Weihrauchduft sogar der sublimiertesten Eigenliebe bereits verloren gegangen. Wahrlich, ganz andere Früchte zeitigt der Steig! Erst von ihm aus, weil er seinen Wanderer unbarmherzig durch das größte und schwerste Leid hindurchsührt, lernt dieser die geringste und unscheinbarste Freude auch noch staunend und andächtig zu genießen. Denn erst vom schwarzgeballten Hinter grund der Schauerfülle dieses Wegs vermag sich erlebnisweit und tief, wie nie und nirgends sonst, der kleinste Splitter ErdenGlücks als volle und ungetrübte Sonne abzuheben. Erst von den Schrecken, Gefahren und Gespenstern solcher Umwelt aus erfahren, beginnt alle Herrlichkeit dieser Welt gleich des Him mels köstlichster — paradiesischer — Offenbarung zu leuchten. Vor allem aber auf diesem Wege, und nur auf diesem, be gegnet der Wanderer mit der Zeit unausbleiblich und unver meidlich allen jenen Geschöpfen, die er auf der geteerten und ebenen Straße der Hindernislosigkeit nicht — und nie! — begegnete. Und das ist von entscheidender Bedeutung l Die jenigen, die aus den breiten, ebenen Straßen wandeln, die so genannten „Glücklichen", die Gesunden, die Reichen, leben ein enges, egozentrisches Leben. Der Kreis, den das Ich aus diesen Duo sich zu erobern vermag, wird immer nur ein erbärmlich be schränkter sein. Denn der „Glückliche" gehört einem starren Numerus clausus an, dessen spärliche Figurentypen nur wenig Abwechslung zeigen. Anders der Unglückliche! Innerhalb seiner Reihen gibt es keine Einförmigkeit. Der Kreis dieser Dus ist unendlich weit und groß. Gewiß! Ein solches Leben zu tragen und zu meistern ist nicht „Kunststück", ähnlich dem des Glücklichen, sondern die höchstmögliche Leistung des Men schen. Eine Leistung, die an ihn die Forderung stellt, notfalls gleich einem obdachlos hungernden Bettler, gleich einem tot geweihten Kranken, gleich einem geprügelten und fluchbe-
ladenen Sklaven oder gar einem Ausgestoßenen, ja einem ver folgten Wild, leben zu können. Immerhin, sie ist nicht um sonst getan, sie vergilt sich, diese Leistung! Denn nicht der jenige, der das Lebensmaximum, sondern nur der das Lebens minimum zu leben gelernt hat — einzig dieser ist im „Leben" ganz zu Hause! Nicht nur nichts Menschliches mehr ist ihm fremd, sondern: ihm gehört die ganze Welt. Und zwar gehört sie ihm auf jene eine und einzige Art, aus welche die Welt über haupt besessen werden kann, nämlich geistig. Dieser allein er lebt wirklich den Sinn der jesuanischen „Nächstenliebe", der vollinhaltlich zusammenfällt mit dem des höchsten Wachstums, des höchsten und unerschöpflichsten Seelenreichtums und der unübertreffbaren Bestimmungsgemäßheit des Liebenden, dem keine Lebensform, kein Lebensstand und kein Lebenszustand fremd sind oder nicht von ihm gelebt werden könnten. Alles und jegliches Leiden also, das der Mensch über haupt, am meisten aber derjenige, der noch nicht zur Per sönlichkeit geworden ist und den es darum unvergleichlich schwerer trifft, zu ertragen hat, ausnahmslos jedweden Widerstand, der sich ihm entgegentürmt, überwinden und besiegen zu können: diese Fähigkeit, diese Gnade ist es, die die Persönlich keit anstrebt. Nicht, damit ihr dann „nichts mehr geschehen könne", sondern damit sie nicht halber Mensch bleibe, nur der einen, der leichteren Hälfte des Lebens verhaftet, sondern der bestimmungsgemäß Ganze werde, mit der Ganzheit des Lebens verbunden. Ein Mensch, der in jeder Lebenslage sich erweist. Vor dem Schöpfer in keiner Weise versagt. Denn es darf der Persönlichkeit nicht daraus ankommen, vor sich selber oder vor dem Nächsten oder vor der Welt nicht zu versagen! Käme es ihr auf solches noch an, so betriebe sie wohl bloße Kraftmeierei mit den „Widerständen", also Leiden als Sport! Denn an welcher — widerstandsvollen — Begegnung mit dem Nächsten vermöchte sie den unverrückbaren Felsen ihrer letzten Erleidensund Aberwinder-Kraft besser zu erwähren, an welchem leib haftig zu erweisen und zu sagen: du konntest mich nicht fällen!
Trotz dir wuchs ich nur noch mächtiger auf!, wenn sie nicht jeden dieser Widerstände als vom Schöpferwillen gesendet, als Beweise ihres Bezogenseins auf den Schöpfer selbst und darum in jedem einzig Ihn als ihren Kampfaufrufer entdeckte? „Zur Ehre und zum Triumph des Schöpfers 1" Nur mit diesem Wahlspruch auf ihrem Schild — das weiß die Persönlichkeit wohl — kann es sieghaftes Wachstum geben und nur untet diesem hat es Sinn und Zweck zu leben und zu kämpfen. Zweifellos, auf der letzten Station dieses Weges erscheint die Persönlichkeit oft so fremdartig verändert, daß in ihr alle Übrigen nur noch mit Mühe ihresgleichen, den Alltags-Typus „Mensch", erkennen und sich von ihr ebenso verächtlich, wenn nicht entrüstet abwenden, wie die „Weltklugen" seit jeher die bloße Vorstellung von einem Heiland, der sich für die Erlösung der Menschheit kreuzigen läßt, von sich wiesen und immer von sich weisen werden. Mit einem Leib, der etwa mit einer Wetterlärche auf unwirtlicher Paßhöhe zu vergleichen wäre, deren sämtliches Holz und Grün auf die zwar saftlose, aber beinfeste Härte eines versteinerten Stammgerippes reduziert ist: mit einem solchen Leibe pflegt er diese letzte Station zu erreichen. Doch welcher Ausdruck in diesem Gesicht, von dem jeder Muskel, jeder Kno chen, jede Sehne, jeder Nerv sich schonungslos gegen den Trotz aller Unwetter der Tage und Nächte bewahrt hat! Unzweifelbar: die Welt vermag in der Seele, die aus solchem Antlitz leuchtet, nicht zu lesen und will darum von ihr auch nichts wissen! Denn diese Seele strahlt keineswegs Schönheit im Alltagssinne aus. Auch nichts Holdes oder Süßes, geschweige denn die Anziehung des Geistreichen, das Interessante des Intellektuellen, das Achtunggebietende des Mächtigen, oder wie gemeinhin die Merkmale des „außergewöhnlichen" Menschen genannt werden, eignet ihr. Vielmehr ist sie einzig und allein der Ausdruck, der genaueste und darum maß-strengste Ausdruck des Wesens gerippes der menschlichen Seele und gleicht damit in voll endeter Entsprechung dem Skelettauedruck ihres Leibes; sie bedeutet: Reduktion alles Unwesentlichen auf das Wesentliche.
Der Mensch, zu dieser letzten Station des Persönlichkeits weges angelangt, ist einzig und allein noch: Wachstumsbeweis. Verwundet, verstümmelt vielleicht, von Narben über und über bedeckt, jedweder anderen Form als jener, die vom Schöpfer willen selbst seinem Geschöpf Mensch zu- und mitgeschaffen sind, endgültig ledig geworden, bar jedes „großen" Wortes, un empfänglich für jeden anderen Schein als für den, der hinter dem unentschleierbaren Geheimnis der Welt hervorstrahlt, nicht mehr imstande, sich selbst und jede andere Existenz der Schöp fung anders denn als Werkzeug der Offenbarung und als Be auftragten zum Vollzug von Schöpferwillen zu betrachten und zu empfinden; so, mit dieser Seele unbegrenzter Weite, inner halb deren Raumes aber ausnahmslos jedwedes Erlebnis in eine ewige Tiefe hinabverwurzelt und einer ebensolchen Höhe entgegengerichtet ist, die beide das gleiche Maß wie ihre Weite haben und allen Erlebnissen gegenüber unbezwingbar dieselben sind und bleiben, drückt diese Menschengestalt mit ihrem ganzen Leib und ihrer ganzen Seele nur noch das Eine aus: ich bin, innerhalb meiner persönlichen Grenzen, zu dem emporge wachsen, was ich werden konnte und darum auch werdensollte. Emporgewachsen innerhalb des Eigengesetzes meiner Grenzen zum ganzen, runden „Geschöpf Mensch". Da aber der Persönlichkeit auf ihrem langen Wege keine häufigere, keine wahrere und bitterere Erfahrung wurde als die von der Relativität eines jeden Vollzugs von SchöpferWillen durch den Menschen, gar aber von der Relativität jedes menschlichen Veredlungs- und Vervollkommnungsprozesses nicht nur dem Absoluten, dem Schöpfer, sondern auch jedem anderen geschöpslichen Selbst gegenüber, so fehlt diesem Ausdrucke jeder, auch der allerleiseste Zug von Unbescheidenheit oder gar Härte, Kälte, Unduldsamkeit und Enge. Im Gegenteil I und das wird auf den ersten Blick der ihm Gleichende, wird jede andere Persönlichkeit sofort erkennen! — Denn der ganze Raum solcher weiten Seele ist nichts anderes als ein liebedursti ges und unbegrenzt liebefähiges Ausgebreitetsein, Offensein
nach aller Geschöpslichkeit hin; und was in dieser natürlichen Geste völliger Weltoffenheit, ja Welthingegebenheit allein noch als Unnachgiebigkeit und Unbeugsamkeit erscheinen kann, das ist einzig die Haltung, mit der sie gleichzeitig in ihre Tiefe hinab verweist und in ihre Höhe hinaufdeutet. Mit diesen beiden Dimensionen ist die Weite ihrer Welthingegebenheit ein für allemal eben aus deren unveränderbare Achse — aus den Schöpfer und dessen offenbaren Willen selbst — bezogen und gewiesen. Vor diesem „Ein für Allemal" muß freilich selbst ihr tiefstes Verständnis für das andere Geschöpf, selbst ihre mildeste und großzügigste Schonungsbereitschast unbarm herzig Halt machen; hier waltet für die Persönlichkeit vor allem anderen nur noch das eine unverrückbar eherne Gebot geschöpflichen Gehorsams! Gibt es aber nun, nachdem die Persönlichkeit von Wider stand zu Widerstand schreitend zur letzten Station ihres Weges angelangt ist, — gibt es wenigstens nunmehr Ruhe für sie? Jetzt, so meint wohl der kurzsichtige, oberflächliche Betrachter, jetzt dürfte sie doch stolz aus ihrer Lorbeerhöhe ausrasten! Run könnte sie sich, die vollbrachte Tat ihres Wachstums mit zufriede nem Auge überblickend und die Stationen ihres Kreuzweges noch einmal einzeln überschauend, zählend, ordnend und prüfend, an ihrem Lebensabend ausruhen und — den Sieg genießen l Welcher Irrtum! Der vermeintliche letzte Widerstand war nur der letzte vor dem Tode. Jetzt aber: kommt dieser selbst. Er allein ist der wirklich letzte! Und auch der härteste von allen bisherigen; und zudem der entscheidende, ja der einzig und allein maßgebende. Wer dem Tode gegenüber versagt, hat — mit der unbarmherzigen Folge der Rückwirkung — in allem Bisherigen versagt. Wer hier nicht siegt, ist mit seinem ganzen Leben unterlegen. Wem es nicht gelingt, auch am Tode noch zu wachsen, dem wird alles Gewachsensein am Leben zunichte. Der Tod erst erweist, ob ein Mensch Persönlichkeit wurde oder nicht. Das endgültige und vollgültige Urteil hierüber spricht er, und nur er!
Die Persönlichkeit weiß das genau; unvergleichlich ge nauer als alles Andere weiß sie es. Und da sollte sie angesichts dieser letzten Prüfung — dieser einzig wahrhaften und entschei denden — stolz auf ihren Lorbeeren ruhen und einen Sieg „genießen" können? Nein, sie kann es nicht! Sie kann den Tod zwar nicht herausfordern, denn er ist der einzige von allen Widerständen, dem aktiv sich hinzudrängen, den, gleichsam vor wegnehmend, vorzeitig heranzurufen, ihr das erste Gebot ihrer Geschöpflichkeit: zu leben, so lange Leben in ihr ist, verbietet. Sie muß ihn kommen lassen, wann, wo und wie er will. Sie muh und kann ihn nur erwarten, mit Geduld und Demut er warten. Seitdem sie an ihrem Werden wirkt, an dessen unaus bleiblich irdischem Abschluß er, der Tod, ihr stets vor Aug' und Seele steht, weiß sie von ihm, kennt sie ihn, nähert sie sich ihm. So wie sie als Fanatikerin des Wesentlichen niemals anders denn sub specie aeternitatis zu leben vermochte, konnte sie ebenfalls auch niemals anders als sub specie mortalitatis leben. Immer und überall von diesem Hintergrund, von diesem Grund akkord absoluter Gewißheit, hob sich Station um Station ihres Lebens ab und richtete sich jedes neu nach diesem Grundton. Da sie aber weiters, ebenfalls seitdem sie den Weg ihres Wer dens geht, dem Prinzip des Wachstums als dem zweiten Ge bot ihrer Geschöpflichkeit verhaftet ist und, darüber hinaus, auch noch weiß, daß der Tod nicht nur als unverhinderbarer Abschluß am Ende ihres irdischen Wachstums steht, sondern auch der Richter ist, der diesem erst das Siegel der Approbation aufdrückt, so ist sie sich auch dessen gewiß, daß das Ende ihres irdischen Wachstums keineswegs auch schon das Ende all ihres je möglichen Wachstums bedeutet. Er steht also für sie nicht nur nicht als „Schrecken", sondern vielmehr als eine neue, fteilich mit keiner Wachstumsstufe des Erdenlebens vergleich bare, durchaus andere, unbekannte Stufe ihres Werdens von Ewigkeit zu Ewigkeit da. Und weil sie ihm seit jeher aus jedem Schritt ihres gefährlichen Weges Hunderttausendmal und in allen seinen wahren Gesichtern wie in allen seinen zahllosen
Masken begegnet ist und jedesmal, nicht nur mit allen Kräften ihrer Phantasie oder ihres einfühlenden Mitleidens, sondern gerade in der geeichten Überwindung des Widerstandes, -er sich aus jeder solchen Begegnung ihr, ihrem Leben ent gegensetzte, alle Tode mitgestorben ist, ist er, sein Kommen und Geschehen, ihr wohlbekannt und vertraut. Wird ihn also die Persönlichkeit nicht nur wie das Unver meidliche, sondern auch wie das Natürlichste, Bekannteste, seit eh und je schon als selbstverständlich Erwartete unerschrocken lächelnd und bereit empfangen? Nein, das kann sie trotz allem nicht! Das hieße zu viel verlangen! Gewiß: Niemand hat dauernder, tiefer, genauer, kurz selbstverständlicher und — eben im Bewußtsein seiner Wachstumssörderung — sogar viel leicht sehnsüchtiger, um nicht zu sagen, neugierig erwartungs voller dem Tod ins Auge geblickt als eben die Persönlich keit. Aber, welchem Anderen hat sich auch, gerade weil er in seinem Wachstum die Relativität alles Geschöpflichen der Absolutheit des Schöpfers gegenüber so bis auf den letzten Grund erfahren mußte, die Kluft zwischen Hier und Dort so ganz in all ihrer Maßlosigkeit aufgetan? Und welchem sich, weil er die Unentschleierbarkeit des Geheimnisses „Welt" so schonungslos erleben sollte, der Schauder, das hilflose Entsetzen vor dem „Geheimen" überhaupt, so zwingend aus die Brust gelegt? Endlich aber, da der Tod unausweichlich und unver rückbar jedes irdische Leben besiegelt: wer hat denn, indem er nur wesentlich, also tätig wachsend, lebte, ganzer und restlos hingegebener, inbrünstiger und lebendiger gelebt, als eben die Persönlichkeit? So daß trotz allem oder gerade deswegen gleichfalls sie es ist, die im steten Ringen um ihr Gewachsensein Leben wie ein wahres Krongut verteidigen wird! Ja mit ihrem gesammelten Lebenswillen sich dem Tod widersetzen muß! Oder weiß sie denn, gibt ihr auch nur irgend etwas ein Recht vorauszusehen, wie ihr der Tod geschehen wird? Oder gar zu erwarten, daß ihr ein leichter bestimmt sei? Es ist wohl
begreiflich, wenn sich der Mensch einen raschen, plötzlichen Tod oder gar einen Tod des „Ruhms" — auf dem Schlachtfeld, als Opfer des Berufs, in der Hingabe des eigenen Lebens für ein anderes — oder gar einen solchen wünscht, der „in Schönheit" geschieht. Auch die Persönlichkeit, allerdings vielleicht nur in ihrem geheimsten Innern drin, mag sich einen solchen er sehnen. Aber — steht ihr dies nach dem Gesetze, dem allein sie zu gehorchen hat, überhaupt zu? Ist ihr ein solcher vom Schöpfer gestattet? Soll doch ihr Tod das Meisterstück, die höchste, ja allerhöchste Leistung ihres Lebens sein! Vollendeter soll sie sterben können als sie je gelebt hat ... ja, sie soll den end gültigen und den entscheidenden Ruck ihres Wachstums gerade in ihrem Sterben und durch dieses vollziehen. Ihr Leichnam erst soll, nicht schon ihre lebendige Person, davon Zeugen schaft ablegen, was ihr vorgebildet und vorgeschrieben ward und dem sie, solange sie lebte, als einzigem Ziel nachgestrebt hat. Jene selbstauegewählte, ersehnte Form des Todes aber, könnte sie so ein „Meisterstück" sein? Gewiß, auch die Persön lichkeit wird den Tod sterben, den ihr zu sterben vom Schöpfer gegeben sein wird! Aber — mag er über sie kommen wie er wolle — vorbereitet sein muß sie für alle Fälle auf den qual vollsten, den häßlichsten, den rühmlosesten, den niedrigsten Tod! Diesen zu bestehen muß sie stets gerüstet sein. Wozu denn sonst hat sie im Leben, an den Widerständen, wahres Wachstum gelernt und geübt? Aus freier Kraft, dem kränksten, dem ärmsten, unbegabtesten und verlassensten Menschen gleich, und trotzdem als Persönlichkeit zu leben, das war die ihr ge stellte Aufgabe. Das Gleiche, — sie weiß das — aber nur noch entschiedener und unbedingter, gilt für ihr Sterben. Wie die letzte und tiefste Mensch-Kreatur muß sie sterben können. So, wie die Obdachlosen aus der Straße erfrieren. So, wie die Armen in den Spitalsbetten verrecken. So, wie die Verbrecher vor den Galgen hintaumeln. Denn ihr, der es ausgetragen und gegeben ist, der ganze, bestimmungsgerechte Mensch der Schöp fung zu werden, die Geschöpflichkeit des Menschen in dieser
Schöpfung restlos darzustellen, die volle Fülle aller geschaffenen Möglichkeiten des Menschseins vertretungsgültig für die ge samte Menschheit stets wachsend zu erleben — ihr darf keine, auch nicht die furchtbarste dieser Möglichkeiten geschenkt werden. Nichts Menschliches darf ihr erspart bleiben! Da gibt es keine Feigheit, keine Flucht, kein Auskneifen mehr; im Gegenteil, sie hat mit aller Entschiedenheit ihres Kampf- und Wachstums willens darauf zu bestehen, daß ihr nichts erspart bleibe! Kommt ihr -er Tod dann trotz ihres Gewappnetseins auf den furchtbarsten als ein leichter, ja selbst als der unerwartet leich teste, dann darf sie ihm wenigstens bekennen, daß sie auf den ärgsten, als auf den gewissesten, nicht nur bis in die grauen hafteste Einzelvorstellung hinein vorbereitet gewesen, sondern ihn auch schon mit Leib und Seele, kraft dieser inneren Gerüstetheit, gestorben ist: nicht sie selber war es, die sich ihm entzogen hat. Der Schöpfer hat ihr ihn geschenkt. Nur eine naturlos gewordene Menschheit kann ein solches Leben und Sterben „Heroismus" im Sinne von „Äbermenschlichkeit" bezeichnen. Wer denn, wenn er einmal offenen Auges die Natur des Menschen, die unerbittlichen Grenzen, die ihm in seinem Innern ebenso wie all seiner „Außenwelt" gegenüber gezogen sind, zu betrachten sich entschließt, wer denn kann noch behaupten, daß der Mensch, um mit diesem Schöpferaustrag überhaupt leben zu können, kein Heros sein müsse? Wer nicht Held sein kann, kann ja gar nicht Mensch sein! Kann seine Natur gar nicht bestimmungsgerecht erfüllen! Ist doch Herois mus die allernatürlichste, allermenschlichste und nicht eine „übermenschliche" Haltung des Menschen. Die Persönlichkeit weiß das. Sie fühlt sich darum niemals als „Held", sondern selbst aus ihren höchsten Wachstumsgipfeln einzig und allein: als Mensch schlechthin. Einfach als jenes Geschöpf des Schöp fers, das dann am richtigsten — und das heißt ja am bestimmungsgerechtesten, am naturgemäßesten — lebt, wenn es selbst vom kampsreichsten Totenbett aus nicht mit „Helden"-, sondern mit Menschenlippen lächelt: „Weiter wachsen!"
VII.
Das Erleidnis der Schuld Es ist schon verschiedentlich gesagt worden, aber es mag hier nochmals vorangestellt sein: um als Mensch zu ge lingen, um „Persönlichkeit" zu werden, muß der Mensch inner halb seiner geschaffenen Natur — also dem Schöpserwillen Rechnung tragend — bewußt Geschöpf des Schöpfers bleiben; selbst seine allerhöchste Menschenleistung gilt nur inner halb dieses Kreises! Freilich, es ist dem Menschen frei gestellt, diesen Kreis, dieses Gebanntsein in die Grenzen seines Geschöpfseins, das ihm den unauslöschlichen Charakter eines vom Schöpfer abhängigen, eines von Ihm Beauftragten aus drückt, zu überschreiten. Die Welt- und Kulturgeschichte ist voll von Beispielen solchen Geschehens. Allein, auch das ist hin länglich erwiesen, das Verlassen der menschlichen Grundposition, des vom Schöpfer dem Menschen zugeordneten Standortes bleibt nicht ohne Strafe. Und obzwar es oft erscheinen mag, als ob, gerade im Gegenteil, der höchste Sieg des Menschen erst an dieses Verlassen, an diese Grenzüberschreitung geknüpft sei; der Beifall, den Mit- oder Nachwelt zumeist zu spenden pflegen, ist nur der Hymnus der Verblendeten-Unsichtigen und gilt überdies mehr der Kühnheit des Wagnisses als dem errungenen Erfolge. Denn der eigentliche Erfolg wirkt sich im Innern aus — da er ja gerade irrt Mut zur Grenzüberschreitung an sich besteht — und bleibt unsichtbar; soweit er sich aber nach außen hin feststellen läßt, ist er, weil eben durchaus unwesentlich, flüchtig und vergänglich. Gewöhnlich erkennt schon die nächste Generation, daß in Wirklichkeit kein Sieg, sondern eine Nieder-
läge erfochten wurde. Strebt jedoch der Grenzüberschreiter, der prometheische Mensch, trotzdem einmal „Gelingen" als Persönlichkeit an, also wieder in den Kreis des geschöpflichen Dienens — wobei ihn meist sein Festgesahrensein im Geleise prometheischer Hoffart und in der Finsternis, die diese um ihn verbreitet, daran hindert und er aus sogenannten „Prestige gründen" den Rückweg scheut und nicht mehr zurückkann —, dann bleibt ihm wahrlich nichts anderes mehr übrig, als in den überschrittenen Kreis wieder zurückzukehren. Auch von Bei spielen solcher Umkehr ist die Geschichte voll. Verbleibt der „Äberschreiter" aber verstockt „draußen", dann muß er, wie schon gesagt, unerbittlich die Folgen davon tragen. Und diese Folgen sind: Verlust der Zugehörigkeit zu Schöpfer und Schöpfung. Hervorgerufen dadurch, daß der Äberschreiter, indem er nicht nur wider seine eigene gottzugeschaffene Natur handelte, sondern über dieselbe hinaus gegangen zu sein vermeinte, sich außerhalb ihrer in ein Los gelöstsein von Schöpfer und Schöpfung, in ein völliges „Nicht sein", hinausgestellt hat. Die Wirkung dieses „Nichtseins" läßt sich mit den Begriffen „Einsamkeit" oder „Unfruchtbar keit" allein nicht bezeichnen. Sie bedeutet ungleich mehr als diese beiden; sie bedeutet, daß der Grenzüberschreiter sich regelrecht dem „Leben", der Schöpfungsausgabe entzogen hat. Gewiß ist das Menschenleben gerade der größtangelegten Menschen, den durchschnittlichen stellt es sich kaum zur Frage, ein Problem ohnegleichen. Erfassen doch gerade diese am raschesten und überwältigendsten, daß es für sie ohne den glühenden Drang nach Grenzüberschreitung und ohne den Alles einsetzenden Versuch dazu, ein ihrer würdiges Dasein nicht zu geben scheint. Und sie erfühlen die Wahrheit: Drang wie Versuch sind vom Schöpfer her im Menschen gewollt; gewollt nicht nur dazu, daß die Grenzen überhaupt er kannt und erfahren werden, sondern auch dazu, daß der Mensch seinen ihm gewährten Betätigungsraum rest- und lückenlos bis zur letzten und äußersten Grenze hinaus
ausnütze. Aber nur dieses Vorstoßen selbst, bis an die letzte und äußerste Grenze hinaus, ist Schöpferwille. Nachdem der Mensch es getan und die Grenze nicht nur allseits erreicht, sondern auch über sie hinaus ins Grenzenlose geblickt, ja etwa sogar den Sprung in dieses schon gewagt hat — muß er, entsprechend dem Schöpferwillen, also auch den Gesetzen der menschlichen Natur, hinter die „Grenze" wieder zurück. Denn Menschenleben ist: Synthese zwischen dem Drang nach Grenz überschreitung sowie dem Wagnis derselben einerseits und der freiwillentlichen Rückkehr hinter die „Grenze", in den Grenz bezirk, anderseits; eine Mitte zwischen Grenzenlosem, darin der Mensch seiner Geschaffenheit nach nicht mehr zuständig ist, und Begrenztem, darin allein er zuständig bleibt. Diese Rückkehr in den Grenzbezirk gilt freilich auch dann schon als getan und wirksam, wenn der Mensch am äußersten Rand der Grenze stehen bleibt und von diesem aus — von der Aussicht aus, die sie ihm stets ins Grenzenlose hinaus offenläßt — in den Bereich des Begrenzten zurücklebt und zurückwirkt. „Lebe gefährlich" heißt nicht: lebe im Grenzen losen, denn dort ist kein Menschenleben! Sondern: lebe — im Angesicht des Grenzenlosen — von der Grenze aus in den Be reich des Begrenzten zurück! Das Nichtsehenwollen dieser Wahrheit hat seit jeher die Hauptschuld an den vielen Grenz überschreitungen, an diesen katastrophalen Kopfsprüngen ins Nichts hinaus und all ihren bösen Folgen getragen. Leider aber neigt der Mensch von Natur aus dazu, immer nur Eines für gefordert zu halten und nicht auch ein zweites Anderes; er übersieht allzuleicht die gegebene Polarität der Erscheinungen und verfällt in eine starre übertriebene Einseitigkeit, die ihn an seinem natürlichen Gelingen hindert. Denn nur dort, wo, und nur insolange die Synthese zwischen dem Gegensatzpaar von Begrenztem und Grenzenlosem vollzogen wird, kann mensch liche Kultur erstehen. Wohingegen dort, — auch wenn es sich dabei um den subjektiv kühnsten und leidenschaftlichsten Akt einer Grenzüberschreitung handelte — wo der lebendige Rück-
bezug auf den Grenzbezirk nicht hergestellt wird, die Kultur unaufhaltsam verfällt und zuletzt untergeht. Wenn also Grenz überschreitung schon zu einer allgemeinen Erscheinung wird, dann führt sie auch unweigerlich zur Auslösung von Kultur, gleichgültig ob diese Überschreitung aus dem eigenen Antrieb des Einzelnen oder nur nachahmend, fast mechanisch, aus Massen trieb, Mode usw. vollzogen wurde. Wo der Glaube von der Autonomie des Menschen — und das ist vom Gestattetsein einer selbstherrlichen Grenzüberschreitung — Allgemeingut geworden ist, dort ist jede Kultur zum Sterben verdammt. Mit Fug und Recht wird daher behauptet, das Sterben einer Kultur beginne im Augenblick, in welchem die betreffende Kulturgemeinschaft jene Haltung, die „Individualismus" genannt wird, zu ihrem Leitsatz erkoren habe. Denn der Grenzüberschreiter ist not wendigerweise: der nur noch aus sich selber bezogene Mensch. Was jedoch nichts anderes heißt als das: Rur-noch-Ich. Er hat zugleich mit dem Schöpfer auch jedes Du in der ganzen Schöpfung preisgegeben. Die Grenze, die sich dem Menschen durch die „ünentschleierbarkeit" der Welt, und jene andere, die ihm durch die Beschränktheit seiner körperlichen und seelischen Möglichkeiten und seiner Lage inmitten aller übrigen geschöpflichen Existenzen entgegengestellt, wurde bereits in den Betrachtungen „Die Ver teidigung des Geheimen" und „Wachsen am Widerstand" auf gezeigt. Richt weniger umgehbar und unübersteigbar als diese beiden — die erstere zwingt dem Menschen, insoferne er den Weg des Gelingens sucht, die Anerkenntnis des unumstößlichen Geheimnischarakters nicht nur des eigenen Wesens, sondern allen Lebens auf, die zweite die bejahend aktive Annahme von „Übel" und „Bösem" im Schöpfungsbereich — ist die viel tragischere dritte Grenze: die seiner eigenen moralischen Un vollkommenheit. Daß keine Theodizee die Unvollkommenheit aus der Welt zu schaffen imstande ist, wurde auch bereits einmal angemerkt. Selbst der „Heilige" sieht sich vor jeder neuen Erfahrung seines
moralischen Unvollkommenseins — erschiene sie auch den anderen als der Gipfel menschlicher Vollkommenheit — dazu gezwungen, sich mit dieser Tatsache abzufinden. Sämtliche bisherigen Versuche abzuleugnen, daß das Böse im Menschen schlechterdings „gegeben" sei, blieben erfolglos. Sie erwiesen sich als bedeutungslose Konstruktionen, gleich den Theodizeen. Umsonst blieb auch jede Bemühung, die Schuld des Einen auf die Schultern anderer abzuwälzen. Wenn der Einfluß von Erbmasse und Milieu, von „schlechtem Beispiel", von zufällig ungünstiger psycho-physischer Konstitution, unheilvollem Zeit alter usw. zu Recht besteht, dann läßt sich mit Leichtigkeit nach weisen, daß eben letztlich doch irgendein Mensch, wenn auch ein „anderer", der Döse, der Schuldige, gewesen sei. Von jenem also, als von ihrem Ursprung, sich die jeweilige Unvoll kommenheit des Einzelnen herleite. Wo Böses ist, da war jedenfalls, zumindest einmal, ein Böser! Jeder von uns ist an aller Schuld schuldig. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, das mensch liche Gewissen, ist ebenso alt wie die Menschheit selbst. Durch alle Zeiten hindurch gab es ein konstantes, allgemeines und absolutes Menschheitsgewissen, von dessen Boden dann erst die besonderen, ort- und zeitbedingten Kulturgewissen emporwuchsen. Während das Menschheitsgewissen völlig auf den Grenzbezirk bezogen ist, hängt es von dem geistigen Ge richtetsein der jeweiligen Kultur ab, ob und in welchem Sinn das Kulturgewissen das Menschheitsgewissen zu differenzieren vermag, also durch Steigerung der Gewissensempfindlichkeit dieses verstärkt oder aber es infolge von Grenzüberschreitun gen, also Autonomiebestrebungen, schwächt, abstumpft, durch löchert, ja nach und nach abzutöten scheint. Bis zu welchem Grade diese Auflösung des Menschheitsgewissens um sich greisen kann, dafür zeugen nicht nur die Versallsepochen aller bis herigen geschichtlichen Kulturen, sondern erweist auch, und für uns noch schlagender, die kulturelle Verfassung der Gegenwart. Wir wissen heute, daß die ganze Neuzeit im Zeichen der Autono-
mietenden- des Menschen stand; und daß demzufolge — weil die menschliche Seele von ihrem ihr auferlegten, pflichtgemäßen Vorstoß an die Grenze und den diesen folgenden ÜberschreitungsVersuchen nicht ebenso pflichtgemäß in ihren Grenzbezirk zu rückkehrte, um sich innerhalb dieses zu vollenden — Wissenschaft wie Philosophie von Schöpfer und Schöpfung „abgefallen" sind und noch immer im unlebendig Leeren und Zusammenhang losen vegetieren; daß alles Religiöse, soferne es überhaupt noch Lebensanlaß fand und Lebensraum eingeräumt bekam, in Lehre wie in Übung zu einer bloß noch privaten Angelegen heit des entbundenen Menschen geworden war; daß desgleichen das „Kunstwerk" in Inhalt wie in Form niemals mehr über die individuale Reichweite seines Autors — und der Wenigen ihm zufällig Gleicheingestellten — hinauswirken konnte und darum seinen inneren Sinn verlor; und schließlich, daß die unerhörten Siege der Technik über den „Widerstand" der inneren wie der äußeren Welt die Menschheit in einen Rausch und Taumel von Selbstherrlichkeit versetzten, die diese Grenzüberschreitungen erst recht zum ersehnten Lebenszwecke erhoben. Stück für Stück seines Wesens und Wirkens vom natürlichen Zentrum und Lebensband freigelöst — ist der Mensch freiwillig diesen Weg gegangen. Die Folge? Kein Teil findet mehr in das Gemein same der menschlichen Totalität zurück, noch der Mensch in seinen verlassenen, ihm zugeordneten Bezirk. Nichts mehr von der Kultur in Europa, Amerika, oder selbst in Asien hat noch das ihr zugeschaffene Heimatrecht; staatenlos, zigeunerhaft, atomisiert und vor lauter Autonomie, sogenannter „Freiheit", wirr und ziellos-chaotisch geworden, steht sie bodenlos im un menschlichen Raum des Grenzenlosen. Nichts zeugt so deutlich und beispielhaft von diesem Schick sal als das verblaßte, ja fast schon ausgelöschte Gewissen von heute. Wo Jahr für Jahr in steigender Leidenschaftlichkeit, ja Besessenheit und raffiniert geübter Technik alle Grenzen über schritten wurden, konnte wohl auch die moralische nicht unüberstiegen bleiben. Wer sich autonom macht, also von Schöpfer
und Schöpfung lostrennt, dieser nur mehr sich selbst verant wortliche, ausschließlich seinem „eigenen Gesetze" gehorchende, selbstherrliche Alleinherrscher Mensch kann natürlich nicht mehr willens sein, sein moralisches Maß von einem ihm übergeordneten Schöpfer als absolutem Maßstab der Voll kommenheit abzuleiten. Dieser Gesetzgeber sowohl wie der Geltungsbereich seines Gesetzes wurden ja von ihm preis gegeben. Folgerichtig hätte nun dieser Selbstherrliche zu er klären: daß er vollkommen sei — weil ja die Vollkommenheit des Schöpfers und Herrn jetzt in ihm, im gottüberwindenden Grenzüberschreiter, und allein von ihm dargestellt werde. Aber ebenso wie jedes „Sittengesetz", jede „ethische" Norm, die er, der Autonome, sich selbst gibt, geben zu können vermeint, schon der oberflächlichen Betrachtung als plumpe Nachahmung des Schöpfer-Sittengesetzes sich enthüllt, jede areligiöse Sitten norm als entlehnte und nur unter falscher Flagge neu aufge stellte religiöse sich erweist, ebenso begeht der Autonomist die Inkonsequenz, sich zwar nicht für „vollkommen" zu erklären, sondern zu verkünden, daß ihn die Fragen des Gewissens, des Unterschieds zwischen Gut und Böse — mit einem Wort: die Frage nach der Schuld, nicht mehr angehe. Nicht etwa, daß er sich, den Menschen überhaupt, für „jenseits von Gut und Böse" ausgäbe; er kann ja nicht umhin, er muh das Böse, das er will oder tut, trotz allem wahrnehmen. Nein, daß er nicht vollkommen sei, das gibt er schon zu! Aber, abgesehen davon, daß er Gut und Böse nur noch etwa „Hell und Dunkel" nennt und womöglich darauf besteht, zu versichern und ver sichert zu bekommen, daß das Dunkle das Helle bedinge, und umgekehrt, und daß daher das Dunkle ebenso an sich berechtigt und gerechtfertigt sei wie das Helle, abgesehen hievon leugnet er entschieden die menschliche Schuld an diesem DunkelBösen. Wie tief dadurch in alle Lebensgebiete hinein die Verwischung, ja das scheinbare Absterben des Schuldbegriffs schlechthin, in der Gegenwart bereits vorgedrungen ist, braucht keineswegs erst aufgezeigt zu werden: es ist weltoffenkundig.
Das leidenschaftliche Bestreben, das fid; heute in gewissen Schichten bemerkbar macht, selbst den geständigen Kapital verbrecher zu „verstehen", zu entschuldigen — in der geheimen Angst, man hätte unter denselben persönlichen und sachlid)en Umständen vielleicht ebenso handeln können — und gegen ihn nur noch das objektive Schutz- und Sicherungsbedürfnis der „Gesellschaft", nicht mehr aber die Notwendigkeit persönlid)er „Sühnstrase" geltend zu machen, das sich so gerne—und so fälsch lich ! — als neueste „Humanität" gebärdet, ist vor allem geeignet, nicht nur Praxis und System, sondern schon den Begriff der „Gerechtigkeit", ohne welche Rechtsprechung zur bloßen Schutz sicherung der „Gesellschaft" herabsinkt, ad absurdum zu führen. Die noch immer steigende Ratlosigkeit der Justiz, die sid) heute in ihren unzähligen Entgleisungen — sie fällt von einer Über treibung in die andere — deutlich kundtut, beweist dies ebenso überzeugend wie die täglich überlegenere Haltung der „An geklagten", die sich, von einer nicht weniger „morallosen" Ver teidigung gestützt, geradezu als Opfer fühlen und hinstellen. Nicht minder bezeichnend ist die immer mehr zur Mode wer dende, stets wachsende Achtung, Beachtung, ja Liebe, deren sich in der heutigen „Kultur" die Psychoanalyse erfreut. Be greiflich. Bedeutet es doch für die ihrer Grundanlage nach schuldige, daher auch schuldbewußte Menschenseele eine höchst erwünschte Befreiung, von der Psychoanalyse, der typischen psychologischen Schau des selbstherrlichen, autonomen Gegen wartsmenschen, zu vernehmen: nicht „absolvo te“, sondern „solvo te“ ist das Zauberwort, mit dem ich deine Seele heile. Deine moralische Schuld? Nein, nur: Komplexe! Einfad): „Du bist krank. Und bist es nicht geworden, weil du freiwillig sündig geworden bist, also weil du so oder anders sein solltest, sondern weil du unfreiwillig so oder so sein mußtest!" Für eine Wissenschaft, die sid) auf solche Auffassung stützt, ist natürlich Alles auf der Welt einzig und allein mensch bezogen; der Mensch, das Menschlich-Mögliche, erste und letzte Instanz. Wohin diese Menschbezogenheit aller ewigen Wahr-
heilen führt, zeigt am besten die beliebte These von „Gott als psychologischer Funktion". Wahrlich, nur bei einer bereits völlig entwurzelten, von ihrer natürlichen Bestimmung abgefallenen Menschheit konnte die Psychoanalyse, diese „Wissenschaft" der Grenzüberschreitung katexochen — die ja auch fruchtbar zu wirken vermöchte, aber nur innerhalb jener Grenzen, die der Schöpfer dem Menschen noch zuordnete — solchen gläubig kritiklosen Zulauf finden. Die ihr Verfallenen merken nicht, wie sie trotz ihrer „Entdeckung" des Unbewußten und trotz ihrer angeblich so unbegrenzten Berücksichtigung alles „Irra tionalen" in Wirklichkeit nichts Anderes als die rationalste aller tiesenpsychologischen „Analysen" darstellt und damit nach allen Regeln der Kunst eigentlich eine zweite Mechanik geschaffen hat: die Mechanik des Seelischen. Und das Alles in einem Zeitalter, das sich stolz als vom mechanistisch-atomistisch-materialistischen Prinzip freigeworden, oder zumindest am besten Wege dazu wähnt! Sieht denn niemand, wie fragwürdig die Ergebnisse dieser Wissenschaft sind? Wie jede ärztliche Heil kunde ist auch sie imstande, höchstens je eine der vielfachen Erscheinungen der zahlreichen „Krankheiten", die den Menschen ergreifen, zu heilen, niemals aber: die Anfälligkeit des Menschen gegenüber seelischen Krankheiten überhaupt; also in Wahrheit das, was wir seinen moralischen Unvoll kommenheitscharakter nennen! Dafür aber läuft die Psycho analyse Gefahr, den Kranken zwar nicht endgültig zu heilen, ihn hingegen zum überzeugten Autonomisten zu machen, ihn also von seinem gottgeschaffenen Standort zu entfernen. Wie seltsam wirkt oft die in sich selbst befangene Naivität der Psycho analyse, mit der sie alles, nur nicht sich selber zu analysieren weiß. Und noch seltsamer wirken ihre Debatten mit den Theo logen über die Parallele, die zwischen ihr und der religiösen Seelsorge besteht; Debatten, die völlig in der Art verfassungs rechtlicher Kompetenzprobleme über die Grenzen zwischen dem ihr zukommenden Gebiete und dem der religiösen Seelsorge geführt werden. Vergebliche Diskussionen! Zwischen Psycho-
analyse und religiöser Seelsorge gibt es in Wirklichkeit weder eine Grenze noch eine Parallele. Da die Psychoanalyse — der heutigen autonomisierten Kultur entsprungen — die Lehre von der derzeitigen, also säkularisierten Menschenseele ist, so kann sie auch nur säkularisierte Seelsorge darbieten. Mit anderen Worten: die Menschenseele an sich bedarf ihrer Natur nach nicht der Psychoanalyse, der Seelentherapie, als eines Seelsorgeersatzes oder einer Seelsorgeergänzung, sondern um gekehrt, sie bedarf einer religiösen Seelsorge, der auch die Fähigkeiten zur Seelentherapie eigneten. Die Psychoanalyse stellt, wie übrigens jedweder Autonomismus, indem sie auch mit „solvo te“ zu heilen versucht, einen widerrechtlichen Ein bruch in den Bereich des Religiösen, ein Sichanmatzen religiöser Gebietshoheit dar. Auch ihr wird einmal dieselbe Erkenntnis werden, die der selbstherrlichen, also autonomen Wissenschaft überhaupt, der Philosophie im besonderen aber der Saunst und der Politik bereits geworden ist: der Mensch ist seiner Natur nach kein autonomes Wesen, sondern Geschöpf des Schöpfers; daher gibt es schlechthin kein Gebiet menschlichen Lebens und menschlichen Wirkens, das nicht letzten Endes im „Religiösen" wurzelte. Eine — in diesem Sinn — areligiöse, das heißt aus dem natürlichen Ganzheit- und Ge samtheitsverband willentlich herausgerissene Wissenschaft, Philosophie, Kunst oder Politik, erst recht aber eine areli giöse „Sittlichkeit", sind dem Untergang geweiht. Denn der Mensch ist ein „religiös bestimmtes" Lebewesen; — das steht ein für allemal unumstößlich fest! Somit kann der Standpunkt, den die Persönlichkeit alle dem gegenüber einzunehmen hat, nicht mehr zweifelhaft sein; schon ihrer Grundanlage nach ist ihr keine andere Entscheidung möglich als jene eines kategorischen „Nein!" Nicht nur keine Leugnung, sondern auch keine Verwischung, Zer redung der menschlichen Unvollkommenheiten darf zugelassen werden! Keine analytische Auflösung des Schuldbegriffs! Kein Sichdrücken vor der Schuld
und kein Abwälzen der Schuld! Von allen Grenzen, die dem Menschen zugeschaffen sind, gibt es keine, deren Über schreitung mit so schwerwiegender Verfälschung menschlicher Grundnatur und darum mit katastrophalerem Sturz ver knüpft wäre als gerade jene des menschlichen Nichtvollkommenseinkönnens — Unvollkommensein müssens. Natürlich gibt es verschiedene Grade der Unvollkommenheit, des Dösen, der Schuld. Es ist daher dem Menschen als jenem Geschöpf, das zum Schöpfer und seinem Gebot freiwillig „Fa" zu sagen ver mag, tatsächlich auch möglich, den einen oder anderen Grad überhaupt zu vermeiden, andere wieder kämpfend zu über winden, — sich aus der untersten Meerestiefe der Unvoll kommenheiten in deren seichtestes Wasser emporzustreiten. Gleichwohl, gemessen an jenem Maßstab, den allein der Blick zum Schöpfer hinauf gewinnen kann und durch den erst der Mensch zum Gewahrnehmen seiner Unvollkommenheit über haupt kommt, bleibt ihm doch die Unvollkommenheit an sich auch dann, wenn ihm nur mehr die allerletzten und läßlichsten Unvollkommenheiten zugehören, noch anhaften. Auch der Heilige kann kein Engel int letzten Sinne werden, sondern muß — hier darf man wirklich sagen „trotz alledem" — Mensch bleiben; und seine Vollkommenheit ist nicht jene des göttlich absoluten Maßstabs, sondern die höchstmögliche des messenden Menschen. Genau so wie der Weise, der in Unkenntnis der letzten Unentschleierbarkeit des Geheimnisses der Welt sich selbst und sein Leben nur noch als Geheimnisse versteht, und ebenso wie der Tapfere, der selbst noch in seinem Sterben am Widerstand gewachsen ist, hat auch der Heilige die Grenze, die ihm gesetzt ist. Bis hierher konnte er nicht nur, sondern hatte er zu kommen; weiter aber darf und kann er nicht! Denn hinter der Grenze ist nicht mehr Menschenbereich, sondern: Raum des Schöpfers. Dieses „nicht weiter" bedeutet freilich auch für den Heiligen eine unendliche Quelle von Leiden. Denn jegliches Menschen leid an der eigenen Begrenztheit ist ebenso qualvoll wie un-
ergründlich und keines von allen menschlichen Leiden ist so furchtbar wie das Erleidnis der Schuld! Von diesem Leid wird, wie von keinem anderen, die ganze Fragwürdigkeit des mensch lichen Standortes in der Schöpfung restlos und mit den grau samsten Zeichen der Unerbittlichkeit umschrieben. Kein ein ziges anderes muß vom Menschen so ausschließlich in ihm selbst, und gleichsam ohne jeden „verkörperten" Gegner, erlitten und durchgestanden werden. Feind und Freund, Angreifer und Verteidiger, hier in seinem Inneren sind sie unheimlich ver mählt. Auch ist es das demütigendste Leid von allen; muß es doch einzig und allein als auf das eigenste, allgemeine wie be sondere Selbst — bezogen und empfunden werden. Bedeutet der „Gewissensbiß": Folter, so diese Demütigung des Erleidenmüssens der Schuld: herabsetzende Entwürdigung. Es erscheint gegenüber allen Grenzen und Leiden, die dem Men schen auferlegt sind, oft geradezu unglaubhaft, daß Begriff und Gefühl menschlicher Würde überhaupt erstehen konnten und noch können. Beweis dessen: der Mensch zieht der unaushebbaren Demütigung, die im Wissen beschlossen ist: „du kannst nicht vollkommen sein — du bist es nicht und wirst es nie!", so manche Folter vor. Man denke nur an die schwere Be lastung für das sogenannte „Selbstbewußtsein", die dem gläu bigen Katholiken, der in schwere Schuld gefallen ist, durch das Hinverwiesensein an den lossprechenden Beichtvater erwächst. Er ist ohne die immer wieder geschehende Beichte, also ohne die unlösliche Verknüpftheit mit diesem, nicht zu denken! Es wird darum auch so manche Handlung begreiflich, mit der der Mensch, selbst um den Preis des Selbstbetrugs und Betrugs der anderen, sich den Leiden jener Folter zu entziehen ver sucht: so viele einsamste Innenqualen, ebenso viele öffentliche und bewußte Lügen! Die Weltgeschichte ist bis an den Rand gefüllt mit beiden; mit Verzweiflungstaten ebenso wie mit Meineiden. Die Persönlichkeit, weil ihr nichts Menschliches fremd ist, „versteht" dies alles. Gleichwohl! Weil ihr das
Geschöpf „Mensch" weniger Geheimnis ist als der Mensch schlechthin, vermag sie, so sehr sie auch versteht, doch nicht zu billigen. Denn ihr Wesensziel: das „Geschöpf Mensch" vertretungsgültig vorzuleben, heißt in diesem Fall, eben jenen Menschen zu leben, der schuldig werden muß. Von diesem „Muß", als einer der mitbekommenen Eigen schaften des Geschaffenseins, gibt es kein völliges, kein grund sätzliches Abweichen. Denn hier heißt Flucht nicht nur ver gebliches Bemühen, sondern eindeutig: Verweigerung des Vollzugs von Schöpferwillen. Wo die Persönlichkeit sich diesem Auftrag bisher nicht beugte, hat sie es immer noch zum Ab bruch gerade ihres Persönlichkeitscharakters und ihres Wachs tums getan. Welt- und Geistesgeschichte weisen zahllose Bei spiele solchen Versagens auf. Jede Größe des Menschen be ginnt — so naturgemäß gerade dieses Erlebnis der Großen uns verborgen bleiben mag — erst mit der demütigen Aner kenntnis der menschlichen Kleinheit. Es „tun" zwar unzählige Pseudopersönlichkeiten „so" und machen uns vor, „als ob" es nicht wahr wäre: aber es ist eben wahr! Die Natur des Menschen ist in der Tat nicht „angenehm" zu leben! Wer sich niemals in der vollen Bedeutung des Worts als den charakterlosen Wurm, der er ist, bis hinauf ins letzte und empör teste Entsetzen und hinab bis in den tiefsten Abgrund von Ohnmacht und Trauer gefühlt und bekannt hat, der ist nie mals wirklich Geschöpf Mensch geworden. Persönlichkeit sein heißt der Grenze der Unvollkommenheit gegenüber: die Entwürdigung des Schuldigwerdenmüssens ebenso wie die Folter des Schuldiggewordenseins bejahendtätig auf sich zu nehmen. Denn diese Kelche müssen beide bis zur Neige, bis zu jenem letzten und grauenvollsten Tropfen ausgetrunken werden, von dem es heißt, er sei dem Bösesten aller Bösen, dem Erzschuldigen, aufgespart. Reue, Einbekenntnis, Sühne, Vorsatz der Besserung sind die ungefähren Begriffe, die Inhalt und Sinn der bejahenden Hinnahme umschreiben; sie sind für den Bejahenden selbstver-
stündliche Voraussetzung. Ohne Hinzufügen von Tätigsein jedoch würde auch die bejahende Haltung kaum ein anderes Ergebnis zeitigen, als es eine verneinende täte, nämlich: langsames Sichgewöhnen an die Tatsache des Schuldigseins. Die unausbleibliche Folge davon ist aber, daß das ständig abgestumpftere Gewissen nicht nur immer wieder Schuld auf Schuld häuft, sondern auch immer schwerere und größere Schuld geradezu unwiderstehlich aus sich zieht. Allerdings vermögen weder Tätigsein noch hinnehmende Bejahung die Tatsache und das Geschehen von Schuld aus der Welt zu schaffen; wohl aber sind sie imstande, und nur diese sind es, zu bewirken, daß die Seele, trotz Erkenntnis und Bejahung ihrer unabänderbaren, naturbedingten Unvollkommenheit, diese dennoch kraft der Freiheit ihres Willens und dessen Zucht in ihren einzelnen und besonderen individualen Abarten be kämpft, — den Kampf gegen den Widerstand, den diese ihrem Weg entgegenstellen, aufnimmt, und vor allem zu dem Behufe führt, um die Wiederholung ihres Schuldigwerdens, gar aber ein Abgleiten in eine noch schwerere, noch entwürdigendere und leidreichere Schuld, zu ver meiden. Selbstverständlich kämpft dabei die Persönlichkeit diesen Kampf, der allein fähig ist, ihr den mählichen Aufstieg in das seichteste Oberslächenwasser des Schuld-Meers — also in den Zustand der lehtgeringsten Unvollkommenheit — zu ermöglichen, nicht mit der Waffe des unbösen, des „schuld losen" Verhaltens, sondern mit der allein wirksamen der guten Tat. Denn nur das getane Gute, der tätig schöpfe rische Vollzug von Schöpferwillen ist menschlicherseits im stande, die unauslöschlichen Einkerbungen der Narbe der be gangenen Schuld so auszuglätten, daß die Seele nach dem Widerfahrnis von Schuld jeweils wieder eben und ganz sein könne. Den inneren Antrieb zu solcher Absicht und Tat schöpft aber die Seele aus dem Verlangen nach gerade jener Vollkommenheit, von der ihr sowohl in ihrer Arbeit an der
Erbringung des „Wesentlichen", als eben auch in ihrem Schulderfahrnis gewiß wurde, daß sie einzig und allein ihrem Urgrund und Mündungsziel, dem Schöpfer, zu eigen ist, ihr aber niemals eigen werden kann. Dies nun ist, genau wie bei allen übrigen „Grenzen", die dem Menschen gesetzt sind, jener Punkt, der einzig durch Anerkenntnis und Hinnahme seiner unumstößlichen Tatsächlichkeit überwunden werden kann. Die Persönlichkeit bejaht also keineswegs die Grenzenlosig keit — und das ist die Autonomie — der menschlichen Natur, sondern im Gegenteil: ihre Begrenztheit! Und verdammt daher, der unübersteigbaren Grenze der Unvollkommenheit zufolge, mit Recht jeden Versuch aller Zeiten ebenso wie der unsrigen, der dem Menschen den Schuldbegrifs aus der Seele zu reißen, sein Gewissen zu neutralisieren und ihm damit eine „schuldfreie" Würde- und Leidlosigkeit zu sichern anstrebt. Und zwar tut sie dies nicht allein deshalb, weil sie die „Grenzen" des Menschen als unwegdenkbare und unwegrückbare Beigaben seiner geschaffenen Natur erkennt, sondern auch aus dem in stinktiven Wissen darum, daß die Grenzen als die eigentlichen und unersetzlichen Heizseuer und Triebfedern des Men schen ersaßt werden müssen. Ohne dieses Feuer näm lich, das ihm das Wasser in seinem Kessel zu Dampf, ohne diese Triebfedern, die seinen Mechanismus in Bewegung bringen, vermag sich die Natur des Menschen nicht zu ihrer vollen Fülle und ganzen Qualität zu entfalten! Entfalten: so lautet die Aufgabe in diesem Bezug. Denn der vom Menschen so sehr geliebte, weil seiner zugeschasfenen Wahlsreiheit, seinem Egoismus schmeichelnde Begriff „Entwicklung" weist in das Grenzenlose, in eine nie brechbare und unterbrechbare Folge von Weiterschritten und „Fortschritten" hinaus; der Begriff der „Entfaltung" hingegen bezieht sich durchaus auf den Grenz bezirk des Menschen: bis zur äußersten und letzten Linie seiner Grenzen hinaus soll sich der Mensch ent falten — das ist der „Fortschritt", der ihm vom Schöpfer ausgetragen ist.
Da der Mensch, wie soeben gesagt, in seiner angeschafsenen „Freiheit" das natürliche Verlangen hat, diese Freiheit als „Selbständigkeit" zu erweisen, zu sichern und auszudehnen, und da er jedoch erst langsam zum Begreifen der tragischen Zweischneidigkeit dieser seiner Freiheit kommt, ist es verständ lich, daß er, gerade je freier er sich „entwickeln" zu können und zu sollen glaubt, desto ablehnender sich der Tatsache entgegen stellt, daß just seine Grenzen, die Schranken seiner Frei heit, jene Mächte sind, die seine naturmögliche, seine bestim mungsgerechte — seine maximale — „Entfaltung" bewirken. So widerspruchsvoll es klingt: sogar seine Unvollkommenheit ist eine Macht seiner Entfaltungsmöglichkeit; ja, sogar die mächtigste von diesen Mächten! Allerdings, der Widerspruch, mit dem hier jedwede rein vernunfthast theoretische Aus einandersetzung unweigerlich zu enden verurteilt erscheint, ist kein geringer! Obwohl der Mensch gerade in seinem Schulderlebnis erfahren muß, daß die Vollkommenheit, die ihm erreichbar bleibt, eine Vollkommenheit der „geringstmöglichst geringen" Unvollkommenheit ist und daß diese menschliche Vollkommenheit ihren höchsten Grad in einem Leben tätiger Güte und Anbetung der uner reichbaren Schöpfervollkommenheit erklimmt, hört er nicht auf, sich nach dieser unerreichbaren Vollkommenheit des Schöpfers zu sehnen und nach ihr zu streben. Das Zesuswort „Seid vollkommen, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist!", trifft die Wirklichkeit des menschlichen Strebens wahrlich zutiefst. — Soll aber selbstverständlich nicht den Sinn haben, daß das Geschöpf Mensch je seinem Schöpfer gleichwerden könne. Ohne Vorstellung von der Vollkommenheit des Schöp fers — kein Maß für das Schuldigwerden des Menschen. Aber auch ohne Schuldigwerden des Menschen — kein wachsendes Maß jener Vorstellung im Menschen! Fast dürfte man das Paradoxon wagen: die Vollkommenheit er schafft die Unvollkommenheit, gerade diese aber bestätigt und
erhöht jene. Gewiß! Wie denn sollte der unvollkommene Mensch in seiner Vorstellung von der Vollkommenheit des Schöpfers nicht den Himmelszufall menschlicher Unschuld ver ehren müssen! Und doch steht für ihn felsenfest, daß für gewöhnlich nur Schuld — freilich nur eine bis in die letzte Faser und Folge hinab erlebte und überwundene! — es ist, die den Heiligen gebiert; und daß die Vollkommenheit des Schöpfers in einem solchen Schuldig-Heiligen höher zu trium phieren vermag als selbst im engelhaftesten Unschuldigen. Wie wenig diese Wahrheit mit dem Gerede vom Bedingtsein des Guten durch das Böse, also mit einer rein mechanischen Polari tät, zu tun hat, erweist am besten der noch öfters, gerade von so Redenden, behauptete Satz: „Niemand anderer als er selbst kann den Menschen von seiner Schuld erlösen". Mit Recht erscheint in diesem Satz die Freiheit der Menschenseele zur Wahl der guten Tat aufgerufen; denn in der Tat gibt es keine Vernarbung und Überwachsung der Schuld ohne frei geübte Tätigkeit im Guten. Im gleichen Satz ist jedoch von „Erlösung" die Rede, also damit ein neuer Widerspruch be rührt, der vernunftmäßig noch unlöslicher ist als die bisherigen. Die gute Tat, ja selbst die Schuldlosigkeit, kann niemals dem Menschen an sich gutgebucht werden; da der Mensch in seinem Sehnen und Streben nach geringstmöglicher Unvoll kommenheit einzig von seiner Vorstellung von der göttlichen Vollkommenheit angefacht wird und darum auch einzig in der Kraft steter gottschauender Versenkung wachsen kann, ist es der göttliche Strahl — die „Gnade" —, die der guten Tat zur Geburt verhelfen muß. Also ohne Gnade auch kein Erreichen der geringstmöglichen menschlichen Unvoll kommenheit. Gegenüber jener Grenze des Menschlichen, die in der Unentschleierbarkeit des Geheimnisses der Welt beschlossen ist, gelingt es dem Menschen unter der Bedingung, daß er sich selbst als Geheimnis in dies Geheimnisganze einbindet, die Wirkung der Grenze gleichsam unwirksam zu machen, auf-
zuheben. Dasselbe vermag der Mensch auch gegenüber der inneren und äußeren Beschränktheit seiner Natur in Bezug auf seine geschaffene Begrenztheit zu vollziehen; dadurch, daß er allen „Widerständen" des Lebens wie des Sterbens bejahend tätig begegnet und diese geradezu zu gefügigen Hilfsquellen seines Wachstums macht. Die allergeheimnisvollste und wirk samste Aufhebung der Grenze zur Vollkommenheit bot sich den Menschen durch die ewige hehre Idee der „Erlösung". Wohl, der Mensch vermag frei das Gute zu wählen! Wohl, die Gnade des Schöpfers strömt, indem sie dem Menschen das Antlitz Seiner Vollkommenheit von Schuld zu Schuld immer klarer und schmerzhafter aufgehen läßt, in den Willen zur guten Tat hinein und läßt die gute Tat und selbst den Heiligen erstehen. Und dennoch, die Seele des Heiligen kann sogar int Zu stand geringstmöglicher Unvollkommenheit nicht zur Ruhe kommen, ehe sie nicht endlich erfahren hat, was sie unab lässig ahnte und von Stufe zu Stufe brennender ersehnte: daß die Vollkommenheit selber „auf einmal" die Gestalt der An vollkommenheit angenommen und in dieser Gestalt anstatt aller Unvollkommenen die göttliche Vollkommenheit nicht nur un versehrt bewahrt, sondern allem Irdischen vorgelebt und be wiesen hat. Damit, daß Gott selber in der Gestalt der Unvoll kommenheit das getan, ja gerade deshalb getan, weil es keinem Menschen zu tun möglich ward, ist nicht nur das mensch liche Nichttunkönnen vom Schöpfer her „gerechtfertigt", sondern auch alle menschliche Schuld, die durch Nichttun des Tunbaren erstand und trotz aller nachfolgenden „Reue", „Buße", „Schuldlosigkeit" und selbst „guter Tat" als Schuld bewußtsein und darum als Erlösungssehnsucht verblieb, durch die Vollkommenheit selbst endgültig gelöst, erlöst worden. Hatte der Mensch erkannt, daß jeder an Allem und für Alle schuldig sei, so muhte ihm die Wahrheit noch klarer werden: daß Einer kommen und sein werde, der die Schuld Aller stell vertretend auf sich nehme und „büße" — und daß Dieser,
da auch der heiligste Mensch es nicht vermöge, einzig und allein die Vollkommenheit selbst, Gott selber, sein könne. Denn wahrlich, durch die Tat des „Lammes Gottes" ist auch diese härteste und bitterste „Grenze" des Menschen in das kostbarste Gottesgeschenk verwandelt worden: das Vollkommene um armt, wie der Vater sein geliebtes Kind, das Unvollkommene.
VIII.
Einheit von Leben und Werk. Der Mensch besitzt ein angeborenes Gefühl für „Echtheit". An aller Natur zieht ihn zuvörderst und unwiderstehlich an, daß sie anders gar nicht sein kann als sie in Wirklichkeit ist; es fehlt ihr jede Fähigkeit und Möglichkeit zum „Unechtsein". Mit der selbstverständlichen Sicherheit des Instinkts unter scheiden wir daher auch zwischen dem echten und dem unechten Menschen und entscheiden uns gegen diesen, für jenen. Wer sich der Welt gegenüber als das gibt und zeigt, was er tatsäch lich ist, der hat uns schon gewonnen, mag dies „ist" auch noch so dürftig, ja einfältig sein. Indessen wir uns vom Unechten, sei sein Ausdruck noch so bestechend füllig und hochgezüchtet, mit reflexhast rascher Ablehnung wegwenden. „Steckt nichts dahinter", pflegen wir zu sagen, ohne untersucht zu haben, was, wieviel oder wie wenig sich dahinter verbergen mag. Die Tatsache, daß im Unechten, gleichgültig aus welchem Grunde, der sichtbare Vordergrund, der Schein, vom unsichtbaren Hin tergrund, dem Sein, abgespalten ist, also Gesicht und Sein in keiner Entsprechung zueinander stehen, wirkt abstoßend auf uns. Denn wir haben für das Ungemäße dieses Doppelant litzes eine ebenso untrügliche Witterung und ein ebenso unbe stechliches Urteil wie für jede Naturwidrigkeit. Und haben es mit vollem Recht. Der Unechte hat, indem er sich als einen anderen darstellt als welcher er ist, jenen Bezirk der „Künstlichkeit (verstanden als „Machen" im Gegensatz zu „Wachsen") betreten, von dem jeder Echte schon von vorneherein instinktiv weiß, welch be-
drohliche und verderbliche Gefahr er für die menschliche Natur bedeutet. Er hat seinem gottgegebenen geschöpflichen Zustand die bejahende An- und Hinnahme verweigert und damit ihm und der Schöpfung gegenüber einen Akt regelrechter Falsch meldung und Fälschung schlechthin begangen. Kurz, wir fühlen und spüren, daß der Unechte, weil er die natürliche Einheit von Sein und Erscheinung ver letzte, ein Grundgesetz der menschlichen Natur übertreten hat und als Folge davon vom Schöpfer abgefallen ist. Greifen wir aber von der Erscheinung des Menschen auf sein Wert über und prüfen wir nun dieses auf Echtheit oder Unechtheit, dann erweist sich noch klarer, wie richtig unser Empfinden war. Das Werk des Menschen ist ein Zweifaches: ein inneres und ein äußeres. Das innere Wert umfaßt, was der Mensch in sich selbst, in seinem Innern drin erschafft. „Er hat etwas aus sich gemacht", sagt man, so wenig nachweisbar der Vor gang dieses inneren Schaffens für jeden Dritten auch bleiben mag, nicht von jenem, der aus seinem Inneren heraus natür lich wächst und dieses Wachstum bedachtsam pflegt, sondern von demjenigen, der in steter Folge schaffend die Früchte seines inneren Wachstums zur Gestalt seines Selbst verbaut hat. In neres Werk — insbesondere die „Persönlichkeit" als das Innen werk des Menschen — setzt unbestreitbar schöpferische Potenz voraus. Äußeres Werk hingegen ist zunächst ganz allgemein alles, was der Mensch nach außen hin als Wahrnehmbares und Emp fangbares mit der Absicht und Wirkung schafft, daß es, einmal hervorgebracht, geschöpfähnliches Eigendasein habe. Auch dieses Wert kann jedoch wieder zwiefach sein: unpersönlich und per sönlich. Das unpersönliche Außenwerk ist die Offenbarung des allgemeinen, dem Menschen gattunghaft eignenden Hervorbringungsvermögens; das persönliche hingegen die Selbst offenbarung der schöpferischen Potenz des Einzelnen. Spielt das eigene, höchstpersönliche, einmalige und unvertretbare gn-
nere des Hervorbringers in jenem keine Rolle, so in diesem die erste und höchste. Gewiß gibt es auch zwischen unpersön lichen Außenwerken derselben Kategorie — z.B. zwischen Pflü gen, Bänken, Messern, Schuhen, Speisen, Spazierstöcken, Boo ten, Maschinen usw. — Unterschiede 1 Allein diese Unterschiede sind im Gegensatz zu jenen, die zwischen persönlichen Außenwerken derselben Kategorie bestehen, nur in dem jeweiligen Derschiedenheitsgrad des allgemeinen, der Gattung Mensch eigenen Hervorbringungsvermögens gegenüber dem jeweiligen Werk typus, keineswegs aber in der Verschiedenheit des einen Hervorbringer-Selbst vom anderen begründet. Aus dem Ge sagten wird daher begreiflich, warum einzig das persönliche äußere Werk einer Prüfung auf „Echtheit" durch Dritte zu gänglich ist. Das Innenwerk kann es unmöglich sein, denn es bleibt doch, insolange es sich nicht in einem äußeren offenbart, nach außen hin notwendig verborgen. Ein unpersönliches Außen werk aber, z.B. eine Herrenhose, könnte man gar nicht als „unecht" empfinden oder aburteilen. Man wird davon höch stens sagen können, daß sie von dem jeweiligen Normaltypus ab weicht oder dem persönlichen Anspruch, den man an eine Hose stellt, nicht genügt; nie aber, daß sie dem Selbst des Schnei ders — und wäre dieser der König der Schneider 1 — nicht ent spricht! Wo immer im folgenden von „Werk" die Rede geht, wird also nur das persönliche schöpferische Außenwerk gemeint sein. Nur dieses ja pflegt auch der Sprachgebrauch mit dem Worte „Werk" zu bezeichnen; indes er dem unper sönlichen Außenwerk, dessen Hervorbringen er überdies nicht „Schaffen", sondern „Machen" nennt, den Namen „Ding" beilegt. Niemals nun, selbst dann nicht, wo es den allerinnersten Menschen — und das heißt: mitsamt seinem verinnerlichten Werk — offenbaren würde, kann ein äußeres Werk dem Sein seines Hervorbringers gleichen; ebensowenig gleichen wie der Apfel dem Apfelbaum gleicht. Trotzdem, und zwar nicht nur weil jedes Werk Selbstoffenbarung seines Hervorbringers ist,
besteht zwischen dem Werk und seinem Autor eine natürliche Ein heit. Einzig jenes Menschenwerk mutet uns also als „unecht" an, das diese Einheit zerreißt; sie dadurch zerreißt, daß es nicht das Wesen seines tatsächlichen Autors, sondern das eines An deren darstellt. Wie aber konnte es dazu kommen, daß der Her vorbringer nicht sein eigenes Selbst, sondern ein fremdes, ein Anderes, in seinem Werk ausdrückt? War er dazu von einem inneren Muh getrieben? Nein, das Fremde als Eigenes aus zudrücken, fühlt man sich ja innerlich nur dann gezwungen, wenn es zuvor schon wie zum Eigenen geworden ist. Also war es vielleicht ein äußeres Muß, das ihn zwang? Möglich! Mög lich sogar aus abertausend Ursachen! Existenzkampf — dies eine Wort allein erklärt schon alles. Wen solche Unerbittlichkeit in ihren Klauen hält, dem stellt sich wohl auch der Zwang ein: anderes hervorzubringen als das, was man im Inneren ist und dementsprechend zu erschaffen hat. Nun kann gewiß kein Zweifel darüber bestehen, daß derlei Werke — man denke etwa an einen Zeitungsartikel über Herren mode, den sich ein hungernder Philosoph abringen mußte — nicht „echt" sind. Gleichwohl! Gerade solche Werke empfinden wir aus den ersten Anblick keineswegs für „unecht", sondern als ein Mißverhältnis zwischen Hervorbringer und Wert. Denn wir spüren genau, daß ihre Unechtheit nicht gewollt ist, und den Autor daher keine wirkliche „Schuld" dafür trifft. Wir beklagen höchstens solche Muß-Produktion; nicht aber ohne schnell, allerdings ebenso klagend, hinzuzusetzen: „Arbeit schändet nicht." So stark nämlich schimmert ihre tatsächliche Ursache — der Notzwang — durch diese Werke hindurch, daß wir sie selbst dort „rechtfertigen", wo sie nicht nur abwegig, sondern geradezu lächerlich wirken. Das „unechte" Werk ist also jenes, das ohne äußerliches Mutz, freiwillentlich gewollt ist; einen Willensakt freiwil liger und absichtlicher Zerreißung der Einheit zwischen dem Menschen und seinem Werk darstellt. Der Beweggründe dieses Willensaktes gibt es unzählige: vom einfachsten Nachahmungs-
trieb, von der kindischesten Neugier und der billigsten Eitelkeit angefangen bis zum krankhaft verstiegenen Geltungstrieb des sich minderwertig Fühlenden oder gar „Minderwertigen" eine reich gegliederte Kette. Erscheint damit die Frage nach dem eigentlichen „War um?" dev „unechten" Wertes auch gelöst, so bleibt doch diejenige nach dem äußerlichen „Wie?" seines Zustandekommens noch immer offen. Nun! Der Mensch will ein Werk schaffen. Aber kann denn bloßer Wille allein ein Werk schaffen? Das Zustande kommen eines Werkes ist, jener natürlichen inneren Einheit -wischen Mensch und Werk zufolge, doch an das einheitliche Zusammenwirken von innerem Muß und äußerlichem Willen gebunden 1 Wie sollte also ohne inneres Muß geschaffen werden? Eben dadurch, daß sich der Wille, wohl wissend, daß Ihm das fremde innere Muß und dessen eigenste Persönlichkeits grundlage ewig unzugänglich bleiben werden, wie zum Ersatz dafür dessen äußerliche Hervorbringungsfertigkeiten zunutze macht, sich zu eigen macht und mit ihrer Hilfe ein Werk zustande bringt, das nun so wirkt, als ob dahinter ein ihm ent sprechendes Muß und die dazugehörige Persönlichkeit stünden. Dieser Betrug, man darf ruhig sagen Schwindel, gelingt ihm aber nur deshalb, weil jene Hervorbringungsfähigkeiten nicht wie das innere Muß des persönlich Schassenden dem Bereich unvertauschbarer und irrationaler Einmaligkeit angehören, son dern selbst dort, wo sie in individualster Differenzierung er scheinen, durchwegs im Bezirk des Übertragbaren, Rationalen heimatzuständig sind. Dieser Bezirk als der Mutterboden des Intellektes an sich, ist jedoch wie kein anderer dem Willen offen. Was des Intellektes ist, läßt sich von jedem Willigen an eignen, erwerben, erlernen. Mit diesem Erlernenkönnen aber löst der Wille die Heroorbringungsfähigkeiten, das Können, von dem inneren Hervorbringungstrieb, dem Müssen, ab und verselbständigt sie. Nicht mehr inneres Muß und Können mit sammen bringen aus ihrem natürlichen Verband nun das Werk hervor, sondern wirksam sind nur noch die vom Muß
abgelösten und selbständig gemachten Könnensfähigkeiten. Der natürliche Einheitsverband ist damit zerstört und es kann kein anderes als ein falsches, unechtes, künstliches, ein „Als-ob-", ein Pseudo-Werk entstehen! Dieser Akt, den der Wille unter der hilfbereiten und freund lichen Assistenz des Intellekts vollzog, mag im ersten Anblick höchst harmlos erscheinen; sind wir doch heutzutage von beiden an viel raffiniertere Übergriffe gewöhnt. Dennoch! Seine Wirkung geht viel tiefer als wir es ahnen! Denn gerade in diesem Akt — er ist Diebstahl und Lüge zugleich — und darin, daß er einmal geschah und seitdem ständig und unzählige Male wiederholt wird, liegt die innere Ursache unserer automati sierten werktechnischen Kultur. Einer Kultur, in der die äußere Form des Werks, schon weil sie intellektuell erfaßbar, ja stehl bar ist, sich ebenso von seinem Inhalt abgelöst und unabhängig gemacht hat, wie sich das Können vom Müssen und das Werk selbst von seinem Erschaffer abtrennte. Nicht mehr, so darf man sagen, das „Geschöpf Mensch", sondern der reine HirnMensch bringt das Werk hervor. Aus dem Schaffen ist ein Machen geworden, zu dem es nicht mehr der in neren Gnade, der anlagehasten inneren Berufung bedarf, sondern wofür äußerlicher, erwählbarer Be ruf genügt. Wie konnte nun jener Akt zu solch allgemeiner Übung, Trieb und Fähigkeit zu ihm zu solchem „Allgemeingut" werden» daß er dadurch geradezu eine Kultur-Umwälzung nach sich zog? Die Ursachen hievon sind klar und höchst betrüblich! Sie lassen sich kurz mit zwei Tatsachen umschreiben: wachsende Steigerung des Bewußtseins und Bevölkerungszunahme. Jede Bewußtseinssteigerung der Menschheit wirkt sich zu allererst immer auch in einer Mehrverwendung ihres Intellektes aus; ist und bleibt doch der Mensch in erster Linie ein Oberflächenhäuser und Quantitätenrasser. Jeder Impuls aber, der vom gesteigerten Bewußtsein auf den Intellekt geübt wird, wirkt wiederum zuallererst auf den Ich-Willen; der Mensch
ist und bleibt von jeher leiblich wie geistig ein begierdebehafteter Ich-Süchtling. Die Sucht nach Haben und Herrschen ist immer die erste Reaktion seines Ich-Willens. Mit anderen Worten: jede neue Dewußtseinssteigerung ruft in der Menschheit auch neue „Bedürfnisse" hervor und jede „Befriedigung" dieser Be dürfnisse schärst, verdichtet und stählt wieder Intellekt und Wil len. Unausbleibliches Ergebnis solchen Entwicklungslauss ist auf der einen Seite: eine stets neue Erhöhung jenes körperlich-seeli schen Existenzminimums seiner Bedürfnisse, das eigentlich jeder zeit als absoluter Maßstab gelten sollte; auf der anderen Seite: eine neue Überbetonung von Intellekt und Willen, also von — Zwecken. Das Erstere, die Erhöhung des jeweiligen mini malen Dedürfniestandards hat zur Folge, daß immer noch mehr gemußt, gekonnt und gewollt wird, als absolut genommen äußerlich gemußt ist. Niemand mehr weiß, mit wie wenig er in Wirklichkeit sein Auslangen finden könnte, sondern nur noch: daß er morgen schon wieder mehr „brauchen" wird, als er heute brauchte. Kommt hiezu noch, daß gleichzeitig die gesteigerten Bedürfnisse einer stets wachsenden Anzahl von Menschen be friedigt werden müssen, dann ist es unvermeidbar, daß das Leben des Menschen fast zur Gänze in der Hervorbringung von lauter äußerlich gemuhten Werken, „Zwangswerken", aufgeht. Ein Zustand, dessen lähmender Druck noch dadurch verschärft wird, daß alle diese Werke in Wirklichkeit nur relativ und nicht an sich gemußt sind. Der zweite Faktor hingegen, die wachsende Überbetonung von Intellekt und Willen, führt insbesondere in jenen Menschen, die von der bitteren Notwendigkeit des Zwangswerkes verschont bleiben, unausweichbar dazu, daß sie sich genötigt fühlen, das nur „gewollte", also das eigent lich falsche Werk, das„Willkürwerk", zu machen. Wo aber sowohl Zwangswerke wie Willkürwerke in ihrer Menge und in ihren psychologischen Wirkungen mit selbstherr lichem Recht von Tag zu Tag breiteren Raum gierig beanspru chen, da kann dem einzig natürlichen und echten Werk, dem in nerlich gemuhten, kein Platz mehr sein! ünd in der Tat, es
hat nur den geringsten. Denn in der Rultur von heute schafft — fast könnte man es behaupten — jeder das Falsche. Wenn auch Zwangewerk sein muß, weil es in der natürlichen mensch lichen Grundanlage bedingt ist: das relative, nicht unbedingt notwendige Werk muß nicht fein. Und wenn auch Willkür werk an sich als ftei spielerischer Ausdruck intellektual-formaleu Könnens ein Lebensrecht haben mag: sobald sein Entstehen die Verdrängung des innerlich gemußten Werks be wirkt, ist es ebenso Raub am Wesentlichen der Geschöpflichkeit und Verfälschung derselben wie das vorhin erwähnte nur relative Zwangswerk. Daß ein wirklicher Dichter in der Rot auch Windelständer, Wäscheklappern, Kohlenkisten für sein armes Heim zusammenbastelt, tut ihm keinen Schaden; denn gerade der „Erkorene" — von einem anderen lohnt es nicht zu reden — wird nicht nur trotzdem, sondern gerade demzufolge sein Werk desto eher schaffen. Daß aber Millionen von Men schen notgedrungen zur Deckung eines relativen, also über flüssig hohen Bedürfniestandards anderer Millionen am lau fenden Maschinenband roboten müssen, was da heißt: los gerissen von jedem, sogar dem elementarsten inneren Muß, nur noch sormal-fertigkeitlich — das ist schon Zeichen der Unnatur, der Widernatur einer Rultur. Daß weiters Men schen, deren inneres Mutz trotz aller allgemeinen Werkentheili gung, die rings um sie geschieht, immer noch lebendig im Be wußtsein erhalten ist, sich dazu hergeben, etwas zu schaffen, was sie innerlich nicht müssen — und dies nur, um „besser" leben oder um „Erfolg", äußere „Geltung" einstreichen zu können oder gar aus purem Leistungssnobbismus —: das ist regelrechter Verrat am Schöpferwillen. Und endlich, daß sogar Menschen, die jedes Bewußtsein eines inneren Mutz bereits verloren haben, hergehen und, vielfach beklatscht, etwas schaffen, was auf den ersten Blick, weil sie sich die dazu notwendige Technik durch Intellekt willentlich erworben haben, so aus sieht, als ob es das Wert eines inneren Mutz wäre: das ist bereits, gelinde gesagt, himmelschreiende Unverschämtheit.
Wir pflegen uns mit jedem fortschreitenden Jahr ver zweifelter darüber zu beklagen, daß es der Persönlichkeiten immer wenigere gibt. Aber der sich täglich stärker häufenden Menge falscher Werke, der von Monat zu Monat allge meineren und geübteren Zerreißung der natürlichen Ver bundenheit zwischen Mensch und Werk, Müssen und Können, Inhalt und Form, schöpferischem Impuls und Werktechnik gegenüber sind wir völlig blind. Wo die Persönlichkeit stündlich raffinierter zerspalten wird, wo das, was ihr eigentlichstes Wesen ausmacht, also Verwirklichung und bestimmungs gerechte Erfüllung der Menschennatur, und das ist vor allem Einheit und Ganzheit, immer „gekonnter" nur noch vorge täuscht wird, da soll Persönlichkeit noch erstehen können? In einer Welt, in der diese Vortäuschung fast zur Gewohnheit wurde, weil ja nahezu jeder Dritte bereits die Technik vorzüg lich und vollkommen beherrscht und verwendet, die seinem Werk den Anschein eines höchstpersönlichen verleiht; indes natürlich ausnahmslos alle diese nicht mehr „geschaffenen", sondern nur „gemachten" Werke, da ihnen das innere Muß als Grundboden abgeht, zu unpersönlichen „Dingen" werden. Nein, das ist nicht der Bereich der Persönlichkeit 1 Dort, wo sie noch zu finden wäre, auch da ist sie, lebt sie, verborgen. Nicht, weil sie es so will, sondern weil sie selber von der Masse des Unpersönlichen und ihr Werk von den Hekatomben der un persönlichen Werke anderer ins Verborgene gedrängt wird. Weil das Talent als etwas, was die Anlage zu einer for malen, also nicht individual-persönlichen Fähigkeit beinhaltet und darum dem Intellekt und dem Willen in hohem Grade zugänglich ist, weil dieses Talent heute, in der Epoche über betonten Intellekts und Willens „allgemein" geworden ist, ist auch unserer Zeit das Genie, das, wie sehr und ganz ihm Talent — Können — auch eignet, doch stets höchstpersönlichstes, innerlich gemußtestes Können bleibt, kaum mehr gegeben. Dom „Talent" ersetzt und vertreten, lebt es verborgen im Schatten. In einer Zeit, die Alles „kann", ja um so meister-
Hafter, überlegener, unübertrefflicher zu „können" gelernt hat, je weniger sie innerlich muß und je mehr sie, ob nun notge drungen oder frei, will: was soll in einer solchen Zeit lust betonter Hochstapelei noch das innere Muß bedeuten? Und, wo Gespaltenheit aller Art Triumphe feiert, was sollen da noch Einheit und Ganzheit? Zn einem Turm von Babel, in welchem der Philosoph Bankier ist und der Bankier Komponist, der Religionsstifter Privatdozent der Hühneraugenheilkunde und der Privatdozent der Hühneraugenheilkunde Erfinder der Marsratete, dieser aber erst noch Staatsmann; in einem solchen Bauwerk hat natürlicherweise nicht mehr Selbstoffenbarung des Menschen etwas zu gelten, sondern nur mehr wahllose Hervorbringung schlechthin. Es kommt heute nicht mehr darauf an, was, sondern einzig noch, daß geschaffen wird. Das oft gehörte „wir schaffens schon" drückt sogar dort, wo es bewußt Anderes meinen mag, diesen Zustand mechanisch-reflexhaft unentwegter „Produktion" trefflich aus. Die Geister, die sie rief, wird die Menschheit nimmer los! Denn was bedeutet es, daß in dieser oder jener Wertart zuviel produziert wird und dieses Zuviel absatzlos verbrannt, ins Meer geschüttet oder eingestampft werden muß? Was bedeutet es, daß Arbeitslosigkeit Millionen von Menschen seelisch platzlos und bodenlos macht; diese Millionen aber, trotz alledem, nicht nach Arbeit drängen, weil auch Arbeit — jene nämlich, die sie etwa bekämen — ihre Seelen mehr ab stößt, als anlockt? (Siehe die Arbeitslosenunterstützung als „moralische Seuche"!) Und was, daß nicht nur die persön liche Beziehung des Empfängers zum Werk, sondern sogar die des Hervorbringers ständig abnimmt, weil niemand mehr vom Wunder weiß, das im menschlichen Schaffen beschlossen liegt? Was wir heute auf dem Gebiete der Liebe zwischen Mann und Weib erleben: diese Entwürdigung der körperlichen Ver einigung zu einem Akt bloßer äußerlicher Liebestechnik, der mit Liebe „gar nichts mehr zu tun hat" und daher ausschließ-
lich von Intellekt und Wille her, wahllos könnbar, ohne jedes innere Liebes-Muß vollzogen wird, dieses selbe Autonom gewordensein des vom „Müssen" losgelösten „Könnens" ver unglimpft und entzaubert heute schon fast jede Art von Men schenwerk. Vom Fabriköschuh angefangen bis hinauf zum lyri schen Gedicht, der wissenschaftlichen Entdeckung, der philosophi schen Wahrheit und der religiösen „Betätigung" ist das Men schenwerk — ob allein von Händen oder Maschinen, ob von Kopf oder Wille her geschaffen — einfach zum „Ding" ge worden. Es kommt nicht von der Seele her und hat darum keine und strahlt auch keine aus. Und da soll es wundernehmen, daß die Menschheit heute sogar den höchsten und wahrsten Werken nicht nur mit abgestumpfter Gleichgültigkeit, sondern mit einem verächtlichen, mißtrauischen „Genug! Das kennen wir schon 1" begegnet! Die Menschen spüren zwar das „Un richtige" unserer Kultur, nehmen sich aber zu ihrem Unheil weder Zeit noch Muße, um dieser richtigen Empfindung bis auf den Grund zu gehen. Einzig die Persönlichkeit ist es, die sich diese Zeit und Muße nimmt. Nicht, daß sie unter diesem Zustand leidet, macht ihr Wesen aus, sondern daß sie sich im Namen der mensch lichen Natur, die sie vertritt, immer entrüsteter dagegen em pört. Für die Persönlichkeit, so schaffenesähig, so schafsensfreudig, so werkträchtig sie auch sein mag, gibt es kein anderes Werk als das innerlich gemußte! Sie kann unmöglich an der Zerreißung der natürlichen Einheit von Mensch und Werk, Müssen und Können, Inhalt und Form teilhaben, denn gerade ihr ist die Wahrung und die Entfaltung dieser Einheit auf gegeben. Höchstmögliche Identität zwischen ihr selbst und ihrem inneren Werk einerseits und ihrem äuße ren Werk andererseits ist und bleibt für sie — gerade desto zwingender, je unerbittlicher die Härte des zum Lebens unterhalt nötigen Zwangswerks auch sie bedrückt — selbstver ständliche Forderung. Und weil auch ein solches Zwangs werk ihr wahres und wirkliches Selbst offenbaren muß, kann
es trotz allem vom Makel der ünechtheit nicht befleckt wer den: denn die Persönlichkeit vermag nichts Unechtes zu schas sen! Es wird ihr, da sie, in stets neuem Erleben, unablässig hervorbringen muß und dabei von Tag zu Tag bestrebter ist in ihrem Innern drin immer wesentlicher zu werden und also auch nach außen hin immer Wesentlicheres zu offen baren, die Erkenntnis nicht erspart bleiben können, daß dieses Streben ihrem Drang nach jeweils entsprechenderem Werke zwar förderlich ist, nicht aber auch ihrem Produktionstrieb an sich. Zweifellos: je wesenhaster und entsprechender ihr Werk geraten soll, umso tiefere Überlegung, genauere un nüchternere Bewußtheit muß sie daran wenden. Allein, ge naueste und nüchternste Bewußtheit und höchste Überlegung sind Mächte, die in bedrohlicher Nähe zu Intellekt und Wil len wohnen. Schon das geringste Zuviel von diesen beiden kann Substanz und Konstanz des inneren Muß nicht nur ge fährden und damit den natürlichen Quelltrieb der Produk tion durch einen künstlichen ersehen, sondern auch das natür liche, flüssige Strömen des Produktionsprozesses stören, wenn nicht gar lähmen; denn, aus Intellekt und Wille gerichtet sein heißt zum mindesten: warten, abwarten, Geduld haben. So lange nicht produzieren, bis der Gegenstand des Werkes, das, was geoffenbart werden soll, durch die Arbeit höchst bewußter Überlegung nicht völlig durchhellt ist. Gewiß, die Selbstosfenbarung soll Helligkeit schaffen: das Werk soll „licht" sein; Dunk les ist nicht offenbar. Aber diese Helligkeit hat eben in der Weise zustande zu kommen, daß das Dunkle, dem der Produktionsantrieb entspringt, ja welches das innere Muß selbst ist, im Schasfensprozeß aus dem Inneren nach außen Herauestürze, herausfließe, hervorquelle; nicht aber dadurch, daß es schon vor begonnenem Schaffen zu Hellem geklärt worden ist und nun als bereits Helles im Werk gleichsam wiedergegeben wird. Diese Erkenntnis wird also der Persönlichkeit eindeutig er weisen, daß es relativ richtiger, weil naturgerechter, ichgerundeter ist, unbekümmert „draufloszuproduzieren" als durch
allzu große Gewissenhaftigkeit bewußten " Überlegene etwa eine Stauung — einen Krampf — des Produktionstriebs her aufzubeschwören. Und sie wird diese Erkenntnis umso bereit williger hinnehmen, als ihr ja das Hervorbringen von Werten nie und nimmer Selbstzweck ist, sie mit ihren Werken nie und nimmer „Leistungen", „Bravourleistungen", am allerwenigsten aber von ihrem Selbst unabhängige Werte schassen wollen kann, sondern zuinnerst weiß, daß nur Selbstossenbarung der eigentlichste und natürlichste Ausdruck und Inhalt ihres ihr vom Schöpfer gegebenen Lebens ist und daß daher vor allem anderen geboten sei: das angeborene Muß dieser Fähigkeit und die angeborene Fähigkeit dieses Muß vor widernatürlicher Stauung wie Verkrampfung und das Maß dieser Gabe vor Erstarrung und Verebbung zu bewahren. Wie der Baum seine Früchte aus innerem Muß hervor bringt und sich in diesem Fruchtbringen verwirklicht, ebenso verwirklicht sich die Persönlichkeit in den Werten, die ihr Selbst offenbaren. Es heißt zwar: „An seinen Früchten sollt ihr ihn erkennen!" Was aber, wenn der Baum keine Früchte bringt? Um also nicht unfruchtbar zu bleiben, ist die Per sönlichkeit mit Recht um das stete Flüssigbleiben ihrer Produktionepotenz besorgt. Dieser selben, ersten und hauptsächlichsten Sorge gehört es ebenfalls an, wenn sie stets auf strenge Selbstkontrolle über die Grenzen ihres Könnens achtet. Und noch eine weitere Erkenntnis muß ihr werden: daß es an sich richtiger ist, jeweils bewußt unterhalb des Maximums ihrer Könnenspotenz zu verbleiben — solange dies Verbleiben nicht Wille zu einem Unterniveau, also zu einem unechten Werk ist —, als wenn sie diese ihre äußerste Könnensgrenze willentlich, leichtfertig, überschreitet. Dem inneren Muß, als einer ausschließlichen Welt des Inneren, dessen Grenzen einzig vom „Wesentlichen", dessen Gehalt und Umfang einzig vom Geistigen bestimmt werden, sind so gut wie keine Schranken gesetzt. Die Möglichkeiten seines Wachstums, seiner Entwicklung und Wandlung sind un-
begrenzte. Und obgleich es vom Können heißt, daß es „mit seinen höheren Zielen wächst", ist Selbsttäuschung über Maß und Grad des jeweiligen Könnens gerade desto wahrscheinlicher, je gewisser und unbedingter das innere Muh spricht; denn es ruft im Menschen gerade durch die unbedingte und selbstsichere Sprache, die es führt und durch die es sein Da-Sein beweist, unwillkürlich die Überzeugung hervor, daß damit auch schon das entsprechende Können erreicht und gegeben sei; eine Überzeugung jedoch, deren Bestätigung sich erst im Schaffen, ja, wo Selbstkontrolle nicht schon während dessen eingesetzt hat, erst im Werke selbst erweisen kann. Die „Kritik" pflegt, wenn sie besonders wohlwollend ist, von einem Werk, das zwar vom inneren Muß her zu höchstgespanntem Anspruch berechtigte, aber infolge unzulänglichen Könnens mißlungen ist, zu sagen: „Zwar ist es nicht gekonnt, aber doch in seinem hohen Wollen zu bewundern und zu loben." Und benützt das Wort „Wollen" damit in einem fal schen Sinn. Denn das Werk war ja „gemußt" 1 Und nur weil ihm kein gemäßes Können entsprach, erweckt es den Eindruck eines nur „gewollten". So wie nämlich ein nur dem Willen entsprungenes, gewolltes Werk, wirkt auch ein nur vom Muß getriebenes, gemuhtes Werk „un echt". So unzerreißbar und unbeugsam festgefügt ist die innere Einheit zwischen Müssen und Können, daß auch das gewaltigste innere Muß diese Einheit sprengen und damit das Wert entwerten und ent persönlichen wird, wenn ihm kein gleichgestelltes Können zugeordnet ist. Das «hohe Wollen" allein genügt eben keineswegs und ist daher weder zu bewundern noch zu loben. Es hat zwar als glühende Zeugenschaft des inneren Muß im Bereich des Innenwerks des Menschen, also auf dem Felde seiner Selbstbezeugung, volle Rechtfertigung; so bald aber nach außen hin, in den Bezirk der Selbstossenbarung hinaus „geschaffen" wird, muß auch gekonnt wer den, was gemußt ist.
Viel öfter als wir glauben dürfte es sich wohl ereignen, daß das Innen einer Persönlichkeit, ihre persönliche Ladung, ihre Schau und ihr Blick dem Formate nach den Größten un serer Geschichte gleichen. Sobald sie aber nun auch das diesem inneren Format identische Werk zu schaffen hat, ein Werk also, das diese innere Ladung auch nach außen hin, in einem Werke offenbaren und damit die Größe jener Größten erreichen soll, muß sie, wenn ihr Können dazu nicht ausreicht, nicht nur kläglich scheitern, sondern auch glatte und rücksichtslose Ab lehnung erfahren. Es ist daher im Bereich des „Werks" un erlaubt, Goethe gleich sein zu müssen, ohne auch in goethischem Format schaffen zu können. Ist Identität als Ausdruck der natürlichen Einheit zwischen Mensch und Werk erstes und oberstes Gebot der schaffenden Persönlichkeit, so Erkenntnis und Berücksichtigung der eigenen Könnensgrenze die unerbitt liche Voraussetzung des Strebens nach dieser Entsprechung. Selbstverständlich gilt dasselbe vom analogen Verhältnis, in welchem „Inhalt" und „Form" eines Werks zueinander stehen; selbst der tiefste und reichste Inhalt wird nicht zum „Werk", wenn es ihm nicht gelingt, die ihm allein gemäße, ganze und richtige Form zu finden. Ein Mißlingen, das eigent lich kein Mitleid verdient, da „Werk an sich" nicht genügt, nicht entschuldigt und von der Erfüllung der geforderten Einheit nicht enthebt. Es wimmelt zwar gerade heute von Werken scheinbar völligster Entsprechung sogar unter den „unechten"; allein die überwiegende Mehrzahl dieser Werke gehört eben jener Kategorie an, der sich, ihrem Wesen nach, das Problem der Identität als eher einfach, ja sogar lösbar stellt und das ist: der Kategorie der Intellekt-Werke. Wo nämlich das zur Selbstoffenbarung treibende innere Muß zum größten Teil dem Bereiche des intellektuellen Seelenvermögens entstammt, wie etwa bei den Werken der theoretischen Wissenschaft (uni) zwar sowohl der Philosophie, der Wissenschaft der Wesensersorschung, wie der Natur- und Geisteswissenschaft, der Erscheinungserforschung), gar aber bei jenen der ange-
wandten Naturwissenschaft, der Technik und auch bei jenen der verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Konstruk tionen: wie denn sollten da „Können" und „Form", die doch beide vorwiegend dem Intellekte und dem Willen zugeordnet sind, die gebotene und notwendige Einheit mit dem inneren Muß, das eben in diesen Fällen auch mit Intellektuellem behaftet ist, nicht herstellen können? Allerdings, bei den Wer ken der angewandten Wissenschaften, insonderheit aber jenen der Technik und der politischen Konstruktionen, kommt es ihrem Wesen entsprechend letzten Endes nur darauf an, daß sich Können und Form vollenden; der Mensch, das innere Muß, können in ihnen ohne weiteres übergangen werden. Umgekehrt liegt in den Werken der theoretischen Wissenschaft das Hauptgewicht durchaus auf dem genauen und vollständigen Offenbarwerden des inneren, intellektuellen Selbst des Hervor bringers, des „Inhalts"; Können und Form spielen dieser For derung gegenüber eine nur untergeordnete Rolle. In ge wissem Sinne gilt dies sogar für alle Werke, die religiösem inneren Müssen entspringen, obwohl ihr Urgrund durchwegs dem irrationalen, also intellektfteien Bereich zugehört und weil auch bei diesen Können und Form relativ Nebensache bleiben. Der Koran ist z. B. als „Werk" unvergleichlich gelungener, formvollendeter als das Evangelium und trotzdem wird es angesichts des überwältigenden „Inhalts" des letzteren nie mandem einfallen, daran auch nur ein Wort vermissen zu wollen. Ganz anders jedoch verhält es sich bezüglich der Werte der Kunst. Hier haben weder Mensch, inneres Müssen und „Inhalt", noch Werk, Können und Form, betonte Vorzugstellung, sondern beide sind von derselben gleichen Erstbedeutung. Das intellektuelle Element im inneren Muß erleichtert hier die Verbindung mit den intellektnahen Elementen, Können und Form, nicht. Dem Wesen des Kunst werkes gemäß, das ja nichts anderes darstellt als ein Ergebnis der Transponierung einzelpersönlicher seelischer Vision in eine
Gestalt zweiter, höherer Ordnung, ist Identität immer ein „Kunststück". Und wenn die Persönlichkeit auch kein einziges Werk kennt, rücksichtlich dessen sie nicht mit allerhöchster Gewissenhaftigkeit aus Identität bedacht zu sein hätte, in der Gestalt des Künstlers nimmt sie, darf sie keine andere Forde rung wichtiger und ernster nehmen als gerade das Gebot der Identität. Im Kunstwerk ist Identität tatsächlich alles; kein ein ziges anderes Menschenwerk wird, vom Hervorbringer ebenso wie vom Empfänger, schneller, reflexhaster und untrüg licher als echt oder unecht erkannt werden wie eben das Kunst werk. Wir ersticken heute bereits unter der Wirkung des ver heerenden Einflusses, den unsere Tyrannen „Intellekt und Wille" ausüben, unter den Hekatomben von unechten und unidentischen Kunstwerken, die wir vornehmlich ihnen ver danken; mit Schrecken müssen wir wahrhaben, wie selbst unsere berufensten Künstler immer mehr der Verlockung zum „Berus" verfallen. Gleichwohl: ihre Werke führen niemanden irre, sie sind in ihrer Unechtheit unverkennbar. Nicht weniger erdrückt sind wir durch die Vorherrschaft von Intellekt und Wille, von Gebirgen von zwar echten und identischen, jedoch Intellekt- und Willenswerken. Bei welchen natürlich, gleichfalls ihrem Wesen gemäß, Identität ein unverhältnis mäßig leichteres Problem ist als in Bezug auf das ftunftoert. Desgleichen überschwemmt uns zum Schluß auch eine Sint flut von unechten und unidentischen Intellekt- und Willens werken, die wie Pilze aus der Erde schießen, weil ja die heutige Autonomisierung der Werktechnik naturgemäß dort am bequemsten ansetzen und Erfolg erzielen kann, wo das innere Muß, wie in der Gegenwartskultur, ein intellektuelles oder zumindest intellektnahee ist. Wenn überhaupt, so läßt sich nirgends die Ablösung und Verselbständigung des Könnens und der Form vom Selbst der Person, also von Muß und Inhalt, leichter und bequemer vollziehen als eben jetzt. Wo Identität, sogar beim Hervorbringer eines echten Werkes, eine
unschwierige, ja einfache Angelegenheit ist, dort stellen sich natürlich auch die wenigsten Hindernisse dagegen ein, daß Iden tität preisgegeben und infolgedessen nur vorgetäuscht werde. Und in der Tat: an solchen unechten Werken ist die Un echtheit lange nicht so instinkthaft automatisch und untrüglich zu erfühlen wie an den Kunstwerken; sie täuschen tatsächlich — und zwar so geschickt, daß sie mit vollem Anspruch neben den echten Willens- und Intellektwerken prangen und mit diesen die „Errungenschaft der heutigen Kultur" versinnbildlichen dürfen. Daß in einer solchen Kultur, die Unechtes gleich in Massen „macht", und es so ausgezeichnet macht, daß ihr die Vortäu schung des Echten derart verblüffend gelingt, daß der ehrlichste Hervorbringer eines unechten Werkes, verblendet, es sogar selbst für echt hält, die Persönlichkeit an Sinn und Wert ihres äußeren Werkes zu zweifeln beginnt, Antrieb, Lust und Mut dazu ver liert, ist nicht verwunderlich. Im Sinne menschlicher Natur ist das äußere persönliche Werk die organische Baumkrone, die vom Wurzelstamm des Inneren hervor- und empvrgetrieben wird und: keine Krone ohne Wurzel, keine Wurzel ohne Krone. Auch heute wölben sich Baumkronen über Wurzel und Stamm der Menschheit, aber keine organisch entsprossenen und ge wachsenen, sondern bloß künstlich gemachte. Abgeschnitten von ihrer Wurzel führt die Baumkrone ein Eigendasein und — es ist auch danach! Angewidert und verschreckt vom Anblick dieses riesigen wuchernden Scheinwaldes, der ja eines Tages wie ein seiner Wurzel beraubtes, über dem Boden schwebendes Äste meer unter dem neu hervorbrechenden Strahl der ewig gleich bleibenden Lebenssonne dahinwelken und zu Staub zerfallen wird, zieht sich die Persönlichkeit von ihrem äußeren Werk immer mehr in ihr inneres zurück. Eine völlige Umschichtung findet in ihr statt: ihr Kronetreiben wird in die Wurzelpslege hinabverdrängt. Alles Werkwirken, jegliches Schaffen konzen triert sich nunmehr ausschließlich auf das Innere. Höher als gerade bis zur obersten Fläche gelangt nichts mehr; ja nicht
einmal bis an die Oberfläche hinauf wagt sich zumeist das Innen-Geschaffene. Und es ereignet sich dadurch das Merk würdige, daß die Persönlichkeit, weil sie rundumher in der Welt das äußere Werk so götzenhast verehrt und überschätzt, und nicht mehr den Menschen, der es schafft, gewertet und an erkannt sieht und weil ihr außerdem immer wieder die bittere Erfahrung wird, daß jeder schon sein „Mögliches" getan zu haben glaubt, wenn er nur unablässig Auhenwerk auf Auhenwerk hervorbringt, selber der Einseitigkeit zu verfallen und an sich irre zu werden beginnt. Sie fängt an, das äußere Werk unter- und das innere zu überschätzen; ein Prozeß, der da durch noch unterstützt wird, daß die Persönlichkeit — zwangs mäßig derart von außen nach innen zurückgedrängt — immer deutlicher zu erkennen meint: das äußere Werk, schon weil es ohne Innenwerk ein äußeres gar nicht geben kann, besitze sein Epistenzrecht und seinen Sinn einzig davon und darin, daß es das Innenwerk — das selbstgeschaffene Selbst der Person — offenbare. Daß demgemäß also Anfang und Ende jedes menschlichen Schaffens überhaupt nur das Innenwerk sei. Diese Erkenntnis ist zweifelsohne richtig. Aber sie besteht doch eben nur innerhalb der gleichfalls unanfechtbaren zweiten zurecht; daß nämlich alles menschliche Schaffen, genau so wie der einheitliche wahre Körper-Seele-Mensch und erst recht wie das Ineinander von Schöpfer und Schöpfung, eine unteilbare Einheit sind. Ein einheitlicher Prozeß von innen nach außen, in welchem aber — obwohl das Innen Ursache und Grund des Außen ist — das Außen, also das äußere Werk, ebensolche notbedingte und gleichwertige Hauptsache bildet wie das Innen. Wenn also heute dem strotzenden Massenwald von Baumkronen, die keine Wurzeln mehr haben, eine — nur an scheinend — geringzählige Menge von Wurzeln, die keine Krone mehr austreiben wollen, gegenüberstehen; wenn das jeden inneren Müssens entledigte, bare „Können" als inhalt leere „Form" über den ganzen Erdkreis hin laute Triumphe feiert, indessen sich das innere Muß — jene sittsam stillen weniS»
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gen Wurzeln — angeekelt und verängstigt von „Können" und „Form" abkehrt; kurz, wenn heute auf der einen Seite ein Riesenheer vom Menscheninneren unabhängig gewordener „Werke" im grellen Scheinwerferlicht prahlt, auf der anderen aber eine kleine, heimliche Schar von werklos gewordenen Menschen ein schattenhaft stummes Dasein führt; einem dort bis zur äußersten Spitze getriebenen ausschließlichen Außen hier ein bis in die innersten Tiefen hinab geflüchtetes, aus schließliches Innen gegenübersteht —, dann bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als daß alle beide wider die Einheit der Menschennatur, also falsch, leben. Wenn auch nichts be greiflicher, ja beinahe natürlicher erscheint als die Außenwerk scheu der „Wurzeln", unumstößlich trotz alledem steht fest: die Persönlichkeit muß — Schaffenstrieb und Schaffensfähig keit a priori in ihr vorausgesetzt — ihr inneres Werk in äußeren Werken offenbaren; sie darf es auf keinen Fall ungeoffenbart lassen. Denn im gleichen Sinne wie die Ablösung des Werks vom Menschen geschieht auch die Ablösung des Menschen vom Werk wider Wirklichkeit und Bestimmung der menschlichen Natur, also zu Unrecht; beide Haltungen versündigen sich am Schöpferwillen. Gewiß, und noch einmal: das wesentlichste, bestimmungs nächste von allen denkbaren „Menschenwerken" ist und bleibt stets und überall das Wert des Menschen an sich selber; das, was er aus sich selber gemacht hat. Ist aber der Mensch schon als „schöpferischer" geboren, dann hat eben auch die Selbstoffenbarung seines Werts wesentlicher Bestandteil seines Men schen zu sein; ohne diese bleibt es unvollständig. „Aber", hört man dawider einwenden, „es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß die »sittliche Tat', also das sittliche Handeln des Menschen — und diese allein kann nur entscheidend Aus druck und Zeugnis des wesentlichsten Menschenwerks sein — wertvoller, weil bestimmungsgemäßer sein muß als alles, was der Mensch sonst zu leisten oder gar im Schassen hervorbringend zu wirken imstande ist?" Eine Fragestellung, die sofort verrät,
welch doppeltem Irrtum die werkscheu gewordene Persönlich keit heute erliegt. Unzweifelhaft ist die sittliche Tat als natürlicher automa tischer Autzenausdruck eines sittlichen, also ausschließlich auf das Wesentliche abgestellten Innenlebens, jedem Menschen, dem schöpferischen wie dem unschöpserischen, als die eigent lichste Bestimmungserfüllung ausgetragen. Allein ein „Werk" in dem Sinne, wie wir es umschrieben haben, — ist das sogenannte „gute Werk", ist die „sittliche Tat" nicht! Sie bedeutet wohl Selbstbezeugung des Innern durch entsprechen des Handeln, aber stellt damit noch kein eigentliches, im natürlichen Bereich schöpferisches Werk dar. Sich in solchem Handeln zu offenbaren, ist wohl dem unschöpferischen Menschen gegeben; der schöpferische hin gegen hat, sowohl seiner besonderen Möglichkeiten wie auch seiner höheren Ausgabe zufolge, darüber hinaus auch noch sein Inneres zum Innenwerk auszugestalten und es dann im entsprechenden Außenwerk herauszustellen. Nie wird ihn daher „sittliche Tat" von der Vollendung dieses Doppelwerks abzuhalten imstande sein und ebensowenig wird ihn äußeres Werk je am sittlichen Handeln verhindern! Einen Konflikt im Sinne von Wählenmüssen zwischen sittlicher Tat und Werk kann es also für ihn gar nicht geben; er hat das Eine wie das Andere gleich selbstverständlich — er hat beides zu leisten! Nun sagt aber die Identität des Werks noch gar nichts über dessen Wesentlichkeitsgehalt — nichts über die Qualität und den Qualitätsgrad des darin geoffenbarten Innenwerks aus. Auch das wesentlichkeitsärmste Werk ist vom Standpunkt der Identität her bereits gerechtfertigt, wenn es nur eben identisch ist. Denn unbewußt wie bewußt fordert jeder schöpfe rische Mensch immer und überall vom Werke, das ihm als „Idealwerk" vorschwebt, außer Identität auch noch, daß es sowohl die restlos ganze Fülle seiner Innenarbeit wie dessen höchstmöglichen Gipselgehalt offenbare. Dieser aber heißt
eben: Sittlichkeit. Denn einzig Sittlichkeit ist Bestimmungsersüllung. Auf das Kunstwerk angewendet hieße daher diese Forderung etwa: das „Gute" geoffenbart als „Schönheit", die zudem als „Wahrheit" wirkte. Also kann ein Idealwerk nur entstehen, wenn das Innenwerk quantitativ das persönlich mögliche Höchstmaß und qualitativ den persönlich möglichen Höchstgrad von Werksittlichkeit erreicht hat. Wen sieht nun die werkscheue Persönlichkeit jenes Höchst maß und jenen Höchstgrad „bestimmungsgerechter Erfüllung" erreichen? Den sittlich Handelnden! Dieser aber, in seinem letztvollendeten Ausdruck, ist: der Heilige! Es ist also ohne weiteres begreiflich, daß der schöpferische Mensch zum Werkschaffen ausgerufen, durch aufschauenden Vergleich zum Hei ligen an sich zu zweifeln beginnt. Und nicht nur begreiflich, sondern auch völlig richtig ist es, wenn dieser Schöpferische daher nach innerer Heiligung seines Selbst — nach dem Höchstmaß und dem Höchstgrad von Sittlichkeit als dem Gipfel alles „Wesentlichen" — strebt. Denn von der Bestimmung des Menschen her gesehen ist Heiligwerden eben ohne Unterschied jedem aufgegeben. Auf keinen Fall darf aber der schöpferische Mensch der Meinung verfallen, er habe — gleich dem unschöpferischen — schon alles getan, wenn er die innere Heiligung errungen hat und sich in sittlichem Handeln auswirkt. Daß er Heiligkeit erstrebe, wird von ihm nicht nur als „Mensch" verlangt, son dern außerdem noch als von einem schöpferischen Menschen. Seine Sittlichkeit bildet nicht nur seine bestimmungsgerechte Menschenqualifikation: sie ist zugleich die unerläßliche Vor aussetzung seines Idealwerks, seiner inneren und äußeren Gipfelleistung; dessen, was sie durch dies Innenwerk in ent sprechendem identischen Außenwerk zu erweisen hat. Schöpserwille, im Wesen ersaßt, läßt sich bezüglich des Menschen nie und nirgends auf eine genauere Formel bringen als auf die: liebe den Schöpfer, liebe dich selbst (als Geschöpf des Schöpfers), liebe alle Geschöpfe so wie dich selbst. „Liebe
zum Nächsten" heißt eigentlich richtig: tue alles, damit auch dein Nebenmensch zur gleichen bestimmungsgerechten Erfül lung gelangen könne, die du dir selbst zum Ziele gesetzt hast. Handeln in Liebe ist Handeln am Du, für das Du; am Du des Schöpfers, am Du des eigenen Ich, auf daß es so werde, wie es spürt, daß es sein sollte. Geben, Sichhingeben, Sichverschenken bis zur Verschwendung, ja bis zur Selbstentäußerung, ist nicht nur Gebot, sondern auch die fruchtbringendste Anlage des eigenen Pfundes; und ist gleichzeitig, da sich das sittliche Selbst gerade in der „Selbstentäußerung" am gemäßesten äußert, der vollkommenste Ausdruck von Selbstbesitz. Jedes Fehlen von Egoismus also — will man nicht auch den freudig bejahenden Vollzug von Schöpferwillen schon „Egoismus" nennen — kennzeichnet das sittliche Handeln. Diesem gegen über kann das äußere Wert freilich leicht den Eindruck von Ego zentrik, von Liebesarmut erwecken. Und in der Tat, gerade diese Du-Losigkeit des äußeren Wertes, diese Rücksichtssreiheit und dieses Fehlen jeder Beziehung zum Du sind es, deren sich die schaffende Persönlichkeit, je mehr sie sich verwesentlicht, desto leidenschaftlicher anklagt. Ist es zu verwundern, daß die Selbsterkenntnis dieser Beziehungölosigkeit, Liebeestumpsheit des äußeren Werks zur Liebe im höheren Sinn, die Hauptschuld an der heutigen Werkscheu der Persön lichkeit bildet? Je „älter", „reifer", ja erfahrener die Menschheit als Ganzes und der Einzelne in ihr, je „klüger" sie durch Schaden wird, desto eindeutiger und folgerichtiger erscheint ihr das sittliche Handeln, die Liebestat, als die einzige Möglichkeit bestimmungsgerechten Lebens. Diese Wahrheit wird beileibe von keinem weltfremd naiven, schwärmerisch wolkenhasten „Idealismus" erhärtet, sondern, im Gegenteil, von der nüch ternsten und allerwirklichsten Erfahrung: vom gelebten, er lebten Leben selber. Die Persönlichkeit von heute verlangt also mit Recht danach, daß auch ihrem äußeren Werk Charakter und Wirkung einer Liebestat zukommen möge; was ganz von
selber eintreten wird, sobald sie aus ihrem Ich-Selbst zu einem Du-Selbst geworden ist. Im gleichen Augenblick, in dem die Persönlichkeit vom Subjektiven ins Objektive emporgewachsen ist und also nur noch für das Objekt da ist und ihre Tat nur noch Tat am und für das Objekt sein kann: mit diesem Augenblick ist auch ihr persönlichstes Innenwerk ein solches für die Welt, für alle Anderen, geworden und treibt der Schaffensdrang den Inhalt dieses Innenwerks — die schaf fende Liebestat — ganz von selbst zu seiner Selbstoffenbarung im Außenwerk. Wer als Schöpferischer selber ein Du-Mensch geworden ist, der mutz das Du-Werk — also jenes äußere Werk schaffen, das Gabe, Hingabe, Selbstentäußerung seiner Selbst an die ganze Welt, an Geschöpf und Schöpfung ist. Wer als Schöpferischer liebend geworden, der muß Siebe schassen in allem, was er schafft. Ein unerreichbares Vorbild der Einheit und der Wechsel wirkung, in welchem inneres und äußeres Werk der schaffen den Persönlichkeit zueinander stehen, ist der Menschheit in der Innen- und Außenoffenbarung Gottes, wie sie die katholische Theologie ersaßt, gegeben. Nach „Innen" offenbart sich Gott in der zweiten Person, dem Sohn, als der Ausdruck — das Zeugnis — der Erkenntnis, die Gott von sich selbst und von seinem Wesen ist; mit dem Sohne offenbart Er sich als Ausdruck der Liebe, die nun Vater und Sohn zutraft der ersten Offenbarung miteinander verbindet, in der dritten Person, dem Heiligen Geist. Alle drei Personen aber strömen nun als Gott-Einer, mit der vollen Macht des Vaters, durch die volle Weisheit des Sohnes, in der vollen Liebe des Hei ligen Geistes, in all das aus, was Gott geschaffen hat — in die Ihn offenbarende Schöpfung. „Der Vater wirkt durch den Sohn im Heiligen Geiste", so lautet die Sprache der Kirche. Erst wenn der schöpferische Mensch in einsamer Versenkung in das Wesentliche, also durch Abwendung von seinem realen
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Ich und Hinwendung zu seinem idealen Soll, sich als Objekt dieses idealen Du-Selbst erkannt hat, entzündet sich in ihm zukrast dieser Erkenntnis die Liebe zum Schöpfer, die Liebe zum eigenen Selbst und zu allen seinen Dus. Vermochte also das äuhere Werk bis dahin nur das liebesstumpfe Ich-Selbst zu offenbaren, so ist es jetzt in allen seinen Eigenarten zur strahlend sten Offenbarung von liebemächtigstem, liebekräftigstem, liebe tätigstem Selbst geworden, zur restlosen Selbstoffenbarung des „sittlich Handelnden". In ihr wirkt der „Erkannte durch den Erkennenden in Liebe", also wahrlich es weht und webt: der Heilige Geist.
Von
ALBERT TRENTINI erschienen im Verlag Georg D. W. Callwey/München:
GOETHE Der Roman von seiner Erweckung 3. Auflage. 665 Seiten
DEUTSCHE BRAUT Ein Südtiroler Grenzlandroman 3. Auflage. 337 Seiten
DER GROSSE FRÜHLING Roman. 2. Auflage. 264 Seiten
SIEG DER JUNGFRAU Roman. 2. Auflage. 290 Seiten
DER WEBSTUHL Roman. 296 Seiten
NAUSIKAA Eine Goethe-Novelle (Sonderdruck aus dem Goethe-Roman) Kunstwart-Bücherei. Bd. 8
NOVELLEN Kunstwart-Bücherei. Bd. 15
DIE FLUCHT INS DUNKLE Ein Lied von der Welt Kunstwart-Bücherei. Bd. 36 Die genannten Werke sind nur noch im sogen. „Modernen Antiquariat“käuflich; die Bände der Kunstwart-Bücherei für Mk.—.5o kart., Mk.—.76 geb. auch vom Verlag.
PARADIES Eine Tragödie (in Versen) 188 Seiten, geh. Mk. 2.75, geb. Mk. 3.50
SCHÖPFERISCHES LEBEN Ein Zyklus von zwölf Betrachtungen Kart. Mk.3.20